Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum: 17.- 21. Jahrhundert 3515089497, 9783515089494

Briefe sind in den letzten Jahren als hervorragende Quelle für eine Geschichte der Medizin und Gesundheit neu entdeckt w

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English Pages 267 [270] Year 2007

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Krankheit in Briefen: Einleitung
Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur
Krankheit im Kontext
Interpretationsspielräume und narrative Autorität im autobiographischen Krankheitsbericht
Die Sprache der Krankheit in der Korrespondenz von Antonio Vallisneri
Krankheitsbilder. Künstler der Frühen Neuzeit berichten über ihren Zustand
Medizinische Rede und poetische Praxis
Krankheit als Effekt kultureller Konstruktionen während der Aufklärung. Das Beispiel der Hypochondrie
„Ich habe zu leiden gelernt, Madame!“
Chirurgie im Brief. Das Beispiel der Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters
Für eine anthropologische und medizinische Lektüre der Briefkultur im Jahrhundert der Aufklärung
Diderot als medizinischer Berichterstatter in den Briefen an Sophie Volland
Tödliche Krankheiten und „eingebildete“ Leiden
„Hämorrhiadalkolik“, „Stahl’s gewaltige Pillen“ und „Menschenflicker“
Behandlungsverläufe: Die französischen Patienten von Samuel und Mélanie Hahnemann
Krankheitsdarstellungen in Briefen an Samuel Hahnemann – eine Lektüre aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive
Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800–1950
„Ich habe öfter mit den Ärzten darüber sprechen wollen, doch die winken ab … “. Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996
Das Spiel der überkreuzten Reden. Kommentierte Lektüre eines ausgewählten Briefs
English Abstracts
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Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum: 17.- 21. Jahrhundert
 3515089497, 9783515089494

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Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum 17.–21. Jahrhundert herausgegeben von Martin Dinges / Vincent Barras MedGG-Beihefte

INSTITUT FÜR GESCHICHTE DER MEDIZIN DER ROBERT BOSCH STIFTUNG Franz Steiner Verlag Stuttgart

29

Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 29

Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum 17.–21. Jahrhundert

herausgegeben von Martin Dinges / Vincent Barras

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2007

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-08949-4

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2007 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vincent Barras/Martin Dinges: Krankheit in Briefen: Einleitung ......................................................................... 7 Typologien und theoretische Zugänge Michael Stolberg: Patientenbriefe in vormoderner Medikalkultur ............................................... 23 Hubert Steinke: Krankheit im Kontext. Familien-, Gelehrtenund Patientenbriefe im 18. Jahrhundert ............................................................ 35 Séverine Pilloud: Interpretationsspielräume und narrative Autorität im autobiographischen Krankheitsbericht ........................................................ 45 17. und 18. Jahrhundert Benedino Gemelli: Die Sprache der Krankheit in der Korrespondenz von Antonio Vallisneri .........................................................................................67 Matthias Bruhn: Krankheitsbilder. Künstler in der Frühen Neuzeit berichten über ihren Zustand..............................................................................79 Renaud Redien-Collot: Medizinische Rede und poetische Praxis: Die verschiedenen Figuren der Autorität im Briefwechsel zwischen Madame d’Epinay und dem Abbé Galiani....................................................................... 95 Carmen Götz: Krankheit als Effekt kultureller Konstruktionen während der Aufklärung. Das Beispiel der Hypochondrie............................111 Anne-France Grenon: „Ich habe zu leiden gelernt, Madame!“ Rousseau und der Briefdiskurs über Krankheit ............................................................................. 123 Marion Maria Ruisinger: Chirurgie im Brief. Das Beispiel der Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) .............................................................................131 Philip Rieder: Für eine anthropologische und medizinische Lektüre der Briefkultur im Jahrhundert der Aufklärung ............................................. 143

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Inhaltsverzeichnis

Odile Richard-Pauchet: Diderot als medizinischer Berichterstatter in den Briefen an Sophie Volland .....................................................................157 Monika Meier: Tödliche Krankheiten und „eingebildete“ Leiden: „Hypochondrie“ und „Schwindsucht“ im Briefwechsel zwischen Jean Paul und Johann Bernhard Herrmann. Mit Ausblicken auf Literatur und Ästhetik Jean Pauls .....................................................................................167 Alexander Ritter: „Hämorrhiadalkolik“, „Stahl’s gewaltige Pillen“ und „Menschenflicker“ Johann Gottwerth Müller: Der medizinalkritische Aufklärungsliterat und seine Leiden in Brief und Buch ................................................................ 185 19. und 20. Jahrhundert Olivier Faure: Behandlungsverläufe. Die französischen Patienten von Samuel und Mélanie Hahnemann (1834–1868) ...........................................................197 Bettina Brockmeyer: Krankheitsdarstellungen in Briefen von Samuel Hahnemann – Eine Lektüre aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive .............................211 Susanne Frank: Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800–1950 ............................................................. 223 Sylvelyn Hähner-Rombach: „Ich habe öfter mit den Ärzten darüber sprechen wollen, doch die winken ab….“. Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996................................................................................... 235 Gérard Danou: Das Spiel der überkreuzten Reden. Kommentierte Lektüre eines ausgewählten Briefs: „Ich wünsche, Zugang zur Krankenakte meines Vaters zu erhalten“ ............................................................................... 249 Englische Zusammenfassungen ...................................................................... 259

Krankheit in Briefen: Einleitung Vincent Barras/Martin Dinges

Ganz am Anfang der Beiträge, die in diesem Buch versammelt sind, stand das Erstaunen über eine sich neuerdings in der historischen Forschung verbreitende Erkenntnis, nämlich die unerschöpfliche Fähigkeit des Briefes, dieser einzigar­ tigen Kommunikationsform, mit einer seltenen Frische und Lebendigkeit (die Quelle entspringt der „ersten Person“, dem Körper und der Hand der Prota­ gonisten selbst) die unterschiedlichsten persönlichen und kollektiven Erfah­ rungen, die sich um Fragen der Gesundheit und Krankheit drehen, zum Aus­ druck zu bringen. Diese Erfahrungen dürften für die Entstehung des modernen Individuums wie für die Entwicklung unserer Kultur und Gesellschaft gleicher­ maßen grundlegend sein. Bemerkenswert ist, mit welch überbordender Fülle, beinahe Schamlosig­ keit, die Briefe aus der Vergangenheit heute unserem erstaunten Blick Haut­ ausschläge, Verdauungsprobleme, Flüssigkeitsausscheidungen, Gebärmutter­ leiden, nervöse Erschöpfungszustände, Gefühlsverwirrungen, die unterschied­ lichsten Störungen der „Körpermaschine“ und damit zugleich die intimsten Leiden des Menschen offenbaren. Dabei stellt sich die wichtige Frage, wie man diese noch weitgehend unausgewerteten Quellen für die historische Forschung nutzen kann. Es scheint, daß sie uns unmittelbar Aufklärung verschaffen kön­ nen über kaum beachtete, jedoch wesentliche Bereiche der medizinischen Welt, die hier im weitesten Sinn verstanden als Gesamtheit von Normen, Verhalten, Konzepten, Praktiken, Akteuren und Institutionen, die sich auf Krankheit und Gesundheit beziehen, sowohl auf individueller und persönlicher als auch wis­ senschaftlicher oder politischer Ebene, wobei diese drei Sphären sehr eng miteinander verbunden sind: die Art, wie die Vorfahren in ihrem Alltag Schick­ salsschläge durchlebten, wie sich unzählige Ausprägungen von Leidens­ und Krankheitserfahrungen herausbildeten, wie sich ausgehend von der Vielzahl individueller Schicksale normative Systeme körperlicher und seelischer Verhal­ tensweisen etablierten, und wie diese Normen wiederum das konkrete Handeln im Bezug auf Krankheit und ihre Wahrnehmungs­ und Ausdrucksformen be­ stimmt haben. Anders gesagt, versucht jeder der hier versammelten Beiträge je nach Forschungsfeld die Frage zu klären, wie man eine genaue und metho­ dische Auswertung der Schätze, die in diesen Briefen verborgen liegen, vor­ nehmen kann, um uns zu einem weit besseren Verständnis der Bedingungen zu verhelfen, unter denen sich die heutige Auffassung der „Medizin“ seit dem 16. Jahrhundert in der abendländischen Geschichte herausbildete und den wichtigen Platz erhalten hat, den sie in unserem eigenen Leben und unserer Gesellschaft einnimmt.



Vincent Barras/Martin Dinges

Eine erste Antwort gibt schon die Zusammenstellung des Inhaltsverzeich­ nisses: Es galt, die Perspektiven von Forschern und Forscherinnen verschie­ dener Sprachräume und Forschungstraditionen zusammenzuführen. Das war eines der vorrangigen Motive der Tagung „Maladies en lettres / Krankheit in Briefen (XVIIe–XXIe siècle / 17.–21. Jahrhundert)“, die vom Institut universi­ taire romand d’histoire de la médecine et da la santé publique der Universität Lausanne in Kooperation mit dem Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart organisiert wurde und vom 26. bis 2. Juni 2003 in Lausanne stattfand. Es ist offensichtlich, daß die Fülle, die formale Heterogenität und die zeitliche und geographische Verteilung des betrachteten Quellenkorpus einerseits Anregung gibt zu den vielfältigsten Lektüren seitens der Geschichte des Körpers, des Gesundheitswesens und der Medizin, seitens der Philologie, der Literaturwissenschaft und der Philosophie und andererseits eine Gegenüberstellung dieser Sichtweisen fordert. Genau dies ist das Anliegen des vorliegenden Werkes, das die wichtigsten der auf der Tagung präsentierten Beiträge vereint. Eben jene Vielfalt bedingt auch die Entscheidung der Heraus­ geber, es zweisprachig erscheinen zu lassen, auf Französisch und Deutsch. Auch wenn der Aufwand für die Übersetzung im voraus nicht zu ermessen war, so läßt sich dieser unseres Erachtens mit der Hoffnung rechtfertigen, Leser und Leserinnen aus verschiedenen Sprachräumen auf Quellen und Herangehens­ weisen aufmerksam zu machen, die ihnen vielleicht fremd sind, jedenfalls aber ihren Horizont erweitern können. Über diese allgemeinen editorischen und methodischen Entscheidungen hinaus teilen die Autoren der verschiedenen Beiträge in diesem Band die Über­ zeugung, daß es entscheidend ist, das Medium Brief in seiner ganzen histo­ rischen Tragweite zu betrachten. Greifen wir als Beispiel die allem Anschein nach unmittelbarste Situation der „Krankheit in Briefen“ heraus, die der schrift­ lichen Konsultation. Es handelt sich um ein Phänomen, das in zahlreichen Formen auftritt (hier analysiert im Beitrag von Hubert Steinke), welche sich mitunter deutlich voneinander unterscheiden – an einen Arzt gerichtete Briefe von Patienten oder ihrer Angehörigen, ebenfalls im Französischen „consultes“, also Ratsuche bzw. Konsultation genannt, Behandlungsberichte, brieflicher Austausch zwischen Fachleuten, Gelehrtenbriefe, Privatkorrespondenzen und Familienbriefe… –, ein Phänomen, das aber, wie verwandte Formen im Bereich der „Selbstzeugnisse“ – das Tagebuch, die Autobiographie oder das Haushalts­ buch etwa – nicht mehr länger als eine universelle und zeitlose Gegebenheit aufgefasst werden kann. Geht man von den Beständen der Archive aus, dann liegt die historische Blütezeit der brieflichen Laienkonsultation zwischen dem 16. und dem ausgehenden 1. Jahrhundert. Aus diesem Zeitraum stammt die Mehrzahl der umfangreichen Archivbestände von Patientenbriefen, die sich an lokale oder europäische Kapazitäten richten. Wir befinden uns also im „gol­ denen Zeitalter“ der brieflichen Laienkonsultationen, wie es Michael Stolberg ausdrückt, der die Geschichte dieser Quellengattung erforscht. Antonio Vallis­ nieri, Samuel Auguste Tissot, James Jurin, William Cullen, Albrecht von Haller, Esprit Calvet, Lorenz Heister, Etienne Geoffroy sind einige der Ärzte im 1.

Einleitung



Jahrhundert, an die briefliche Behandlungsanfragen gestellt wurden. Die jün­ gere historische Forschung hat begonnen, diese näher zu beleuchten1: sie wer­ den hier erneut aufgegriffen und aus verschiedenen Blickwinkeln von Séverine Pilloud, Benedino Gemelli, Michael Stolberg und Hubert Steinke untersucht. Die bemerkenswerte Entwicklung dieser besonderen Form der medizi­ nischen Kommunikation wurde sicherlich von den Veränderungen der mate­ riellen Voraussetzungen in dieser Zeit positiv beeinflußt: dem Aufschwung und der zunehmenden Verbesserung der Postnetze, die es ermöglichen, die Entfer­ nung zwischen zwei Gesprächspartnern recht schnell zu überbrücken; dem fi­ nanziellen Interesse der Ärzte an der Briefkonsultation, die in der Tat einen wesentlichen Teil ihrer Einkommen ausmachen kann2; dem Rückgang des Analphabetismus oder auch der Zunahme der öffentlichen Schreiber und an­ derer Briefsteller, die es einem breiten Publikum ermöglichen, sich dieses Medium anzueignen, es seinen Bedürfnissen anzupassen, bestimmte Aus­ drucksformen zum stilistischen und ideologischen Vorbild zu erheben – so wie die Briefe der Madame de Sévigné, deren Einfluß auf die Briefkultur in der französischen Schweiz Ende des 1. Jahrhunderts Philip Rieder aufzeigt. Dabei ist es fraglos wichtig, die Bedingungen zu präzisieren, die in einem bestimmten historischen Augenblick eine briefliche Fernkonsultation als Praxis der Körperlektüre überhaupt denkbar und praktikabel erscheinen lassen, und die im Zuge ihres Verschwindens auch der besagten Praxis ein Ende bereiten. In dieser Hinsicht besteht kein Zweifel, daß das „Säfte­Paradigma“, ja sogar das „Nerven­Paradigma“ der modernen Epoche, wie mehrere Beiträge in diesem Band zeigen, einen besonders geeigneten Diskursrahmen für detaillierte Be­ schreibungen von Symptomen schuf. Des weiteren muß auf quantitativer Ebene genauer auf die Ausdehnung des Phänomens im 17. und 1. Jahrhundert und auf seine Ausdifferenzierungen, die bei Ärzten unterschiedlicher „Fachrich­ tungen“ zu erwarten sind, eingegangen werden, und infolgedessen auch auf das Profil der Briefschreiber, die sich an diese wenden (das ist die Vorgehensweise von Marion Maria Ruisinger in ihrer Analyse der „chirurgischen Patienten“ von Lorenz Heister). Es ist naheliegend, daß weitere, wenn auch nicht so um­ fangreiche, aber mindestens genauso interessante Bestände auf diejenigen warten, die sie in irgendeinem vernachlässigten Archiv aufzustöbern wissen; Bestände, die sich aus Korrespondenzen von Ärzten oder Chirurgen, europä­ ischen Berühmtheiten, lokalen Größen oder unbedeutenden praktizierenden Ärzten zusammensetzen. Der auf den spektakulären Höhepunkt des 1. Jahrhunderts folgende all­ gemeine Verfall der Gattung, oder zumindest der Wandel der Austauschbedin­ gungen zwischen Krankem und Arzt bleibt ein schwierig zu fassendes For­ schungsthema. 1

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Wegbereitende Studien sind z. B.: Lane 15, Forster 16, Teysseire 13 und 15, Brockliss 14, Stolberg 16. Neuere Studien: Stolberg 1, Pilloud 1, Wild 2000, Rieder/Barras 2001, Ruisinger 2001, Pilloud/Hächler/Barras 2004, Hächler 2005, Pill­ oud/Louis­Courvoisier/Barras 2007. Digby 14, 12 f.

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Vincent Barras/Martin Dinges

Dafür verantwortlich sind mit Sicherheit die konkreten Veränderungen in der Berufsausübung der Ärzte, der bessere Zugang zu medizinischer Versor­ gung vor Ort, die Entwicklung theoretischer Paradigmen und technischer Di­ agnoseverfahren, sowie auf Seiten der Ärzte eine veränderte Auffassung in Bezug auf das Krankheitserleben – alles Veränderungen, die ohne Zweifel die Methode der Fernkonsultation immer weniger geeignet machen3. Sie erscheint von diesem Moment an als ein höchst spekulatives Verfahren und folglich als inakzeptabel in den Augen der akademischen Medizin. Dies steht ganz im Gegensatz zur Einmütigkeit der Mediziner des Ancien Regime über den Wert der brieflichen Kommunikation für die Diagnostik, wie das Beispiel von Anto­ nio Vallisnieri im Beitrag von Benedino Gemelli zeigt. Obwohl Vallisnieri sich bewußt ist, daß „difficile est curare per litera“, betrachtet er die briefliche Kom­ munikation über die Krankheit als ein wichtiges Instrument, sogar als unver­ zichtbares Rüstzeug des Mediziners. Man muß sich also fragen, wie und warum die tatsächliche körperliche Abwesenheit des Patienten, die im „Goldenen Zeitalter“ der Briefkonsultationen nicht als ein fundamentaler Mangel empfun­ den wurde, in der Folgezeit derart entscheidende Bedeutung erlangt. Wie dem auch sei, Beratungsanfragen dieser Art, wie sie für das Ancien Regimes kenn­ zeichnend sind, werden deutlich seltener, und offensichtlich sinkt ihre Zahl seit Anfang des 1. Jahrhunderts in den Archivbeständen recht abrupt, während ansonsten der Umfang der Überlieferung damals zunahm. Allerdings gibt es bemerkenswerte Ausnahmen, wie z. B. der riesige Be­ stand an Patientenbriefen, die von einem sehr dichten und internationalen Netz von Briefpartnern an den Begründer der Homöopathie Samuel Hahnemann und dessen Frau Melanie adressiert sind, oder die überlieferten Briefe an den Docteur Léon Vannier im Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts4. Solche Dokumente müssen, wie Olivier Faure und Bettina Brockmeyer hier zeigen, unter Berücksichtigung des spezifischen begrifflichen und sozialen Kontextes, in dem sie verfaßt wurden, betrachtet werden; im vorliegenden Fall eine me­ dizinische Praxis, die mit einem Monopolanspruch auftritt und eine ganz ei­ gentümliche Verbindung zwischen Patient, Arzt und Medikament herstellt. Betrachtet man den gesamten Zeitraum, dann läßt sich feststellen, daß seit dem 1. Jahrhundert neue Formen des brieflichen Austausches in Erscheinung treten und darüber hinaus weiter bestehen, die in mancherlei Hinsicht Ähn­ lichkeiten mit den traditionellen Patientenbriefen aufweisen. Die Beiträge von Gérard Danou, Sylvelyn Hähner­Rombach oder Susanne Frank schöpfen aus so verschiedenartigen Quellen wie Familienkorrespondenzen des 1. und 20. Jahrhunderts5, Beschwerdebriefen an Krankenhausverwaltungen, Briefen an alternative Behandlungsmethoden fördernde Stiftungen sowie Leserbriefen an Redaktionen des Gesundheitsteils von Zeitschriften und mehr oder weniger spezialisierten Zeitungen. Solche Quellen zeichnen ein neues Bild der Hand­ 3 4 5

Warner 16, Hess 17, Lachmund 17, Duffin 1, Faure 1, Dinges 2007b. Wegbereitende Studien von Meyer 14, Faure 12, Hickmann 16. Neuere Studien: Gehrke 2000, Dinges 2002b, Busche 2005, Brockmeyer 2007. In Kürze, Schweig 2007.

Einleitung

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lungsspielräume und Austauschbeziehungen im Gesundheitswesen und lassen erahnen, daß die alte Gattung des Patientenbriefs nicht einfach verschwunden ist, sondern sich eher seit Anfang des 1. Jahrhunderts verflüchtigt hat, indem sie in anderen äußerst unterschiedlichen und weniger offensichtlichen Formen des gesellschaftlichen Umgangs in ärztlichen Fragen aufging, mit deren Be­ standsaufnahme und historischer Auswertung gerade begonnen wird. Die historische Untersuchung und Einordnung dieser Briefwechsel führt zur Frage nach dem Wandel der Beziehungen zwischen Arzt und Patient, der sich in den letzten zwei Jahrhunderten vollzogen hat. Es besteht kein Zweifel, daß sich aufgrund der rasanten Ausbreitung der elektronischen Kommunikationsmittel, die sich im Augenblick auf allen Ebenen vollzieht, ein Wandel in der Praxis einer Fernkonsultation vollziehen wird, dessen Auswirkungen auf die Art der Beziehungen, die weiterhin an das bestehende Wertesystem gebunden bleiben, noch schwer abzuschätzen sind. Hier sei insbesondere auf die neuen Möglich­ keiten verwiesen, die das Internet sämtlichen Bereichen der Medizin – Medi­ kamentenhandel, Informationsaustausch, Behandlungsanfragen… – eröffnet hat, das eine Praxis befördert, die die praktizierenden Ärzte mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert und die Patienten im Umgang mit ihrem Lei­ den ungeduldiger macht! Der einzigartige Charakter der Briefkonsultation macht deutlich, daß die Untersuchung der jeweiligen Kommunikationsträger als solche in die Betrach­ tung des Phänomens der „Krankheit in Briefen“ einbezogen werden muß. Auffällig ist die Beständigkeit der medizinischen Themen für die Mehrzahl der bekannten Briefwechsel des 1. Jahrhunderts, ob sie nun dem Typ der Brief­ konsultation ähnlich sind oder nicht. So ist es kaum verwunderlich, daß Denis Diderot, der das Lexikon der Medizin von James ins Französische übersetzt hat, einer der Briefautoren ist (Odile Richard­Pauchet untersucht dessen Briefwech­ sel mit Sophie Volland, der in dieser Hinsicht sehr ergiebig ist); oder daß es einen Briefwechsel zwischen einem jungen Medizinstudenten wie Johann Bern­ hard Hermann und einem Schriftsteller wie Jean Paul gibt (analysiert von Monika Meier); oder daß der Briefautor ein belesener Literat, Patient und er­ fahrener und kritischer Beobachter der Medizin seiner Zeit ist (der aussagekräf­ tige Fall von Johann Gottwerth Müller ist exemplarisch und wird von Alexan­ der Ritter beleuchtet). Aber auch die „einfachen“ Laien stehen dem in nichts nach: die Briefwechsel von Literaten, berühmt oder nicht, von Künstlern, von Philosophen und von einfachen Kaufleuten eignen sich genauso für die Analyse wie die Briefe der Madame D’Epinay und des Abbé Galiani (bearbeitet von Renaud Redien­Collot), sowie die Briefe von Johann Gottwerth Müller (bear­ beitet von Alexander Ritter), Nicolas Poussin (bearbeitet von Matthias Bruhn), Friedrich Heinrich Jacobi (bearbeitet von Carmen Götz) und Jean Jacques Rousseau (bearbeitet von Anne­France Grenon). Genauso wie bei anderen Dokumenten, wie etwa Tagebüchern, Haushalts­ büchern, Autobiographien und anderen schriftlichen Notizen, lohnt sich die

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Vincent Barras/Martin Dinges

Auswertung der Korrespondenzen von Nichtmedizinern besonders6. Ange­ sichts ihrer Ergiebigkeit und ungeachtet ihrer typologischen Vielfalt müssen die Briefwechsel um ihrer selbst willen untersucht werden, egal ob sie zwischen Laien geführt werden, zwischen Ärzten und Gelehrten, zwischen Laien und Ärzten, zwischen Berühmtheiten oder zwischen Unbekannten: das weite Feld menschlichen Denkens und Handelns, das in den Selbstzeugnissen zum Aus­ druck kommt, schreibt sich von nun an ein in die ebenso weite Thematik der Patientengeschichte (im Englischen gelegentlich auch „history from below“ – „Geschichtsschreibung von unten“ genannt)7. Historikerinnen und Historiker können daraus unendlich viele Informationen gewinnen, sei es über das Ge­ sundheitsverhalten im alltäglichen Leben der Menschen, oder über ihre Kör­ per­ und Krankheitswahrnehmung, über ihre Art und ihre Gründe, unterschied­ liche Therapeuten und Heilungsmethoden in Anspruch zu nehmen, über die Art der Beziehung, die sie mit denen, die sie pflegen, unterhalten, über die Behandlungen, die sie sich selbst auferlegen oder bei Angehörigen anwenden. So erlaubt beispielsweise das Material über die therapeutischen Anwendungen der Patienten des Ehepaars Hahnemann, das Olivier Faure bei seiner Durch­ sicht der Briefe zusammengetragen hat, genauere Aussagen zur Frage der Be­ folgung therapeutischer Anweisungen: Indem man genauestens verfolgt, wel­ chen Gebrauch die Patienten von den verschriebenen Arzneien machen, ver­ steht man, wie sich eines der wesentlichen Elemente dieser Kultur, die privile­ gierte Beziehung zum Medikament – die unleugbar eine der grundlegenden Tendenzen der „Medikalkultur“ darstellt – in der alltäglichen Behandlungspra­ xis spätestens seit dem 1. Jahrhundert im Einzelnen herausbildet. Dort, wo sich die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung von sozialen Gruppen er­ streckt, wie die deutscher Männer zwischen 100 und 150, deren Familien­ briefe von Susanne Frank analysiert wurden, besteht die Hoffnung, daß sich soziale Muster erkennen lassen, die sich in den Kontinuitäten und im Wandel des Gesundheits­ und Krankheitsverhalten einzelner Gruppen, je nach Zuge­ hörigkeit zu Ober­, Mittel­, oder Unterschicht abzeichnen10. Was die medizi­ nische Soziologie für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgewiesen hat, gilt in gleicher Weise für die vorhergehenden Jahrhunderte: So können bei­ spielsweise für die Wahl einer Behandlung der Familienstand, die jeweilige Lebensphase oder soziokulturelle Unterschiede genauso entscheidend sein wie

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Über Gesundheit und Krankheit in Autobiographien und „Zeitungen“ siehe Chovjka 17, Piller 2001, Schmidt 2005, Hoffmann 2005, Hoffmann 2007, Schmidt 2007; zu Gesund­ heitsfragen in einer „Zeitung“ von einem Vater für seine Kinder, Heuschen 2006 , 10 f. 7 Siehe dazu Porter 15 und Lachmund/Stollberg 15. Neue Studien dazu: Ernst 1, Wolff 1, Dinges 2002a, Stolberg 2003.  Untersuchungen, die sich auf Briefe stützen, in Bezug auf Körper, Alter und Krankheit siehe Pusback 2001, Eijnatten 2005.  Beaune/Azéma 13. 10 Schweig 2007.

Einleitung

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die generell bestimmenden gesellschaftlichen Kategorien, wie z. B. die „Männ­ lichkeit“ in Bezug auf das Gesundheitsverhalten11. Der Wert solcher Quellen für eine Geschichte der Körpererfahrung und Krankheit ist offensichtlich, weil das Medium des Briefes einen privilegierten Zugang zum Körper zu eröffnen scheint und sich darin die ganze Komplexität des Gesundheitswesens offenbart. Sogleich stellt sich die Frage nach den Grün­ den für die Thematisierung des Phänomens Krankheit in Briefen. Gibt es möglicherweise eine besondere Beziehung, die das Verhältnis zwischen Brief und Krankheit auszeichnet? Das Schreiben über sich selbst, stellt Odile Richard­ Pauchet fest, läßt sich in seinem gleichermaßen totalisierenden und rationali­ sierenden Bemühen nicht trennen von einer Art permanentem Gesundheits­ bericht, der einen erst dazu befähigt, das Sein zu erhellen und zu verstehen. Im regelmäßigen und dauerhaften Austausch, der das Wesen des Briefwechsels über größere Entfernungen ausmacht, lassen sich die Briefpartner darauf ein, und sind mitunter geradezu gezwungen, über Symptome und Beschwerden, die sie plagen, oder über Heilmittel und andere Maßnahmen, die sie zur Ge­ nesung anwenden, ausführlich zu berichten, sowie gegenseitig darauf zu behar­ ren, um genau über den Gesundheitszustand des fernen Gegenübers unterrich­ tet zu sein. Allerdings besteht kein Zweifel daran, daß diese Erklärungen in hohem Maß abhängig sind vom jeweiligen Kontext und dem historischen Ort, an dem sie angesiedelt sind.12 Eine Konstante scheint jedenfalls erkennbar: Die Krankheit spielt sowohl bei den von Mathias Bruhn untersuchten Künstlern des 16. Jahrhunderts als auch bei dem von Carmen Götz analysierten Kauf­ mann und Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi, der am Ende des Zeitalters der Aufklärung lebte, als Topos eine bedeutende Rolle. Während sich bei jenen die moralisierende Funktion an antiken Vorbildern der Selbstdarstellung ori­ entiert, übernimmt sie bei diesem – vor dem Hintergrund der Emanzipation des Bürgertums und dessen Leistungsstreben – die Funktion einer Rechtferti­ gung. Es wird deutlich, daß in diesem spezifischen Kontext jedes falsche Verhal­ ten – im Hinblick auf die sozialen Beziehungen oder die ökonomischen Ver­ hältnisse – wenn nötig mit dem Hinweis auf den körperlichen Zustand entschul­ digt werden kann: Die Krankheit erhält so den Status einer allgemeinen Rechtfertigungsinstanz. Solche Funktionen der „Krankheit in Briefen“ verdeut­ licht auch Alexander Ritter im Fall der Briefe, die der „freie Schriftsteller“ Jo­ hann Gottwerth Müller an seinen Verleger Nicolai schreibt: Die Krankheit ist hier nicht allein ein Gegenstand, über den sachlich Rechenschaft abgelegt wird, sondern auch und vor allem die Grundlage der eigenen Identität, und in diesem besonderen Fall zugleich ein Mittel, seinen Rang innerhalb der kulturellen Elite zu behaupten.

11 Dinges 2002c und 2007a. 12 Habermas 2000, 167 f., 17 f., 246 f. besteht auf der Differenzierung nach Gattungen in Bezug auf die Thematisierung der Krankheit.

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Vincent Barras/Martin Dinges

Sich die Frage nach den besonderen Eigenheiten der Beziehungen zwischen Brief und Krankheit zu stellen, heißt auch, seine Aufmerksamkeit den Phäno­ menen des Auftretens, der Fortdauer und des allmählichen Verschwindens bestimmter weit verbreiteter Krankheitsbilder zu widmen, wie z. B. im Zeitalter der Aufklärung der Hypochondrie oder den Gemütsstörungen und nervösen Leiden: Die Korrespondenz Jacobis oder der Briefwechsel zwischen Jean Paul und Johann Bernhard Hermann, den Monika Meier beschreibt, lassen vermu­ ten, daß diese Muster in der jeweiligen Zeit besonders geeignet waren, Leiden zum Ausdruck zu bringen, ja sogar das allgemeine Körperempfinden einer Zeit, so wie es später mit den chronischen und degenerativen Krankheiten der Fall ist, die in den Briefen beschrieben werden, die Sylvelyn Hähner­Rombach analysiert. Diese vermitteln zwar den Eindruck des Versagens der akade­ mischen Medizin, scheinen aber zugleich einen generellen Ansatz zur Interpre­ tation der unterschiedlichsten individuellen Leiden zu bieten. Auch wenn selbstverständlich jede Erfahrung von der Sprache eines Jahr­ hunderts oder eines Zeitabschnitts geformt wird, wenn es unwiderlegbar Mo­ dekrankheiten gibt und andere, die es nicht mehr sind, gilt es, nicht der Versu­ chung zu erliegen, die Körpererfahrungen und Krankheiten ausschließlich auf eine Handvoll Parameter zu reduzieren, was ohnehin im Widerspruch zur enormen Fülle der Briefe stünde. In der Tat erlaubt, ja erfordert es der Brief, sich auf den Standpunkt des Individuums zu begeben. So lassen sich regelrechte Patientenbiographien erstellen und Einblicke gewinnen in die unterschied­ lichen Maßnahmen, die zur Erhaltung oder zur Wiedergewinnung der Gesund­ heit übernommen und angewandt werden: Der Brief bildet einen Rahmen, in dem – „in aller Vertraulichkeit“, wie Philip Rieder bemerkt – die eine oder andere Präferenz, diese oder jene Einschätzung offen ausgesprochen werden kann. Er eignet sich somit, „jene minimalen Abweichungen des Verhaltens, die die gesellschaftliche Komplexität erzeugen,“ herauszustellen. Die Beiträge von Marion Maria Ruisinger, Odile Richard­Pauchet und Séverine Pilloud belegen ebenso, in welchem Maße dieses Medium mehr als jedes andere es dem kran­ ken Individuum erlaubt, sichtbare Gestalt anzunehmen. Ob der Kranke selbst zur Feder greift, um mit dem medizinischen Experten in einen Dialog einzu­ treten oder ob er, was sehr häufig der Fall ist, einen Dritten beauftragt, seine Korrespondenz zu führen, es handelt sich für uns immer um Entdeckungen „aus erster Hand“. Wir sind sogar in der Lage „durch seine Augen hindurch“ zu erkennen, was Gesundsein oder Krankwerden für ihn bedeutet und wie er seine Versuche, sich Besserung zu verschaffen, beurteilt. Führt man den Gedanken weiter, stellt sich die Frage, welche Funktion das Schreiben über die Krankheit hat: nicht die in irgendeiner schriftlichen Gattung – ein Tagebuch hätte sicher andere Funktionen – sondern genau diejenige, die sich im dialogischen Raum der Korrespondenz entfaltet und die auf dem be­ ruht, was Anne­France Grenons als Austausch zwischen zwei „korrespondieren­ den Körpern“ bezeichnet. Bei der Untersuchung der Korrespondenz Rousseaus bestätigt sich noch einmal, daß dieses Medium – wie jedes andere – niemals nur ein einfaches Mittel zum Zweck ist, vielmehr konstituiert sich erst mit ihm

Einleitung

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und in ihm die Botschaft. Ein „briefliches Ich“ entwirft sich im brieflichen Aus­ tausch, den die Krankheit, die hier eine ambivalente Funktion einnimmt, ei­ nerseits behindert und stört, andererseits jedoch auch in Gang hält: Wenn Rousseau nicht krank gewesen wäre, hätten ihm seine Briefpartner nichts zu schreiben gehabt. Mehr noch, die Krankheit ermöglicht es nicht nur, sich als „krankes Ich“ zu entwerfen, sondern überhaupt als ein „Ich“. Alexander Ritter, Séverine Pilloud oder Michael Stollberg betonen in unterschiedlicher Weise die Funktion des „self­fashioning“, die das Schreiben übernimmt. Die Patien­ tenbriefe sind eigentlich mythopoetischer Art; verfaßt, um auf den Empfänger zu wirken, wirken sie gleichermaßen auf den, der schreibt! Denn der Brief ist weder die simple biographische Quelle, als die er früher meist in der histo­ rischen Forschung verwendet wurde, noch der unmittelbare Enthüller der Subjektivität „eines Individuums…, das in seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst mehr oder weniger festgelegt ist“, wie Renaud Redien­Collot präzi­ siert.13 Es wird deutlich, daß es methodisch notwendig ist, sich in jedem einzel­ nen Fall zu fragen, was das Schreiben eines Briefes an individuellen Eigenarten zuläßt, wobei es gilt, den dynamischen Charakter dieses Aktes zu berücksich­ tigen, über den die angeblich perfekte therapeutische Beziehung, bei der Arzt und Kranker gleichzeitig anwesend sind, nicht verfügt. Auf der anderen Seite muß die Frage nach den Grenzen dieser brieflichen medizinischen Praxis ge­ stellt werden. Generell sind Briefe, die als nebensächliche Quellengattung angesehen wurden, lange Zeit vernachlässigt worden, bevor sie seit inzwischen einigen Jahrzehnten auf ein wachsendes Interesse stießen, das mehrere unterschiedliche Arbeitsfelder der Literatur­ und Kulturgeschichte miteinander verband: Ego­ Histoire, Tagebücher, Autobiographien, Geschichte der Kommunikations­ netze.14 Vergleichbare Entwicklungen veranlassen uns über die Gesamtheit der Bedingungen und Eigenschaften, die dieses einzigartige Medium ausmachen, nachzudenken, wobei es sicher naiv wäre zu glauben, daß es sich in jedem Fall um eine unmittelbare, rasch auf das Papier geworfene Wiedergabe von Infor­ mationen und persönlichen, teilweise mit objektiven Tatsachen vermischten Eindrücken handelte. Diese Dokumente sind bekanntermaßen der Anlaß für zahlreiche editorische Projekte von Briefwechseln zwischen großen oder weni­ ger großen Namen der „Gelehrtenrepublik“15. Sie folgen darin einer alten Tradition, die Briefe allein nach thematischen Gesichtspunkten klassifiziert. 13 14

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Beer 10, 133f, 20 f., 22 f. und Dinges 2004 verwenden den Brief als Informationsquelle für eine Sozialgeschichte der Gesundheit. Vgl. aus der reichhaltigen Literatur z. B. Altman 12, Bossis/Porter 10, Chartier 11, Trepp 13, Bossis 14, Bérubé/Silver 14, Haroche­Bouzinac 15, Ulrich 17, Grassi 1, Siess 1, Earle 1, Habermas 2000, Herres und Neuhaus 2002, Reinlein 2003, Hämmerle und Saurer 2003, Dietzsch 2004, Bland/Cross 2004, Ruberg 2005, Duchêne 2006. Vgl. zu einigen neueren Ausgaben von Briefwechseln die kritische Stellungnahme von Steinke 2004; Fragen des Gesundheitswesens werfen Helbich/Kanphoefner 2002 und Macha/Nikolay­Panter/Herborn 2003 anhand von Sammlungen von Auswandererbriefen auf.

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Roger Duchêne beschreibt in seinem kürzlich erschienenen Überblick über die Entstehung der Briefkultur (definiert als „Gesamtheit der Faktoren, die an den Austausch von Briefen gekoppelt sind“) im Frankreich der frühen Neuzeit, wie sich schon seit dem 16. Jahrhundert in den unterschiedlichen Briefstellern und anderen spezialisierten Handbüchern, die dem „Stil und dem Aufbau schrift­ licher Mitteilungen mit einer Anzahl von Regeln und Argumenten“ gewidmet sind, die Versuche, den Brief zu klassifizieren, häufen16: Geschäftsbriefe, Emp­ fehlungsschreiben, Gesuche, Dank­, Glückwunsch­ und Beileidsadressen, Briefe mit Vorwürfen oder Galanterien sowie Liebes­, Helden­ oder Familien­ briefe…17. Man könnte sich nun damit begnügen, den „Patientenbrief“ als weiteren Typus dieser Liste hinzuzufügen. Allerdings ließ sich schon in den Augen der Zeitgenossen der Brief nicht allein auf seinen Inhalt reduzieren, was auch immer damit beabsichtigt war. Im Jahr 160 definierte Furetières Wörterbuch zwei Ar­ ten von Briefen: jene, in denen sich eine „freie Beziehung“ zwischen einzelnen Personen ausdrückt (Freunde, Eltern, Liebespaare, Mitglieder einer Gemein­ schaft), und jene (die „Sendschreiben“ nach Furetière), über die ein Zwang auf dritte im Rahmen der Regeln des kollektiven Zusammenlebens ausgeübt wird. Übertragen wir die Vorschläge Furetières auf den Bereich der „Patientenbriefe“ (auf die sein Wörterbuch nicht eingeht), dann können diese in all den unterschied­ lichen Formen, in denen sie seit dem 16. Jahrhundert überliefert sind, in diese doppelte Polarität eingeschrieben werden. Einerseits kommt in ihnen die „freie Beziehung“, von der Furetière spricht, zum Ausdruck, so in der Möglichkeit der Schilderung der Zustände und Leiden des Körpers, sicher nicht spontan, aber doch so direkt wie möglich – unter Berücksichtigung des Vermittlungscha­ rakters, der dem Schreiben eigen ist (und die Séverine Pilloud für den Fall der Patienten, die an Tissot schreiben, ausführlich analysiert). Andererseits kommt hier ein Zwang zum Tragen, der sich aus den definierten Regeln der sozialen Beziehungen ergibt: dem Autoritäts­, Abhängigkeits­ oder Respektsverhältnis dem Gesprächspartner gegenüber – sei es der Arzt oder irgend ein anderer Adressat. Der Brief funktioniert in diesem Zusammenhang letztlich in gleicher Weise als Schutz, als simples Ventil (es existieren Briefe, die obgleich geschrie­ ben, niemals abgeschickt worden sind) oder als kalkulierte Mitteilung an einen spezifischen Empfänger. Das in dieser Weise entstandene Feld der Kommuni­ kation ist also unheilbar komplex und kann nicht auf die simple Gleichung eines von einem Sender an einen Empfänger übertragenen Inhalts reduziert werden. Zwischen dem einen und dem anderen etabliert sich eine Beziehung, die nicht gleichberechtigt ist und die gleichzeitig ein aktives Verhältnis der Beteiligten voraussetzt. Und genau das ist es, was uns vor einer allzu wörtlichen Lektüre warnen sollte, die im Brief nur einen Informationsträger sieht, der 16 Um den Titel eines Buches von Jean Bourlier aufzunehmen, das 1566 in Antwerpen ver­ öffentlicht wurde (zitiert bei Duchêne 2006); über die Briefsteller im deutschen Sprach­ raum vgl. Hämmerle und Saurer 2003, 20, sowie Anderegg 2001 und Linke 16, 303–30 für die bürgerliche Praxis. 17 Duchêne 2006,  f.

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geeignet scheint, die „Wirklichkeit“ der Krankheit zu dokumentieren, so wie sie der Patient tatsächlich erlebt. Die allgemeine Geschichte des Briefes und der Korrespondenzpraktiken ist also auch bestimmend für das Phänomen der „Krankheit in Briefen“. Von ihr erhält sie den Charakter der gelebten Erfahrung jenseits der bloßen Kommu­ nikationsabsicht oder einer reinen Schreibbemühung. Über die Krankheit zu schreiben, ist eine ganz eigene Erfahrung; der Vollzug dieser Handlung bedeu­ tet Präsenz und funktioniert wie ein Prisma. Außerdem wird der Inhalt von dieser spezifischen Art des Schreibens, die dem Briefwechsel eigen ist, be­ stimmt. Renaud Redien­Collet analysiert die Bedeutung, die die Frage der Autorität im Briefwechsel zwischen Mme d’Epinay und dem Abbé Galliani hat: für beide Briefpartner geht es darum, gewisse Kenntnisse auszutauschen, ein gewisses Einverständnis zu teilen, und dabei eine oder mehrere Formen von Autorität auszuüben und zu erfahren, nämlich zu zeigen, was man ist, was man weiß und kann und was man macht, in dem Moment, da man sich auf den Prozeß des brieflichen Austauschs einläßt, der zugleich ein Prozeß persönlicher Verwandlungen ist. Die Briefpartner eignen sich den Diskurs der fachlichen Autoritäten an, indem sie sich gegenseitig mit Fragen und Hinweisen bedrän­ gen, verwenden ihn umstandslos vermischt mit ihren persönlichen Erfah­ rungen, und vermitteln so den Eindruck, die medizinische Autorität sei ein kollektives Konstrukt. Damit steht auch die Autorität des Arztes auf dem Spiel. Diesen Aspekt analysiert Benedino Gemelli in den Briefwechseln des Arztes Antonio Vallisnieri mit seinen Patienten. Es setzt ein gegenseitiger Austausch von Meinungen ein, die vorbereitende und notwendige Phase zur Etablierung einer therapeutischen Beziehung. Die Autorität und das Ansehen des Arztes beruhen vor allem auf seiner Fähigkeit, den Verlauf der Krankheit vorauszuse­ hen, den Patienten in seinen Erwartungen zu bestärken, seine Verzweiflung zu besänftigen – und diese Ziele können durch die besonderen Eigenheiten der brieflichen Kommunikation erleichtert werden. Dieser Auffassung folgend macht Olivier Faure anhand der an das Ehepaar Hahnemann gerichteten schriftlichen Selbstzeugnisse der Kranken nicht nur die Wirksamkeit kultureller Vorgaben deutlich, sondern auch das Vorhandensein eines regelrechten Be­ mühens um die Herausbildung neuer Praktiken und Verhaltensweisen auf seiten der Kranken, angetrieben von der Interaktion mit den Ärzten. Als Pro­ dukt der Dynamik brieflichen Austauschs fordert uns der Patientenbrief dazu auf, uns von unseren gewohnten Pfaden der Lektüre zu entfernen. Wie Séverine Pilloud betont, muß es in jedem einzelnen Fall darum gehen, die Bedingungen des Erzählens zu rekonstruieren, die „Inszenierung der Leiden“, der sich die unterschiedlichen Autoren der Briefe bedienen, zu erkennen und nachzuvoll­ ziehen, um der Vielfalt der schriftlichen Ausdrucksformen gerecht zu werden. Im Unterschied zum Arzt, der die Anamnese um ihrer selbst willen durchfüh­ ren muß, befindet sich der Historiker im Irrtum, wenn er glaubt, es ginge darum, Krankheitsursachen auf die Spur zu kommen.1 Für ihn ist es ganz im 1 Siehe Leven 1.

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Gegenteil wichtig, die relative Autonomie anzuerkennen, die sich die Patienten in der Erzählung ihres Krankheitsverlaufes zunutze machen können, und zu berücksichtigen, welche mehr oder weniger ausgeprägten Möglichkeiten den Patienten gegeben sind, über die Ausgestaltung ihres Berichtes und die Ausnut­ zung interpretativer Spielräume ihren Standpunkt in Bezug auf ihre Leiden geltend zu machen. Aus dieser Perspektive sind sich Brief und Körper auf ei­ genartige Weise ähnlich: der eine wie der andere ist kein einfach zu lesendes und klassifizierendes Dokument in dieser oder jener Gattung, der eine wie der andere ist die Frucht gelebter Erfahrung und versuchsweiser Deutungen, der eine wie der andere bringt schließlich Prozesse in Gang, die unterschiedliche Betrachtungsweisen erfordern. Anhand der geschilderten möglichen Annäherungen an den Gegenstand dieses Buches, Krankheit in Briefen, ist deutlich geworden, daß die Themen­ stellung komplex ist. Das reicht vom gewöhnlichen Brief eines individuellen Autors ( Jean­Jacques Rousseau, der Unternehmer Krupp, Madame de Mirmont oder irgend jemand, der einer Institution schreibt), geschrieben und adressiert an einen ebenfalls identifizierten und genannten Empfänger, sei es ein Indivi­ duum oder eine neutrale Instanz (Docteur Tissot, Samuel Hahnemann oder der Verein Natur und Medizin), über die große Anzahl der Korrespondenzen zwischen Familienmitgliedern, Gebildeten und in Verwaltungen (der Barock­ maler Nicolas Poussin, der angesehene Friedrich Heinrich Jacobi in Bamberg, die Tochter eines in einem Pariser Krankenhaus verstorbenen Patienten), ohne die eigenständige Gattung der vorschriftsmäßig herausgegebenen Sammlungen medizinischer Korrespondenzen zu vergessen, bis hin zu den Grenzphäno­ menen, zu denen je nach dem hier eingenommenen Standpunkt die Autobio­ graphie und das Tagebuch gehören. Wie vielfältig die Quellen auch sein mögen, es muß darum gehen, die jeweiligen Besonderheiten deutlich zu machen. So ist es das Ziel des vorliegenden Bandes „Krankheit in Briefen“, anhand der darin versammelten unterschiedlichen Ansätze, die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten und den Reichtum dieser spezifischen Quelle zu lenken. Der Brief ist ein Ort der Selbstbesinnung und Selbstbestimmung. Als solcher be­ deutet er eine unersetzbare Quelle, deren Lektüre es ermöglicht, die historische Entwicklung der Wertvorstellungen und Erwartungen der Korrespondierenden im Hinblick auf Gesundheit und Krankheit zu erkennen. Es ist gut möglich, daß der Brief aufgrund der besonderen Beziehungen, die sich zwischen ihm, dem Körper und der Krankheit entfalten, ein privilegiertes Medium zu ihrer Erforschung darstellt, denn er ist ein wahrhaftes Laboratorium der Selbsterfah­ rung: Das gilt es im Auge zu behalten, sowohl für die wissenschaftliche Zunft, als auch für das größere Publikum, das sich für die Geschichte von Gesundheit und Krankheit, die Geschichte der Empfindungen und die Geschichte kultu­ reller Praktiken interessiert.

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Vincent Barras/Martin Dinges

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Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur Michael Stolberg

Einleitung Im Zuge ihrer sozial- und kulturgeschichtlichen Erweiterung hat sich die medizingeschichtliche Forschung in den vergangenen Jahren vermehrt den Erfahrungen und Deutungen der medizinischen Laien zugewandt. Gestützt auf neue Ansätze und Erklärungsmodelle aus historischer Anthropologie und medizinischer Kulturanthropologie ist die „Patientengeschichte“ zu einem wichtigen Zweig der medizinhistorischen Forschung geworden. Zahlreiche Selbstzeugnisse wurden neu erschlossen oder medizingeschichtlich nutzbar gemacht. Dazu zählen Tagebücher, private Korrespondenzen, Haushaltsbücher, Autobiographien und nicht zuletzt das Quellengenre, das im Mittelpunkt dieses Beitrags steht: der „Patientenbrief“. Damit soll hier eine Reihe verwandter Textsorten bezeichnet werden, die aus der Praxis der brieflichen Laienkonsultation hervorgingen. Sie sind in der historischen Forschung seit langem bekannt, doch das Ausmaß ihrer archivalischen Überlieferung und, vor allem, ihr großes heuristisches Potential ist erst in jüngster Zeit ins Bewußtsein gerückt. Ausgehend von meiner eigenen eingehenden Arbeit mit frühneuzeitlichen Patientenbriefen, möchte ich im folgenden dieses Genre und seine geschichtliche Entwicklung kurz beschreiben. Anschließend werde ich unter den Stichworten „Erfahrung“, „Self-fashioning“ und „Diskurs“ exemplarisch drei Ebenen einer kulturgeschichtlichen Analyse von „Patientenbriefen“ vorstellen. Textsorten Vorbild und Inspiration für die vormoderne briefliche Laienkonsultation war die ärztliche Briefkonsultation. Ausführlich beschrieb der behandelnde Arzt     

Die Arbeit an diesem Beitrag wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch ein Heisenbergstipendium und im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 7 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ gefördert. Programmatisch: Porter 98a; Überblicke bei Wolff 998; Ernst 999; beispielhaft Jütte 99; Porter 98b; Porter und Porter 989. Vgl. Stolberg 996. Auf illustrierende Beispiele oder Zitate und auf Hinweise auf die umfangreiche weiterführende Literatur muß ich aus Raumgründen verzichten und verweise statt dessen auf meine ausführliche Darstellung in Stolberg 00. Auch aus dem 9. und 0. Jahrhundert sind selbstverständlich zahlreiche Briefe von Kranken und Angehörigen überliefert, in den Archiven von Selbsthilfeorganisationen oder von Zeitschriften mit medizinischen „Ratgeber-Ecken“ beispielsweise. Ihr Entstehungszusammenhang aber war ein anderer. Die Epoche der Briefkonsultation war zu Ende.



Michael Stolberg

hier einem angesehenen Kollegen das Krankheitsbild und die Krankengeschichte seines Patienten, und der konsultierte Arzt fällte aufgrund dieser Schilderung aus der Ferne sein diagnostisches und therapeutisches Urteil. Solche ärztliche Konsilien blieben bis ins 8. Jahrhundert ein wichtiger und einträglicher Teil ärztlicher Praxis. Eine wachsende Zahl von Kranken überließ die briefliche Ratsuche allerdings nicht mehr ihren Ärzten oder Chirurgen. Sie wandten sich unmittelbar an einen berühmten Arzt und schilderten ihm in eigenen Worten ihre Beschwerden, ihre Krankengeschichte und die bisherigen Behandlungsversuche anderer Heiler. Manche faßten sich sehr kurz. Andere beschrieben dagegen ausführlich ihre körperliche Verfassung, ihre Lebensweise, ihre Ernährung und breiteten ihre Leidens- und Lebensgeschichte aus. Mit gutem Grund: schließlich sollte der Arzt ja allein aufgrund der brieflichen Schilderung zu einer genaueren Diagnose und zu einer wirksameren Behandlung gelangen als die bisherigen Ärzte, und das ohne den Kranken je zu sehen. Nachfolgende Briefe dienten dann gegebenenfalls dazu, den Arzt über den Erfolg oder Mißerfolg der Behandlung und den Verlauf der Krankheit zu unterrichten oder vergessene Details nachzutragen. Manche Patienten schickten zusammen mit einem Begleitbrief sogar eine förmliche, oft auch so betitelte „Krankengeschichte“ oder „Historia morbi“, die den Krankheitsfall nach dem Vorbild der ärztlichen Kasuistik möglichst systematisch und/oder in exakter chronologischer Anordnung darlegte. Sie war nicht selten in der dritten Person gehalten oder bediente sich gar nach ärztlichem Vorbild eines Pseudonyms wie „Titius“. Wenn der Begleitbrief keine Hinweise gibt und der Verfasser auch nicht während des Schreibens auf die weniger distanzierte Ich-Form umschwenkte, erlauben nur Stil und (Un-)Strukturiertheit der Darstellung, eine laienhafte Begrifflichkeit und Orthographie sowie die fehlende, bei Ärzten aber übliche Unterschrift gegebenenfalls, einen ärztlichen Verfasser einigermaßen sicher auszuschließen. Nicht nur die Kranken selbst schrieben6. Auch Ehepartner, Angehörige, Bekannte und Freunde, ja Dorfpfarrer, Obrigkeiten und Arbeitgeber fragten brieflich um Rat, oft auf Bitten oder mit dem Einverständnis der Patienten, zuweilen auch heimlich, hinter deren Rücken. Um „Patientenbriefe“ im Wortsinn handelt es sich hier selbstverständlich nur bei großzügiger Auslegung7. Doch spiegeln auch sie die Wahrnehmungen und Deutungen medizinischer Laien, und sie eröffnen wertvolle zusätzliche Einblicke in den alltäglichen Umgang mit Krankheit und ihren Folgen. Manche Briefe, sei es von Kranken, sei es von Angehörigen, waren auch nicht direkt an den betreffenden Arzt gerichtet, sondern an eine Mittelsperson, die ihr Anliegen beim Arzt vertreten sollte, an Verwandte oder Bekannte etwa, die den Arzt besser kannten und womöglich an dessen Wohnort lebten, oder 6 7

S. a. Pilloud 999; Louis-Courvoisier/Pilloud 000. Auch bei Briefen hochrangiger Kranker, die zwar in der Ich-Form, aber in der Kanzleischrift eines professionellen Schreibers gehalten sind, ist nicht immer sicher, daß sie wirklich einem wörtlichen Diktat oder einer eigenhändigen schriftlichen Vorlage des Patienten folgten.

Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur



auch an seine Ehefrau oder an andere Menschen in seinem Umfeld. Persönliche Fürsprache und briefliche Empfehlungsschreiben waren damals generell ein verbreitetes Mittel, um Zugang zu fremden, gar sozial höherstehenden Personen zu erlangen. Zweifellos wußten und wollten die Briefschreiber, daß ihr Brief womöglich einfach an den Arzt weitergeleitet wurde, unter dessen Papieren wir ihn heute wiederfinden. Eine Besonderheit anderer Art bilden Briefe, in denen sich Kranke oder Angehörige schriftlich an jenen Arzt oder Heilkundigen wandten, der sie sonst persönlich betreute. Vor allem im 6. und 7. Jahrhundert finden sich derlei Briefe in überlieferten Ärztekorrespondenzen teilweise häufiger als die primäre briefliche Konsultation bei einer fernen Koryphäe8. Manchmal erzwang eine vorübergehende Abwesenheit des Kranken oder des Arztes den zeitweisen schriftlichen Verkehr. Öfter wohnte der nächstgelegene Arzt mehrere Stunden oder gar Tage entfernt und besuchte den Kranken deshalb nur, wenn es sein mußte. Vor allem für Adlige auf ihren Landsitzen und für gebildete Klostergeistliche war der Brief nicht selten die einzige Möglichkeit, sich langfristig fern von der Stadt eine kontinuierliche ärztliche Versorgung zu sichern9. Auf eine eingehende Schilderung der Krankengeschichte oder der allgemeinen körperlichen Verfassung konnten sie in der Regel verzichten. Der Arzt kannte sie ja schon. Auch die üblichen Gruß- und Schlußformeln erübrigten sich weitgehend. An ihre Stelle trat womöglich ein schlichtes „Lieber Herr Doctor“. Zu erwähnen sind schließlich auch schriftliche Aufzeichnungen und Krankengeschichten, die manche Kranke persönlich zur Visite mitbrachten, vermutlich aus Sorge, im mündlichen Gespräch wichtige Informationen zu vergessen. Unter den Papieren Samuel Hahnemanns, des Begründers der Homöopathie, sind auch tagebuchähnliche Notizen der Patienten über ihren täglichen Zustand überliefert, die sie ihm teilweise offenbar ebenfalls persönlich übergaben. Sie eröffnen besonders detaillierte Einblicke in die ganz alltägliche Körperwahrnehmung der Kranken, doch fehlen ihnen die typischen Merkmale eines Briefs0. Historische Entwicklung Die Geschichte und archivalische Überlieferung der „Patientenbriefe“ im hier verstandenen Sinne läßt sich grob in drei Phasen einteilen. In einer ersten Phase, vom ausgehenden Mittelalter bis etwa 680, griffen Patienten und Angehörige nur vereinzelt selbst zum Mittel einer brieflichen Konsultation. Die vermittelte briefliche Ratsuche über den behandelnden Arzt vor Ort herrschte 8

Vgl. etwa die Briefe an den St. Gallener Arzt Joachim Watt im frühen 6. Jahrhundert (Watt 890–9), deren patientengeschichtlichen Ertrag ich demnächst ausführlicher vorstellen möchte. 9 SUB Frankfurt, Senckenbergarchiv, Ms. 6, Briefe von Graf und Gräfin von NassauSaarbrücken an Daniel Horst 66–66. 0 Vgl. Stolberg 999a; Dinges 00.

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gegenüber Laienbriefen noch weithin vor. Letztere wurden, wenn überhaupt, meist von Männern und auf Latein geschrieben, nicht selten im Rahmen einer gelehrten Korrespondenz, in der sich die Briefpartner auch über andere Themen austauschten. Nur unter besonderen Umständen erlangte die Laienkonsultation schon damals größere Bedeutung, wie die umfangreiche Patientenkorrespondenz des Leonhart Thurneisser zeigt. Thurneisser machte sich in den 70er Jahren mit kostspieligen Spezifika, Geheimmitteln und astrologischen Kalendern einen Namen. Er entwickelte zudem ein aufsehenerregendes Verfahren der Krankheitsdiagnose durch Harndestillation: Art und Ort des Harnkondensats im Auffangglas sollten die Natur und Lokalisation der jeweiligen Krankheit verraten. Thurneisser versprach seinen Patienten also besondere Kompetenzen, die sie bei anderen Ärzten nicht vermuten durften. Andererseits waren die wenigsten galenischen Ärzte bereit, stellvertretend für ihre Patienten bei dem berüchtigten Paracelsisten um Rat zu fragen. Deshalb wandten sich die Kranken und ihre Angehörigen meist direkt und in deutscher Sprache an ihn. Vom ausgehenden 7. Jahrhundert bis etwa 800 reicht dann die Blütezeit der brieflichen Laienkonsultation. Aus dieser Zeit sind Tausende von Patientenbriefen überliefert. Fast in jeder hinterlassenen Ärztekorrespondenz finden sich zumindest ein paar von ihnen und in manchen Fällen sind umfangreiche Sammlungen überliefert, wie die Briefe an Sloane in London, an Geoffroy in Paris, an Tissot in Lausanne oder an Cullen in Edinburgh. Auch in den gedruckten Sammlungen von Konsilien berühmter Ärzte wie Friedrich Hoffmann oder Herman Boerhaave finden wir neben vielen ärztlichen Konsultationen eine beträchtliche Zahl von Laienbriefen. An diesem Aufschwung hatte das verbesserte Postwesen wesentlichen Anteil. Zu Thurneissers Zeiten mußten sich Arzt und Patient vielfach noch eines eigenen Boten bedienen und praktische Fragen der Übermittlung des Geldes und der Medikamente nahmen oft großen Raum ein. Dazu kam, daß mehr und mehr Menschen lesen und schreiben konnten und bereit waren, in Krankheitsfällen einen Arzt hinzuzuziehen. Notfalls, bei schweren und hartnäckigen Erkrankungen, leisteten sie sich auch eher die zehn Gulden oder den Louis d’or für ein briefliches Konsil. Volkssprachliche Gesundheitsratgeber, der persönliche Austausch mit ihren Ärzten und das Gespräch untereinander verhalfen wiederum zu dem medizinischen Grundwissen, das ihnen das Vertrauen gab, ihren Fall auch selbst in angemessener Weise vortragen und mit dem Arzt diskutieren zu können.  Typische Beispiele sind die Briefe an Johann und Otto van Heurne aus dem späten 6. Jahrhundert (Universitätsbibliothek Leiden, Ms. Marchand ).  Staatsbibliothek Berlin, Ms. germ. fol. 99, 0a, 0b, a, b, a, b, a, b, , , 6.  Bibliothèque Interuniversitaire de Médecine, Paris, Ms. –; s. a. Brockliss 99; Bibliothèque Cantonale et Universitaire, Lausanne-Dorigny, IS 78 (Fonds Tissot); zu Cullen siehe Risse 97.  Hoffmann 7–79; Boerhaave 7.

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Im 9. Jahrhundert verlor die briefliche Fernbehandlung rasch an Bedeutung. Konsultationen aus Laienhand sind nun viel spärlicher überliefert, obwohl die archivalische Überlieferung generell viel dichter ist. Da vielerorts die Ärztedichte stark anstieg, konnten die Kranken vermehrt auch außerhalb der größeren Städte verschiedene Ärzte vor Ort befragen und mußten sich nicht gleich an einen fernen Arzt wenden. Wahrscheinlich machten sich allmählich auch wachsende Vorbehalte gegen eine ausschließlich briefliche Diagnose und Behandlung bemerkbar. Krankheiten wurden stärker als früher in bestimmten Organen, in bestimmten Körperteilen verortet und galten immer weniger als Folge von schädlichen Krankheitsstoffen, die den Körper mehr oder weniger nach Belieben durchwandern konnten. Im ausgehenden 9. Jahrhundert wurden gar Stethoskop und Thermometer zu unverzichtbaren diagnostischen Werkzeugen und die Patienten erwarteten ihren Einsatz. Dazu kam eine wachsende Vereinheitlichung, ja Standardisierung der offiziellen Medizin, zumindest in der ärztlichen Selbstdarstellung. Das Vertrauen in das besondere diagnostische oder therapeutische Genie einzelner berühmter Koryphäen verlor damit an Bedeutung. Es wurde schwieriger, sich durch individuelle Ansätze zu profilieren, wie die stundenlangen Bäder des Pierre Pomme oder die täglichen Spaziergänge, die Théodore Tronchin seinen Patienten empfahl. So blieb die Fernbehandlung vor allem dort wichtig, wo die Patienten den gewünschten, kompetenten Rat weiterhin nur bei bestimmten Ärzten oder Heilern erwarten durften und diese nicht ortsnah erreichbar waren. Das galt vor allem für die neuen unorthodoxen Behandlungsverfahren wie Baunscheidtismus und Homöopathie. Die Patientenbriefe an den Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, und dessen Frau Melanie bilden mit mehreren Tausend Stücken eine der größten überlieferten Sammlungen von Patientenbriefen überhaupt6. Perspektiven der inhaltlichen Erschließung Briefliche Laienkonsultationen lassen sich für vielerlei medizinhistorische Fragestellungen fruchtbar heranziehen. Sie geben mannigfaltige Hinweise auf den alltäglichen, lebensweltlichen Umgang mit Krankheit, auf die Inanspruchnahme unterschiedlicher Heilkundiger und Behandlungsverfahren, auf die Arzt-Patienten-Beziehung, auf die häusliche Krankenpflege oder auf die Suche nach transzendentem, religiösem Sinn. Im folgenden möchte ich jedoch drei primär kulturgeschichtlich ausgerichtete Analyseebenen hervorheben, für die sich die Arbeit mit Patientenbriefen als besonders fruchtbar erweist. Ich werde sie verkürzend mit „Erfahrung“, „Self-fashioning“ und „Diskurs“ überschreiben.  Baunscheidt 8, mit zahlreichen Leser- bzw. Patientenbriefen. 6 Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, Bestände B und C; vgl. Meyer 98, Nachtmann 99 sowie den Beitrag von Faure in diesem Band.

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Erfahrung Die „Erfahrung“ ist mit dem Aufschwung der historischen Anthropologie in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Schlüsselbegriff der Geschichtsforschung geworden7. Der Wert von Patientenbriefen für die historische Analyse der „Erfahrung“ speziell von Krankheit und Körper liegt auf der Hand. Nirgendwo sonst äußerten sich medizinische Laien in größerer Zahl, und zwar Männer wie Frauen, so ausführlich und detailliert über ihre krankhaften körperlichen Empfindungen und über die Bedeutung, die sie diesen beimaßen. Eine erstaunliche Vielfalt medizinischer Laienauffassungen wird hier faßbar, von Begriffen, Bildern und Metaphern, mit denen die Menschen Krankheit und Schmerz begegneten und mit deren Hilfe sie verbreitete oder gefürchtete Krankheiten wie Fieber, Schwindsucht, Krebs, Gicht oder Skorbut zu verstehen und gewissermaßen zu domestizieren suchten. Auch tabuisierte oder schambehaftete Leiden kamen ungewöhnlich ausführlich zur Sprache, ja, manche Patienten scheinen in solchen Fällen die vergleichsweise anonyme Konsultation eines entfernten Arztes sogar bevorzugt zu haben. So wollten Frauen Mittel gegen Ausfluß oder schilderten die Schmerzen und Beschwerden, die sie allmonatlich vor oder während der Periode hatten. Männer fragten wegen Geschlechtskrankheiten, Bruchleiden oder Impotenz um Rat. Selbstverständlich ist die historische Rekonstruktion von „Erfahrung“ stets auch problematisch: der sprachliche Ausdruck von Erfahrung ist mit der Erfahrung an sich nicht identisch. Das gilt ganz besonders für den Bereich vorsprachlicher körperlicher Empfindungen. Zwangsläufig wird selbst die scheinbar spontane Wahrnehmung des Körpers vielmehr bereits in vorgegebenen Bildern und Begriffen ausgedrückt, die die jeweilige Zeit oder Kultur zur Verfügung stellt. Für die historische Analyse liegt darin aber auch eine Chance. Im historischen Wandel und im Vergleich mit heutigen „Erfahrungen“ eröffnen Patientenbriefe nämlich frappierende Aufschlüsse darüber, wie selbst die scheinbar unmittelbare Erfahrung von Körper und Krankheit von der jeweiligen Kultur geprägt und überformt wird. Am auffälligsten tritt das dort vor Augen, wo die Kranken über Beschwerden oder körperliche Veränderungen berichten, die wir heute in dieser Form gar nicht mehr kennen. Zahlreiche Kranke des 6. und 7. Jahrhunderts, Männer wie Frauen, klagten beispielsweise über „Dünste“ oder „Vapores“, über aufsteigende warme Dämpfe in ihrem Körper also, die sich mehr oder weniger unangenehm oder schmerzhaft durch Gefühle von Hitze, Enge und Druck in Bauch, Brust, Hals und Kopf bemerkbar machten oder ihnen gar das Gefühl gaben, ihr Kopfinneres gerate ins Kochen. Manche Frauen meinten auch, am eigenen Leibe zu spüren, wie die Gebärmutter ihnen bis zur Kehle aufstieg und ihnen den Atem nahm. Hier prägten offensichtlich überlieferte Erklärungsmodelle – das galenische Konzept der „Vapores“ und die Vorstellung von einem wandernden, aufsteigenden Uterus – die nur scheinbar natürliche Körpererfahrung. 7

Münch 00.

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„Self-fashioning“ Patientenbriefe sind zugleich exemplarisch für die überragende Rolle des Patientennarrativs in der vormodernen heilkundlichen Praxis. Zwar spielte das Schauen und Betasten in der vormodernen Diagnostik eine viel größere Rolle als oft behauptet wird, und die Briefkonsultation ließ durchaus Raum für die Mitteilung beispielsweise der Ergebnisse einer vaginalen Untersuchung. Daß sich der Arzt weit stärker als heute vor allem auf die subjektive Schilderung des Kranken und seiner Angehörigen verlassen mußte, steht dennoch außer Frage. Patientenbriefe, wie andere Narrative auch, bieten jedoch mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Informationen. Gewiß, vordergründig wollten die Patienten nur kompetenten Rat, und ihr ausführlicher Bericht sollte ein möglichst differenziertes Urteil ermöglichen. Fast immer erzählten sie aber zugleich eine Geschichte. Ihre Berichte folgten einer inneren Logik und nicht selten auch einer unterschwelligen Moral. Denn die Kranken und ihre Angehörigen suchten nicht nur eine wirksame Behandlung, sondern auch Orientierung und Sinn angesichts der verstörenden Erfahrung des krankhaft veränderten, leidenden Körpers. Der Arzt sollte helfen, diesen Sinn, diese Bedeutung zu finden, allein schon dadurch, daß er die Krankheit auf den „Begriff“ brachte, ihr einen Namen gab, die nahen und fernen Ursachen benannte. Aber in der Regel hatten sich die Kranken und ihre Angehörigen längst auch ihre eigenen Gedanken gemacht, und diese Deutung floß zwangsläufig in ihre Briefe ein. Mehr noch: soweit die Patienten ihre Krankengeschichten selbst darlegten, wurde das Schreiben als solches zum Medium der Sinnstiftung. In der Darstellung der Krankheit, ihrer mutmaßlichen Ursachen und ihres zeitlichen Verlaufs machten sie aus einer verwirrenden Vielfalt eine mehr oder weniger sinnvolle Geschichte. Vor allem bei chronischen, langwährenden Leiden deutet sich hier immer wieder an, was Soziologen als „erzählerische Neugestaltung“, als „narrative reconstruction“ der ganzen Lebensgeschichte im Lichte der Krankheit beschrieben haben8. Die Krankheit erschien nicht mehr als ungerechter Schlag eines blinden Schicksals, sondern als logischer Endpunkt einer langen Entwicklung. Über Jahre und Jahrzehnte wandten viele Patienten den Blick zurück, auf die schwächliche Amme ihrer Kindheit, auf unglücklich verlaufene Krankheiten und Verletzungen, auf emotionale Belastungen durch einen strengen Vater, den Tod von Angehörigen oder einen lieblosen Ehegatten. Besonders dramatische Formen nahm dieses Umschreiben der eigenen Lebensgeschichte in den Briefen von Männern an, die im 8. Jahrhundert ihre langwierigen Leiden als Folge sexueller Selbstbefriedigung begriffen. Manche ihrer Schilderungen stehen den grauenhaften Fallgeschichten der Anti-Onanie-Literatur wenig nach, mit ihren drastischen Bildern von abgemagerten, impotenten, inkontinenten und von Krämpfen geschüttelten Opfern. Erst die Lektüre von Tissots „Onanisme“ oder 8 Robinson 990; Kohler Riessman 990.

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einer anderen Antimasturbationsschrift, so bekannten sie, habe ihnen endlich die Augen geöffnet. Sie begriffen die wahre Ursache all ihrer Leiden: diese waren selbst verschuldet; sie waren die verdiente Strafe für ihr Vergehen gegen göttliches Gebot und natürliche Ordnung. Plötzlich hatte ihre ganze Leidensgeschichte und ihr Leben, das vom Leiden überschattet war, eine ganz neue Bedeutung9. Das kreative, mythopoetische Element in den Patientenbriefen beschränkte sich aber nicht auf die Suche nach Sinn, nach der Bedeutung der Krankheit vor dem Hintergrund der eigenen Biographie und einer lebensgeschichtlich geprägten leiblichen Verfaßtheit. Schließlich hatten die Briefe auch einen Adressaten, den konsultierten Arzt vor allem, nicht selten aber offenbar auch Menschen im näheren Umfeld des Patienten, die diese Briefe zu lesen bekamen. Die Narrative der Patientenbriefe erweisen sich damit, um einen bekannten Begriff Stephen Greenblatts aufzugreifen, in doppelter Hinsicht als Instrumente eines produktiven „Self-fashioning“0. Sie wirkten im eben skizzierten Sinne auf den Kranken selbst zurück, indem sie über das Um-Schreiben seiner Lebensgeschichte auch sein biographisch verortetes Selbst veränderten. Sie dienten aber zugleich der Selbstdarstellung, ja Selbstinszenierung nach außen. Die „Nervenleiden“ als große „Modekrankheit“ des 8. Jahrhunderts bieten dafür ein besonders anschauliches Beispiel. Manche Kranken beschrieben, wie sie schon nach wenigen Schlucken Mineralwasser heftige Beschwerden bekamen. Anderen wurde selbst das Knarren eines Stuhles unerträglich, und sie zwangen die Krankenwärterinnen, sich auf den Boden zu setzen. In ihren Schilderungen eines derart empfindlichen, hochsensiblen Nervensystems war die Klage über Schmerzen aller Art, über Krämpfe, Zittern, Gähnen, Schlaflosigkeit, schlechten Appetit und vielfältige andere Beschwerden, untrennbar verbunden mit dem bewußten oder unbewußten Bemühen, zugleich ihre außerordentliche, hochsensible geistige und körperliche Verfaßtheit zu demonstrieren. Ihre Symptome – das betonten manche ganz ausdrücklich – waren absolut einmalig, so einmalig, das war die Botschaft, wie ihre geistige Empfindsamkeit und ihre Fähigkeit zum Mitgefühl. Ihr Leiden wurde zum Mittel der individuellen und kollektiven Distinktion. Mit gewöhnlichen Menschen, mit dem abgestumpften ungebildeten Pöbel gar, hatten sie nichts gemein. Diskurs Von einem zusammenhängenden „Diskurs“ im üblichen Sinne kann in den Patientenbriefen kaum die Rede sein – und doch kann ihre Untersuchung die diskursanalytische Arbeit wesentlich bereichern und ergänzen. Denn das Bemühen des Historikers, aus dem ärztlichen Schrifttum den „herrschenden“ medizinischen Diskurs und seine Verflechtung mit Ideologien, Machtstrukturen 9 Stolberg 000. 0 Greenblatt 980.

Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur



und gesellschaftlichen Beziehungen herauszuarbeiten, unterstellt in der Regel, was erst zu beweisen wäre: daß dieser Diskurs einer kleinen ärztlichen Elite tatsächlich in der breiteren Gesellschaft eine hegemoniale Stellung erlangen konnte. Mit Hilfe von Patientenbriefen läßt sich dagegen wesentlich genauer bestimmen, inwieweit der angeblich herrschende ärztliche Diskurs zumindest in den gebildeteren Schichten wirklich rezipiert wurde und Denken und Handeln bestimmte. Manchmal belegen die Patientenbriefe in der Tat eine sehr breite Rezeption und Assimilation neuer medizinischer Diskurse mitsamt ihren impliziten moralischen und politischen Botschaften, so im Falle der eben erwähnten Lehre von der nervösen „Sensibilität“ und den Nervenkrankheiten, die im 8. Jahrhundert zu einem zentralen, ja identitätsstiftenden Element der bürgerlichen Kultur wurde. Viele andere Neuerungen, auch das zeigen die Patientenbriefe, fanden jedoch selbst unter gebildeten Laien kaum Resonanz oder erlangten allenfalls randständige Bedeutung. Die Entdeckung des Blutkreislaufs (68) etwa schlug sich nur vereinzelt in der Vermutung von Patienten nieder, ein verlangsamter Blutumlauf sei die Ursache ihrer Beschwerden. Viel verbreiteter blieb die Vorstellung von lokalen „Stockungen“ des Bluts, die mit dem neuen Modell nur schwer vereinbar war. Zuweilen verwahrten sich die Laien auch selbstbewußt gegen ärztliches Aufklärungsbemühen und beharrten auf althergebrachten Vorstellungen und Praktiken. So konnte die massive ärztliche Polemik gegen die Krankheits- und Schwangerschaftsdiagnose durch bloße Harnschau das Vertrauen der Menschen in diese kaum mindern. Am Ende hatten viele gelehrte Ärzte bis weit ins 7. Jahrhundert keine andere Wahl, als sich selbst auf diesem Feld zu betätigen, wenn sie eine Praxis aufbauen und erhalten wollten. Ein anderes Beispiel ist die Erfahrung und Deutung der weiblichen Monatsblutung. Die akademischen Ärzte rückten bereits um 600 auf breiter Ebene von der herkömmlichen Vorstellung ab, die Menstruation diene der Reinigung des weiblichen Körpers von schädlichen, giftigen Stoffen. Vielmehr werde gutes, reines, aber überflüssiges Blut ausgeschieden, das im Falle einer Empfängnis den Foetus ernähre, sich außerhalb der Schwangerschaft aber ohne Monatsblutung im Körper anhäufe. Viele Frauen, das zeigen Patientenbriefe ebenso wie die anhaltenden Klagen der Ärzte, blieben jedoch bis weit ins 9. Jahrhundert bei der überkommenen, früher auch von den Ärzten vertretenen Deutung. Sie erlebten die Menstruation als reinigend und reagierten entsprechend besorgt, wenn sich die Blutung verringerte, eine andere Farbe annahm oder gar altersbedingt endete. Zu tief, so scheint es, war die Erfahrung der Menstruation als notwendige, gesundheitsförderliche „Reinigung“ im körperlichen Erleben der Frauen verankert. Nicht der zeitgenössische ärztliche Diskurs, sondern der tiefer, in der vorsprachlichen Körperwahrnehmung selbst verwurzelte und durch die Körpererfahrung und Alltagspraxis immer wieder neu bekräftigte „Habitus“ im Sinne Pierre Bourdieus erweist sich hier letztlich  Stolberg 999b.  Bourdieu 977.



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als bestimmend. Patientenbriefe, so zeigt dieses Beispiel zugleich, können auch die lebensweltliche Wirkkraft alternativer, womöglich nur mündlich weitergegebener Diskurse aufzeigen, die von den Ärzten längst aufgegeben oder nie von ihnen akzeptiert wurden und, für die eine ausschließlich auf Elitetexte beschränkte Diskursanalyse deshalb fast zwangsläufig blind bleibt. Dieses kritische, komplementäre Potential der Patientenbriefe vermehrt fruchtbar zu machen, wird eine der zentralen Aufgaben einer zukünftigen Arbeit mit Patientenbriefen sein. Bibliographie: Baunscheidt, Carl, Der Baunscheidtismus oder die Baunscheidt’sche Heilmethode im Gebiete der Gicht, des Rheumatismus u. s. w. mittels des für dieselbe construirten Instruments, genannt: der „Lebenswe‑ cker“, . Aufl. (Bonn 8) Boerhaave, Herman, Boerhaave’s medical correspondence; containing various symptoms or chronical distempers (London 7) Bourdieu, Pierre, Outline of a theory of practice (Cambridge 977) Brockliss, Laurence W. B., „Consultation by letter in early eighteenth-century Paris. The medical practice of Étienne-François Geoffroy“, in: Ann F. LaBerge (Hrsg.), French medical culture in the nineteenth century (Amsterdam 99) 79-7 Dinges, Martin, „Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 80. Der Körper eines Patienten von Samuel Hahnemann“, in: Jürgen Martschukat (Hrsg.), Geschichte schrei‑ ben mit Michel Foucault (Frankfurt/Main 00) 99– Ernst, Katharina, „Patientengeschichte. Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie“, in: Ralph Bröer (Hrsg.), Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne (Heidelberg 999) 97–08 Greenblatt, Stephen, Renaissance self‑fashioning (Chicago 980) Hoffmann, Friedrich, Medicina consultatoria,  Bde. (Halle 7–79) Jütte, Robert, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit (München, Zürich 99) Kohler Riessman, Catherine, „Strategic uses of narrative in the presentation of self and illness. A research note“, Social science and medicine 0 (990) 9–00 Lachmund, Jens und Stollberg, Gunnar, Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien (Opladen 99) Louis-Courvoisier, Micheline und Pilloud, Séverine, „Le malade et son entourage au XVIIIe siècle. Les médiations dans les consultations épistolaires adressées au Dr Tissot“, Revue médicale de la Suisse romande 0 (000) 99-9 Meyer, Jörg, „‚… als wollte mein alter Zufall mich jetzt wieder unter kriegen.‘ Die Patientenbriefe an Samuel Hahnemann im Homöopathie-Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin in Stuttgart“, Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung  (98) 6– 79 Münch, Paul (Hrsg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (München 00) Nachtmann, Walter, „Les malades face à Hahnemann (d’après leur correspondance juin-octobre 8)“, in: Olivier Faure (Hrsg.), Praticiens, patients et militants de l’homéopathie aux XIXe et XXe siècles (1800–1940) (Lyon 99) 9– Pilloud, Séverine, „Mettre les maux en mots, médiations dans la consultation épistolaire au XVIIIe siècle: Les malades du Dr Tissot (78-797)“, Canadian bulletin of medical history 6 (999) - Porter, Roy, „The patient’s view. Doing medical history from below“, Theory and society  (98a) 7–98

Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur



– (Hrsg.), Patients and practitioners. Lay‑perceptions of medicine in pre‑industrial society (London 98b) Porter, Roy und Dorothy, In sickness and in health. The British experience, 1650–1850 (New York 989) Risse, Guenter B., „Doctor William Cullen, physician, Edinburgh. A consultation practice in the eighteenth century“, Bulletin of the history of medicine 8 (97) 8– Robinson, Ian, „Personal narratives, social careers and medical courses. Analysing life trajectories in autobiographies of people with multiple sclerosis“, Social science and medicine 0 (990) 7–86 Stolberg, Michael, „‚Mein äskulapisches Orakel!‘ Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 8. Jahrhundert“, Österreichische Zeitschrift für Geschichts‑ wissenschaften 7 (996) 8–0 – „Krankheitserfahrung und Arzt-Patienten-Beziehung in Samuel Hahnemanns Patientenkorrespondenz“, Medizin, Gesellschaft und Geschichte 8 (999a) 0–0 – „A woman’s hell? Medical perceptions of menopause in pre-industrial Europe“, Bulletin of the history of medicine 7 (999b) 08–8 – „An unmanly vice. Self-pollution, anxiety, and the body in the eighteenth century“, Social history of medicine  (000) – – „Homo patiens. Krankheits‑ und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit“ (Köln 00) Watt, Joachim, Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen. Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte, hrsg. v. Emil Arbenz und Hermann Wartmann (St. Gallen 890–9) Wolff, Eberhard, „Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung“, in: Norbert Paul und Thomas Schlich (Hrsg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven (Frankfurt/Main, New York 998) –0

Krankheit im Kontext Familien-, Gelehrten- und Patientenbriefe im 18. Jahrhundert Hubert Steinke

Die Patientengeschichte hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten als feste Grösse in der historischen Forschung etabliert. Sie befasst sich mit den Lebensumständen, Verhaltenweisen und Vorstellungen von Laien in Bezug auf Gesundheit, Krankheit und das Medizinalwesen und hat damit der herkömmlich auf die Ärzte und die medizinische Forschung fokussierten Medizingeschichte den Blick auf die Patienten eröffnet. Die wichtigste Quellengruppe der Patientengeschichte sind die Äusserungen der Patienten selbst, wie sie in autobiographischen Aufzeichnungen und Briefen zu Tage treten. Selbstverständlich vermitteln diese Quellentypen nur ein unvollständiges und subjektiv gefärbtes Bild des Alltags und der Gedanken der Kranken. Behördliche Akten, ärztliche Fallberichte und andere Quellen können uns zwar helfen, die Ausführungen der Patienten zu kontextualisieren und auf ihre Plausibilität und Aussagekraft zu überprüfen, die Dominanz der Selbstzeugnisse bleibt aber bestehen. In der traditionellen Medizingeschichte können der Hauptquelle, dem gedruckten Buch, oft umfangreiche handschriftliche Aufzeichnungen und zahlreiche Briefe der Forscher gegenübergestellt werden. So lässt sich die nach aussen gestellte ‚öffentliche‘ mit einer oft wesentlich verschiedenen ‚privaten‘ Wissenschaft und Forschung konfrontieren. Ein solch potentes Korrektiv fehlt in der Patientengeschichte. Es gibt keine Quellen, die das Fühlen, Denken und Handeln der Patienten auch nur annähernd so ausführlich dokumentieren, wie dies deren Briefe und Tagebücher tun. Es ist deshalb um so mehr nötig, auf die Charakteristika dieser Quellen zu achten und zu fragen, inwiefern diese Inhalt und Form der Aussagen bestimmen. Während Autobiographien und Patientenbriefe (‚consultes‘) als besondere Quellengattungen bereits wahrgenommen wurden, so ist bisher noch zu wenig berücksichtigt worden, dass auch andere Brieftypen spezifische Eigenheiten aufweisen, die auf die Art, wie über Gesundheit und Krankheit berichtet wird, einwirken. Der vorliegende Beitrag möchte auf einige Eigenheiten hinweisen, die die Familien- und Gelehrtenbriefe von den

  

Für einen Überblick über den heutigen Forschungsstand siehe Stolberg 00, Wolff 998 und für den Spezialfall der Homöopathie Dinges 00. Vgl. etwa Geison 995. Zu den Autobiographien vgl. Lachmund/Stollberg 995; zu den Patientenbriefen vgl. Barras 00, Brockliss 994, Pilloud 999, Rieder/Barras 00, Stolberg 996, Stolberg 00 und Wild 000.

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Hubert Steinke

besser bekannten Patientenbriefen unterscheidet4. Er stützt sich auf Briefe aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, die von oder an Mitglieder der gehobenen Berner Bürgerschicht (Burgerfamilien) geschrieben wurden5. Die Definitionen von Familienbriefen als zwischen Angehörigen einer Familie ausgetauschte Briefe und von Patientenbriefen als von Patienten an Ärzte oder andere behandelnde Personen gerichtete Briefe bereiten kaum Probleme, auch wenn sich hier zuweilen Abgrenzungsprobleme ergeben, da die Briefpartner auch durch andere als durch familiäre oder professionelle Bande verbunden sein können. Schwieriger ist der Versuch, den Typus des Gelehrtenbriefs festzumachen. Ganz allgemein können wir ihn verstehen als Brief, der zwischen Mitgliedern der Gelehrtenrepublik ausgetauscht wird. Wenn wir den Begriff der Gelehrtenrepublik weit fassen, so zählen wir als deren aktive oder inaktive Mitglieder all jene Männer und Frauen von Erasmus bis Voltaire, die entweder des Lateins mächtig waren, eine Universität besucht oder eine Schrift veröffentlicht haben6. Folgen wir dieser Definition, so haben wir mit den Familien-, Patienten- und Gelehrtenbriefen den Grossteil der frühneuzeitlichen Privatbriefe erfasst. Geschäftsbriefe, die zwischen Beamten und Kaufleuten gewechselt wurden, werden hier nicht betrachtet. Familienbriefe Familienbriefe tragen ihren Namen nicht nur zu Recht, weil sie zwischen Mitgliedern einer Familie ausgetauscht werden, sondern auch weil die Familie das beherrschende Thema dieser Briefe ist. Zwischen Eltern und Kindern, Neffen und Tanten, Schwiegersöhnen und Schwiegereltern oder zwischen Geschwistern tauscht man sich insbesondere aus über Geburt und Todesfälle, berufliche Pläne und Heiratsabsichten sowie über alltägliche oder besondere Ereignisse in Haus und Familie8. Nachrichten über den Gesundheitszustand von Familienmitgliedern sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Berichts. Dabei werden nicht nur schwerere Erkrankungen mitgeteilt, sondern auch die häufigen kleineren Unpässlichkeiten. Der Zürcher Kaufmann Johann Kaspar Schulthess (09–804) etwa schreibt an seinen Berner Schwiegersohn Gottlieb Emanuel Haller (5–804): „Alle befinden sich wohl in unserem Haus und in der Verwandtschaft, ausser meiner Frau, die dem Anschein nach nicht bis zum Heran4 5 6  8

Zu Krankenberichten in Familienbriefen vgl. Lane 985 und Feschet 99, für die Gelehrtenbriefe vgl. Boschung 005, Sardet 99 und Volmer 00. Sämtliche hier zitierten Briefe sind auf Französisch geschrieben und werden in deutscher Übersetzung wiedergegeben. Zur Gesellschaft und den Burgerfamilien im alten Bern vgl. Müller 000. Diese Kritierien der Zugehörigkeit schlägt u. a. Bosse 99, 6 vor; für einen weit gefassten Begriff der Gelehrtenrepublik plädiert Brockliss 00. Für eine allgemeine Einführung zum Brief vgl. Nickisch 99. Für Beispiele von Berner Familienbriefen des 8. Jh. vgl. Braun-Bucher 994 und Stuber 00.

Krankheit im Kontext



nahen des Sommers von ihrer Unpässlichkeit [incommodité] geheilt sein wird“ (..6)9. Damit liefert er einen Kurzbericht über Haus und Familie, der von seinem Briefpartner erwartet wird. Und gleichzeitig zeigt er sich als anteilnehmenden Empfänger der entsprechenden Nachricht seines Schwiegersohns: „Es tut mir leid, mein lieber Sohn, dass Ihr Rheuma an den Händen Sie weiterhin inkommodiert und dass meine liebe Tochter etwas unter dem Husten leidet. Ich wünsche, dass Ihr beide sogleich davon befreit seid, um dauernde Gesundheit zu geniessen.“ Solche Mitteilungen ziehen sich durch die ganze Korrespondenz zwischen den beiden Verwandten. In den folgenden Briefen meldet Schulthess: „Meine Frau ist letzten Montag mit Nanette ins Nidelbad verreist. Ich wünsche sehr, dass sie dort vollständig geheilt wird, aber bei ihrem Alter wage ich es kaum zu hoffen. Ich bin zur Zeit allein mit den beiden anderen Töchtern, also ein recht kleiner Haushalt.“ (8.5.6). „Sie beunruhigen mich etwas mit den Nachrichten, die Sie mir von Ihrer Gesundheit geben. Ich hoffe, bald bessere zu erhalten.“ (.6.6). „Es freut mich, dass Sie sich von Ihrem Anfall von Hypochondrie, der Sie inkommodiert hat, weitgehend erholt haben. … Mein Schnupfen ist beinahe vollständig vorbei. Er hat mir nur etwas Husten gelassen, der ziemlich erträglich ist“ (.6.6). Krankheitsberichte in Familienbriefen beschränken sich häufig auf solche regelmässig gelieferte Kurznachrichten, können aber durchaus auch etwas genauere, wenn auch nur selten wirklich ausführliche Schilderungen beinhalten. Maria Magdalena Steck (9–804) etwa, die auf Kur in Leukerbad weilt, schreibt ihrem Ehemann Johann Rudolf (–8) wöchentlich einen Brief, in dem sie tagebuchartig Auskunft über ihren Gesundheitszustand und die Ereignisse im Bad gibt. Sie berichtet u. a. von einer um elf Uhr nachts einsetzenden „sehr schmerzhaften Kolik, begleitet von Durchfall und Erbrechen, die die ganze Nacht dauerten. Es ist unglaublich, wieviel Schärfe und Schleim aus meinem Körper tritt“ (..6)0. Sie erzählt auch von der melancholischen Stimmung, die Sie am nächsten Tag befallen hat, widmet diesen einzelnen Episoden ihres Leidens aber nicht mehr als ein paar wenige Zeilen. Solche nur kurze Kommentierungen der Beschwerden sind nicht gleichzusetzen mit einem Mangel an Verbundenheit und Nähe. Der Krankenbericht ist Teil eines Gesamtberichts mit dem Ziel, dem Empfänger einen ungefähren Eindruck vom Gesundheitszustand und dem allgemeinen Zustand des Haushalt seines Gegenübers zu vermitteln. Da dem Verwandten die allgemeine Konstitution des Patienten, die wichtig für die Einschätzung der Lage ist, meist schon bekannt ist, reicht eine Schilderung der aktuellen Lage aus. Entscheidend ist dabei nicht, was ganz genau sich ereignet. Auch ganz kurz nach der Heirat wünscht sich der Ehemann Steck von seiner Frau nicht detaillierte Berichte, sondern schreibt ihr: „Wenn Sie die Gelegenheit haben, meine liebe Frau, mir ein paar Zeilen zu schreiben und mir Ihren Gesundheitszustand mitteilen, bin ich sehr dankbar, 9

Burgerbibliothek Bern, Mss. h. h. XVIII.65; die folgenden Briefe in der gleichen Archivschachtel. 0 Burgerbibliothek Bern, FA Steck; die folgenden Briefe im gleichen Familienarchiv.

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da mich nichts mehr als Ihre Gesundheit und Ihr Wohlergehen interessiert“ (..6). Und auch später, als seine Frau zur Kur in Leukerbad liegt, bittet er nicht um ausführliche Briefe, sondern wünscht sich nur „von Zeit zu Zeit eine kleine Nachricht und einige Kleinigkeiten aus ihrem Leben, und das reicht“ (5..6). Das entscheidende ist die Regelmässigkeit dieser kurzen Nachrichten, die die Ungewissheit über den Zustand des Verwandten nehmen. Stecks Frau meldet ihrer erkrankten Schwiegertochter Aimée, geb. Guichelin (6– 8): „Ich habe mit Ungeduld, meine liebe Tochter, Ihre Neuigkeiten erwartet, ungeduldig was ihre Gesundheit betrifft … . Nichts als eine kleine Nachricht, meine liebe Freundin, mit der heutigen Postkutsche, um mich über ihre Gesundheit zu informieren. Sagen Sie mir nur mit einem Wort, wie es Ihnen geht“ (9.6.98). Die Verbundenheit äussert sich nicht in einem Interesse an den genauen Symptomen eines Leidens, sondern im andauernden Denken an die Nächsten und im entsprechenden Wunsch, über deren Wohlergehen möglichst laufend unterrichtet zu werden. Der oberflächliche Bericht hat auch nichts mit einer Verharmlosung des Leidens zu tun, das durch das regelmässige Schreiben nämlich immer wieder thematisiert, in seinem Verlauf wahrgenommen und nicht totgeschwiegen wird. Es ist dabei nicht eigentlich die Krankheit selbst, die beschrieben wird, sondern das Befinden, das subjektive Erleiden des Patienten, das im Vordergrund steht. Dieser braucht meist die Formulierung ‚ich befinde mich‘ oder ‚ich fühle mich‘ (je me porte, je me trouve, je me sens), wird über den Zustand anderer Kranker berichtet, so wird häufig die Ausdrucksweise ‚er beschwert sich über‘ (il se plaint de) oder ‚er ist in einem Zustand‘ (jouir d’un état) benutzt. Der Begriff ‚Krankheit‘ (maladie) wird eher wenig verwendet, vielmehr ist meist von einer ‚incommodité‘ die Rede. Wir haben diesen Ausdruck bei den Briefen von Schulthess angetroffen und auch in den Briefwechseln der Familie Steck ist dies der am häufigsten gebrauchte Begriff. In deutschen Briefen wird vielfach von ‚Unpässlichkeit‘ gesprochen, so etwa, wenn Samuel Haller (–94) seinem Schwiegervater, dem grossen Albrecht von Haller (08–) meldet, er sei ‚etwas unpässlich‘ (..6), um den Aufschub einer Reise zu begründen, ohne aber näher zu schildern, worin sein Unwohlsein besteht. Mit dem Begriff der ‚incommodité‘ oder ‚Unpässlichkeit‘ wird angedeutet, womit das Kranksein in Bezug gesetzt wird: es bedeutet eine Einschränkung, Beschwerung oder Störung des täglichen Lebens und insbesondere des familiären und häuslichen Alltags. Nachrichten über Gesundheit und Krankheit fliessen denn auch unmittelbar in andere Berichte über Haus und Familie über und werden in diesen Kontext eingeschrieben. Und dieser ist bei Berner Burgerfamilien im Ancien Régime gekennzeichnet vom Bemühen um Aufbau oder Sicherung des sozialen und wirtschaftlichen Standes. Die Schicksale der verschiedenen Familienzweige sind oft eng miteinander verbunden, und damit ist auch klar, dass die Krankheit eines Einzelnen häufig für die ganze Familie und Verwandtschaft von Belang ist. Es besteht ein gewisser Anspruch, über den  Burgerbibliothek Bern, Nachlass Albrecht von Haller.

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Gesundheitszustand eines Familienmitglieds informiert zu werden. Diese Verhältnisse dürften eine weitere Erklärung sein für die regelmässige, aber verhältnismässig kurzen und recht nüchternen Krankheitsberichte, die meist bar jeder Dramatisierung, Verharmlosung oder Stilisierung sind. Gelehrtenbriefe Gelehrtenbriefe sind primär Arbeitsinstrumente, mit deren Hilfe die Gelehrten ihre vielfältigen Absichten und Interessen in der Gelehrtenrepublik umzusetzen versuchen. Sie dienen dem Aufbau von Beziehungen, der Beschaffung von Informationen, Büchern und anderen Naturalien, die Voraussetzung für eine aktive und erfolgreiche Beschäftigung mit Naturwissenschaft, Medizin, Literatur, Philosophie, Religion und anderen gelehrten Themenbereichen sind. In ihrem gegenseitigen Austausch fühlen sich die Briefpartner einem Verhaltenskodex verpflichtet, zu dessen Beschreibung sie vornehmlich die Begriffe ‚Freundschaft‘ und ‚Vertrauen‘ verwenden. Diese Begriffe haben nur wenig mit unseren heutigen Idealen zu tun, sondern sind dem frühaufklärerischen Konzept von Freundschaft verpflichtet, das den gegenseitigen Nutzen einer Beziehung in den Vordergund stellt. In zeitgenössischen Trakten wie auch in Lexika des 8. Jahrhunderts, etwa im ‚Zedler‘ oder in der ‚Encyclopédie‘ finden wir Beschreibungen der Prinzipien der Freundschaft: sie ist gekennzeichnet durch einen ‚commerce mutuel‘, einen gegenseitigen Austausch. Freundschaft ist nicht nur ein Verhältnis, sondern vor allem ein bewusstes Geben und Nehmen. Der Freund wird nicht erkennbar in seinen Worten, sondern in seinen Taten. Der Leipziger Philosoph Christian August Crusius nannte Freundschaft „diejenige Vereinigung der Gemüther […], welche eine genauere wechselseitige Beförderung der Privatabsichten einzelner Personen zum Zwecke hat“4. Ohne sein Gegenüber auf ein bestimmtes Verhalten verpflichten zu müssen, kann der gelehrte Briefschreiber davon ausgehen, dass sein Partner die freundschaftlichen Prinzipien nicht verletzt. Dadurch wird ein reibungsloser Austausch ermöglicht, der – falls er für beide Seiten nützlich ist – auch fortgeführt wird. Im Laufe eines längeren Briefwechsels kann sich natürlich eine Beziehung entwickeln, die über das reine Nützlichkeitsdenken hinausgeht und echte freundschaftliche Anteilnahme und Sorge miteinschliesst, aber das Prinzip der gegenseitigen Nutzens darf auch in solchen Fällen nicht unterschätzt werden. Gelehrtenbriefe müssen zuerst einmal in diesem Kontext der nützlichen Freundschaft gelesen werden. Damit sind Nachrichten von Gesundheit und Krankheit nicht wie im Familienbrief notwendige Bestandteile des Berichts. Wenn sie vorkommen, sind sie in der Regel noch sachlicher und kürzer als in Familienbriefen und stehen als eigentlich fremdes Thema oft am Beginn oder  Vgl. Goldgar 995, Steinke 999, Mauelshagen 00, Stuber/Hächler/Lienhard 005.  Vgl. Steinke 999 und Mauelshagen 00. 4 Crusius 44, 86.

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am Ende eines Briefs, etwas abgegrenzt vom übrigen Inhalt. Charles Bonnet etwa schreibt am . Juni 55 an Albrecht von Haller: „Mein Herr! Ich habe mich während mehr als sieben Wochen mit einem Durchfall herumgequält, der hier sehr verbreitet war. Ich bin nun wiederhergestellt und beeile mich, eine Beziehung wieder aufzunehmen, die Sie auf eine für mich schmeichelnde Art pflegen, wofür ich sehr dankbar bin. Ich beginne, mein Herr, zu bezeugen […]“5. Und erst jetzt beginnt Bonnet mit dem eigentlichen Brief. Die Nachricht von der eigenen Krankheit dient hier wie oft in den Gelehrtenbriefen der Erklärung für die ausgebliebenen Briefe. Es geht darum, dem Briefpartner klarzumachen, dass man seine Pflichten als gelehrter Freund nicht vernachlässigt hat und bestrebt ist, den Briefwechsel fortzuführen. Der Korrespondent wird in der Regel mit einem Standardsatz wie ‚Ihre Unpässlichkeit tut mir leid‘ (‚je suis faché de votre incommodité‘) antworten, und damit ist das Thema erledigt, da die Krankheit von keiner weiteren Bedeutung für den gegenseitigen Austausch ist. Es wird also meist erst im Nachhinein über ein abgeklungenes oder sich abschwächendes Krankheitsereignis berichtet. Dadurch wird der kontinuierliche Austausch am wenigsten gestört. So sieht es auch Haller, der Bonnet schreibt, nachdem er von dessen überstandener Krankheit erfährt: „Ich war in einer glücklichen Unwissenheit über die Krankheit meines berühmten Freundes; ich bin erfreut, erst darüber informiert worden zu sein, nachdem die Zeit, sich zu beunruhigen, bereits vorbei war“6. Diese Aussage darf nicht als mangelndes Interesse am Briefpartner, mit dem Haller in gut 0 Jahren bereits über 800 Briefe gewechselt hat, verstanden werden. Vielmehr macht sie deutlich, dass die durchaus enge Beziehung weniger auf einem Austausch über persönliche und leibliche Freuden und Leiden als auf einem Dialog über Wissenschaft, Religion und Politik beruht, der auf seine Weise zu einer intimen Kenntnis und Anteilnahme an der Gedanken- und Gefühlswelt des Gegenübers führt. Der Brief eines gelehrten Freundes eröffnet dem Empfänger eine andere Welt als der eines Verwandten. Haller schreibt: „Ich möchte, dass der Brief eines Freundes für mich ein Moment der Glückseligkeit ist, dass ich mit Freude das Siegel sehe und sicher bin, im Brief einen gewissen Trost inmitten der unausweichlichen Leiden des menschlichen Lebens zu finden“. Die Korrespondenz mit gelehrten Brieffreunden ist also zumindest teilweise ein Rückzug in die ideale Welt der Gelehrtenrepublik. Das heisst nicht, dass hier nicht auch die misslichen Zustände in der Welt reflektiert werden und nach Verbesserungen gesucht wird. Aber insofern die Krankheit eines Einzelnen die Belange der Gelehrtenrepulik nicht betrifft, ist deren ausführliche Erörterung nicht erwünscht. Sie wird erst dann zum akzeptierten Thema, wenn die kranke Person selbst ein akzeptiertes Thema der Gelehrtenrepublik ist. Dies ist auch bei Haller der Fall, dessen Krankheit als Unglück für die gelehrte Welt gedeutet wird. Horace-Bénédict de Saussure (40–99) schreibt ihm: „Es ist beson5 Sonntag 98, 65. 6 Brief vom ..6; Sonntag 98, 95.  Brief vom .5.; Sonntag 98, 085.

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ders unglücklich, dass diese grausame Krankheit jemanden derart heftig trifft, der es in jeder Hinsicht so wenig verdient wie Sie, mein Herr, und der aus seiner Gesundheit einen für das menschliche Geschlecht so wertvollen Nutzen zieht“8. In zunehmendem Masse, und insbesondere seit dem  einsetzenden Blasenleiden, kommt Hallers Gesundheitszustand in zahlreichen Briefwechseln zur Sprache, auch ohne dass Haller sein Gegenüber selbst darüber informiert hätte9. Wie Voltaires Verdauungsbeschwerden ein Thema literarischer Zirkel sind, so ist auch Hallers Blasenleiden – wenn auch in geringerem Masse – ein Thema der Gelehrtenrepublik. In dem Masse, wie ein Gelehrtenbriefwechsel nicht allein dem Nützlichkeitsdenken verpflichtet, sondern auch Träger einer tieferen persönlichen Verbindung ist, wird auch der Bericht über Gesundheit und Krankheit regelmässiger Bestandteil des Briefes. Er bleibt aber dennoch meist auf ein bis zwei kurze Sätze beschränkt wie in Hallers umfangreichen Briefwechseln mit Bonnet oder Saussure0. Zuweilen finden wir auch etwas längere Berichte, so etwa in Hallers Briefen an seinen langjährigen Jugendfreund Johannes Gessner (09–90), anhand derer sich eine Chronologie der Krankheiten des Berner Gelehrten erstellen lässt. Doch auch seinen treusten Freund und regelmässigen Briefpartner informierte er nicht über alle Krankheiten. So berichtete er z. B. Saussure über eine entzündliche Schwellung im Gesicht, die ihn zwei Wochen von der Arbeit abhielt (Oktober 60) oder Bonnet über einen Sturz mit Muskelzerrung, der ihn zu einer zweiwöchigen ‚retraite‘ zwang (Dezember 64), teilte diese beiden Episoden Gessner aber nicht mit, wohl aber, welche Schriften er gerade erhalten und gelesen hatte. Neben der Briefkultur der Gelehrten, die sich ausdrückt in sporadischen, kurzen, sachlichen und oft vom eigentlichen Briefinhalt abgesetzten Krankheitsberichten, entwickelte sich im Laufe des 8. Jahrhundert ein neuer, von persönlicher Anteilnahme, gesteigerter Freundschaft und Empfindsamkeit geprägter Stil. Hier sind für Deutschland insbesondere Gellert und für Frankreich Rousseau von exemplarischer Bedeutung. Etwas zugespitzt lässt sich für diese Briefwechsel sagen: die Information des Gelehrtenbriefes wird durch die Emotion ersetzt, die Mitteilung durch die Erzählung und das Interesse an der Wissenschaft durch das Interesse an der Person. Entsprechend ändern sich auch die Berichte über Gesundheit und Krankheit, die nun ausführlicher, empfindsamer und oft das Hauptthema des Briefs sind. Es macht in unserem Zusammenhang deshalb Sinn, diesen Brieftyp – der hier nicht weiter behandelt wird – von demjenigen des Gelehrtenbriefs abzugrenzen, ohne damit eine allgemein gültige Brieftypologie erstellen zu wollen.

8 Brief vom ..6; Sonntag 990, 0. 9 Vgl. Boschung 004. 0 Für die Beispiele in diesem Abschnitt vgl. Boschung 005.

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Patientenbriefe Die Patientenbriefe werden hier nur sehr kurz vorgestellt, da sich schon mehrere Untersuchungen diesem Brieftypus angenommen haben. Von Interesse ist vor allem der veränderte Kontext des Krankheitsberichts. Das Verhältnis der Briefpartner ist nun nicht mehr dasjenigen zwischen Verwandten oder Gelehrten, sondern zwischen Arzt und Patient. Indem der Absender seinen Krankenbericht an einen Arzt sendet, definiert er sich nicht mehr als Mitglied einer Familie oder der Gelehrtenrepublik, sondern als kranker Patient. Dementsprechend benennt er denn auch sein Leiden zumeist nicht mehr als Unpässlichkeit oder ‚incommodité‘, sondern als Krankheit oder ‚maladie‘. Sein Leiden ist nicht nur insofern von Bedeutung, als es seine Aufgabe in Familie oder Gelehrtenrepublik beeinträchtigt, sondern es ist an und für sich von Interesse. Die Krankheit wird damit zumindest teilweise aus der sozialen Situation des Patienten herausgelöst und wird zum isolierten Objekt. Dies ist auch oft erwünscht, gehört doch der Arzt – insbesondere im burgerlichen Bern – vielfach einer tieferen sozialen Schicht an als der Patient. Der Kontext, in den der Bericht über das aktuelle Leiden eingeschrieben wird, ist die Krankengeschichte. Der Patient erzählt ausführlich, oft erschöpfend über mehrere Seiten hinweg über seine Konstitution, alle seine bisherigen Beschwerden und die Genese des jetzigen Leidens. Während die sich abfolgenden Gesundheitsstörungen im Gelehrtenbrief nur jeweils kurz aufscheinen als einzelne, vom übrigen Briefinhalt abgetrennte Nachrichtenteile und im Familienbrief durch die kontinuierliche Berichterstattung schon etwas besser fassbar werden als unterschiedliche, aber zusammenhängende Ereignisse, erscheinen sie im Patientenbrief vereint als Krankengeschichte, aus der heraus sich der Verfasser als Patient definiert. Schluss Der vorliegende Beitrag hat nur sehr oberflächlich auf einige Eigenheiten verschiedener Brieftypen hingewiesen, ohne genauer zu untersuchen, wie darin über den Körper gesprochen wird, welche Beschwerden mitgeteilt werden und welche nicht, inwiefern auf bestimmte Krankheitsmodelle Bezug genommen wird und inwieweit die Briefautoren Rückgriff auf besondere Schreibstile in Tagebüchern, veröffentlichten Briefen oder medizinischen Schriften nehmen. Schon ein erster Blick zeigt aber, dass Form und Inhalt von Berichten über Gesundheit und Krankheit wesentlich durch die Hauptfunktion eines Briefs bedingt sind. Was für uns beim Patientenbrief selbstverständlich ist, nämlich dass wir ihn in den Kontext der Arzt-Patient-Beziehung stellen, sollten wir auch berücksichtigen, wenn wir Familien- und Gelehrtenbriefe anschauen. Auch hier sind die Krankenberichte nicht nur Ausdruck des Denkens und Fühlens eines  Vgl. Anmerkung .  Vgl. dazu Volmer 00, Rieder/Barras 00, Stolberg 00.

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Patienten, sondern ebensosehr durch die Funktion bedingt, die diese Brieftypen zu erfüllen haben. Bibliographie: Barras, Vincent, „Épistolarité et maladie“, Littérature et médecine, ou les pouvoirs du récit. Actes du colloque organisé par la BPI les 24 et 25 mars 2000 (Paris 00) 95–08 Boschung, Urs, „Albrecht von Hallers Krankheiten in seiner Korrespondenz“, in: Martin Stuber/Stefan Hächler/Luc Lienhard (Hrsg.), Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung (Basel 005) –5 Bosse, Heinrich, „Die gelehrte Republik“, in: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert (Göttingen 99) 5–6 Braun-Bucher, Barbara, „‚Wan der vetter mehr schribt, so schickt mir nit umen lähr bapier‘. Die Briefe der Jungfer Maria Magdalena Engel an ihren Neffen Albrecht von Haller in der frühen Göttinger Zeit 6–4“, Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 56 (994) –8 Brockliss, Laurence W. B., Calvet’s Web. Enlightenment and the republic of letters in eighteenth-century France (Oxford 00) Brockliss, Laurence W. B., „Consultation by letter in early eighteenth-century Paris: the medical practice of Etienne-François Geoffroy“, in: Ann La Berge/Mordechai Feingold (Hrsg.), French medical culture in the nineteenth century (Amsterdam 994) 9–9 Crusius, Christian August, Anweisung vernünftig zu leben. Darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden (Leipzig 44) (Nachdruck Hildesheim 959) Dinges, Martin (Hrsg.), Patients in the history of homeopathy (Sheffield 00) Feschet, Valérie, „S’écrire en famille, des sentiments déclinés: la correspondance rurale en Provence alpine au XIXe siècle“, in: Pierre Albert (Hrsg.), Correspondre jadis et naguère (Paris 99) 48–499 Geison, Gerald L., The private science of Louis Pasteur (Princeton 995) Goldgar, Ann, Impolite learning. Conduct and community in the republic of letters, 1680–1750 (New Haven, London 995) Lachmund, Jens/Stollberg, Gunnar, Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien (Opladen 995) Lane, Joan, „‚The doctor scolds me‘: the diaries and correspondence of patients in eighteenth century England“, in: Roy Porter (Hrsg.), Patients and practitioners. Lay perceptions of medicine in pre-industrial society (Cambridge 985) 05–48 Mauelshagen, Franz, „Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenzen und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit“, in: Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen (Göttingen 00) 9–5 Müller, Felix, Aussterben oder verarmen? Eine Berner Patrizierfamilie während Aufklärung und Revolution (Baden 000) Nickisch, Reinhard M. G., Brief, Sammlung Metzler 60 (Stuttgart 99) Pilloud, Séverine, „Mettre les maux en mots, médiations dans la consultation épistolaire au XVIIIe siècle: les malades du Dr Tissot (8–9)“, Canadian bulletin of medical history 6 (999) 5–45 Rieder, Philip/Barras, Vincent, „Santé et maladie chez Saussure“, in: René Sigrist (Hrsg.), H.B. de Saussure (1740–1799). Un regard sur la terre (Chêne-Bourg 00) 50–54 Rieder, Philip/Barras, Vincent, „Ecrire sa maladie au Siècle des Lumières“, in: Vincent Barras/Micheline Louis-Courvoisier (Hrsg.), La médecine des lumières: tout autour de Tissot (ChêneBourg 00) 99–0

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Sardet, Frédéric, „Gens de lettres, correspondance et santé au XVIIIe siècle“, Equinoxe: revue romande de sciences humaines 8 (99) –96 Sonntag, Otto (Hrsg.), The correspondence between Albrecht von Haller and Charles Bonnet, Studia Halleriana  (Bern, Stuttgart 98) Sonntag, Otto (Hrsg.), The correspondence between Albrecht von Haller and Horace-Bénédict de Saussure, Studia Halleriana  (Bern, Stuttgart 990) Steinke, Hubert (Hrsg.), Der nützliche Brief. Albrecht von Hallers Korrespondenz mit Christoph Jakob Trew 1733–1763, Studia Halleriana  (Basel 999) Stolberg, Michael, „‚Mein äskulapisches Orakel!‘ Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 8. Jahrhundert“, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften  (996) 85–404 Stolberg, Michael, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit (Köln, Weimar 00) Stuber, Martin, „Vatergespräche. Söhne und Töchter im Briefwechsel Albrecht von Hallers“, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 5 (005) Stuber, Martin/Hächler, Stefan/Lienhard, Luc (Hrsg.), Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung (Basel 005) Volmer, Annett, „Die Gebrechen des Lebens. Zur Körpererfahrung in Korrespondenzen des 8. Jahrhunderts“, in: Claudia Gronemann et al. (Hrsg.), Körper und Schrift. Beiträge zum 16. Nachwuchskolloquium der Romanistik, Leipzig 14.–17. Juni 2000 (Bonn 00) 8–49 Wild, Wayne, „Doctor-patient correspondence in eighteenth-century Britain: a change in rhetoric and relationship“, Studies in 18th century culture 9 (000) 4–64 Wolff, Eberhard, „Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung“, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hrsg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven (Frankfurt, New York 998) –4

Interpretationsspielräume und narrative Autorität im autobiographischen Krankheitsbericht Séverine Pilloud

Die Patientenbriefe gehören zu den Quellen, auf welche die Medizingeschichtsschreibung erst in jüngster Zeit aufmerksam geworden ist, um die Perspektive der kranken Personen aufzuwerten und die Dynamik der therapeutischen Beziehung zu untersuchen. Auf diese Weise hat man, durch die Hervorhebung von persönlichen Initiativen und Strategien, die aktive Beteiligung der Laien an der Herstellung und Erhaltung ihrer Gesundheit herausgestellt. Mein Interesse gilt hier insbesondere der relativen Autonomie, welche die Laien in der Erzählung ihrer Krankengeschichte für sich geltend machen können. Ich bezeichne diese Autonomie mit dem Begriff der „narrativen Autorität“. Darunter verstehe ich die Fähigkeit, die den Schreibenden mehr oder weniger gegeben ist, durch die Organisation ihres Berichts und die Auslotung von Interpretationsspielräumen ihren Standpunkt bezüglich der Krankheit, unter der sie leiden, geltend zu machen. Untersuchtwerden die autobiographischen Zeugnisse aus den Briefen, die im Zusammenhang mit einer Konsultation während der zweiten Hälfte des 18.

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Dieser Artikel reiht sich in die Forschungsarbeiten ein, die am Institut Universitaire Romand d’Histoire de la médecine et de la santé an den Universitäten von Lausanne und Genf durchgeführt werden (Projekt FNRS, Nr. 11-6771.99). Mein Dank gilt Professor Vincent Barras (Requérant principal) und Micheline Louis-Couvoisier (Chargée de recherche) für ihre Ratschläge. Bzgl. der Historiographie des Patienten vgl. insbesondere Porter 198, Rieder 00 sowie Wolff 1998. Hier sind u. a. die Arbeiten von Rieder 00 sowie Stolberg 1996 und 1999 zu erwähnen. Die Forschungen über das 19. Jahrhundert, insbesondere zur homöopathischen Medizin, sind auf dieser Ebene von größtem Interesse. Vgl. insbesondere Dinges 00 sowie Faure 199. Ich stelle die Hypothese auf, daß die Narration – hier ohne Unterschied auch ‚Bericht‘ oder ‚Erzählung‘ genannt – einen der zentralen Orte darstellt, an dem im Zusammenspiel mit anderen Akteuren oder Umständen die Bedeutung einer Krankheit hergestellt wird. Der Brief, der bei weitem kein bloßer Widerschein der offiziellen Medizinkultur oder der herrschenden soziokulturellen Bestimmungen ist, erlaubt es der kranken Person, eine persönliche Bedeutung für das erlittene Unglück freizulegen. Diese narrative Autorität wird durch die Vielstimmigkeit und die Mehrdeutigkeit ermöglicht, welche das Reden über die Gesundheit im 18. Jahrhundert prägen und dabei Interpretationsspielräume eröffnen, in denen sich die Erzähler verfangen. Meine historische Herangehensweise ist von der interpretativen Anthropologie beeinflußt und macht einige Anleihen bei der Narratologie, deren Beiträge allerdings weiter entwickelt werden müßten, als ich es hier tun kann. Vgl. insbesondere Good 1998 sowie Reuter 000.

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Jahrhunderts6 an den Lausanner Arzt Samuel-Auguste Tissot gerichtet wurden. Mein Interesse gilt vor allem den Interpretationen, die Personen mit Gesundheitsproblemen entfalten, und der Art und Weise, wie diese in eine Erzählung eingebunden werden. Ich wende mich insbesondere allen Versuchen zu, welche die Suche nach dem Sinn der Krankheit betreffen, also die Konsultationen praktischer Ärzte, die Lektüre von Fachliteratur zu Gesundheitsfragen, die Diskussionen mit Personen außerhalb der Ärzteschaft ebenso wie die Auseinandersetzungen über Wortbedeutungen zwischen den verschiedenen betroffenen Protagonisten. Die Suche nach dem Sinn ist ein zentrales Moment der Krankheitserfahrung7, die immer von Interpretationen durchdrungen ist. Es wird absichtlich keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Erzählung und dem Erlebnis selbst vorgenommen, da letzteres vor allem in Worten die Form findet, die erlaubt, es überhaupt zu denken8. Die semantisch-linguistischen Register der Sprache werden also als Kategorien der Erfahrung aufgefaßt, das heißt als Kategorien, die der Erfahrung durch die Beschreibung Form geben9. Die Patientenbriefe erweisen sich somit selbst als Erfahrungsspuren, auch wenn ein Teil dieser Erfahrung wahrscheinlich der Versprachlichung und mehr noch der Verschriftlichung widersteht.

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Die Forschungen am Institut Universitaire Romand d’Histoire de la médecine et de la santé haben zu verschiedenen Publikationen und Publikationsprojekten geführt: Vgl. Louis-Courvoisier/Pilloud/Barras 00 sowie Pilloud 00. Wie Joan Scott trefflich schreibt, ist die Kategorie der Erfahrung weder natürlich noch transparent; sie muß näher bestimmt werden. Ich betrachte sie als ein Ensemble von Bedeutungen, Empfindungen und Gefühlen, die von einer besonderen Krankheitssituation bei einem besonderen Subjekt ausgelöst werden. Das Ensemble bleibt dabei trotzdem immer durch den sozialhistorischen Kontext der Erfahrung geprägt, deren Eigenschaft grundlegend diskursiv ist und durch die Sprache gebildet wird. Vgl. Scott 1990. Im Verlauf des Artikels werden die Begriffe ‚Erfahrung‘, ‚Erlebnis‘ und ‚Wahrnehmung‘ unterschiedslos verwendet. Wenn das Feld der Erfahrung notwendig infra-linguistisch ist (Scott 1990), dann ist das Feld der Interpretation der Erfahrung notwendig narrativ. Im erweiterten Sinne des Wortes stellt die Narration, als eine Verbindungsleistung zwischen Worten [mots] und Übeln [maux] verstanden, einen vorrangigen Modus dar, der dazu dient, den Ereignissen oder den Empfindungen eine Bedeutung zu verleihen. Vgl. Mattingly/Garro 000, 1–10. So gefaßt beruht das Erzählen darauf, Episoden des Lebens zu einem Ensemble zusammenzufügen, das sich als kohärent und verständlich erweist. Dies ist eine geradezu lebenswichtige Vorgehensweise für die leidenden Personen und insbesondere diejenigen, die von chronischen Mißständen ohne sichtbare Verletzung befallen sind: „Die Unfähigkeit, den Schmerz an einem genauen Ort des Körpers zu lokalisieren, führt zu einer Objektivierungskrise und zu einem Erzählbedarf. […] Die Lokalisierung einer Störung offenbart nicht viel über das Warum, das Wann und das Wie des Geschehens. Die Krankheit erscheint nicht nur im Körper, sondern auch in der Zeit, im Raum, in der Geschichte und im Kontext der gelebten Erfahrung und der sozialen Welt. […] Aus diesem Grund behaupte ich, daß der Bericht wesentlich ist, um den gelebten Schmerz zu verstehen und mit anderen Ereignissen und Erfahrungen des Lebens in Beziehung zu setzen.“ Good 1998, 78. Rey 199, 8 f.

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Bedeutungsmuster und Interpretationsspielräume Als wichtigste kulturelle Mittlerin gibt die Sprache Anlaß zu differenzierten Anwendungen, die durch die Subjektivität von Akteuren gekennzeichnet sind, welche die Sprache handhaben oder durch sie gehandhabt werden. Das Teilen eines gemeinsamen semantischen und linguistischen Feldes schließt die Besonderheit oder – um einen medizinischen Begriff des 18. Jahrhunderts zu verwenden – die „Idiosynkrasie“ eines persönlichen Ausdrucks nicht aus. Innerhalb eines Rahmens von Bedeutungen besitzt eine handelnde Person immer noch einen Interpretationsspielraum, selbst wenn dieser sehr klein ist. Bestehende Vorstellungen sind nicht so kohärent oder hängen nicht so stark zusammen, daß es nicht möglich wäre, Brüche oder innere Widersprüche zu finden, die eine Infragestellung des Sinns erlauben10. Dies gilt um so mehr für das medizinische Wissen, auf das sich die praktischen Ärzte des 18. Jahrhunderts berufen. In der Tat stellte die Ärzteschaft dieser Zeit keine streng organisierte Körperschaft dar, in der Einmütigkeit über die verwendeten Begriffe herrschte. Auch hatte sie keine absolute Unabhängigkeit des Berufs gegenüber den ökonomischen, politischen oder selbst epistemologischen Forderungen der sozialen Elite erreicht11. Eine Herangehensweise, die sich insbesondere auf die Ebenen der Interaktion richtet, läßt die Wirkungen der Überzeugungsarbeit erkennen und den Druck, der von den Laien auf die Mediziner ausgeübt wird, um sich eine relative Interpretationsfreiheit zu bewahren1. Das Erlebnis eines Kranken, das weder auf einseitige und endgültige Weise durch makrosoziologische soziokulturelle Zwänge bestimmt noch rein individuell und von außerpersönlichen Bestimmungen unabhängig ist, wird hier also als eine dynamische und wechselbezügliche Konstruktion aufgefaßt1. Wenn diese Erfahrung soziale Bestimmungen mit einschließt, dann befinden sich diese innerhalb eines Rahmens von Interaktionen, in die das Subjekt eingebettet ist. Weit davon entfernt, verdinglicht oder unüberschreitbar zu sein, können diese Interaktionen sodann zum Objekt von Verhandlungen werden. Mit anderen Worten: Wenn die Erfahrung von einer Matrix aus datierten und situierten Bedeutungen abhängig ist, dann existieren diese den Individuen zur Verfügung gestellten Bedeutungsmuster1 nicht für sich selbst, sondern beziehen das Verständnis der Subjekte 10 Vgl. insbesondere den Begriff der ‚Freiheit in Zwischenräumen‘, der von Levi 1996 angeführt wird. 11 Jewson 197. 1 Lachmund/Stolberg 199. 1 Zu Herangehensweisen und Methoden des Wechselbezugs vgl. zum Beispiel Blumer 1986. 1 Der Begriff des Musters wird insbesondere von Byron Good verwendet, der hervorhebt, daß mehrere Muster oder „narrative Strukturen“ in Anschlag gebracht werden können, um eine Krankheitserfahrung darzulegen und „dem Ich Autorität“ zu geben. Manchmal kommt es jedoch vor, daß zwei Muster in „Wettstreit“ geraten und nicht in den gleichen Bericht integriert werden können. In diesem Fall bleibt die Erzählung zwischen zwei verschiedenen Versionen, die sich in den Augen der Protagonisten gegenseitig auszuschlie-

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mit ein. Die Muster sind also nur insofern prägnant bestimmt, als sie intersubjektiv ausgetauscht werden, inklusive der eventuellen Neuordnungen und Verschiebungen, die daraus resultieren können. Die Patientenbriefe stellen einen der privilegierten Orte dar, an dem diese intersubjektive Dimension der Erfahrungskonstitution beobachtet werden kann. Verschiedene Stimmen, die besondere Sichtweisen und Interessen verteidigen, lassen sich hinter derjenigen des Patienten vernehmen, die selbst aus diesem Grund zuweilen undeutlich wird1. Das Individuum eignet sich die Stimmen an, die Träger von Bedeutungsfragmenten sind, weist sie zurück oder integriert sie in seine Rede. Dies kann man als die vielstimmige Dimension der Erfahrung definieren, die mit der Vieldeutigkeit eng verbunden ist, denn die Darstellungen von verschiedenen Personen sind nie genau übereinstimmend. Diese Vielheit der Stimmen und Bedeutungen ist imstande, der kranken Person eine gewisse narrative Autorität zuzuweisen, die dazu verwendet wird, sich mit Hilfe der ihr verfügbaren Interpretationsfreiheit bereitgestellte Bedeutungsmuster anzueignen. Kontext und Intertextualität Das Ausmaß der narrativen Autorität, um die sich die Subjekte bemühen, ist natürlich von der Struktur der sozialen Verhältnisse abhängig16. Es ist daher geboten, subjektivistische oder unhistorische Abwege zu vermeiden und Kontextualisierungen vorzunehmen, die darauf abzielen, die Situation einer jeden Person und die genauen Umstände ihrer Erzählung zu erklären17. Von einem ßen scheinen, unentschieden. In solchen Situationen „scheitert der Bericht, und das Ich wird von der Auflösung bedroht“. Good 1998,  f. 1 Barras/Rieder 001. 16 Byron Good schlägt daher eine „kritische Phänomenologie“ vor, das heißt eine Herangehensweise, welche die (inter-) subjektiven Bedingungen der Erfahrungs- und der Bedeutungskonstitution beleuchten kann, ohne die Aufmerksamkeit für die sozialen Praktiken und Strukturen aus dem Blick zu verlieren, welche die (inter-) individuellen Vorstellungen und Handlungsweisen beeinflussen. Good 1998, 07 f., 9. 17 Im Gegensatz zu einer klassischen narratologischen Herangehensweise, die streng innerhalb eines Textes bleibt, erfordert die Erfassung dieser historischen Quellen eine Kontextualisierung der soziokulturellen Interaktionen, die sich jenseits des Textes befinden, sowie eine besondere Aufmerksamkeit für die Intertextualität. Hier gilt es insbesondere die von Tissot verfaßten medizinischen Werke zu beachten, denen andere der „geschriebenen Kultur“ des 18. Jahrhunderts zugehörige Dokumente hinzuzufügen sind: Lehrbücher zur Briefkorrespondenz, veröffentlichte Briefwechsel, Romane, autobiographische Werke usw. Zum Begriff der Intertextualität vgl. vor allem die Arbeiten von Chartier 1996, Hunsaker Hawkins 199 sowie Wild 000. Bezüglich der Kontextualisierung der an Tissot adressierten Briefkonsultationen ist zu sagen, daß zahlreiche biographische Angaben zu den Protagonisten, die in den Briefen vorkommen, nur aufgrund von Informationen rekonstruiert werden können, die von den Briefschreibern selbst stammen. Die Rekonstruktion der Interaktionssituation geschieht also hauptsächlich über textimmanent. Diesem Paradox ist schwer zu entgehen. Vgl. Anmerkung 0.

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soziologischen Standpunkt aus gesehen, ist es gewiß, daß die Verteilung der kulturellen, ökonomischen und politischen Ressourcen nicht nur einen symbolischen Einfluß auf die Krankheitserfahrung ausübt. Die Handlungs- und Interpretationsmöglichkeiten eines Individuums hängen ebenso stark von seiner Konfrontation mit den Zwängen ab, die mit dem Geschlecht, dem Alter oder im erweiterten Sinne der „Lebensweise“ – dem Netzwerk, der Beziehungsstützen, der Erziehung, dem Einkommen usw. – zu tun haben. Daran erinnern mit Recht die kritischen Sozialtheorien18. Die Erfahrung ist, jenseits der in einer gegebenen Kultur vorherrschenden Vorstellungen vom Körper, insbesondere auch durch die Krankheiten, unter der eine Person leidet, beeinflußt. Hier soll keineswegs eine ontologische Sichtweise von der Krankheit als einer pathologischen Wesenheit angenommen werden, der gemäß die Krankheit außerhalb des leidenden Subjekts für sich selbst existiert. Trotzdem bleibt das Leiden oder das Unwohlsein, dem das Subjekt täglich oder mit Unterbrechungen unterworfen ist, im Zentrum des Erlebens. Der akute Schmerz, die entstellende Wirkung bestimmter Symptome, das schnelle Fortschreiten einer Krankheit oder auch ihre invasive oder den Patienten schwächende Behandlung sind Gegebenheiten, deren Einfluß auf die Erfahrung unbestreitbar ist. Gewiß erlebt man einen vorübergehenden und kaum ausgeprägten grippalen Infekt anders als einen bösartigen matastasierenden Tumor im fortgeschrittenen Stadium. Und zweifellos kann dieser Unterschied nicht allein dem gesellschaftlichen Bild oder den (inter-)subjektiven Vorstellungen von der Grippe oder dem Krebs zugeschrieben werden. Die Äußerungen der Akteure sind also auf die Umstände sowohl der Krankheit als auch der Biographie, in denen sie formuliert oder niedergeschrieben werden, zurückzubeziehen. Und ebenso können sie nicht von ihrem Kommunikations- bzw. Interaktionskontext abgetrennt werden. Die Briefkonsultationen verweisen auf eine Dialogstruktur, die durch die Briefform differenziert und mediatisiert wird, in welcher die Adressaten dazu beitragen, die Intentionen des Briefschreibers zu prägen, was sich sowohl im Inhalt als auch in der Form niederschlägt. Das untersuchte Korpus zeigt ganz offensichtlich, daß die Persönlichkeit Tissots – bzw. das Bild, das sich die Schreiber von ihm machen – Einfluß auf die Erzählformen der Erfahrungsberichte hat. Tissots Werke werden in zahlreichen Briefen direkt oder indirekt zitiert. Neben der Tatsache, daß das Werk L’Avis au peuple sur sa santé 19, das zentrale Punkte für die Geschichte der Krankheit aufführt, eine wahrhafte Modellschrift für die Briefkonsultation darstellt, spielt auch der Inhalt dieser Abhandlungen und Essais ein Rolle. Die theoretischen Vorlieben des Arztes aus Lausanne, seine ätiologischen Präferenzen, seine bevorzugten Gesundheitsthemen oder auch seine Hygieneregeln beein18 Lock/Scheper-Hugues 1996. 19 Tissot 1761. Der Avis au peuple hat durch 18 Neuauflagen zwischen 1761 und 179 und Übersetzungen in verschiedene Sprachen eine beträchtliche Verbreitung erfahren. Vgl. Teysseire 1991 und 199. Auch andere Werke Tissots waren sehr erfolgreich, zum Beispiel L’Onanisme (1760) oder der Essai sur les maladies des gens du monde (1768).

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Séverine Pilloud

flussen alle mehr oder weniger den Bericht der Autoren, die seine Bücher gelesen haben könnten. Die Erfahrung wird also transformiert und noch einmal durch diesen Aspekt der Versprachlichung geprägt. Der Einfluß der professionellen medizinischen Literatur darf allerdings nicht überschätzt werden. Es wäre irreführend, die Laiendiskurse als bloßes Produkt einer Akkulturation „von oben“, also von einem vermeintlich einheitlichen und positiven akademischen Wissen ausgehend, zu begreifen. Die Interpretationen der Patienten oder ihrer Angehörigen, die keineswegs ein homogenes Ensemble darstellen, sind in einer besonderen und konkreten Krankheitssituation verankert, die es zu beleuchten gilt. Sie lassen sich nicht auf eine bloße Übersetzung von abstrakten medizinischen Begriffen reduzieren, denn sie werden durch den sie formenden biographischen, relationalen und institutionellen Rahmen geprägt. Man stellt zudem fest, daß die praktischen Ärzte, die von leidenden Personen konsultiert werden, um zur Deutung des Sinns der Krankheit beizutragen, zuweilen Interpretationen vorschlagen, die sich von denen der spezialisierten Schriften und Bücher spürbar unterscheiden. Gehalten, eine im Verlauf befindliche und also immer einzigartige Krankheitsgeschichte darzustellen, äußern die Behandelnden hypothetischere und weniger endgültige Urteile, als in den theoretischen Konzeptualisierungen, die auf abgeschlossenen Fällen beruhen. Es kommt zudem häufig vor, daß die Kranken oder ihre Familien sich nicht mit einer Meinung begnügen, sondern verschiedene medizinische Quellen konsultieren, die nicht immer miteinander übereinstimmen. Es sind gerade diese Formen von Mehrdeutigkeit, die den Subjekten eine gewisse Interpretationsfreiheit erlauben. Ich würde gerne diesen Begriff der „narrativen Autorität“ am Beispiel der Berichte zu den Krankheiten von Madame de Mirmont erläutern, einer Gräfin von etwa 0 Jahren. Diese kurze Quellenstudie, die nicht die Absicht hat, allgemeine oder verallgemeinerbare Züge der Narrativität der Erfahrung im 18. Jahrhundert0 darzulegen, zielt vor allem auf die Frage nach den möglichen Arten, eine Krankheit zu erzählen. Weiter geht es um die Wege, die es dem Historiker ermöglichen, diese zu rekonstruieren, indem er sich bemüht, sich von seinen Lesegewohnheiten zu lösen und sich auf diejenige der verschiedenen Briefautoren einzulassen. Im Gegensatz zur klassischen Methodologie nützt es wenig zu wissen, ob der Bericht mit den Episoden, die er erzählt, übereinstimmt, denn im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Bedeutungen, die der Erzähler 0 Die Mehrheit der Patienten, von denen im Fonds Tissot die Rede ist, gehört größtenteils zur soziokulturellen Elite. Der Rest der Bevölkerung ist stark unterrepräsentiert. Zudem sind Variablen wie das Einkommen, der Wohnort, die Beschäftigungsart oder auch die Konfession nur schwer zu ermitteln. Möchte man keine langwierigen und womöglich unnützen biographischen, soziologischen oder gar medizinischen Nachforschungen über die Akteure, die im Quellenkorpus auftreten, unternehmen, ist es schwierig, andere Informationen zu erhalten als diejenigen, die in den Dokumenten selbst enthalten sind. Da sie von Autoren hervorgebracht werden, die keinen neutralen Blick besitzen, sind die Angaben weder systematisch noch notwendigerweise explizit.

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hervorbringt, also das, was er sagen möchte. Wir werden versuchen, die Gründe zu verstehen, die ihn dazu motivieren, eine bestimmte Bedeutung einer anderen vorzuziehen. Eine überblickshafte vergleichende Untersuchung des Korpus insgesamt soll schließlich bestimmte Konfigurationen oder narrative Muster freilegen, welche der Darstellung Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert zugrundeliegen. Die Geschichte der Gräfin de Mirmont: Elemente der Erzählung Der erste die Gräfin de Mirmont betreffende Bericht ist ein nicht unterzeichnetes vierseitiges Dokument, das im Verlauf des Jahres 177 verfaßt worden ist1. Der letzte Paragraph, der die Anfrage der Patientin beinhaltet, weist jedoch deutlich darauf hin, daß es die Gräfin selbst ist, die ihn zumindest in Teilen geschrieben hat: Der Gegenstand dieser schlecht geschriebenen Abhandlung, die von der Kranken selbst ohne Aufklärung und Hilfsmittel verfaßt worden ist, der Gegenstand dieser Abhandlung also, sagte ich [Herv. S. P.], hat zugleich das Ziel, Herrn Tissot um seine wertvolle Ansicht und seine noch viel wertvollere Behandlung zu bitten.

Was hier hinsichtlich der Vielstimmigkeit ins Auge fällt, ist der Einbruch eines Pronomens in der ersten Person Singular, welches gegenüber der dritten Person hervorsticht, mit der die Gräfin im Verlauf der gesamten Abhandlung bezeichnet wird. Man kann sich also fragen, auf wen dieses „Ich“ verweist. Wie kommt es, daß die Gräfin sonst in diesem Schreiben als eine Figur erscheint, die außerhalb der Rede steht, während sie doch zugleich als deren Urheberin auftritt? Wahrscheinlich hat es einen Schreiber oder einen Ko-Autor gegeben; mehr als die Hälfte der Manuskripte enthalten Spuren der Intervention eines Vermittlers oder Helfers für die Niederschrift. Es können allerdings noch andere Gründe hinzutreten, so zum Beispiel die besonderen Schreibkonventionen, die allgemein für Abhandlungen gelten. Gemeinhin werden diese Abhandlungen von einem Einleitungsbrief begleitet, der das besondere Anliegen beschreibt und in einer unpersönlichen und neutralen Form verfaßt ist, welche die „Wahrhaftigkeit“ und die Treue zu den „Tatsachen“ hervorheben soll. Erzählperspektiven Durch das einzigartige und isolierte Erscheinen des „Ich“ drängt sich die Frage nach den Erzählperspektiven auf: Entweder offenbart es einen fremden Urheber der Schrift, wobei das Ausmaß von dessen Beteiligung zu präzisieren wäre,

1 Bibliothèque cantonale de Lausanne, Département des Manuscrits (BCUL/D) IIS78/ II/1.0.0.0, ohne Datum [177].  Brockliss 199, Pilloud 1999, Louis-Courvoisier/Pilloud 00.



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oder es zeigt eine Verschiebung des Blickwinkels an, den die Patientin auf ihre eigene Geschichte richtet. In diesem Fall verwendete sie die erste Person, um ihr Anliegen zu formulieren, und die dritte Person, um einen unabhängigeren Bericht wie aus der Sicht eines Unbeteiligten zu verfassen. Bezüglich des Themas der Vielstimmigkeit ist ebenfalls hervorzuheben, daß das Dokument „ohne Aufklärung und Hilfsmittel“ verfaßt worden ist. Dies bedeutet, im Unterschied zu anderen Manuskripten des Fonds Tissot, daß es keine Hilfestellung von der Seite eines Arztes gab, zumindest was die narrative Organisation der Aussage anbetrifft. Ein solcher Hinweis ist aus der Sicht der Autoren zumeist positiv konnotiert, denn er bedeutet, daß der Bericht so treu wie möglich ohne Beeinflussung durch medizinische Vorkenntnisse den Verlauf der Krankheit beschreibt. Madame de Mirmont beansprucht also eine gewisse Freiheit gegenüber den Schemata der professionellen Fallberichte. Doch es bleibt zu klären, auf welche Weise und über welche Prozesse man sich von der offiziellen medizinischen Kultur emanzipieren kann. Nachdem sie ihr Alter angeben hat, 8 Jahre, erstellt die Gräfin den Bericht über ihre medizinische Vergangenheit, in dem biographische Elemente und Krankheitsepisoden eng miteinander verwoben sind: Die erste Epoche der Störung ihrer Gesundheit geht auf das Alter von 18 Jahren zurück, als sie beinahe eine Magenentzündung hatte. Diese Krankheit, deren Heilung schleppend verlief, hinterließ undeutliche Schmerzen […]. Nachdem sie mit 0 Jahren verheiratet worden war, durchlitt sie schwierige Schwangerschaften und mißliche Niederkünfte. […] Es entstanden trockene hirsekorngroße Flechten auf ihrer linken Brust […]. Man glaubte, daß sich ein Saft entwickelt hatte, der erst vergehen müßte, damit Madame de Mirmont aufhörte, an den Schmerzen zu leiden, die manchmal die Brust, manchmal den Kopf und manchmal die Eingeweide betrafen. […] Bis zum Alter von  Jahren ertrug Madame diese Schmerzen, ohne etwas zu unternehmen, obwohl sie täglich stärker wurden und unter verschiedensten Formen wieder auftauchten. Schließlich entwickelte sich eine Exostose am rechten Bein […] eine beträchtliche Anschwellung mit entsprechenden Schmerzen.

Es ist wie gesagt schwierig, einen solchen Typ von Erzählung ohne erste Person einem Urheber zuzuweisen. Wir wissen nicht, ob die Gräfin, welche die Position des Autors beansprucht, alle hier vorliegenden Elemente der verschiedenen Erklärungsmuster für sich übernimmt oder ob sie willentlich verschiedene Stimmen und Bedeutungen in Anschlag bringt, um Tissot über möglichst alles in Kenntnis zu setzen, ohne jedoch eine bestimmte Sichtweise einer anderen vorzuziehen. Erzählmuster und Lektürehorizonte Während die Erzählperspektiven nur schwer auseinanderzuhalten sind, scheinen die Muster, die das Gesagte zusammenhalten, deutlicher lesbar. Der Bericht verfolgt eine klare chronologische Linie und entwickelt „die natürliche Geschichte der Krankheit“ von den ersten Anzeichen einer „Gesundheitsstörung“ über mehr oder weniger charakteristische Zwischenstadien bis zur jüngsten

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Verschlimmerung. Die verschiedenen zeitlichen Anhaltspunkte – die hier vor allem durch die Altersangaben und die für wichtig erachteten Episoden wie die „verschleppte“ Entzündung, die Heirat, die Schwangerschaften und Geburten gegeben sind – zeigen, daß die Beschreibung der Erfahrung einer punktuellen Einteilung (Momente des Erscheinens, Dauer, Häufigkeit) folgt, während die Lokalisierung der Übel zweitrangig erscheint. Die Orte, an denen die Symptome auftreten, sind bei der Gräfin im übrigen sehr variabel: „Keines ihrer Körperteile ist besonders betroffen, obgleich sie fortwährende Schmerzen verspürt.“ Zu bemerken ist allerdings die Erwähnung einer auf dem rechten Bein lokalisierten Exostose, die zum Gegenstand einer genaueren Beschreibung wird. Auch wenn man dieses Übel als solches nicht isoliert, sondern als letztes einer ganzen Reihe von anderen Symptomen betrachten muß, scheint es, im Raum des Körpers genauer verortet, die Erfahrung gewesen zu sein, die gewissermaßen „das Faß zum Überlaufen“ brachte. Wie kann der Historiker den Einfluß – und in gewisser Weise den Signifikanten – dieser Exostose, welche die Toleranzschwelle der Patientin durchbricht, interpretieren? Die Exostose scheint als eine qualitative Veränderung erfahren zu werden, die plötzlich unerträglich wird. An dieser Stelle muß der Forscher die verschiedenen durch die Quellen nahegelegten Interpretationen heranziehen, was manchmal zu einer gewissen Verwirrung führt, weil der Bedeutungsüberschuß zahlreiche Fragen unbeantwortet läßt. Vernünftigerweise kann man annehmen, daß die Verzweiflung von Madame de Mirmont dadurch begründet wird, daß sich die Schmerzen an einem bestimmten Punkt festmachen lassen. Eine solche Kristallisation gilt im Verständnis der Epoche allgemein als ein schlechtes Zeichen. Man glaubte, daß dies auf eine Verschlimmerung und einen unentwegten Fortbestand der Krankheit vorausweisen würde. Im Zusammenhang mit einem solchen lokalistischen Muster, das sich in anderen Teilen des Korpus wiederfindet, signalisiert die Exostose in der Tat eine ungünstige Vorhersage. Wenn man den besonderen Fall der Gräfin aus dem soziokulturellen Kontext und den Erzählmustern der Epoche herausnimmt, läuft man Gefahr, Interpretationen zu liefern, die, auch wenn sie eine gewisse Gültigkeit im Rahmen einer internen Analyse haben, nichtsdestoweniger historisch fragwürdig sind, da sie von den anderen Briefen kaum gestützt werden. So könnte man vermuten, daß die Mattigkeit von Madame de Mirmont durch das erfahrene oder befürchtete Schwinden ihrer Autonomie ausgelöst wird, denn sie betont, daß die Exostose sie in ihrer Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt hat. Die Aristokratie ist gewiß nicht gezwungen, auf ihre handwerklichen Fähigkeiten und Ihren Bewegungsapparat zu zählen, um ihr Überleben zu sichern, wie es bei den Bauern oder den Handwerkern der Fall ist. Trotzdem dürfte einer Aristokration die Bewahrung der Mobilität für andere Beschäftigungen wie zum Beispiel für  Diese diachronische Perspektive in der Krankheitsbeschreibung, die vom Neu-Hippokratismus beeinflußt und für das 18. Jahrhundert typisch ist, stellt eines der am häufigsten verwendeten Erzählmuster in den an Tissot adressierten Patientenbriefen dar. Vgl. insbesondere Bernez 001, Pomata 1996 sowie Siraisi 1991.



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ihr Auftreten in der Gesellschaft notwendig erscheinen, da sie zu den „Leuten von Welt“ gehört, deren soziale Identität teilweise auf der Fähigkeit beruht, sich zu zeigen und zu bestimmten Anlässen in bestimmter Begleitung gesehen zu werden. Eine andere, stärker auf die konfliktreichen Sozial- und Heiratsbeziehungen abhebende Lektüre, könnte zu einer weiteren Hypothese führen: Im patriarchalischen System der Epoche ist die körperliche Freiheit vielleicht die einzige, die eine verheiratete Frau genießen kann. Auf diese Interpretation, die eine reine Vermutung bleiben soll, komme ich im Zusammenhang mit anderen narrativen Elementen später zurück. Dieser Überlegung soll hier nur die Reduktionen verdeutlichen, die aus jeder einseitigen und ausschließenden Lektüre folgen, bei der die Erzählmuster, welche den Ausdruck der Krankheit im 18. Jahrhundert strukturieren, nicht beachtet werden. Genese der Krankheiten Eine der wesentlichen Fragen, auf die Tissots Korrespondenten fast immer eine Antwort suchen, betrifft den Ursprung der Krankheit. Ist sie endogenen Ursprungs oder durch einen äußeren Eingriff verursacht worden? Der Erzählfaden der Abhandlung von Madame de Mirmont läßt in diesem Stadium der Lektüre auf eine exogene Ursache schließen. Denn kein Element der Anamnese legt nahe, daß die Patientin bestimmte Krankheitsveranlagungen hat, die zum Beispiel mit der Vererbung oder dem Temperament zusammenhängen könnten. Im Gegenteil, schon in der zweiten Zeile des Dokuments werden die „gute Konstitution“ und die Kräfte hervorgehoben, die ihr trotz der Leiden noch verblieben sind. Verfolgt man die Möglichkeit einer externen Verursachung der Krankheit, dann kämen die Eheverhältnisse als causa in Betracht haben. Dem Bericht zufolge scheint die Krankheit in der Tat erst nach der Hochzeitsnacht wirklich aufgetreten zu sein und sich im Verlauf der Schwangerschaft verschlimmert zu haben. Dieses erzählerische Positionierung ist sicher kein Zufall. Die Gesamtheit des Quellenkorpus zeigt deutlich, daß die parallel mit den ersten Krankheitanzeichen erwähnten Umstände nicht allein dazu dienen, die Ereignisse zeitlich einzuordnen. Sie werden auch angeführt, um Verkettungen von Ursache und Wirkung darzulegen. Insofern ist es nicht illegitim, sich bei der Interpretation des Zeugnisses von Madame de Mirmont stark auf die Chronologie ihres Berichts zu beziehen. Dabei geht es jedoch weniger darum, die Anamnese als solche zu rekonstruieren, wie es ein Arzt täte, sondern die Modalitäten der Erzählung herauszuarbeiten. Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, die Krankheit selbst zu beleuchten, und er käme von seinem Weg ab, wenn er es für seine Aufgabe hielte, die Krankheitsursache aufklären zu wollen. Er muß sich darauf beschränken, die Art und Weise zu analysieren, in der die Akteure die Krankheit erleben und von ihr erzählen. Seine Aufgabe besteht darin, die Andeutungen der Brief-

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autoren für mögliche Krankheitserklärungen zu verstehen, und ihre Wortwahl aus der Biographie und der Interaktionssituation heraus zu deuten. In Anbetracht solcher Zeugnisse läuft der Forscher ebenfalls Gefahr, die Bedeutungen, die er herauszulesen glaubt, überzuinterpretieren und sich in ihnen zu verlieren. So könnte er der punktuellen Einteilung von Madame de Mirmont (der Heirat als wesentlichem Anhaltspunkt für die Auslösung und das Fortschreiten der Krankheit) zu viel Gewicht verleihen und etwa so weit gehen, die Eheverhältnisse verantwortlich zu machen, wodurch er sich auf das problematische Feld der „Soziosomatik“ einlassen würde. Dieses Interpretationsschema, das den pathogenen Einfluß bestimmter sozialer Konfigurationen beschreibt, läuft im übrigen auch Gefahr, eher anachronistische soziale und politische Überzeugungen zu reflektieren als den Inhalt des Briefes. Mit einer so engen Lektüreschablone wäre man schnell versucht, zu verallgemeinern und alle narrativen Fragmente auf einer Ebene zu fassen, ohne diejenigen zu beachten, die ein stärker kontrastierendes und komplexeres Bild ergeben. Es ist dagegen von größtem Interesse, sich den Bedeutungen zuzuwenden, die bestimmte Symptome in den Augen der Kranken annehmen können. Wenn also die Gräfin de Mirmont sagt, daß die Flechten, die ihre Brust bedecken, „ihr nicht zur Last fallen“, könnte man versucht sein, an eventuelle Nebeneffekte zu denken, die ihr zum Vorteil gereichen. Daß sie sich von der Krankheit wenig beeinträchtigt fühlt, heißt womöglich, daß sie daraus irgendeinen Nutzen (sekundären Krankheitsgewinn) zieht. Und gemäß der Hypothese der belastenden Eheverhältnisse liegt der Vorteil vielleicht darin, daß sie ihren Ehemann auf Distanz halten kann. In der Tat löst ein Ausbruch von Flechten eher Widerwillen als Begehren aus. Der weitere Text des Briefes führt uns allerdings dazu, noch andere Spuren zu verfolgen, die zu dieser Interpretation teilweise im Widerspruch stehen. Im Verlauf ihres Berichts führt Madame de Mirmont verschiedene Erklärungsmuster an, von denen einige auf den praktischen Arzt Dr. Richard zurückgehen. Mehrfache Bedeutungen Folgt man der Gräfin, hat ihr Arzt „geglaubt, […] einen erblichen Defekt im Blut, einen zu Ausschlag führenden Saft und Symptome eines gichtähnlichen Rheumas zu erkennen“. Diese drei Bedeutungszuschreibungen sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, die über die bloße Frage der pathogenen Faktoren hinausgehen. So ist der erbliche Defekt des Bluts nicht unbedingt eine hinreichende Ursache für die Krankheit. Vielleicht zeugt er einfach von einer ererbten Veranlagung oder einer Idiosynkrasie, die auch unbemerkt hätte bleiben können. Ebenso verweist die Erwähnung des gichtähnlichen Rheumas eher auf eine symptomatologische Phänomenologie. Es ist mit Blick auf das Gesamtkorpus wahrscheinlich, daß die rheumatischen Anfälle eher als eine Wirkung  Gerhardt 1989, 66.

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denn als eine Ursache wahrgenommen werden, also als Folgezustand einer tiefer liegenden Störung. Die Frage des Ursprungs und der Natur der Krankheit scheint durch diese drei medizinischen Beobachtungen also noch nicht beantwortet. Im Gegenteil, die Tatsache, daß sie durch den gleichen Arzt formuliert werden, erhöht sogar den Eindruck der Vieldeutigkeit, da diese nicht allein auf die Vielzahl von individuellen Stimmen zurückzuführen ist, sondern auch auf die Unterschiede innerhalb der von jedem Beteiligten gewählten Interpretationen. Außerdem spricht die Patientin den krampflösenden Mitteln, die ihr „zur Beruhigung der Nerven“ verschrieben worden sind, die höchste Wirksamkeit zu. Diese Präzisierung kann ebenfalls Teil einer ätiologischen Interpretation sein. Da der Bericht deutlich darlegt, daß sich das Nervenmittel sehr günstig ausgewirkt hat, kann man daraus auf eine Sichtweise der Krankheit schließen, welche die nervliche Ursache mit einbezieht. Die Dinge verkomplizieren sich also für den Historiker, der nur mit Schwierigkeiten die im Text ausgeführten Interpretationen zusammenzuführen und ggf. mit intersubjektiven Variablen verbinden kann. Das Rätsel wird um so komplexer, als Madame de Mirmont, die offenbar mit den bislang angeführten Mutmaßungen nicht zufrieden ist, noch eine weitere Hypothese äußert, wobei sie sich auf ihre Empfindung beruft, also gleichsam auf das „Gedächtnis ihres Körpers“, sowie die Erfahrungen, die sie im Verlauf ihrer Krankengeschichte gesammelt hat: Während ihrer letzten Behandlung vor drei Jahren schied Madame der Mirmont einen großen Wurm aus, dem man jedoch keine Bedeutung beimaß. Ein Jahr später fiel sie wieder in einen Zustand extremer Mattigkeit […]. Je mehr sie nachforschte, was mit ihr geschah, desto stärker gelangte sie zu der Überzeugung, daß sie zumindest noch eines dieser Tiere in ihrem Körper besäße, welches sie genau zu spüren glaubte. Es vergingen sechs Monate, bevor sie Herrn Richard konsultieren konnte, der diese Idee in seinem Brief jedoch zurückwies und ihr bei einer mündlichen Konsultation das Pulver nur zu verordnen schien, um ihr zu beweisen, daß sie keinen Wurm hätte. Nach der ersten Einnahme schied sie allerdings noch einmal einen Wurm aus, der elf Zoll lang und außergewöhnlich dick war.

Der Bericht verläßt hier die Spur der Eheprobleme und scheint sich nun auf die Bedeutung der Würmer zu konzentrieren, deren Präsenz deutlich beobachtet wird und denen die Patientin eine wesentliche Rolle zuschreibt. Ist die Frage damit jedoch vollständig beantwortet? Eher nicht. Denn die Gräfin fühlt sich durch das wurmabtreibende Mittel, das ihr der Arzt erst nach heftigen Diskussionen verabreicht hat, nur wenig erleichtert. In Anbetracht des Ergebnisses ist sie der Ansicht, daß die verschiedenen Symptome nur schwerlich allein auf die Parasiten zurückzuführen sind. So legt der Bericht weitere mögliche Faktoren nahe, ohne sie jedoch näher auszuführen. Das semantische Feld entfaltet sich also weiter: Sie hat das Wurmpulver erneut, jedoch ohne Ergebnis eingenommen und auch andere wurmabtreibende Mittel versucht […]. Das Pulver […] hat keinen anderen Effekt, als die Würmer auszuscheiden; […] nichts davon hilft wirklich. Die Behandlung verlangt mehr Behutsamkeit denn je, und vielleicht muß man verschiedene Standpunkte annehmen,

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denn es ist sehr wahrscheinlich, daß die Würmer nicht all diese Mißstände verursachen können, ohne daß es eine andere Ursache gibt, die man, ohne sie zu kennen, zwar vorübergehend gelindert, aber nicht wirklich geheilt hat.

An dieser Stelle kommen die verschiedenen Bedeutungsebenen zu einem Erklärungsversuch zusammen, der nicht abschließend und noch von Zweifeln durchdrungen ist, aber durchaus bestimmte Versuche enthält, die Bedeutungen zu hierarchisieren. Der Historiker kann nur diesen Versuch, mögliche Bedeutungen – Umstände, Ursachen, Folgen, Anzeichen, Vorahnungen, mögliche Lösungen usw. – zu bezeichnen und einer endgültigen Entscheidung zu widerstehen, sorgfältig wiedergeben. Schließlich handelt es sich hier um eine an Tissot gerichtete Bitte um ärztlichen Rat. Von Tissot erwartet man nicht nur eine Behandlung sondern auch Erklärungen. Und so ist es nicht verwunderlich, daß die Krankengeschichte von Madame de Mirmont hier noch in der Schwebe bleibt. Neuer Schreibkontext und Erneuerung des Berichts Die Schattenzonen lösen sich allerdings etwas auf, wenn man den zweiten Bericht in Betracht zieht, der das Datum vom 0. Februar 177 trägt und eine Länge von 16 Seiten hat. Dieses Schreiben ist nicht an den Lausanner Arzt gerichtet, sondern an Bordeu. Der Wechsel des Ansprechpartners trägt möglicherweise zu den Veränderungen bei, die in der Erzählung bezüglich des Inhalts und der Form aufgetreten sind. Die Gräfin, die hier in sehr detaillierter Weise berichtet, wählt dieses Mal sehr deutlich und von Anfang bis Ende durchgehend die erste Person. Das Manuskript beginnt mit einer überraschenden Offenbarung. Im Gegensatz zu dem, was man zuvor annehmen konnte, wird deutlich, daß die Gräfin seit ihrer Kindheit starke Gesundheitsprobleme hatte. Sie litt unter verschiedenen Krankheiten, darunter insbesondere Würmern und Flechten, die von nun an eine wesentliche Rolle in der weiteren Erzählung bekommen. Diese Verschiebung des Erzählduktus, die den Gegenstand als problematischer charakterisiert, deutet die späteren Krankheiten als innerlich verursacht: Obwohl ich scheinbar [Herv. S. P.] gesund und kräftig geboren wurde, habe ich nichtsdestoweniger eine recht elende Kindheit verbracht. Ich litt unaufhörlich unter den typischen Kinderkrankheiten: […] zahlreiche Würmer sowie ein Saft, der zu Ausschlag auf den Händen führte, welchen man als Milchschorf behandelte, was wenig nützte. Die äußeren Symptome verschwanden, doch es ist wahrscheinlich, daß der Erreger im Blut geblieben ist [Herv. S. P.].

Madame de Mirmont hat also nur scheinbar eine gute Konstitution, ebenso wie der Ausschlag nur scheinbar geheilt ist. In der Tiefe ist nichts wirklich gesund. Man findet hier eine Variante der Dialektik zwischen dem Inneren und dem Äußeren, die für die Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert von zentraler  BCUL/D IS78/1.0.0.1, 0. Februar 177.

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Bedeutung ist. Dieses Erzählmuster, das in zahlreichen Briefen auftaucht, erlaubt es, die Idee der verschleppten Heilung besser zu verstehen, die zu Beginn des ersten Manuskripts erwähnt wird. Die Gesundheit gilt nicht schon dann als wiederhergestellt, wenn die sichtbaren Anzeichen der Erkrankung verschwunden sind. Das Übel konnte vielmehr nur im Inneren versteckt sein oder andere, diskretere Wege gefunden haben. Diese Wahrnehmung, die von der Beweglichkeit von Krankheitserregern ausgeht, eröffnet einen Zugang zur Bedeutung der oben beschriebenen an verschiedenen Stellen auftretenden Schmerzen. In den Augen der Protagonisten entstammen sie einem gleichen pathogenen Prinzip, und ihre Lokalisierung ist weniger wichtig als die Identifikation der Dyskrasie an ihrem Ursprung. Solange der verschlechterte Saft keinen Anlaß zu einer zusätzlichen Sorge bietet, indem er sich zum Beispiel an einem bestimmten Punkt dauerhaft festsetzt, bleibt er das einzige zu beherrschende und zu behandelnde Übel. Das Auftauchen der Exostose ist also wahrscheinlich als eine beunruhigende Wandlung wahrgenommen und auf eine Verlagerung des Flechtenwuchses zurückgeführt worden. Die Wahrnehmung eines „wandernden Übels“6 und die daran geknüpfte konstante Dialektik zwischen dem Äußeren und dem Inneren des Körpers liefern zwei Muster, welche die Deutung der Flechten neu orientieren. Man versteht nun besser, aus welchem Grund sich die Gräfin so leicht damit abfindet. Die Flechten können nämlich einen relativen Schutz gegenüber anderen Übeln bedeuten, da der Krankheitserreger üblicherweise als weniger offensiv angesehen wird, solange er sich an der Oberfläche des Körpers befindet, zum Beispiel in Form von Hautausschlägen. Er wirkt dagegen bedrohlich, wenn er tiefer in den Körper eindringt, wodurch er sich der Kontrolle entzieht und die verschiedensten Formen annehmen kann7. Die Gräfin scheint dies im übrigen zu ahnen, denn sie bemerkt: „Oft verschwanden meine kleinen Flechten, und daraus resultierten alle möglichen Mißstände.“ Die Frage der Flechten zeigt deutlich, inwiefern eine isolierte Lektüre ohne Kontextualisierung und ohne Beachtung der Semantik gängiger Erzählmuster, die nur aus Kenntnis des Gesamtkorpus zu erschließen ist, zu anachronistischen Projektionen seitens des Historikers führen kann. Die Flechten haben tatsächlich eine abweisende Funktion, jedoch nicht gegenüber dem Ehemann, sondern vielmehr gegenüber dem schlechten Saft, der so im äußeren Bereich des Körpers, also auf der Haut gehalten wird. Im weiteren Krankheitsbericht erzählt die Gräfin einige Ereignisse aus ihrem Leben, wobei sie noch deutlicher das Register der ebenso emotionalen wie physischen Klage zieht. Sie schreibt von „Unruhen“, die ihr sowohl seelische als auch körperliche Schmerzen zu bereiten scheinen. Über das Muster des engen Verhältnisses zwischen Körper und Seele, jenem anderen klassischen topos in den Briefen, gewinnt die Hypothese der Eheschwierigkeiten wieder 6 Rey 199, 1–18. 7 Louis-Courvoisier/Pilloud 00.

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etwas an Konsistenz. Der Bericht von Madame de Mirmont präzisiert, daß diese Schwierigkeiten mit dem Verhältnis zu den Schwiegereltern und den Erfahrungen der Schwangerschaft zusammenhängen. Man erfährt insbesondere, daß sie in kurzer Folge zwei Fehlgeburten hatte. Nach ihrer Heirat ist sie „aufs Land verlegt“ worden, wo sie ein „sittsames, immer geordnetes Leben“ führt, welches jedoch „von Sorgen überschüttet“ wird. „Jeden Tag vervielfältigten sich die Übel“, klagt sie und erwähnt unter anderem „Dämpfe, die so weit gingen, daß die Tränen in Strömen flossen“. Sie fährt fort: Während der ersten Schwangerschaft, noch unter dem Joch der Autorität, gab es nur wenige Tage, an denen die grausamen Verwandten mich in Ruhe ließen, so daß ich die ganze Zeit krank war. Während der zweiten Schwangerschaft, etwas weniger unglücklich, da ich freier war [Herv. S. P.], vervollständigte die Bürde der beiden Kinder die Summe meiner Übel.

Stets im gleichen Tonfall beschreibt die Gräfin eine kurz zuvor eingetretene Verschlimmerung und erklärt: „Es ist wahr, daß die seelische Verfassung hierbei eine große Rolle spielen konnte.“ Die Prozesse, durch welche die „seelischen Leidenschaften“ und das körperliche Gleichgewicht sich gegenseitig beeinflussen, sind in der Abhandlung nicht genau erklärt, doch es wäre deplaziert, sich mit einer modernen psychosomatischen Lektüre zu begnügen, die den Lektürehorizont des Wissenschaftlers zufriedenstellt, ohne wirklich auf den Text und seinen Bedeutungsfächer einzugehen. Die Patientenbriefe scheinen in der Tat die Kausalkette zwischen den Sorgen und den körperlichen Störungen als gleichsam mechanisch anzusehen, was weit von der Idee entfernt ist, ein körperliches Leiden aufgrund fehlenden Verständnisses seiner psychischen Ursachen als Somatisierung zu verstehen8. Die Verteilung der Interpretationsautorität: Zusammengesetzte Versionen und Konsensformen In ihrer Krankengeschichte spielt Madame de Mirmont auch auf die Art und Weise an, wie sie nach Bedeutungen sucht und unter den ihr gegenüber geäußerten Ansichten auswählt. Nachdem sie drei praktische Ärzte aus Paris per Brief konsultiert hat, ist sie ratlos über die „Verschiedenheit ihrer Meinungen“, welche sie jedoch nicht weiter ausführt. Die semantische Zersplitterung, die sich 8 Tissot bemerkt zum Beispiel in Bezug auf einen seiner Patienten, der von einer „Nervenkrankheit“ befallen ist: „Die Sorgen haben die Absonderungen der Galle beeinträchtigt; diese fehlen beim Verdauen und fließen zu den Nerven zurück“ (BCUL/D IS78/ II/19.01.0.01). Bei einem anderen Patienten haben die Sorgen einen “beißenden Saft entstehen“ lassen, der die Nervenstränge irritiert und eine nervöse Unruhe hervorgerufen hat (BCUL/D IS78/II/1.0.01.08). Über noch einen anderen schreibt der Arzt aus Lausanne: „Es scheint, daß die Sorge einen allgemeinen Schwächezustand ausgelöst hat; alle Funktionen sind eingeschränkt, und es ist an verschiedenen Stellen zu leichten Stauungen gekommen, wobei vor allem die Nerven betroffen sind“ (BCUL/D IS78/ II/1.0.0.).

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aus dieser vielstimmigen Konfiguration ergeben hat, scheint hier zu groß zu sein, um in ein zusammenhängendes Ganzes integriert zu werden. Sie weist alles zurück, inklusive der Verordnungen, was von einer gewissen Interpretationsautorität zeugt, die in den folgenden Zeilen deutlich zum Ausdruck kommt. Dort berichtet sie, wie sie sich geradezu gezwungen fühlt, sich der schrecklichen Prüfung des „starken Mittels“ zu unterziehen. Mit diesem Euphemismus bezeichnet sie das von vielen Patienten gefürchtete Einreiben mit Quecksilber. Ihr Mißfallen ist klar und deutlich: Dazu angehalten, einen Chirurgen von guter Reputation zu konsultieren, behauptete dieser Mann rundheraus, daß die Knoten durch ein erbliches Übel verursacht worden seien, welches man zwar aus dem Blut entfernt habe, das aber in die Lymphe gelangt sei. […] Er fügte hinzu, daß er, wenn ich den Mut für das starke Mittel aufbrächte, ganz sicher sei, mich von Grund auf und bis hin zu den Flechten heilen zu können.

Ob es nun an der einseitigen und gewagten Deutung sowie den großspurigen Versprechen des Chirurgen liegt, der sogar eine Heilung der Flechten vorhersagt, oder an der Angst vor dem Quecksilber, in jedem Fall zeigt die Gräfin deutlich ihre Skepsis. Sie scheint dieser Krankheitserklärung, die sie wahrscheinlich für ebenso einseitig wie waghalsig erachtete, nicht gefolgt zu sein, denn sie zielt darauf ab, den Ausschlag, der sich in ihren Augen als gesundheitserhaltend erwiesen hat, zu unterdrücken. Die weitere Argumentation wäre eigentlich eine eingehendere Betrachtung wert. Jedenfalls zeigt es sich, daß eine Interpretation, die sich vor allem auf die unglückliche Ehe bezieht, brüchig bleibt, vor allem, wenn man sie als einzige Krankheitsursache heranzieht. Demgegenüber sollte man eher ein Bündel von Bedeutungen in den Blick zu nehmen und damit der Überzeugung der Patientin selbst zu folgen, die in Zusammenarbeit mit Dr. Richard eine mehrdeutige Version beibehalten hat. Diese steht im Einklang mit den verschiedenen Erzählsträngen, die dazu gedient haben, die Krankheiten zu konzeptualisieren und die Beschwerden einzuordnen. Während Madame de Mirmont die Meinungen der anderen Behandler unmittelbar zurückwies, haben ihr die Äußerungen von Dr. Richard spürbar dabei geholfen, eine befriedigende, zwar zusammengesetzte, aber kohärente Version herzustellen. In dieser Polyphonie war seine ärztliche Stimme die wertvollste, auch wenn die Gräfin es nicht unterlassen hat, nach weiteren zu suchen. Die Urteile der praktischen Ärzte haben sie keineswegs von ihrem Standpunkt abgebracht, vielmehr haben sie ihr die Möglichkeit eröffnet, eine Auswahl zu treffen. So hat sie sich für die Ansicht Richards entschieden, die kein autoritäres und endgültiges Urteil darstellt, sondern eine auf dialogische Weise mit der Teilnahme der Patientin hergestellte Interpretation. So entstand eine Ätiologie, die „zusammengemischt“ ist, ohne aus der Sicht der beiden Protagonisten zersplittert und inkonsistent zu sein. Dieser narrative Eklektizismus, der im 18. Jahrhundert im übrigen sehr verbreitet ist, scheint niemanden zu stören. Im Gegenteil können diese Zusammenstellungen den Vorteil bieten, verschiedene Elemente der Erfahrung zu einem sinnvollen Ganzen werden zu lassen, zu einer Totalität, die das Innere nicht vom Äußeren, das Teil nicht vom Ganzen

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und die Zustände des Körpers nicht von denen der Seele trennt. So läßt sich die Krankheit als ein von der individuellen Geschichte untrennbares Moment betrachten. Das gegenseitige Einverständnis wird in der Krankengeschichte von Madame de Mirmont anhand der Frage der Würmer erreicht, welche die Kranke selbst vorbringt und damit ihren Arzt schließlich überzeugt. Die durch die Beobachtung objektivierten Parasiten werden mit subjektiven Elementen verbunden, die zu ihrer Deutung der eigenen Geschichte gehören. Die Gräfin betont vor allem die Empfindlichkeit ihrer Nerven, die den vergangenen Leidenserfahrungen zuzuschreiben sei. Es gelingt ihr zudem, die zu drastischen Heilmittel, die sie in Zukunft um jeden Preis vermeiden will, zu beanstanden: Wir [Herv. S. P.] fassen zusammen […], daß der größte Teil meiner Übel tatsächlich auf das Unwesen dieser Tiere zurückzuführen ist, und daß dieses vielleicht außergewöhnliche Unwesen aufgrund der Empfindlichkeit der durch langes Leiden beeinträchtigten Nerven, der gewalttätigen Heilmittel und des nervenreizenden, die Flechten auslösenden Saftes noch schlimmer geworden ist [Herv. S. P.].

Am Ende hat Madame de Mirmont sich einige Aspekte der professionellen medizinischen Kultur, die von dem ihr volles Vertrauen besitzenden Dr. Richard vertreten werden, aneignen können. Mit seiner Hilfe hat sie eine Interpretation zusammengestellt, die imstande ist, die unhintergehbare Besonderheit ihrer Krankheitsgeschichte und die Ganzheit ihrer Person zu bewahren. Man kann sich vorstellen, daß sie daraus einen gewissen symbolischen Nutzen zieht. Ihre Fähigkeit der Ausarbeitung und der Aushandlung der Krankheitsdeutung zeigen deutlich bestimmte Kompetenzen und Möglichkeiten, die nicht jeder Patient besitzt. Dieses Emanzipationspotential wird durch ihren Rang und ihre Erziehung eindeutig begünstigt. Die Reichweite der Patientenbriefe Die im Fonds Tissot enthaltenen Patientenbriefe stellen jeder für sich besondere Erzählungen dar, doch sie teilen allesamt gemeinsame narrative Muster, die es verbieten, die Krankheit als eine Zerstückelung des Körpers oder als eine Reduktion auf streng biologische Phänomene zu begreifen, ohne die Verbindung zum Gefühls- und Beziehungsleben in Betracht zu ziehen. Sie offenbaren somit eine originäre Perspektive, die dazu dienen kann, die Geschichte des Patienten zu bereichern und die Interpretationen und Ausführungen der Laien zur Gesundheit im 18. Jahrhundert zu untersuchen, die nicht allein auf das Humoralmodell der medizinischen Theorien zurückführbar sind9. 9 Wie die biographischen Quellen verdienen es auch die Patientenbriefe, gemäß einer Methode betrachtet zu werden, die sie nicht auf eine bloße Illustrationsfunktion beschränkt, in der sie allein dazu genutzt werden, Hypothesen oder Erklärungen zu bestätigen, welche auf einer anderen Ebene aufgrund anderer Gegebenheiten aufgestellt werden. Die Erzählungen der Kranken haben als solche einen heuristischen Wert, und ihre Analyse erlaubt es, nicht bereits scheinbar Bekanntes zu wiederholen, sondern im Gegenteil die traditio-

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Jenseits ihres historischen Interesses enthalten diese Archive, vom Standpunkt der medizinischen Anthropologie aus gesehen, auch ein reiches heuristisches Potential. Die kulturelle Alterität, die durch die historische Distanz erzeugt wird, lädt den heutigen Leser dazu ein, auch seine eigenen Verständnisund Erklärungsweisen von Gesundheitsproblemen kritisch zu beleuchten, indem er sich ihren konstruierten und zeitgebundenen Charakter bewußt macht. Diese reflexive Haltung sollte es nicht nur erlauben, vorgefertigte oder anachronistische Interpretationen zu vermeiden, sondern auch den Anderen in seiner Differenz zu respektieren und besser zu verstehen, ohne seine Ausdrucksformen in Bezugsschemata aufzulösen, die ihm fremd sind. Die Konfrontation mit der Alterität sollte jenseits des ersten Eindrucks der Befremdlichkeit auch dazu führen, nach den Ähnlichkeiten zu fragen, die jeder menschlichen Erfahrung eigen sind: Wie werden die verschiedenen Erzählmuster, welche der Deutung einer Krankheitserfahrung zugrundeliegen, miteinander verknüpft?0 Welche soziokulturellen und historischen Kontexte tragen dazu bei, bestimmte Erzählmuster anderen vorzuziehen? Kann das biomedizinische Modell wirklich allein aus sich heraus alle Erklärungen liefern, die das kranke Subjekt benötigt? Diese Fragen erscheinen nach der Lektüre dieser Zeugnisse des 18. Jahrhunderts, welche die existentielle Bedeutung der Krankheit hervorheben, umso dringlicher. Deren sinnvolle Deutung scheint eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Behandlung zu sein, die auf ein Verstehen und ein vorausgehendes gegenseitiges Einverständnis zwischen dem Behandler und dem Kranken schwer verzichten kann. Aus dieser Perspektive spiegeln die Patientenbriefe auch Probleme der derzeitigen medizinischen Ethik wider, die Bedingungen einer qualitätvollen therapeutischen Interaktion zu definieren versucht1. Wie der Historiker kann der Mediziner, der sich mit den Interpretationen des Kranken auseinandersetzen muß, mit Hilfe einer offenen und reflexiven Einstellung die Muster, die in die Rede des Patienten einfließen, bewerten und diejenigen, die seine eigene Rede begründen, kritisch beleuchten. Ein solches Bemühen um Dezentrierung erlaubt es, die von der kranken Person entfalteten Bedeutungen besser zu verstehen. Das ärztliche Urteil über eine individuelle Geschichte wird so als eine Version unter anderen betrachtet, die den Bericht nicht abschließt, sondern darum bemüht ist, sich in diesen einzubringen, indem sie auch den Versionen des Patienten und seiner Angehörigen angemessen beachtet. Die Manuskripte des 18. Jahrhunderts verdeutlichen, wie das Beispiel der beiden Briefe der Gräfin de Mirmont gezeigt hat, den intersubjektiven und narrativen Rahmen, in dem die Krankheitserfahrung ausgearbeitet wird. Aufgrund ihrer konstitutiven Vielstimmigkeit besteht die Erfahrung immer aus nelle medizinische Historiographie zu bereichern und zu erweitern. Vgl. hierzu Ferrarotti 198, 9–1, 0. 0 Vgl. zum Beispiel Kleinman 1988 sowie Good 1998. 1 Louis-Courvoisier/Mauron 00.  Was die narrative Ethik bzw. die narrative-based medicine betrifft, vgl. insbesondere Charon 001 sowie Hudson-Jones 1999.

Interpretationsspielräume und narrative Autorität

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einer Spannung von Bedeutungen, denn es bleibt schwierig, alle individuellen Stimmen und Interpretationen miteinander in Einklang zu bringen. Wirkliche Mißverständnisse oder Uneinigkeiten können, wie wir gesehen haben, natürlich vorkommen und zu einem Abbruch der Beziehung zwischen Behandler und Krankem führen. Dies geschieht im allgemeinen, wenn das Urteil des Behandlers oder eines Dritten zu definitiv ist bzw. ohne Rücksicht auf die vorangehenden Erzählungen des Kranken vorgebracht wird. Wenn sich dagegen jeder bemüht, die jeweiligen Erzählmuster anzuerkennen, ist es möglich, semantische Offenheit zu erzeugen, die den Dialog und das Aushandeln begünstigen. Die Vieldeutigkeit erweist sich sodann als eine sichere Stütze dafür, die Interpretationen zusammenzuführen und im Lauf der Zeit zu adaptieren. Wird die narrative Autorität zwischen dem Arzt und dem Patienten (sowie den verschiedenen anderen eingreifenden Personen, die sich um diese Dyade herum bewegen, also vor allem den Angehörigen) besser verteilt, birgt sie sogleich ein therapeutisches Potential. Sie erlaubt es dem leidenden Individuum, die Krankheitsepisoden in seine Biographie neu zu integrieren und somit – bezüglich seiner Erzählung ebenso wie seiner Geschichte – einen Subjektstatus zu behaupten. Bibliographie: Barras, Vincent/Philip Rieder, „Ecrire sa maladie au Siècle des Lumières“, in: Vincent Barras/ Micheline Louis-Courvoisier (Hrsg.), La médecine des Lumières; tout autour de Samuel Tissot, (Genf 001) 01– Bernez, Marie-Odile, „Le statut de l’observation dans la médecine du XVIIIe siècle“, in: Jacques Viret (Hrsg.), L’observation dans les sciences (Nizza 001) 19–168 Blumer, Herbert, Symbolic Interactionism: Perspective and Method (Berkeley 1986) Brockliss, Laurence, „Consultation by Letter in Early Eighteenth-Century Paris: The Medical Practice of Etienne-François Geoffroy“, in: Ann La Berge/Mordechai Feingold (Hrsg.), French Medical Culture in the Nineteenth Century (Amsterdam 199) 79–117 Charon, Rita, „Narrative medicine. A Model for Empathy, Reflection, Profession, and Trust“, The Journal of the American Medical Association 86 (001) 1897–190 Chartier, Roger, Culture écrite et société: l’ordre des livres (XIVe–XVIIIe siècle) (Paris 1996) Dinges, Martin, (Hrsg.), Patients in the history of homoeopathy (Sheffield 00) Faure, Oliver (Hrsg.), Praticiens, Patients et Militants de l’Homéopathie (1800–1940) (Lyon 199) Ferrarotti, Franco, Histoire et histoires de vie. La méthode biographique dans les sciences sociales (Paris 198) Gerhardt, Ute, Ideas about Illness. An Intellectual and Political History of Medical Sociology (Houndmills 1989)

 „Wenn der Schmerz und andere Anzeichen einer chronischen Krankheit die gelebte Welt systematisch umzuwerfen oder zu zerstören drohen, setzt sich dieser Auflösung eine menschliche Antwort entgegen, die darauf beruht, einen Sinn zu entdecken oder zu erzeugen und die Welt zu konstituieren […]. Das Erzählen ist ein Vorgang, der darin besteht, das Leiden in der Geschichte zu situieren, die Ereignisse mit Blick auf die Zukunft zu ordnen und dem Patienten ein Mittel zu geben, den Gegner zu besiegen […].“ Good 1998, 69. Vgl. auch Scarry 198, 6.

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Good, Byron J., Comment faire de l’anthropologie médicale? Médecine, rationalité et vécu (Le PlessisRobinson 1998) Hudson Jones, Anne, „Narrative-based medicine. Narrative in medical ethics“ British Medical Journal 18 (1999) –6 Hunsaker Hawkins, Anne, Reconstructing Illness. Studies in Pathography (West Lafayette Indiana 199) Jewson, Nicholas, „Medical knowledge and the patronage system in 18th century England“, Sociology 8 (197) 69–8 Kleinman, Arthur, The illness narratives: suffering, healing and the human condition (New York 1988) Levi, Giovanni, „Les usages de la biographie“, Annales ESC 6 (1989) 1–16 Lachmund, Jens/Gunnar Stollberg, „The Doctor, his Audience, and the Meaning of Illness: the Drama of Medical Practice in the Late 18th and Early 19th Centuries“, in: Jens Lachmund/ Gunnar Stollberg (Hrsg.), The Social Construction of Illness (Stuttgart 199) –66 Lock, Margaret/Nancy Scheper-Hugues, „A Critical-Interpretative Approach in Medical Anthropology: Rituals and Routines of Discipline and Dissent“, in: Carolyn F. Sargent/Thomas M. Johnson (Hrsg.), Medical Anthropology (Westport Conn. 1996) 1–70 Louis-Courvoisier, Micheline/Alex Mauron, „‚He found me very well; for me, I was still feeling sick‘. The strange worlds of physicians and patients in the 18th and 1st centuries“, Journal of Medical Ethics: Medical Humanities 8 (00) 9–1 Louis-Courvoisier, Micheline/Séverine Pilloud, in Zusammenarbeit mit Vincent Barras, Lettres de patients et ‚courriers du corps‘ dans la correspondance médicale du Dr Tissot (1728–1797); base de données portant sur près de 10 manuscrits, avec reproduction numérique des originaux, support CD-Rom et DVD (Genf, im Druck) Mattingly, Cheryl/Linda C. Garro (Hrsg.), Narrative and the Cultural Construction of Illness and Healing (Berkerley 000) Pilloud, Séverine/Micheline Louis-Courvoisier, „The Intimate Experience of the Body in the 18th Century: Between Interiority and exteriority“, Medical History 7 (00) 1–7 Pilloud, Séverine, „Mettre les maux en mots: médiations dans la consultation épistolaire au 18e siècle; les malades du Dr Tissot (178–1797)“, Canadian Bulletin of Medical History 16 (1999) 1– Pilloud, Séverine, Expérience de la maladie et pratique médicale au siècle des Lumières: étude de la correspondance adressée au docteur S. A. Tissot, Rapport de recherche (Lausanne 00) Pomata, Gianna, „‚Observatio‘ ovvero ‚Historia‘. Note su empirismo e storia in età moderna“, Quaderni Storici 91 (1996) 17–198 Porter, Roy, „The patient’s view. Doing medical history from below“, Theory and Society 1 (198) 17–198 Rey, Roselyne, Histoire de la douleur (Paris 199) Rieder, Philip, „L’histoire du ‚patient‘: aléa, moyen, ou finalité de l’histoire médicale?“, Gesnerus 60 (00) 60–71 Rieder, Philip, Vivre et combattre la maladi: représentations et pratiques dans les régions de Genève, Lausanne et Neuchâtel au XVIIIe siècle, Thèse lettres, Université de Genève (00) Reuter, Yves, L’analyse du récit (Paris 000) Scarry, Elaine, The Body in Pain: the Making and Unmaking of the World (New York 198) Scott, Joan, „The Evidence of Experience“, Critical Inquiry 17 (1990) 77–797 Siraisy, Nancy G., „Girolamo Cardano and the Art of Medical Narrative“, Journal of the History of Ideas,  (1991) 81–60 Stolberg, Michael, „Mein äskulapisches Orakel! Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert“, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996) 8–0 Stolberg, Michael, „La négociation du régime et de la thérapie dans la pratique médicale du XVIIIe siècle“, in: Olivier Faure (Hrsg.), Les thérapeutiques: savoirs et usages (Oullins 1999) 7–68

Interpretationsspielräume und narrative Autorität

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Teysseire, Daniel, „Aux origines de la médecine sociale et de la politique de la santé publique: ‚L’Avis au peuple sur sa santé‘“ Mots/les langages du politique 6 (1991) 7–6 Teysseire, Daniel, „Peuple malade, peuple mourant le peuple victime de ‚l’Avis au peuple sur sa santé‘ de Tissot“, in: Langages de la Révolution française 1770–1815 (Paris 199) Tissot, Samuel Auguste, Essai sur les maladies des gens du monde (Lausanne 1768) Tissot, Samuel Auguste, L’onanisme (Lausanne 1760) Tissot, Samuel Auguste, Avis au peuple sur sa santé (Lausanne 1761) Wild, Wayne, „Doctor-Patient Correspondance in the 18th Century Britain: a Change in Rethoric and Relationship“ in: Timothy Erwin/Ourida Mostefai (Hrsg.), Studies in EighteenthCentury Culture, Bd. 9 (Baltimore 000) 7–6 Wolff, Eberhard, „Perspectives on patients’ history: methodological considerations on the example of recent German-speaking literature“, Bulletin canadien d’histoire de la médecine 1 (1998) 07–8

Die Sprache der Krankheit in der Korrespondenz von Antonio Vallisneri Benedino Gemelli

Selbst in Italien ist der Arzt und Wissenschaftler Antonio Vallisneri (1661–1730), Professor für praktische Medizin (1700–1710) und Medizintheorie (1710–1730) an der Universität Padua, außerhalb eines begrenzten lokalen Milieus und eines kleinen Gelehrtenkreises kaum bekannt. Was das Thema „Krankheit in Brie­ fen“ anbetrifft, führte die Erforschung, Identifikation und Transkription der Ausgabe der Consulti medici, die wir bislang nur aus den posthum im Jahre 1733 herausgegebenen 40 Consulti kennen1, zur Veröffentlichung einer bedeutenden Anzahl von wenig oder gar nicht bekannten Schriften Vallisneris und seiner Patienten. Bevor wir mit der Beschreibung einer Typologie seiner hypochondrischen Patienten beginnen, gilt es hervorzuheben, daß Vallisneri auf therapeutischer Ebene davon überzeugt war, daß die meisten Medikamente eher schädlich als nützlich seien und daß die beste therapeutische Methode darin bestehe, sich auf die Unterstützung der autonomen Heilwirkungen der Natur zu beschrän­ ken. Dies ist ursprünglich der Standpunkt von Francesco Redi (166–1697) und Marcello Malpighi (168–1694), doch Vallisneri erklärt in einem autobiogra­ phischen Kontext, daß er den Spuren Malpighis folgt3: Unser Freund Antonio liebte es zu erzählen, daß er, als er Malpighi zum ersten Mal sah, in Begleitung seines Vaters war und daß sie den großen Arzt und Philosophen aufgrund seiner üblichen Leiden ans Bett gefesselt antrafen. Während der Unterhaltung versuchte der Vater Malpighi aufzumuntern und versicherte, daß er seine Gesundheit schnell wie­ derfinden würde, da er doch als großer Arzt die seinem Leiden am besten entsprechenden Heilmittel kennen müßte. Malpighi antwortete sofort und bestimmt: Es gibt keine Heilmittel. Eine so seltsame und unerwartete Antwort überraschte Vallisneri und seinen Vater gleichermaßen. Aber Antonio sagte, daß er die ganze Wahrheit dieser wenigen Worte erst dann richtig verstand, als er das Alter der Reife erreichte und die Schwäche der praktischen Medizin mit ihren Betrügereien der Visionäre oder Mysterienschriftsteller erkannte und feststellte, daß die spezifischen Heilmittel, die man so sorgfältig sucht und die für eine wirkliche Behandlung von Krankheiten notwendig sind, nicht existieren.

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Vallisneri 1733, III 483–558. In Vallisneri 1991 und 1998 findet sich ebenfalls eine Samm­ lung zuvor unveröffentlichter Briefe und ärztlicher Ratschläge. Vgl. auch Vallisneri 1733, Raccolta d’alcune lettere scientifiche scritte a’ suoi amici, e d’altre miscellanee, III 559–616. Im Jahr 000 hat unter der Leitung von Dario Generali und Maria Teresa Monti (Istituto per gli Studi del Pensiero Filosofico – Consiglio Nazionale delle Ricerche, Milano) das Projekt einer nationalen Ausgabe der veröffentlichten und unveröffentlichten Werke Val­ lisneris begonnen. Di Porcia 1986, 47 f.

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Selbst wenn Vallisneri mit dem „geschwätzigen Galen“ übereinstimmt, daß „difficile est curare per literas“4, so stellt die Krankheitsbeschreibung per Brief für ihn trotzdem ein sehr wichtiges Instrument dar, das er mal als einziges und mal in Verbindung mit einer persönlichen Untersuchung des Patienten in Anspruch nimmt. In einigen Fällen ist es nicht korrekt, von Patienten im eigentlichen Sinne zu sprechen, denn es handelt sich bei den Briefen um eine vermischte Kommunikation, in der Krankheit und Gesundheit eine wichtige, aber keine exklusive Rolle spielen. Das erkennt man an der wissenschaftlichen und ge­ lehrten Korrespondenz zwischen Vallisneri und einigen seiner Freunde, die zuweilen und auf fast unmerkliche Art von der Freundschaft Vallisneris zu profitieren suchen, um für sich selbst oder Angehörige um ärztlichen Rat zu bitten. Davon zeugen innerhalb der bislang von Dario Generali veröffentlichten Texte die Briefe Vallisneris an Apostolo Zeno (1668–1750), an Louis Bourguet (1678–174)(während seines Aufenthaltes in Venedig) und an Ubertino Landi5. Auch die Briefe von den genannten Personen an Vallisneri sind erhalten. Der unveröffentlichte Kodex von Perugia Ms 1797 vermittelt uns eine ge­ nauere Idee von der Art, wie die Korrespondenz von und an Vallisneri vor allem zwischen 177 und 179 vonstatten ging. Aus dem (von jemand anderem erstellten) Index am Anfang des Kodexes kann man die verschiedenen Krank­ heiten erschließen, die Vallisneris Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Manche Anfragen können heute längeren Antworten, die in der posthumen Ausgabe von 1733 veröffentlicht wurden, zugeordnet werden. So können wir uns die Krankheit und den Kranken in einem genaueren Kontext vorstellen. Ausgehend von dieser Feststellung wurde von den Herausgebern entschieden, die Antworten Vallisneris zusammen mit den Anfragen zu veröffentlichen, was dazu beiträgt, den Kontext der Krankheit ebenso zu beleuchten wie den Gehalt der kurzen Antworten, die für sich genommen unverständlich wären. Üblicherweise wenden sich die Menschen über einen Vermittler an Vallis­ neri, selbst wenn es der Patient selbst ist, der seine Bitte um ärztlichen Rat niederschreibt. Unter den bezeichnendsten Beispielen findet sich der Fall eines (für uns anonymen) Hypochonders, den Vallisneri für die Art, wie er den Brief (in einer Länge von dreieinhalb Seiten) verfaßt hat, ausdrücklich lobt: Obgleich der verehrte Herr, der die ihn quälenden Unpäßlichkeiten mit eigener Hand dargelegt hat, von Beruf kein Mediziner ist, kann er sich zugute halten, daß er sie in einer solchen Ordnung und mit einer solchen Kenntnis ausgeführt hat, daß kein erfahrener Arzt es besser vermocht hätte.6

Man muß hinzufügen, daß der fragliche Patient Rechtsanwalt ist und daß der Brief die folgende Überschrift enthält: „Schlecht aufbereitete Information durch den Patienten“. Doch was sind die Elemente, die er dem Arzt dargeboten hat, und von welcher Ordnung ist die Rede? Tatsächlich ist dieser Bericht eines „Nichteingeweihten“ in seiner Methodologie nicht weit von dem der professio­ 4 5 6

Vallisneri 1991, 608. Brief Nr. 67 an Ubertino Landi (Padua, . 10. 1710). Vallisneri 1991–1998, Index der Empfänger. Ms 1797, 54 R.

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nellen Mediziner entfernt, mit Ausnahme eines gewissen Selbstmitleids, das am Ende des Briefs im Stile der Peroratio, also wie eine Ansprache vor Gericht, besonders ausgeprägt ist. Er beginnt mit seinem Alter (56 Jahre), seiner Ge­ sundheit, die er bis zum Alter von 40 Jahren genossen hat, seinem Wuchs, seiner normal ausgeprägten Beleibtheit, seinem fröhlichen Temperament und seiner guten Gesichtsfarbe. Er vermutet, daß sein übermäßiger Einsatz im Stu­ dium und bei Gericht seine Gesundheit ruiniert habe, auch wenn er an einer späteren Stelle den Verdacht äußert, sich in seiner Jugend an der „keltischen Krankheit“ angesteckt zu haben. Er fügt hinzu, daß die Ärzte ihm gesagt hätten, daß sein Blut „sehr dick, warm und hitzegeladen“7 sei. Daraufhin beschreibt er sich als vorzeitig gealtert und hypochondrisch, mit einer Tendenz, sich „Schwierigkeiten, Gefahren und Entsetzlichkeiten“8 vorzu­ stellen. Und er fügt ein detailliertes Verzeichnis aller ihn plagenden Übel hinzu, die typisch für die Hypochondrie sind oder mit ihr zusammenhängen. Darun­ ter treten vor allem das Ohrensausen, ein weißer von seinen Hämorrhoiden abgesonderter Schleim, die Verstopfung, Magenschmerzen, Schwindelanfälle, ein Absinken des Pulsschlags und das Erbrechen hervor. Der Patient glaubt, den Höhepunkt der Qual und des Leidens erreicht zu haben, und fürchtet, den Rest seiner Tage im Bett verbringen zu müssen9. Er versichert, daß er sich im Laufe seines Lebens, außer für den Likör, keine Ex­ zesse geleistet habe und daß er nun auf noch mehr auf Mäßigung setze. Dazu verweist er auf seine maßvolle Diät. Aufgrund seines Berufs habe er die ver­ schiedentlich unternommenen Magenreinigungen nicht vollenden können und auch noch nie eine Reinigung mit Vipernbrühe durchgeführt. Er glaubt, seine Übel „verwirrend“ dargelegt zu haben und als Vater von vier gesunden Söhnen bittet er Vallisneri inständig, nun, da die Jahreszeit günstig ist, mir die Methode einer heilsamen Reinigung anzuzeigen und eine Art der Lebensführung vorzuschlagen, die ich annehmen muß. Ich hätte auch gerne einige Hinweise bezüglich der Chirurgie, das heißt bezüglich des Verfahrens der Injektion in die hinteren Teile, da es offenbar keine andere Methode als die Injektion gibt. Aber das beste und einzige Heilmittel wäre eines, das die grundlegenden Krankheitsursa­ chen läutern oder abschwächen würde.10

Zur Vorbereitung einer wohl ausgearbeiteten Antwort unterstreicht Vallisneri sorgfältig die wichtigen Punkte des Berichts und versieht sie am linken Rand mit Anmerkungen. Der unterstrichene Text erlaubt es dem Arzt, nicht nur die zuvor angewandten, mehr oder weniger wirksamen Heilmittel herauszustellen, sondern sich vor allem „ein Bild von dem Übel“ zu machen. In diesem Fall ist auch die Antwort Vallisneris, die er auf fünf Seiten in schöner Handschrift an­ gefertigt hat, paradigmatisch. Die Fälle von männlicher und weiblicher Hypo­

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Ms 1797, 53 R. Ms 1797, 5 R. Ms 1797, 5 V. bis 53 R. Ms 1797, 53 V.

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chondrie, die Vallisneri vorgelegt werden, sind sehr zahlreich und haben eine gemeinsame Ursache11: Die Wurzel allen Übels liegt im Magen, auch bei den Hypochondern, und von dort aus keimt sie wie eine schlechtgeborene Pflanze mit bitteren Früchten. Der erste Schlag, den wir nicht bemerken, findet im Magen statt, ohne das wir jemals daran denken. Er äußert sich zunächst durch schlechte Verdauung, durch das Entstehen von Sodbrennen oder eines unreinen oder dicken Chylus, welcher ins Blut eintritt und dieses allmählich verunreinigt, wodurch er die löbliche Harmonie des Blutes stört, indem er es mit bitteren und schäd­ lichen Salzen anfüllt […] Morbi paulatim fiunt, et de repente erumpunt, wie unser Hippokrates sagt.1

Vallisneri vertraut auf einen positiven Ausgang dieser Krankheit, „die nicht tödlich ist, da ihre vorausschauende Natur stets für eine Entleerung sorgt“13. Bevor er zu den therapeutischen Anordnungen kommt, zitiert er, wie übrigens oft, eine Passage von Seneca: „Nichts ist so schlimm, daß es nicht durch eine sorgsame Behandlung und durch eine aufmerksame und beharrliche Pflege überwunden werden könnte.“14 Die „Heilanzeige“, das heißt das Ziel der Be­ handlung, besteht wie immer darin, den Magen aufzuräumen und seine Flüs­ sigkeiten in den „ersten Gängen“ durch eine korrekte Methode zu purgieren. Der Abschluß des „theoretischen“, das heißt argumentativen Teils, welcher der eigentlichen Verordnung vorangeht, kehrt immer wieder und erweist sich fast als eine rituelle Formulierung: In uns wächst die Hoffnung, dem geschätzten und gelehrten Patienten Erleichterung ver­ schaffen zu können, wenn er mit seiner Tugend und seiner Weisheit die Gesetze der Me­ dizin exakt anwenden, alle Pein der Seele und des Körpers bannen und sich entscheiden wird, daß er genesen will, denn wenn der Patient nicht mit klarem Geiste teilnimmt und sich selbst hilft, ist es bei einer solchen Krankheit, als wenn man Öl und Arbeit vergeu­ dete.15

Zwischen den beiden Korrespondenten muß also ein Verhältnis der gegensei­ tigen Überredung entstehen, und dies stellt eine wichtige einleitende und bei­ nahe propädeutische Phase für die Entstehung einer vertrauensvollen thera­ peutischen Beziehung dar. Die Autorität und das Prestige des Arztes basieren vor allem auf seiner Fähigkeit, sich den Verlauf der Krankheit auszumalen, den Patienten in seinen Erwartungen zu beruhigen und seine Verzweiflung zu lin­ dern – und dies kann durch den besonderen Charakter der brieflichen Kom­ munikation begünstigt werden. In diesem Zusammenhang steht auch Vallisne­ ris Verwendung von gelehrten Zitaten, die vor allem von Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) und Celsus (ca. I Jh. n. Chr.) stammen, aber auch von den Modernen (Daniel Sennert (157–1637), Michael Ettmüller (1644–1683)16. Man 11 1 13 14

Ms 1797, 54 R. Vgl. Hippokrates: De victu II, 4. [4, 10 Joly = VI, 47 Littré]. Ms 1797, 54 V. Ms 1797, 54 V. bis 55 R. Vgl. Seneca: Epist. 50, 6: „nihil est tam arduum quod non expugnet diligens opera, ac attenta, et pertinax cura“. 15 Ms 1797, 55 R. 16 Vallisneri 1733, III 489 f.

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kann sagen, daß mit Vallisneri die ärztliche Krankenbefragung die Charakte­ ristik einer eigenen „Gattung“ annimmt, das heißt eines kanonischen Textes, der eine eigene Entwicklung umfaßt, in welcher der medizinische Diskurs in einer bestimmten Weise angeordnet je spezifische Funktionen erfüllt. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Beratungen Vallisneris mit denen von Redi vergleicht. In dessen 176–179 veröffentlichten Schriften sieht man, daß Redi fast immer unmittelbar in medias res geht und medizinische Ratschläge liefert, ohne der „Theorie der Krankheit“ oder anderen Erwägungen, die den Emp­ fänger betreffen könnten, Raum zu gewähren. Was die Korrespondenten Vallisneris betrifft, hat man den Eindruck, daß die Möglichkeit oder die Tatsache, sich direkt oder indirekt an einen ärztlichen „Halbgott“ zu wenden, oft an sich bereits eine Therapie darstellt, unabhängig von der medizinischen Wirksamkeit der Antwort. Tatsächlich übernimmt und entwickelt Vallisneri häufig den Inhalt der durch Professoren oder Assistenz­ ärzte erstellten Berichte und bestätigt, manchmal mit kleinen Veränderungen, in der Substanz die durch den Vertrauensarzt des Patienten verordnete Behand­ lungsmethode: „Folglich kann ich nicht umhin, die große Vorsicht und Auf­ merksamkeit der sehr gelehrten Ärzte, die Sie bislang behandelt haben, aus­ drücklich zu loben.“17 An anderer Stelle verläßt er sich auf die „Klugheit“ des Arztes, der die Behandlung leitet. In einem Fall wendet er sich deutlich gegen die Verwendung von kaltem Wasser18, die der von der Familie der Patientin zeitgleich um Rat gefragte Herman Boerhaave (1668–1738) empfohlen hat. Im allgemeinen gehören die Ratsuchenden zur wohlhabenden Schicht oder haben das Privileg, den berühmten Arzt über die Verwandtschafts­ oder Freundschaftsbeziehungen zwischen Vallisneri und ihrem behandelnden Arzt kontaktieren zu können. Im unveröffentlichten Kodex von Perugia tauchen an mehreren Stellen die gleichen Namen wieder auf. Hierfür ist der Fall eines Apothekers (Sebastian Vigna) exemplarisch. Dieser übermittelt das Gesuch eines Hypochonders, mit Namen Paolo Curnis, der sich auch persönlich mehr­ mals an Vallisneri wendet, um nach einer Behandlung der lepra Arabum für seine Angestellte zu fragen. In einer Anmerkung schreibt Vallisneri, daß es sich um einen „perfekten Hypochonder“ handele. Ein älteres Mitglied der Familie, der Onkel von Paolo Curnis, wendet sich ebenfalls an Vallisneri aufgrund von „Harnbeschwerden“19. Die Fürsprachen des Apothekers und die direkten In­ terventionen des Patienten überkreuzen sich. Letzterer ist ein schwieriger Fall, auch weil er, obwohl er behauptet, der Behandlung Vallisneris „wie einem erfahrenen Steuermann auf hoher See“0 vollkommen zu vertrauen, sich als sehr wählerisch zeigt und sehr empfindlich auf die Medikamente reagiert1. Der Patient äußert in besonderer Schärfe seine Hypothesen über die Heilmittel, die

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Vallisneri 1733, III 485. Vallisneri 1733, III 554. Ms 1797, 396 R. Vgl. auch Ms 1797, 37 R. Ms 1797, 37 R. Ms 1797, 89 R–V.

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ihm geholfen (in Wein gemischte Myrrhe) oder geschadet (Vipernpulver, Wer­ mutkonserven) haben können. In einem Brief aus dem Jahre 179 erzählt Curnis die Geschichte seiner Krankheit, die eine wahrhafte Anamnese seiner hypochondrischen Pathologie darstellt, mit einer sehr genauen Beschreibung seiner physischen und psy­ chischen Störungen, die sich einander ablösen oder miteinander vermengen. Als Ursache nennt er eine unglückliche genetische Vererbung („melancholische Eltern“) und eine „einsame Erziehung“, die zu einer Körperbeschaffenheit geführt habe, welche für die bereits in der Kindheit aufgetretenen Krankheiten anfällig geblieben sei: „Säfteflüsse im Kopf, Magenschwäche in Begleitung vom Milzbeschwerden“3. Der Grund für diese Leiden liegt möglicherweise in einem überhöhten Säuregehalt des Bluts und den daraus folgenden Aufwallungen, die zu verschiedenen Zeiten und in Abhängigkeit von der Jahreszeit zu einer „na­ türlichen Blennorhoe“, „schrecklichen Reizungen“ der Gesichtshaut, „Magen­ schmerzen“, „Milzbeschwerden“, „Kopfschmerzen“ (während der kalten Jah­ reszeit) und beständigen Blähungen führen4. Während der beiden Jahre zuvor sorgten vor allem die Blähungen für Schmerzen und Unwohlsein: Ich spüre eine schwere und schmerzhafte Kälte auf der linken Seite der Milz und eine Schwäche im Magen, die in Verbindung mit Schwindelanfällen steht. Wenn ich bestimmte Bewegungen ausführe, wird mir schwindelig, ich wanke und bekomme Ohnmachtsan­ fälle.5

Curnis ist insbesondere am Anfang seiner Therapie sehr aufmerksam gegenü­ ber den Medikamenten, die ihm seiner Ansicht nach helfen oder nach eigener Erfahrung geschadet haben (zum Beispiel sind die Kühlmittel schädlich für seinen Magen). Die Versuche, den Magen zu stärken, haben sehr starke Schmer­ zen ausgelöst, mit kalten Schweißausbrüchen, Atembeschwerden und An­ schwellungen von Armen und Beinen, so daß er „fast gestorben“ ist. Die niedergeschriebenen Bitten um ärztlichen Rat sind sehr verschieden: Die Prosa eines Bittstellers ohne professionelle Vermittlung erweist sich auf der syntaktischen Ebene oft als sehr einfach und hat kein anderes Ziel als die Her­ vorhebung eines sehr schlechten Gesundheitszustandes, die mit dem Wunsch nach einer Befreiung von den Leiden verbunden ist. Der Patient beobachtet sehr aufmerksam die Anzeichen der Veränderung seines Zustands, wie zum Beispiel die Konsistenz und die Farbe seines Stuhls, fertigt eine genaue Liste  Ms 1797, 353 R. (17. Februar 179). 3 Ms 1797, 353 R. 4 Vgl. ebd.: „Dentro il tempo suddetto ed oltre gli incommodi soprariferiti provai nelle più fervide stagioni languori di stomaco, e gravezza di milza, e ne’ mesi più rigidi distillazioni di testa dolci di continuo dalla parte sinistra, salse alle variazioni de’ tempi dal lato destro, e se le distillazioni cessavano, mi rimaneva un peso non ordinario nel capo. Il flato intanto piucche mai prendeva possesso; il bever freddo: il cibo di refrigerante qualità, e il patir freddo alle piante, incominciarono a cagionarmi gonfiezze e dolori di ventre, dificoltà nelle operazioni di corpo, ed altri disordini ancora, cosicché da quel tempo mi avezzai a ber tiepido, ed a sbandire molti cibi flatuosi“. 5 Ms 1797, 355 V.

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der Teile seines Körpers an, die ihm Schmerzen bereiten, und zeichnet alle (in der Folge aufgegebenen) Versuche nach, die Heilmittel zu wechseln. Dies ver­ setzt ihn in die Lage, eine Ätiologie seiner Leiden darzulegen: Ich glaubte, daß die Schmerzen jeden Monat durch eine angehäufte Masse von schlecht verdauter Nahrung ausgelöst werden könnten, die aufgrund meines kalten Magens und der Winde keinen natürlichen Ausgang hat. Es scheint mir, daß diese Vermutung zutrifft, denn wenn ich beim ersten Brennen, das die Störung ankündigt, ein Emolliens nehme, nämlich eine Kesselsteinbrühe, dann kann ich mich mit ein wenig Mühe der unverdauten Materie entledigen und werde nicht von den gräßlichen Schmerzen befallen.6

Das Ende des Briefs faßt als Höhepunkt alle typischen Merkmale des Hypo­ chonders noch einmal zusammen: Man erkennt ein Subjekt, das auf die ge­ ringsten Veränderungen der Nahrung, des Klimas oder des Aufenthaltsortes äußerst empfindlich reagiert. Eine seiner inständigen Bitten am Schluß stellt fast eine rituelle Beschwörung des ärztlichen Halbgotts dar: Die vorliegende verwirrende Information wird Ihnen ein Zeichen meiner angegriffenen Gesundheit sein, und dies ist der Grund, warum ich mich an Sie, sehr erlauchter und hochberühmter Herr, wie an den Dreifuss der Weisheit wende, um durch Ihr Orakel die ersehnte Gesundheit wiederzuerlangen. Dies wünsche ich von ganzem Herzen und darauf vertraue ich, indem ich mich Ihnen demütigst zu Füßen werfe.7

Die Hypochondrie ist in der Gruppe der weiblichen Patienten, die in der Kor­ respondenz Vallisneris stark vertreten sind, ebenfalls sehr präsent. Es handelt sich zumeist um Damen aus gutem Hause, die entweder verheiratet oder für das Leben im Kloster bestimmt sind. In einem Brief aus dem Jahre 171 be­ merkt Vallisneri am Rande, daß er Arzt in Klostern (in diesem Fall in einem Mönchskloster)8 gewesen sei. Tatsächlich läßt die Häufigkeit der Gesuche von Ordensschwestern und Ordensbrüdern darauf schließen, daß Vallisneri in diesem Milieu einen guten Ruf genossen hat. Was die Schwestern anbetrifft, werden die Bitten um ärztlichen Rat bis auf wenige Ausnahmen durch Mittels­ personen überbracht und sind umso technischer formuliert, je höher der Rang der Patientin ist. Ich zitiere nur einen bezeichnenden Fall, den Vallisneri im Juli 178 folgendermaßen zusammenfaßt: „Erbrechen über einen langen Zeitraum, hysterisch­hypochondrisch, der Schwester Prinzessin Cybo, mit anderen Symp­ tomen des Alters“9 (die Patientin ist 46 Jahre alt). Das Gesuch ist durch einen professionellen Mediziner auf zwölf Blättern niedergeschrieben worden und enthält die genaue, chronologisch geordnete Beschreibung einer hartnäckigen hypochondrischen Symptomatologie, die nach zwölfjährigem Leiden und einer vorübergehenden Erleichterung von 8 Monaten trotz verschiedenster thera­ peutischer Versuche und Konsultationen von mehreren Ärzten und Professoren erneut aufgetreten ist. Vallisneri unterstreicht die wesentlichen Informationen des Briefs und versieht sie am Rand mit Anmerkungen. Die spezifische Ätio­ 6 7 8 9

Ms 1797, 356 V. Ebd. Vallisneri 1988, 163. Brief Nr. 341 an L. A. Muratori (Padua, 6. April 171). Ms 1797, 48 R.

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logie enthält einige sehr interessante Elemente bezüglich der „weltlichen“ Hypochondrien: Die Ursachen dieser schweren Unpäßlichkeit sind übermäßigen Meditationen, Anstrengung des Geistes durch ermüdende Studien, Erregungen der Seele und der erwähnte Rückgang der üblichen Monatsblutung.30

All das hat eine „Fülle von sauren, beißenden und zähflüssigen Säften“ verur­ sacht, die im Magen zusammengeflossen sind. Ein äußerer Begleitumstand ist „die unregelmäßige, unruhige und ungeordnete (ataxia) Bewegung des mensch­ lichen Geistes“. Interessant ist zu bemerken, daß die Unterbrechung dieser Unordnung nicht den Medikamenten geschuldet war, sondern wie man fromm angenommen hat, dem besonderen Eingreifen eines Heiligen, oder, da wir als Philosophen sprechen und die Wunder beiseite lassen wollen, einer starken Ein­ bildung Ihrer Exzellenz, die sich in ihrem Vertrauen in die Fürbitte eines bestimmten Heiligen ausgedrückt hat, einer Einbildung also, die ihren Geistern Antrieb und Ordnung zurückgegeben hat. In der Tat hat sich diese Einbildung während des Rückfalls wiederholt, wodurch der Brechreiz zweimal während vier oder fünf Tagen unterdrückt werden konnte, doch dann sind die Dinge zum alten System zurückgekehrt.31

Am Rand vermerkt Vallisneri, daß es sich um eine vortreffliche Überlegung handele, und zu Beginn seiner Antwort bezieht er sich auf die Lebensbedin­ gungen der Ordensschwestern, die „stets in einem einzigen Raum eingesperrt sind, häufig unter seelischer Angst leiden und heiligen, aber dunklen Medita­ tionen ausgesetzt werden, welche die sanfte Ruhe des Geistes stören“, worauf er hinzufügt, daß „die Krankheiten der Frauen oft durch eine starke Einbil­ dungskraft ausgelöst oder gelindert werden“3. Im übrigen lobt Vallisneri, hier wie anderswo bei den entsprechenden Ge­ legenheiten, die sehr genaue und sachkundig dargelegte Krankengeschichte und die sehr tüchtigen Ärzte, welche die ins Kloster gesperrte Jungfer behandelt haben. Er erstellt eine gewöhnliche Ätiologie und sagt, daß ein Ungleichgewicht zwischen dem Flüssigen und dem Festen bestehe, ebenso wie zwischen den Körperflüssigkeiten selbst, was wahrscheinlich einen organischen Schaden verursacht habe33. Die Rede wird durchsetzt vom Gebrauch ritualisierter Zitate aus Hippokrates, den Arabern (Vallisneri denkt vor allem an Avicenna (980–1037), von Galen (19–199), Celsus, Aretaios (ca. I Jh. n. Chr.), Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.), Redi oder Forestus (15–1597). Unter den frauentypischen Krankheiten sticht ein Fall heraus, den Vallisneri selbst als eine „hysterisch­hypochondrische Krankheit mit unreinen Vorstellun­ gen und einer Anschwellung der Genitalien“ definiert. Man weiß inzwischen, daß die Antwort Vallisneris mit der Konsultation Nr. 8 in der Edition von 1733

30 31 3 33

Ms 1797, 49 R. Ms 1797, 430 R. Ms 1797, 435 R. Ebd.

Die Sprache der Krankheit in der Korrespondenz von Antonio Vallisneri

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übereinstimmt34. Die Patientin ist eine Dame von 40 Jahren, die seit frühester Kindheit unter melancholischen Anfällen leidet, die in dem Brief genau aufge­ führt werden. Ihr Leiden wird durch ein befreiendes Erbrechen gelindert, wohingegen dessen Unterdrückung zu einer Verschlimmerung aller Symptome führt. Neben dem tiefen inneren Aufruhr wird sie durch Uterusschmerzen ge­ quält: Die Patientin empfand und empfindet andauernde und sehr unangenehme Reizungen der Ge­ schlechtsteile35, die durch unreine Vorstellungen ausgelöst werden und ihr eher Unannehm­ lichkeit als Freude bereiten, außerdem die anhaltende Qual, die auf ihrer Angst zu sündi­ gen beruht, was sie traurig macht und in Tränen zerfließen läßt. Sie beschreibt die Erre­ gungen der Geschlechtsteile als ein eher unangenehmes denn geschlechtliches Gefühl, denn sie stellt sich vor, daß alles, was sie sieht, in der Form einer freudlosen Paarung, begleitet von Traurigkeit und Geistesqual, in ihre Gebärmutter eintritt.36

In dem Bericht tauchen auch einige nicht genauer beschriebene „Herren Do­ mestiken“ auf, vermutlich der Familie nahestehende Pfleger oder Aufseher, deren Rolle an verschiedenen Stellen wichtig wird. So unterbrechen sie zum Beispiel die Verabreichung mehrerer Medikamente während der Schwanger­ schaft und beobachten den Zustand der Patientin während der Zeit, in der sie der Phlebotomie unterzogen wird. Im Bericht heißt es: Ein Diener erkundigt sich über diesen Fall bei dem behandelnden Arzt, ob es nicht nütz­ lich sei, ein Erbrechen auszulösen37, wobei er sich auf die Überlegung stützt, daß in der Vergangenheit das Erbrechen die melancholischen Anfälle gelindert habe und daß beim letzten Mal die Unterdrückung des Brechreizes zu einer Verschlimmerung des melancho­ lischen Leidens geführt habe.38

Vallisneri beurteilt in seiner Antwort die Überlegung des „weisen Domes­ tiken“39 als zutreffend und lobt die „sehr genaue Geschichte“, die in einer sehr klugen und gelehrten Weise niedergeschrieben worden sei40. Die Typologie der fraglichen Krankheit sorgt bei der Patientin offenkundig für eine gewisse mo­ ralische Verlegenheit, die man sogar in der Antwort Vallisneris wiederfinden kann. Nach seiner auf Aretaios gestützten „theoretischen“ Ausführung über die fundamentale Bedeutung des Magens und das Ungleichgewicht des Bluts und der inneren Organe, die durch Funktionsstörungen des Magens ausgelöst wer­ den, beleuchtet Vallisneri, an eine Passage aus den pseudo­hippokratischen Briefen erinnernd („sexcentarum aerumnarum uterus fons“)41, den Ursprung der „Tyrannei“, welche die Frau trotz ihrer moralischen Reinheit grausam quält. Er besteht auf der Notwendigkeit, die Seele der Patientin „von aller Schuld freizu­ 34 Ms 1797, 373 R. bis 374 R. Man kann heute die 1733 veröffentlichte Konsultation aufgrund einer Anmerkung Vallisneris datieren („Restò gravida l’anno 177“): vgl. Vallisneri 006, 101 ff. 35 Vallisneri bemerkt am Rand im Jahr 178: „Titillamenti venerei, e fantasmi impuri“. 36 Ms 1797, 373 V. 37 Vallisneri bemerkt am Rand: „Cercano, se si debba di nuovo promovere il vomito“. 38 Ms 1797, 374 R. 39 Vallisneri 1733, III 501. 40 Vallisneri 1733, III 500. 41 Pseudo­Hippokrates IX, 396 Littré [Demokrit DK 68C 6, 10].

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sprechen“, die durch einen Geist oder durch einen „dunklen und nervenauf­ reibenden Saft“4 in Unordnung gebracht worden sei. Der Arzt bestätigt die Auffassung, daß das Übel seine tiefen Wurzeln in der Gebärmutter und der Vagina hat. Schließlich hebt er hervor: Eine saure und beißende Materie, die aus ihrem ganzen Körper hervorkommt, wird an diese eine Stelle getragen, um jene seltsamen Wirkungen auszulösen, die im Zusammen­ spiel mit den Nerven die Klarheit ihres gesunden Geistes trüben, ohne daß man von ir­ gendeiner Schuld der Dame selbst ausgehen kann, und zweifellos handelt es sich dabei um einen Irrtum oder, wenn man so will, eine Sünde der Natur, die durch die harte Not­ wendigkeit von sauren Körpersäften und nicht durch eine Versündigung der Dame er­ zwungen wird.43

Im Übrigen entfernt sich die therapeutische Praxis nicht weit von derjenigen, die bei den anderen Hypochondern angewendet wird. Sie folgt der inzwischen kanonisch gewordenen hippokratischen Indikation, der gemäß „causa eadem, locus autem diversitatem facit“ 44. Man kann sich abschließend fragen, warum sich also ein Patient an Vallis­ neri wendet, sei es direkt oder indirekt, spontan oder nach Aufforderung durch andere Personen. Zunächst geht es meines Erachtens darum, ein Privileg zu nutzen, das aufgrund von sozialen und ökonomischen Bedingungen nicht je­ dermann gewährt ist. Die schriftliche Kommunikation erlaubte zudem, je nach der Befähigung des Patienten ein gewisses Maß an Pathos zu übermitteln, das vor allem durch die Miseratio für das Leiden des Patienten hervorgerufen und, gleich einem Chor, durch die „Anteilnahme“ der Angehörigen, insbesondere des Ehegatten, verstärkt wird. Diese besondere Form der Korrespondenz er­ leichtert auch die Suche nach einer unmittelbaren Consolatio, die natürlich mit der Hoffnung auf eine Besserung oder eine Heilung verbunden ist. Diese Wir­ kung wird durch die Schrift verstärkt, die eine Art Garantievertrag zwischen den beiden Parteien aufsetzt. Der Patient erhält die Garantie, daß seiner Krank­ heit alle Ressourcen der medizinischen Kunst zur Verfügung gestellt werden. Zudem gibt es kaum einen Konflikt zwischen Vallisneri und den Ärzten, die den Patienten aus der Nähe behandeln und zumeist ihre eigenen therapeu­ tischen Strategien bestätigt sehen – was auch den Patienten erfreut. Manchmal führt Vallisneri einen Kurswechsel in der Behandlung ein, aber dies tut er in überredender und nicht vorschreibender Weise und zumeist im Konditional („An ihrer Stelle würde ich nicht“, „ich würde eher verabreichen“). Sowohl der im Namen des Patienten geschriebene Bericht als auch die üblicherweise eine Woche später erfolgende Antwort tragen zu der Notwendigkeit bei, im Chaos der Krankheit eine Ordnung bzw. eine Berechenbarkeit wiederherzustellen. In dieser besonderen Gattung des Schreibens – die in gewisser Weise ein Existenzrecht in der République des Lettres besitzt – kann der wohlhabende Pa­ tient aus der gehobenen Schicht die Rolle eines Gesellschafters einnehmen, der sich vorübergehend hinter die Kulissen zurückzieht und darauf wartet, daß das 4 Vallisneri 1733, III 500. 43 Ebd. 44 Vgl. Hippokrates: De flatibus II, 1. [ 105, 6 Jouanna = VI, 9 Littré].

Die Sprache der Krankheit in der Korrespondenz von Antonio Vallisneri

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Rätsel der Krankheit Objekt einer Reflexion wird und durch die briefliche Kommunikation zu einer Lösung findet. Der Patient von ökonomisch und sozial bescheidenerer Stellung erfährt bereits durch die Praxis des Schreibens selbst eine vorübergehende Katharsis seiner Leiden. Letztlich scheint dies die eigent­ liche Bedeutung einer Praxis zu sein, die das heutige Verhältnis zwischen Arzt und Patient ausgelöscht und zweifellos noch nicht adäquat ersetzt hat. Bibliographie: Ms. 1797 (unveröffentlicht), Perugia, Biblioteca Comunale Augusta, Ms. 1797, Consulti a me mandati, o lettere consultatorie con mie risposte del 1727–1728 Vallisneri, Antonio, Opere fisico-mediche stampate e manoscritte del Kavalier Antonio Vallisneri raccolte da Antonio suo figliuolo, corredate d’una Prefazione in genere sopra tutte, e d’una in particolare sopra il Vocabolario della Storia Naturale […] (Venedig bei Sebastiano Coleti, 1733) 3 Bde. (Consulti Medici, Bd. III, 483–558) Vallisneri, Antonio, Epistolario, hg. von: Dario Generali,  Bde. (Mailand 1991 u. 1998) Vallisneri, Antonio, Consulti Medici, hrsg. von Benedino Gemelli, Bd. I, Firenze, 006. Porcia (Di), Giovanni Artico, Notizie della Vita, e degli Studi del Kavalier Antonio Vallisneri, hrsg. von Dario Generali (Bologna 1986) Malpighi, Marcello, Consultationum Medicinalium Centuria prima, quam in gratiam Clinicorum evulgat Hieronymus Gaspari […] (Padua, Ex Typographia Seminarii, bei Jo. Manfrè, 1713) Redi, Francesco, Consulti Medici (Turin 1958) (=Enciclopedia di Autori Classici hrsg. von Giorgio Colli, Bd. 1) (Vollständiger Text der Ausgabe hrsg. von Manni, Florenz, 176 (Bd. I), 179 (Bd. II)).

Krankheitsbilder. Künstler der Frühen Neuzeit berichten über ihren Zustand Matthias Bruhn

Gegenstand Die europäische Kunstliteratur verfügt über eine Reihe von Briefsammlungen bildender Künstler, in deren Korrespondenz mit Auftraggebern, Kollegen oder Gelehrten nicht selten Dinge verhandelt werden, die andernorts in der Theorie und Praxis ihres Berufes keinen Platz gefunden haben. Dazu gehört unter anderem die Beschreibung der eigenen körperlichen Verfassung. Besonders im Verkehr mit hochrangigen Kunden und humanistisch gebildeten Lesern unterliegt die Behandlung derartiger Themen jedoch zahlreichen Konventionen, in denen sich die politischen, sozialen und kommunikativen Rahmenbedingungen der Zeit spiegeln. Stilbewußte Künstler haben mit der Beschreibung des eigenen Befindens einem literarischen Anspruch zu genügen versucht; Krankheit wird dann zu einem moralisierenden Topos, der nach Art antiker Lehrbriefe zur Selbstinszenierung eingesetzt wird. Das Schriftstück soll sich mit den Ansprüchen an ein Kunstwerk messen lassen und ist nicht weniger komplex als dieses. Ehe man eine der zentralen Quellen der Kunstgeschichte – die Korrespondenz von Künstlern – für eine medizinhistorische Forschung heranzieht, wäre zunächst zu klären, was unter dieser Quelle zu verstehen ist. Aus der interdisziplinären Perspektive wird dabei schnell deutlich, daß mit dem Gattungsbegriff „Künstlerbrief“ eine sehr unscharfe Grenze gezogen wird. Gegenüber dem 19. Jahrhundert ist heute die Definition von Kunst und Künstler, Autorschaft und Werk in einem solchen Maße erweitert, daß man kaum noch die Frage beantworten kann, welche Berufs- oder Personengruppen hier überhaupt als Autoren zu berücksichtigen sind. Postwege, Schreibmedien und Kommunikationssituationen sind außerdem in einem ständigen Wandel begriffen, und dies hat auch Auswirkungen auf die künstlerische Praxis.1 Neue industrielle Nachrichtenträger wie die Postkarte führten schließlich zu einer Mail Art, die (wie später die Netzkunst u. a. Richtungen) die Kommunikation selbst zum eigentlichen Ereignis gemacht hat. Nimmt man die Situation der Gegenwartskunst zum Ausgangspunkt, so zeigt sich im Rückblick sofort, wie ausschnitthaft die Edition

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Beispiele für eine Diskussion des Problems der Künstlerkorrespondenz: Warnke 1965 zum Problem der „Dissimulation“ am Beispiel Peter Paul Rubens, Noll 1994 zur Vieldeutigkeit der Korrespondenz Vincent van Goghs; oder Hille 000 zu den Lücken in der Überlieferung von Briefen Hannah Höchs an Raoul Hausmann. Hedinger 199, Ausst.-Kat. Frankfurt am Main 1987, Wietek 1980.

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von Künstlerbriefen die Kommunikationszusammenhänge des Kunstbetriebes abbildet. Zum anderen durchmischen sich in der bildenden Kunst die Grenzen von Schrift und Bild, von Zeichnung und Kommentar: Ein bekannter Fall wäre das gezeichnete Selbstbildnis Albrecht Dürers von 151, auf dem er auf einen gelben Fleck in seiner linken Bauchgegend zeigt, nachdem er sich auf seiner Reise in die Niederlande ein chronisches Fieber zugezogen hat; diese Darstellung verbindet der Künstler mit einer Beischrift („Do der gelb fleck ist und mit dem finger daruff deut do ist mir we“). Auch wenn das Blatt nun in der Graphischen Sammlung der Kunsthalle Bremen aufbewahrt wird, so war es doch ursprünglich ein Brief, in dem Text und Bild gemeinsam den Empfänger um eine Diagnose gebeten haben. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung sollen Texte der Frühen Neuzeit stehen. Diesen kann man entnehmen, wie künstlerisch tätige Gruppen wie Maler, Bildhauer und Architekten bei Hofe arrivieren und sich als Berufsstand neben Arzt, Jurist oder Kaufmann etablieren; mit ihrem Aufstieg steigen die formalen und inhaltlichen Ansprüche an das geschriebene Wort, und auch das Schreiben über Krankheit, Körper oder Heilkunst wird Teil eines gehobenen Diskurses. Eine der besonders signifikanten Persönlichkeiten in diesem Zusammenhang ist der französische Maler Nicolas Poussin, mit dessen Korrespondenz der Beitrag im zweiten Teil bekanntmachen soll. Brief und Biographie Im Kunstbetrieb der Frühen Neuzeit hat der Brief bereits eine Vielzahl von Aufgaben, die über Tonfall und Gestaltung der Sendungen entscheiden. Schon zu dieser Zeit besteht die Kunstproduktion aus einem überregionalen Versand von Objekten, bei dem Skulpturen, Möbel und Schmuckstücke, ja ganze Hochaltäre über große Entfernungen bestellt und verschickt werden. Durch Briefe halten Künstler den Kontakt mit ihren Kunden. Viele Schreiben sind Verträge mit Auftraggebern und verhandeln Fragen des Sujets, des Entgelts oder der Lieferzeit. Künstler berichten ihren höfischen oder gelehrten Briefpartnern von Dienstreisen, übernehmen diplomatische Aufgaben, erledigen Einkäufe oder begutachten die Arbeit von Kollegen. Ein nicht geringer Teil von Briefen geht als Begleitschreiben von Kunstwerken auf Reisen, um Rechnungen zu übermitteln oder Hinweise für die richtige Aufstellung oder Betrachtung zu geben. Nur manchmal werden aus solchen Erläuterungen längere kunsttheoretische Exkurse. Briefe aus der Hand bildender Künstlern werden von der kunsthistorischen Forschung mittlerweile mit einer solchen Selbstverständlichkeit für die Bestimmung von Kunstwerken (etwa deren Datierung oder Provenienz) oder für die Beschreibung ihrer Entstehungsgründe herangezogen, daß außer Acht geraten kann, wie sehr sich in ihrer Überlieferung und Herausgabe die Traditionen und Methoden der Kunstbetrachtung manifestieren. Trotz der Fülle des überliefer-

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ten Materials darf zudem nicht vergessen werden, daß ein Großteil bildender Künstler nicht lese- und schreibkundig war oder die Befähigung besaß, mit humanistisch gebildeten Empfängern mitzuhalten, noch dazu in fremder Zunge. In jedem Falle genießen Schreiben von Künstlern einen privilegierten Status und gelten als Rara, die von Sammlern sorgsam aufbewahrt werden. Die erste große Zusammenstellung von Künstlerbriefen, Giovanni Gaetano Bottaris Raccolta di lettere, wurde 1754 in mehreren Bänden veranstaltet und hat mit der Herausgabe einheimischer Briefe die Vorrangstellung der italienischen Renaissance befestigt. Bottari hat damit eine eigene Form der Literatur definiert; bezeichnend ist nämlich, daß die Antworten der Korrespondenzpartner nicht erhalten sind. Dieses Prinzip hat sein Nachfolger, Stefano Ticozzi, in der Neuausgabe von 18 ebenso beibehalten wie spätere Ausgaben und Übersetzungen. Sie geben trotz ihres Titels oftmals keine „Korrespondenzen“ wieder, sondern erheben die Aussagen der Künstler zu tagebuchartigen Mitteilungen an die Außenwelt, denen kein Gegenüber antwortet. Dies bleibt selbst dann die Regel, wenn die Herausgeber, wie im Falle der Maler Philipp Otto Runge oder Vincent van Gogh jeweils deren Brüder, selber die Adressaten der Briefe waren. Die Briefe von Künstlern der Renaissance sind zugleich ein Zeugnis für den Werdegang einer Profession. Späteren Herausgebern von Briefsammlungen dient ihre Lektüre dem Studium der „äußeren Lebensstellung“ der Künstler, d. h. der Beschreibung ihres sozialen Aufstiegs.4 In diesem Zusammenhang rücken sie im 19. Jahrhundert verstärkt ins Blickfeld, wie in Ernst Guhls Künstler­ briefen von 185.5 Mit der neuen Aufgabenbestimmung der Künste in der Moderne erweitert auch die Kunstgeschichte ihre Zuständigkeit auf die jüngere Kunst, nach und nach werden die Sammelausgaben durch monographische Briefausgaben einzelner Künstler verdrängt.6 Durch breitenwirksame Buchausgaben entwickeln Korrespondenzen, nach Art von Brevieren, ein neues Eigenleben, indem sie auch von nachfolgenden Künstlern verstärkt rezipiert, teilweise imitiert werden. Umso mehr gerät dabei in Vergessenheit, daß die Schreiben der Briefpartner – v. a. diejenigen weiblicher Künstler an ihre männlichen Kollegen – meist nicht aufbewahrt wurden.7

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Bottari/Ticozzi 1757 ff. Guhl/Rosenberg 1880, Einleitung, . Die Publikation von Ernst Guhl (ed. princ. Berlin: Trautwein 185/1856) basiert im wesentlichen auf Bottari; sie wurde von Rosenberg fortgeführt und vermehrt (Guhl/Rosenberg 1880), wobei weiterhin die italienischen Quellen (Bottari, Malvasia, Milanesi, Gaye usw.) dominieren. In Deutschland Guhl 191, Cassirer 1914 (mit mehreren Neuauflagen); Uhde-Bernays 196 (danach mehrere Neuausgaben bis 1964); vgl. Berger 1987 und von der Dollen 001. Vgl. Berger 1987, Vorwort; Hille 000 über die Briefe Hannah Höchs.

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Der kranke Künstler Das Leiden und Sterben der Künstler hat in der literarischen Welt eine besondere Anziehungskraft entfaltet. Von Künstlern wird angenommen, daß ein besonderer Furor ihre Imagination freisetze, daß sie depressiv veranlagt seien, dem sinnlichen Exzess und der Trunksucht frönten.8 Die Melancholie ist in der Renaissance die häufigste Diagnose bei bildenden Künstlern, neben anderen Krankheiten, die das Genie ausmachen. Populäre Beispiele sind Van Goghs Wahnvorstellungen, Ludwig van Beethovens Taubheit oder Heinrich Heines Syphilis. So wird Beethovens Taubheit als Zeichen einer unerbittlichen Hingabe an die Musik verstanden, auch wenn er sich den Schaden nicht vom Klavierspiel, sondern von billigem Wein geholt hat.9 Schreibt ein Kunstkritiker der Frühen Neuzeit wie Giulio Mancini über die Gewohnheiten seiner Zeitgenossen, so können seine Hinweise auf Krankheiten reine Investitionsempfehlungen gegenüber Kunstkäufern gewesen sein – in der biographischen Perspektive hingegen erhalten Krankheit und Tod ihre symbolische Bedeutung, Symptome oder Todesumstände werden zu Stilmitteln einer Beschreibung.10 Folglich stirbt ein vornehmer Leonardo nach Aussage der Chronisten in den Armen seines Königs, während ein barocker Straßenmaler wie Valentin de Boulogne an einem Glas fauligen Wassers verrecken muß.11 Derartige Vorgänge sollten sich eigentlich auch in den Briefen widerspiegeln. Doch greifen hier die Gesetze der Auswahl und Aufbewahrung ebenso wie die Konventionen des brieflichen Verkehrs. Zöge man lediglich die Übersichtsausgaben von Bottari oder Guhl heran, könnte es insbesondere bei Brie8 9

Zur Geschichte dieser Künstlervorstellung Wittkower 1989. Künstlerleiden sind ein beliebtes Thema des Feuilletons, wobei sich das Interesse besonders auf die Leiden von Ausnahmeerscheinungen wie Goethe, van Gogh, Heine usw. richtet. Mit diesen beschäftigt sich auch die medizinische Fachliteratur (siehe zu Francisco de Goyas mutmaßlicher Blei-Intoxination: Lederbogen 1979; zu Ludwig van Beethovens Taubheit: Zenner 00). 10 Mancini über Pietro Cortona: Er sei 8 Jahre und „non troppo sano per le gran fadighe che dura nel arte“ (1956/57, Bd. 1, 6); über den krankheitsgeschwächten Annibale Carracci: „Pur, con cura, si ridusse in stato che operava qualche cosa […]“; Annibale stelle einige bescheidene Arbeiten und Zeichnungen her: „Ma non essendoli bene ancor ritornato il vigor nè il gusto d’operare, senza dir cos’alcuna alli amici et al nepote, di luglio se ne passò a Napoli e, non si fermando, ritorna a Roma, dove […] s’ammalò di febre malignissima e dimandò il medico del suo stato“ (18f). Auch Caravaggio ist arm und krank (4), genauso wie der Maler Cigoli: „s’amalò e, per curiosità o troppo sapere, pigliò senz’ordine del medico non so che seme ricino e, malignandosi la febre, in un tratto infiacchendosi la vita, morì in pocchissimi giorni“ (9). Vgl. Guhl/Rosenberg 1880, II, Nr. 1 über den Maler Federigo Barocci an die Vorsteher der Laienbrüderschaft von S. M. della Misericordia zu Arezzo, Urbino, 1. November 1578, der seit einem jugendlichen Vergiftungsversuch leidet; zum selben Thema Catherinot 197, 7: “Frederic Baroccio vécut 84 ans, & en fut plus de 50 ans malade, & neanmoins […] le signala par ses ouvrages“ (Hervorhebung vom Autor). 11 Das unspektakuläre Ende des Valentin de Boulogne beschreibt Sandrart in dessen Vita (Ausg. 1994, 66).

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fen aus der Frühen Neuzeit scheinen, als wären Fragen der Gesundheit und Krankheit lange Zeit ausgeblendet, ja verschwiegen worden.1 Angesichts des Umstandes, daß körperliche Not und mangelnde Hygiene, Arbeitsunfälle, Vergiftungen mit Farben, Trunksucht, Hitze und Kälte, Malaria und Geschlechtskrankheiten unter Künstlern überaus verbreitet waren, wäre dann zu fragen, ob Krankheit so selbstverständlich war, daß man sie nicht erwähnen mußte, oder ob es Gründe gab, über den eigenen Zustand zu schweigen.1 Doch dieser erste Eindruck täuscht. Wenn der überwiegende Teil von Briefen lediglich den Zweck hat, vertragliche Dinge auszuhandeln, um Geld oder um zeitlichen Aufschub zu bitten, so verbergen sich hinter der Sachfrage meist tiefergehende Probleme. „Krankheit“ ist mittelbar in vielen anderen Aussagen präsent. Salvator Rosa, römischer Maler aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, berichtet einem Kollegen von den Unpäßlichkeiten, die sich mit der Witterung einstellen, und bittet damit um mehr Geduld: Die Kälte in diesem Jahr ist so brutal gewesen, daß ich mehr als einmal glaubte, es sei um mich geschehen. Bei Hitze glüht mir der Schädel, bei Kälte schrumpft er zusammen und fürchtet nur noch, plötzlich abzufallen, und dann heißt es zum Leben: Gute Nacht, auf Wiedersehen an den Ufern des Acheron. Ich habe zwei Monate Kopfschmerzen ertragen, immer darauf hoffend, die Galle zu überwinden. Meine Füße sind ständig zwei große Klumpen… aber handeln wir doch lieber von weniger melancholischen Dingen. 14

Im Gegenzug dient die explizite Erwähnung von Krankheiten auch dazu, auf Geldmangel und andere Anliegen hinzuweisen. Entsprechende Andeutungen trifft man immer wieder in gleicher Diktion an. Seit dem Aufbruch des mittelalterlichen Zunftsystems müssen Künstler entweder als freie Unternehmer agieren oder sich die (seltene) Sicherheit eines Hofamtes erobern.15 Tizian 1 Beispiele: Domenico Veneziano an Pietro de’ Medici, aus Perugia, am 1. April 148: „Dopo le debite rechomandacione. Avisovi per la dio gracia Io essere sanno, desideroso vedervi sanno e lieto.“ (Gaye 189, 16 ff., hier 16) – Domenico di Niccolò an die Signorie von Siena, am 14. Januar 1447: „mi dà ardire di ricorrere a piei dessa V. M. S.; ala quale quanto so et posso mi racomando con tutto/el cuore, pregandovi cum somma istantia, che considerato la mia povertà e L’età mia, che poco può durare per la vechieza et poco sanità, et anco per la poca sanità de la mia donna, et etiandio per rispecto che mai recai altro che honore ala città, quanto Maestro di legname che mai ci fusse, quantunche valentissimi ci sieno stati e sieno“ (Gaye 189, 156f). 1 Manchmal läßt sich das nicht umgehen; so muß sich Andrea Mantegna, der zur Hochzeit seiner Fürstenfamilie anreisen soll, damit entschuldigen, daß eine Geschwulst in den Beinen ihm das Reiten verbiete. 14 „Il freddo di quest’ anno è stato così fuor del consueto bestiale, che mi ha fatto temere più d’ una volta d’avermi a perdere affatto. La mia testa al caldo si distempera, al freddo si riduce a temer di una caduta all’improvviso, e dice dalla sua vita: Buona Notte, a riverderci a’ liti d’ Acheronte. Ho sofferto due mesi di dolor di testa, con tutto il riguardo di regolarmi da gallina. I miei piedi sono continuamente due pezzi di giaccio con tutto il beneficio dei calzerotti fattimi venire da Venezia. …/Ma discorriamo di cose meno malincholiche“ (Salvator Rosa an Giovanni Battista Ricciardi, Rom, 6.1.1666 im Januar 1666: Bottari, Bd. II, Nr. XIII, ff, hier ). 15 „Daher die in den Briefen der Künstler jener Zeit nicht seltenen Klagen über zu geringe Bezahlung und über das Ausbleiben von Gehaltszahlungen. Daher die Erscheinung, dass

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wendet sich am 1. Juli 150 aus Bologna an den Fürsten Federigo Gonzaga, daß er von Hitze und Krankheit mitgenommen sei und daher etwas langsam arbeite; seine Frau sei erkrankt und brauche Luftveränderung.16 Sicher hat er damit um eine kleine Gefälligkeit geworben, so wie er oft um Aufschub bitten muß, weil er so viele Kunden gleichzeitig zu befriedigen hat. Im Oktober 1669 klagt der eben schon erwähnte Salvator Rosa seinem Leser, daß er für das Kanonisationsbild der Santa Maddalena de’ Pazzi so geschuftet habe, daß er zwei Tage bettlägrig gewesen sei, „und wenn ich mir nicht mit einem Brechmittel geholfen hätte, wahrhaftig es wäre mir übel bekommen, indem sich nämlich einige unverdauliche Speisereste im Magen angesammelt hatten.“17 Trotz so mancher Übertreibung läßt sich aus derartigen Formulierungen ablesen, daß die Kräfte eines Malers nicht nur aus genialer Manie heraus bis an ihre Grenzen gefordert wurden. Schreibweisen Gerade in den monographischen Briefausgaben, die seit dem späten 19. Jahrhundert erscheinen, zeichnet sich eine biographische Methode ab, die das Werk eines Künstlers unter einem einheitlichen Autor zusammengefaßt wissen will.18 Der Biograph interessiert sich für alle Quellen, durch welche das künstlerische Subjekt rekonstruiert und eingeordnet werden kann.19 Im Prinzip hatte diese Methode in der Kunstgeschichte immer eine Schlüsselstellung inne, da das Fach durch Vitenschreiber wie Vasari oder Sandrart zuerst begründet wurde; diese haben für ihre Biographien auch auf Briefe von Künstlern zurückgegriffen, um ihrer Darstellung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Insbesondere aber die spätere Biographik, wenngleich als Ausdruck des Geniekults umstritten, hat Dokumente verfügbar gemacht, die in den Sammelausgaben fehlen mußten. einzelne und zwar selbst tüchtige Künstler bei aller ununterbrochenen Thätigkeit in Mangel, Noth und Dürftigkeit verfallen können“ (Guhl/Rosenberg 1880, I, S. 10). 16 Guhl/Rosenberg 1880, I, Nr. 90. 17 „Quest’ impegno m’ha tenuto non solo lontano dal commercio della penna, ma da ogn’ altra cosa di questo mondo, e vi posso dire, che mi son dimenticato insin di mangiare; ed è stata |così ardua la mia applicazione, che verso il fine mi necessitò a star due giorni in letto; e se non mi aiutavo col vomito, per certo che la passavo male, mediante alcune crudezze accumulate nello stomaco. Però, amico, compatitemi, se per la riputazione del pennello ho trascurato al debito, che dovevo a voi della penna“ (Salvator Rosa an Giovanni Battista Ricciardi, Rom, 11.10.69 – Bottari, II, 0f, hier 1, Nr. XV, deutsch nach Guhl/ Rosenberg 1880, II, Nr. 111). 18 Zur Biographik in der Kunstgeschichte siehe die Bibliographie von Hellwig 00. 19 Vgl. Stefan Zahlmann 00 in einer Rezension von Christian Klein (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 00: „Weitergeführt und disziplinär aufgefächert wird die Frage nach der Theoriefähigkeit des biographischen Arbeitens im Beitrag von Sigrid Weigel, die, ausgehend von postmodernen Ansätzen, das postalische Prinzip biographischer Darstellungen erörtert. Im Anschluss an Derridas Konzept der ‚Carte Postale‘ definiert Weigel […] die Biographie eines Autors als ein Netz aus ‚Korrespondenzen und Konstellationen‘.“

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Die Annahme, Briefe würden uns einen gewissen Einblick in die Persönlichkeit des Künstlers gewähren, rührt nicht zuletzt daher, daß man nun auch Texte las, die vorher als nebensächlich galten, darunter Schreiben, in denen sich Künstler mit ihren Verwandten oder Vorgesetzen über körperliche Gebrechen austauschen. Gerade aus dem Umgang mit Nichtigkeiten sollte nun die Größe eines Meisters erkennbar werden. Als Beispiel wird hier ein Brief angeführt, den Michelangelo Buonarotti im Alter von gut 75 Jahren an seinen Neffen Lionardo in Florenz gerichtet hat. In diesem teilt er ihm seinen Zustand mit, gefolgt von einigen praktischen Anweisungen. Lionardo, was ich Dir in meinem letzten Brief geschrieben habe, sollte besser an niemand anders weitergegeben werden. Seit ich nicht mehr urinieren kann, leide ich sehr, Tag und Nacht gepeinigt und ohne Ruhe zu finden. Und was die Ärzte angeht, die meinen, daß ich den Stein habe. Noch bin ich dessen nicht sicher. Aber sie würden mich wegen des besagten Übels behandeln und haben mir gute Hoffnungen gemacht. Nichtsdestoweniger, da ich alt bin und mit einem so grausamen Übel, muß ich mich dem nicht mehr unterziehen. Mir wurde daher geraten, zu den Bädern nach Viterbo zu gehen, aber man kann das nicht vor Anfang Mai. Und in der Zwischenzeit soll ich die Zeit verbringen, so gut es geht, und vielleicht habe ich Glück und das Übel ist nicht das nämliche oder kommt nur von so manchem guten Essen. Also, ich brauche wohl Gottes Hilfe. Sag also Francesca, daß sie beten soll, und sag ihr, wenn sie wüßte, wie es mir geht, sähe sie ein, daß sie nicht allein ist in ihrem Elend. Ich, für den Rest meiner Person, bin wie ich mit 0 Jahren war; ich habe mir dieses Leiden nur zugezogen, um mir einen Abschlag zu gewähren und um mein Leben ein wenig anzustacheln. Geduld! Vielleicht kommt es besser, als ich denke, mit Gottes Hilfe; und wenn es mir die rechte Zeit scheint, werde ich Dich unterrichten: und solange ich Dir nicht schreibe, achte nicht auf die Worte irgendeines anderen. Wenn es der Stein ist, so sagen mir die Ärzte, dann ist er noch ganz am Anfang und sehr klein, und daher, wie gesagt, machen sie mir gute Hoffnung […]. Am 15. des März 1559. Michelagniolo Buonarroti in Rom. An Lionardo di Buonarroto Simoni in Florenz. 0 0 Vollständiger Brief im Original bei Barocchi, Bd. III, Nr. MCXXIII: „Lionardo, quello che io ti scrisso per la mia ultima, non achade riplicare altr[i] menti. Circa il male mio del non potere orinare, io ne sono stato poi molto male, mugg[h]iato dì e nocte senza dormire e senza riposo nessuno: e per quello che g[i]i dicano e’ medici, dicono che io ò il mal della pietra. Ancora no ne son certo: pure mi vo medicando per decto male, e èmi data buona speranza. Nondimeno, per essere io vecchio e con un sì crudelissimo male, non ò da promectermela. Io son consigl[i]ato d’andare al bagnio di Viterbo, e non si può prima che al prencipio di maggio; e in questo mezzo and`r temporeggiando il meglio che potrò, e forse arò gratia che tal male non sarà desso, o di qualche buon riparo: però ò bisognio dell’aiuto di Dio. Però, di’ alla Francesca che ne facci oratione, e digli che, se la sapessi com’io sono stato, che la vedrebbe non esser senza compagni nella miseria. Io, del resto della persona son quasi com’ero di trenta anni; èmi soprag[i]unto questo male pe’ gran disagi e per poco stimar la mia vita. Patientia! Forse anderà meglio ch’io no ne stimo, con l’aiuto di Dio; e quando mi parrà tempo, te ne aviserò: e senza la mia lectere non ti muover per parole di nessun altro. Se è pietra, mi dicono i medici che è in sul prencipio e che è pichola; e però, come è decto, mi danno buon speranza. Quando tu avessi notitia di qualche estrema miseria in qualche casa nobile, che credo che e’ ve ne sia, avisami, e chi:

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Dies ist einer der für Michelangelo in Art und Umfang typischen Briefe, von denen er im Laufe seines Lebens über eintausend Stück aufgesetzt hat.1 Krankheit, Geld, Essen sind für ihn darin wesentliche Anliegen, während er weder hier noch andernorts irgendwelche Aussagen über den Inhalt seiner Kunst macht. Gerade die scheinbare Nähe, die sich durch die Lektüre einstellt, ist irreführend. Obwohl Michelangelo auf die Schwere seines Leidens verweist, beschreibt er dieses nicht anhand von Symptomen, sondern verknüpft es mit weiterführenden Überlegungen, die einen allgemeineren, moralisierenden Ton anschlagen, um stoische Unerschütterlichkeit zu signalisieren. Anders als familiäre Briefe entstammt ein Großteil von Künstlerbriefen dem Diskurs der Hofkultur und folgt einer entsprechenden Etikette. Korrespondenzen haben in diesem System ihre stilistischen und strukturellen Regeln, die sich teilweise bis heute erhalten haben. Dies unterscheidet sie von anderen Mitteilungen, insbesondere Tagebüchern, die ebenfalls einen (imaginären) Leser voraussetzen, daraus aber eine eigene Schreibweise entwickeln. Im Austausch mit ausgewählten Lesern wird eher versucht, den sozialen oder intellektuellen Standpunkt des Empfängers genauer zu lokalisieren, um mit ihm angemessen korrespondieren zu können. Wenn sich der Maler Peter Paul Rubens im Mai 165 an den Gelehrten Nicolas de Peiresc wendet, um ihm einen Unfall mitzuteilen, der sich in Paris bei der königlichen Hochzeit ereignete und bei dem Peirescs Bruder durch den Einsturz einer Tribüne verletzt wurde, so versucht er so genau wie möglich dessen diagnostische Fragen vorwegzunehmen. Er schreibt: Der Schädelknochen ist nicht getroffen, nur das Fleisch ist verletzt, so daß die Wunde, wenn nicht rings um dieselbe eine Quetschung wäre, in wenig Tagen geheilt sein könnte. Da jedoch die Geschwulst neben der Wunde ist, wird man den Eiter ohne Gefahr durch dieselbe Öffnung hinauslassen können. Gott sei Dank ist kein Fieber da, weil man sofort Mittel angewendet hat, um jeder Aufregung vorzubeugen oder sie fernzuhalten, wie Aderlaß und Klystiere; daher glaube ich, daß er in wenigen Tagen seine Gesundheit wiedererlangt haben wird.

Der spätere Herausgeber der Guhl’schen Künstlerbriefe, Adolf Rosenberg, war noch der festen Überzeugung, daß Briefe ein „Sich gehen lassen“ kennzeichne, che per insino in cinquanta scudi io te gli manderò, che gli dia per l’anima mia. Questi non ànno a diminuir niente di quello che ò ordinato lasciare a voi: però fallo a ogni modo./ A dì 15 di marzo 1559./Michelagniolo Buonarroti in Roma./A Lionardo di Buonarroto Simoni in Firenze.“ 1 Siehe den mehrbändigen Umfang seines Briefnachlasses bei Barocchi/Ristori 1965– 197.  Vgl. Greyerz 00.  „[…] L’osso pero di cranio non e tocco, ma sola la carne, et se non fosse la contusione attorno la piaga, io credo che fra pochi giorni sarebbe consolidata, et per esser la contusione vicina alla piaga, si potra senza pericolo purgar la tabe per la medesima apertura. Egli si trova per la gracia di Dio senza febre, havendo usato al instante rimedii opportuni per prevenire et divertire ogni alteratione come di cavar sangue et crysterij; perciò, io spero che fra pochi giorni, recuperara la pristina salute“ (Rubens an Peiresc, aus Paris, am 14. Mai 165 – Ruelens/Rooses 1974, Bd. III, CCCLXXIV, S. 51 ff., hier 51 f.).

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„wie es die briefliche Mittheilung fast immer bedingt“.4 Diese Beurteilung läßt sich angesichts der Sprachwahl, wie man sie bei Dürer, Michelangelo oder Rubens antrifft, nicht bestätigen. Ihre Briefe wurden genauestens komponiert, später bei Tisch vorgelesen und dann wie Urkunden aufbewahrt. Schon der erste in den meisten Briefsammlungen angeführte, namentlich signierte Brief von 144 (Ottaviano Martini Nelli an die Gräfin von Montefeltre und Urbino) ist Ausdruck formvollendeter Höflichkeit. Wenn Briefe von Künstlern an ihre Sammler vertraulichen Inhalts sind, so sind dies Vertraulichkeiten der gewählten Art. Dies betrifft auch die Art und Weise, wie über Krankheiten gesprochen wurde. Zu einer gehobenen Korrespondenz konnte es auch gehören, wenn Künstler sich als Ratgeber betätigten oder den Medizinern unter ihren Lesern Sachkenntnis vermittelten. Da viele Künstler sich aufgrund ihrer anatomischen Interessen oder ihres Umgangs mit Chemikalien oft selber als Drogisten versuchten, so wollten sie ihnen gelegentlich auf gleicher Augenhöhe begegnen, wie Sebastiano del Piombo, der dem päpstlichen Arzt, Francesco Ersiglie, im Jahre 15 aus Rom schreibt: Ich bin sehr betrübt über das große Übel, das Ihr gehabt habt, und über das, welches Ihr noch habt. Ich muß mich übrigens sehr über Eure Unweisheit wundern – über fünfundzwanzig Jahre in Rom in dieser gesunden Luft gewesen zu sein und dann nach dem verpesteten Sinigaglia zu gehen [die Heimat des Arztes, bekannt für ihre sumpfige Umgebung]. Gegen die hartnäckige Krätze, die Ihr habt, wißt Ihr das Mittel wohl besser als ich, indessen glaube ich, daß Erdrauch und die Schnecke euch helfen würden.5

Während Michelangelo in einem Brief an seinen Biographen Giorgio Vasari einmal anmerkt, daß er sein langes Leben nur dem Arzt Realdo Colombo verdanke, so ist dies in erster Linie eine Geste der Bescheidenheit, oder eine Empfehlung unter Freunden. Ganz anders verhält es sich, wenn ein Künstler gegenüber seinen Auftraggebern in Verzug gerät, etwa weil er an einem Fieber erkrankt oder nicht rechtzeitig antwortet. Dann wird die Zunft der Ärzte verantwortlich gemacht für Krankheiten und Kunstfehler. So schreibt Vasari an den Bischof Paolo Giovio, obschon ich in Folge der Unwissenheit des Arztes, der mein Übel nicht erkannte, nach meiner Ankunft in Arezzo zweimal Rückfall erlitt und so schwach und übel zugerichtet war, daß mir nur noch ein kleiner Rest von Leben geblieben war, […] so dachte ich doch oft an Ew. Herrlichkeit, bei deren Anwesenheit in Rom ich niemals von dort weggegangen wäre […].6 4 Guhl/Rosenberg 1880, Einleitung, . 5 „Però mi maraviglio molto della vostra prudenzia essere state 5 anni in Roma in questo buon aere, et essere andato a stare in quello pestifero de Senegaglia. Et non esser tornato in Roma in posto: … Della crudel rogna che havete, sapete el remedio meglio di me, na credo che il fumos storas et la lumacha sarà la vostra salute. Iiulio sta bene, et a vui se raccomanda et impara“ (Rom, 7. 6. 15 – Gualandi 1840–45, Bd. I, Nr. 64, deutsch in Anlehnung an Guhl/Rosenberg 1880, I, Nr. 119). 6 Originaltext ohne Kürzung: „dopochè io fui arrivato in Arezzo, io ricadessi due volte, che sendo sì debole, e mal con|dotto, poco fiato mi era rimasto, che un minimo accidente lo poteva finire, ricordavo spesso la Signoria vostra, che se quella fusse stata in Roma, io mai

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Mit seinem Brief will Vasari beweisen, daß er entgegen anderen Meldungen noch am Leben ist. Solche Gerüchte aber kamen auf, nachdem man von ihm lange nichts mehr gehört hatte. Daher beteuert der Maler, er werde nun dem Befehl seines Dienstherren, des Herzogs von Florenz, nachkommen und täglich über seinen Gesundheitszustand berichten. Dieser nahm also für sich das Recht in Anspruch, über die Verfassung seiner Untergebenen stets unterrichtet zu sein. Das Beispiel Nicolas Poussin (1594–1665) Die Darstellung soll mit dem Beispiel des französischen Barockmalers Nicolas Poussin schließen, von dem sich einige Hundert Briefe erhalten haben und der darin über Jahrzehnte hinweg auch von seinen körperlichen Problemen berichtet hat. Zur Gesandtschaft, von der Rubens aus Paris berichtet hat, gehörte auch einer der wichtigsten Gönner Poussins, der päpstliche Sekretär Cassiano dal Pozzo in Rom. Für diesen war Poussin tätig, seit er gegen 164 nach Italien ausgewandert war, und er hat ihm auch regelmäßig geschrieben, während er für zwei Jahre als Hofkünstler des Königs in Paris weilte. Einen anderen wichtigen Förderer hatte Poussin in Paul de Chantelou, einem Sekretär der französischen Krone, mit dem er nach seiner Rückkehr in ständiger Verbindung blieb und der ihm dann zu einem Brieffreund auf Lebenszeit wurde. Da diese beiden Adressaten Poussins Schreiben sorgsam aufbewahrt haben, stellen sie sich heute als seine wichtigsten Briefpartner dar. Der Legende nach ist Poussin in jungen Jahren als Bonvivant aufgetreten, der ein ausschweifendes Leben führte, wie man es zu dieser Zeit den Malern gemeinhin unterstellte. Seit etwa 169 leidet Poussin unter einer chronischen Krankheit, vielleicht einer Geschlechtskrankheit, zu deren Behandlung er sich anstrengenden Kuren unterziehen muß, die nicht weniger beschwerlich sind als die Krankheit selbst. Von dieser erfahren wir durch seine vier Biographen: sie erwähnen eine mal di francia und meinen damit die Syphilis.7 Der Maler

non mi sarei voluto partire, quando ben fussi morto, confortandomi che sotto l’ombra del Cardinale, ancor chè io non fussi venuto a perfezione nè fine della nostra arte, mi sarebbe paruto morir glorioso, ed avere conseguito sotto di lui, così morto, quella fama che arei acquistato col tempo faticando, s’io fussi stato vivo.“ – „Dolevami per amor suo certamente la morte, vedendo lo elemento di che ella fusse per vivere, ch’erano amare lacrime, che versando faceva morirmi di passione, più che della continua febbre, che mai mi lassò“ (Bottari, Bd. III, Nr. , 8 ff., hier 9 f., deutsch nach Guhl/Rosenberg 1880, I, Nr. 14, Arezzo, 4.9.15) – Vgl. Michelangelo an Vasari, Mai 1557 (Guhl/Rosenberg 1880, I, Nr. 77 = Barocchi MCCLVII). 7 Auch ein unlängst aufgefundenes Briefstück, gemeinsam aus der Hand Poussins und seines Schwagers, der ihn als Sekretär nach Paris begleitete, läßt sich detailliert über die Krankheit und die damit verbundene Arbeitsunfähigkeit aus. Über die Briefe von der Hand Dughets siehe Thuillier 1988/89, 716.

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hält sich fortan von gesellschaftlichen Verpflichtungen fern und übernimmt eine neue Rolle: die des Stoikers, des Büchermenschen, des Eremiten. Die Briefe Poussins sind als Äußerungen eines Malers zu lesen, der dem Amt eines Hofkünstlers in Paris entsagt und der, vor allem nach dem Tode seines ersten Förderers Dal Pozzo, in Frankreich einen eigenen Kreis privater Sammler aufbaut, welche er auf dem Postwege mit Gemälden versorgt. Die Schreiben haben die Aufgabe, Kontakte zu knüpfen, die Autorschaft des Malers zu garantieren und das Ansehen seiner Arbeit über weite Entfernungen zu sichern. Das Schreiben über Krankheit hat hierbei die Funktion, die eigene Opferbereitschaft zu demonstrieren und gleichzeitig allzu ungeduldige Anfragen abzuwimmeln.8 Poussin hat recht häufig über seine Krankheiten geschrieben; manchmal wirkt er sogar larmoyant. Schon im ersten uns bekannten Brief, im Alter von 9 Jahren verfaßt, macht der Maler auf seine dauernd angeschlagene Verfassung aufmerksam.9 An anderer Stelle schreibt er, er habe sich zeitweilig die Melancholie „zugezogen“, so als handle es sich dabei um eine Infektion.0 Die Krankheiten, die ihm über Jahre zusetzen, lassen sich kaum aufzählen.1 Blutungen, Schwächeanfälle, Erkältungen und Fieber, Ohrenleiden, ein Brustkartarrh, Augenprobleme – und vor allem die zitternde Hand. Die meisten Behandlungen schlagen offenkundig fehl.

8 Daß Poussin aus gesundheitlichen Gründen Angst habe, nach Paris zu gehen, und sich in Rom an Körper und Geist erholter fühle, hält Gabriel Naudé, der Bibliothekar Mazarins, in einem Schreiben an Pozzo für einen Vorwand – Poussin wolle nur nicht länger den Bosheiten des Kollegen Vouet ausgesetzt sein ( Jouanny 1911/1968, Nr. 1 und Nr. ; vgl. Nr. 41). 9 „la più parte del tempo io sono infermo“ (nach Jouanny 1911/1968, Nr. 1). 0 „Mais il faut que je die, que la mélanquolie que je me suis prinse de ne pouuoir suivre la bonne volonté que j’auois d’acheuer vostre tableau, m’a fet plus de mal que nulle autre chose; […]“ (ebd., Nr. 5). Bekannt war Poussin sicher die Anekdote Mancinis über Annibale Carracci (Mancini 1956/57, Bd. 1, 18): Als dieser die Galleria Farnese beendet hatte, „fu soprapreso da una estrema malincolia accompagnata da una fatuità di mente e di memoria che non parlava nè si ricordava, con pericolo di morte subitanea.“ Melancholie meint bei Poussin auch den traurigen Eindruck, den ein Kunstwerk hinterläßt: „l’aspect mélancolique, pauvre et sec de toutes les parties“ ( Jouanny 1911/1968, Nr. 61 über Lemerciers Arbeiten). Poussins Gehilfe Thibaut ist so krank, dass er melancholisch wird, „schose qui luy auoit engendré un si grande mélancolie que nous croyons quil deuiendroit phisique“ (ebd., Nr. 140). 1 „Mon misérable mal de carnosité d’est point guari […]“ (ebd., Nr. 1, an Lemaire); vgl. „mes continuelles incommodités“ (ebd., Nr. 16); „mes débiles forses“ (ebd. und Nr. 4). „Je me suis […] trouué formal d’une cuisse mais pour cela je ne laisse pas de trauailler […]“ (ebd., Nr. 47); vgl. „un freddo irrepente è acuto“ (ebd., Nr. 55); „la mia tremante mano“ (ebd., Nr. 69); „je me sois trouué en assés mauuaise disposition de ma santé. par un mal d’oreille et une pesanteur de front qui ne me laisse point“ (ebd., Nr. 90); „un grandissime Rume“ (ebd., Nr. 105); „grand Rume“ (ebd., Nr. 11, vgl. Nr. 157 und 165); „débilité de mes yeux et le peu de fermeté de ma main“ (ebd., Nr. 164); ebd., Nr. 07 über einen Brustkartarrh.  Siehe Jouanny 1911/1968, Nr. 69, Nr. 141 und Nr. 157.

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Spätestens ab 1644 ist der Zustand so ernst, daß man auch aus der verzerrten Handschrift einen Krankheitsverlauf erahnen kann. Im September 1646 liegt Poussin nach eigenen Angaben über einen Monat darnieder, zumal infolge der spanischen Besatzung und der daraus entstehenden Hungersnot in Rom.4 Poussin nutzt seine Briefe nun auch, um eine gewisse Anteilnahme zu wecken; so spürt er beispielsweise „einen Kopfschmerz, der mir von der Stirn bis zum Nacken zieht. Ich kann nicht husten noch sonst irgend eine Anstrengung machen, ohne großen Schmerz zu leiden“.5 Er merkt doppeldeutig an, sein Magenleiden sei zwar kein großes Problem, Chantelou brauche sich aber nicht zu sorgen – er werde in solch einer Verfassung nicht an einem Werk arbeiten, das dann missrate.6 In einem späten Brief vom August 1660 beschränkt sich der Korrespondent ganz auf körperliche Probleme: „Ich schreibe Euch dies, um Euch vom Zustand meiner Person zu berichten. Ich verbringe keinen Tag ohne Schmerzen, und das Zittern meiner Glieder nimmt zu wie die Jahre“.7 Regen, Überschwemmungen und ungewöhnliche Feuchtigkeit behindern den Maler zusätzlich. Bald geht wegen des Temperatursturzes eine gefährliche Grippe um. Schreiben wird unterdessen ebenso zur Qual wie das Zeichnen und Malen. Nach eigenen Angaben benötigt Poussin pro Brief acht Tage, da er Wort für Wort aufsetze. Warum der Maler in dieser Situation nicht, wie es schon vorher geschehen ist, auf die Hilfe seines Schwagers zurückgreift, erklärt er nicht.8 Aber in den Briefen der alten Römer gab es Vorbilder für ein solches Verhalten: Gegenüber intimen Freunden einen Sekretär einzusetzen, war nur dem Gebrechlichen erlaubt, dem wahren Freund sollte dagegen nur die eigene Handschrift zukommen.9 So nimmt es nicht wunder, wenn der nach eigener Aussage schreibunfähige Maler seinen Briefen noch Entwürfe vorausschickte, von denen sich auch einer erhalten hat.40 Was die tatsächliche Erkrankung Poussins angeht, hat die jüngere Forschung ein großes Interesse an einer genauen Diagnose gezeigt, die vielleicht mehr über moderne Wertvorstellungen als über den Maler selbst verrät. Da man weder aus den beiden makellosen Selbstbildnissen des 55-Jährigen (heute in Berlin und Paris) noch aus seinen schriftlichen Andeutungen auf eine bestimmte Erkrankung des Malers schließen konnte, blieb der Autorin einer  Thuillier 1994, 78. 4 Jouanny 1911/1968, Nr. 141. 5 „douleur à la teste qui du front me respond à la nuque. Je ne peus tousser ni faire autre effort sans souffrir grande douleur“ (ebd., Nr. 158). 6 „Jei mieux aimé entrelaisser ce qui estoit commencé […] que de mettre en œuure le résultans d’un esprit languide“ (ebd., Nr. 115). 7 „Je vous escris la présente pour vous faire scauoir l’estat de la mienne. Je ne passe aucun jour sans douleur, et le tremblement de mes membres augmente comme les ans“ (ebd., Nr. 0). 8 Ebd., Nr. 08. 9 McDonnell 1996. 40 Kamenskaya 196, 45–48 zeigt den Entwurf für Jouanny 1911/1968, Nr. 17 vom 9. August 1650.

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umfassenden Poussin-Monographie nur der fragwürdige Weg, über ein graphologisches Gutachten auf eine Parkinson’sche Krankheit zu schließen, die die zittrige Schrift und Zeichenweise des alten Malers erklären könnte.41 Diagnosen Die Äußerungen Poussins sind weniger als Beschreibungen denn als Selbstdarstellungsmittel zu verstehen; es sind Gunstbeweise, die in bestimmter Dosis dargereicht werden. Die introspektive Sicht auf die eigene Verfassung soll einen Charakter zeichnen und um Verständnis werben; sie verrät die Neigung des Künstlers, sich in der dritten Person, als eine historische Figur zu betrachten. Ein vergleichbares „philosophierendes“ Verhältnis zur Medizin hat Poussin auch in seinen Bildwerken entwickelt. Zwar stimmt er in Historienmalereien wie der Letzten Salbung oder im Tod des Eudamidas in die Litanei ein, wonach die menschliche Heilkunst den Tod nicht aufhalten könne; aber auch hier soll das Versagen der Ärzte nur die Vergeblichkeit allen Tuns in Erinnerung rufen und der Mensch zu stoischer Dreingabe angehalten werden. Wie im antiken Theater verstehen sich die Darstellungen als Affektübungen, mit denen man sich zu therapeutischen Zwecken auseinandersetzt, um seine emotionalen Erregungen zügeln zu lernen. Dies war umso ratsamer, als sich Poussin durch seinen einflußreichen, mittelständischen Kundenkreis in ein politisch und konfessionell unwägbares Feld begeben hat, in dem jede Äußerung mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen wurde. Die politischen Umwälzungen in Frankreich, insbesondere die Fronde, haben Poussins Abnehmer unter Druck gesetzt, so wie der Maler mit jedem neuen Regime um seine Wirkungsmöglichkeiten fürchten mußte. Da seine Briefe von dritter Seite mitgelesen wurden, sind sie zunehmend in einer andeutungsreichen, aber unkonkreten Sprache verfaßt. Schon bei Michelangelo läßt sich beobachten, wie dieser durch seinen Aufstieg bei Hofe gezwungen ist, mit diplomatischer Doppelzüngigkeit zu sprechen und seine wichtigsten Botschaften in Form von Dementis mitzuteilen. So verleugnet er einmal gegenüber seinem Neffen die Bekanntschaft von Landsleuten, seit er erfahren hat, daß der neue Landesherr der Toskana auch die Freunde und Verwandten seiner Gegner verfolgt. Er formuliert dies in dem Wissen, daß Lionardo den Brief im Notfall würde vorzeigen müssen.4 Diese 41 Wild 1980, 1, 105; vgl. Thuillier 1994, 118; auch Dempsey 199, 45–46 über das Gemälde „Mars und Venus“ in Boston als Ausdruck einer möglichen Impotenz Poussins. 4 „Circa l’essere stato amalato [=1541] in casa gli Strozzi, io non tengo d’essere stato in casa loro, ma in camera di messer Luigi del Riccio, il quale era molto mio amico, e poi che morì Bartolomeo Angelini non ò trovato uomo per fa[r] le mie faccende meglio di lui, né più fedelmente; e poi che morì, in decta casa non ò più praticato, come ne può far testimonantia e tucta Roma e di che sorte sia la vita mia: perché sto sempre solo, vo poco actorno e non parlo a persona, e·mmassimo di Fiorentini, e s’io son salutato per la via, non posso fare ch’i’ non risponda con buone parole, e passo via; e se io avessi notitia quiali

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Selbstverhehlung des Schreibenden, die „Dissimulation“ eigener Interessen wurde nun Ende des 16. Jahrhunderts zu einer regelrechten rhetorischen Mode und durch eine Schwemme theoretischer Abhandlungen popularisiert. Wenn sich Poussin bei einschlägigen moralistischen Autoren bedient, zu denen klassische Briefschreiber wie Seneca ebenso gehören wie der vom Maler verehrte Michel de Montaigne, der die Selbstbeschreibung zum Inhalt seiner Essais gemacht hat, so kommen darin also mehrere Motive gleichzeitig zum Ausdruck: das Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Selbsterklärung einerseits, nach unbedenklichen Sujets andererseits;4 ferner das Bedürfnis nach einer literarisch anspruchsvollen Form, die sich mit dem Kunstwerk messen lassen kann. Vieles spricht außerdem dafür, daß der Maler in Wortwahl und Thematik Vorläufer wie Michelangelo imitiert hat, deren Briefe er aus Abschriften und Nachahmungen kennen konnte. Die Beschreibungen der eigenen Krankheit sind dann auch ein Echo berühmter Ahnen, mit denen man sich verglichen wissen will. Wie Michelangelo hat auch Poussin ständig beteuert, des Schreibens nicht mächtig zu sein, nur um dann umso ausgiebiger die Feder zu führen.44 Und wie dieser hat er aus dem Krankheitsmotiv heraus moralisierende Sentenzen entwickelt. Da er diese Art der Überhöhung und Überlagerung von Botschaften auch in seinen bildlichen Darstellungen praktiziert hat, dürften für die schriftliche „Komposition“ vergleichbare Schwierigkeiten der Interpretation gelten wie für das bildliche Werk. Bibliographie: Ausst.-Kat, Postkarten von Michael Diers und Jan Rieckhoff. Eine Publikation des Bundespostmuseums, Frankfurt am Main (Heidelberg 1987) Barocchi, Paola/Renzo Ristori, Il Carteggio di, 7 Bde. (Florenz 1965–197) Berger, Renate (Hrsg.), „Und ich sehe nichts, nichts als die Malerei“. Autobiographische Texte von Künstlerinnen des 18.–20. Jahrhunderts (Frankfurt/Main 1987) Bottari, Giovanni Gaetano/Stefano Ticozzi (Hrsg.), Raccolta di lettere sulla pittura, scultura ed architettura, scritte da’ più celebri personnaggi che in dette arti fiorirono dal secolo XV al XVII, 7 sono e’ fuorusciti, io non risponderei in modo nessuno. E chome ò decto, da qui inanzi mi guarderò molto bene, e massimo che io ò tanti altri pensieri, che io ò fatica di vivere“ (Barocchi 1979, Bd. IV, Nr. MXCII, . 10. 1547). 4 Zum Montaigne’schen Essayismus bei Poussin siehe Cropper/Dempsey 1996. Oft spricht der Künstler in Topoi, die dem allgemeinen politischen Jargon entstammen. Etwa als er den Ausbruch des Bürgerkrieges in Frankreich mit dem geläufigen chirurgischen Eingriff, der Amputation, kommentiert: „tout est perdu je désespere le bien tout est rempli de malheur. Les remèdes que l’on aplique n’ont point assés de puissanse pour oster le mal Si nous n’ostons la Cause nous perdons nostre temps que sert il taillier le doit si le bras est pourri?“ ( Jouanny 1911/1968, Nr. 16; vgl. ebd., Nr. 84). 44 Siehe z. B. den Brief Michelangelos an Vasari: „Io esco di proposito, perchè ò perduto la memoria e ’l cervello, e lo scrivere m’è di grande affanno, perchè non è mia arte […]; l’altra, che io son mal disposto della vita e di renella, pietra e fianco, come ànno tucti e’ vechi: e maestro Eraldo ne può far testimonianza, che ò la vita per lui“ (Barocchi 1979, Bd. IV, Nr. MCCLVII).

Krankheitsbilder. Künstler der Frühen Neuzeit berichten über ihren Zustand

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Matthias Bruhn

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Medizinische Rede und poetische Praxis: Die verschiedenen Figuren der Autorität im Briefwechsel zwischen Madame d’Epinay und dem Abbé Galiani Renaud Redien-Collot

Im Verlauf der Vorträge, die diese Konferenz geprägt haben, konnten wir beobachten, daß die Naturwissenschaftler die verschiedenen Aspekte der brieflichen Form bezüglich einer Typologie von Texten untersuchten, während sich die Geisteswissenschaftler eher für die Produktionsprozesse des Briefs interessierten. Die beiden Forschergruppen arbeiten also nicht am gleichen Gegenstand. Das Phänomen des Briefs als Text oder Folge von Texten zu analysieren, stellt zudem eine Gefahr dar, die darin besteht, den Brief nur als ein Dokument wahrzunehmen, welches ein Individuum erkennen läßt, das in seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst mehr oder weniger festgelegt ist. Darüber vergißt man gerne die überaus dynamische Eigenschaft des Schreibaktes – insbesondere wenn dieser mit einem gleichbleibenden Empfänger wiederholt und vertieft wird – ebenso wie die Wandlungen, die er für den Schreiber voraussetzt. Was allerdings kann man über einen solchen Prozeß erfahren? Darf man ihn nur Fall für Fall beschreiben? Tatsächlich führt der Schreibakt, wie jeder Prozeß persönlichen Wandels, das Individuum zu einer Reaktion gegen denselben Prozeß. Im Verlauf meiner Untersuchungen habe ich festgestellt, daß das interessanteste Phänomen bezüglich der Dynamik des Briefschreibens die Behauptung einer bestimmten Form von Autorität ist, die bei allen Schreibern dazu dient, die persönlichen Wandlungen abzubremsen, was bis zum Verlust von ontologischen Bezugspunkten führen kann. Die medizinische Korrespondenz kann in diesem Fall besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil es in ihr darum geht, ein Wissen zu teilen, eine gewisse Komplizenschaft herzustellen und somit eine oder mehrere Formen von Autorität ins Spiel zu bringen, nämlich zu sagen, wer man ist, was man weiß oder tut, während man sich in den Prozeß der Briefproduktion begibt. Die Korrespondenz zwischen Madame d’Epinay und dem Abbé Galiani, die sich über die Jahre von 1769 bis 1782 erstreckt, enthält eine große Anzahl von Krankheitsberichten und Antworten, welche die Entstehung eines Autoritätsdiskurses auf drei Ebenen begünstigt haben1. D’Epinay hat Galiani in ihrem kleinen Pariser Freundeskreis bereitwillig aufgenommen. Als er zurück nach Sizilien reisen muß, findet er in ihr eine treuere Korrespondentin als in Grimm oder Diderot. D’Epinay und Galiani haben beide zahlreiche Gesundheitsprobleme, über die sie sich gerne austau1

Etwa 30 Prozent der zirka 555 Briefe handeln von Gesundheitsproblemen, und zwar zumeist in Form von Berichten oder Bitten um Information über die Gesundheit des Partners.

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schen. Jeder sucht, sich dem anderen anzuvertrauen. Der Krankheitsbericht treibt den jeweiligen Briefpartner dazu an, die in ihn investierte affektive Autorität ganz auf sich zu nehmen. Der leidende Partner sucht beim anderen auch wirkliche medizinische Ratschläge. Um solchen Aufträgen genüge zu tun, überhäufen sie die ihnen nahestehenden Personen, die in der medizinischen Kunst und Praxis versiert sind, mit Nachfragen. Allerdings machen sie sich sehr oft die Rede einer konsultierten medizinischen Autorität zu eigen, in die sie ihre eigenen Bemerkungen einfügen2. Schließlich sind die Diagnosen, die von den beiden Freunden formuliert werden, häufig der Gegenstand einer sehr schönen literarischen Arbeit, in der sich das ganze Ausmaß ihrer schriftstellerischen Talente offenbart3. Die vorliegende Untersuchung wird in einem ersten Schritt die Präsenz dieser drei Autoritätsformen in der Korrespondenz zwischen d’Epinay und Galiani ins Auge fassen. In einem zweiten Schritt geht es um die Frage, welche Autorität von den Schreibern zuvorderst anvisiert wird, die Autorität des medizinischen Wissens oder die des poetischen Könnens, wobei die affektive Autorität, die Herrschaft des Gefühls, eine Relaisstation zwischen beiden darstellt. Und schließlich untersuchen wir, auf welche Weise dieses Streben nach Autorität für die beiden Schreiber problematisch wird, da sie darin einen Widerstand für die Dynamik des Schreibens sowie die Dynamik der Transformation erkennen, die jedem Schreiben vorausgeht. 1. Drei Autoritätsformen 1.1. Affektive Autorität Im Rahmen eines intimen Briefwechsels ermöglicht die Rede über die Krankheit zunächst, ein Verhältnis des Vertrauens und des Einverständnisses aufzubauen, das durch die Kenntnis der körperlichen Intimität des Korrespondenten begründet ist. Die Sorge bezüglich der Gesundheit oder der Stille, die von einer Krankheit herrührt, erlaubt es dem Briefschreiber zum Beispiel, seine Zunei2 3

Vgl. Strickland 1998, 454; Daston/Galison , 81–128 sowie Golinski 1992. Die Frage der Autorität in der Literatur verlangt die Anerkennung von literarischen Qualitäten eines Individuums im öffentlichen Bereich, zum Beispiel durch den Prozeß der Publikation und die durch diese hervorgerufenen Kommentare. Im Rahmen der Praxis des „persönlichen Briefs“ ist das Spiel einer solchen Autorität nicht immer offenkundig, denn der Brief versetzt den Schreiber vor allem in die Sphäre des Persönlichen und des Privaten, auch wenn die Kultur des Briefschreibens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch die offenen Briefe, die in den Gazetten publizierten Leserbriefe und die Sammlungen von Gelehrtenbriefen, die viele wissenschaftliche und ideologische Debatten ausgelöst haben, an der Konstitution der modernen Sphäre des öffentlichen Lebens großen Anteil hatte. Im Brief geht es somit für einen Schreiber häufig darum, das tiefe Ich bezüglich eines Autorbewußtseins zu verorten, welches einer Achse unterliegt, die vom Persönlichen in das Universum der Veröffentlichung führt. Vgl. u. a. Jauß 1990, Merlin 1994 sowie Jouhaud/Viala 2002.

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gung zu bezeugen4. Bald beansprucht der Korrespondent die Rechte über alle Beeinträchtigungen, welche die Gesundheit des Freundes (oder der Freundin) sowie den geregelten Ablauf des Briefwechsels betreffen. Im Februar 1771 erklärt d’Epinay Galiani, warum sie seit einiger Zeit keinen Brief mehr geschrieben hat: „Man hatte den Tisch in meinem Zimmer verstellt, man hatte mir einen Sessel gegeben, auf dem ich niemals zuvor gesessen war, und mir kamen nur wenige Dinge in den Sinn, die Ihnen hätte sagen können. Und da meine Finger zu Eis gefroren waren, war es mir unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu schreiben. Haben Sie je so etwas Automatenhaftes gesehen?“5 Er antwortet umgehend, um ihr zu zeigen, wie sehr ihn ihr Schweigen beunruhigt hat: „Fluch denen, die Ihren Tisch ändern! Fluch denen, die Ihre Stühle anrühren. Wissen Sie, was diese grausame Verzögerung Ihrer Briefe mich kostet? Sie kostet mich eine Todesangst! Ich glaubte allen Ernstes, Sie seien gestorben, und meine Seele hat keinen Augenblick Ruhe gehabt.“6 Ist ein Korrespondent krank, versucht er (oder sie) den Freund zu beruhigen, indem er (oder sie) den Bericht über die Schmerzen auf die erhaltene Behandlung reduziert. So schreibt d’Epinay: „Ein oder zwei Räucherungen mit Zucker und Bernstein haben mein Rheuma gelindert und versetzen mich in die Lage, mein lieber Abbé, mein langes und sinnloses Gekritzel fortzuführen“7. Ebenfalls ist es dem Korrespondenten möglich, von seinen Leiden erst im Nachhinein zu berichten und zugleich die Genesung feierlich mitzuteilen8. Auf diese Weise wird man für seine Krankheiten und seinen Körper verantwortlich gegenüber dem Briefpartner, der einen bestimmten Einfluß gewinnt und durch seine Sorge das Recht erhält, auf den Körper des anderen zu blicken. Sich auf eine solche affektive Autorität im Brief einzulassen, ermöglicht es, auf beiden Seiten ein tiefes Vertrauen zu erzeugen, und regt die Korrespondenten an, sich gegenseitig die Leiden anzuvertrauen, die sie oft gegenüber ihren Angehörigen verbergen9. Sobald das Vertrauen und das Blickrecht auf den Körper des anderen gewonnen sind, liegt es an beiden, den jeweiligen Briefpartner dazu anzuhalten, eine gewisse Distanz zu ihren Leiden einzunehmen. Dies gehört ebenfalls in den Bereich der affektiven Autorität. Im Herbst 1774 wird d’Epinay Opfer eines Anfalls von Hydropsie. Als Galiani von den Schmerzen hört, die seine Freun4

5 6 7 8 9

Galiani/Epinay 1992–1997, III 34. Brief vom 21. März 1772. [Eine Auswahl der Briefe an Madame d’Epinay ist in deutscher Sprache im Kösel-Verlag erschienen: Abbé Galiani: Briefe an Madame d’Epinay und andere Freunde in Paris 1769–1781, übers. v. Heinrich Conrad, München 1970. Sofern der zitierte Brief in dieser Ausgabe vorhanden ist, wird die Übersetzung verwendet. Die entsprechenden Hinweise werden in eckigen Klammern hinzugefügt. A. d. Ü.] Ebd., II 53. Brief vom 18. Februar 1771. Ebd., II 66. Brief vom 9. März 1771. [Briefe an Madame d’Epinay, 162.] Ebd., I 273. Brief vom 13. Oktober 1770. Ebd., IV 32 f. Brief vom 12. Juli 1773. In einem Brief aus dem Jahr 1771 erkennt d’Epinay an, daß sich ihre körperliche Gesundheit verbessere, daß ihr Leiden jedoch vor allem eine seelische Ursache habe. Vgl. ebd., II 144 f. Brief vom 19. Juli 1771.

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din erlitten hat, zeigt er sich zugleich beunruhigt und entschlossen, mit trockenem Humor ihren Willen zu entfachen, gegen die Krankheit anzukämpfen: „Magallon, der mir geschrieben hat, spricht auch von Ihrer Gesundheit. Ich bin über diesen Punkt weder ruhig noch froh. Ich mag die Winde nicht mehr als den Regen. Letztes Jahr war es das Wasser, das beschwerlich war, heute sind es die Winde. Furzen Sie um Himmels willen und beruhigen Sie mich!“10 Der Tonfall Galianis kann auch strenger werden, wenn es darum geht, die Korrespondentin unter allen Umständen zur Ordnung und ins Leben zurückzurufen: „Ich ersehe [aus Ihrem letzten Brief], daß Ihr Zustand unheilbar ist. Um so besser! Denn der Tod ist eine Art Gesundung. Ich verlange nicht, daß Sie gesunden; ich verlange, daß Sie am Leben bleiben…“11 In einem Brief aus dem Jahr 1771 beruhigt Madame d’Epinay ihren Freund auf eine ebenso energische Weise. Sie gründet ihre affektive Autorität auf ihre Erfahrung und ihr Wissen bezüglich der Krankheit und erlaubt sich, Diagnosen zu erstellen: „Ich antworte Ihnen, daß der Gegenstand Ihres Leidens nichts mit Ihrer Existenz zu tun hat. Sie haben Dämpfe, und das ist alles! Sie werden leben und Ihre Fröhlichkeit wiederfinden, es wird Ihnen gut gehen, wir werden uns wiedersehen, und alles wird sich zum Besten fügen. So lautet meine Weissagung, die genau so gut ist wie jede andere. Ich kenne mich aus mit Dämpfen und mit Leiden.“12 Der Begriff der Weissagung unterstreicht hier im übrigen den empirischen Charakter der Diagnose sowie den Wunsch, eher die affektive Komplizenschaft als ein auf die wissenschaftliche und medizinische Autorität gegründetes Verhältnis zu bewahren13. Allerdings schaut das gelehrte medizinisches Wissen an vielen Stellen in der Korrespondenz der beiden Freunde hervor. 1.2. Wissenschaftliche und medizinische Autorität Im Verlauf der Korrespondenz bleibt die Position der beiden Freunde gegenüber dem medizinischen Wissen ambivalent. D’Epinay respektiert die Autorität derjenigen Ärzte, die in der Lage sind, bescheiden hinter die Autorität der Natur zurückzutreten. So schreibt sie im Januar 1773 an Galiani: „Ich fühlte mich während der ganzen Woche so schwach, daß es mir unmöglich war, Ihnen zu schreiben. Die Ärzte sind mit meinem Zustand insgesamt zufrieden. Doch obwohl ich großes Vertauen in sie habe, da sie mir keine Medikamente geben und mir nur Ruhe und Diät verordnen, geht es nicht so weit, daß ich mich selbst, während ich leide, davon überzeugen kann, daß ich nicht leiden muß.“14 Sie fordert für den Patienten und die ihm Nahestehenden das Recht ein, ihre Meinung äußern zu dürfen. Sie schreibt bezüglich der Krankheit ihres Freundes, des Marquis de Croismare: „Er hat das Unglück, als Arzt den unsäglichen 10 Ebd., IV 189. Brief vom 15. Oktober 1774. Eine ähnliche Linie findet sich im Brief vom 3. Juli 1773, ebd., IV 30. 11 Ebd., IV 219. Brief vom 28. Januar 1775. [Briefe an Madame d’Epinay, 344.] 12 Ebd., II 119. Brief vom 24. Mai 1771. 13 Vgl. auch den Brief vom 22. Juli 1770, ebd., I 217. 14 Ebd., III 190. Brief vom 22. Januar 1773.

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Thierry15 zu haben, der mehr Grimassen schneidet und dummes Zeug erzählt als je zuvor. Es ist schrecklich zu sehen, wie einem Nahestehenden so übel mitgespielt wird, ohne daß man sich seine Meinung zu sagen traut, denn der Kranke hat zuviel Vertrauen…“16 D’Epinay distanziert sich sehr deutlich von einer medizinischen Praxis, die sich nur auf die Anwendung von Heilmitteln beschränkt. Aus ihrer Sicht nimmt der Kranke an der Diagnose und der Heilung teil, und der Arzt ist eher ein Berater als ein Herrscher, der über das Leben und den Tod des Patienten entscheidet17. Sie formuliert auch Zweifel gegenüber der medizinischen Terminologie. Sie gibt sogar zu verstehen, daß die Ärzte diese mißbrauchen, um ihre Macht über die Patienten zu festigen, und setzt dem medizinischen Jargon eine freies Sprechen entgegen, welches sie selbst für die Beschreibung ihrer Krankheit verwendet: Seitdem ich weiß, daß der Name meiner Krankheit aus dem Griechischen stammt, geht es mir weder besser, noch bin ich weiter vorangeschritten. Man nennt sie, damit Sie es wissen, eine Hydropsie, und um sie noch rührender zu machen, fügt man hinzu, sie sei zu einem Aszites ausgewachsen. Kann man sich nicht glücklich schätzen, all dies zu wissen? In der Zwischenzeit leide ich, als stammte meine Krankheit aus meinem Heimatland.18

Galiani ist maßvoller, aber auch bestimmter in seinen Ansichten zur Medizin. In einem Brief aus dem Jahr 1774, der dazu gedacht ist, d’Epinay, die über seine Gesundheit besorgt ist, zu beruhigen, heißt es zum Beispiel: „Was mich betrifft, so wissen Sie, daß ich mich andauernd wohl befinde, und daß ich unmöglich krank sein kann, da ich niemals weder Arzneien noch Ärzte verdaut habe“19. Man findet bei beiden Korrespondenten eine Art moliereskes Mißtrauen gegenüber der Medizin und den Medizinern. Allerdings zeugt der Argwohn nicht nur vom Gefühl der Frustration eines Nicht-Spezialisten gegenüber einer Kunst, die er nicht versteht. Tatsächlich geht es vor allem darum, sämtliche Erwägungen, die zwischen einem selbst und dem Körper mit seinen Geheimnissen bestehen können, in Frage zu stellen. So versuchen die beiden Korrespondenten, durch die Dynamik des Briefwechsels gemeinsam einen ursprünglichen und persönlichen Standpunkt zur Krankheit und zum Leiden zu finden. Die beiden Freunde befragen sich gegenseitig in aller Regelmäßigkeit zu Ansichten und Ratschlägen bezüglich der Gesundheit20. Auch versuchen sie, an diese Fragen anders heranzugehen als durch das bloße Protokoll einer Visite 15 16 17

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François Thierry (1718–1792) ist ein Arzt, der insbesondere für seine Studien über die Einflüsse der klimatischen Elemente auf die Gesundheit bekannt geworden ist. Ebd., III 67. Brief vom 6. Juni 1772. Vgl. auch die Passage gegen die Scharlatane, die ihre Patienten vergiften, im Brief vom 22. Februar 1772, ebd., II 279. D’Epinay unterhält im übrigen mit Gatti, einem mit Galiani befreundeten Arzt, der bis 1772 in Paris gewohnt hat, einen sehr regen Austausch. Vgl. ebd., I 219. Brief vom 26. Juli 1770. Vgl. auch die Art und Weise, wie sie sich im Brief vom 19. August 1770 einer Meinung Gattis schließlich fügt (ebd., I 226). Ebd., IV 24. Brief vom 13. Juni 1773. Ebd., IV 109. Brief vom 22. Januar 1774. [Briefe an Madame d’Epinay, 325.] Vgl. zum Beispiel die Briefe vom 22. Juli 1770 (ebd., I 217) und vom 24. Mai 1771 (ebd., II 119) sowie die Antworten des Korrespondenten, der versucht, eine Diagnose zu erstellen und Hilfsmittel vorzuschlagen.

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oder einer diagnostischen Formulierung. Nachdem sich Madame d’Epinay von einer Kolik erholt hat, schreibt sie an Galiani: Ich fühle, daß es mir zur Zeit sehr gut gehen müßte, wenn ich nur existierte, aber ich existiere nicht, und doch ist dies die erste Bedingung dafür, sich gut zu fühlen. So kann ich nicht beurteilen, ob das Fehlen des Übels nur der Unfähigkeit geschuldet ist, es zu empfinden, oder doch einer wirklichen Verbesserung meiner Maschine. Ich werde Sie darüber nach dem ersten Unwetter aufklären.21

Die Schlußformulierung fordert die Reaktion des Empfängers heraus. Die Doktoren sind schon eingeschritten und haben die Patientin geheilt. Allerdings leidet sie unter der typischen Müdigkeit, die einer Krankheit folgt, und sucht nach einer Weise, sie zu überwinden. Was diese zweite Phase der Krankheit angeht, scheint d’Epinay Galiani mehr zu vertrauen als ihren Ärzten. Außerdem ändert sie ihre Strategie, die Krankheit zu beschreiben. Denn sie gibt das Format des Krankheitsberichtes auf und formuliert ein Paradox, mit dem sie anzeigt, daß sie die Krankheit von einem anderen Standpunkt aus betrachten und eine Debatte über die Grenzen zwischen den Zuständen der Gesundheit und der Krankheit eröffnen möchte22. Wenn es um die Krankheit dritter geht, wird der Tonfall der Autorität in medizinischen Angelegenheiten allerdings bei beiden Freunden deutlich. Im Mai 1772 wird Grimm das Opfer einer schlimmen Kolik, und seine Gesundheit ist d’Epinay und Galiani aufgrund der schleppenden Genesung und der zahlreichen Rückfälle bis Oktober des gleichen Jahres ein ständiger Grund zur Sorge. Als Galiani die Neuigkeit erfährt, formuliert er umgehend eine Diagnose, in der die intime Kenntnis deutlich wird, die er von den Gewohnheiten seines Freundes besitzt. Der Abbé schlägt eine Verordnung in gehöriger Form vor: Dieser Strohsessel23 ist sein Tod! Wenn man den ganzen Tag ein großes Viereck am Hintern hat, wie kann man sich dann einbilden, durch so ein Ding hindurch sich ordentlich auszuleeren? Um Gotteswillen, ordnen Sie an, daß ihm überall freie Öffnung gemacht wird, daß man ihn sogar wie ein Kind mit offenem Höschen auf der Straße herumlaufen läßt.24

Parallel dazu vertraut D’Epinay Galiani an, daß sie in Abwesenheit der Ärzte einige Versuche unternommen hat, Grimm zu heilen. Diese haben sich sogar als fruchtbar erwiesen: Letzte Woche hatte er eine Krise, die mich sehr beunruhigt hat und fürchten ließ, daß sie sich noch ausweiten würde, er hatte Schmerzen im Innern und Fieber, das alles ähnelte dem schrecklichen Anfall, an den ich noch mit Schaudern zurückdenke, und in Abwesenheit von Tronchin habe ich ihn schließlich gebadet, ich habe ihm Paulet-Wasser und Mandelmilch gegeben, und so ging es etwas besser, obwohl ich mit seinem Zustand noch 21 Ebd., V 44. Brief vom 24. Juli 1775. 22 Es ist auch zu bemerken, daß der Korrespondent nicht ganz an die Stelle des Arztes getreten ist, denn oft übermittelt er selbst eine Synthese aus Visiten, Untersuchungen und ärztlichen Ratschlägen. Vgl. hierzu den Brief vom 3. Dezember 1780, ebd., V 231. 23 Grimm ist unter dem Spitznamen Strohsessel bekannt, weil er, unentwegt damit beschäftigt, zu schreiben und seine Reisen zu planen, sich nicht von seinem Schreibtisch entfernt. 24 Ebd., III 76. Brief vom 27. Juni 1772. [Briefe an Madame d’Epinay, 252.]

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gar nicht zufrieden bin. Er findet keinen Schlaf, er ist mager, schwermütig und noch sehr schwach.25

1.3. Autorität des Schreibens Der Umstand, dem kranken Freund (oder der kranken Freundin) zu schreiben, kann auch Teil des medizinischen Prozesses sein, denn es handelt sich oft darum, dem Korrespondenten dabei zu helfen, sich gerade durch die Praxis des Briefschreibens zu pflegen. Der Brief ist heilsam, wenn er in einem kritischen Moment gelesen wird. So schreibt Galiani an d’Epinay: „Ich bin krank gewesen, teure Frau; ich habe zu tun gehabt; ich bin in Langeweile, Kummer und Ekel gesteckt: da haben Sie die Ursachen meines drei- oder vierwöchigen Schweigens. Ihre Briefe haben mich erfreut, ja belebt, aber nicht bis zu einem Grade, daß ich es Ihnen hätte sagen können.“26 Der Brief dient auch als Beweis für eine vollendete Gesundung. Es handelt sich beinahe um eine entscheidende Etappe im Prozeß der Heilung: Ich gleiche diesen kleinen Stehaufmännchen aus Deutschland27, die man zwanzigmal am Tag auf den Kopf stellt und die doch immer wieder auf die Beide kommen. Seit sechs Wochen bin ich einem schrecklichen Keuchhusten entronnen, der mich zwei Monate lang ans Bett gefesselt und derart niedergeschlagen hatte, daß ich mich nicht bewegen konnte, ohne zu schreien. Die Seiten haben mir so weh getan, daß ich glaubte, das Bett nie wieder verlassen zu können. Doch man muß kämpfen bis zum Schluß. Hier ist also der erste lange Brief, den ich schreibe; mein Kopf hat ebenso wenig Ruhe wie mein Körper, meine Hand zittert, meine Zähne fallen aus, so daß ich in etwa so aussehe wie die Alte von Candide, nur ohne den Hintern…28

Durch den unterhaltsamen und geistreichen Moment dieser Passage sorgt die Korrespondentin dafür, daß der Brief zu einem Lebenszeichen wird. Die stilistische Virtuosität, die üblicherweise den Beweis für eine gewisse Autorität des Schreibens darstellt, dient im Brief über die Krankheit auch dazu, Zeugnis über die gute Gesundheit abzulegen oder den Korrespondenten im Krankheitsfall zu pflegen. Hier herrscht die Überzeugung vor, daß der Geist den Körper pflegt. Galiani macht diese Überzeugung explizit, als er gegenüber d’Epinay erklärt: „Wohlan denn, vertrauen wir auf diese Geisteskraft“29. Die schöne oder anregende Schrift ist Teil der Heilung. Galiani parodiert zum Beispiel den scholastischen Stil, um seine Freundin zu trösten und ihre Gesundung anzuregen: „Ihre Gesundheit besorgt mich mehr, als sie mich beunruhigt. Sie befinden sich in einem kritischen Alter, Sie leiden seit langer Zeit, Sie sind nicht gestorben. Ergo werden Sie nicht sterben, ergo werden Sie das hohe Alter der denkenden Menschen erreichen, das um zehn Jahre kürzer ist 25 26 27 28 29

Ebd., III 81. Brief vom 18. Juli 1772. Ebd., V 106. Brief vom 21. September 1776. [Briefe an Madame d’Epinay, 363.] Es handelt sich um kleine Spielzeuge aus Holundermark. Ebd., V 242. Brief vom 12. Mai 1781. Ebd., V 224. Brief vom 22. Juli 1780. [Briefe an Madame d’Epinay, 397.]

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als das der vegetierenden.“30 Ironisch stellt er hier die These auf, daß das Denken die Lebenserwartung verringere, und fordert damit seine Freundin heraus, dagegen aufzubegehren und für sich die These zu verteidigen, der gemäß der Geist dem Körper hilft. Für Galiani bedeutet reagieren bereits gesunden; Reaktionen auslösen bedeutet heilen! 2. Welche Autorität wird angestrebt? Die Autorität des medizinischen Wissens und die poetische Autorität sind in der Korrespondenz der beiden Freunde oft eng miteinander verwoben, und dies auf verschiedene Weisen, die den Heilungsprozeß und den Prozeß der dichterischen Schöpfung miteinander in Verbindung bringen können. Doch welche Autorität wird in letzter Instanz von unseren beiden Korrespondenten anvisiert? 2.1. Medizinische Autorität, rhetorische Autorität Viele Passagen geben dem Leser das Gefühl, daß es für die beiden Freunde vor allem darum geht, eine bestimmte Form von medizinischer Autorität zu verkörpern, indem sie alle verfügbaren rhetorischen Mittel in Anschlag bringen. D’Epinay zum Beispiel erklärt am Ende einer schlimmen Kolik, daß die Krankheit auch ihre guten Seiten habe. Sie spricht als Frau, die alle Zufälle des körperlichen Leidens kennt. Ihr Ton ist bestimmt, und man hat das Gefühl, daß sie mit ihren Lesern (Gatti und Galiani) streitet und sie zugleich an einen besonderen Ort im Universum einer Krankheit führt, für die nur sie die Schlüssel besitzt: Ja, meine Herren, ich behaupte dies, ich bin erst wirklich glücklich, seitdem ich krank bin, und ich kann das beweisen. Erstens führe ich das Leben, das mir gefällt, ich arbeite von morgens bis 5 Uhr nachmittags, ich habe keine andere Toilette zu machen als die, welche die Sauberkeit erfordert, einmal schnell überkämmen, eine weiße Haube, ein Hemd, einen schönen Überrock, das ist alles. Um fünf Uhr kommen die Bekanntschaften und die Freunde; um neun Uhr gehen die Bekanntschaften, die Freunde bleiben …31

Die Eleganz dieser persönlichen Evokation verdeckt kaum die autoritäre Rede, in der es darum geht, über die Zustände des Leidens zu diskutieren. Der Stil erlaubt es hier, die Autorität der Korrespondentin in medizinischen und psychologischen Angelegenheiten zu behaupten. Anläßlich der Krankheit eines dritten untermalt Galiani geistvoll seine medizinische und philosophische Argumentation bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Menschen, dem Leiden, dem Willen und der Gewohnheit. Der Marquis de Caracciolo hat sich in Galianis Nähe nach Neapel zurückgezogen, und der Abbé schreibt an d’Epinay, die mit dem Marquis gut bekannt ist, damit 30 Ebd., III 187 f. Brief vom 16. Januar 1773. 31 Ebd., IV 66. Brief vom 13. September 1773.

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sie über die Macht nachdenkt, die der Geist über den Körper besitzt. Galiani zufolge ist es nicht die Vernunft, die dem Menschen erlaubt, seine körperlichen Leiden zu beherrschen, sondern die Erfahrung der Krankheit. Er beginnt mit dem traditionellen Krankheitsbericht und kommt dann auf etwas zu sprechen, was ihn mehr interessiert: Caracciolo geht es gut. Seine etwas angeschwollenen Beine sind eigentlich eine Bagatelle. Er hat Bäder genommen, Schwitzkammern, Meerwasser usw. Aber er hat es nicht übertrieben, und er hat mir versprochen, es auch nicht zu tun. Dieser ganz und gar philosophische und den Gesetzten des Schicksals ergebene Mann scheint mir in Bezug auf die Gesundheit weniger ergeben zu sein, und das macht mich für ihn zittern. Er wird sich vor Sorge und Gesundungssucht noch umbringen. Zum Glück ist er noch ungeduldiger, nach Paris zurückzukehren, als gesund zu werden. Das wird ihn daran hindern, weitere Heilmittel auszuprobieren. Ich suche nach dem Grund für diesen Mangel an Ergebenheit bei ihm, und hier ist meine Meinung: Man ist so weise und ergeben, wie man gelitten hat. Er jedoch hat bis zu dieser Stunde an allem gelitten, nur nicht am schlechten Zustand seiner Gesundheit, derer er sich stets erfreut hat. Die Philosophie entspricht also nicht der Vernunft, sondern der Gewohnheit. Sie ist höchstens eine Furcht und manchmal eine gut durchdachte Verzweiflung.32

Galianis Position wird an dieser Stelle sehr deutlich. Die heitere Passage, die aus Anspielungen auf einen gemeinsamen Freund besteht, öffnet sich einer pessimistischen philosophischen Überlegung, die das menschliche Geschlecht als ganzes betrifft. Hier geht die Autorität des medizinischen Wissens in eine Autorität philosophischen Typs über, welche mit der ersten allerdings zusammenhängt. 2.2. Schreiben um zu schreiben Die Krankheitsberichte dienen auch als Vorwand für ein Schreiben um des bloßen Vergnügens willen. Galiani schreibt in einem Brief vom Juli 1773: Das war unbestreitbar der erhabenste und sinnreichste Brief, den Sie mir in Ihrem ganzen Leben geschrieben haben. Sie schwellen ab, Sie verlieren Ihre Verstopfung, Sie sind zufrieden mit Tronchin und noch mehr mit der Natur. Wie tief das ist! Kann man geistreicher sein? Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lustig und gut gelaunt mich das macht, wie es mich elektrisiert. Ich muß Ihnen gestehen, ich interessiere mich für Ihre Gesundheit, ebenso sehr wegen meiner Briefe, wie wegen der Ihrigen. Es ist ein wahres Vergnügen, ein bersaglio33 für alle meine Tollheiten zu haben, und ich werde Ihnen von nun an die tollsten Briefe schreiben, die Sie je von mir erhalten haben.34

In dieser Passage durchbricht er besonders deutlich den Ernst seiner üblichen Ausführungen über die Krankheiten und das medizinischen Wissen. Er scheint das poetische Potential entdeckt zu haben, das in diesen Krankheitsberichten steckt. Einen Monat zuvor war zwischen den beiden Freunden die Frage der Veröffentlichung ihrer Korrespondenz aufgetaucht. Am 5. Juni schreibt Galiani: 32 Ebd., IV 175 f. Brief vom 27. August 1774. 33 Italienisch: ein Ziel. 34 Ebd., IV 39. Brief vom 24. Juli 1773. [Briefe an Madame d’Epinay, 302.]

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„Sie wissen doch, meine schöne Dame, daß unser Briefwechsel gedruckt werden wird, wenn wie beide tot sind.“35 Darauf antwortet d’Epinay: „Es ist unausstehlich von Ihnen, mich daran zu erinnern, daß unser Briefwechsel nach unserm Tode im Druck erscheinen wird. Ich wußte es wohl, aber ich hatte es vergessen. Nun weiß ich einfach nicht mehr, was ich Ihnen sagen soll: vor der Unsterblichkeit habe ich schreckliche Angst.“36 Bis Ende Herbst 1773 bremst die Krankheit und dann der Tod des Bruders dieses Bestreben des Abbé Galiani. Im Januar 1774 jedenfalls durchbricht die künstlerische Ader des Briefwechsels den Rahmen der medizinischen Rede und inspiriert unsere beiden Freunde zu einem originellen poetischen Projekt. D’Epinay berichtet dem Abbé in einem Brief vom 17. Januar 177437, daß Papst Klemens XIV38 ein Jugendfreund des berühmten Schauspielers Carlin39, der den Harlekin dargestellt hat, gewesen sei. Diese Neuigkeit läßt im Geist Galianis eine geniale Idee heranreifen: Was Sie mir über die alte Freundschaft Carlins mit dem Papst mitteilen, hat mir zu denken gegeben, und es kommt mir ein erhabener Gedanke, den Sie durchaus Herrn Marmontel, als von mir ausgehend, mitteilen müssen, damit er ins Feuer gerät. Man könnte, wie mir scheint, daraus den schönsten und erhabensten Roman in Briefen zimmern. Man beginnt mit der Voraussetzung, daß sich die beiden Schulkameraden Carlin und Ganganelli, die sich in ihrer Jugend innigste Freundschaft geschworen, das Versprechen gegeben haben, wenigstens einmal alle zwei Jahre Briefe zu wechseln. Sie halten ihr Wort und schreiben sich Briefe voller Seele, Wahrheit, Herzensergüsse, ohne Sarkasmen und schlechte Witzeleien. Diese Briefe böten also den merkwürdigsten Gegensatz zweier Menschen, von denen der eine stets unglücklich war und eben deswegen Papst geworden ist, während der andere, beständig glücklich, Harlekin geblieben ist.40

Madame d’Epinay antwortet auf dieses Projekt mit solchem Enthusiasmus, daß sie am Ende beschließt, den Roman selbst zu schreiben und ihn in den Rahmen ihres Briefwechsels mit dem Abbé zu integrieren. D’Epinay lehnt die Beteiligung von Marmontel ab und zeigt sich bereit, die Autorität für die Niederschrift eines solchen Projekts zu übernehmen. Mit dem Vorschlag, den Briefwechsel zum Atelier eines kommenden Romans werden zu lassen, unterzieht sie diese Autorität zudem der Logik eines Schreibens, das ganz und gar poetisch sein möchte. Sie schreibt: Sie haben vollkommen recht, reizender und herrlicher Abbé, die Briefe zwischen Harlekin und Ganganelli würden ein einzigartiges Werk abgeben. Doch wo haben Sie nur Ihren Kopf, ausgerechnet Marmontel vorzuschlagen, um es zu verwirklichen. Ich werde mich hüten, ihm ein Wort davon zu sagen, denn es wäre ein verfehltes Werk. Es gibt auf Erden nur zwei Menschen, die fähig wären, ein solches Unternehmen erfolgreich durchzuführen. Zunächst und vor allem Sie oder Grimm […]. Alles in allem, Abbé, nehmen Sie Ihren Mut in Ihre beiden Hände und schreiben Sie den Roman, ich befehle es Ihnen. […] Diktieren Sie mir, ich werde schreiben. Oder besser: Schreiben Sie und schicken Sie mir Ihren

35 36 37 38 39 40

Ebd., IV 21. Brief vom 5. Juni 1773. [Briefe an Madame d’Epinay, 293.] Ebd., IV 27. Brief vom 26. Juni 1773. [Briefe an Madame d’Epinay, 295.] Ebd., IV 109. Es handelt sich um Giovanni Vincenzo Ganganelli (1704–1775). Carlo Antonio Bertinazzi (1713–1783). Ebd., IV 120 f. Brief vom 15. Februar 1774. [Briefe an Madame d’Epinay, 328.]

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Text anstelle der üblichen Briefe. Schreiben Sie mir einen Brief von Ganganelli und ich werde Ihnen mit einem Brief des Harlekin antworten. Es ist ganz gleich, ob er gut oder schlecht wird. Sie werden Ihn korrigieren, wenn er einigermaßen gut ist, oder ablehnen, wenn er schlecht ist. Sie werden die religiösen Begriffe und die Redewendungen des Landes hinzufügen. Fangen wir also an. Spielen Sie den Papst, und ich spiele den Harlekin. Das wird unseren Briefen einen recht komischen Ton verleihen, der die Neugierigen bei der Post wohl anziehen wird. Ich beginne.41

Und sie verfaßt den ersten Brief der Sammlung. Leider halten die Sorgen, die der Tod des Bruders Galiani bereiten, ihn davon ab, diesen interessanten Vorschlag weiter zu verfolgen. Am Ursprung dieses Projekts jedenfalls, welches das persönliche Schreiben zu einem Publikationsprojekt führen möchte und eine Frau an die Position einer poetischen Autorität setzt, haben medizinische Gegebenheiten eine entscheidende Rolle gespielt. Wie wir im Brief vom 24. Juli 1773 gesehen haben, hat Galiani, mit der Autorität der medizinischen Rede spielend, den poetischen Reichtum des täglichen Briefschreibens erkannt und sein Schreiben sowie das seiner Korrespondentin zu neuen Möglichkeiten geführt. Es scheint also, daß unsere beiden Korrespondenten während der 13 Jahre ihres Briefwechsels, den Inspirations- und Ereigniszyklen folgend, regelmäßig zwischen zwei Formen der Autorität hin- und herpendeln: zwischen einer medizinischen Autorität, die das Wissen und die Erfahrung des Individuums lobt, und einer poetischen Autorität, die eine wachsende Schreibgewandtheit preist. 3. Die Befreiung des Briefschreibens und der medizinischen Kommunikation Die Einsetzung der Autorität markiert den Wunsch, eine Wandlung abzubremsen, die den Körper betrifft. Es geht darum, eine medizinische Autorität ins Spiel zu bringen oder eine Autorität des Schreibens durch poetisches Können zu offenbaren. In der Tat ist der kranke Körper immer anders, und das Briefschreiben ist als Schreiben zu zweit ebenfalls immer anders. Man verspürt bei den beiden Freunden das Bedürfnis, die doppelt bewegliche Eigenschaft des medizinischen Briefs auszubremsen, indem sie einerseits die individuelle Autorität ihres Wissens über den sich vervielfältigen Körper und andererseits ihre persönliche poetische Autorität über einen interaktiven, in alle Richtungen gehenden Austausch in Anschlag bringen. Das Gewicht dieser doppelten Autorität kontrastiert jedoch oft mit den zahlreichen Hinweisen von Galiani oder d’Epinay, die eher eine gewisse Ungezwungenheit favorisieren. Allgemeiner gefaßt: Ihr Schreiben ist neben den Autoritäten, die sie ins Spiel bringen, auf

41 Ebd., IV 123. Brief vom 27. Februar 1774.

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der Suche nach etwas, das in der Darstellung der Natur, des Körpers und der Schrift selbst befreiend und vervielfältigend wirkt42. Der Korrespondent kann die geistige Ader des Briefs zum Beispiel nutzen, um das Verhältnis zur Medizin und zum Körper zu entweihen und hervorzuheben, daß die Kategorien, die durch einen Autoritätsdiskurs festgelegt werden, eitel sind, ob dieser nun ein affektives – das freundschaftliche Vertrauen –, ein wissenschaftliches oder gar ein poetischen Fundament besitzt. Alles bietet Stoff zum Lachen. Anläßlich einer Bitte an Madame d’Epinay, das Rezept eines Weins gegen Skorbut zu besorgen, erlaubt sich Galiani gegenüber seiner Briefpartnerin einen schlechten Scherz. Er übermittelt seinen Auftrag auf ambivalente Weise, indem er erklärt, daß er den Wein für sich benötige, und so verstehen gibt, daß er selbst an Skorbut erkrankt sein könnte, doch er fügt hinzu, daß ihm der Wein gut bekomme: Ich brauche – und zwar für mich selber – einen gegen Skorbut wirkenden Wein, den ich einmal in Paris getrunken habe. Herr Le Roy aus Versailles, der Jäger und Tierhistoriker, gab mir das Rezept. Der Wein bekam mir sehr gut. Ich möchte ihn wieder trinken, habe aber vergessen, welche Zutaten er haben soll. Lassen Sie sich das Rezept geben, und schicken Sie’s mir. Sie retten damit einem reizenden Abbé das Leben – nämlich mir – und zugleich einer einzigen unvergleichlichen Frau – nämlich Ihnen. Denn wenn ich sterben sollte, so würden Sie doch auch sterben, nicht wahr?43

Galiani klärt das Motiv für seine Bitte einige Zeit später auf und gibt zu, daß er den Wein gegen Skorbut zu einem ganz anderen Zweck verwendet: Ich danke Ihnen für das Rezept des Weins gegen den Skorbut, das Sie mir geschickt haben. Aber ich bin nicht krank; ich habe ihn noch nicht eingenommen, und wenn ich es tue, geschieht es nur, um meinen Appetit aufzumuntern; denn früher übte er auf mich diese Wirkung aus. Wenn Sie einen Wein gegen Langeweile haben, schicken Sie mir ihn schnell; das ist das Geheimnis, das mir das Leben retten kann, denn ich langweile mich zum Sterben. Als ich Ihnen schrieb, die Erhaltung meines Lebens hänge von diesem antiskorbutischen Wein ab, scherzte ich: und wenn Sie das Gesicht gesehen hätten, das ich dabei machte, hätten Sie das sofort bemerkt. Aber das ist eben der Übelstand bei Briefen. Ich hoffe, es kommt einmal der Tag, da die Briefe das Bildnis des Schreibers an der Spitze tragen, um auf diese Weise allerlei dunkle Worte aufzuklären.44

Galiani verändert nicht nur den Gebrauch des Medikaments sondern auch den Kommunikationsvertrag, der ihn mit seiner Korrespondentin verbindet. Die ungewollten Störungen des Körpers spiegeln die mit großer Vorsicht behandelten Störungen des Textes wider. In diesem Sinne spürt Galiani sehr deutlich, daß das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Autorität im Spiel des Schreibens sehr heikel ist, insbesondere wenn dieses von privater Natur und somit vollkommen frei ist, wobei wir jedoch anhand von d’Epinays Briefromanprojekt gesehen haben, daß auch der Gedanke an eine Publikation, die eine gewisse Beherrschung voraussetzt, mit im Spiel ist. In einem Brief aus dem 42 Zu diesem Thema der Ordnung der Präsentation und der Rede im privaten Brief vgl. Siess 1996 sowie Amossy 1998. 43 Ebd., II 272 f. Brief vom 5. Januar 1772. [Briefe an Madame d’Epinay, 217 f.] 44 Ebd., III 41. Brief vom 28. März 1772. [Briefe an Madame d’Epinay, 229.]

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Jahr 1770 zum Beispiel versucht Galiani in Anspielung auf den kranken Körper zu ermessen, inwieweit die Freiheit seines Schreibens real oder kalkuliert ist. Er denkt über das merkwürdige Phänomen nach, welches das organische Leben dazu bringt, Mineralien zu erzeugen. Diese Frage der Produktion von substantiell fremden Körpern durch ein gegebenes Organ schließt an jene des BriefSchriftstellers an, der aus Bemerkungen über den Körper und die Medizin Autorentexte erzeugt, die man ebenfalls als bestimmte Formen von für legitim oder abscheulich zu erachtende Absonderungen auffassen kann: Ich bin sehr betrübt darüber, daß das, was Ihre Nieren ausscheiden, Ihnen soviel Schmerzen gemacht hat und noch macht. Es gibt viel mehr Steine und Kies auf dieser Welt, als man denkt; das haben wir von unseren Vorfahren her: Denn, nehmen Sie’s nicht übel, wir stammen alle von den Steinen her, die Deukalion und Pyrrha sich über die Schultern warfen. Und vielleicht ist seit dieser Zeit das Sichmitsteinenbewerfen eine menschliche Handlung; aber – da kommt ja schon wieder der Geist, kommen rasche Einfälle, gute Worte, kommt Ätzendes, um die gewohnte Würze zu geben. Ah! Da sind ja auch schon wieder die schrecklichen Mücken, die um mich herumsummen. Wenn ich an die Seelenwanderung glaubte, so würde ich sagen, das sind Ökonomisten45. Ah! Da habe ich eine zerdrückt; sollte es der Abbé Badot gewesen sein? Sie machte viel Geräusch.46

Umgekehrt befreit die Ko-Autorschaft der Schrift, wie wir nahegelegt haben, die medizinische Kommunikation, da es ihr im Rückgriff auf eine individuelle Autorität erlaubt ist, bestimmte Schemata von diskursiver Autorität in Frage zu stellen. Die beiden Korrespondenten haben oft das Gefühl, durch den Austausch ihrer Ansichten gemeinsam eine Wahrheit über den Körper und die Krankheit zu schaffen. Sie haben ebenfalls das Gefühl, gemeinsam eine poetische Dynamik zu erzeugen. So wie die beiden Partner einander antworten, sind auch die beiden Wahrheitstypen, die wissenschaftliche und die poetische, eigentümlich aufeinander bezogen. In einer drolligen Passage eines Briefs aus dem Jahr 1779 beleuchtet d’Epinay die Seltsamkeit dieses Bezugs von allen Seiten. Sie bittet Galiani, ihr eine Diagnose von Gatti, einem Arzt und Freund des Abbé, zu vermitteln. Gatti möge sie über einen merkwürdigen Fall von Geistesverlust bei einer alten Frau aufklären, worauf sie ihm als Gegenleistung ethische Ratschläge erteilt und dabei ein Portrait ihrer selbst zeichnet, das von großer Sorglosigkeit und Lebensfreude zeugt. Sie schreibt: Fügen Sie, mein lieber Abbé, dem Bericht über die Familie d’Holbach noch hinzu, daß letzte Woche die Mutter der Baronin einen Schlaganfall hatte und Gott weiß wie viele Jahre gelähmt und schwachsinnig bleiben wird, denn der Körper ist so gut er kann, und der Kopf ist nicht zurückgekommen. Doch welch seltsames Phänomen, das beweist, wie hartnäckig der Charakter ist und wie unabweislich die Gewohnheiten sind! Während sie noch ohne Bewußtsein war, lächelte sie über das Bellen ihrer Hunde, und seitdem sie wieder zu Bewußtsein gekommen ist, verwechselt sie alles und phantasiert unentwegt über ihre Hunde. Was sagen Sie dazu? Erzählen Sie das unserem Freund Gatti, damit er uns in nächster Zeit, während der Verdauung, einige schöne Theorien darüber entwickelt. Man sagt, daß unser lieber Gatti zu großem Reichtum kommen soll? Sagen Sie ihm, daß ich 45 Die Ökonomisten bzw. Physiokraten waren vehemente Gegner von Galianis Abhandlung über den Getreidehandel. 46 Ebd., I 245. Brief vom 1. September 1770. [Briefe an Madame d’Epinay, 110 f.]

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Renaud Redien-Collot mich dagegen verwahre. Das Vermögen, von dem man spricht, scheint mir für ihn zu unvereinbar mit dem Glück. Es lebe das meine, es geht mir gut, ich besitze kein Geld, ich weiß aus all meinem Zeitvertreib Nutzen zu ziehen, man kennt mich nicht, ich bin zu nichts gezwungen, ich habe einen guten Appetit, ich verdaue wie ein Strauß, ich schlafe wie ein Murmeltier und ich schreibe wie eine Katze, denn ich habe die Gewohnheit verloren.47

In dieser Passage kehrt d’Epinay die Positionen der medizinischen und poetischen Autorität vollkommen um. Sie gibt zu verstehen, wie zerbrechlich ein individuell gefaßter Autoritätsbegriff ist, und legt nahe, daß die Autorität im medizinischen oder literarischen Bereich eine kollektive Konstruktion ist. Sie zeigt sogar, daß sich diese kollektive Autorität nicht nur über ein dialektisches Schema Arzt-Patient oder Autor-Leser konstruiert, sondern auch in einer kontinuierlichen und gegenseitig anerkannten Umkehrung der Rollen. Denn im Tausch gegen eine medizinische Diagnose über einen Fall von Hemiplegie liefert die Patientin dem Arzt eine Diagnose über dessen moralische Handlungen. D’Epinay ist sich wohl darüber bewußt, das Verhältnis Arzt-Patient zum schwanken zu bringen, insofern sie dem möglicherweise interessierten Mediziner am Schluß einen Krankheitsbericht liefert, der nur ein Sprachspiel ist. Dieses Sprachspiel (ich verdaue wie ein Strauß, ich schlafe wie ein Murmeltier und ich schreibe wie eine Katze), das menschliche und tierische Kategorien miteinander vermischt, zeugt von der Verbindung, die d’Epinay zwischen der Poesie und dem medizinischen Wissen herstellen möchte. Ist sie, in deren Körper man durch den Krankheitsbericht Einblick gewinnt, nun Autorin, Text oder Leserin ihrer selbst, die sich anderen erfahreneren Lesern offenbart? Ihr gegenüber befinden sich Leser, die interpretieren, an Autorität gewinnen und durch einen Antwortbrief ebenfalls zu Autoren einer Diagnose oder einer Schrift werden. Allerdings kann diese Dynamik, wie d’Epinay zu verstehen gibt, unendlich viele Positionen von Autorität und Unterwerfung artikulieren. Ihre Briefe und die Galianis sind also nicht von dem Ziel geleitet, eine Autorität als Zweckbestimmtheit anzunehmen, sondern eine Reihe von intellektuellen, affektiven und dichterischen Positionen durchzuprobieren, die mit anderen Positionen von Autorität und Unterwerfung gemeinsam zu artikulieren sind, und dies bis ins Unendliche. Zusammenfassung Wie der Körper ist der Brief nicht nur ein Dokument oder ein Typ von Text, der in eine Gattung einzuordnen ist. Beide setzen Erfahrungen und Interpretationsversuche voraus. Beide stellen Prozesse dar, welche die Artikulation vielfältiger Perspektiven voraussetzen, darunter zuerst die Alternative Autorität/ Unterwerfung. Auf dieser Ebene ist die Aufgabe für den Schriftsteller des 18. Jahrhunderts ebenso schwierig wie für die Forscher von heute. Sie verlangt nicht nur die Artikulation von mehreren typifizierten Standpunkten – denen 47 Ebd., V 206 f. Brief vom 15. Februar 1779.

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des Experten und des Patienten zum Beispiel – sondern auch diejenige von verschiedenen Erfahrungen, deren Spuren geduldig aufzusammeln sind, ohne sie vorschnell in Kategorien einzuordnen. Die Briefe halten also die modernen Forscher dazu an, eine gewisse Form von spekulativer Geduld zu respektieren, die ihrerseits den Weg des Menschen in seiner ganzen Zerbrechlichkeit respektiert, ohne zu eilig auf historische oder philosophische Kategorien zurückzugreifen48. Ebenfalls regen sie die Experten dazu an, den Mythos der individuellen Autorität hinter sich zu lassen. Dies ist im übrigen der Grund, warum viele Spezialisten den Brief auf die Kategorie des Dokuments zurückführen wollen, denn dies ist eine vereinfachende Kategorie, die es erlaubt, der pluralen Autoritätslogik des Briefs aus dem Wege zu gehen. Bibliographie: Chamayou, Anne, L’esprit de la lettre (Paris 1999) Daston Lorraine/Peter Galison, „The Image of Objectivity“, Representations 40 (1992) 81–128 Galiani, Ferdinando/Louise Epinay (Hrsg.), Correspondance de Ferdinando Galiani et de Louise d’Epinay. Hrsg. von Georges Dulac et al, 5 Bde. (Paris 1992–1997) Golinski, Jan, Science as Public Culture: Chemistry and Enlightenment in Britain, 1760–1820 (Cambridge 1992) Jauss, H. R., Pour une esthétique de la réception. Übersetzt von Claude Maillard (Paris 1990) Jouhaud, Christian/Alain Viala, De la Publication (Paris 2002) Merlin, Hélène, Public et littérature en France au XVIIème siècle (Paris 1994) Ruth, Amossy, „La lettre d’amour, du réel au fictionnel“, in: Jürgen Siess (Hrsg.), La lettre, entre réel et fiction (Paris 1998) 75–78 Siess, Jürgen, „L’épistolière comme auteur“, in: Gabrielle Chamarat/Alain Goulet (Hrsg.), L’auteur, Colloque de Cerisy-Lasalle (1996) 67–73 Strickland, Stuart W., „The Ideology of Self-Knowledge and the Practice of Self-Experimentation“ Eighteenth Century Studies 31, 4 (1998) 454–71

48 Dies wäre insbesondere meine Kritik an den jüngsten Arbeiten von Jürgen Siess und Anne Chamayou auf literaturwissenschaftlicher Ebene.

Krankheit als Effekt kultureller Konstruktionen während der Aufklärung. Das Beispiel der Hypochondrie Carmen Götz

Einleitung Anhand des Briefwechsels des Düsseldorfer Kaufmanns, Hofkammerrats, Schriftstellers und Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – es handelt sich um über 1800 überlieferte und weitere ca. 800 erschlossene Briefe1 – soll hier der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise sich fundamentale gesellschaftliche Umgestaltungsprozesse in Körperwahrnehmung und Krankheit niedergeschlagen haben. Dabei wird zum einen davon ausgegangen, daß die sich im untersuchten Briefwechsel manifestierende „Gelehrtenrepublik“ – Korrespondenzpartner Jacobis waren in der Hauptsache Dichter, Philosophen, Theologen, Historiker, Naturforscher, Buchhändler etc. – ein von der Gesellschaft separiertes Übungsfeld für die neue bürgerliche Gesellschaft der Moderne darstellt, zum anderen, daß es bestimmte, sich insbesondere im Medium der Schrift artikulierende Ideale, Konstrukte und Phantasmen sind, die den Umgestaltungsprozeß vorantreiben, ja den Motor des gesellschaftlichen, kulturellen und mentalitätshistorischen Wandels darstellen. Der Befund „Vie de malingre, vie insupportable, mort continuelle avec des momens [!] de resurrection!“ Dieser Ausspruch Voltaires hatte Jacobi so gut gefallen, daß er gleich mehrere seiner Briefe mit ihm beginnen läßt und für sich selbst umgehend ein größeres Recht zu solcher Klage reklamiert, als Voltaire, der „ewig Kranke“3, für sich in Anspruch hätte nehmen dürfen4. Tatsächlich lesen sich die Briefe Jacobis wie eine einzige Leidensgeschichte. Man findet kaum einen Brief, in dem Jacobi nicht von seinen Krankheiten berichtet. Regelmäßig teilt 1

 3 4

Für den Zeitraum 176 bis 1786 liegt inzwischen die im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erarbeitete historisch-kritische Briefedition vor: Jacobi 1981 ff. (Im folgenden zitiert als JBW nebst Bandangabe.) Für die Jahre 1787 bis 1794 kann vor allem auf Roth 185–7 sowie Zoeppritz 1869 zurückgegriffen werden. Daneben existiert eine Vielzahl von Publikationen, die Briefe von und an Jacobi enthalten. Zudem sind zahlreiche Briefe bisher noch nicht veröffentlicht, sondern lediglich als Handschriften in diversen Institutionen (Museen, Archiven, Bibliotheken etc.) einsehbar. Zum Begriff des Phantasmas in diesem Zusammenhang vgl. Koschorke 1999, 345. Appelt 000, 95. Briefe an J. F. Kleuker vom 14.1.1791 (Ratjen 184, 157) und an W. v. Humboldt vom 31.1.1794 (Roth 185–7, II, 137).

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Carmen Götz

er seinen Briefpartnern mit, daß er seit Wochen oder gar Monaten keinen gesunden Tag hatte. Nicht selten muß er am Ende eines Jahres konstatieren, daß er eigentlich das ganze Jahr über krank gewesen sei. So schrieb er Ende September 178 an den Dichter Friedrich Klopstock: „Ich bin seit dem Januar beständig krank gewesen, u, wie ich höre, sehr gefährlich“5. Zu Beginn des Jahres 1794 heißt es in einem Brief an den Theologen Johann Friedrich Kleuker: „Ich schrieb vorhin von meinem schlechten Befinden im Sommer. Den nun zu Ende gehenden Winter durch habe ich noch viel mehr gelitten“6. Jacobis hauptsächliches Leiden sind Kopfschmerzen, mehrfach ist auch von Migräne7 oder einem „starcken Gichtfluß […] im Kopfe“8 die Rede, wobei sie ihm Anlaß genug sind, sich ins Bett zu legen9. Überdies finden sich eine ganze Reihe anderer Krankheiten und Symptome, die von „Verkältung“10 und Husten11 über einen „heftigen Fluß auf Augen, Ohren und Zähne[n]“1 bis hin zu „Catharal“-13 oder „Wechselfieber“14 reichen. Daneben klagt Jacobi über einen „Rothlauf“ („Geschwulst“)15, ein „Geschwür am Finger“16, Ausschlag17, eine Augenkrankheit, die Erblindung befürchten läßt18, usw. Über diese körperlichen Leiden hinaus zeigt sich auch ein unverkennbarer Hang zur „Schwermuth“19.

5 6 7 8 9 10 11 1 13 14 15 16 17 18 19

Brief vom 0.9.178 ( JBW I,3, 5). Brief vom 8..1794 (Ratjen 184, 195). Vgl. etwa die Briefe an T. Wizenmann vom 6.11.1783 ( JBW I,3, 47), an A. von Gallitzin vom 8. u. 9.7.1784 ( JBW I,3, 337) und an N… vom 1. u. 15.6.179 (Roth 185–7, II, 89). Brief H. E. Jacobis an H. A. Kopstadt vom 9.6.1773 ( JBW II,1, 186); vgl. auch den undatierten Brief (vor dem 4.1.1783) an M. E. Reimarus ( JBW I,3, 414). Vgl. die Briefe an A. von Gallitzin vom 5.11.178 ( JBW I,3, 77) und vom 13.1.178 ( JBW I,3, 101 f.). Briefe Jacobis an A. von Gallitzin vom 14.8.1787 (Sudhof 196–64, I, 367), an J. W. Goethe vom .4.1788 ( Jacobi, M. 1846, 110) und an J. F. Kleuker vom 5.1.179 (Ratjen 184, 184). Vgl. die Briefe an A. von Gallitzin vom 5.6.1781 ( JBW I,, 311 f.) und an J. v. Reventlow vom ..1790 (Roth 185–7, II, 16). Brief Jacobis an J. F. Kleuker vom 14.1.1791 (Ratjen 184, 157). Briefe an C. M. Wieland vom 1.3.1775 ( JBW I,, 3) und an C. K. W. Dohm vom 8.1.1794 (Zoeppritz 1869, I, 179). Brief Jacobis an F. K. Bucholtz vom 1.5.1787 (Sudhof 196–64, I, 355). Brief an M. S. von La Roche vom 8.10.1774 ( JBW I,1, 67). Brief an J. A. von Clermont vom 0..1776 ( JBW I,, 39). Vgl. die Briefe an A. von Gallitzin vom 7.6.178 ( JBW I,3, 36) und an G. A. Jacobi vom 6.5.179 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). Vgl. die Briefe an M. E. Reimarus vom 14.8.179 (Roth 185–7, II, 96) und an W. v. Humboldt vom 31.1.1794 (Roth 185–7, II, 138). Etwa in den Briefen an J. Müller vom 14.1.1775 ( JBW I,, 34), an A. von Gallitzin vom 15.6.1781 ( JBW I,, 314), an T. Wizenmann vom 4.3.1784 ( JBW I,3, 309) sowie an A. W. Rehberg vom 8.11.1791 (Roth 185–7, II, 7) und an J. H. Pestalozzi vom 4.3.1794 (Zoeppritz 1869, I, 178).

Krankheit als Effekt kultureller Konstruktionen während der Aufklärung

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Ein in der Tat recht üppiger Befund, wobei die Vielzahl der Krankheiten gewiß weniger imponiert als die Mitteilungsfreudigkeit über das Thema als solches, und ebendiese ist es denn auch, die historisch diagnostiziert sein will. Die Diagnose Aufgrund der angeführten Beispiele liegt der Schluß nahe, daß es sich im Falle der Person Friedrich Heinrich Jacobis um einen ausgemachten Hypochonder handelt. Mit dieser Schlußfolgerung würde man nun ins Schwarze treffen und die Sache zugleich vollständig verfehlen. Abwegig nämlich ist zum einen, Jacobi in einem persönlich-biographistischen Sinne zum Hypochonder zu erklären, abwegig ist zum anderen, ihn zum Hypochonder im heutigen Sinne zu erklären. Schon die Quellen mahnen diesbezüglich zur Vorsicht. Am 6. März 177 etwa – also im Alter von 9 Jahren – schrieb Jacobi an seinen Buchhändler Philipp Erasmus Reich: „Ich bin überzeugt daß das Summum malum darin besteht, die Hypochondrie in summo gradu zu haben, und das ist mein Fall“0. Ein solches Selbstbekenntnis zur Hypochondrie, das durchaus keinen Einzelfall im Briefwechsel Jacobis darstellt1, läßt sich mit dem heute geläufigen Begriff dieser Krankheit kaum vereinbaren – wohl aber, wie die Schweizer Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger in ihrem Buch über die Geschichte der Hypochondrie gezeigt hat, mit dem Hypochondriebegriff des 18. Jahrhunderts. Fischer-Homberger hat zum einen dargelegt, daß unsere heutige Auffassung der Hypochondrie als Nosophobie und als „eingebildete Krankheit“ sich erst allmählich im 19. und 0. Jahrhundert herausbildete. Zum anderen geht aus ihrer Studie hervor, daß allererst im Anschluß an die Entwicklung der Melancholie zum Zustandsbild die Hypochondrie zu einer eigenständigen Krankheit und zur Modekrankheit der Aufklärungszeit avancieren konnte3. Zu einem ganz ähnlichen Resultat gelangt in neuerer Zeit auch Beate Appelt im Hinblick auf die „vapeurs“, die ich – anders als Appelt und im Einklang mit Fischer-Homberger – mit der Hypochondrie weitgehend identifizieren würde4. 0 1  3

JBW I,1, 153. Vgl. JBW I,1, 40; JBW I,1, 16 (dazu: JBW II,1, 136) sowie JBW I,1, 68. Vgl. Fischer-Homberger 1970. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Melancholie in jener Zeit völlig verschwand; vielmehr bleibt sie noch auf vielfache Weise mit der Hypochondrie verknüpft. In der Forschungsliteratur ist ihr Verhältnis zur Hypochondrie umstritten: Während beispielsweise Wolf Lepenies von einem synonymen Gebrauch der Begriffe Hypochondrie und Melancholie im 18. Jahrhundert ausgeht, ist für Hans-Jürgen Schings und Lothar Müller die Hypochondrie lediglich eine Melancholie im Diminuitiv, was nicht zuletzt ihre Verbreitung befördert haben soll. Vgl. hierzu Lepenies 1969, 86, 91 sowie Schings 1977, 48 f., 70 und Müller 1987, 9 f. 4 Vgl. Appelt 000, 16, 73 (vgl. dagegen 8!) und Fischer-Homberger 1970, 15, 38. Auch die Quellenbeispiele, die Appelt anführt, sprechen gegen eine Trennung von „vapeurs“ und Hypochondrie. Vgl. etwa die Beispiele Pomme (89–91) und Revillon (107). Die von Appelt

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Der Begriff „Hypochondrie“ zeugt gleichermaßen von der antiken Herkunft dieser Krankheit – d. h. ihrer Verbindung mit der Melancholie und ihrer humoralpathologischen Fundierung – wie auch von jener somatischen Ätiologie, die sie bis ins 18. Jahrhundert begleitet. Die Hypochondrien nämlich sind jene Körperregion unter dem Brustknorpel, in der auch die Milz liegt, die Produktionsstätte der schwarzen Galle. Zum Symptomkomplex, der zunächst die Melancholie und später die Hypochondrie kennzeichnet, gehören daher neben jenen bekannten, traurig-verschlossenen Gemütszuständen auch alle mit der Magen-Darm-Region verbundenen Schmerzen und Unannehmlichkeiten – insbesondere die Begleitumstände „üble[r] Verdauung“5. Die Spuren des umfangreichen (populär-)wissenschaftlichen Diskurses über Hypochondrie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich in der Korrespondenz Jacobis verfolgen. So belegen etwa seine Briefe, daß er das maßgebliche Werk von Robert Whytt in französischer Übersetzung besaß, ja sogar auffallendes Interesse an demselben zeigte, denn er reklamierte den zweiten Teil mehrfach bei seinem Buchhändler6. Die erste Bestellung umfaßte neben dem Werk von Whytt auch die dritte, überarbeitete und vermehrte Auflage der Tissotschen Schrift Avis au peuple sur sa santé sowie das Buch von Pierre Pomme Traité des affections vapoureuses des deux sexes. Damit orderte Jacobi im August 1767 gleich drei der prominentesten und populärsten Werke der Zeit zur Hypochondrie respektive zu den „vapeurs“7. Die Krankheit Hypochondrie wurde jedoch nicht nur über diese monographische Fachliteratur verbreitet. Auch in populärmedizinischen Werken, Zeitschriften und der Belletristik fanden die Hypochondrie und die Gestalt des Hypochonders im 18. Jahrhundert enorme Verbreitung. So war etwa auch Jacobis Romanfigur Eduard Allwill von der „Milzsucht“ befallen8. Eine Wochenschrift trug gar den Titel Der Hypochondrist. Auch sie gehörte zum Bestand der Jacobischen Bibliothek9.

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angeführten Ursachen der „vapeurs“, soweit sie der zeitgenössischen Literatur und Diskussion zu entnehmen sind, sind ebenfalls mit den für die Hypochondrie geltend gemachten Ursachen identisch. Bilger 1990. Es handelt sich um die 1765 publizierte Schrift Observations on the nature, causes, and cure of those disorders which have been commonly called nervous, hypochondriac, or hysteric. Die französische Übersetzung, die Jacobi bestellte, war 1767 in Paris unter dem Titel Les Vapeurs et Maladies nerveuses, hypochondriaques, ou hystériques; reconnues & traitées dans les deux Sexes erschienen. Vgl. auch Appelt 000, 68 sowie zu Whytt allgemein French 1969. – Zu den Reklamationen Jacobis vgl. die Briefe an M. M. Rey vom 5.7.1768 und vom 7.10.1768 ( JBW I,1, 60). Vgl. den Brief an M. M. Rey vom 8.8.1767 ( JBW I,1, 41). – Zu Pomme vgl. Appelt 000, 88–9. Pomme unterteilt die „affection vaporeuse“ nochmals in „affection hystérique“ und „affection hypochondriaque“. Erstere rechnet er dem weiblichen Geschlecht, letztere dem männlichen zu, hält aber diese strikten Geschlechtszuweisungen keineswegs durch. Jacobi 196, 7 (19). – „Milzsucht“ war eines der gängigen Synonyme für die Hypochondrie. Vgl. Wiedemann 1989, I, 3, Nr. 11. – Vgl. auch Bilger 1990, 44 sowie Busse 195, 95.

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Die Pathogenese Die Frage danach, warum es gerade im 18. Jahrhundert zu einer derartigen Modekrankheit kommen konnte?“, läßt sich im Rahmen einer ausschließlich die Entwicklung der wissenschaftlichen Theorien betrachtenden Studie, wie Fischer-Homberger sie vorgelegt hat, nicht wirklich beantworten. Die Frage nach den Ursachen muß vielmehr sozial-, mentalitäts-, ideen- und mediengeschichtliche Entwicklungen mit einbeziehen.30 In den massiven Umbruchprozessen jener Zeit wachsen Krankheit allgemein und wachsen insbesondere der Modekrankheit Hypochondrie ganz spezifische Funktionen zu. Diese will ich im folgenden auf der Grundlage einer Quellenanalyse kurz darstellen, wobei als – hier gewiß nur sehr grob zu umreißende – historische Bezugspunkte dienen sollen: 1. die Herausbildung einer bürgerlichen Kultur und Gesellschaft, . die Aufklärung und ihre Prinzipien und schließlich 3. die Verschriftlichung der Kultur. Hypochondrie und Bürgerlichkeit Im Rahmen der Entwicklung der bürgerlichen Ideologie und Gesellschaft und der mit ihr verbundenen Verhaltenskodizes, kam Krankheit gleich unter mehreren Aspekten eine positive Funktion zu. Zum ersten galt innerhalb jener Gefühlskultur, in welcher die neuen bürgerlichen Verhaltensnormen proklamiert, eingeübt und durchgesetzt wurden, eine Identität von Empfindsamkeit und Tugend31. Entsprechend ist der empfindsame Mensch zugleich der tugendhafte Mensch. Diese Äquivalenz hatte im übrigen europaweit Gültigkeit: ebenso, wie die Hypochondrie kein nationales, sondern ein europäisches Phänomen war, war es auch die Tendenz der Empfindsamkeit3. „[S]chwache, reitzbare, delicate Nerven“ waren das physische Pendant dieser empfindsamen Gefühlskultur,33 und jeder Gebildete wollte sie aufgrund der damit verbundenen moralischen Auszeichnung haben – auch Jacobi: 30 Die Ursachen der Hypochondrie, soweit sie im zeitgenössischen Diskurs selber benannt werden, können hier leider nicht thematisiert werden. Vgl. Fischer-Homberger 1970 und Bilger 1990. 31 Vgl. Sauder 1974, 05. – Der Tugendbegriff ist für die bürgerliche Ideologie absolut zentral. Nicht zuletzt über diesen grenzt sich der Bürger vom (höfischen) Adel ab. 3 Vgl. etwa für England: Mullan 1988, 34; für Frankreich vgl. Vila 1998, 1 f. – Die (nicht haltbare) Gegenthese vom deutschen Sonderweg vertreten etwa Lepenies 1969 und Losurdo 1989. Beide sind zugleich Vertreter der Eskapismus- oder Kompensationstheorie. Zur Kritik – insbesondere auch an der These vom Sonderfall Deutschland – vgl. Sauder 1974, 143; Begemann 1987, 166 und Bilger 1990, 36. 33 Vgl. Christoph Wilhelm Hufeland, „Einige Ideen über die neuesten Modearzneyen und Charlatanerien“, in: C. W. H., Gemeinnützige Aufsätze zur Beförderung des Wohlseyns und vernünftiger medizinischer Aufklärung (Leipzig 1794) 11; zit. bei Barthel 1989, S. 147. – George Rousseau spricht entsprechend von „discourses of the nerve“; vgl. Rousseau 1989 und Rousseau 1991, 57.

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Carmen Götz Pinto hat nicht so gar Unrecht: die Nerven, die Nerven! Es ist eine fatale Sache darum, zumal wenn man solche Ankertaue von Nerven hat, wie ich, und dabei so reizbar, wie eine Drahtsaite; es ist gar kein Rath bei einer solchen verzweifelten Organisation34.

Wer diese Empfindlichkeit nicht besaß, war ein kalter Mensch und damit letztlich moralisch deklassiert. Entsprechend schrieb Jacobi noch im Jahre 1794 an den Verbreiter der Kantischen Lehre, Karl Leonhard Reinhold: Ach die schrecklich kalten Menschen, könnten sie mir doch nur eine geringe Dosis von ihrem Uebermaße geben – – – Nein, ich will sie nicht! Will lieber unruhig, beklemmt und leidend fortleben wie bisher, sterben, wie ich gelebt habe35.

Nur ein kranker Mensch ist ein guter Mensch. Entsprechend hatte man sich in seinen Briefen als besonders umfänglich leidende Person darzustellen. Der Zusammenhang ist klar und etwa von Justus Möser in seinem Brief an Christian Garve vom 11. Februar 1784 auch explizit benannt: „Der Hypochondrist bleibt doch immer der feinste Anatomist in der Moral, und dies vielleicht auch nur, um so viel mehr zu leiden“36. Die zweite positive Rolle fiel Krankheit als Exkulpationsinstanz im Kontext des bürgerlichen Leistungsprinzips zu37 – eines Prinzips, das für die Definition des Bürgers wie auch für das Wesen der Moderne überaus zentral ist, da es den Gegensatz zur (adligen sowie nicht-säkularen) Legitimation durch Tradion und Herkunft bezeichnet. Der Briefwechsel Jacobis belegt auf vielfältige Weise die exkulpierende Funktion von Krankheit vor dem Hintergrund bürgerlichen Leistungsstrebens. Krankheit ist ein Topos zu Beginn fast eines jeden Briefes, um die Vernachlässigung der Korrespondenz zu entschuldigen. Auch für die mangelnde Leistungsfähigkeit in Arbeitsvollzügen jeglicher Art erhält Krankheit jene Entlastungsfunktion38. Zudem konnte der Wert jeder Leistung dadurch noch gesteigert werden, daß sie unter vorgeblich desaströsen physischen Bedingungen zustandekam. Entsprechend schrieb Jacobi im März 178 aus einer Krankheit heraus an Amalie von Gallitzin: Mich erstickt der Gram über das nichtswürdige Leben das ich unterdeßen führe. Nicht daß meine Krankheit mich ganz müßig zu seyn zwänge: unter den größten Schmerzen war ichs kaum: aber was meine heißesten Wünsche fodern, das alles muß ich liegen laßen, u mir sind schon so viele Jahre verstrichen, daß es mir nicht mehr der Mühe werth scheint zu leben39.

34 Brief an C. M. Wieland vom 8. u. 11.6.1777 ( JBW I,, 6). 35 Brief vom 18. u. 6..1794 (Reinhold 185, 39). – Entsprechende Beispiele für den englischen Sprachraum finden sich zuhauf bei Mullan 1988. 36 Möser 199, 654. – Insofern ist „bodily sensibility“, worauf Vila immer wieder nachdrücklich insistiert, „a double-edged sword“ (Vila 1998, 5). 37 Vgl. Lachmund/Stollberg 1987, 169 f. 38 Vgl. etwa die Briefe an C. M. Wieland vom .4.1775 ( JBW I,, 9), an A. von Gallitzin vom 1.10.1781 ( JBW I,, 351), an G.-L. Le Sage vom 30.1.1788 (Roth 185–7, I, 45) und an J. F. Kleuker vom 5.1.179 (Ratjen 184, 184). 39 Brief vom 14.3.178 ( JBW I,3, 13); vgl. auch die Briefe an L. Westenrieder vom 6.11.1781 ( JBW I,, 371), an J. Müller vom 6.7.178 ( JBW I,3, 4), an G.-L. Le Sage vom 30.1.1788 (Roth 185–7, I, 45) und an J. F. Kleuker vom 14.1.1791 (Ratjen 184, 157).

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Der Wert des Lebens selbst scheint somit in Frage gestellt, wenn es nicht als arbeitsintensives und leistungsstarkes Leben geführt werden kann. Faulheit, „Trägheit“ werden entsprechend zum radikalen Bösen erklärt. So heißt es im Brief Jacobis an den Schweizer Historiker Johannes Müller, in welchem der Bezug zur Hypochondrie ausdrücklich hergestellt wird: Hiebey ein Brief, der alles enthält was ich bisher von Nachrichten für Raynal erhalten konnte. Ich habe genug getrieben u gemahnt: es ist etwas entsetzliches um die Trägheit der Menschen! Wenn doch ein armer halb Schwindsüchtiger Hypochondrist etwas davon einhandeln könnte, nur bis er wieder beßer wäre. Hüten Sie sich ja, mein lieber Müller, vor dem Jammer, der einen solchen Wunsch auspreßt; denn er steht noch weit hinter dem Bunde mit dem Teufel40.

Doch die Exkulpationsmacht von Krankheit beschränkte sich nicht bloß auf die Leistungsfähigkeit im engeren Sinne; vielmehr konnte jedes Fehlverhalten – sei es im zwischenmenschlichen Bereich oder auch in ökonomischer Hinsicht – bei Bedarf mit Verweis auf den physischen Zustand entschuldigt werden. Ein Beispiel hierfür bietet Jacobis Brief an seinen Bruder Johann Georg aus dem Jahre 1768. Dort heißt es: Ohnmöglich kanst du vergeßen haben, wie frostig und ungefällig ich mich oft gegen dich bezeigt; und schwerlich hältst du dieses für eine Würckung, meiner, damals schon, dem höchsten Gipfel nahen Hypochondrie. […] Wem nur in etwa bekant ist, wie geschwinde, so heftige, in Menge vereinigte Anfälle, den ganzen Menschen zerrütten; dem wird es verzeihlich scheinen, daß ich mich im Anfange dabey nicht hinlänglich beseßen. Ich hoffe also, mein liebster, bester Freund, daß du von meinem damaligen Betragen, nicht auf meinen Charackter schließen wirst. Wenn wir uns wiedersehen, denn sollst du mich zärtlicher, liebenswürdiger, und gleichmüthiger als jemahls finden41.

Die „Unarten des Herzens“4 werden hier unter Hinweis auf die Hypochondrie entschuldigt: Man war seiner selbst nicht mächtig und konnte damit auf „nicht zurechnungsfähig“ plädieren. So übernahm Krankheit in jener Zeit die Rolle einer allgemeinen Exkulpationsinstanz und war in dieser Funktion Teil eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels. Wir haben es ja keineswegs mit einer Kultur zu tun, in der traditionelles Wissen – auch um Verhaltensweisen – schlicht weitergegeben wurde, sondern mit einer Gesellschaft, die sich als eine sich neu erfindende gerierte (und es in Teilen auch tatsächlich war) und die diese Selbstschöpfung zu ihrer zentralen Bestimmung erhebt43, wie sämtliche Grundwerte hinlänglich belegen: zu nennen wären etwa Leistung, Bildung, Autonomie und 40 Brief vom 4.10.178 ( JBW I,3, 55). 41 Brief vom 16.4.1768 ( JBW I,1, 53 f.). Vgl. auch die Briefe an A. von Gallitzin vom 31.8.1780 ( JBW I,, 171) und von J. W. L. Gleim vom 14.11.1780 ( JBW I,, 17). – Vgl. zur Hypochondrie als Entschuldigung für unangemessenes Verhalten auch den Brief von J. G. Hamann vom .6.1787 (Hamann 1955–79, VII, ). 4 Johann August Unzer, Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift  (1759) 85 f.; zit. nach Bilger 1990, 88; vgl. auch Müller 1987, 101. 43 Vgl. hierzu etwa Habermas 1985, 16: „[D]ie Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen.“

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Arbeit. Auch die Vernunft – zumal im Sinne des Selbstdenkgebots der Aufklärung – gehört hierher. Vor dem Hintergrund einer solchen radikalen Neuorientierung ist die Hypochondrie auch als Ausdruck eines Zivilisationsschubs, eines normativen Umorientierungsprozesses zu betrachten. Sie ist die Hilfskonstruktion einer Übergangszeit, in der Verhalten normiert wurde. Fehlverhalten konnte auf diese Weise wie eine Krankheit kuriert und als Fremdes abgestoßen werden, ohne daß die ‚eigentliche‘ Persönlichkeit – der „Charackter“, wie es im zitierten Brief heißt – Schaden nahm. Hypochondrie und Aufklärung Schon im Zusammenhang des bürgerlichen Leistungsprinzips geriet der Körper als Grenze, als defizitäre Maschine in den Blick, denn das Ideal permanenter Arbeitshöchstleistung scheiterte – so jedenfalls die proklamierte Verhaltensnorm – nicht am Willen des Bürgers, sondern an dessen begrenzten körperlichen Kapazitäten. In derselben Weise wurde der Körper angesichts des bürgerlich-aufklärerischen Vernunft- und Autonomiestrebens wahrgenommen. Jede leibliche Regung galt per se als pathologisch – ein vorzüglicher Nährboden für das hypochondrische Körperverhältnis.44 Auch im Briefwechsel Jacobis imponiert der Körper als persistierende Anfechtung des autonomen, rational kontrollierten, in jedem Moment seiner selbst vollkommen mächtigen Subjekts. Die vernunftkritische Position Jacobis verstärkt diese gesamtaufklärerische Tendenz weit eher, als daß sie sie mäßigt. In der Abwehr des Körpers als eines „Anderen“ nämlich kommen Rationalismus und Empfindsamkeit durchaus überein, ja der neuplatonistische Kult der „schönen Seele“ muß sogar als deutlich leibfeindlicher angesehen werden. Der Körper stellt, so die Perspektive Jacobis, die erstrebte, tendenziell in einem totalen Sinne begehrte Autonomie und Freiheit permanent in Frage; er offenbart das Verfallensein selbst noch des als unkörperlich supponierten Geistes an den Körper. In diesem Sinne schreibt Jacobi am 14. Februar 1791 an seinen jährigen Sohn Georg Arnold: Wenn ich irgendwozu Lust hätte, liebster George, so wäre es zu einer Jammerrede über die Sklaverey des Menschen. Die politische drückt mich wenig; aber die physiologischmoralische martert mich oft bis zum Verzweifeln. Was helfen alle Künste der empirischen, u alle Spontaneitäten u Causalitäten der reinen Vernunft, wenn der Cörper verstimmt ist, und das executive Vermögen unserer Constitution dem legislativen alle Dienste versagt? Ein heiliger Petrus müßte kommen, daß er einem die Hände auflegte; so würde man zugleich gesund u frey45.

Im darauffolgenden Jahr beschreibt Jacobi abermals recht eindringlich dieses Schreckgespenst der Fremdbestimmung:

44 Vgl. Böhme/Böhme 1983, 41, 410. 45 Brief an G. A. Jacobi vom 14..1791 (Handschrift: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). – Die Aussage, daß ihn die politische „Sklaverey“ wenig drückt, läßt sich nicht aufrechterhalten und muß daher wohl dem Adressaten bzw. der Furcht vor Zensur zugeschrieben werden.

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Weil uns oft der Abend die Empfindungen, Entschlüsse, Ansichten raubt, die uns der Morgen gegeben hatte; weil wir unsere eigenen Wünsche, unsern Charakter, unsre Person nicht festhalten können; weil Regen und Sonnenschein, feuchte und trockene Luft, körperliches Befinden, Gesellschaft und Umstände so gewaltig auf uns einfließen; deßwegen klagen wir und mit Recht über Sclaverei. Sie irren, mein Freund, wenn Sie glauben, daß irgend ein Mensch hierüber nicht zu klagen habe. Wir alle sind Gefangene der Erde, und keiner […] ‚keiner kann beständig seyn, es gebe es ihm denn Gott.‘46

Hypochondrie und Schriftkultur Damit ist bereits der zentrale Aspekt des dritten und letzten historischen Bezugspunktes, der Verschriftlichung, benannt. Schrift nämlich zeichnet sich gegenüber mündlicher Mitteilung dadurch aus, daß sie beständig, permanent ist. Es liegt daher beispielsweise nahe, die sich zu ebenjener Zeit im Medium der Schrift – man denke etwa nur an die Verbreitung von Briefen, Tagebüchern und Autobiographien – herausbildende Identität als einen Effekt dieser Suggestion der Schrift zu deuten: Die Permanenz der Schrift unterstellt eine ebensolche Beständigkeit biographischer Zusammenhänge. Die Idee eines Selbst, das im Denken oder im Gedächtnis fortdauert, das gelegentlich ans Tageslicht geholt und geprüft wird, kann ohne den Text nicht existieren. Wo kein Alphabet ist, da kann weder ein Gedächtnis sein, das als Vorratskammer betrachtet wird, noch ein ‚Ich‘ als dessen berufener Wächter. Das Alphabet macht beides möglich, Text und Selbst – wenn auch nur allmählich –, und sie wurden schließlich zu sozialen Konstrukten, auf die wir all unsere Wahrnehmungen als schriftkundige Menschen gründen47.

Was hier für die Zeit der Durchsetzung des Alphabets formuliert ist, hat auch für das 18. Jahrhundert Gültigkeit. Insbesondere Albrecht Koschorke hat auf die Gleichzeitigkeit von Subjektkonstitution und Verschriftlichung aufmerksam gemacht und festgehalten, daß „subjektive Identität sich überhaupt erst im Spiegel der Beständigkeit der Schrift als pädagogisch-autobiographische Konstruktion herstellt“48. Wie aber, wenn die mit dem Medium der Schrift verknüpfte Phantasmatik des Permanenten und Beständigen49, des Festhalten- und Stillstellen-Wollens, sich auch in der Körperwahrnehmung niedergeschlagen hätte? Muß nicht der Körper, insbesondere unter dem Aspekt der Nahrungsaufnahme, Verdauung und Ausscheidung, als die Anmahnung des Nicht-Beständigen schlechthin angesehen werden? In diesem Sinne konstatiert der Naturforscher Georg Forster, ein zeitweilig enger Briefpartner Jacobis: Doch ist hienieden keine Gestalt, so wenig als der Mensch selbst, beständig. Unsterblichkeit gab die Natur keinem zusammengesetzten, zerbrechlichen Körper. Der Stoff, aus

46 Brief an N…. vom 1.6.179 (Roth 185–7, II, 88 f.). Die zitierte Briefstelle verweist auf die Präsenz der antiken Lehre von den „sex res non naturales“ im 18. Jahrhundert. Vgl. hierzu den schönen Aufsatz von Coleman 1974 sowie Emch-Dériaz 199. 47 Illich/Sanders 1988, 84; vgl. auch 10 sowie Assmann 1985, 108. 48 Koschorke 1994, 67. 49 Zum Beständigkeitsideal – vor allem der Puritaner – vgl. auch Leites 1988.

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Carmen Götz welchem sie bestehen, ist in ständiger Bewegung. So ist zum Beyspiel in allen organisirten Geschöpfen das Wirken ihrer ihnen eingepflanzten Grundkraft, wodurch immer einige Theile abgesondert, neue dem Körper angeeignet werden, zugleich die erste Ursache ihrer endlichen Auflösung50.

Mußte somit angesichts des aufklärerisch-empfindsamen Strebens nach Beständigkeit, Identität und letztlich sogar Unsterblichkeit nicht alles mit dem Verdauungsvorgang Verbundene zwangsläufig negativ konnotiert und folglich pathologisiert werden? Die Hypochondrie als Krankheit des Verdauungsapparates wäre dann möglicherweise ein Effekt dieses Beständigkeitsphantasmas. Daß ihre Symptomatik insbesondere in heftigen und qualvollen Blähungen bestand51, verwundert vor diesem Hintergrund letztlich nicht, denn Blähungen werden erst dann zu einem Problem, wenn man bestrebt ist, sie festzuhalten. Der drohenden Ruchbarkeit des memento mori versuchte man, durch den exzessiven Gebrauch von Viszeralklistieren zuvorzukommen. Dies war jedenfalls – und zwar durchaus noch in den Bahnen höfischer Praktiken und antiker Krankheitskonzepte5 – die von dem Arzt Johann K. Kämpf empfohlene und durch Publikation und Praxis weit verbreitete Therapieform gegen Hypochondrie. Von deren Popularität legt nicht zuletzt der intensive Briefwechsel zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Johann Georg Hamann nachhaltig Zeugnis ab53. Ausklang Geht man von der Annahme aus, daß auch der Körper im historischen Kontext konstruiert wird54, so liegt es, insbesondere im Falle von Modekrankheiten, nahe, nach Zusammenhängen zwischen dem Zeitgeschehen und der Krankheit zu fragen. Im vorliegenden Beitrag geschah dies am Beispiel der Hypochondrie als einer Modekrankheit der Aufklärungszeit. Die am Leitfaden der Bezugspunkte Bürgerlichkeit, Aufklärung und Schriftkultur entwickelten Ausführungen sollten zeigen, in welchem Ausmaße Krankheit – insbesondere in Schwellenzeiten – die zeitgenössisch wirksamen Konstrukte und Phantasmen reflektiert.

50 Georg Forster, „Ein Blick in das Ganze der Natur (1779)“, in: Forster 1958 ff., VIII, 77–97, 87. 51 Vgl. Fischer-Homberger 1970, 15. 5 Vgl. Appelt 000, 39 f. u. 110 f. 53 Man vergleiche insbesondere die Briefe Hamanns an Jacobi vom 3.–4.5.1786 (Hamann 1955–79, VI, 378), vom .6. u. 1.7.1786 (VI, 44), vom 7.8. u. 3.–5.9.1786 (VI, 537, 539) und vom 4.–9.11.1786 (VII, 39). 54 Sehr weit geht diesbezüglich Barbara Duden unter Berufung auf Gaston Bachelard (vgl. Duden 1987, 18 f.). Vgl. aber auch Sarasin 001, 11–17.

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Bibliographie: Quellen Forster, Georg: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bzw. der Akademie der Wissenschaften der DDR bzw. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1958 ff.) Hamann, Johann Georg, Briefwechsel. Hrsg. von Walther Ziesemer/Arthur Henkel, 7 Bde. (Wiesbaden, Frankfurt a. M. 1955–79) Jacobi, Friedrich Heinrich, Briefwechsel. Gesamtausgabe. Begründet von Michael Brüggen u. Siegfried Sudhof. Hrsg. von Michael Brüggen, Heinz Gockel, Peter-Paul Schneider, bzw. von Walter Jaeschke (Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 ff.) [= JBW] – Eduard Allwills Papiere. Faksimiledruck der erweiterten Fassung von 1776 aus Chr. M. Wielands „Teutschem Merkur“. Mit e. Nachwort von Heinz Nicolai (Stuttgart 196) Jacobi, Max (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi (Leipzig 1846) Möser, Justus, Briefwechsel. Neu bearb. von William F. Sheldon in Zusammenarbeit mit HorstRüdiger Jarck u. a. (Hannover 199) Ratjen, Henning (Hrsg.), Johann Friedrich Kleuker und Briefe seiner Freunde (Göttingen 184) Reinhold, Ernst (Hrsg.), Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken, nebst einer Auswahl von Briefen Kant’s, Fichte’s, Jacobi’s und andrer philosophirender Zeitgenossen an ihn ( Jena 185) Roth, Friedrich (Hrsg.), Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel.  Bde. (Leipzig 185– 187) Sudhof, Siegfried (Hrsg.), Der Kreis von Münster. Briefe und Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer Freunde. 1. Teil [1769–1788].  Bde. (Münster 196–64) Wiedemann, Konrad (Bearb.), Die Bibliothek Friedrich Heinrich Jacobis. Ein Katalog.  Bde., Friedrich Heinrich Jacobi, Dokumente zu Leben und Werk 1 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1989) Zoeppritz, Rudolf (Hrsg.), Aus F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz.  Bde. (Leipzig 1869)

Literatur Appelt, Beate: „Les vapeurs“: Eine literarische Nosologie zwischen Klassik und Romantik. Kulturgeschichtliche Untersuchung, literarische Analyse und bibliographische Dokumentation (Frankfurt/Main u. a. 000) Assmann, Aleida, „Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele“, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985) 95–110 Barthel, Christian, Medizinische Polizey und medizinische Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert (Frankfurt/Main u. a. 1989) Begemann, Christian, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts (Frankfurt/Main 1987) Bilger, Stefan, Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727–1799) (Würzburg 1990) Böhme, Hartmut/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants (Frankfurt/Main 1983) Busse, Walter, Der Hypochondrist in der deutschen Literatur der Aufklärung (Phil. Diss. Mainz [masch.] 195) Coleman, William, „Health and Hygiene in the Encyclopédie: A Medical Doctrine for the Bourgeoisie“, Journal of the History of Medicine 9 (1974) 399–41 Duden, Barbara, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730 (Stuttgart 1987)

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Emch-Dériaz, Antoinette, „The non-naturals made easy“, in: Roy Porter (Hrsg.), The Popularization of Medicine 1650–1850 (London 199) 134–159 Fischer-Homberger, Esther, Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder (Bern 1970) French, Roger K., Robert Whytt, the Soul, and Medicine (London 1969) Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen (Frankfurt/Main 1985) Illich, Ivan/Barry Sanders, Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität (Hamburg 1988) Koschorke, Albrecht „Alphabetisation und Empfindsamkeit“, in: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (Stuttgart u. a. 1994) 605– 68 – Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts (München 1999) Lachmund, Jens/Gunnar Stollberg, „Zur medikalen Kultur des Bildungsbürgertums um 1800. Eine soziologische Analyse anhand von Autobiographien“, Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 6 (1987) 163–184 Leites, Edmund, Puritanisches Gewissen und moderne Sexualität (Frankfurt/Main 1988) Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft (Frankfurt/Main 1969) Losurdo, Domenico, Hegel und das deutsche Erbe. Philosophie und nationale Frage, zwischen Revolution und Reaktion (Köln 1989) Müller, Lothar, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ (Frankfurt/Main 1987) Mullan, John, Sentiment and Sociability. The Language of Feeling in the Eighteenth Century (Oxford 1988) Rousseau, George, „Discourses of the Nerve“, in: Frederick Amrine (Hrsg.), Literature and Science as Modes of Expression, Boston Studies in the Philosophy of Science 115 (Dordrecht u. a. 1989) 9–60 – „Cultural History in a New Key: Towards a Semiotics of the Nerve“, in: Joan H. Pittock/ Andrew Wear (Hrsg.), Interpretation and Cultural History (London 1991) 5–81 Sarasin, Philipp, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914 (Frankfurt/Main 001) Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente (Stuttgart 1974) Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts (Stuttgart 1977) Vila, Anne C., Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of EighteenthCentury France (Baltimore, London 1998)

„Ich habe zu leiden gelernt, Madame!“ Rousseau und der Briefdiskurs über Krankheit Anne-France Grenon

„Ich habe zu leiden gelernt, Madame! Diese Kunst macht es unnötig, die Genesung zu erlernen, und sie besitzt nicht deren Beschwerlichkeit.“ Auf diese Weise wendet sich Rousseau in einem Brief vom 27. Januar 1763 an Marie-Anne de La Tour. Mit solchen oder ähnlichen Worten, die in seiner Korrespondenz weit verbreitet sind, äußert Rousseau die stoische Einstellung, die er gewählt hat, um einem Übel entgegenzutreten, von dem er unablässig sagt, daß es auf seine Geburt zurückgehe und von keinem Arzt geheilt werden könne. Rousseau ist ein unheilbarer Kranker. Die Krankheit ist ein Zug seiner Persönlichkeit und zugleich eines der Fundamente seiner Beziehung zur Welt und zu den Menschen. Diese durch die Krankheit affizierte und mediatisierte Beziehung ist es, die hier untersucht werden soll. In der Tat, wenn die Krankheit den Körper des Briefschreibers affiziert, hat auch die Aussageinstanz dieses Körpers, das briefschreibende Ich, von Natur aus eine schwache Konstitution, denn anderen Menschen zu schreiben, bedeutet für Jean-Jacques nicht mehr und nicht weniger, als einen Verlust der Unabhängigkeit zu erfahren, indem er bei jedem geschriebenen oder erhaltenen Brief wiederholt, daß er nicht ganz für sich sein kann. Im übrigen schreibt der Brief – als Rede, die an ein Wesen gerichtet ist, dessen Wirklichkeit ein Name bezeugt – die Beziehung zum Anderen in die Ordnung des Realen ein und mehr noch in die Ordnung des Begehrens. Dabei geht es nicht nur um sein eigenes Begehren, sondern auch um das nicht beeinflußbare Begehren des Anderen. In diesem Sinne drückt die Rede über die Krankheit in konstruktiver Weise die Erfahrung eines Leidens aus, welches das Begehren des Anderen ist, bzw. das Andere des Begehrens. Und auf die gleiche Weise, wie in der Rede über die Krankheit eine Erfahrung des Leidens als Begehren verarbeitet wird, bestimmt die Erfahrung des Begehrens in ihren unterschiedlichen Formen die Beziehung zur Krankheit und zur Rede des briefschreibenden Ichs. Krank zu sein bedeutet Beistand zu benötigen. Dies zu sagen, heißt für Rousseau, seinen Adressaten um dieses Notwendige zu bitten, das er selbst sich zu geben nicht in der Lage ist. Rousseau entwickelt das Thema des Mangels und des Bedürfnisses schon in den ersten Briefen seiner Korrespondenz, insbesondere in denen, die er seinem Vater in den Jahren 1731–1735 schreibt. Gegenüber dem Vater, der in seiner Zuneigung sehr zurückhaltend ist, wagt Rousseau kaum, sich als krank zu bezeichnen:

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Rousseau an Marie-Anne Alissan de La Tour, Motiers, am 27.1.1763, in: Leigh, R. A. 1965–1998, XV 104.

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Anne-France Grenon Ich weiß nicht, ob es der Mühe wert ist, Ihnen zu sagen, daß ich seit Beginn des Jahres einer außergewöhnlichen Mattigkeit verfallen bin. Meine Brust ist betroffen, und es gibt Anzeichen, daß sich dies bald zu einer Schwindsucht auswachsen wird. Die Pflege und die Güte von Madame de Warens stützen mich und verlängern meine Tage. Ich setze alle Hoffnung in ihr Mitleid und ihre Barmherzigkeit, und dies tut mit gut.2

Rousseau informiert seinen Vater über seine Krankheit weniger in der Hoffnung, von ihm mehr Zärtlichkeit zu erlangen, als in dem Wunsch, daß er diejenige der ihn pflegenden Madame de Warens anerkennen möge. Als Zeichen der unsicheren Beziehung zwischen Rousseau und seinem Vater wird die Krankheit nur zögerlich ausgedrückt. Und wäre Madame de Warens nicht da, fiele die Erfahrung der Krankheit auf sich selbst zurück, als unmögliches Objekt der Rede, als reine Heimsuchung des körperlichen und seelischen Schmerzes, den eine Brust – bzw. ein Herz – aus Mangel (an Zuneigung) erleidet. In diesem Sinne ist eine der wesentlichen Funktionen der brieflichen Rede über die Krankheit, dem kranken Körper einen Empfänger zuzuweisen, einen (kor)respondierenden Körper, dem gegenüber Rousseau seinen eigenen seit der Geburt beeinträchtigten Körper, dessen „Seele sich selbst entfremdet“ hat, in einen Sprachkörper verwandeln kann. Nach der Trennung von Madame de Warens schreibt ihr Rousseau mit dem Ziel, ein ebenso detailliertes wie erschütterndes Bild von seiner Gesundheit zu zeichnen, und beklagt die schlechten Nachrichten, die ihm die ‚Maman‘ von der ihren übermittelt. Das heißt nicht, daß Rousseau in Gesellschaft seiner Ersatzmutter nicht krank wäre, oder daß diese in seiner Anwesenheit nicht durch allerlei Übel geplagt würde, die Krankheit wird jedoch im wesentlichen als Preisgabe des Körpers aus der Fürsorge des anderen empfunden. Und die von Madame de Warens behandelte Krankheit ähnelt so, als Erfahrung eines Leidens in den Grenzen des Genusses, einem Aufenthalt auf der Insel der Lotophagen. Aber fern von Madame de Warens wird Rousseau durch den kranken Körper der Feindschaft der Welt und der Qual ausgesetzt, und beide verschmelzen in einer einzigen Erfahrung: Die Ärzte und ihre Medikamente sind teuer und helfen nicht, das Leben ist unbezahlbar. Sodann bringt das briefschreibende Ich, seine Referenzen bei Galen entleihend, die Macht zum Ausdruck, welche die Krankheit besitzt, den Körper und die Wirklichkeit unerträglich werden zu lassen, indem sie den einen in eine ätiologische Aussage und die andere in ein nosologisches Tableau verwandelt. Die Rede entspringt also einem Körper, den das quälende Gefühl ermattet und krank macht, dem vergeblich begehrten Anderen entzogen zu sein. Das Briefschreiben wird jedoch zur Notwendigkeit, weil es, als Suche nach einem (kor)respondierenden Körper, den begehrten Körper mit dem kranken verbindet und beide als ein einziges Objekt der Sprache, als Einzigkeit des Begehrens, entstehen läßt: zwei Körper in einem. Die Nostalgie eines solchen Zustands hat Rousseau oftmals ausgedrückt. Und diese Leidenserfahrung findet in den Briefen, die Rousseau 1757 an Madame d’Houdetot schreibt, ihren Höhepunkt: 2

Jean-Jacques Rousseau an Isaac Rousseau, Frühjahr 1735, in: Leigh, R. A. 1965–1998, I 25.

Rousseau und der Briefdiskurs über Krankheit

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Ich beginne, unter der Wirkung der schrecklichen Erregungen zu leiden, die Sie mich so lange Zeit verspüren ließen. Sie haben mein Herz, meine Sinne und mein ganzes Wesen erschöpft, und in der Qual der grausamsten Entbehrungen empfinde ich die Niedergeschlagenheit, die dem Übermaß der sanftesten Freuden folgt. Ich spüre zugleich das Bedürfnis nach allen Wohltaten und die Schmerzen aller Übel. Ich fühle mich elend, krank und traurig; Ihr Angesicht kann mich nicht mehr ermuntern, das Übel und der Kummer verzehren mich. Und doch denkt mein Herz in diesem Zustand der Zerrüttung an Sie und kann nur an Sie denken. Ich muß Ihnen schreiben; aber mein Brief wird von meinem Schmerz Zeugnis ablegen.3

Die Leidenserfahrung, die Rousseau hier beschreibt, indem er das Thema der Krankheit entwickelt, ist diejenige der Leidenschaft, durch die der Körper dem Fleisch und dem Herzen ausgesetzt wird. Mehr noch, der Zustand des körperlichen Leidens stellt zugleich den Anfangs- und den Endpunkt des Briefschreibens dar. Der Brief ist die Quelle, an der das schreibende Ich, der Fürsprecher des leidenden Körpers, sich zugleich verdirbt und erquickt und durch die der Schrift eigenen Ambivalenz, welche der Anwesenheit und der Abwesenheit gleichermaßen Form gibt, sowohl befriedet als auch zerrissen wird. Der Briefwechsel zwischen Rousseau und Madame de Warens sowie Madame d’Houdetot stellt gleichsam eine Krisis der Rede über die Krankheit dar, denn diese stützt den Ausdruck einer Leidenschaft des Begehrens, dem sich der Korrespondent entzieht. Aber selbst im Rahmen der Briefbeziehung, in der sich die Spannung des Begehrens umkehrt – Rousseau zum begehrten Wesen und der Briefpartner zur begehrenden Instanz wird –, zeigt sich Rousseau anfällig, den Angriffen des Leidens und der Krankheit ausgeliefert. Hier hat die Krankheit allerdings eine zweideutige Funktion, sie stört und beschränkt den Briefwechsel und ist zugleich dessen Motor: Wenn Rousseau nicht krank wäre, hätten seine Korrespondenten nichts, worüber sie ihm schreiben könnten. Marschall de Luxembourg und seine Frau, die Rousseau in Montmorenci aufgenommen und ihm, seinen eigenen Worten zufolge, „das Leben gerettet“ haben4, schreiben ihm ebenfalls zahllose Briefe. Zum größten Teil handeln sie von Krankheit und Gesundheit, und Rousseau ist über ihre Schnupfen und Koliken bestens informiert, während er selbst aufgefordert wird, sie über seine Leiden in Kenntnis zu setzen. Tut er es nicht, und erfahren die Eheleute de Luxembourg über andere Wege von seinem Nasenbluten, seinen Halsentzündungen, seinen Erkältungen, seinen Verstopfungen (usw.), so erreicht ihn umgehend ein Brief, der ihn auffordert, schnellstmöglich seinen Gesundheitszustand genau zu beschreiben und sie – gleichsam per Brief, der zu einer Art Krankheitsbericht wird – regelmäßiger aufzusuchen. Rousseau gibt solcher Fürsorge gerne nach und liefert die gewünschten Antworten. Er betont aller3 4

Rousseau an Elisabeth-Sophie-Françoise-Lalive de Bellegarde, Gräfin d’Houdetot, Anfang Juli 1757, ebd. IV 225. „Monsieur und Madame de Luxembourg wünschen mich zu sehen, um die Wirkung zu beurteilen, die ihre Fürsorge und ihre Zärtlichkeit in meinem leidenden Herz hinterlassen haben. Ich stand dem Tode nahe; ohne sie wäre ich sicher vor Trauer gestorben, sie haben mir das Leben gerettet, es ist absolut gerecht, daß ich sie liebe.“ Rousseau an Malesherbes, 28. Januar 1762, in: Gagnebin/Raymond 1976, I 1144.

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dings die gemeinsame Abmachung, daß er nur dann von seiner Gesundheit sprechen soll, wenn er glaubt, darüber etwas sagen zu können. Er legt nahe, daß der Brief, auch wenn er so rein wäre, daß er einem weißen Blatt gliche, ebenso bedeutend sei und ebenso stark das Band ausdrücke, das sie vereine. Denn über den Austausch von Neuigkeiten hinaus kommt es Rousseau und seinen Gastgebern darauf an, sich wiederholt gegenseitig zu versichern, daß sie füreinander die ihren Herzen nahestehendsten Wesen seien, ganz als bestehe ein Zweifel, den die Briefe in ihrer ermüdenden Wiederholung nicht ganz ausräumen könnten. Die Eheleute de Luxembourg geben sehr darauf Acht, Rousseau nicht zu verpflichten. Alles geschieht jedoch, als ob er ihnen einen Briefverkehr schuldig wäre, der fast ausschließlich auf die Gesundheit konzentriert ist, bzw. auf den verletzbaren Körper, der, wenn er nicht krank ist, es sein kann, es gewesen ist oder sein wird (usw.) und also umsorgt werden muß. In der Rede über die Krankheit, deren Form hier nicht gewöhnlicher sein könnte, wird ein Akt der Huldigung ausgeführt, eine Übertragung des Abhängigkeitsverhältnisses, das jeder Teilnehmer der Korrespondenz, aus den ihnen eigenen ideologischen Gründen, die gerade die Grenze des Austausches beschreiben, unkenntlich zu machen sucht. Auf diese Weise läßt sich hinter der scheinbaren Empathiebeziehung, die diese Briefe darstellen, die Unruhe wahrnehmen, die durch eine Freundschaft hervorgerufen wird, welche die sozialen Grenzen überschreitet und für sich selbst das Unbehagen über das überkommene Wertesystems eines Jahrhundert zum Ausdruck bringt, „welches das der Revolutionen sein wird“. Durch die Rede über die Krankheit rechtfertigt Rousseau die Eheleute de Luxembourg und zugleich die Sorge, die sie ihm zukommen lassen. Indem sie so vertraut zu Rousseau über ihre Krankheiten sprechen, scheinen sie ihn im übrigen als ihresgleichen zu behandeln. Auf der anderen Seite nimmt die tagtägliche Aufzählung von Fiebern, Schnupfen, Koliken, Kopfschmerzen (usw.), die durch gewiß heitere, aber konventionelle Formulierungen ausgedrückt werden, dem Briefwechsel alles Persönliche und beschränkt ihn auf die Sphäre des Körpers, der „Maschine“. Als Objekt einer unerschöpflichen Rede erlaubt es der Körper den Briefpartnern, die Illusion einer Gleichheit aufrechtzuerhalten, die durch die Unordnung der austauschbar gewordenen Subjekte erzeugt wird. Die unterschiedlichen Repräsentationsformen der großen Dame, des Marschalls, Herzogs und Pair de France sowie des tugendhaften Philosophen gehen in den Körpern auf, die den gleichen Koliken, Fiebern, Erkältungen oder, anders gesagt, den prosaischen und unhintergehbaren Gesetzen der Natur unterworfen sind. In diesem Sinne funktioniert die Rede über die Krankheit wie eine Zurschaustellung des Subjekts, das sich weigert, sich in seinen Worten zu erkennen zu geben. Während auf der einen Seite La profession de foi du vicaire savoyard sowie Le contrat social geschrieben werden und auf der anderen die Revolte der Parlements in der Normandie niedergeschlagen wird, entwickelt sich zwischen einem schwer urinierenden Philosophen und einem verschnupften Herzogspaar eine Korrespondenz, deren Autor Eugène Ionesco sein könnte. Das Ende der Geschichte ist bekannt: Die Nacht des 8. Juni 1762 um zwei Uhr morgens, die Rousseau zur Flucht aus Paris veranlaßte.

Rousseau und der Briefdiskurs über Krankheit

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Aber sich als krank zu bezeichnen, erlaubt es Rousseau im Übrigen auch, gegenüber seinen Briefpartnern eine Distanz einzunehmen und alle Zwänge abzulehnen, die, auch wenn sie die Möglichkeit des Austausches sicherstellen, nichtsdestotrotz als unerträglich oder entfremdend empfunden werden. Indem sich das briefschreibende Ich als krank bzw. unheilbar krank ausweist, oft sogar dem Tod nahe, begnügt es sich nicht damit, die Bedingungen des Briefwechsels neu zu definieren oder sich von dessen Gebräuchen auszunehmen, sondern unterwirft seinen Briefpartner der Unruhe des Begehrens. Die Krankheit, mit der Rousseau zumeist sein Nichtschreiben begründet, die Zustandsberichte, die der Krankheit Raum geben und seine Briefe ausfüllen, sowie der Tod, den sie erahnen läßt, sind die perversen Mittel, mit denen Rousseau seine Briefpartner an sich bindet. Marie-Anne Alissan de La Tour einerseits und Madame de Verdelin andererseits, deren Gemeinsamkeit darin liegt, daß sie beide schlecht verheiratet sind, sind dafür perfekte Beispiele. Im allgemeinen sehen sich die Korrespondenten Rousseaus dazu berechtigt, ihm zu schreiben, weil er krank ist, niedergeworfen „von Übeln, die das Werk der Natur sind“5, und deren Wirkungen durch die Grausamkeit und die Sünde der Menschen verstärkt werden. In den Briefen, die Rousseau empfängt, mischen sich Bewunderung, Mitleid und die mehr oder weniger direkt ausgesprochene Hoffnung, aus der Masse der Verdorbenen durch diesen einen Menschen herausgehoben zu werden, der die höchste Tugend beispielhaft verkörpert, indem er seinen Körper seinen Prinzipien unterstellt. Rousseau dagegen nimmt sich, weil er krank ist, das Recht heraus, seine Korrespondenten schlecht zu behandeln, sie durch die Seltenheit, die Kürze oder die Abruptheit seiner Antworten zu entmutigen oder, noch radikaler, ihnen nicht mehr zu schreiben. Madame de La Tour ersucht Rousseau, mit ihr in regelmäßigen Briefkontakt zu treten, weil er die Tugend verkörpert und weil er von empfindlicher Gesundheit ist: Wenn ich Sie um einen regelmäßigen Briefkontakt ersuche, so habe ich kein anderes Ziel, als von Ihrem Lichte zu profitieren und sichere Kunde von Ihrer Gesundheit zu erhalten, die mir teuer ist (…). Obwohl mir eines der beiden Ziele abhanden gekommen ist, reichte jenes, das mir blieb, um mir unseren Umgang unendlich kostbar werden zu lassen.6

Die Hartnäckigkeit und die Leidenschaft, mit denen sich Madame de La Tour auf die Gesundheit Rousseaus konzentriert – und geradezu auf ihr beharrt –, läßt der moralischen Rede keinen Platz. In Wahrheit hat die Rede über die Krankheit von vornherein einen weit höheren Nutzen. Sie erlaubt nämlich Madame de La Tour, unter dem Vorwand, Rousseau pflegen zu wollen, eine Machtposition einzunehmen und von ihm zu verlangen, daß er sich ihren Forderungen sowie ihren Gesundheitsvorschriften unterwirft: Madame de La Tour befiehlt. Mehr noch, in der Rede über die Krankheit verfängt sich der Wunsch 5 6

Ebd., 1138. Madame de La Tour an Rousseau, Paris, 9. November 1762, in: May, Georges 1998, 145.

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nach Liebe, ihre Verweigerungen und Eifersuchtsausbrüche belegen dies zur Genüge. Kaum läßt ein Brief Rousseaus etwas zu lange auf sich warten – was häufig vorkommt –, ergreift sie die Feder, um ihm ein Bild ihrer Leiden zu zeichnen, in denen sie sich verzehrt, und bittet ihn inständig, ihr doch einen Satz zu schreiben, aus dem hervorginge, daß er nicht gestorben sei. Hat sich Rousseau schließlich gefügt und – letztlich wie verabredet – seine schlechte Gesundheit vorgeschoben? Madame de La Tour zeigt sich jedenfalls beglückt, auch wenn sie in der von Rousseau vorgebrachten Entschuldigung eine Täuschung ausgemacht hat: Tausend Dank, Monsieur, für Ihren Brief, den ich in den Händen halte. So hart er auch ist, ich ziehe seine Wirkung den Sorgen vor, die ich mir Ihretwegen gemacht habe. Wenn meinem Wesen auch der Geist fehlt, so besitzt es zum Glück noch die Augen; und Ihre Schrift scheint mir sicher genug, um daraus zu schließen, daß es um Ihre Gesundheit weniger schlecht steht, als ich befürchtet habe.7

Auf diese Weise entwickelt sich von 1761 bis 1774 eine Korrespondenz, die Rousseau, so schwer sie ihm auch fällt, niemals abbrechen kann. Über lange Zeit gelingt es Madame de La Tour, sie immer wieder neu zu lancieren, insbesondere indem sie ihre eigene Gesundheit mit der von Rousseau verkettet und den Prozeß des Mitleids zu seinen Gunsten umkehrt. Sie erreicht am Ende stets, dass Rousseau ihr schreibt, um sie zu beklagen oder zu trösten. Aber die derart geschaffene Beziehung wird mit der Zeit masochistisch, die Machtposition, die Madame de La Tour durch die Rede über die Krankheit innehat, ist nur eine Maske, hinter der sie sich als tyrannisches und willentliches Opfer des frei gewählten Henkers Rousseau verhält, welcher nicht in der Lage ist, ihr in seinen Briefen zu sagen, daß er sie nicht begehrt: „Sie haben mich gelehrt zu leiden; und ich danke Ihnen dafür: Welche Wissenschaft könnte mir von größerem Nutzen sein?“8 Während das Opferverhalten von Madame de La Tour ihrer Korrespondenz mit Rousseau einen masochistischen Ton verleiht – tu mir weh, Jean-Jacques! –, nimmt diejenige mit Madame de Verdelin, in der das Motiv der Krankheit das gesamte briefliche Aussagegefüge durchdringt, eine sadistische Färbung an. Solange Rousseau in Madame de Verdelin nur eine junge Frau sieht, die Gesundheit, Geist, Geburt und Vermögen besitzt, verhält er sich ihr gegenüber geradezu gehässig. Nach ein paar Briefen allerdings, die ihre Sendungen von Köstlichkeiten aus der Saintogne beanstanden, erkennt Rousseau seine Korrespondentin an, und die beiden Briefschreiber widmen sich umgehend ihren Krankheiten und Leiden. Das Universum von Madame de Verdelin scheint allein aus Fiebern, Katarrhen, Zuständen des Unwohlseins und Schmerzen aller Art zu bestehen. Die Wesen in diesem Universum sind bettlägerig, gebrechlich, moribund. Doch Madame de Verdelin ist ihnen ergeben und stellt in den Briefen, die sie an Rousseau adressiert, eine Demut zur Schau, die sie mit einer grausamen, aber frohlockenden Hartnäckigkeit allem aufzwängt, was 7 8

Madame de La Tour an Rousseau, Paris, 2. Februar 1762, ebd., 102. Madame de La Tour an Rousseau, Paris, 23. Juli 1762, ebd., 130.

Rousseau und der Briefdiskurs über Krankheit

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auf der Seite der Lebenskraft und des Begehrens steht. Rousseau wiederum ermutigt in seinen Briefen Madame de Verdelin durchzuhalten und bringt ihr all seinen „Trost“ zum Ausdruck, den er aus ihrem Briefverkehr schöpft. Doch die Briefe, die sich Rousseau und Madame de Verdelin schreiben, stellen weniger ein Austauschverhältnis als eine Spiegelbeziehung dar, in der sich die beiden Partner auf narzißtische Weise daran ergötzen, im Brief des anderen das vergrößerte Bild der eigenen Übel wiederzufinden, den verzehrenden Widerschein der eigenen Beziehung zum Begehren. Die Rede über die Krankheit, die hier in ihrer zerrüttendsten und skandalträchtigsten Form aufscheint – die Krankheit eines Kindes, das nicht aufhört zu sterben, die Krankheit eines Vaters, der die Zukunft aller Familienmitglieder zerstört, die Krankheiten schließlich, die Madame de Verdelin in die Selbstaufgabe treiben –, erlaubt es den beiden Briefschreibern, das Schauspiel einer Tötung des Begehrens, welches sie übereinkommend mit dem Namen der Tugend bezeichnen, aufzuführen und der Lust des jeweils anderen darzubieten. So erweist sich schließlich die Rede über die Krankheit, auch wenn sie der moralischen Rede Platz läßt, als eine der wesentlichen Bedingungen für die Verwirklichung – den Erfolg (?) – der Briefbeziehung. Während die Korrespondenten bereit sind, Rousseau über seine Gesundheit zu unterhalten, werden sie ihrer Funktion enthoben, sobald ihre Briefe dem Philosophen nicht mehr den Spiegel seines Leidens darbieten. In diesem Sinne stellt die Briefbeziehung, die auf die Krankheit und das Leiden konzentriert ist, nicht allein die andere Form einer Konversation dar, welche die Entfernung unmöglich macht, oder die Ausarbeitung eines Dialogs, der Empathie hervorruft, sondern die Wiederholung eines Abendmahls, zu dem die Korrespondenten gleich Jüngern geladen sind: Es geht nicht allein darum, mit dem Leiden Rousseaus mitzufühlen, sondern in diesem die Brandmale der Tugend wiederzuerkennen, das Zeichen einer Erwählung, die sein Schicksal mit dem Christi verbindet. Bibliographie: Leigh, R. A. (Hrsg.), Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, Voltaire Foundation, 50 Bde. (Genf, Banbury, Oxford 1965–1998) Gagnebin, Bernard/Marcel Raymond (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau. œuvres complètes, Bd. 1 (Paris 1969) May, Georges (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau, Madame de La Tour, Correspondance (Arles 1998)

Chirurgie im Brief. Das Beispiel der Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) Marion Maria Ruisinger

In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Medizingeschichtsschreibung den Patienten entdeckt. Auf der Suche nach Quellen, die den „Blick von unten“ auf die Geschichte der Medizin erlauben, hat eine Textgattung an Bedeutung gewonnen, die bis dato weitgehend unbeachtet geblieben war: Die Konsiliarkorrespondenzen. Sie enthalten nicht die geistreichen Reflexionen und gelehrten Dialoge berühmter Männer, deren große Namen schon früh eine Erschließung und Publikation ihrer Briefwechsel gerechtfertigt erscheinen ließen, sie bilden vielmehr den Alltag der ärztlichen Praxis ab. Ob Kranke sich in eigener Sache an den Arzt wandten oder sich durch einen Verwandten oder einen ihrer Ärzte vertreten ließen, immer steht ihr individuelles Schicksal im Mittelpunkt der Schreiben, immer kreisen die Briefwechsel um die Körper und um die Befindlichkeiten von Personen, die leiden und Hilfe suchen. In den Konsiliarkorrespondenzen wird das kranke Individuum für uns so plastisch wie in kaum einer anderen Quelle. Wenn der Patient im Briefdialog mit dem ärztlichen Experten selbst zur Feder gegriffen hatte, dann lernen wir seine Wahrnehmung und seine Deutung von Gesund-Sein und Krank-Werden, seine Ängste und seine Lösungsversuche aus erster Hand kennen, ja wir blicken geradezu „durch seine Augen“ auf das Krankheitsgeschehen. Wenn er, wie es nicht selten der Fall war, einen Dritten mit der Korrespondenzführung betraut hatte, verlieren die Schreiben zwar den Charakter der Unmittelbarkeit, aber auch in dieser vermittelten Form bleibt der Kranke zumeist noch als Person fassbar. Damit erlauben die Konsiliarkorrespondenzen, prinzipiell gesehen, die größtmögliche Annäherung an die Patientenperspektive. Bei der Arbeit mit dieser Quelle darf man allerdings nicht vergessen, dass auch die Konsiliarkorrespondenzen, bei aller Nähe zum Patienten, nur einen Teil seiner Wirklichkeit abbilden. Der Kranke – oder dessen Stellvertreter – traf beim Schreiben eine bewusste Auswahl. Er gab nur diejenigen Informationen weiter, die der Arzt seiner Meinung nach benötigte, um das Ziel des Briefwechsels, die Linderung oder Heilung des Leidens, herbeiführen zu können. Wenn der Patientenbrief auf die Person des Adressaten hin komponiert wurde, heißt das aber auch, dass die Vorstellung, die der Kranke von dem entfernt lebenden   

Zur Entwicklung der patientenhistorischen Forschung siehe u.a. die Übersichtsartikel Wolff 998; Ernst 998. Vgl. Porter 985. Exemplarisch sei hier die von Johann Wolfgang von Goethe 88/9 besorgte Herausgabe seiner Korrespondenz mit Friedrich von Schiller genannt, die den wohl berühmtesten Einzelbriefwechsel überhaupt darstellt, vgl. dazu Sudhof 977.



Marion Maria Ruisinger

Spezialisten hatte, sich direkt auf den Inhalt des Briefes und auf das Bild, das er darin von sich und seinem kranken Körper zeichnete, auswirkte. Auf dieser Vorüberlegung aufbauend möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, wieweit die Repräsentation der eigenen Krankheit im Brief davon beeinflusst wurde, ob der Schreiber sich an einen konservativ tätigen Medicus oder einen des Operierens kundigen Chirurgus wandte. Oder, anders formuliert: Unterscheidet sich die „Medizin im Brief“ von der „Chirurgie im Brief“? Anhand der bislang vorgelegten patientenhistorisch orientierten Bearbeitungen von Konsiliarkorrespondenzen läßt sich diese Frage nicht beantworten, da sie ausnahmslos um Arztpersönlichkeiten kreisten, die nicht selbst chirurgisch tätig waren.5 Als Quelle soll mir daher die Korrespondenz eines Arztes dienen, der, durchaus ungewöhnlich für die Frühe Neuzeit, nicht nur ein erfahrener Medicus, sondern auch ein erfolgreicher Chirurgus war: Lorenz Heister. Lorenz Heister praktizierte rund fünf Jahrzehnte lang als Arzt, Chirurg und Geburtshelfer in den Universitätsstädten Altdorf und Helmstedt. Ein wichtiger Bestandteil seiner Tätigkeit war die „Praxis per Post“, die Beantwortung von Briefen, die ihm entfernt lebende Kranke oder deren Ärzte mit der Bitte um Rat und Hilfe zusandten. Heister bewahrte diese Briefe und seine Antwortnotizen sorgfältig auf. Nach seinem Tod ging ein Teil der Konsiliarkorrespondenz in den Besitz des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew (95–79) über, eines ehemaligen Studenten Heisters. Trew integrierte die Schriftstücke in seine eigene umfangreiche Briefsammlung, die heute zu den Schätzen der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg zählt.7 Dem gedruckten Katalog zufolge umfasst der zur Korrespondenz Heisters gehörige Teilbestand etwa 00 Schreiben aus der Feder von 5 Autoren sowie  Antwortschreiben Heisters.8 Dabei sind die zahlreichen Anlagen von Drittautoren sowie die in vielen Fällen auf dem Briefbogen der Anschreiben entworfenen Antworten nicht mitgezählt. Berücksichtigt man auch diese Stimmen, läßt sich die Zahl auf .95 Dokumente nach oben korrigieren, von denen wiederum 888 der brieflichen Praxis Heisters entstammen. Sie gewähren Einblick in die Krankengeschichten von 0 Frauen, Männern und Kindern9.

 5

 7 8 9

Vgl. Schnalke 997. Zu nennen wären hier die Korrespondenzen von William Cullen (Risse 97), EtienneFrançois Geoffroy (Brockliss 99), Samuel Hahnemann (Gehrke 000; Stolberg 999; Meyer 98) und August Tissot (Barras/Louis-Courvoisier 00; Stolberg 00; 99). Vgl. dazu auch Wild 00. Die bislang vorgelegten biographischen Skizzen zu Heister basieren auf den zeitgenössischen Darstellungen bei Leporin 75 und Heister 75. Eine umfassende Würdigung seiner Person steht noch aus. Die Briefsammlung Trew umfaßt mehr als 9.000 Briefe und Briefentwürfe aus dem ., 7. und 8. Jahrhundert. – Zur Person Christoph Jacob Trews und zur Geschichte des Sammlungsbestandes vgl. Schnalke 995; 997 sowie Keunecke 995. Schmidt-Herrling 90, –7. Für erste patientenhistorisch orientierte Bearbeitungen der Heister-Korrespondenz s. Ruisinger 00; 00; 00.

Chirurgie im Brief



Wie gestaltet sich das Zahlenverhältnis zwischen chirurgischen und nichtchirurgischen Briefpatienten? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss der für die weiteren Ausführungen zentrale Begriff des chirurgischen Patienten näher erläutert werden0. Die moderne Definition als eines mit invasiven Methoden behandelten Kranken ist für die hier verfolgte Fragestellung nicht tragfähig. Sie greift zu weit und zu kurz. Zu weit, weil invasive Maßnahmen wie der Aderlass oder das Haarseil zum Standard des prophylaktischen und therapeutischen Repertoirs der Humoralpathologie gehörten. Sie wurden zwar lokal appliziert, hatten aber eine ganzheitliche, auf die Säftebalance ausgerichtete Zielsetzung. Andererseits grenzt die moderne Definition alle diejenigen Kranken aus, die zwar nicht operiert wurden, deren Befindlichkeit und deren Handlungsweisen aber sehr wohl durch die Angst vor einer möglichen chirurgischen Behandlung geprägt sein konnten. Hier ist ein Perspektivenwechsel nötig, um eine praktikable Begriffsbestimmung zu erhalten. Der chirurgische Patient darf nicht als Objekt, sondern muß als Subjekt seiner Geschichte definiert werden. Es bietet sich daher an, diesen Bereich der wundärztlichen Tätigkeit als Humoralchirurgie zu bezeichnen und gegen die Lokalchirurgie abzugrenzen, die sich der operativen Behandlung regional begrenzter Krankheitsbefunde widmete. Wenn im Folgenden von chirurgischen Patienten die Rede ist, sind daher nicht nur diejenigen Personen gemeint, die sich tatsächlich einer lokalchirurgischen Operation unterzogen, sondern auch der sehr viel größere Personenkreis all derer, die mit dem Wissen lebten, dass es für ihr Leiden prinzipiell eine lokalchirurgische Therapieoption gab. Wenn man diese Definition an die 0 Kasuistiken der Heisterschen Konsiliarkorrespondenz anlegt, lassen sich  Fälle der Gruppe der chirurgischen und 5 Fälle der Gruppe der nicht-chirurgischen Patienten zuordnen. In acht Fällen ist keine sichere Charakterisierung möglich. Die beiden Kollektive halten sich in der Korrespondenz somit ziemlich genau die Waage. Ihre Vergleichbarkeit wird nicht nur durch die in etwa gleiche Größe gewährleistet, sondern auch durch eine genaue Entsprechung hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses: In beiden Gruppen überwiegen die Männer gegenüber den Frauen mit , zu . Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters ermöglicht es somit, die briefliche Selbstdarstellung von chirurgischen Patienten mit der von nicht-chirurgischen zu vergleichen. Aus der Fülle denkbarer Fragestellungen, die mit diesem komparativen Ansatz verknüpft werden können, sollen im Folgenden zwei Aspekte herausgegriffen und eingehender untersucht werden: Die Frage nach der Darstellung des Patientenwegs und der Repräsentation des Patientenkörpers.

0 Siehe dazu auch Ruisinger 00.



Marion Maria Ruisinger

Patientenweg Wenn ein Kranker sich brieflich an Heister wandte, blickte er in der Regel schon auf einen mehr oder weniger langen Leidensweg zurück. Bei allen individuellen Unterschieden weisen diese Wege ein ähnliches Muster auf. Prozessanalytisch betrachtet, erscheinen sie als eine Reihung von stereotypen Schritten und Phasen, die in ihrer Gesamtheit das Schema des Patientenwegs ergeben. Der Patientenweg beginnt mit dem Schritt vom Gesund-Sein zum KrankSein, mit der Wahrnehmung einer Veränderung am eigenen Körper oder in der eigenen Befindlichkeit, der ein Krankheitswert zugeschrieben wird. In einem weiteren Schritt wird der Kranke zum Kunden: zunächst zum Kunden auf dem allgemeinen Heilermarkt, dann, als Ergebnis eines Auswahl- und Abwägungsprozesses, zum Patienten von Lorenz Heister. Wenn dieser in die Behandlung einwilligt, kommt es zur Phase der Medizin im Brief, zur Behandlung auf dem Postweg. Als optionaler Schritt folgt in Einzelfällen das Treffen des Patienten mit Heister zum Zweck der direkten Behandlung. Im Falle der Chronifizierung des Leidens steht der Kranke vor der Wahl, diese Phase zu perpetuieren und auf Dauer in der Behandlung Heisters zu bleiben oder das ArztPatienten-Verhältnis aufzukündigen, um sich erneut als Kunde auf den Heilermarkt zu begeben. Im Falle der Heilung oder des Todes endet das therapeutische Verhältnis ebenfalls. Die Briefe der Konsiliarkorrespondenz entstammen dem mittleren Abschnitt des Patientenwegs, d.h. dem Schritt der Kontaktaufnahme zu Heister, der Phase der brieflichen Behandlung und ggf. dem Schritt zum Treffen vor Ort. Diese Entwicklung können wir durch die Briefe unmittelbar verfolgen. Für die Kenntnis dessen, was sich vorher abspielte, sind wir – ebenso wie seinerzeit Heister – auf die anamnestischen Angaben des Schreibers selbst angewiesen. Auf den letzten Abschnitt des Patientenwegs hingegen, der die optionale Behandlung vor Ort, das dadurch erzielte Behandlungsergebnis und die Auflösung des Therapievertrags beinhaltet, können wir lediglich aus sporadischen Notizen Heisters schließen. Eine Ausnahme machen nur diejenigen Fälle, die in den publizierten Fallsammlungen, den Wahrnehmungen, geschildert werden. Mit dem Wechsel von der brieflichen zur gedruckten Quelle geht allerdings auch ein Perspektivenwechsel einher: Die Wahrnehmungen erzählen die Krankengeschichte mit den Worten des Arztes zu Ende. Das Schema des Patientenwegs gilt für alle Kranken, die in der Konsiliarkorrespondenz fassbar werden, unabhängig davon, ob sie sich auf eine potentielle Operation zubewegten oder nicht. In der Art und Weise jedoch, wie sie diesen Weg im Einzelfall absolvierten und wie sie ihn in den Briefen wiedergaben, unterschieden sich die chirurgischen Patienten in mancher Hinsicht von den nicht-chirurgischen. Ein Kranker mit einem chirurgischen Leiden stand unter der katalytischen Wirkung der Angst vor der Operation und ihren Folgen. Seine Geschichte weist  Heister 75; Heister 770.

Chirurgie im Brief

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daher vielfältige Vermeidungs-Strategien auf, die darauf abzielten, sich mit der Krankheit zu arrangieren und der Operation zu entgehen. Er war, mit anderen Worten, ein besonders experimentierfreudiger und therapiebereiter Kunde auf dem Markt der medizinischen Möglichkeiten seiner Zeit. Es war für ihn aber auch von großer Bedeutung, dass der entfernt lebende chirurgische Spezialist, an den er seinen Brief richtete, sich ein Bild von den bereits durchgeführten Maßnahmen und deren Ergebnissen machen konnte, um seinerseits weitere Strategien zur Operationsvermeidung entwerfen zu können. Dieses Anliegen findet seinen quantitativen Ausdruck darin, dass die Zahl der Kasuistiken, die Auskunft über den vor der Kontaktaufnahme mit Heister zurückgelegten Patientenweg geben, in der Gruppe der chirurgischen Patienten deutlich größer ist als in der Gruppe der medizinischen Fälle. Für die sich anschließende Phase der brieflichen Behandlung selbst sind demgegenüber die internistischen Fälle die ergiebigere Quelle. Dieser Befund spiegelt die Grenzen der Chirurgie im Brief wider. Je weiter sich der Kranke auf die operative Behandlung zubewegte, desto wichtiger wurde die räumliche Nähe zwischen ihm und dem Chirurgen, sei es zur Abklärung der Operationsindikation, sei es zur Durchführung des Eingriffs selbst. Damit sistiert die Korrespondenz. Die chirurgischen Fälle unter den Briefpatienten münden signifikant häufiger in ein open end als die nicht-chirurgischen. Patientenkörper Dem internistisch vorgehenden Medicus genügte im Wesentlichen die Selbstwahrnehmung des Kranken, um eine Behandlung zu übernehmen. Hier liegt ein zweiter, wesentlicher Unterschied zum chirurgischen Fall begründet. Im 8. Jahrhundert waren nur diejenigen Leiden einer Operation zugänglich, die für einen Außenstehenden sinnlich wahrnehmbar waren, die gesehen oder ertastet werden konnten. Auch der Chirurgus stützte sich auf die verbal vermittelte Innenperspektive des Kranken. Aber er ergänzte sie durch die direkte Untersuchung des kranken Körpers, dem er mit allen seinen Sinnen Informationen zu entlocken suchte. Die körperliche Exploration und die Anwendung einfacher physikalischer Diagnoseverfahren ist in der Chirurgie des frühen 8. Jahrhunderts bereits fest etabliert. Die physische Präsenz des Kranken bildete einen konstitutiven Bestandteil für die Aufnahme einer chirurgischen Behandlung. Eine Chirurgie im Brief erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als Paradoxon. Beim Übergang vom Gespräch zum Brief, von der unmittelbaren Interaktion zur vermittelten Kommunikation, geht der direkte Zugriff auf den Patientenkörper zwangsläufig verloren. Wenn der chirurgische Kranke des 8. Jahrhunderts das Medium der Konsiliarkorrespondenz dennoch nutzen wollte, dann musste er Strategien entwickeln, die auf eine hinreichende briefliche Repräsentation seines Körpers abzielten. Erhalten die Briefwechsel, die um chirurgische Patienten kreisen, im Vergleich zu den nicht-chirurgischen Fällen dadurch einen anderen Charakter, eine größere Körpernähe?



Marion Maria Ruisinger

Der nicht-chirurgische Kranke tritt dem Helmstedter Professor in der Regel selbst als Korrespondent gegenüber. Bei verheirateten Frauen übernimmt diese Rolle zumeist der Ehemann. Die Meinung der behandelnden Ärzte vor Ort oder anderer Personen wird von dem Kranken selbst referiert, Anlagen von dritter Hand sind in der Minderzahl. Nichts weist darauf hin, dass es ein prinzipielles Problem gegeben hätte, das direkte Arzt-Patienten-Gespräch durch den vermittelten Kontakt der brieflichen Praxis zu ersetzen. An die Stelle der mündlichen Äußerungen trat das geschriebene Wort. Lediglich das Medium änderte sich, nicht aber die Quelle und der Charakter der übermittelten Information. Der Kranke beschreibt seinen Körper aus der Innenperspektive. Die Krankheitssymptome werden als dynamische oder qualitative Veränderungen des humoralen Fließgleichgewichts wahrgenommen, so z. B. in dem Brief der Frau Generalin von Bredow von 75: Von Natur bin etwas hefftigen Temperaments, und dabey sehr trocken, daß ich fast gar nicht zu einem Schweiß, oder gelinden Transpiration zu bringen bin, alles geht mir nach dem Kopffe und Verursacht mir daselbst Viele Wallungen.

Die physische Absenz des kranken Körpers wird in diesen Briefen in der Regel nicht problematisiert. Im Gegenteil, es ist sogar möglich, dass sich die Person, die zu dem kranken Körper gehört, bewusst verflüchtigt. Anonyme Briefe oder Briefe, die für einen Dritten verfasst wurden, der anonym bleiben wollte, finden sich nur bei den medizinischen Fällen, hier aber nicht selten. Die briefliche Konsultation ermöglichte eine Geheimhaltung in zwei Richtungen: Der Kranke konnte dem behandelnden Arzt gegenüber das Inkognito wahren, und er konnte durch eine diskrete Abwicklung der Korrespondenz die Behandlung vor seiner näheren Umgebung verbergen. So wurde es für den Kranken möglich, die Veröffentlichung seines Gesundheitsproblems genau zu dosieren und bewusst zu steuern. Blicken wir nun auf das Kollektiv der chirurgischen Patienten. Hier zeigt sich eine deutliche Tendenz dazu, die Korrespondenz in die Hand des behandelnden Medicus oder Chirurgus zu legen. Der Anteil von Kranken, die auf die Vermittlung der Eigen- oder Laienperspektive völlig verzichten, ist signifikant größer als in der anderen Gruppe. Dafür liegen dem Anschreiben hier häufiger Begleitbriefe aus der Feder eines weiteren Fachmanns bei. Während sich der internistische Patient als Experte für seinen kranken Körper präsentiert, hält sich der chirurgische Patient eher im Hintergrund und überläßt es dem Spezi Generalin von Bredow an Heister am 7.9.75 (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Briefsammlung Trew [UBE BT], Bredow, E. S. v. ).  So im Fall des Barons von Meisenboug, der am 5.0.7 für eine anonym bleibende, von ausgeprägtem Bartwuchs geplagte Dame an Heister schreibt und diesen ausdrücklich ersucht, „weder Meinen Nahmen undt die Umstände Meines suchens zu divulgiren oder zu decouvriren“ (UBE BT, Meisenboug , Anlage).  Als Beispiel dafür sei der Fall des Pfarrers Lauenstein genannt, der sich 75 wegen akuten Bluthustens an Heister wendet, „weil [er] dieses in Hildesheim Niemand offenbahren mag“ (UBE BT, Lauenstein ).

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alisten, die Veränderungen, die sich an seinem Körper abspielen, zu untersuchen und in Worte zu fassen. Nicht die Innenperspektive des Kranken dominiert hier das Bild, sondern die Außenperspektive des chirurgischen Blicks auf den kranken Körper. Auch der Patient versuchte, sich aus diesem Blickwinkel zu betrachten. War dies ohne Hilfsmittel nicht möglich, etwa bei einer Lokalisation der pathologischen Veränderung am Auge, im Rachen oder am Gesäß, bediente man sich eines Spiegels zur Selbstinspektion5. So berichtete C. E. Stoltze in einem Schreiben an Heister: „[..] auch kan ich im Spiegel sehen daß mir die Lincker Mandel im Halse größer wie die an der rechten Seithe verblieben, woran mir theils wann etwas vom Schnuptaback auf den Schlund fält gleichfals empfindl[ich] ist.“ Die so gewonnene eigene Anschauung des Befundes sollte die professionelle Schilderung desselben freilich nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen. Exemplarisch für die briefliche Wiedergabe des chirurgischen Blicks auf den Patienten sei der Fall einer -jährigen Dame aus Osnabrück referiert, die sich 75 wegen eines Gesichtstumors in der Behandlung des Arztes Johann Christoph Wöbeking befindet. Dieser sendet eine Beschreibung des Befundes an deren Sohn, Professor Lodtmann, nach Helmstedt, mit der Bitte, das Schreiben „Herrn Prof. Heister alß einem der grössesten chirurgo unserer Zeiten“, vorzulegen. Wöbeking schildert die Veränderung am Körper der Patientin wie folgt: Vor ohngefehr  Monathen […] eusserte sich ein tumor der Lincken Seite des Gesichtes gleich einer Rose, Welche sich zwar nach und nach zertheilet aber in dem angulo majori sinistri lateris einen tumorem formirete, fast einer Welschen Nuß [Walnuß] groß sehr feurig und hart. […] Nach weniger Zeit aber fande sich ein noch Was grössrer harter Tumor in der gantzen Nase der lincken Seite unvermuthet ein Welcher sehr harte und sehr roth und inflammiret ist, und biß auff die Leffzen [Lippen] sich extendiret. […] dabey ist noch […] daß in dem lincken Nasen Loch an dem Septo nasi ein harter tumor befindlich Welcher so obenhin vor etwas polypöses angesehen werden könte. Ich aber denselben villeicht von der übelen Beschaffenheit des Knoches herzukommen urtheilen muß.7

Die Krankengeschichte dieser Patientin ist mit 0 Schreiben überdurchschnittlich gut dokumentiert. Sie selbst kommt bei der brieflichen Verhandlung ihres Falls aber nicht zu Wort. Die Feder bleibt in der Hand des Arztes. Dieser gibt die Perspektive der Patientin nur dann wieder, wenn er von der dadurch gewonnenen Zusatzinformation eine Entscheidungshilfe für die Beurteilung des Krankheitsverlaufs und die Ausgestaltung der weiteren Behandlung erhofft. So erwähnt Wöbeking etwa die Scheu der Patientin vor einer Operation8 oder

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Vgl. etwa C. N. Graf von Bar an Heister vom 9..70 (UBE BT, Bar ) und C. A. L. v. Imhoff an Heister vom 7.5.7 (UBE BT, Imhoff ).  C. E. Stoltze an Heister, vor dem ..75 (UBE BT, Stoltze , Anlage). 7 Wöbeking an Lodtmann am .0.75 (UBE BT, Wöbeking ). 8 Wöbeking an Lodtmann am .0.75 (UBE BT, Wöbeking ); Wöbeking an Heister am ..75 (UBE BT, Wöbeking ).

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ihre zunehmenden Kau- und Schluckbeschwerden9. Trotz dieser gelegentlichen Verweise auf die Selbstwahrnehmung der Kranken wird der Briefwechsel von der Außenperspektive dominiert, von dem chirurgischen Blick auf das Gesicht der Patientin. Sie selbst verlieren wir dabei weitgehend aus den Augen. Wöbeking wählte die naheliegendste Möglichkeit, die fehlende physische Präsenz der Kranken zu ersetzen: die verbale Repräsentation des chirurgischen Körpers durch den Experten. Doch dieser Weg stieß rasch an seine Grenzen. So auch im vorliegenden Fall. Heister begnügt sich zunächst mit den Schilderungen seines Osnabrücker Kollegen, wünscht später aber, daß der Frau Patientin ihr gesicht mit dieser geschwulst und was sich sonsten wiedernatürlich daran zeigt nur mit tusch von einem Mahler oder Zeignermeister abgebildet würde, so könte ich desto beßer und gründlicher, weil ich es Persönlich nicht sehen kan, Meine Meinung darüber geben.0

Wunschgemäß übersendet Wöbeking eine mit Rötelstift ausgeführte Porträtzeichnung, „So gut alß mann die Zeichnung von einem hiesigen Mahler bekommen“. Doch die Zeichnung gibt nicht alle Aspekte des Schadens wieder, sei es wegen der etwas unbeholfenen Ausführung derselben, sei es wegen der prinzipiellen Unmöglichkeit, die haptische Komponente einer krankhaften Veränderung mit dem Zeichenstift einzufangen. Wöbeking sieht sich daher genötigt, durch eine Beschreibung des Befundes dessen unvollständige bildliche Repräsentation zu ergänzen. Dabei bedient er sich einer seit den anatomischen Schriften der Renaissance bewährten Methode, Wort und Bild zu verknüpfen: Er versieht die Abbildung mit Zahlen und wiederholt dieselben in dem von ihm beigefügten Text. Dadurch gelingt es ihm, die Sinneseindrücke, die er bei der unmittelbaren Untersuchung der Patientin gewonnen hat, mit dem Porträt der Kranken in eine eindeutige Beziehung zu setzen: es ist aber die protuberance und die Höhe des tumoris nicht accurat angedeutet, er ist aber sehr hoch. NO  ist der orth der Wunde allwo im Anfange die öffnung gemacht worden, diese Wunde ist reine, giebet anjetzo da die Salivation sich eingefunden wenig materie, und quillet in margine nicht höher. NO  so weit der gezogene Strich gehet ist der Weicheste, die übrige mit einem Striche angezeichnete mit NO  gezeichnete circumference ist gantz dicke und hart. 

Für Heister ist die gekoppelte bildliche und beschreibende Wiedergabe des Befundes eine große Hilfe. Obgleich die Abzeichnung des Schadens zwar „schon nicht eben gar zu künstlich“ sei, könne er nun doch „viel beßer als vorher von demselben urtheilen und auf die mir gemachte Fragen meine Meinung und Rath beßer geben“. 9 Wöbeking an Lodtmann zur Weiterleitung an Heister vor dem 5..75 (UBE BT, Wöbeking ). 0 Heister an Wöbeking am 8..75 (UBE BT, Wöbeking ).  Vgl. Wittern 005.  Wöbeking an Lodtmann vor dem 5..75 (UBE BT, Wöbeking ).  Antwortkonzept Heisters an Wöbeking am 5..75 (UBE BT, Wöbeking ).

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Auf Heisters Anregung hin 75/5 angefertigte Rötelzeichnung des Gesichtstumors der -jährigen Frau Lodtmann. UBE BT, Wöbeking 

Auch in anderen Fällen liegen den Anschreiben Abbildungen bei, die dem fernen Chirurgen einen ausschnitthaften Blick auf den kranken Körper eröffnen sollten. So skizziert ein besorgter Vater die Leistengeschwulst seines Babys, ein Ehemann lässt die Hornhauttrübung seiner Frau in einer kolorierten Zeichnung festhalten5, ein Bergschmied tupft mit Tusche die Flecken aufs Papier, die ihm vor Augen schweben. Freilich war man sich stets bewußt, daß auch eine noch so kunstvolle Abbildung nie so aussagekräftig sein konnte wie der physisch präsente Körper des Kranken selbst. Wer sich wegen eines chirurgischen Leidens an Heister wandte, rechnete bereits mit der Möglichkeit, dass dieser sich mit einer Beschreibung oder Abzeichnung des Befundes nicht begnügen, sondern auf einem Treffen bestehen könnte. In vielen Fällen sprach der Korrespondent, unabhängig davon, ob es sich um einen Fachmann oder um einen Laien handelte, diese Möglichkeit bereits im Anschreiben an, um eine Verzögerung der Behandlung zu vermeiden. Exemplarisch sei der Fall des Hofrats von Dauber vorgestellt, in dessem Namen sich der Physikus Friedrich Gericke aus Hildesheim am 9. Mai 7 an Heister wendet. Bei dem Hofrat hat sich ein Tumor im Bereich des Brust J. L. Strodtmann an Lorenz Heister am ..75 (UBE BT, Strodtmann, J. C. ). 5 Anonymer Status morbi vom 0..7 (UBE BT, Kanitz , Anlage).  J. A. Schläder an Lorenz Heister vor dem ..7 (UBE BT, Schläder , Anlage).

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beins entwickelt, durch den er beim „Lachen, Niesen, oder Husten auch Umwenden im Bette einen unerträgl[ichen] Schmertzen in Brust Knochen, in denen Schulterblättern und Rücken, gleichsam im circul verspühret“7. Nun wird von Heister sein „erleuchtetes gutachten“ ausgebeten. Gericke ergänzt: „Ich weiß gar woll daß solches nicht so gründlig und außführlig sein kann als wann Euer Wollgeb[oren] den Schaden in augenschein nehmen könten.“8 In diesem Fall lehnte Heister eine Fernbehandlung ab. Damit ist seine Antwort, wie Gericke zurückschreibt, „so außgefallen wie ich es vorher gesaget, dann es der geschückligkeit selber nicht möglig ist abwesend von einem eüserlichen Schaden gantz gründlig zu urtheilen, und von desem glückligen außfall Versichrung zu geben“.9 Hier gerät die „Chirurgie im Brief“ erneut an ihre Grenzen. Resümee Der Vergleich der chirurgischen und der nicht-chirurgischen Patientenkollektive der Heister-Korrespondenz führt in Bezug auf die Repräsentation des Patientenwegs und des Patientenkörpers zu folgendem Ergebnis: Chirurgische Kasuistiken blenden häufiger auf die frühen Phasen der Krankengeschichte zurück als medizinische. Sie eignen sich daher als Quelle für Untersuchungen zum Übergang von Gesundheit zur Krankheit, zum Konsumentenverhalten auf dem Heilermarkt und zur Aufnahme eines brieflichen Arzt-Patienten-Verhältnisses. Für die therapeutische Dimension der Konsultationspraxis bieten sie allerdings weniger Material als die nicht-chirurgischen Kasuistiken, in denen die briefliche Behandlung selbst dichter und vollständiger abgebildet wird. Die physische Absenz des Patientenkörpers in der brieflichen Konsultation führt zu chirurgie-spezifischen Strategien der Repräsentation. Nicht mehr der als fließend verstandene innere Körper tritt uns hier entgegen, der nur für den Kranken selbst sinnlich wahrnehmbar war, sondern der solide äußere Körper, der vom Chirurgen betrachtet und befühlt, berochen und belauscht werden konnte. In der Bemühung um ein geeignetes Surrogat für diesen chirurgischen Körper vollzieht sich daher nicht nur ein Wechsel der Perspektive, sondern auch ein Wandel der Rollenverteilung in der Korrespondenz und des zugrunde gelegten Körperkonzeptes. Der chirurgische Kranke selbst gerät bei der Bemühung, seinen Körper im Brief zu bannen, nicht selten ins Abseits. Es steht zu fragen, ob die hier aufscheinenden, tendenziellen Unterschiede zwischen dem nicht-chirurgischen und dem chirurgischen Briefpatienten auch in anderen, vergleichbaren Korrespondenzen zu Tage treten. Und es steht zu fragen, ob der hier vollzogene Wechsel von der Innen- zur Außenperspektive nur in Hinblick auf den Expertenstatus des Adressaten vollzogen wurde, oder 7 Anonymes Gutachten als Beilage zum Schreiben F. Gerickes an Heister am 9.5.7 (UBE BT, Gericke , Anlage). 8 F. Gericke an Heister am 9.5.7 (UBE BT, Gericke ). 9 F. Gericke an Heister am ..7 (UBE BT, Gericke ).

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ob die Briefschreiber des 8. Jahrhunderts den „chirurgischen Blick“ bereits so verinnerlicht hatten, dass er sich auch in privaten Briefen an andere medizinische Laien wiederfindet. Bibliographie: Barras,Vincent/Micheline Louis-Courvoisier (Hrsg.), La Médecine des Lumières. Tout Autour de Tissot (Genf 00) Brockliss, Laurence, „Consultation by Letter in Early Eighteenth-Century Paris: The Medical Practice of Etienne-François Geoffroy“, in: Ann La Berg/Mordechai Feingold (Hrsg.), French Medical Culture in the Nineteenth Century (Amsterdam, Atlanta 99) 79–7 Ernst, Katharina, „Patientengeschichte. Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie“, in: Ralf Bröer (Hrsg.), Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne (Pfaffenweiler 998) 97–08 Gehrke, Christian, Die Patientenbriefe der Mathilde von Berenhorst (1808–1874). Edition und Kommentar einer Krankengeschichte von 1832–1833 (Diss. med. Göttingen 000) Heister, Laurentius, Medicinische, Chirurgische und Anatomische Wahrnehmungen Bd.  (Rostock 75) Heister, Laurentius, Medicinische, Chirurgische und Anatomische Wahrnehmungen Bd.  (Rostock 770) Keunecke, Hans-Otto, „Die Trewschen Sammlungen in Erlangen“, in: Schnalke, Thomas (Hrsg.), Natur im Bild. Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew. Eine Ausstellung aus Anlaß seines 300. Geburtstages. Schriften der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg 7 (Erlangen 995) – Leporin, Christian Polycarpo, Ausführlicher Bericht vom Leben und Schrifften des durch ganz Europa berühmten Herrn D. Laurentii Heisteri […] (Quedlinburg 75) Meyer, Jörg, „‚…als wollte mein alter Zufall mich jetzt wieder unterkriegen‘. Die Patientenbriefe an Samuel Hahnemann im Homöopathie-Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin in Stuttgart“, Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung  (98) –79 Porter, Roy, „The patient’s view. Doing medical history from below“, Theory and Society  (985) 75–98 Risse, Günter, „Doctor William Cullen, Physician, Edinburgh. A Consultation Practice in the Eighteenth Century“, Bulletin of the History of Medicine 8 (97) 8–5 Ruisinger, Marion Maria, „Auf Messers Schneide. Patientenperspektiven aus der chirurgischen Praxis Lorenz Heisters (8–758)“, Medizinhistorisches Journal  (00) 09– Ruisinger, Marion Maria, „Lorenz Heister and the challenge of trepanation. A neurosurgical case study from the 8th century“, in: Journal of the History of the Neurosciences  (00) 8–00 Ruisinger, Marion Maria, „Der flüssige Kristall. Anatomische Forschung und therapeutische Praxis bei Lorenz Heister (8–758) am Beispiel des Starleidens“, in: Jürgen Helm/Karin Stukenbrock (Hrsg.), Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert (Stuttgart 00) 0–5 Schmidt-Herrling, Eleonore, Die Briefsammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew (1695– 1769) in der Universitätsbibliothek Erlangen (Erlangen 90) Schnalke, Thomas, Natur im Bild. Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew. Eine Ausstellung aus Anlaß seines 300. Geburtstages. Schriften der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg 7 (Erlangen 995) Schnalke, Thomas, Medizin im Brief. Der städtische Arzt des 18. Jahrhunderts im Spiegel seiner Korrespondenz (Stuttgart 997)



Marion Maria Ruisinger

Stolberg, Michael, „‚Mein äskulapisches Orakel!‘ Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 8. Jahrhundert“, Österr. Zeitschr. für Geschichte 7 (99) 85–0 Stolberg, Michael, „Krankheitserfahrung und Arzt-Patienten-Beziehung in Samuel Hahnemanns Patientenkorrespondenz“, Medizin, Gesellschaft und Geschichte 8 (999) 9–88 Stolberg, Michael, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit (Köln 00) Sudhof, Siegfried, „Brief und Gegenbrief als Problem der Brief-Edition“, in: Wolfgang Frühwald/Hans-Joachim Mähl/Walter Müller-Seidel (Hrsg.), Probleme der Brief-Edition. Kommission für germanistische Forschung (Boppard 977) 7–0 Wild, Wayne, Medicine-by-post in eighteenth-century Britain. The changing rethoric of illness in doctorpatient correspondence and literature (Diss. phil. Brandeis University 00) Wittern, Renate, „Die Präsentation des anatomischen Wissens im Buch des . Jahrhunderts“, Archiv für Geschichte des Buchwesens 59 (005) –9 Wolff, Eberhard, „Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung“, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hrsg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven (Frankfurt/Main 998) –

Für eine anthropologische und medizinische Lektüre der Briefkultur im Jahrhundert der Aufklärung Philip Rieder

Die Beständigkeit medizinischer Themen stellt eine auffallende Charakteristik zahlreicher Briefwechsel im 18. Jahrhundert dar. Dies gilt sowohl für die erhaltenen Handschriften als auch die veröffentlichten Sammlungen. Üblicherweise interessiert man sich für diese Aspekte, wenn der Autor berühmt ist und dadurch eine Facette seiner Persönlichkeit offenbart. Seine Krankengeschichte kann zu einer Variablen werden, die einen Teil, wenn nicht die Gesamtheit eines individuellen Lebensweges, den man heute als Ausnahme erachtet, zu erklären. Man kann sich noch viele andere Möglichkeiten vorstellen, aus solchen medizinischen Angaben Nutzen zu ziehen. Der Arzt oder der Wissenschaftler gibt in ihnen gelegentlich Auskünfte, die dem Kontext seiner klinischen oder wissenschaftlichen Arbeiten Tiefenschärfe verleihen; der Angehörige, der Freund oder der Kollege eines Arztes liefert wertvolle Hinweise auf dessen Praxis; der Medizinstudent offenbart zahlreiche Informationen über die Bedingungen seines Studiums oder den Unterricht seiner Professoren. Dies sind die offensichtlichsten Informationen, die in den Archiven leicht festzustellen und in einer medizinhistorischen Perspektive am einfachsten zu verwenden sind. Allerdings repräsentieren sie nicht hinreichend jene Fülle von körperlichen und medizinischen Informationen, die ein jeder gerne mitteilt. Jedes Korpus vollkommen privater Briefe zwischen Autoren ohne offenkundigen Bezug zur Welt der Medizin enthält durchgehend reichhaltige medizinischen Fakte und Informationen. Wie die bereits im 18. Jahrhundert veröffentlichten Briefsammlungen zeigen, ist es völlig üblich, Auskunft über den Gesundheitszustand zu geben und diese zugleich vom Korrespondenten zu verlangen. Ganz gleich, ob die Anspielung in einer rhetorischen Formel, in einem Austausch von Höflichkeiten oder in einer wirklichen Beschreibung zur Information des Partners auftaucht: Unsere Zielsetzung besteht darin, diese Fragmente in ihrer Gesamtheit zu begreifen, um ihren Wert für die Geschichte der Gesundheit auszuloten. Die Anzahl und die Natur der aufgeführten Auszüge fordern uns heraus, über das Verhältnis nachzudenken, das die Autoren, seien es Frauen oder Männer, zu ihrer Gesundheit unterhalten haben. Unser Ausgangspunkt ist die Idee, daß eine anthropologische Lektüre solcher Texte nicht nur sinnvoll ist, sondern auch

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Die Arbeit wurde unterstützt durch den Schweizerischen Nationalfonds (FNRS 114068111). Ich danke Andrea Carlino, Micheline Louis-Courvoisier und David Gander für die kritische lekture des Manuskripts. Vgl. Haroche-Bouzinac 199, 109 f., 99–319.

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erlaubt, den Autor bzw. die Autorin ins Zentrum der Analyse zurückzuführen. Der Bericht über den Aufenthalt des Augenarztes Joseph Frédéric Hilmer in Genf im Jahre 1749 ist für diesen Zweck aufschlußreich. Der Inhalt ist ein wenig banal, liefert aber wertvolle Informationen über eine Randfigur des lokalen medizinischen Marktes. Der Bericht, den der Genfer Pastor Amédée Lullin für seinen Freund Abraham De Crousaz (ebenfalls Pastor in der Nähe von Lausanne) verfaßt hat, erstreckt sich über vier aufeinanderfolgende Briefe. Die Geschichte beginnt mit der Analyse einer Anzeige, in der die Ankunft Hilmers bekannt gemacht wird, und endet kurz vor seiner Abreise, etwa zwei Wochen später. Lullin zeichnet den gesamten Aufenthalt in Genf detailliert nach. Er beschreibt die Prüfung Hilmers durch die Ärztezunft, bei der dieser „die ihm gestellten Fragen etwas dürftig beantwortet hat“. Trotzdem, berichtet Lullin, erhält der Okulist die Erlaubnis zu praktizieren. Es wird ohne Widerspruch von dem Prinzip ausgegangen, daß Erfahrung und Geschick seine mangelhaften theoretischen Kenntnisse aufwiegen können, eine Regel, die oft bei der Zulassung fahrender Ärzte angewendet wird3. Lullin verfolgt sodann die ersten Schritte Hilmers in Genf (Mitte August 1749). Zuerst schickt Lullin einen Bekannten vor, um ihn zu befragen: „Der von mir beauftragte Freund fügte hinzu, daß Hilmer ihn mit einer gewissen Scharlatanerie empfing, indem er ohne Grund drei oder vier Diener herbeirief, um sich wichtig zu machen.“4 Vier Tage später kann Lullin Genaueres berichten: Herr Hilmer begann in der Gaststätte „Drei Könige“ vor einer recht großen Versammlung [zu behandeln] und fuhr in Anwesenheit aller fort, die Zeuge zu sein wünschten, obwohl er die Leute nicht länger dulden mochte, die er im Verdacht hatte, das gleiche Metier wie er auszuüben.

Die öffentliche Operation fügt sich in eine wahre Werbekampagne ein, von der allein die konkurrierenden Behandler ausgeschlossen sind. Lullin betont die Selbstverständlichkeit, mit der Hilmer den grauen Star operiert. Der Kandidat benötigt keine besondere Vorbereitung, und die Operation dauert nur eine halbe Minute. Daraufhin erkundigt sich der Pastor persönlich: „Herr Hilmer 3 4 

Vgl. Louis-Courvoisier 001, 191–194. Bibliothèque cantonale et universitaire de Lausanne-Dorigny, Département des manuscrits (in der Folge abgekürzt: BCUL Dorigny), Fonds De Crousaz, VII 34. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 19. August 1749. Die eingeholten Informationen sind sehr detailreich. Lullin berichtet: „Er operiert mit Leichtigkeit und Kühnheit, doch unter allen Augenkrankheiten übernimmt er fast nur die Katarakte, von denen er keinen zurückweist, und die er alle, ob im Anfangs- oder im Endstadium, mit größtem Vertrauen entfernt. Der Patient benötigt überhaupt keine Vorbereitung. Er sieht sich seine Augen an, läßt ihn sich setzen und instrumentiert; eine halbe Minute später ist die Angelegenheit beendet. Als örtliches Mittel verwendet er eine in geschlagenes Eiweiß getränkte Kompresse, welche von Zeit zu Zeit erneuert wird. Ein anderes Mittel ist eine alkoholhaltige Flüssigkeit, von der man annimmt, daß sie zu Teilen aus gemahlenem Hirschgeweih und Ammoniaksalz besteht, mit ein wenig Kampfer und einem Pulver gegen Kopfschmerzen. Im Übrigen verordnet er nach der Operation keine Krankenkost, nur etwas Mäßigung, und er empfiehlt, den Kopf nicht zu senken. Einige

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ist zwischen  und 30 Jahre alt, sein Gesicht macht einen glücklichen Eindruck“, und ich spreche nicht von den beiden Ringen an seinen Fingern sowie den zahlreichen Dienern.“6 Er stellt den Operateur auf die Probe, indem er seine alte Haushälterin, die seit sechs Jahren blind ist, bei ihm vorstellig werden läßt. Zwei Chirurgen hatten zuvor festgestellt, daß jeder Eingriff sinnlos wäre7. „Ich habe sie zu Herrn Hilmer geführt […] Ohne zu zögern, verkündete er, wie die anderen, daß die Krankheit unheilbar sei und daß es keinen Sinn habe zu operieren.“8 Das Urteil beruhigt den Berichterstatter und spornt ihn an, seine Nachforschungen voranzutreiben. Dazu sucht er den Okulisten an seiner Arbeitsstelle auf: Ich komme soeben von Herrn Hilmer, der gerade eine Frau operiert hat, die noch neben ihm am Tisch gesessen hat und die, nachdem der Katarakt entfernt worden war, verschiedene ihr präsentierte Objekte gut sehen und aufzählen konnte. Die Assistenten haben mir einmütig bestätigt, daß die Operation nur einige Sekunden gedauert hat. Die Patientin war ruhig und schien nicht zu leiden. Ich habe den Augenarzt gefragt, ob er die Katarakte in jedem Zustand herausnehmen könne, worauf er erwiderte, daß sie weich sein müßten, wie alle ihm bislang präsentierten Fälle, von denen er bisher keinen zurückgewiesen hat. Woraus man schließen kann, daß er es mit dem Urteil über den Reifegrad nicht so schwer nimmt.9

Unglücklicherweise (für uns wie für seinen Korrespondenten) hat Lullin keine Gelegenheit, Hilmer direkt bei der Arbeit zu beobachten. In der Folge seines Berichts beschränkt er sich auf den Erfolg der durch den Augenarzt vorgenommenen Operationen. Einem seiner Briefe fügt er als Anhang gar eine (nicht erhaltene) Aufzählung der Eingriffe hinzu, wobei er betont, daß der Operateur sein Honorar dem Stand der operierten Person anpaßt10. Lullin informiert sich eifrig über den Gesundheitszustand der operierten Patienten und die Fortschritte ihrer Sehkraft. Zu diesem Zweck verfolgt er genauer den Fall eines Herrn Du Buisson. In seinem dritten Brief schreibt er: „Ich habe mir über den seiner Patienten haben stark gelitten, seitdem sie aus seiner Hand entlassen worden sind, jedoch gibt es auch andere, deren Schmerzen bereits zurückgegangen sind. Über den Erfolg kann man noch nichts sagen, allerdings wird man es bald erfahren, denn er legt eine Zeit von sieben Tagen nach der Operation fest.“ BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 349. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 3. August 1749. 6 BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 349. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 3. August 1749. 7 „Sie leidet am grünen Star“. BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 33. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 7. August 1749. 8 BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 37. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 9. August 1749. 9 Lullin fährt fort: „Darauf habe ich ihn nach seinem Schneidewerkzeug gefragt, und ob es das gleiche sei wie das von Taylor; da hat er mich in einen Nebenraum geführt, in dem zehn bis zwölf Anzüge aufgehängt waren, einer kostbarer und prächtiger als der andere. […] Er hat mir seine Messer gezeigt, die in der Tat die gleiche Form haben wie die alten, aber viel feiner und weicher sind.“ BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 349. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 3. August 1749. 10 BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 349. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 3. August 1749.

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Zustand von Herrn Du Buisson berichten lassen, es geht ihm zur Zeit gut, und er sieht selbst die kleinsten Gegenstände.“11 Einige Tage später fällt seine Beurteilung noch positiver aus: „Nicht nur Herr Du Buisson erfreut sich seiner Sehkraft. Insgesamt scheinen drei Viertel der Operationen von Herrn Hilmer zu gelingen.“1 Dieser Bericht über die Arbeit Hilmers im Sommer 1749 ist die ausführlichste mir bekannte Darstellung eines wandernden Operateurs in Genf zur Zeit des Ancien Régime. Die Episode ermöglicht es, eine Lücke in den Zunftarchiven, in denen kein Aufenthalt eines Augenarztes verzeichnet ist13, aufzudecken oder gar zu füllen. Sie vermittelt uns ein Bild von der Art und Weise, wie es Hilmer gelungen ist, Vertrauen in seine Arbeit zu wecken und sich einen guten Leumund zu verschaffen. Allerdings liegt für unsere Fragestellung das Wesentliche nicht in der Praxis von Hilmer, sondern in der Begierigkeit, mit der Lullin Erkundigungen einholt und dessen Arbeit analysiert. Er stellt hier den „laienhaften“ Experten dar, der für seinen Freund De Crousaz recherchiert. Wenn uns die Episode also viele Dinge über die Praxis eines fahrenden Arztes lehrt, so unterrichtet sie uns ebenso über die Beunruhigung eines „medizinische Laien“, der durch die Versprechen und Erfolge eines Operateurs angelockt wird. Auch beleuchtet sie die Mittel, die ein Kunde des therapeutischen Marktes einsetzt, um sich über die Fähigkeiten eines Arztes zu informieren. Und bei Hilmer handelt es sich, wie Lullin am Ende zusammenfaßt, um einen der besten: „Wenn Sie eine Operation benötigen, können Sie versichert sein, daß Sie keinen besseren Augenarzt finden werden.“ Die hier in Anschlag gebrachte anthropologische Perspektive greift den vor bald zwanzig Jahren formulierten Aufruf von Roy Porter zu einer Geschichte des Patienten bzw. zu einer Medizingeschichte von unten auf14. Der „Patient“ in einem sehr weiten (nicht-medizinischen) Sinne1 findet seit jener Zeit in den Werken und Schriften zur Geschichte der Medizin und der Gesundheit regelmäßig seinen Platz. Die Lebensgeschichte mancher Kranker sowie der Standpunkt und die Handlungsweisen einiger Benutzer der medizinischen Dienstleistungen werden in dieser Literatur angeschnitten, ohne jedoch die Frage nach 11 BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 33. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 7. August 1749. 1 BCUL Dorigny, De Crousaz, VII 37. Amédée Lullin an Abraham De Crousaz, Genf, 9. August 1749. 13 Vgl. die Archives d’État de Genève (in der Folge abgekürzt: AEG), Abteilung Gesundheit F1. Hilmer selbst beansprucht in der Folge den Titel eines Augenarztes der Republik Genf. Es ist jedoch schwer vorstellbar, daß es sich um denselben Joseph Frédéric Hilmer, den „pensionierten Augenarzt am Hof von Wien in Österreich und beratenden Augenarzt Seiner Preußischen Majestät“, handelt, dem in Mans 178 ein Gutachten ausgestellt wird, welches seine Fähigkeiten lobt. Der erste ist vermutlich der Vater des zweiten. Vgl. Delauney 19, 14 f. sowie Ramsey 1988, 140. 14 Porter 198, 17–198. Für eine aktuelle Bibliographie vgl. Stolberg 003, 94–97. 1 Der Begriff „Patient“ ist für das 18. Jahrhundert, in dem er nur selten gebraucht wird, wenig hilfreich. Er bezieht sich zumeist auf einen der Akteure in der therapeutischen Beziehung.

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einer Geschichte des „Patienten“ selbst zu stellen. Vielen dieser Werke scheint implizit eine Geschichtsauffassung zugrunde zu liegen, die noch auf den Thesen des Soziologen Nicholas Jewson aus den 1970er Jahren beruht. Vor der Entstehung der modernen Klinik, etwa zwischen 1800 und 1830 in Paris, ist der „Patient“ Herr der therapeutischen Beziehung, die im Hause oder gar am Bett des Kranken stattfindet16. Diese Auffassung ist um so einleuchtender, als die ersten Dinge, die bei der Lektüre der Schriften von Kranken ins Auge fallen, letztlich die Beständigkeit des Körpersäfteparadigmas und der alten Hygieneprinzipien sowie eine subjektiver Blick auf die Gesundheit sind. So verschmilzt das historische Bild des „Patienten“ im Ancien Régime häufig mit dem der Humoralmedizin, und die Arbeit des Historikers beschränkte sich in der Nachfolge Jewsons oft darauf, die Bedeutung dieser Realität zu beschreiben und zu erklären. Der folgende Beitrag soll demgegenüber anhand der Briefbestände explorieren, wie man diese inhaltlichen und theoretischen Verkürzungen nuancieren und stattdessen den „Patienten“ komplexer, insbesondere auch in einer diachronischen Perspektive, konzeptualisieren kann17. Modelle des Schreibens Die verwendeten Quellen – Briefe, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts verfaßt worden sind – entstammen einer komplexen Briefkultur, die durch formale, gesellschaftliche und besondere historische Konventionen geprägt war. Es ist wichtig, sich dessen bewußt zu sein, auch wenn die systematische Untersuchung der Korrespondenz als literarischer Gattung den Rahmen dieses kurzen Überblicks sprengen würde18. Hier sollen nur die Vorbilder aufgespürt werden, die die Briefautoren selbst nennen. Explizite Verweise sind selten, doch ein Name – Madame de Sévigné (166–1696) – drängt sich auf. Unter den Tausenden von Briefen, die ich durchgesehen habe, zitieren sechs Briefschreiber zumindest einmal explizit die Korrespondenz von Madame de Sévigné. Drei von ihnen unternehmen sogar eine „Pilgerfahrt“ in den Ort Grignan, wo sie mit ihrer Tochter gewohnt hat. Die Verweise zeugen von Bewunderung. Die Briefschreiber des 18. Jahrhunderts erheben die Prosa von de Sévigné zum Ideal des Schreibens. Alles läßt darauf schließen, daß die Autorin von den Korrespondenten dieses Jahrhunderts als geistesverwandt empfunden wird. Unter den sechs genannten Stellen findet sich ein Verweis auf eine Gesundheitsfrage. Im Jahre 1796 beschreibt Isabelle de Charrière (1740–180) in einem Brief an eine Freundin die Krankheit eines gewissen Alphonse Sandoz. Dieser leide, schreibt sie, unter 16 Vgl. Jewson 1976, –43. 17 Heute wird das Modell von Jewson dafür kritisiert, daß es unmittelbar von epistemologischen Betrachtungen abhängt. Vgl. Pelling 003, 3–6 sowie Rieder 003, 1–17. 18 Zu diesem Thema ließen u. a. die folgenden Studien heranführen: Altman 199, Beugnot 1990, Dauphin/Lebrun-Pezerat/Poublan 1994, Duchêne 1990, Grassi 1990, Grassi 1994, Gurkin Altman 1996, Haroche 1994, Haroche-Bouzinac 1996, Reid 1990.

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Philip Rieder einem Rheumatismus, den man akut oder entzündlich nennt. Alle Teile seines Körpers wurden nach und nach in Mitleidenschaft gezogen […] Madame de Sévigné hatte auch ihre Rheumaanfälle, und obwohl sie viel älter als Alphonse war, ist sie gut darüber hinweggekommen.19

Allerdings ist es ausnahmsweise hier nicht der Stil de Sévignés, der die Aufmerksamkeit de Charrières auf sich gezogen hat. Ihr Kommentar zeugt von der Bedeutung, die der Bericht einer Krankengeschichte in der medizinischen „Laienkultur“ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts annehmen kann. Die Tatsache, daß sie dieses Beispiel bei de Sévigné gefunden hat, wo es häufig um das Thema der Gesundheit geht, ist nicht weiter erstaunlich0. So könnte man versucht sein, die vielen Detailbeschreibungen über die die eigene Gesundheit sowie die der Angehörigen zu einer Charakteristik der sogenannten „persönlichen“ Korrespondenz zu erheben, für welche die Briefe de Sévignés den Spezialisten zufolge typisch sind.1 Die herausragende Stellung der Lektüre de Sévignés durch die Korrespondenten des 18. Jahrhunderts und das Fehlen negativer Reaktionen auf ihre zahlreichen Überlegungen zur Frage der Gesundheit legen jedenfalls die Hypothese nahe, daß die Empfindungen von Madame de Sévigné – insbesondere ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Aderlaß – mit denen ihrer Leser im folgenden Jahrhundert in Einklang steht. Diese Deutung ist allerdings in Anbetracht des Verkaufserfolgs der Briefe de Sévignés im Jahrhundert der Aufklärung naheliegend. Sie kann durch einen kurzen Vergleich anhand eines anderen Briefmodells des 17. Jahrhunderts, nämlich Guy Patin (160–167), untermauert werden. Patin ist Doktor der Medizin und ein vehementer Vertreter häufiger und gewaltiger Aderlässe3. Die Briefe Patins werden, obgleich sie hervorragend ediert sind, im 18. Jahrhundert kaum erwähnt und finden bei den Autoren der Briefe aus meinem Korpus keine Anhängerschaft4. Ich habe nur ein einziges Zitat gefunden, die zeigt, daß ihre

19 Isabelle de Charrière an Henriette L’Hardy, 6–8. Februar 179, zit. in.: Candaux u. a. 1983, . 0 Dies gilt nicht nur für die neueste Pléïade-Ausgabe der Briefe von Madame de Sévigné, sondern auch für die Teileditionen oder veröffentlichten Auszüge in den verschiedenen Sammlungen des 18. Jahrhunderts. Vgl. z. B. Sévigné 1768, Philipon de la Madelaine 1771, Richelet 1690 (Erstausgabe 1689). 1 Grassi / DuChêne  Madame de Sévignés Abscheu gegenüber dem Aderlaß ist gut dokumentiert. Vgl. Gérard 1973, 90. 3 Die Tatsache ist wohlbekannt und an zahlreichen Stellen in der Korrespondenz Patins belegt. In einem Brief an A. Falconet, datiert vom 7. Juli 1669 in Paris, berichtet Patin zum Beispiel, daß er einen unter Schnupfen leidenden Patienten siebenmal zur Ader gelassen habe. Reveillé-Parise 1846, 696. 4 Philipon de la Madelaine, der Herausgeber einer beispielhaften Briefsammlung, freut sich gar über das Vergessen Guy Patins. „Seine Briefe sind uns in fünf Bänden überliefert, doch nicht einer davon ist gut. Das ist ein Arzt, der ständig über seine Patienten spricht, ein Pedant, der bei jeder Gelegenheit etwas, allerdings ohne kritische Auswahl oder Geschmack zitiert.“ Philipon de la Madelaine 1771, 46.

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Lektüre der Empfindsamkeit am Ende des 18. Jahrhunderts zuwiderläuft. Jean-Frédéric de Chaillet (1747–1839) kommentiert in einem Brief an Isabelle de Charrière die Lettres de Guy Patin folgendermaßen: „Ich wäre nur ungern sein Patient oder sein Feind, denn ich glaube, er behandelt beide reichlich schlecht, der Aderlaß und der Rosenblütensirup mißfallen mir über alle Maßen.“6 Es wäre übertrieben, von zwei Beispielen ausgehend, Kausalitätsbezüge aufzeigen oder allgemeine Schlußfolgerungen ziehen zu wollen. Doch der offenkundige Erfolg von de Sévigné bei den Lesern des 18. Jahrhunderts spiegelt im Vergleich mit dem Scheitern von Patin auch den Erfolg einer Briefgattung, nämlich der des „persönlichen Briefs“, wider. Ich bin davon überzeugt, daß der persönliche Brief die Entwicklung begleitet, die bei bestimmten gesellschaftlichen Schichten von einer heroischen zu einer etwas sanfteren therapeutischen Kultur führt. Diese Entwicklung müßte eingehender untersucht werden. Festzuhalten ist jedenfalls, daß die Briefe eine wichtige Quelle sind, die es ermöglicht, den historischen Wandel von Werten und Erwartungen bezüglich der Gesundheit zu rekonstruieren. Hier eröffnet sich ein Weg, die Geschichte des medizinischen Laien aus der Dialektik zwischen der Zeit „vor“ der modernen Medizin und „nach“ deren Entstehen herauszunehmen. Das größte Hindernis einer solchen historischen Verwendung des Briefs besteht in der Entwicklung der Praktiken des Briefschreibens und in den Schwierigkeiten, die mit der Erstellung eines hinreichenden Korpus für die vorangehenden Jahrhunderte zusammenhängen. Das Projekt übersteigt bei weitem die Reichweite dieses Artikels, und so ist es aussichtsreicher, gezielt die Möglichkeiten der Briefbestände des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. Persönliche Briefe Die Beliebtheit der privaten oder gedruckten Briefe während des 18. Jahrhunderts ist ebenso gut bekannt wie der Charakter des „persönlichen Briefs“, der einen natürlichen Ton mit einer großen thematischen Freiheit verbindet. Diese Briefe liefern wichtige Daten für die historische Kenntnis des medizinischen Laien. Diese Informationen sind oft genauer als in anderen Schriften. Charles Bonnet zum Beispiel verweist in den 1760er Jahren an mehreren Stellen auf ein Medikament, das ihm Théodore Tronchin 1749 für seine Augen verschrieben  Einige Spuren lassen vermuten, daß Patin im 18. Jahrhundert noch gelesen wird. George Keith führt zum Beispiel eine Redeweise Patins an, die sich in einem aus Edinburgh an Rousseau adressierten Brief (vom 9. August 1763) wiederfindet. Vgl. Leigh, t. XVII, 197, 0 f., Brief 904. 6 In einem Brief vom 3. Mai 163 behauptet Guy Patin, alle Krankheiten mit Spritze, Lanzette, Kassienbaum, Sennesstrauch, Rosensirup und Pfirsichblüten heilen zu können. Vgl. Franklin 1891, 0. Chaillet bevorzugt dagegen eine heiße Zitrone, um die Folgen eines Ortswechsels zu behandeln, der „all meine Säfte durcheinandergeschüttelt“ hat. Jean-Frédéric de Chaillet an Isabelle de Charrière (März 1793), in: Candaux u. a. 1981, 3 f.

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hat, nämlich „gewöhnliches Wasser mit ein wenig Königin-von-Ungarn-Wasser7, kalt auf das Auge appliziert“8. Er irrt sich. Eine Korrespondenz aus der Zeit der Verschreibung (1749) belegt die Tatsache, daß Tronchin ihm nur kaltes Wasser verordnet hat, und daß er selbst, Bonnet, sich dazu entscheidet, ein wenig Königin-von-Ungarn-Wasser hinzuzufügen, und zwar auf Empfehlung eines „in Sachen der Optik sehr bewanderten“9 Freundes. So kann der Brief, wenn er dem berichteten Ereignis zeitlich nahesteht, eine Genauigkeit bieten, die nachträglich entstandenen Schriften fehlt. Jenseits der Frage der Genauigkeit und wegen der Fülle solcher Details bleibt das Problem bestehen, welche Bedeutung solchen Informationen beizumessen ist. Hier soll der medizinische Laie, also die Frau oder der Mann, der als Briefautor über die Gesundheit spricht, als eigenes historisches Objekt betrachtet werden. Demnach ist eine qualitative Vorgehensweise gefordert, die der Brief als verwendete Quelle, insbesondere wenn er durch andere vom gleichen Autor verfaßte Briefe begleitet wird, auch verlangt. Wenn zum Beispiel verschiedene institutionelle Quellen des Ancien Régime Informationen über die schlechte Gesundheit des einen oder anderen Schauspielers enthalten, bleiben uns die Strategien und die Kontexte, in denen diese Behauptungen aufgestellt werden, zumeist verborgen. Der Brief erweist sich hingegen als ein Raum, in dem es möglich ist, in aller Vertraulichkeit einen Standpunkt zu äußern. So erklärt Charles Bonnet in einem Brief an seinen Neffen Horace-Bénédict de Saussure, warum er es aus politischen Gründen abgelehnt hat, 1766 in die Genfer Regierung (den Petit Conseil) einzutreten. Er führt aus, daß er gesundheitliche Erwägungen vorgeschoben habe: „Ich verwies in meinem Gesuch auf meine Gebrechen, nur um sicherer zu sein, daß dem Rücktritt auch stattgegeben wird; denn diese Gebrechen waren bestimmt nicht der Hauptgrund für mein Vorgehen.“30 Die Strategie Bonnets, die auch in anderen Situationen Anwendung fand, ist vielleicht eine der Ursachen dafür, daß die schlechte Gesundheit einen so großen Platz im historischen Bild, das uns von ihm überliefert worden ist, eingenommen hat. 31 In jedem Fall erteilt uns diese Argumentationsweise weniger Auskunft über die Gesundheit Bonnets als über die Tatsache, daß ihr schlechter Zustand in den Augen seiner Zeitgenossen auch ohne die Intervention einer ärztlichen Autorität glaubwürdig ist. Bei der gewählten qualitativen Herangehensweise werden Fälle rekonstruiert und Erwartungen, Strategien und Handlungsweisen eines Individuums 7 Ein „Alkoholauszug aus Rosmarin“ gemäß Franklin. Das Mittel soll der Königin Isabelle von Ungarn verabreicht worden sein und steht in dem Ruf, gegen die Gicht und verschiedene Gebrechen helfen zu können. Vgl. Franklin 1891, 1 f. 8 BPU, Ms Bonnet 70–7, 194. Kopie des Briefs von Charles Bonnet an Professor Allamand (in Leiden), Genf, 8. August 1760. 9 BPU, Ms Bonnet 70–7, 3. Kopie des Briefs von Charles Bonnet an Théodore Tronchin (in Amsterdam), Genf, 3. Juli 17. 30 Charles Bonnet an Horace-Bénédict de Saussure. „Aus meinem Ruhesitz“, 8. Dezember 178, in: Bonnet 1948, 3 f. Hervorhebung im Original. 31 Vgl. insbesondere Barras 1994, 43.

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kontextualisiert. Im Vergleich mit den Untersuchungen anderer Einzelfälle lassen sich dann jene „minimalen Abweichungen“ des Verhaltens herausstellen, die dem Ausdruck von Giovanni Levi zufolge die „gesellschaftliche Komplexität“3 erzeugen. Diese Analyse ermöglicht es, die Fragmente der einem Briefpartner anvertrauen Lebensgeschichten zu verwenden und das „subjektive“ Individuum anstelle des „anonymen“ Kranken in den Blick zu nehmen. Die Briefe von Voltaire, Rousseau oder anderen weit weniger berühmten Personen stellen eine fruchtbare Grundlage für wahrhafte „Patienten“-Biographien dar, in denen die verschiedenen Strategien und Logiken deutlich werden, die mit dem Ziel der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit genutzt werden. Eine gute Kenntnis des Kontextes, in dem der Autor eines Briefs schreibt, erweist sich hier als nützlich. Die Briefe, die Horace-Bénédict de Saussure an Albrecht von Haller (in Bex und später in Bern) und an Théodore Tronchin (in Paris) zum Zweck einer ärztlichen Konsultation in den 1760er und 1770er Jahren geschrieben hat, sind dafür ein gutes Beispiel. Sie zeugen nicht nur von der Sorge eines Sohns für seine kranke Mutter oder von der genauen Kenntnis, die ersterer über ihre Krankheit hat, sondern vor allem auch von der Tatsache, daß die Krankheit der Mutter als schändlich (erblich) angesehen wird. Hier zeigt sich auch, daß die briefliche Konsultation räumlich entfernter Ärzte mit dem Bestreben zusammen hängt, die Natur der Krankheit nicht in ganz Genf bekannt werden zu lassen33. Medizinische Laien und Konsumenten Mit dieser Methode scheint es möglich, über die Frage nach der Rezeption der Humoralpathologie hinauszugehen und ausgehend von einer individuellen und anthropologischen Logik ein zusammenhängendes Bild dessen zu erstellen, was sich aus dem Blickwinkel des Marktes als die an die Welt der medizinischen Versorgung gerichtete Nachfrage erweist. Sollte die Medizingeschichte der medizinischen Laien nicht ein Teil der Geschichte des Konsums sein? Die Welt vor dem Monopol des akademisch ausgebildeten Mediziners ist stärker durch die empirischen Erwägungen der Konsumenten charakterisiert. Es waren damals eben nicht nur die Titel oder die Ausbildung der Ärzte, die das Vertrauen der Kranken und ihrer Angehörigen weckten, sondern auch die bekannt gewordenen therapeutischen Erfolge. Die Episode aus dem Leben von Madame de Sévigné, die von Madame de Charrière herangezogen wird, um ihre mit einer ähnlichen Empfindung konfrontierte Freundin zu trösten, und der Bericht, den Amédée Lullin vom Aufenthalt des Augenarztes Hilmer verfaßt, geben uns Auskunft über die Bedeutung und die Formen des Austauschs von Informationen bezüglich der Gesundheit. Die brieflichen Quellen bezeugen die Existenz von Netzwerken und ausgeprägten medizinischen Laienkulturen. Die Informa3 Levi 1996, 189. 33 Zum besonderen Fall Saussures vgl. Rieder/Barras 001, 01–4.

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tionen sind weder systematisch positiv noch sind die Autoren stets den Ärzten wohlgesonnen. So ergeht es zum Beispiel François-David Cabanis (gest. 1798), Maître der Chirurgie in Genf und Operateur von Katarakten, in einer Empfehlung von Charles Bonnet an Albrecht von Haller 176. Cabanis habe die Operation während seiner Ausbildung in Paris nur ein einziges Mal ausgeführt 34. So sei es wenig verwunderlich, daß der „Kranke aus Bern“, für den Haller sich erkundigt, den Entschluß faßt, es woanders zu versuchen3. Die Strategien der Konsumenten beschränken sich weder auf die medizinischen Erwägungen noch auf die bloße Erfahrung des Kranken oder seiner Angehörigen. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, kommen andere Werte, Argumente und Ansichten ins Spiel. Die individuelle Auswahl steht in einem Kontext und wird in der Form von Erwartungen ausgedrückt. Wie im Eingangsbeispiel beschrieben, bemißt Lullin im Jahr 1749 die praktischen Erfolge Hilmers, indem er sie denen des Chevalier Taylor, eines berühmten zeitgenössischen Okulisten, gegenüberstellt. Lullin geht sogar so weit, die Instrumente der beiden Operateure zu vergleichen36. Während 1749 die Wahl nur in Bezug auf die Person des Augenarztes zu treffen ist, muß sich der Pastor Théophile Rémy Frêne (177–1804) aus der Region Franches Montagnes vierzig Jahre später (1787) im Auftrag seiner Familie bei der Suche nach einem würdigen Operateur für den grauen Star der Schwiegermutter auch zwischen verschiedenen Operationsmethoden entscheiden. Zur Wahl stehen die traditionelle Operation, die darin besteht, den Katarakt durch Druck zu behandeln, das heißt, die Linse ins Augeninnere zu drücken, oder die vom Augenarzt Jacques Daviel (1693–176) im Jahre 174 erfundene Methode, bei der die Linse vom Auge entfernt wurde37. Der Fortschritt der „gelehrten“ Technik legt die Hypothese nahe, daß die Entwicklung des Konsums der Entwicklung der Produktion folgt. Doch die Präsenz anderer Variablen verweist (nach Giovanni Levi) darauf, daß der Konsum im Verlauf des Ancien Régime anderen Logiken gehorcht. 176 entscheidet sich der Patient Hallers, darauf zu warten, bis der Chirurg seiner Stadt in der Operation des grauen Stars genügend Erfahrung gesammelt hat, und 1787 weist Frêne die Dienste eines fahrenden Okulisten zurück, um sich an einen Augenarzt in seiner Nähe zu wenden, der mit dem Inselspital in Bern zusammenarbeitet. Jenseits der handwerklichen Geschicklichkeit bleibt 34 Der Patient, um den sich Haller kümmert, ist ein „Seigneur“ aus Bern. Charles Bonnet an Albrecht von Haller, Genf, 4. April 176, zit. in: Sonntag 1983, 76 f. 3 Zudem hat „ein anderer Brief als der Ihre Herrn Cabanis als zu diesem Eingriff wenig disponiert“ beschrieben. Albrecht von Haller an Charles Bonnet, La Roche, 14. Mai 176, zit. in: Sonntag 1983, 78. 36 Vgl. Anmerkung 8. Es handelt sich um den Chevalier John Taylor (1703–177). Als Chirurg und wandernder Augenarzt reist er von 1733 bis 1736 durch Frankreich, Deutschland und Holland und in der Folge durch mehrere andere Länder. 1736 wird er als Augenarzt bei Georg II. angestellt und erhält in der Folge den Grad des Doktors der Medizin in Basel, Lüttich und Köln. Vgl. Thompson 198, 8–8 sowie Porter 001 (1989), 69– 8. 37 Der epistemologische Übergang wird in Monti 1994 ausgeführt.

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es sowohl für den Kranken aus Bern als auch für die Familie Frêne der entscheidende Faktor, auf einen berühmten Mann zurückgreifen zu können, der in der Nähe ansässig ist. Der Bericht dieser drei, nacheinander von Lullin, Bonnet und Frêne niedergeschriebenen Interaktionen zwischen Augenärzten und medizinische Laien ist zwar vielleicht nicht hinreichend, um allgemeine Aussagen über die Entwicklung von Einstellungen der Akteure auf dem therapeutischen Markt zu machen. Er zeigt aber überzeugend, dass diese Zeitgenossen der Aufklärung den Markt kritisch sahen und ein gewisses Mißtrauen gegenüber wandernden Ärzten oder anderen „Scharlatanerien“ hatten. Andere medizinische Welten Die Briefe sind auch in Bezug auf die Komplexität der Welt der Gesundheit im Ancien Régime aufschlußreich. Der Briefdialog zwischen zwei räumlich getrennten Personen gibt Auskunft über die Unterschiedlichkeit der medizinischen Erwartungen in entfernten Gebieten. Einige in den durchgesehenen Briefen aufgefundene Spuren mögen genügen, um die Tragweite dieser Beobachtung anzudeuten. Die Deutschen sind, wenn man der Korrespondenz Liselottes von der Pfalz glauben darf, mißtrauischer gegenüber den Aderlässen als die Franzosen38. Dies läßt sich an verschiedenen Stellen in der Korrespondenz von Madame de Sévigné belegen39. Die Deutschen, sagt einer der Patienten von Tissot, vernachlässigen es, das Meconium40 der Neugeboren abzuführen, und diese Vernachlässigung wird als Grund für die Krankheit eines Kindes französischer Abstammung, das in deutschen Landen geboren wurde, angeführt 41. Glaubt man dem Bericht des Schriftstellers Tobias Smollet über eine lange Europareise, welcher in Briefform verfaßt ist, so schwören die Franzosen auf die Heilkräfte der Bouillon4. Die Bouillon sei in diesem Land ein verbreitetes Heil- oder Schutzmittel, sowohl als verschriebenes Medikament als auch in der

38 Vgl. Forster 1986, 308–311. 39 Madame de Sévigné beschreibt zum Beispiel die letzten Momente des Sohns des Landgrafen von Hessen, der „am Fieber gestorben ist, ohne daß man ihn zur Ader gelassen hatte. Die Mutter hatte ihm bei der Abreise aufgetragen, sich in Paris auf keinen Fall ädern zu lassen.“ Madame de Sévigné an den Grafen de Grignan, Paris, 10. Oktober 1670, zit. in: Sévigné 193, I 181. 40 Der erste Stuhl des Neugeborenen. 41 „Es ist in diesen Ländern nicht üblich, den Magen der Kinder nach der Geburt zu reinigen, auch stillen die Mütter dort selten, das Baby bekam, um sich des Meconiums zu entledigen, nur recht kalte Milch.“ Als es zur Amme gegeben wurde und einen Husten bekam, „heilte es der Arzt nicht, und ein Freund des Hauses mußte mit etwas Antimon aushelfen“. BCUL Dorigny, Fonds Tissot, IS 3784 / II / 149 01.03.09. Madame Fontanes (geb. Dent…) an Tissot, Genf, 9. Dezember 1774. 4 Smollet 1979 (1766).

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Selbstanwendung; sie wird an zahlreichen Stellen von so unterschiedlichen Autoritäten wie Madame de Sévigné und Samuel-Auguste Tissot empfohlen43. Fazit Der hier skizzierte Überblick konnte nur anhand einiger Beispiele für Lektüren der Briefwechsel Möglichkeiten für ihre Erforschung andeuten. Keine dieser Leseweisen führt für sich genommen zur Konstitution eines eigenständigen historischen Gegenstandes. Zusammengenommen zeugen sie aber von der Bedeutung der medizinischen Laienkultur für die Geschichte der Gesundheit. Diese Vorgehensweise ist mühselig, denn es reicht keineswegs, Zufallsfunde zu kollagieren. Jeder Text muß in seinen Kontext gestellt und aus der jeweiligen personalen Interaktion heraus verstanden werden. Zudem ist er mit anderen Arten von Manuskripten (oder Zeitschriften, Notizen usw.) zu konfrontieren, um aus dieser gegenseitigen Ergänzung der Quellen den größten Nutzen zu ziehen. Die Problemstellung erfordert es, Falluntersuchungen vorzunehmen und biographische Beispiele zu analysieren. Es sind solche Arbeiten, die – so aufwendig sie auch dem Forscher erscheinen mögen, die unsere Kenntnis über die Geschichte der Welt der Krankheit „from below“ voranbringt. Zurzeit sind wir von einem Gesamtbild der längerfristigen Entwicklungen des Verhältnisses zwischen der wissenschaftlichen Medizin und der medizinischen Laienkultur, zwischen den Pflegern und den Gepflegten sowie zwischen den medizinischen Professionen und der an den therapeutischen Markt gerichteten Nachfrage noch weit entfernt. Letztlich sind diese Fragen jedoch nur in der geschilderten Perspektive zu beantworten. Derzeit läßt sich zusammenfassend nur festhalten, daß der „Patient“ noch ganz unzureichend erforscht ist und seine Geschichte sehr viel genauer gefaßt werden muß. Die Vorstellung von einer Welt der „traditionellen“ medizinischen Versorgung löst sich rasch auf, sobald sie mit den oft pragmatischen Anliegen der Korrespondenten konfrontiert wird. Die Untersuchung einer Reihe von Briefkorpora ist ein Mittel, zu dieser Geschichte beizutragen und die Modalitäten aufzuzeigen, in denen der „Patient“ Verantwortung für seine Krankheiten und seine Gesundheit übernimmt. Die wenigen hier skizzierten Fährten zeigen hoffentlich, daß die Rekonstruktion der Formen des Umgangs mit der Gesundheit aus der Zeit vor der modernen Medizin eine deutliche Kontextualisierung in Bezug auf präzise kulturelle und soziale Begebenheiten verdient. Sie entkräften die Vorstellung, daß es genügt, auf die Humoralpathologie zu verweisen, um die Logik des Umgangs mit der Gesundheit zu rekonstruieren und die Wirklichkeit der medizinischen Versorgung vor der klinischen Medizin des 19. Jahrhunderts zu erklären. 43 Vgl. insbesondere Teysseire 199, 7 f. sowie Madame de Sévigné an Madame de Grignan, Les Rochers, 6. Juli [1671], zit. in: Sévigné 193, I 181.

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Diderot als medizinischer Berichterstatter in den Briefen an Sophie Volland  Odile Richard-Pauchet

Vor allem dank der Arbeiten von Benoît Melançon und Geneviève Cammagre sowie auch meiner Dissertation, sind der Briefschreiber Diderot und die verschiedenen Rollen, die er gegenüber seinen Korrespondenten einzunehmen pflegte, abwechselnd als Schönredner, Ästhet, Tröster der Verlassenen oder auch lebende Klatschspalte in den wagemutigsten Salons der Hauptstadt, bestens bekannt. Aber diese Figur von wechselnder Gestalt, die zumeist seiner bevorzugten Briefpartnerin vorbehalten ist, seiner Geliebten Sophie Volland, der er von 1757 bis 1773 fast 15 Jahre lang treu jeden Donnertag und Sonntag schreibt3, offenbart im Verlauf ihrer erstaunlichen Wandlungen noch weitere Untersuchungsgegenstände, zum Beispiel den des medizinischen Berichterstatters. Diderot verbirgt gegenüber Sophie in der Tat nichts vom Spiel seiner Launen und umgekehrt besteht er unentwegt darauf, genaue Einzelheiten über den recht labilen Gesundheitszustand seiner Freundin zu erhalten. Die begriffliche Genauigkeit, mit der er die Pathologien, die Symptome ebenso wie die entsprechenden Arzneien bezeichnet, zeugen beim Übersetzer des (1746–48 erschienenen) Dictionnaire de Médicine von Robert James zudem von einer wahren Leidenschaft für den menschlichen Körper. Ein moderner Leser könnte durch eine solche Sprache gar schockiert werden, insbesondere da das heutige Verständnis vom Individuum durch eine andere Schamschwelle geprägt ist. Allerdings ist Diderot nicht der erste, der in seinen Briefen, also in einem Kontext, in dem vor allem die Vertrautheit gegenüber dem Anderen mit der Vertautheit gegenüber sich selbst gleichkommen soll, eine solche Offenheit an den

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Mein herzlicher Dank gilt zuerst an Vincent Barras und Martin Dinges für ihre Einladung zu jenem Kolloquium, das durch die Zusammenführung von Geistes- und Naturwissenschaftlern zur Entwicklung einer fruchtbaren europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der medizinhistorischen Forschung von der Aufklärung bis heute beitragen konnte. Des weiteren möchte ich mich bei Martine Devichi (Universität Besançon) für die englische Übersetzung meines Resümees bedanken. Melançon 1996. Siehe auch Cammagre 000 sowie Richard 1999. Ich zitiere die Lettres à Sophie Volland aus der Ausgabe von André Babelon (Diderot 1930), im folgenden abgekürzt: BAB. Handelt es sich um Briefe, die Diderot an andere Adressaten gesendet hat, stammen die Zitate aus: Correspondance, hrsg. v. Georges Roth und Jean Varloot (Diderot 1955-1970), abgekürzt: Corr. [Eine Auswahl der Briefe an Sophie ist in deutscher Sprache im Reclam-Verlag erschienen: Denis Diderot: Briefe an Sophie Volland, hrsg. v. Rolf Geißler, übers. v. Gudrun Hohl, Leipzig 1986. Sofern der zitierte Brief in dieser Ausgabe vorhanden ist, wird die Übersetzung verwendet. Die entsprechenden Hinweise werden in eckigen Klammern hinzugefügt. A. d. Ü.]

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Tag legt. Alain Girard, der Theoretiker des intimen Tagebuchs4, erinnert an die Tatsache, daß bereits Montaigne in seinen Essais kein „Detail bezüglich seiner Koliken oder seiner Bäder“ aussparte, auch wenn der Kritiker hinzufügt, daß in jener Epoche „die Beschreibung einer körperlichen Krankheit nur die äußere Seite der Intimität darstellt, gleich dem, was man gewöhnlich einem Arzt anvertraut“5. Ebenfalls könnte man Madame de Sévigné anführen, die aufgrund ihrer Offenheit, der Freiheit ihrer Art zu schreiben und der Sorge um ihren Körper für Diderot ein weiteres großes Vorbild war. Die ersten an Sophie geschriebenen Briefe, insbesondere aus dem Sommer 176, sind durch ein einzigartiges Liebesprojekt gekennzeichnet, welches für Diderot darin besteht, sich der Geliebten absolut anzuvertrauen und für sie ein möglichst regelmäßiges Tagebuch in Briefform zu verfassen. Somit kann im Rahmen eines Briefs, der vorgibt, „alles zu sagen“, um den Anderen von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, das Bekenntnis über den Körper und seine Schicksalsschläge seinen Platz finden. Jean Starobinski hat in seiner Untersuchung über den „Exhibitionismus“ des kranken Rousseau auf die gleiche Funktion in den Confessions hingewiesen6. Auf der anderen Seite widmet sich Diderot an einer früheren Stelle seiner Korrespondenz (am . September 1761) einem Gedanken, der den Platz der Physiologie im Brieftagebuch vollkommen rechtfertigt. Er betrifft das enge Abhängigkeitsverhältnis, welches ihm zufolge zwischen dem Geist und dem Körper besteht: „Wenn es mir gut geht, bin ich heiter und gut gelaunt. Wenn ich moralisiere, fühle ich mich schlecht, ich verdaue schwer, und meine Gallenblase schwillt an.“7 4 5

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Vgl. Girard 1963. Melançon (1996) unterstreicht vor allem die moliereske Sprache des Schriftstellers, der zugibt, „den Schlüssel zu seinem Hinterteil“ (Corr., V 40) nicht zu besitzen, und der „seinen Korrespondenten kein einziges der oft komisch ausgemalten Details erspart“. Im Brief vom 0. Oktober 1765 zum Beispiel hat die Ideenassoziation erstaunliche Wirkungen: „Die Arbeit des Tages hatte mir am Abend großen Appetit bereitet. Ich wollte zu Abend essen, einmal, zweimal, dies gelang mit gut; doch das dritte hat für alle Male bezahlt. Ich habe mir auf die bestmögliche Weise den Magen verdorben“ (Melançon 1996, 174). Darüber erstaunt man um so mehr, als sich der Schriftsteller nach solchen Unvorsichtigkeiten gegenüber Sophie als Mentor der Gesundheit geriert: „Ihre Migräne ist auf eine Störung der Verdauung zurückzuführen. Wozu dient Ihnen die Weisheit an Ihrer Seite, wenn Sie doch alles tun, was Ihnen gefällt?“ (8. September 1761, BAB, II 38). „Woher kommt dieses Interesse für die Krankheit und vor allem dieser Eifer, sie bekannt zu machen? […] Indem er sich unmittelbar zu seinen intimsten Leiden bekennt, beweist Jean-Jacques seine Aufrichtigkeit.“ Starobinski 1971, 438-39. BAB, II 31. Diese Bemerkung unterstreicht eine lange Abstammungslinie, die von Platon über Seneca bis zu Montaigne führt. So konstatiert Michel Foucault (1983), daß bereits für die lateinischen Philosophen „die Neuigkeiten über die Gesundheit traditionell Bestandteil der Briefkorrespondenz sind. […] Manchmal geht es auch darum, an die Wirkungen des Körpers auf die Seele zu erinnern, an die Rückwirkungen durch dieselbe bzw. an die Heilung des ersten durch die Pflege der zweiten. Ein Beispiel ist der lange und bedeutende Brief Nr. 78 an Lucilius.“ Bzgl. Montaigne vgl. die Essais (III, V, 845): „Guten Gewissens glaube ich Platon, der sagt, daß die leichten oder schweren Gemütszustände einen großen

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So ist das Schreiben des Ichs, in seinem zugleich vereinheitlichenden und rationalisierenden Bestreben, nicht von einer Art Krankheitsbericht, der das Sein unentwegt zu beleuchten erlaubt, zu trennen. Im übrigen zeigt Marc Buffat bezüglich der „wissenschaftlichen“ Funktion des Sophie gewidmeten Tagebuchprojekts deutlich, daß es darum geht, ein Verzeichnis psychologischer Beobachtungen zu erstellen, ähnlich wie ein Arzt ein Verzeichnis physiologischer Beobachtungen erstellt. […] Nicht aus einem Humanismus, das heißt aus der Idee einer Einheit der menschlichen Natur, sondern aus der Selbstbeobachtung heraus wird die Ausarbeitung einer Wissenschaft des liebenden Subjekts und allgemeiner einer wissenschaftlichen Psychologie angestrebt. Sagen wir also einer Wissenschaft des Menschen. Das Ausmaß dieses Projekts ist keineswegs geringer als das der Enzyklopädie.8

Um also auf das Versprechen von Diderot zurückzukommen, seiner treuen Freundin alles zu sagen bzw. zu schreiben, scheint es mir zutreffend, an einem bestimmten Moment der Korrespondenz den gut erkennbaren Zusammenhang herauszustellen, der zwischen der plötzlichen Unterbrechung dieses „intimen Tagebuchs“ besteht, welches verstärkt aufzunehmen sich Diderot doch im Sommer 176 entschieden hatte, und dem Beginn der langen Krankheit seiner Frau Antoinette, die zum ersten Mal am 9. September 176 erwähnt wird: „Ich schreibe Ihnen einige Zeilen in aller Eile. Ich bin ganz mit Madame Diderot beschäftigt. […] So ist mein Tagebuch wieder unterbrochen worden. Ich weiß nicht mehr, wann ich es wieder aufnehmen werde“ (BAB, II 161). Diese Krankheit, welche die bis dahin dem Tagebuch gewidmete Zeit ganz in Anspruch nimmt, wird in den folgenden Briefen bis zum 31. Oktober 176 einen „regelmäßigen Bericht“ erhalten, und zwar stets an besonderer Stelle, dem Incipit. Wie ist dieser unerwartete Wandel von Inhalt und Zusammensetzung der Briefe zu verstehen? Handelt es um eine plötzliche Gleichgültigkeit gegenüber Sophie, um eine sadistische Neigung, die darin zum Ausdruck kommt, ihr die Leiden der Rivalin aufzudrängen? Oder ist hier eher ein wissenschaftliches Bestreben zu sehen, das über die Liebeskorrespondenz hinausgeht? Die Krankheit von Madame Diderot: Krankheitsberichte und Liebesstrategie Die literarische Bedeutung des Berichts über die Krankheit von Madame Diderot ist auf der ästhetischen, intimen und wissenschaftlichen Ebene unbestreitbar. Zu Anfang führt die scheinbare Gutartigkeit dieser Krankheit, deren Effekte der vermeintlichen Hysterie Antoinettes zugeschrieben werden, zu malerischen Beschreibungen, die an Molière oder Régnard erinnern („sie zeigt Arm“, „sie sieht aus wie ein Prediger“). Doch die Krankheit nimmt bald eine

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Einfluß auf die Güte oder die Schlechtigkeit der Seele besitzen. Sokrates hatte ein beständiges Antlitz, obwohl es heiter und lachend war, nicht beständig war das Antlitz des alten Crassus, den man niemals lachend gesehen hat.“ Buffat 1990, 63.

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akute Form an. Die Beschreibung wird daraufhin leidenschaftlich erregt, wie der Stil von La Religieuse9, und auf der Ebene der Akteure stellt man fest, daß das Subjekt „sie“ verschwindet und durch die Handlungsträger der Krankheit selbst sowie der regungslosen Körperteile ersetzt wird: Der Durst ist nicht mehr so stark, die Schmerzen haben nachgelassen, das Fieber ist gefallen, die Entzündung der Schleimhäute ist zurückgegangen, und ich beginne, über diese Krankheit wie der Arzt zu denken. Gleichwohl war die Krankheit grausam, denn sie ließ Kraft und Körperfülle schwinden. Die Arme gleichen zwei langen Spindeln, und dieses breite und runde Gesicht ist auf eine schmale Fläche reduziert, in der man kaum mehr als zwei große Augen erkennt. (Paris, den 1. September 176, BAB, II 16.)

Auf seltsame Weise findet Antoinette in dem Moment, da sie dem Tod sehr nahe ist, plötzlich ihre Menschlichkeit wieder; endlich wird sie „meine Frau“ genannt, ein Wort, das sich in den Briefen an Sophie sehr selten findet: „Ich weiß nicht mehr, was ich Ihnen sagen soll. Ich bin todmüde. Vorgestern fürchtete ich, meine Frau zu verlieren.“ (30. September 176, BAB, II 187 f.) Was diese Berichte insgesamt erkennen lassen, ist während des ganzen Krankheitsverlaufs der stets aktive Geist des Philosophen, der sich bemüht, sich von seinen Gefühlen zu lösen. Dieses Bemühen wird durch die Variation der Pronomina markiert. Mit seiner Aufmerksamkeit gegenüber den Symptomen und seinem Nachdenken über die „Ursachen“ und die „Behandlung“ legt Diderot eine wissenschaftliche Vorgehensweise an den Tag, die zu der des Arztes parallel verläuft und manchmal mit ihr rivalisiert10. Auf der anderen Seite wird diese „Zurschaustellung“ des Körpers der Gattin gegenüber der Geliebten, die meines Erachtens an Gemeinheit grenzt, durch den absoluten Respekt des Briefvertrags geschützt, welcher unter dem Zeichen des „Bekenntnisses“ verfaßt wird, ohne auf diesem Wege eine Liebesstrategie auszuschließen. Tatsächlich bieten einige der Kommentare zu Madame Diderot die Gelegenheit für einen sanften Kontrapunkt gegenüber Sophie und ihrer Schwester. So führt der Philosoph bei der Zusammenfassung seiner Theorie von der wechselseitigen Abhängigkeit der „körperlichen und seelischen Symptome“ sich selbst als Beispiel an: „Halten Sie mich für tot oder zumindest für sterbend, eins von beiden, wenn ich nicht

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In La Religieuse finden sich Beispiele im Überfluß, die zeigen, daß das Leiden allein durch körperliche Details, vor allem im Gesicht, wahrgenommen wird. Dies gilt auch für die Erzählerin, die gemäß dieser Logik sich nur von außen beobachten kann: „Ich lag auf der Seite, ausgestreckt im Wasser, den Kopf gegen die Wand gestützt, den Mund halb geöffnet und die Augen halb tot und geschlossen“ (Diderot 197, 137). 10 So zeugt das dem Arzt zugewiesene „man“ in Wirklichkeit weniger von der untergeordneten Rolle der Person als von einem gewissen Mißtrauen: „Man kann überhaupt nichts mehr herausfinden, außer daß Betrübnis und Magerkeit zunehmen und alle Kräfte schwinden. […] Nur der Arzt ist immer zufrieden. Ich glaube, er weiß nicht, was er tun soll, die Krankheit scheint eine andere Ursache zu haben als die, welche er ihr zuschreibt, doch ich wage nicht, dazu den Mund aufzumachen. Dächte ich zufällig falsch, er aber übernähme meinen Fehler, und hätte dann die veränderte Behandlung verhängnisvolle Folgen, so käme ich nie darüber hinweg.“ (3. Oktober 176, BAB, II 189 f.) [Briefe an Sophie, 19 f.]

Diderot als medizinischer Berichterstatter in den Briefen an Sophie Volland

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die größte Qual oder die größte Freude empfinden sollte, an Sie zu denken“ (30. September 176). Wie dem auch sei, selbst wenn diese Form von Rechenschaftsbericht ihren Platz in einem vertraulichen und liebevollen Brief hat, ist das Gesamte in den komplexeren Rahmen einer freien Weise des Schreibens einzufügen, für welche der Schriftsteller die so nachgiebige und umgängliche Gattung des Briefs gewählt hat. Denn Sophie ist nicht der einzige Adressat dieser frühen medizinischen „Essais“11. Unter diesen Bedingungen muß man womöglich die Bedeutung ausweiten, die Diderot dem Wort „Tagebuch“ gibt, ebenso wie die diesen Briefen zugewiesene Funktion, denn einige Jahre später wird er noch zweimal seine Erfahrung als „medizinischer Berichterstatter“ in einer stärker wissenschaftlichen Perspektive erweitern. Die stets andauernde, wenn auch ungleichmäßige Beschäftigung mit dem Tagebuch öffnet sich also in besonderer Weise auch anderen Individuen als sich selbst, was dazu berechtigt, die Spuren dieser Aufzeichnungen, die sich mit den Jahren entwickeln, ohne jemals vollendet oder verworfen zu werden, bis zum Ende zu verfolgen. Vom Berichterstatter zum ärztlichen Betreuer: Auf dem Weg zu einer „Professionalisierung“ … Die Besessenheit des Philosophen vom Leben und von den Wandlungen des Körpers zeigt sich in ihrem ganzen Ausmaß während einer langen und schmerzhaften Krankheit von Madame Legendre, der jüngeren Schwester von Sophie, die während des Winters 1766 allein in Paris geblieben ist. Sophie und ihre Mutter sind auf ihrem Landsitz bei Châlons sur Marne und machen keine Anzeichen, in die Hauptstadt zurückzukehren. Die Leidenschaftlichkeit der fünf folgenden Briefe, deren Inhalt ein wahrhafter klinischer Bericht über den Verlauf dieser Krankheit ist, stellt zum einen den Versuch dar, sich der Wahrheit des leidenden Körpers zu nähern, und zum anderen den sehr heftigen Vorwurf gegenüber den beiden Abwesenden, der eine erneute „Wandlung“ des persönlichen Tagebuchs vollkommen rechtfertigt. Hier wechselt der Schriftsteller, der sich stets um eine technische Sprache bemüht, unmerklich die Gattung und ersetzt das Tagebuch durch den wissenschaftlicheren Begriff der Geschichte. In der Tat handelt es sich um eine möglichst exakte geschichtliche Darstellung der seit Januar auftretenden Schmerzanfälle, die dazu dient, das Gutachten zu ersetzen, das der Arzt Théodore Tronchin nicht liefern kann, da dieser selbst durch die Gicht (!) ans Bett gefesselt ist. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Geschichte in der strengen Bedeu11 Zwei Jahre später wird Diderot vor allem Damilaville über den Rückfall der Krankheit berichten, den seine Frau erlitten hat, und zwar stets mit den gleichen klinischen Begriffen: „Ich weiß nicht, mein Freund, ob Sie bereits wissen, daß Madame Diderot erneut von der Ruhr ergriffen wurde. Ihre Schleimhäute sind dick wie Eiweiß und rot wie Blut. Sie leidet unter unerhörten Schmerzen […]. Guten Tag, guten Tag. Ich höre, daß es in ihrem Körper schreit, und das macht mit große Sorgen.“ (Corr., IV, 88 f.)

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tung gebraucht, die ihm in der Enzyklopädie unter dem Eintrag „Geschichte der Krankheiten“ gegeben wird: „Geschichte der Krankheiten (Medizin). Dies ist der wichtigste Teil der medizinischen Lehre, der in der Beschreibung aller offenkundigen und wesentlichen Symptome besteht, die jeder Art von Krankheit vorausgegangen sind, sie begleiten und ihr nachfolgen, und die am betroffenen Individuum exakt beobachtet werden […]. Allein ausgehend von einer solchen sehr exakten Darstellung kann das experimentelle Wissen des Mediziners begründet werden. Nur durch die Kenntnis aller Bedingungen gelingt es ihm, eine Krankheit von einer anderen zu unterscheiden; den Gang der Natur im Verlauf der verschiedenen Krankheiten nachzuvollziehen; Überlegungen anzustellen, um eine gute Kenntnis ihrer Ursachen zu erreichen; aus diesen verschiedenen Kenntnissen die Merkmale herauszustellen, die dazu dienen, ihn in seinem Urteil über den Vorgang, der die Krankheit beenden kann, aufzuklären; daraus auf die Indikationen zu schließen, die er für seine Behandlung verwenden muß, um die gewünschte Heilung so schnell, so sicher und mit so wenig Unannehmlichkeit wie möglich zu gewährleisten, sofern der Fall dafür zugänglich ist; oder nur eine palliative Behandlung vorzunehmen, wenn diese irgendeinen Nutzen erwarten läßt und einem vollständigen Verzicht auf jedwedes wirkende Hilfsmittel vorzuziehen ist, was zu tun die Vorsicht auch oftmals gebietet.“

Nachdem der Bericht geschrieben und durch die Vermittlung von Grimm an Tronchin geschickt worden ist, wird er für Sophie in dem ersten ganz dieser Krankheit gewidmeten Brief noch einmal neu verfaßt. Aber Diderot gelingt es auch, den Arzt Bordeu1 für die Behandlung heranzuziehen13. Es scheint sogar, daß der Schriftsteller unter dem Einfluß von Bordeu, mit dem er offenbar einen herzlicheren Umgang als mit Tronchin oder dem behandelnden Arzt Petit pflegt, unmerklich den Ton gegenüber der Patientin ändert, als wolle er den berühmten Arzt imitieren. Tatsächlich gebraucht Théophile Bordeu das standesgemäße und vereinnahmende „Wir“, jenes Personalpronomen, das die Nähe zum Kranken gewährleisten soll. Diderot verwendet es daraufhin ebenfalls für sich: „Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit unserem Tag, trotz der Versprechen der Ärzte“ (3. Februar 1766, BAB, III 49).

1 Théophile Bordeu (17-1776) ist zum einen durch sein Talent als in der Epoche allgemein anerkannter Arzt und zum anderen durch die Rolle bekannt, die ihn Diderot am Krankenbett von d’Alembert mit Mademoiselle de Lespinasse in Le rêve de d’Alembert spielen läßt. Ist das „Trio“ (Diderot, Bordeu und Madame Legendre), das sich in diesem Teil der Briefe an Sophie vereint, um über das Leben und den Tod nachzudenken, der Ursprung der Aussagesituation von Le rêve de d’Alembert? Es ist nicht unmöglich, dies zu denken. Jedenfalls findet man (in den Briefen vom 7. Januar und . März) Aussagen und ästhetische Überlegungen, die von Diderot und Monsieur Legendre am Bett der Kranken in aller Freiheit ausgetauscht werden. 13 „Wir haben daran gedacht, Bordeu zu Petit hinzuzuziehen. Noch am selben Abend habe ich eine detaillierte Geschichte über den Verlauf der Krankheit geschrieben und alles hinzugefügt, was ich von der Gemütsart und der Lebensweise der Kranken wußte. Ich habe veranlaßt, diese Geschichte an Bordeu zu senden, und bat ihn, am nächsten Morgen zu kommen […]“ (BAB, III 39). Man bemerkt, daß die Vorgehensweise von Diderot absolut den Empfehlungen folgt, die in der Enzyklopädie zugunsten des „Fortschritts der Heilkunst“ gegeben werden.

Diderot als medizinischer Berichterstatter in den Briefen an Sophie Volland

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Das Ende dieser Krankengeschichte von Madame Legendre ist nicht bekannt, da das Korpus der Briefe an Sophie zwischen dem 3. März 1766 und dem 8. September 1767 unterbrochen ist. Man weiß allerdings aus anderen Quellen, daß Marie-Charlotte Legendre im August 1768 in der Folge eines neuen und zweifellos schlimmeren Anfalls stirbt. Die beiden letzten Briefe des Jahres 1766 jedenfalls, die von der Rückkehr zur „dritten Person Singular“ gekennzeichnet sind, betonen die bemitleidenswerte Einsamkeit der Kranken, die von ihrer Familie buchstäblich im Stich gelassen wird. Die Emphase des Demonstrativpronomens stellt dieses Verlassensein besonders heraus: „Meine Freundin! Mein Herz ist aufgewühlt. Wenn diese Frau in unseren Armen sterben sollte, ohne das Glück zu haben, ein letztes Mal ihre Mutter und ihre Schwester zu sehen, dann weiß ich nicht, was aus mir werden soll. Passen Sie auf!“ (3. März 1766). Diderot erscheint hier also besonders gezeichnet von seiner Erfahrung als Krankenwächter und vom Tod, der sich spürbar den leidenden Körpern nähert. Tatsächlich hat er selbst in deren letzten Momenten weder seiner Mutter noch seinem Vater beistehen können. Ist die Fürsorge, die er an den Tag legt, somit als Wiederkehr eines Schuldgefühls zu verstehen? Wie dem auch sei, es ist jedenfalls zutreffend, die Auflösung des Tagebuchprojekts hier einerseits mit einer Abkühlung der Beziehung zu Sophie und andererseits mit einer wirklich wissenschaftlichen Bemühung bzw. sogar einer Faszination durch den Tod in Beziehung zu setzen. Die vom Tagebuch angestrebte zentripetale Dynamik, die das Ziel einer Sammlung des Selbst hatte, wandelt sich also in eine unerwartete zentrifugale Bewegung, die jedoch für den Leser mit der nicht zu sättigenden Neugierde Diderots einhergeht. Im Herbst 1768 findet man einen weiteren Versuch, Sophie über eine lange Krankheit zu unterrichten14. Es handelt sich um Damilaville, einen guten Freund von Diderot. Dieser Versuch zeigt den Fortschritt in der Ausbildung zum medizinischen Berichterstatter, für den der Krankheitsbericht zu einer Gattung an sich zwischen der Medizin, der Philosophie und der Metaphysik wird. Damilaville: Der Tod des treuen Schülers Eine kurze Untersuchung des Berichts dieser Krankheit erscheint mir notwendig, und sei es nur für einen Vergleich mit den Berichten, die Madame Diderot und später Madame Legendre betreffen. Die Krankheit, die länger als die der Frauen dauert15, befällt hier einen Mann von 45 Jahren, dessen Freundschaft 14 15

Die betreffenden Briefe sind folgendermaßen datiert: 4. und 8. August, 10., 15. und 1. September, 1. und 8. Oktober sowie 4. und 15. November 1768 (BAB, III 13, 17 f., 141, 144, 151, 153, 157 f., 171 f., 179). Wahrscheinlich hat die Krankheit während des Sommers begonnen. Zum ersten Mal hören wir von ihr am 4. August 1768. Ihr Ende ist in den erhaltenen Briefen, aufgrund der erneuten Unterbrechung zwischen dem 30. November und dem 30. Juni 1769, ebenfalls nicht erwähnt. Am 15. November heißt es: „Damilaville liegt sterbend“.

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für die Gruppe der Philosophen der Enzyklopädie zuvor sehr nützlich gewesen ist16. Obwohl Damilaville eine wertvolle Hilfe für die Briefbeziehung zwischen Diderot und Sophie war, da er ihnen einen „Briefkasten“ zur Verfügung stellte, scheint Sophie ihn persönlich nicht gekannt zu haben. So ist es nicht verwunderlich, daß hier, zumindest im erhaltenen Teil des Korpus, keine moralische Verpflichtung spürbar wird, die ein explizites Versprechen beträfe, Sophie über den Verlauf dieser Krankheit auf dem laufenden zu halten. ( Jedenfalls deutet kein Begriff auf eine Geschichte oder ein Tagebuch hin.) Auch übernimmt Diderot in diesem Fall spontan die Initiative, vermutlich angeregt durch seine noch frische Erfahrung als Krankenwächter bei Madame Legendre. Er versucht nicht unbedingt, das Mitleid seiner Korrespondentin zu erregen, sondern eher das klinische Bild eines Phänomens zu zeichnen, das umso ergreifender ist, als der Tod sich recht bald als unausweichlich erweist. Die pathetische Erregung ist diskret und auf einige Bemerkungen beschränkt („Sein Zustand trieb mir mehrfach die Tränen in die Augen“, 4. August) und bildet mit einigen aus dem Kontext „losgelösten“ Beschreibungen einen merkwürdigen Kontrast: „Im übrigen hat er das freundlichste Zimmer: die Gartenhecken des Gerichtspräsidenten Hénault und anderes Strauchwerk unter den Fenstern, darüber die dichten Baumgruppen der Thuilerien [sic]“ (10. September)17. Alles deutet darauf hin, daß Diderot, den Gebräuchen der Epoche gemäß, einen Krankenbesuch „en passant“ abstattet, um gemeinsam mit anderen einen Moment der Geselligkeit zu verleben, mit dem Freunde, aber auch mit dem Tod: “Denken Sie nicht zu gut von meiner Fürsorge, man trifft dort auf exzellente Gesellschaft“ (1. September). Die Aufmerksamkeit des Schriftstellers richtet sich eher auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ärzten und die großen Gefahren, denen der Kranke durch einige von ihnen unmittelbar ausgesetzt wird, sobald es darum geht, eine schnelle Entscheidung zu treffen18. Das gleiche Phänomen hat Diderot schon während der Krankheit seiner Frau erschüttert, doch damals bevorzugte er, dem Arzt eher ein blindes Vertrauen entgegenzubringen, als das Gewicht des Todes auf sein Gewissen zu laden. Um die schreckliche Gewissenfrage zu bezeichnen, die sich dem Arzt stellt, findet man im übrigen in beiden Fällen die gleiche Ausdrucksweise: „Vor lauter Ratlosigkeit mußte man Kopf oder Zahl mit dem Leben der Kranken spielen“, schrieb Diderot bezüglich seiner Gattin (BAB, II 188). „Der Arzt, mit dem grundlegenden Übel konfrontiert, spielt Kopf oder Zahl mit dem Leben seines Patienten“, bemerkt er in Bezug 16 Damilaville, ein guter Freund von Voltaire, hatte eine bedeutende Stellung im „Ministerium des Zwanzigsten“, was in etwa mit der heutigen Steuerbehörde vergleichbar ist. Unter seinem Siegel ermöglichte er seinen philosophischen Freunden die Postfreiheit und sicherte so die Geheimhaltung ihrer Briefe. Vgl. hierzu Caussy 1913, 76-97. 17 [Briefe an Sophie, 90.] 18 „Trochin möchte die Verschlüsse behandeln; Bordeu und Roux sagen, daß dies zu einer inneren Eiterung führen würde, gefolgt von einem langsamen Fieber und dem Tod. Diese verschreiben eine Bäderkur in Bourbonne; jener sagt, daß der Kranke die Mühen der Reise nicht überstehen würde und daß die Bäder wenig nützlich seien“ (4. August).

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auf seinen Freund. In diesem Fall natürlich weniger betroffen, zeigt sich Diderot hier sogar als Anhänger einer „passiven Euthanasie“. Auch überwiegt in diesem dritten Bericht ein allgemeiner Pessimismus und ein klarer Befund über die Dürftigkeit der zeitgenössischen Medizin, wenn man den folgenden Überlegungen zum Fall Damilaville Glauben schenkt: „Bordeu sagt, um so schlimmer, Tronchin sagt, um so besser. Ich habe große Angst, daß Bordeu ein tüchtiger Arzt ist“ (10. September)19. „Die Krankheit von Damilaville ist eine verfluchte Krankheit, von der man nichts versteht“ (1. September). „Wenn Trochin ihn rettet, glaube ich an die Medizin und die Wunder“ (8. Oktober 1768). Halten wir zusammenfassend fest, daß Diderot zwischen 176 und 1768 kein Zeuge von besonders ermutigenden Erfahrungen auf therapeutischem Gebiet gewesen ist. So wird man den langen Schrei der Verzweiflung in Erinnerung behalten, den er 176 zu Beginn der Krankheit seiner Frau im Sophie zugedachten Tagebuch über die conditio humana ausgestoßen hat. Der Tonfall bewegt sich irgendwo zwischen Le Malade Imaginaire, Candide und Jacques le Fataliste: Was ich tagtäglich an Medizin und Medizinern unter die Augen bekomme, kann mir keine Hochachtung abnötigen. Man wird schwach inmitten von Schmerz und Geschrei geboren; man ist der Spielball der Unwissenheit, des Irrtums, der Bedürfnisse, der Krankheit, der Bosheit und der Leidenschaften; vom Augenblick des ersten Stammelns bis hin zum Greisengefasel lebt man inmitten von Schurken und Scharlatanen jeglicher Art; zwischen einem Mann, der einem den Puls fühlt, und jenem anderen, der einem den Kopf verwirrt, haucht man sein Leben aus; man weiß nicht, woher man kommt, warum man gekommen ist, wohin man geht – und dies wird als das größte Geschenk unserer Eltern und der Natur bezeichnet, als das Leben. (6. September 176, BAB, II 181 f.)0

Gegenüber Sophie spricht der Schriftsteller gewöhnlich nicht in einem so tragischen Ton. Die Momente, in denen er sich einer solchen Verzweiflung hingibt, sind selbst in den Todesbeschreibungen selten. Wie am Anfang von Jacques le Fataliste sieht die romanhafte Bewegung bald eine Art heiteren Skeptizismus triumphieren1. Schließlich zeugen die besondere Aufmerksamkeit gegenüber der Physiologie und die aus der Lehre des medizinischen Tagebuchs gezogene Objektivität (die bis an den Punkt geht, den Kranken zu „entmenschlichen“) vor allem von einer unzerstörbaren Faszination für die Wandlungen des Lebens. Diese niemals geleugnete Leidenschaft trägt, insbesondere durch die Enzyklopädie, in großem Maße dazu bei, über die Verbreitung des medizinischen Wissens die schuldhafte „Schwäche“ der Menschen zu heilen.

19 [Briefe an Sophie, 90.] 0 [Ebd., 16.] 1 „Wie wurden sie genannt? Was kümmert Sie’s? Woher kamen sie? Vom nächstliegenden Ort. Wohin gingen sie? Weiß man, wohin man geht?“ (Diderot 1973, 35.)

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Bibliographie: Buffat, Marc, „Conversation par écrit“, Recherches sur Diderot et l’Encyclopédie 9 (1990) 55-69 Cammagre, Geneviève, Roman et histoire de soi, La notion de sujet dans la Correspondance de Diderot (Paris 000) Caussy Fernand, „Damilaville ou le gobe-mouche de la philosophie“, Le Mercure de France (1913) 76-97 Diderot, Denis, Lettres à Sophie Volland, texte en grande partie inédit, publié pour la première fois d’après les manuscrits originaux, avec une introduction, des variantes et des notes proposées par André Babelon, 3 Bde. (1930) (Neudruck Paris 1978) Diderot, Denis, Correspondance, hrsg. von Georges Roth/Jean Varloot, 16 Bde. (Paris 19551970) Diderot, Denis, Jacques le Fataliste, Vorwort von Yvon Belaval (Paris 1973) Diderot, Denis, La Religieuse, Vorwort von Robert Mauzi (Paris 197) Foucault, Michel, „L’écriture de soi“, Corps écrit, 5 (1983) 3-3 Girard Alain, Le Journal Intime (Paris 1963) Melançon, Benoît, Diderot épistolier. Contribution à une poétique de la lettre familière au XVIIIe siècle (Montréal 1996) Montaigne, Michel de, Les Essais, édition conforme au texte de l’exemplaire de Bordeaux, par Pierre Villey (Paris 194) (Neudruck 1988) Richard, Odile, Diderot dans les Lettres à Sophie Volland: La Quête d’un Regard - Écriture, expression et communication du sentiment dans une correspondance du XVIIIe siècle. Thèse lettres, Université de Paris-7, 1999 (im Druck) Starobinski Jean, Jean-Jacques Rousseau: La Transparence et l’Obstacle, suivi de sept essais sur Rousseau (Paris 1971)

Tödliche Krankheiten und „eingebildete“ Leiden: „Hypochondrie“ und „Schwindsucht“ im Briefwechsel zwischen Jean Paul und Johann Bernhard Hermann Mit Ausblicken auf Literatur und Ästhetik Jean Pauls Monika Meier

Wirds (...) mein guter Herman, wol der Mühe werth sein, zwischen Erinnerung und Vergessenheit, zwischen Vergnügen und Schmerz einen Unterschied zu machen und mir die erste und dir das zweite zu wünschen, in einem Traum- und Theaterleben wie diesem mein‘ ich, in dieser dunkeln Ekke des Universums, in einer Welt, die der kleinste Zähler einer bessern ist, in einer hypochondrischen, in einer verwitternden, zerstöhrten und zerstöhrenden, in einer wo man im 24 Jahr noch nicht in Weimar sizt, in einer wo du dich weg nach Erlang verlierst, in einer wo dein Kopf vol Avtochthonen Ideen und Systemen auf einem unsystematischen kranken Körper wächst (...) in einer wo alles im Wechsel zerfährt, meine Lustigkeit auf dem Nebenblatte, Oerthel und zur Hälfte einmal Dein Freund?2

Der Briefwechsel zwischen dem Medizinstudenten Johann Bernhard Hermann (1761–1790) und dem noch wenig erfolgreichen jungen Schriftsteller Johann Paul Friedrich Richter ( Jean Paul, 1763–1825), von besonderer Intensität in den Jahren 1788 und 1789, enthält sehr persönliche Mitteilungen der beiden jungen Männer zur Wahrnehmung und Bewertung ihrer eigenen Lebenssituation, er zeigt sie eingebunden in die philosophischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Diskussionen und als wache Rezipienten der Literatur ihrer Zeit, er ist auch ein Gespräch über Gesundheit und Krankheit. Der zentrale Begriff, mit dem dabei körperliche wie seelische Beschwerden benannt werden, ist der der Hypochondrie. Beide Briefpartner bezeichnen sich selbst und einander als hypochondrisch Leidende. Besonders auf seiten Jean Pauls fällt das breite Spektrum von Bedeutungen ins Auge, das dieser Terminus umfaßt: Der Begriff der Hypochondrie dient ihm noch zur Benennung der todbringenden Krankheit, an der Hermann im Jahre 1790 achtundzwanzigjährig sterben wird. Zu gleicher 1 2

Für Anregungen und Hinweise zum Lausanner Vortrag danke ich den Veranstaltern und Gästen der Tagung, Martin Dinges für das Interesse, mit dem er die spätere Ausarbeitung begleitet hat. Stammbucheintrag Jean Pauls für Johann Bernhard Hermann bei dessen Aufbruch zur Fortsetzung seines Studiums in Erlangen im Frühjahr 1788, Jean Paul SW III 1, 237,18– 31.

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Zeit schreibt er Satiren über die – jedenfalls in Teilen – „eingebildeten“ Leiden eines Hypochondristen. Aufgrund der Einwürfe Hermanns hatte Jean Paul erst kurz zuvor (1788) das Verständnis der Hypochondrie als einer Erkrankung der inneren Organe und des Unterleibes aufgegeben3. In die modernere Vorstellung von der Hypochondrie als einer Nervenkrankheit, die an deren Stelle tritt, ist das Bedeutungsspektrum integriert, das die Hypochondrie für Hermann abdeckt4. Den Begriff der Schwindsucht verwendet Hermann für die auch heute damit zu verbindende Diagnose der Lungentuberkulose; als es um seine eigene Erkrankung geht, greift er zum distanzierteren Fachausdruck der „phthisis pituitosa“. Der „Schwindsucht“ fehlt in dieser Zeit noch das Schillernde, die psychischen Konnotationen, mit denen sie ein Jahrhundert später zu einem bedeutenden Motiv in der Schönen Literatur avanciert. Wie in den Texten von Hermann und Jean Paul wird sie im folgenden nur in einer Nebenrolle figurieren. In meiner Untersuchung geht es mir um das semantische Spektrum der „Hypochondrie“ im Briefwechsel Jean Paul – Hermann, um neue Akzente und Verschiebungen innerhalb dieses Spektrums und um Verbindungslinien zum literarischen Werk Jean Pauls. Die zeitgenössischen und biographischen Kontexte sollen erhellt werden, vor deren Hintergrund Hermann und Jean Paul für eigene und fremde Leiden den Begriff der Hypochondrie verwenden, dessen Geschichte dabei in ihren Reflexionen und Gesprächen, im brieflichen und im literarischen Dialog aktiv fortschreibend.

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Die wörtliche Bedeutung der Hypochondrie (griech. uJpov: unter und covndro~: Knorpel) bezieht sich auf die Hypochondren, die Oberbauchgegend unter bzw. hinter den Rippenknorpeln. Die Krankheit Hypochondrie entwickelte sich zunächst als besondere Form der Melancholie. Deren somatische Seite ging in das Verständnis der Hypochondrie ein, als deutlich wurde, daß die „schwarze Galle“ (griech. mevla~: schwarz und colhv: Galle) physiologisch nicht nachzuweisen sei, vgl. Fischer-Homberger 1970, 13–20. In der Begriffsgeschichte trat von den inneren Organen, die in der Gegend der Hypochondren lokalisiert werden konnten, besonders die Milz in den Vordergrund, als betroffen galten ferner Magen, Leber und Darm. Mit der Bezeichnung „Milzsucht“ wird z. B. der ausführliche Artikel „Hypochondrisches Übel“ zu Befund und Therapie der Hypochondrie in Zedlers „Universal Lexicon“ eingeleitet, Zedler 13 (1735) Sp. 1479–1487; noch in Adelungs Wörterbuch gilt die Hypochondrie als „eine der beschwerlichsten Krankheiten, welche ihren Sitz vornehmlich in dem Unterleibe hat, von einer reitzenden auf die Nerven wirkenden Schärfe herrühret (...) und oft in Schwermuth und Melancholie ausartet“, Adelung 2 (1796) Sp. 1345, und in dem späteren Ergänzungsband Campes werden „das Nervengebäude überhaupt, und besonders der ganze Unterleib“ als „der eigentliche Sitz dieses Übels“ bezeichnet, vgl. Campe 1813, 358–359. Zum Begriffswandel der Hypochondrie in der Geschichte der Medizin vgl. besonders Fischer-Homberger 1970. Zur Situierung der Krankheiten Melancholie und Hypochondrie in umfassenderen historischen Entwicklungsprozessen vgl. aus je unterschiedlichen Perspektiven Foucault 1961, Lepenies 1969 und Schings 1977, des weiteren Mauser 1981.

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Studium in Leipzig – Ernst Platners Anthropologie Hermann und Jean Paul, Söhne eines Hofer Zeugmachers bzw. eines oberfränkischen Dorfpfarrers, kannten einander seit dem gemeinsamen Besuch des Gymnasiums in Hof Ende der siebziger und der Leipziger Universität in der ersten Hälfte der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts. Beide hörten, ihrer sozialen Herkunft gemäß, zunächst theologische Vorlesungen, widmeten sich jedoch nach kurzer Zeit anderen Studien: der Philosophie, Ästhetik und Literatur der eine, der Medizin, Philosophie und den Naturwissenschaften der andere. Ihre breit gefächerten Interessen führten sie in die Lehrveranstaltungen des Mediziners und Philosophen Ernst Platner (1744–1818), der beide Gebiete nicht nur nebeneinander vertrat, sondern in seiner Anthropologie auch inhaltlich miteinander verband5. Platner, in dieser Zeit ordentlicher Professor der Physiologie, hielt neben seinen medizinischen Lehrveranstaltungen regelmäßig Vorlesungen über Logik und Metaphysik, über Moralphilosophie und über Ästhetik, von Zeit zu Zeit über Anthropologie6. Auf die in Platners Lehrveranstaltungen gewonnenen Eindrücke kommen Hermann und Jean Paul immer wieder zurück: Für Jean Paul ist Platner „als Philosoph, als Arzt, Aestetiker, und Gelerter gleich gros (...) und [besizt] eben soviel Tugend als Weisheit, eben soviel Empfindsamkeit als Tiefsin“. Der verehrte Professor erscheint als „Man, der soviel tiefe Philosophie mit soviel Annemlichkeit, soviel gesunden Menschenverstand mit so grosser Gelersamkeit, soviel Kentnis der alten Griechen mit der Kentnis der Neuern vereinigt“ und Jean Paul empfiehlt seinem Briefpartner: „Kaufen Sie sich seine philosophischen [Aphorismen]. Sie treffen in diesen die Leib[nizsche] Philosophie im kernichtsten Auszug“7. Für Hermann, der sein Studium später in Erlangen und Göttingen fortsetzt, ist es die „platnerische“ Philosophie, an der sich die „systematischere“ Lehre des Göttinger Philosophen Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821) zu ihrem Nachteil messen lassen muß8. Die an Empirischem orientierte Herangehensweise, die den einzelnen Menschen und seine Erfahrungen, sein Ich, zum Ausgangspunkt gedanklicher Entwicklungen nimmt, die besondere Gewichtung psychologischer Aspekte und die skeptische Befragung 5

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Vgl. Platner 1772, 1776/1784–1782 und 1790; vgl. auch Bergmann 1913, Kosˇenina 1989 und die Platner-Kapitel in Wöbkemeier 1990, 160–176, und Nowitzki 2003, 165–249. Die Impulse, die die literaturgeschichtliche Entwicklung von den Neuerungen in der medizinischen und philosophischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts und insbesondere von der Philosophie Platners erhielt, wurden in zahlreichen Arbeiten gewürdigt, vgl. u. a. Schings 1977, 1980 und 1994, Riedel 1985 und 1994, Pfotenhauer 1987, Heinz 1996a und 1996b. Seit 1770 las er als außerordentlicher, seit 1780 als ordentlicher Professor der Medizin, zum Professor der Philosophie wurde er 1801 ernannt. Zu Platners Lehrveranstaltungen und dem nachhaltigen Eindruck, den der junge Professor bei Studenten und Gasthörerinnen hinterließ, vgl. Bergmann 1913, 38–51. Konzept für einen nicht abgeschickten Brief an Erhard Friedrich Vogel vom November 1781, Jean Paul SW III 1, 29,35–30,16. Brief an Jean Paul vom 24.10.–4.11.1788, Jean Paul SW IV 1, 132,8–9.

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überkommener Lehrmeinungen, darunter der schulphilosophischen Antworten auf die Fragen nach dem Wesen der Seele, ihrem Zusammenhang mit dem Körper und ihrer Unsterblichkeit, sind es wohl vor allem, die die beiden Studenten aus Hof an Platners Unterricht faszinierten9. Jahrzehnte später notiert Jean Paul, auf Platners Interpretation von Shakespeares „Sturm“ Bezug nehmend, in seinem „Vita-Buch“: Die Stelle in Shakespeare „mit Schlaf umgeben“ von Platner ausgesprochen, erschuf ganze Bücher von mir (...) – We are such stuff as dream[s] are made on, and our little life is rounded With a sleep – Wir sind solcher Zeug Wie der zu Träumen und dieß kleine Leben Umfaßt ein Schlaf.10

Dabei dürfte es sich kaum um eine Übertreibung handeln. Auch Hermann hatten die Bilder, die Platner zur Umschreibung seiner Sicht auf das menschliche Leben verwendete, offenbar beeindruckt: „mein Höfer Aufenthalt (die wenigen Stunden in Töpen ausgenommen, – brauchst du Versicherung?) hat mich gelehrt, was Platner meynte, wenn er sagte, die Menschen aut schlafen, aut taumeln“, wendet er sich einige Jahre nach der Leipziger Studienzeit am 10. Juli 1788 an Jean Paul11. Die skeptische Grundhaltung der Platnerschen Philosophie und das Interesse an der gleichzeitigen Erkundung körperlicher und seelischer Phänomene sowie ihres Zusammenhangs, besonders deutlich formuliert in der jungen Wissenschaft der Anthropologie, gehören zu dem Umfeld, in dem die Vorstellungen der Krankheit Hypochondrie bei Hermann und Jean Paul ihre Kontur gewinnen. Freundschaft und „widrige Schiksale“ – Krankheit und Tod Hermanns Die ehrgeizigen Berufsziele, die Hermann und Jean Paul sich gesteckt hatten – Doktor, vielleicht sogar „lehrender doctor“ oder „akademischer Lehrer“12, bzw. angesehener Schriftsteller zu werden –, führten beide nach ihren Leipziger Studienjahren – 1781 bis 1784 ( Jean Paul) bzw. 1782 bis 1787 (Hermann) – in eine Zeit der sozialen und existentiellen Unsicherheit. Von Jean Paul 9

Zur Situierung Platners und der „Philosophischen Aphorismen“ sowie Feders und seiner Lehrbücher im Traditionszusammenhang der Schulphilosophie vgl. Wundt 1945, 265–266, 289–294 und 306–312. 10 Einträge Nr 456 und 466 aus den Jahren 1818 bzw. 1819, Jean Paul SW II 6.1, 747,26–27 und 749,19–24; vgl. auch den Eintrag Nr 354 aus dem Jahr 1813, SW II 6.1, 730,6–9 und Erläuterungen, sowie das Arrangement der drei Einträge durch Christian Otto, Wahrheit 2 (1827) 37 und 139, das die Rezeption dieser Stellen lange Zeit prägte. 11 Jean Paul SW IV 1, 105,20–23. Hermann dient das Zitat hier der Illustration seiner persönlichen Notlage. 12 Briefe an Jean Paul vom 10.7. und 24.10–4.11.1788, Jean Paul SW IV 1, 109, 19 und 134, 11–12.

„Hypochondrie“ bei Jean Paul und J. B. Hermann

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waren 1783 bei dem angesehenen Berliner Verleger Voß zwei Bände Satiren, die „Grönländischen Prozesse“, erschienen, die erhoffte Resonanz des Lesepublikums war aber ausgeblieben, und der Publikation des nächsten Buches, der Satirensammlung „Auswahl aus des Teufels Papieren“, 1789, ging die mehrjährige Suche nach einem Verleger voraus13. Während dieser Zeit konnte Jean Paul nur einzelne Zeitschriftenaufsätze veröffentlichen, seinen Lebensunterhalt verdiente er seit Ende 1786 als Hauslehrer des jüngeren Bruders Christian seines soeben verstorbenen Jugendfreundes Adam Lorenz von Oerthel in Töpen nahe Hof. Auch Hermann war unter dem Pseudonym N. H. Marne mit zwei naturwissenschaftlichen Büchern an die Öffentlichkeit getreten. Der renommierte Berliner Verleger Decker hatte 1786 und 1787 „Ueber die Anzahl der Elemente. Ein Beytrag zur allgemeinen Naturlehre“ und „Ueber Feuer, Licht und Wärme. Noch ein Beytrag zur allgemeinen Naturlehre“ herausgebracht14, größere Beachtung hatten aber auch diese Publikationen nicht gefunden. Hermann kehrte wie Jean Paul in seine Heimat zurück und lebte ein Jahr lang als Hauslehrer in der Familie des Preußischen Rittmeisters Carl Gottlob Adolf von Wessenig, ehe er die Möglichkeit sah, sein Studium an der Ansbach-Bayreuthischen Landesuniversität in Erlangen abzuschließen, einer Universität, die er wenige Monate später mit der angeseheneren Göttinger Alma Mater vertauschte. Schon in Erlangen in beständiger finanzieller Not, mußte er in Göttingen wiederum als Hauslehrer arbeiten, auf der Zeit und Nerven beanspruchenden Hofmeisterstelle bei dem französischen Grafen Ferdinand François de Broglie. Während Hermanns Aufenthalt in Hof (1787/88) intensiviert sich die Freundschaft der beiden jungen Akademiker, die auch ihre ungesicherte berufliche Perspektive miteinander verbindet. Wenig später wendet Hermann sich in einem Brief aus Erlangen an seinen Freund: Ich u. du sind ein paar Genie, dies beweist unser gleiches elendes Schiksal, u. eines von Beyden hat uns so zusammen gebracht, so d[aß] ich schreiben kan, ich bin Dein freund JBHermann.15

Mit Hermanns Aufbruch nach Erlangen im April 1788 beginnt ein vertrauter Briefwechsel mit zum Teil sehr langen Briefen an Jean Paul16. Dessen Gegenbriefe sind leider nur als gekürzte Abschriften in seinem „Briefkopierbuch“ überliefert. Die eindringlichen Schilderungen, die Hermann von seiner schwierigen persönlichen Situation gibt, enthalten immer wieder auch Mitteilungen 13

Beide Werke in Jean Paul SW I 1, nach den Erstausgaben in den Bänden II 1 und 2 der Münchner Ausgabe. 14 Hermann 1786 und 1787; zu den schwierigen Lebensbedingungen und Krankheiten Hermanns in der ersten Hälfte der achtziger Jahre vgl. seine Briefe an Albrecht Otto, Hermann 1933. 15 Brief an Jean Paul vom 9.8.1788, Jean Paul SW IV 1, 118,28–32. 16 Mehrere Briefe Hermanns umfassen 12 bis 16 eng beschriebene Quartseiten, in unserer Edition der „Briefe an Jean Paul“ bis zu 20 Druckseiten, vgl. Jean Paul SW IV 1.

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über gesundheitliche Probleme. Die Zeit in Erlangen ist geprägt von großer materieller Not und Zweifeln über die Entscheidung, nach Göttingen zu gehen, in den ersten Göttinger Monaten klagt Hermann über die weitreichende Beanspruchung durch seinen Grafen, die ihm kaum Zeit zur eigenen Disposition und privaten Raum belasse. Besonders schlecht ging es ihm, als er noch nicht wußte, wovon er in Göttingen leben sollte: Und doch bin ich jezt weit besser daran, als vor 5 Wochen, als jede Nacht um eine bestimte Stunde ein Ohrenbrausen, u. eine ins Gesicht steigende Hitze mich aus dem Bette [trieb] gerade wie zur selbigen Zeit, als ich bald darauf zu Leipzig in die tödlichen Symptome der Hypochondrie verfiel. Und doch hatte ich jezt Motion genug gehabt. Allein ich las einmal: Hauskreuz, Nahrungssorgen, p können auch die Hypochondrie verursachen. War also die Entstehung dieser N e r v e n krankheit ein Wunder, welche schon in 2 Nächten völlig abgenommen hatte, nachdem mir H[err] HofR. F[eder] die Stelle bey meinem Grafen verschaft hatte.17

Für Hermann besteht ein letztlich nicht lösbarer Zusammenhang zwischen seinen Lebensumständen, seiner körperlichen und seiner psychischen Befindlichkeit. Schon in Leipzig fürchtete er, neben anderen Sorgen, um die „Elasticität“ seiner Seele: Ich bin kein Materialiste, aber das laß ich mir doch nicht ausreden, daß mit den unabläßigen Krämpfen meines Körpers, meine Seele sich eben so zusammen ziehet; und mit der abwechselnden Erschlaffung der festern Theile, wiederum eben so die zum Gut Handeln u. vernünftig Dencken so nöthige Elasticität verlohren hat.– Und hievon ist weiter nichts die Ursache, als die herbeyziehende u. mich zu bedecken drohende greßliche Dürftigkeit; u. das Bewustseyn, daß ich jezt meine Zeit, theils mit Pflegung des Körpers, theils mit dem vermischten Gefühl von Sorgen, Aergerniß über thätige Nichtunterstützung u. von allen, was nur Seufzer u. d[er]g[leichen] beschreiben können, verschwenden muß; die ich, wäre –, zur Erlernung einer Kunst anzuwenden, Lust hätte, wodurch ich manchen von der Hand des Arztes retten könnte. – Solche Grillen hat man nun, wenn man hypochondrisch ist, solche, über die ich gewiß noch einmal des Arztes seyn muß.18

Der Göttinger Student kämpft um Verbesserungen seiner äußeren Lage, die lästige Hauslehrertätigkeit befreit ihn mehr und mehr von finanziellen Sorgen, seinen Körper versucht er durch Spaziergänge und Reisen zu stärken. Gleichzeitig lebt er im Bewußtsein, möglicherweise wie der gemeinsame Schul- und Studienfreund Adam Lorenz von Oerthel (1763–1786) jung sterben zu müssen. Und in diesem Zusammenhang verweist er nicht allein auf seine Hypochondrie. Um die Jahreswende 1788/89 fühlt er sich als „ein durch Hypochondrie u widrige Schiksale, wie viele andere Jünglinge durch Onanie, zerstörter Menschenkörper, den die Seele bald unter dieser, bald unter jener Erscheinung zu verlassen droht“19. Bereits in dieser Aufzählung treten widrige Schicksale und 17 Brief vom 24.10.–4.11.1788, Jean Paul SW IV 1, 138,16–26. 18 Brief vom 11.5.1785, Jean Paul SW IV 1, 64,31–65,8. Ähnliche Deutungsmuster enthält der satirische Schluß von Hermanns Schrift „Ueber Feuer, Licht und Wärme“, Hermann 1787, 270–274, bes. 272 f. 19 Teilweise verbranntes und mit dem Brief vom 8.–17.3.1789 an Jean Paul gesandtes Briefkonzept, Jean Paul SW IV 1, 148,16–19, vgl. auch S. 152,30–32 und S. 546. Die zeitgenössische Ansicht einer gesundheitsschädlichen, schlimmstenfalls tödlichen Wirkung der

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Onanie sprachlich an die Seite der Hypochondrie. Das Bewußtsein einer eigenständigen lebensbedrohlichen Erkrankung, die ihn neben seinem hypochondrischen Leiden ergriffen hat, verstärkt sich mit den Lungenbeschwerden, die auf eine Schwindsucht hindeuten: Die bisherige Schwierigkeit, die besonders des Morgens u. des Abends beym Athemholen sich einfand, machte, daß ich fast wirk[lich] zu argwöhnen anfieng, ich könte doch wohl eine phthisin pituitosam haben, zumal da der mit Gewalt ausgehustete Schleim so klümprich aussahe.20

Schon aus Leipzig hatte Hermann an seinen Freund Friedrich Albrecht Otto (1762–1842) von einem alle drei bis vier Wochen wiederkehrenden „Schmerz in der Kehle und Schlunde“ und „Blutspeyen“ geschrieben, jeweils ohne in diesem Zusammenhang seine Hypochondrie zu erwähnen21. Er starb am 3. Februar 1790, den eigenen Krankheitsbeschreibungen zufolge wahrscheinlich an Lungentuberkulose22. Für Jean Paul war es ein Tod durch Hypochondrie, so jedenfalls gibt er die Nachricht von Hermanns Ende im Frühjahr 1790 an seine Freunde weiter: „[Herman] starb an seiner mit [?] einem Stekflus beschliessenden Hypochondrie“23. Eingeweide, Nerven und Seele im Konzept der Hypochondrie – Isenflamm und Platner Die Diskussion, die Hermann und Jean Paul wahrscheinlich bereits 1787/88 in Hof über den Charakter dieser Krankheit geführt hatten, läßt sich der doppelten Unterstreichung von „Nerven“ im oben wiedergegebenen Zitat aus dem Bericht Hermanns von Ohrenbrausen und nächtlicher Hitze ablesen. Sie klingt auch an in einer Bemerkung Hermanns in einem früheren Schreiben aus Erlangen vom Juli 1788: „sehe übertriebene Ausdrücke immer als schwärmerisches Gefühl hypochondrischer Eingeweide an“24 – und nicht als Folge einer Nervenerkrankung, wäre zu ergänzen – eine Replik auf den vorausgegangenen Brief Jean Pauls:

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Onanie wurde auch von Jean Paul geteilt, vgl. u. a. die beiden kurzen, wahrscheinlich 1790 entstandenen Texte Jean Pauls „Aus Tissot“, Jean Paul SW II 3, 292–294, vgl. auch ebd., S. XXXIV–XXXV. Brief an Jean Paul vom 20.–23.(?)10.1789, im Brieftext vorausdatiert auf den 17.2.1790, den Vorabend seines 29. Geburtstages, den Hermann nicht mehr erleben sollte, vgl. Jean Paul SW IV 1, 187,9–14. Briefe an Albrecht Otto vom 18.–30.9.1784 und 21.–26.8.1786, Hermann 1933, 16 und 91, vgl. auch S. 17 und 70. Das Kirchenbuch nennt „Gicht und Ausfluss“ als Todesursache, vgl. Kurt Schreinert in seiner Briefausgabe, Hermann 1933, XXIX. Brief an Johann Gottfried Cloeter vom 18.2.1790, Jean Paul SW III 1, 282,15–16, der „Stekflus“ bedeutet, deutlicher als der Kirchenbucheintrag es ausdrückt, den Tod durch Ersticken; vgl. auch den Brief vom 24.3.1790 an Christian Adam von Oerthel, Jean Paul SW III 1, 287,16. Brief an Jean Paul vom 10.7.1788, Jean Paul SW IV 1, 105,32–34.

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Monika Meier Ich komme täglich zu neuen Gründen deiner Meinung, daß Hypochondrie die Nerven zu Protoplasten und die Eingeweide nur zum Mitleiden habe … Vertraue auf die glänzenden und breiten Flügel deines Kopfes und möchten sie dich nur über das todte Meer wegtragen, damit du nicht da geistigtod hineinfällest und als Stadtarzt andre lebendig und dich tod erkurirst. Las dir von deinen Bedürfnissen nie die Elastizität der Seele stehlen; denn wenn du einmal Herman bist, so wirst du dich ärgern, daß du einmal ein Anti- oder Pseudoherman gewesen, wiewol nie gegen deinen Freund.25

Jean Paul läßt sich überzeugen von der Interpretation der Hypochondrie als Nervenkrankheit, wie sie in einem Strang der Hypochondrieliteratur seit Ende des 17. Jahrhunderts vertreten wurde26, z. B. auch in der jüngeren Veröffentlichung des Erlanger Medizinprofessors Jacob Friedrich Isenflamm (1726–1793) „Versuch einiger praktischen Anmerkungen über die Nerven, zur Erläuterung verschiedener Krankheiten derselben, vornehmlich hypochondrisch- und hysterischer Zufälle“ (1774). Aus diesem Buch notierte Jean Paul 1787 Auszüge in sein Exzerptheft „Geschichte. Elfter Band“27, wahrscheinlich verständigte er sich gleichzeitig mit Hermann über den Inhalt der Publikation. Nicht ohne Bedeutung für die Verschiebung in der Wahrnehmung der Hypochondrie durch Jean Paul dürfte die Lektüre der grundlegenden Werke von Tissot und Haller über die Nerven gewesen sein: Das vorausgegangene zehnte Exzerptheft aus der Reihe Geschichte, ebenfalls auf 1787 zu datieren, belegt die Lektüre von Samuel-Auguste Tissots „Traité des nerfs et de leurs maladies“ (1778–1780, dt. 1781–1783) und des vierten Bandes von Albrecht von Hallers Physiologie, in dem das Gehirn, die Nerven und die Muskeln behandelt werden (1762, dt. 1768)28. Der Anatom Isenflamm, über den Hermann wenige Wochen nach seiner Ankunft in Erlangen an Jean Paul schreibt, daß er diesen „seines nachmittägigen Trunkes ohnerachtet, wirk[lich] eben so sehr, als Platnern verehre, u. zu nützen suchen werde“29, macht für die „wahre Hypochondrie“, die auch „Hypochondrie ohne Materie“ genannt werde, Störungen des Nervensystems verantwortlich. Die „markigte Substanz“ der Nerven und die sich in den „Nervenröhrlein“ bewegende „Nervenmaterie“ könnten den angemessenen Informationsaustausch zwischen Leib und Seele nicht gewährleisten. Auch aufgrund eigener Sektionsbefunde scheinen ihm die „subtilen Gefässe“ um die „kleinsten Nervenfäden“ und deren „markigte Substanz“ sowie Mangel oder Überfluß einer „subtilen Feuchtigkeit“ in den und um die Nerven für die hypochondrischen und hysterischen Leiden verantwortlich zu sein. Diese Krankheiten – die Hysterie versteht Isenflamm als die Hypochondrie der Frauen – seien je nach

25 Brief an Hermann vom 20.5.1788, Jean Paul SW III 1, 242,5–13. 26 Als erste einflußreiche Repräsentanten dieses Stranges nennt Esther Fischer-Homberger Thomas Sydenham (1624–1689) und Richard Blackmore (1653–1729), Fischer-Homberger 1970, 20 und 24. 27 Vgl. Müller 1988, 188; der Titel von Isenflamms Werk ist hier unvollständig, das Erscheinungsjahr nicht korrekt angegeben. 28 Vgl. Müller 1988, 180 f. 29 Brief vom 7. Mai 1788, Jean Paul SW IV 1, 101,32–34.

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Befund vor allem durch beruhigende oder aktivierende „Nervenarzneyen“, etwa Mohnsaft oder Gewürze, zu kurieren30. Die Auffassung der Hypochondrie, die Jean Paul zuvor geteilt hatte, als einer Krankheit der „Eingeweide“, die die Nerven „zum Mitleiden“ habe, liegt auf der älteren Traditionslinie der Deutung des hypochondrischen Leidens, die sich neben dessen Interpretation als Nervenkrankheit bis in das 19. Jahrhundert behauptete. In den zahlreichen Veröffentlichungen des 18. Jahrhunderts ist dieser ältere Ansatz, die Vorstellung einer Erkrankung der inneren Organe und der Körpersäfte, in verschiedener Hinsicht erweitert und vor allem durch das Konzept einer „Sympathie“ des Nervensystems ergänzt worden; die unterschiedlichen Modelle der Hypochondrie traten dabei vielfach miteinander in Verbindung. Die zentrale Beteiligung der hypochondrischen Organe wurde aber auch von Autoren, die sich sehr für die psychische Seite der Krankheit interessierten, oft nicht in Frage gestellt31. Sie läßt sich etwa noch dem Aufsatz Ernst Platners über die Hypochondrie ablesen, den der Leipziger Professor als „Zugabe“ zu seiner deutschen Ausgabe des Werks von Jean-Frédéric Dufour „über die Verrichtungen und Krankheiten des menschlichen Verstandes“ (1786) veröffentlichte. In dem Essai Dufours (1770) werden im Anschluß an Ausführungen über verschiedene Verstandeskräfte, „äußere“ und „innere Sinne“ und die Bewertung von Empfindungen und Ideen in der Seele durch die Vernunft, die Krankheiten „Blödsinn“, „Melancholie“, „Wahnsinn“ und „Hypochondrie“ behandelt. Dabei ist es, zu ersehen schon in der wörtlichen Bedeutung ihres Namens, die Hypochondrie, die „zum Beweiß des Systems dienen kann, nach welchem man annimmt, daß der Sitz der Krankheiten, welche die Verrichtungen des Geistes in Unordnung bringen, in dem Unterleibe sey“32. Platner sieht in seinen beigefügten „Betrachtungen“ über diese Krankheit als „Wesen der Hypochondrie, wiefern sie eine Gemüthskrankheit ist“ – die körperliche Seite des Leidens wird nicht eingehend betrachtet –, eine übertriebene Wahrnehmung verschiedener „Uebel“ an, und zwar von Unvollkommenheiten des körperlichen, des geistigen und des äußerlichen Zustandes, wobei mit letzterem Wohlstand und soziales Ansehen gemeint sind. Die verzerrten Wahrnehmungen werden ermöglicht durch eine besondere Reizbarkeit der Nerven und die Sympathie des Nervensystems sowie durch eine besondere Reizbarkeit der Seele, verstärkt durch die Einbildungskraft. Die Ursache der Krankheit ist immer körperlicher Natur, zu suchen namentlich in Nervenunruhen des Unterleibes, wenn dieser, bei gleichzeitiger

30 Isenflamm 1774, besonders S. 35, 189, 191 ff., 219 ff. und 257 f. 31 Vgl. Fischer-Homberger 1970, 22–24, 32–34, zu Robert Whytt (1714–1766) und seiner Bedeutung für den Eingang des Sympathie-Begriffs in das Verständnis der Hypochondrie, und S. 63; vgl. auch Riedel 1985, besonders S. 37–59 und 121–142, Bilger 1990, besonders S. 20–38, und, weniger an begriffsgeschichtlichen Linien als an einem Gesamtbild des Diskurses interessiert, Schreiner 2003, besonders S. 66–79 und 183–209. 32 Vgl. Dufour 1770, 397 und in der deutschen Ausgabe Platner 1786, 258.

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Behinderung des Blutumlaufes durch die Pfortader, „von unreinen scharfen Säften gereizt“ wird33. Es ist keineswegs sicher, daß Hermann und Jean Paul diesen Aufsatz Platners gekannt haben. Mit dessen Verständnis der Hypochondrie werden sie aus den Lehrveranstaltungen ihrer Leipziger Studienzeit vertraut gewesen sein. Anders als Platner lösten sie sich von der Vorstellung einer ursächlichen Verantwortung unreiner Säfte und gereizter Eingeweide für die hypochondrischen Leiden. Dem anthropologischen Ansatz ihres philosophischen Lehrers blieben sie verbunden: der beständigen Frage nach einer wechselseitigen Beeinflussung körperlicher und seelischer Prozesse und der besonderen Beachtung der seelischen. Im Kontext der Platnerschen Anthropologie verschiebt das Bild der Hypochondrie sich in Richtung der „Gemüthskrankheit“34. Therapie im Dialog – Krankheit, Literatur und Ästhetik Jean Pauls Ein wiederkehrendes Muster, mit dem Jean Paul auf die bedrängende Lebenssituation seines Freundes antwortet, ist der Appell zur inneren Distanzierung. Die oben im größeren Zusammenhang zitierten Ermunterungen – „Vertraue auf die glänzenden und breiten Flügel deines Kopfes und möchten sie dich nur über das todte Meer wegtragen (...) Las dir von deinen Bedürfnissen nie die Elastizität der Seele stehlen“35 –, werden in den folgenden Briefen Jean Pauls an Hermann variierend wiederaufgegriffen, z. B. „Möge dir der Traum das geben, was dir die Menschen versagen. Fliehe mit deiner Phantasie in die Kindheitsauen zurük und vergis über dem Mondschein der Vergangenheit und vor dem Sternenhimmel der Zukunft die schlagenden Esel in der Stadt“ oder „trenne dich mit den Gedanken von der Erde, worauf du wohnst und sie wird dir wie einem Mondbewohner schimmernd scheinen und nicht drekkig“36. Zugleich gibt es andere Angebote an den Hilfsbedürftigen. Die sechs Gulden, die Jean Paul seinem Schreiben vom 1. August 1788 beilegte, scheinen Hermann immerhin einen kleinen Teil seines Weges von Erlangen nach Göttingen geebnet zu haben37. Und auch das briefliche Gespräch ist durch zahlreiche weitere sprachliche Gesten und Schattierungen gekennzeichnet. Die Verbindung von Trost und bildlicher Eröffnung anderer Perspektiven in den zitierten Briefpassagen weist in ihrer Struktur voraus auf die späteren 33 Platner 1786, 303 f., 307 f., 311–314, 317 ff., 325, 327, 330 und 334 ff. 34 Vgl. auch Fischer-Homberger 1970, 63. Platner wird hier als Zeuge angeführt für die „Diskrepanz (...), die zwischen der psychiatrischen und der somatisch-medizinischen Hypochondrieauffassung bestand“. Dies ist insofern problematisch, als es Platner in seiner Anthropologie gerade um die Überbrückung von Diskrepanzen zwischen philosophischen und medizinischen Deutungsweisen ging. 35 Siehe S. 174. 36 Briefe vom 1.8. und 2.11.1788, Jean Paul SW III 1, 246,3–6 und 249,21–23. 37 Vgl. den Brief Hermanns an Jean Paul vom 21. und 22.8.1788, Jean Paul SW IV 1, 119, 13–15 und 124,28–32.

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literarischen Texte Jean Pauls. In der Zeit des Umbruchs vom satirischen zum erzählenden Schreiben, den der Autor um 1790 vollzieht, formuliert er das Konzept für die „hohen Menschen“ seiner Romanwelt, wie es 1793 in seinem ersten erfolgreichen Buch, der „Unsichtbaren Loge“, im „Extrablatt. Von hohen Menschen – und Beweis daß die Leidenschaften ins zweite Leben und Stoizismus in dieses gehören“ veröffentlicht wird38. Die als „hohe Menschen“ gestalteten Romanfiguren sind in der Lage, Bedrängnisse und Beschwerlichkeiten, und in der Not, das kleine Glück des Alltags aus einer größeren Distanz, von einer höheren Warte zu sehen als andere. Sie zeichnen sich aus durch „das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Thuns und der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte“39. Über die Erfahrungen und Wahrnehmungen dieser Figuren vermitteln die Romane Jean Pauls Ahnungen einer helleren „zweiten Welt“. Sie entwerfen Bilder, die einer schlechten Gegenwart, einer „hypochondrischen (...) einer verwitternden, zerstöhrten und zerstöhrenden“ Welt entgegengesetzt werden können40. Neben diesem Modell, sich mißliche Lebensumstände mittels der Phantasie ‚vom Leibe zu halten‘, unterstützt Jean Paul seinen Freund in der Wahl diätetischer Mittel – „Die elastische Luft wird die Federn deiner Seele mehr stählen als aller Trost“41 – und flicht in seinen Brief eine Satire ein, die die kritische Selbstwahrnehmung Hermanns relativieren soll. Hatte dieser eindringlich von den Folgen seiner „widrigen Schiksale“ und seiner Krankheiten, vom Nachlassen seines Gedächtnisses, seiner Geistes- und Seelenkräfte geschrieben, so antwortet Jean Paul mit der Satire auf einen Mann, der sich für kopflos hält42. Eingeleitet ist sie mit der freundlich-versöhnenden Anrede: „Guter, scharfsichtiger, glüklicher und glüklichmachender Freund, und auf der andern Seite wieder [?] Närrischer blinder, hypochondrischer Selbstfeind“43. Umgekehrt widerspricht auch Hermann einer Selbstdiagnose seines Freundes. Die Stellen der Korrespondenz, in denen Jean Paul von seinen Beschwerden berichtete, sind in den Abschriften der Briefe, die er für sein Briefkopierbuch anfertigte, oft durch Punkte gekennzeichnet, so daß sie sich nur 38 Im 25. Sektor, Jean Paul 1793, Bd. 1, 370–377, vgl. Jean Paul SW I 2, 209–212; vgl. ferner den Briefwechsel mit Friedrich Wernlein aus dem Jahr 1790 sowie den Aufsatz „Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewustseins“, Jean Paul SW III 1 und IV 1 bzw. II 3, 351, 14–352,7; von dem auf Juli 1791 datierten Aufsatz gab es bereits 1790 eine Fassung, die nicht überliefert ist, vgl. II 3, XLI. Zu früheren Bildern eines „hohen Menschen“ vgl. die „Bienenallegorie“ in der 1784/85 entstandenen Satire „Unpartheiische Beleuchtung und Abfertigung der vorzüglichsten Einwürfe (...) vom Teufel“ und in der bis 1788/89 verfaßten „Auswahl aus des Teufels Papieren“, Jean Paul SW II 2, 294–295 und I 1, 455–456. 39 Jean Paul 1793, Bd. 1, 371, vgl. Jean Paul SW I 2, 209,31–33. 40 Zu „Poetik und Poesie“ Jean Pauls vgl. auch Wölfel 1966; zum Kontext des Zitates siehe oben, den Stammbucheintrag Jean Pauls für Hermann. 41 Brief vom 4. April bis Ende September 1789, Jean Paul SW III 1, 272,3–4. 42 Vgl. Hermanns Brief vom 8.–17.3.1789 sowie Jean Pauls Antwort vom 4.4.1789, Jean Paul SW IV 1, 152,9–18 sowie III 1, 269,34–270,29; vgl. auch die Antwort Hermanns hierauf, Jean Paul SW IV 1, 176,27–177,2. 43 Jean Paul SW III 1, 269,31–33.

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ansatzweise aus der Antwort Hermanns erschließen lassen. Bereits der Brief vom 20. Mai 1788 dürfte eine „Krankheitsgeschichte“ enthalten haben44. Am ausführlichsten klagte Jean Paul vermutlich im Brief vom Dezember 1788 und Januar 1789 über sein gesundheitliches Befinden, in dem er seinen Naturwissenschaften und Medizin studierenden Freund auch um eine Erklärung für die „Winde im Unterleibe“ bat. In dem folgenden Passus der Abschrift „... wie wenn [ich] verdünte schaale Luft einsöge“ und in den späteren Notizen „... da mich die Umarbeitung meines Buchs abnüzt …“ sowie „Schreib es meinem abmattenden Brüten über meinen federlosen Küchlein zu“ ist die Beschreibung der Krankheit wahrscheinlich angedeutet45. Jean Paul hatte in den Wintermonaten 1788/89 an der letzten Fassung der „Auswahl aus des Teufels Papieren“, seinen „federlosen Küchlein“, gearbeitet, offenbar ähnlich wie drei Jahre später beim Abschluß der ersten Fassung der „Unsichtbaren Loge“ bis an den Rand der völligen Erschöpfung. Hermann beschränkt sich in seiner Antwort auf eine knappe Entgegnung und den Vorschlag einer einfachen Therapie: Du schreibst mir auch von einer ört[lichen] Schwächung deiner Lunge, u. sezt Fragen dabey, die mich vollkommen überzeugen, d[aß] sie unnöthig zu beantworten sind, u. du vollkommen an der Hypochondrie leidest. Ein paar lokale Krämpfe u. die bey allen Hypochondern bisweilen ganz (...) närrisch verrükte Einbildungskraft machen dich zum Schwindsüchtigen, der du es doch so viel ich dich kenne, und wenn es alle Aerzte sagten, so wenig seyn kanst, als dein und mein Freund ehedem an einer venerischen Krankheit, u. wie dr. Kadelbach sagte, an einem Blasengeschwür litte. – Lieber Richter; versäume Tage und Wochen so wirst du einen gesunden Körper erhalten, Monate u. Jahre dabey gewinnen, und nicht zu befürchten haben, daß – lache mich nicht aus, sey auch nicht bös auf mich, ich darf es sagen – d[aß] dein kranker Körper deine Seele anstecke.46

Das Motiv des Einspruches eines Freundes und Arztes gegen die – hypochondrisch übertriebene – Wahrnehmung eigener Krankheitssymptome und Empfindlichkeiten ist in die satirische Bearbeitung des „Hypochondristen“ durch Jean Paul eingegangen47. Bereits die in seinem Nachlaß überlieferte unvollendete frühe Fassung einer solchen Satire aus dem Herbst 1789 sollte einem Entwurf zufolge Hermann gewidmet werden, und der Arzt des Ich-Erzählers sollte dessen Züge tragen48. Ausgearbeitet wurde der Text mit den zentralen Figuren Hypochonder-Ich und befreundeter Arzt für den „Acht und vierzigsten oder Mai-Sektor“ des Romans „Die unsichtbare Loge“49. Auf vergleichbare Konstellationen in Moritz August von Thümmels Roman „Reise in die mittäg44 Vgl. Jean Paul SW III 1, 242,2–5. 45 Jean Paul SW III 1, 254,18–19,254, 24 und 255,31–32. 46 Brief Hermanns vom 8.–17.3.1789, Jean Paul SW IV 1, 164,11–26. Ausführlicher, aber ohne sie als Krankheitssymptome Jean Pauls in Betracht zu ziehen, hatte Hermann zuvor die „Winde im Unterleibe“ erörtert (S. 160,16–164,10). 47 Zur Figur des Hypochondristen in der Literatur des 18. Jahrhunderts, an die Jean Paul in vieler Hinsicht anknüpft, vgl. u. a. Busse 1952. 48 Vgl. die Notizen „Dedikazion an Herman“ und „Herman zu meinem Doktor“ in einem der Entwürfe zu „Meine Überzeugung, daß ich todt bin“, Jean Paul SW II 3, 395,21–22 und 396,15, vgl. auch S. XVIII–XIX und 98,5–28. 49 Vgl. Jean Paul 1793, Bd. 2, 261–276 und Jean Paul SW I 2, 354–362.

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lichen Provinzen von Frankreich im Jahr 1785 bis 1786“50 hat Jean Paul in seiner Satire hingewiesen: „Setz‘ in deine Biographie (...) daß es bei dir keine Nachahmung des H. Thümmels und seines Doktors und ihres medizinischen Kollegiums ist, das halb aus dem Patienten halb aus dem Arzte bestand“51. In der „Unsichtbaren Loge“ wird auf einer der vielschichtig miteinander verknüpften Handlungsebenen satirisch beschrieben, wie die Erzählerfigur „Jean Paul“ an einer für sie selbst zunehmend beängstigenden Krankheit, oder besser an einer Ansammlung verschiedener Krankheiten, leidet. Im Gespräch mit einem Arzt, dem Freund „Fenk“, können die Beschwerden durch dessen mit lachendem Ernst vorgetragene Diagnose aber als hypochondrische verstanden und durch eine maßvollere Lebensweise bald kuriert werden. Der Ich-Erzähler, der bereits während dieser Unterredung eine Reihe von Krankheiten wie „Herzpolypus, mazerierte[n] Lungenflügel, Magen-Insassen u. s. w.“ für überwunden hält – „Ah! jezt ists – versetzt‘ ich – wieder herunter und ich habe bloß einen Wasserschatz im Kopfe, der mir einen angenehmen Schlagfluß verspricht“ – ist schon zum Teil geheilt52. Um wieder gesund zu werden, sind nun noch einige Wochen Zeit und die Befolgung der diätetischen Ratschläge Fenks vonnöten. Therapien, die von überlasteten und gereizten Eingeweiden als Krankheitsursache ausgingen, hatte dieser eine klare Absage erteilt. Greife man etwa zu den weit verbreiteten Viszeralklistieren Johann Heinrich Kämpfs (1726–1787)53, „so vermengt man den siechen Unterleib mit siechen Nerven (...) Glaub‘ es aber nicht (...) Nicht deine Lungenflügel sind zerknickt, wenn sie zuweilen erschlaffen, sondern deine Lungennerven sind entseelt, von denen sie gehoben werden oder auch deine Zwergfells-Nerven“. Aufgrund der „Krämpfe und Ermattungen der Nerven“ habe der Patient Jean Paul an seinen zahlreichen Beschwerden gelitten, „nach und nach die ganze Semiotik durchlaufen, aber nicht die ganze Pathologie“54. Eine Therapie, die auf dem Verständnis der Hypochondrie als Nervenkrankheit beruht, wird hier als erfolgreich vorgeführt, ein Teil der körperlichen Leiden als „eingebildet“ dargestellt. Den 48. Sektor einleitend heißt es: „Eine jede eingebildete Krankheit setzt eine wahre voraus; aber eingebildete Krankheitsursachen giebts“55. Mit der Wanderung des angenommenen Krankheitsherdes aus dem Unterleib in die Nerven treten die

50 Dessen erste zwei Bände waren 1791 erschienen, von 1794 bis 1805 wurden acht weitere veröffentlicht. Zu Thümmels Roman vgl. Sauder 1968 und Heinz 1996b. 51 Jean Paul 1793, Bd. 2, 266, vgl. Jean Paul SW I 2, 357,12–15. 52 Jean Paul 1793, Bd. 2, 270, vgl. Jean Paul SW I 2, 359,15–20. 53 Vgl. Kämpf 1784; die Kämpfschen Klistiere waren auch im Freundeskreis von Hermann und Jean Paul, etwa zur Kur des todkranken Adam Lorenz von Oerthel, zum Einsatz gekommen, vgl. Jean Paul SW IV 1, 79,3 und 87,10. 54 Jean Paul 1793, Bd. 2, 271 f., vgl. Jean Paul SW I 2, 359,27–360,11; zur Interpretation dieser Szene im Kontext des Romans vgl. auch Bergengruen 2003, 91 f.; zu Diagnose und Therapie der Hypochondrie siehe auch Jean Pauls knappe Abschrift seines Briefes an Jacob Friedrich Isenflamm vom 8.5.1792, Jean Paul SW III 1, 348 f. 55 Jean Paul 1793, Bd. 2, 261, vgl. Jean Paul SW I 2, 354,25–26.

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seelischen Aspekte der Hypochondrie stärker in den Vordergrund. Deren Bild ist damit näher an das Verständnis des 19. Jahrhunderts herangerückt56. Ausgehend von dem Befund eines breiten Bedeutungsspektrums von „Hypochondrie“, dessen Pole „tödlich“ und „eingebildet“ uns heute kaum noch miteinander vereinbar zu sein scheinen, wurde die Verwendung des Begriffs im Briefwechsel von Hermann und Jean Paul untersucht, dabei Biographien und Lektüren der beiden Freunde einbeziehend. Auch die Spuren des Themas in literarischen Texten Jean Pauls wurden berücksichtigt. Anders als den seltener verwendeten und wenig changierenden Begriff der „Schwindsucht“ zeigte der briefliche Dialog die „Hypochondrie“ als vielseitigen Namen für körperliche und seelische Leiden und ihre komplexen Zusammenhänge. Zu verfolgen war darin auch, wie Jean Paul ein älteres Erklärungsmodell der Krankheit aufgab und deren Ursache nun, im Einklang mit den Ansichten seines Freundes ebenso wie mit den großen Linien der Begriffsgeschichte, nicht mehr in den Eingeweiden, sondern in den Nerven vermutete. Individuelle Erfahrungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, im Falle des hier betrachteten Briefwechsels von zwei aufstrebenden jungen Akademikern aus armen Verhältnissen, werden mittels der zeitgenössischen Deutungsangebote sprachlich dargestellt, die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Erklärungsmuster auslotend – „Ich bin kein Materialiste, aber das laß ich mir doch nicht ausreden (...)“57 – und damit zu deren weiterer Entwicklung beitragend. Eine besondere Rolle in diesem Prozeß kann die Literatur übernehmen, das Medium, das Jean Paul wählte für seinen „zu schwere[n] Zwek, Empfindungen und Wahrheiten“ zu gestalten58, über das es ihm – seit der Veröffentlichung der Romane „Die unsichtbare Loge“ (1793) und „Hesperus“ (1795) – gelingen sollte, das Gespräch mit einer sprunghaft wachsenden Lesegemeinde aufzunehmen. In seinen Büchern, die er auch als „Briefe in dickerem Format“ bezeichnete59, stellt er – unter anderem – Konzepte der zeitgenössischen Anthropologie, der Philosophie und Medizin zur Diskussion. Dabei kann der große Zusammenhang eines Romans, die Vielfalt seiner unterschiedlichen Handlungsebenen, Textsorten und Ausdrucksweisen, mit deren Arrangement der Autor sich zugleich auf einen spezifisch literarischen Traditionszusammenhang bezieht, den zitierten Diskursen neue Aspekte hinzufügen, sie in einem besonderen Licht erscheinen lassen und überkommene Denkmuster in Frage stellen. Dies ist eine Seite der Romanpoetik, deren Umrisse Jean Paul um 1790 formuliert, mit dem hohen Anspruch einer horizonterweiternden Gegenbildlichkeit in einem „Zau56 In dessen Verlauf werden die somatischen Aspekte der Krankheit von den Nervenleiden und der Hysterie übernommen, die „Hypochondrie“ entwickelt sich zum Zustandsbild der Krankheitsfurcht, vgl. Fischer-Homberger 1970, 58, 76–78; vgl. auch Ulrich Nassens Hinweis auf Verbindungslinien zur Schwindsucht, Nassen 1980, 175 f. 57 Siehe oben, S. 172. 58 Brief an Christian Otto vom 11.3.1792, Jean Paul SW III 1, 348,16–17. 59 Vgl. den Brief an Emanuel vom 9.2.1795, Jean Paul SW III 2, 50,27. Mit einem Brief an den Autor beginnen in der Tat zahlreiche Korrespondenzen Jean Pauls.

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berspiegel der Zeit, welche nicht ist“60. Einzelne Elemente der Literatur und Ästhetik Jean Pauls kommen im Briefwechsel und noch gebunden an die darin reflektierten Erfahrungen in frühen Formen oder das erste Mal zur Sprache. Bibliographie: Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 2. Aufl., 4 Bde. (Leipzig 1793–1801) (Nachdruck Hildesheim u. a. 1990) Bergengruen, Maximilian, Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie (Hamburg 2003) Bergmann, Ernst, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts. Nach ungedruckten Quellen (Leipzig 1913) Bilger, Stefan, Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727–1799) (Würzburg 1990) Busse, Walter, Der Hypochondrist in der deutschen Literatur der Aufklärung (Diss. Mainz 1952) Campe, Joachim Heinrich, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung‘s und Campe‘s Wörterbüchern (Braunschweig 1813) (Nachdruck Hildesheim, New York 1970) Dufour, Jean-Frédéric, Essai sur les opérations de l’entendement humain et sur les maladies qui les dérangent (Amsterdam, Paris 1770); dt. siehe Platner 1786 Fischer-Homberger, Esther, Hypochondrie. Melancholie bis Neurose: Krankheiten und Zustandsbilder (Bern 1970) Foucault, Michel, Histoire de la folie à l’âge classique. Folie et déraison (Paris 1961); dt.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (Frankfurt/Main 1969) Haller, Albrecht von, Elementa physiologiae corporis humani, 8 Bde. (Lausanne, Bern 1757–1766); dt. von Johann Samuel Halle, Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers, 8 Bde. (Berlin 1759–1776) Heinz, Jutta, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung (Berlin, New York 1996a) – „Ein Hypochonder auf Reisen. Medizinische und literarische Therapien gegen die Hypochondrie in Thümmels ‚Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich‘“, in: Daniel Fulda und Thomas Prüfer (Hrsg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne (Frankfurt/Main u. a. 1996b) 43–68 Hermann, Johann Bernhard, Ueber die Anzahl der Elemente. Ein Beytrag zur allgemeinen Naturlehre (Berlin, Leipzig 1786) – Ueber Feuer, Licht und Wärme. Noch ein Beytrag zur allgemeinen Naturlehre (Berlin, Leipzig 1787) – Briefe an Albrecht Otto und Jean Paul (Aus Jean Pauls Nachlaß), hrsg. von Kurt Schreinert (Tartu 1933) Isenflamm, Jacob Friedrich, Versuch einiger praktischen Anmerkungen über die Nerven, zur Erläuterung verschiedener Krankheiten derselben, vornehmlich hypochondrisch- und hysterischer Zufälle (Erlangen 1774) Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften durch Eduard Berend u. a. (Weimar 1927 ff.), I. Abt.: Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke, II. Abt.: Nachlaß (Weimar 1928 ff.), ab Band 6 (1996) wechselnde Herausgeber, Bd 6: Dichtungen, Merkblätter, Studienhefte. Schriften zur Biographie. 60 „Vorschule der Aesthetik“ (1804), „Kantate-Vorlesung. Ueber die poetische Poesie“, vgl. Jean Paul SW I 11, 425,1–2.

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Libri legendi, hrsg. von Götz Müller unter Mitarbeit von Janina Knab, Vita-Buch hrsg. von Winfried Feifel, III. Abt.: Briefe, hrsg. von Eduard Berend (Berlin 1952–1964), IV. Abt.: Briefe an Jean Paul, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Norbert Miller, Bd 1: Briefe an Jean Paul 1781–1793, hrsg. von Monika Meier (Berlin 2003), Bd 2: Briefe an Jean Paul 1794–1797, hrsg. von Dorothea Böck und Jörg Paulus (Berlin 2004) [Sigle: Jean Paul SW] – Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller, 1. Abt. und 2. Abt.: Jugendwerke und vermischte Schriften, hrsg. unter Mitwirkung von Wilhelm Schmidt-Biggemann, 10 Bde. (München 1959–1985) – Die unsichtbare Loge. Eine Biographie, 2 Bde. (Berlin 1793) (Neuedition München 1981); engl. von Charles T. Brooks (New York 1883), frz. von Geneviève Bianquis (Paris 1965) Kämpf, Johann, Für Aerzte und Kranken bestimmte Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen (Dessau, Leipzig 1784) Kosˇenina, Alexander, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul (Würzburg 1989) Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft (Frankfurt/Main 1969) Mauser, Wolfram, „Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz“, Lessing Yearbook 13 (1981) 253–277 Müller, Götz, Jean Pauls Exzerpte (Würzburg 1988) Nassen, Ulrich, „Trübsinn und Indigestion – Zum medizinischen und literarischen Diskurs über Hypochondrie im 18. Jahrhundert“, Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Text-Analytik 1 (1980) 171–186 Nowitzki, Hans-Peter, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (Berlin, New York 2003) Pfotenhauer, Helmut, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes (Stuttgart 1987) Platner, Ernst, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil, Teil 2 nicht erschienen (Leipzig 1772, Nachdruck Hildesheim u. a. 1998) – Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, 2 Bde. (Leipzig 1776–1782, Bd 1 in 2. Aufl. 1784) – „Einige Betrachtungen über die Hypochondrie“, in: Ernst Platner (Hrsg.): Johann Friedrich Düfours Versuch über die Verrichtungen und Krankheiten des menschlichen Verstandes (Leipzig 1786) 301–338 – Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Erster Band, Band 2 nicht erschienen (Leipzig 1790) Riedel, Wolfgang, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“ (Würzburg 1985) – „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur SH 6 (1994) 93– 157 Sauder, Gerhard, Der reisende Epikureer. Studien zu Moritz August von Thümmels Roman „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich“ (Heidelberg 1968) Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts (Stuttgart 1977) – „Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung“, in: Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Die Neubestimmung des Menschen. Wandlungen des anthropologischen Konzepts im 18. Jahrhundert, Studien zum achtzehnten Jahrhundert 3 (München 1980) 247–275 – (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG Symposion 1992 (Stuttgart, Weimar 1994)

„Hypochondrie“ bei Jean Paul und J. B. Hermann

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Schreiner, Julia, Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts (München 2003) Tissot, Samuel-Auguste-André-David, Traité des nerfs et de leurs maladies, 3 Bücher in 6 Bänden (Paris, Lausanne 1778–1780); dt. u. a. von F. A. Weber, Abhandlung von den Nerven und ihren Krankheiten, 4 Bde. (Winterthur, Leipzig 1781–1783) Wahrheit aus Jean Paul´s Leben [hrsg. von Christian Otto (Bde. 1–3) und Ernst Förster (Bd. 4–8)], 8 Bde. (Breslau 1826–1833) Wöbkemeier, Rita, Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800 (Stuttgart 1990) Wölfel, Kurt, „‚Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt‘. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie“, Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1 (1966) 17–52, wieder in: Kurt Wölfel, Jean Paul-Studien, hrsg. von Bernhard Buschendorf (Frankfurt/Main 1989) 259–300 Wundt, Max, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung (Tübingen 1945) (Nachdruck Hildesheim u. a. 1992) Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.), Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, 64 Bde. (Leipzig, Halle 1732–1750) (Nachdruck Graz 1993–1998)

„Hämorrhiadalkolik“, „Stahl’s gewaltige Pillen“ und „Menschenflicker“ Johann Gottwerth Müller: Der medizinalkritische Aufklärungsliterat und seine Leiden in Brief und Buch Alexander Ritter

I. Vorbemerkung Der ‚freie Schriftsteller‘ Johann Gottwerth Müller (1743–1828) zählte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu den Erfolgsschriftstellern. In der Forschung ist unbeachtet geblieben, daß er in der multiplen Rolle Patient/‚Mediziner‘/Literat als gesellschaftskritischer Aufklärer in seinen Texten, den privaten brieflichen und öffentlichen literarischen, kontinuierlich über eigene Krankheit und Patientenleid, über das mangelhafte Medikalsystem und die Folgen des öffentlichen Fürsorgeversagens berichtet. Seine Kritik verbindet er mit dem Appell zur aufklärerisch-philanthropischen Neuordnung der sozialen Verhältnisse im spätabsolutistischen Staat, weil die Wechselwirkung von gesellschaftspolitischen und medizinalen Umständen auch das körperlichen Wohlbefinden der ‚Untertanen‘ bedingt. Von diesem Sachverhalt her ergibt sich die Frage nach seiner medizinalund gesellschaftskritischen Perspektive. Wir gehen für deren Beantwortung von einer These mit drei Aspekten aus. Krankheit ist individuelles Körperbefinden und zugleich als „kulturelle ‚Konstruktion‘“1 einerseits Teil der ‚medikalen Kultur‘ resp. des ‚Medikalsystems‘ und andererseits Metapher für den ‚Gesundheitszustand‘ der Gesellschaft. Ein solches Verständnis ist an das zeitgenössische Öffentlichmachen von Krankheit und an den Zustand der noch nicht „ausdifferenzierte[n] ‚Expertenkultur‘ der Ärzte“2 gebunden, beides eine Begleiterscheinung der ‚anthropologischen Wende‘ seit der Jahrhundertmitte. Krankheit ist konstitutiver Teil von Müllers Identität und seiner Schriften und führt zu entsprechenden Äußerungen in Brief und Roman, zwei komplementär sich ergänzenden Genres. Hinsichtlich der Deutungsproblematik, die sich bei der Analyse von historischen medizinalen Dokumenten ergibt, ist zu berücksichtigen, daß der Autor Müller universal gelehrt und als Arzt ausgebildet ist. Seine „Denkweise[n]“ wird von dem „diskursiven Material[s]“3 aus dem medizinalen Kontext ohne dieje-

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Lachmund/Stollberg 1995, 163. Lachmund/Stollberg 1995, 165. Dinges 2002, 99 f.

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nigen „Einschränkungen“4 beeinflußt, denen das „offizielle medizinische Wissen“ im „Bestand des Alltagswissens einer Gesellschaft“ unterliegt5. Die folgenden Ausführungen erläutern die soziokulturellen Umstände von Müllers Biographie, analysieren den Briefwechsel mit dem Berliner Verleger Friedrich Nicolai (1777–96) und verweisen auf seine Romane. II. Die Person: Patient, ‚Mediziner‘ und medizinalkritischer Schriftsteller Müllers Selbstverständnis als Patient, ‚Mediziner‘ und Literat ist die Voraussetzung einer diagnostizierenden Wahrnehmung seiner selbst als Teil seiner ‚diagnostizierenden‘ Wahrnehmung der Welt und des Schreibens als selbsttherapierender Praxis und ‚sozialtherapeutischer‘ Aufklärungsakt im Dienste der Öffentlichkeit. Vier Konstituenten sind von maßgeblichem Einfluß. Seine Sozialisation in einer bildungsbürgerlichen Arztfamilie, im Gymnasium und republikanischen Milieu Hamburgs, die Kenntnis der französischen, englischen und deutschen Aufklärungsphilosophie prägen seine gesellschaftspolitische Programmatik, die auf eine mündige bürgerliche Gesellschaft in einem aufgeklärt-absolutistischen Staat zielt. Das vollständige, aber nicht abgeschlossene Medizinstudium (1762–70) an den Reformuniversitäten Helmstedt und Halle vermittelte ein Medizinalverständnis, das von wissenschaftlicher Universalität geprägt ist (G. Ch. Beireis, 1730–1809), von Konzepten biomechanistischer und animistisch-vitalistischer Lebensdeutung (G. E. Stahl, 1659–1734), außerdem von Skepsis gegenüber der Humoralpathologie. Und darüberhinaus ist Müller mit fortschrittlichen Formen der Klinikausbildung, Medikamentenversorgung und öffentlichen Krankenfürsorge, mit den Grundlagen der ‚Medicinalpolicey‘ vertraut gemacht und an den Diskurs über medizinische Professionalität und ärztliche Ethik herangeführt worden. Die Medizinalkenntnis ergänzt eine lebenslange Krankheitserfahrung. Von 1777 an leidet Müller an schmerzhaften chronischen Leiden: an „Diarrhoe“ (wohl colitis), blutiger „Hämorrhiadalkolik“ (Hämorrhoiden), „Krampfhusten“ (Bronchitide) mit „Brustfieber“, Augenschmerzen (Iritis), „Hemicranie“ (Spannungskopfschmerz), einer „Fußwunde“ (ulcus cruris). Sein Patientenstatus konfrontiert ihn mit dem unzulänglichen Medikalsystem, mit Scharlatanerie und Quacksalberei und begründet seine Auffassung von selbstverantworteter Gesundheit durch diätetische Lebensweise im Sinne eines ganzheitlichen Körperund Krankheitskonzeptes. Daran hält er sich aber mit einem Arbeitspensum von 19 Stunden täglich, mit Rauchen und Kaffeegenuß nicht. Diese Erfahrungen verknüpft er mit Beobachtungen vom „Menschenelend“ in den „Lazarette[n] und Spitäler[n]“, „armseligen niedrigen Hütten“, „Zuchthäuser[n] 4 5

Lachmund/Stollberg 1995, 20 f., 166. Lachmund/Stollberg 1995, 11.

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und Kriminalgefängnisse[n]“6 zur Gesamteinschätzung von der ‚kranken‘ Gesellschaft und ihrer Reformbedürftigkeit. Das Leiden an seiner Körperlichkeit und der Gesellschaft begreift Müller als Identitätskennzeichen einer demokratischen7 ‚freien‘ Aufklärer- und Literatenexistenz8, die er als Mitglied der „Gelehrtenrepublik“, „ohne weder Anhänger noch Chef der Partie zu seyn“9, als Ausländer10 im dänischen Gesamtstaat, in einer ländlichen Kleinstadt (Itzehoe mit ca. 3000 Einwohnern) zu realisieren versucht. Solche Existenzform erzwingt unentwegte Schreibtätigkeit11 und macht Überanstrengung zur Ursache von Krankheit. Müllers Krankheits- und Patientenverständnis wird von seinem Interesse am Medizinalwesen geprägt, das sich im privaten Buchbestand niederschlägt. Die enzyklopädische Gelehrtenbibliothek mit rd. 13.300 Bänden ist durch den Verkaufskatalog für das Todesjahr 1828 überliefert: Verzeichniß der von dem Herrn Dr. Ph. Joh. Gottw. Müller in Itzehoe hinterlassenen Bibliothek, welche, über 12,000 Bände stark [usw.] (1829]. Die Abteilung III. Medicin, Chirurgie, Pharmacie und Magnetismus (S. 72–83 [Nr. 1006–1174]) informiert über die Medizinalpublikationen12. Aufgeführt werden ca. 214 Titel in 254 Einzelbänden, von denen zwei Drittel zwischen 1750 bis 1800 veröffentlicht worden sind. Sie dokumentieren den internationalen medizinwissenschaftlichen Diskurs im Übergang von der humoral- zur solidarpathologischen Gesundheits-/Krankheitskonzeption, eingebettet in den Kontext der philosophisch-anthropologischen, ästhetisch-literartheoretischen, naturwissenschaftlichen Theoriebildung und gesellschaftspolitischen Entwicklung. Der Bestand umfaßt sämtliche Themen der aktuellen medizinischen Forschungsanliegen: psychodynamistische und psychosomatische Theorien und Erkenntnisse (Irritabilität/Sensibilität; Brownianismus/Mesmerismus), Therapiehilfe und Präventivmedizin (Diätetik), Mißstände (Quacksalberei, Scharlatanerie) und heilkundliche Kontroversen, sozialmedizinische wie berufsethische Fragen, Lehrbücher, die Biographien innovativer Medizinerpersönlichkeiten. Vertreten sind die ‚großen‘ Namen wie A. v. Haller, J. G. Zimmermann, S. A. A. D. Tissot, J. O. de la Mettrie, J. Brown, F. A. May u. a. sowie die ‚kleinen‘ Namen der populären Chirurgen, Anatomen, Pharmazeuten, Kliniker, Praktiker und Sozialmediziner. Dieser Buchbestand ist für Müller nicht nur Teil des universalen Gelehrsamkeitsanspruchs, sondern vor allem Artikulationsmittel von Krankheitser6 7 8

Die Herr von Waldheim (1784 f.), Teil II, 248 f. Antoine 2001, 142. Entgegen seiner Auffassung vom unabhängigen Bürger und Literaten akzeptiert Müller eine begrenzte mäzenatische Alimentierung. Ab Mitte der 1790er Jahre läßt ihn Graf Friedrich zu Rantzau kostenfrei wohnen, und ab 1796 zahlt der dänische Hof ihm eine jährliche Pension von 200 Reichstalern, die 1803 verdoppelt wird. 9 Antoine 2001, 21. 10 Antoine 2001, 142. 11 Zwischen 1777 und 1808 veröffentlicht Müller dreizehn Romane, die in teilweise mehreren Auflagen und durch Nachdrucke weite Verbreitung erreichen. 12 Ritter 2005.

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fahrung und Patientenstatus, Informationsquelle für Selbsttherapie, Heilkostensenkung, Sicherung der Kenntnissouveränität gegenüber dem Arzt, und sie ist stofflicher Fundus für die Literarisierung der Medizinalthematik. Ihr Bestand kennzeichnet ihren Besitzer aber gleichfalls als jemanden, der in zeitgenössisch symptomatischer Weise erfährt, wie Krankheit zum Merkmal individueller Existenz, zum Symptom überforderter Individualität wird und im Erleben eigener körperlicher Endlichkeit zu Strategien einer bewußten Lebensführung auffordert. III. Der Brief: Patienten- und Literatenleid in der Autor/Verleger-Korrespondenz Ausgehend von Briefdefinitionen bei Stolberg (1996) und Steinke (1999) handelt es sich bei der Korrespondenz zwischen Müller und dem Berliner Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai um Briefe einer Literaten- und Verlegerbeziehung13. Sie dokumentieren den Gedankenaustausch zwischen Angehörigen der ‚Gelehrtenrepublik‘ und des Literatursystems über wissenschaftsorganisatorische, literaturkommerzielle und private Sachverhalte. Das Thema ‚Krankheit‘ ist nicht nur Berichtsgegenstand, sondern Bedingung der eigenen Identität und des Stellenwertes im System der Bildungselite. Im Unterschied zu den Deutungsproblemen bei der Auswertung von Autobiographien und Patientenbriefen (Lachmund/Stollberg 1995, Dinges 2002) geht es hier nicht primär um Rekonstruktionsabsichten orientiert an Müllers Selbstverständnis von Krankheit und Patientendasein. Die Analyse behandelt die sich verändernde Wahrnehmung und Darstellung von Krankheit im pragmatischen privaten wie geschäftlichen Brief, eingebunden in eine besondere Kommunikationssituation. Dabei sieht sich der heutige Betrachter mit einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert: den objektiven Krankheitszustand lediglich als Information einer subjektiven Wahrnehmung und Darstellung zu kennen und zu verstehen. Diese wurde auf der Metaebene strategisch-taktischer Argumentationsaktion zusätzlich zweckmäßig manipuliert. Unter den Korrespondenzpartnern Müllers ist Nicolai einer der wichtigsten. Die Autor-Verleger-Beziehung dauert von 1777 bis 1806. In dem asymmetrischen Machtverhältnis dominiert der Verleger. Der anfangs vierunddreißigjährige Müller verkörpert den Typus des ‚freien Schriftstellers‘ ohne Amt, der, gesundheitlich beeinträchtigt, ums Überleben seiner Großfamilie schreiben muß. Friedrich Nicolai (1733–1811), in Berlin Schriftsteller, Sortimenter und Deutschlands drittgrößter Verleger, gilt als literaturorganisatorischer Großunternehmer des nationalliterarischen Lebens und der Popularisierung von Literatur. Weltanschauliche Grundlage ihrer beider Verbindung ist die Auffassung von der Verteidigung einer konservativen anthropozentrischen Aufklärung, basierend auf einem empirisch-sensualistischen, rationalistischen Denken, von 13

Die Seitenverweise hinter den Zitaten beziehen sich auf die Edition von Antoine (2001).

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Literatur als gemeinnützigem pädagogischem Instrument, vom satirischen Roman als Mittel der Gesellschaftskritik. Diese Umstände sorgen für die ‚Nähe‘ beider Briefpartner zueinander, die aber an die ‚Distanz‘ gebunden ist, welche sich aus der relativ geringen Brieffrequenz, der textlichen Kommunikation, der räumlichen und soziokulturellen Entfernung von ‚Provinznest‘ und Metropole, von geschäftlichem Einzelinteresse und Unternehmerinteresse ergibt. Das lückenhaft überlieferte Briefkonvolut umfaßt 74 Briefe des Zeitraums vom 21.7.1777 bis zum 5.12.1796, vorrangig von Müller an Nicolai. Abhängig vom Wandel des aufklärerischen zum klassisch-romantischen Literaturverständnis, des davon gesteuerten Literaturmarktes und verlegerischen Kommerzerfolgs, wandelt sich die Interessenlage beider Brief-/Geschäftspartner zu Lasten Müllers und verändert Funktion wie Inhalt seiner Rekurse auf die eigenen Krankheiten. Drei Phasen lassen sich unterscheiden. Die erste umfaßt zehn Briefe vom 21.7.1777 bis zum 15.3.1790. Müller betreibt die strategische Erweiterung seiner literarkommerziellen Absichten, indem er Nicolai als Geschäftspartner für sich zu gewinnen sucht. Diese Intention wird von pragmatischen Aspekten bestimmt: Absicherung der wirtschaftlichen Existenz des ‚freien Schriftstellers‘; effektvollere Verbreitung auf dem Literaturmarkt; Zugewinn an Renommee; Unterstützung seines konservativen Aufklärungskonzeptes. Hieraus ergibt sich die briefliche Strategie, mit der er um Verlegerinteresse, Geschäftsvertrauen und freundschaftliche Beziehung wirbt. Das argumentativ geschickte Vorgehen bis zum ersten Verlagsvertrag appelliert an die konsensuale „Denkart“ (14)14 pragmatischer Aufklärung, verweist auf Publikationserfolge, Planungspotential, Seriosität als Romanautor und die Unterstützung, die Nicolai in der öffentlichen Literaturfehde15 gewönne, zumal er, Müller, diese als ADB-Mitarbeiter und Verlagsautor am besten leisten könne. Diesem Sachverhalt, dem Werben um freundschaftliche und geschäftliche Partnerschaft, paßt er die sprachliche Ausgestaltung an. Das appellative Vorgehen mischt in Rhetorik und Diktion empfindsame Stilelemente der subjektiven Hochwertung des anderen als „Freund in dem heiligsten […] Sinne des Wortes“ (20) mit verblaßter captatio benevolentiae-Rhetorik und geschäftsmäßigem Sachstil des Autor/Verleger-Geschäftes. Die Krankheitsnachrichten plaziert Müller funktional geschickt in den Argumentationsgang. Seine Informationen sind Teil der Selbstbeschreibung, subjektiv, nicht akademisch, knapp, nicht larmoyant. Er gibt von den Krankheiten so viel preis, daß beim Verleger Anteilnahme, nicht Ablehnung bewirkt wird. Um diesen vollständig davon zu überzeugen, daß hier jemand spricht und leidet, dessen Existenz mit dauernder literarischer Arbeit identisch ist, reduziert er sein Leben auf die Formel von „kein ander Kapital“ als seine „Feder“ (17), mit der er „ein braves Weib und sieben Kinder nebst einer Schwiegermutter […] zu ernähren“ habe (33 f.). Sein Arbeitspensum ist tatsächlich enorm. Er veröffentlicht während dieser ersten Korrespondenzphase für vier Verlage acht 14 15

Anm. 13. Antoine 2001, 157, Anm. 779.

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z. T. mehrbändige Texte, betreut fünf Neuauflagen, verfaßt Rezensionen (ADB), betreibt den eigenen Verlag. Er sei „sehr überhäuft“, die Verleger ‚säßen‘ ihm „scharf auf dem Halse“, er „habe kaum Zeit zu athmen“. (25). Müller buhlt um Anteilnahme des Geschäftspartners, rückt dazu seine Iritis als existentielle Bedrohung ins Zentrum, die er aber nicht behandeln könne, weil ein anderes Leiden ihn z. B. 1789/90 „vom letzten December bis in die Mitte des Januars“ mit „Anfällen einer Hämorrhoidalkolik auf[s] Leben“ und Tod (36) ans Bett fessele. Diese Gefährdung seiner Lese- und Schreibfähigkeit verwendet Müller als nützlichen Umstand dafür, um dem Verleger zu verdeutlichen, dieser riskiere seinen zukünftigen literarischen wie geschäftlichen Nutzen, wenn er nicht akzeptiere, daß er, Müller, Freiheit der Publikationsplanung benötige. Er erfahre ein „beynahe völliges Unvermögen meine Augen zu brauchen“ (28) und stehe „in großer Gefahr, völlig zu erblinden […]. Jetzt bin ich freylich so weit, daß ich am Tage einige Stunden arbeiten kann; aber meine Tagesarbeit hat all mein Lebenlang den Teufel nichts getaugt; von 6 Uhr Abends bis Morgens um drey war meine beste Zeit. Das fällt jezt leider weg, denn bey Licht darf ich noch nicht wieder arbeiten, wenn ich mir nicht die unerträglichsten Schmerzen zuziehen will […]“. (31) Krankheit als Ausdruck „hinfällige[r] Gesundheit“ (25) gerät zum Exkulpierungsmittel für ‚langes‘ „Stillschweigen[s]“ (28) und säumige Vertragserfüllung. Müller setzt es aber auch als Nötigungsinstrument für neue Verträge ein, indem er ein Romanskript anbietet, „weil meine Augenschwäche Ihnen durch Verzögerung der Straußfedern nachtheilig geworden ist. […] Wollen Sie ihn nicht, so gebe ich ihn Dieterichen oder Grosse in Stendal […]“. (30) Die Briefe sind aber nicht nur Medium für Befindlichkeitsnachrichten. Sie sind auch Mittel, um therapeutischen Rat zu geben und mit praktischer Hilfe zu unterstützen. Beides, medizinische Unterversorgung in der Provinz und Müllers Skepsis gegenüber dem Können örtlicher Heilkundiger, führt zu dem, was an gegenseitigem Erfahrungsaustausch und Hilfsangebot in bildungsbürgerlichen Kreisen durchaus üblich ist. So läßt sich Müller von seinem großstädtischen Verleger diverse Rezepte u. a. für „Augenwasser“ (36) zusenden, auch für injizierbare Medikamente zur Selbstbehandlung nebst medizinischem Gerät: „Zu N.ro 3 fehlt mir die Sprütze und ich nehme Ihr gütiges Erbieten an, mir eine zu verschaffen weil ich schlechterdings nicht weiß, woher ich eine bekommen soll“. (40) Die zweite Phase umfaßt die Briefe vom 26.5.1790 bis zum 23.2.1795. Nach den bisherigen taktischen Bemühungen, persönliche Nachricht über Krankheiten als zusätzliches Überzeugungsmittel einzusetzen, um Vertrauen aufzubauen, Redlichkeit zu suggerieren und Empathie für seine schwierige Lage zu erlangen, wechseln Tonlage und Einstellung. Wesentliche Ursache ist Müllers Arbeitslast. Er kooperiert weiterhin mit vier Verlegern, publiziert nunmehr rund 5600 Druckseiten (Kleinoktav). Seine Krankheiten bringen ihn zunehmend in lebensbedrohliche Notlagen und werden immer häufiger als Exkulpierungsinstrument verwendet: das Dilemma des Autors zwischen Schreib-

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zwang, Vertragspflicht, physisch-psychischer Zerrüttung, Gesunderhaltungsmühen und kulminierender Arbeitslast. Diese Umstände beeinträchtigen die bislang freundliche Geschäftsbeziehung. Die Zäsur dokumentiert der Brief vom 26.6.1790. Müller berichtet in zwei Schritten. Der erste Teil erläutert den Zusammenhang von Arbeit-Gesundheit/ Krankheit-Selbsttherapie-Lebensphilosophie. Weil „oekonomische Ursachen“ ihn dazu zwingen, arbeite er „Tag und Nacht“. „[…] das schreiben, das schreiben“ aber sei qualvoll, wenn man „fast keine Augen mehr hat!“, und zudem sei ihm „der schnelle Wechsel von Frost und Hitze […] sehr empfindlich“. Diätetisch und medikamentös mühe er sich um Gesunderhaltung: „Ihre Pulver schlucke ich strenue. Nro 2 thut mir wegen der abführenden Würkung nicht gut; es ist ohnehin mein Unglück, daß ich so sehr zu Diarrhöen geneigt bin; ich lebe daher fast ohne zu trinken, wenn Sie täglich 2 oder 3 Tassen Kaffe und des Abends eben so viele Gläser Wein abrechnen. Ein einziges Glas Wasser über diese Portion Getränk würkt schon auf mich wie eine Gabe Sedlizer Salz [ = Bittersalz, Abführmittel] auf andre Menschen. Bier […] kann ich gar nicht ertragen, und Thee oder Ptisanen [ = Arzneigetränke] – mag ich nicht. Von den übersandten Sprützen wähle ich die größere, und will Gebrauch davon machen, sobald ich so viel vor mir sehe, einige Wochen damit kontinuiren zu können“. (42) Im zweiten Teil relativiert Müller seine Belastungen, indem er diese in seiner täglichen Lebensorganisation aufgehoben sieht, aber letztlich doch die Fron von Literatenleben und Verlegerabhängigkeit meint: „So habe ich nun zwo glückliche Stunden des Tages; eine, des Morgens, wenn ich aufstehe, in meiner Bibliothek, die andere des Mittags im Cirkel der Meinigen. Dazu kömmt noch der Sonntag Abend mit Freunden“, doch immer wird es „3 Uhr nach Mitternacht; meine gewöhnliche Zeit, Feierabend zu machen“. Von nun an verändern sich Tonfall, Diktion und Rhetorik, das Selbstverständnis als Geschäftspartner. Seine Attitüde wird selbstgerecht. Er neigt zu Verbitterung, Arroganz und Larmoyanz, eine Folge wirtschaftlicher Not, zunehmender gesundheitlicher Einschränkung und nervöser Gereiztheit angesichts des literartheoretischen Paradigmawechsels. Sein Leben vollziehe sich in einer „sechzehn Fuß langen und acht Fuß hohen Höhle – oder Hölle“ (96) mit einem Arbeitspensum von „täglich 19 bis 20 Stunden“ (68), lamentiert er. Seine „Finanzen sind sehr erschöpft“ (60), er ist „so arm wie ein Poet“ (111). Honorare bleiben aus, in Geldgeschäften mit St. Petersburger Kaufleuten macht er Verluste. Er muß bei seinen Verlegern (60) und in Hamburg Kredite aufnehmen.16 Mit neuem Geschäftsbewußtsein ‚bittet‘ er nicht länger Nicolai um Honorare, sondern ‚verlangt‘ definierte Summen und Vorauszahlungen. (89 f., 91) Krankheit entwickelt sich unter diesen Umständen zur dominanten Bedingung seines Lebens am Pult und im Krankenbett, ist nicht länger eine „räumliche lokalisierbare Störung, eine Art Betriebsschaden“17. 16 Zu Müllers Finanzlage vgl. den Brief vom 5.6.1792. 17 Jütte 1991, 225.

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Den ihm auffälligen Zusammenhang von Wetterlage/Witterung, beengten, bauhygienisch schlimmen Wohnverhältnissen und körperlichem Befinden sucht er sich durchs Studium der Diskurse zu Physiologie, Nervenerkrankungen und Hypochondrie zu erklären, bleibt aber ratlos. „Wie die Stürme auf die Gesundheit wirken“, das wisse er nicht, aber „bey jedem anhaltenden Sturm aus Westen [leide er] sehr an Hämorrhoidalbeschwerden […], verliere […] Blut bis zur Entkräftung, oder […] habe die wüthendsten Hämorrhoidalischen Kopfschmerzen u. s. w.“ (59) Die chronisch gewordenen Leiden, in zeitlich immer geringeren Abständen ihn besetzend, der Arbeitsdruck, Gewissenhaftigkeit und Erfolglosigkeit bei der Selbsttherapie verstärken sein Mißtrauen gegenüber ärztlichem Können. Er, der gelehrte ‚Mediziner‘, prangert überheblich und uneinsichtig ironisierend die diagnostischen wie therapeutischen Fähigkeiten der konsultierten Heilkundigen an. Unklar bleibe ihm, wie er sich „den albernen Hein vom Leibe“ gehalten habe, zumal „die Leute“ ihm wohl keine „Unze Blut im Leibe gelassen“ hätten, „die Bösewichte!“ Und dieselben „griechischen Gesichter […] behaupten“ noch, er habe sich selbst „zu Schanden geärgert und gearbeitet“. (55) Auch kreidet er ihnen Fehldiagnosen an, weil sie z. B. die ‚ächten Pocken‘, „die vermaledeyte Erbsünde“, trotz früherer seuchenhafter Verbreitung als „Wurmfieber“ oder ‚unächte Blattern‘ mißdeutet hätten. (111 f.; 99 f.) Krankheit ist Teil eines circulus vitiosus: Folge und Behinderung seiner Arbeitswut, Verursacher zusätzlicher Heilkosten, Beschleuniger des Finanzaufwandes für Buchanschaffungen, vor allem auch zum Thema Medizin. Sorgfältig verfolgt er den medikalen Forschungsdiskurs, erwirbt Fachliteratur, um seine Diagnostik zu schulen, moderne Heilungskonzepte kennenzulernen, Ausdeutungen des Zusammenhangs von sozialhygienischen und gesellschaftspolitischen Interdependenzen für seine literarische Weltdeutung zu begreifen, aber auch um kostengünstige Selbsttherapie zu betreiben. Die dritte und letzte Phase, dokumentiert durch 14 Briefe von 27.4.1795 bis zum 5.12.1796, charakterisieren zwei Umstände. Nachlassendes Verlegerinteresse kollidiert mit zunehmend aggressivem Autorverlangen, reduziert die Beziehung aufs Kommerzielle, in deren Folge Müllers Krankheitsberichte entfallen und in ihrer pragmatischen Funktion entlarvt werden. Müller, der diesen Wandel der Beziehung verärgert erkennt, läßt sich zu einer verzweifelten, arroganten, zugleich ungerecht vorwurfsvollen Philippika gegen das angebliche Verlegerunverständnis verleiten. Dazu komprimiert Müller in einem Brief vom 20.4.1795 seine bisher genutzten Argumentationen von defekter Gesundheit, eingeschränkter Arbeitsfähigkeit, hoher Heilkostenlast und dauernder Existenznot zur Anklage. Mit einer rhetorischen Doppelfrage nimmt er Nicolai, dem saturierten und gesunden Verleger, das moralische Recht, über seine Lebensführung zu urteilen: „Konnten Sie das würklich so gewiß vorher sehen, daß ich aus den leidlichsten Gesundheitsumständen auf einmal in die unerträglichsten fallen, und in so langer Zeit nicht aus dem Bette kommen würde? – Daß Arzt und Wundarzt mir bey Strafe der Unheilbarkeit alles Denken, Schreiben, Lesen, Aergern,

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– Freuen sogar, untersagen würden?“ Er wirft Nicolai leichtfertige Fehleinschätzung vor, denn „Ihnen kann das nur unangenehm seyn, für mich ist es ein Unglück; […]“ Und er fährt begründend fort: „[…] die Zeiten sind beynahe 3fach theuer, das Krankseyn kostet, die Apotheker = und Menschenflickerrechnungen fegen den Beutel […]“. Im Resultat verwahrt er sich verärgert und beleidigt gegen Nicolais Rat, sich zu schonen, weniger zu arbeiten, denn „statt alle diese Erfordernisse verdienen zu können, liege ich hier in doloribus, und werde noch dazu auskapittelt [ = zurechtweisen] wie ein Bübchen welches seinen Lex nicht aufsagen kann“. Nicolai, dem reichen Bürger in der Metropole, empfiehlt er resümierend: Wer sein „Unglück“ nicht verstünde, der könne sein Leben mal „nur vier Wochen […] versuchen“ (133) und würde dann begreifen, daß jedes Skriptum „Kontrebande sey, die wider das Verbot der Fakultät fabriciret und exportiret wird, […] und so sauer mir, der ich das kürzeste Gesicht von der Welt habe, nur einen Arm brauchen, und durchaus nicht diktiren kann, das Schreiben im Bette wird!“ Seine Kritik an Nicolai verbindet der gelehrte ‚Mediziner‘ mit beißender Verspottung der „Fakultät“, der Ärzte, die als „das griechische Gesicht und der andere häßliche Mensch mit den Bistouris [ = Operationsmesser] und Lapis infernalis“ seinen Tageslauf bestimmen wollen. (133) Der Konflikt zwischen beiden verschärft sich. Müllers aus gesundheitlichen Gründen nachlassende Arbeitskraft und seine ‚Armut‘ (149) verleiten ihn zu unkollegialem Verhalten. Müller wirft Nicolai „Pastoralepistelphysiognomie und […] Injurien“ (133) vor, erhöht Honorarforderungen – „die besten Buchhändler Deutschlands [bieten sich] in die Wette [ihm] zu Verlegern“ (143) an –, spielt ihn gegen Konkurrenzunternehmen aus. Er mahnt angebliche Honorarreste an, fordert Vorauszahlungen, unterschlägt nachteilige Projektumstände, verweist zugleich auf ‚seinen guten Namen‘ (149) und auf die ‚Verachtung‘ von allem, „was nach Kniffen und Praktika multiplici schmeckt“ (150), beschwört gemeinsame Seriosität: „Wir sind beyde sehr bekannte Männer“ (154). Aber der marktorientierte Kaufmann Nicolai ist nicht mehr interessiert. Er kappt die Verbindung.18 IV. Der Roman: Sozialpolitische Transformation von Patientenleid und ärztlichem Auftrag Wie relevant für Müller der Themenkomplex Krankheit/Medikalsystem ist und wie er sich als literarisierender Arzt bzw. therapierender Literat, zeigt sich an den Romanen. Der sozialkritische Literat agiert als literarisch therapierender Arzt. „[…] das schriftstellerische und officinelle Album gräkum“ sind ihm prinzipiell identisch, denn der Schriftsteller kennt wie der Arzt „die Natur der Krankheiten“, die „nicht immer mit Zimmtöl, Magenmorselle, und Rosenkonserve, sondern weit öftrer“ mit „bey weiten nicht so angenehmen Dingen“ wie 18 Die Zusammenarbeit dauert tatsächlich bis 1806 (Antoine 2001, 159).

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„Kastoreum, Asa fötida, Album gräkum und noch häßlichere[n] Dinge[n]“ geheilt werden können19. Der Arzt, im Brief eine Negativfigur therapeutischer Inkompetenz, und das Medikalsystem, ein desolates Sozialphänomen, werden mit veränderter Schreibstrategie im Kontext einer aufklärerischen Sozialutopie aufgegriffen. Müller abstrahiert vom kranken Individuum und schließt auf die ‚Krankheit‘ der ständischen Gesellschaft, die nur einzelne Persönlichkeiten reformieren könnten. Darum wird der Arzt auf der Metaebene der Fiktion zur Metapher für die Schädigung oder Förderung der sozialen Wohlfahrt. Er steht im Handlungszentrum. Krankheit funktioniert als Anlaß, den Arzt in seiner Rolle innerhalb des Medikalsystems vorzustellen. Im Roman Der Ring (1777) kritisiert der Autor unethisches Arztverhalten, indem er exemplarisch einen Berufsvertreter aus egoistischem Kalkül sich an einem moralisierenden Intrigenspiel beteiligen läßt, der durch Mißbrauch seiner beruflichen Autorität einen Gesunden leichtfertig zum todgeweihten Kranken macht. Diese prinzipielle Kritik setzt sich im Roman Siegfried von Lindenberg (41784) fort. In einer literarisierten Melange von Literatur- und Medikalsatire geißelt Müller in einer ausgedehnten Episode die betrügerischen Aktivitäten der als Scharlatane herumreisenden Ärzte. Im Kontrast dazu nutzen spätere Romane den positiven Stellenwert des Arztes in der Gesellschaft und verbinden diesen mit dem Aspekt des sozialen Fortschritts. Ethisch gefestigte und heilkundlich kompetente Ärzte sind für Müller geeignete Personen, um als Bürger den Adel bei der aufklärerischen Reform des Gesellschaftssystems zu beraten. Der Barbier, Wundarzt und Feldscher Elias Wildmann in Die Herren von Waldheim (1784/85) wird zum Berater des adligen Landjunkers Walther Friedrich Edler auf und zu Waldheim. Vergleichbar angelegte Romanfiguren sind der Hofrat und „Arzt des Bornwaldschen Hauses“ im Emmerich (1786–89), ein „ächte[r] Schüler des großen Boerhave und der Natur“, sowie der Physikus und Senator „Doktor Thomas“ im Roman Herr Thomas (1790 f.), Schüler der Professoren Alberti, Hoffmann (Halle) und Cassebohm (Berlin)20. Die ‚guten‘ Ärzte verkörpern den heilkundlichen Philanthropen, der die soziale Wohlfahrt und Etablierung eines funktionierenden Medikalsystems befördert. „[…] dem großen Haufen“, so schlußfolgert der Autor, gebricht es vor allem an „Pflege und Wartung […] als an Aerzten“, „die […] unter die sehr entbehrlichen Leute gehörten, wenige Fälle ausgenommen“21.

19 Siegfried von Lindenberg (41784), III. Teil, Kap. 34, 17. 20 Emmerich, Teil II./Kap. 26, 456–470; Herr Thomas, Teil I/Kap. 12, 236–244. 21 Die Herren von Waldheim, Teil II, 483.

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V. Zusammenfassung 1. Müllers Berichte über Krankheit und Medikalsystem folgen der dreifachen Perspektive des Patienten, ‚Mediziners‘ und Literaten. Seine Nachrichten sind Botschaften innerhalb des Informationsnetzes der Bildungsbürger, reflektiert im Geiste der Aufklärung. Sie erreichen, auch als fiktionalisierter Medikaldiskurs, die bereits aufgeklärten bildungsbürgerlichen „feinen Leser“, werden jedoch kaum „dem großen Haufen nützlich“ geworden sein22. 2. Krankheit und Patientenexistenz definiert Müller als Fremdbestimmung des Geistes durch den Körper, verursacht durch Überanstrengung, einer Bedingung gelehrter Aufklärerexistenz. Informationen darüber sind vorrangig kulturelle und moralische Nachrichten im bildungsbürgerlichen Dialog. Das Wissen des ‚Mediziners‘ um den Zusammenhang von Krankheit als physiologischer wie psychosomatischer, diätetischer Störung der Lebensorganisation begründet sein Mißtrauen gegenüber dem Medikalsystem. 3. Der Patient Müller ordnet seine Krankheitsberichte im privaten Geschäftsbrief, das Medikalsystem ausklammernd, drei Interaktionsumständen einer Autor/Verleger-Beziehung unter: Empathiewerbung, Patientenleid als Identitätsmuster des ‚freien‘ Schriftstellers, Argumentationsmittel der geschäftlichen Exkulpierung und Nötigung. 4. Im öffentlichen Text, dem didaktisierten pragmatischen Roman, ist die Medizinalthematik Teil einer utopisch verstandenen Reform des absolutistischen Staates. Krankheit als individuelles Patientenleid spiegelt exemplarisch, metaphorisch semantisiert, Untertanenleid einer ‚kranken‘ Gesellschaftsordnung und überträgt in der literarischen Transformation, autobiographisch verifiziert, die Medikalthematik aus dem Pathologiediskurs in den Ästhetikdiskurs. 5. Das Patienten-/Arztmotiv ist autobiographisches wie fiktionales Mittel der Kritik am Medikalsystems. Dessen Unzulänglichkeit ist die Ursache des körperlichen Leidens der Menschen, eine Folge des obrigkeitlichen Fürsorgeversagens. Kernpunkte der Kritik sind mangelhafte Professionalisierung der Heilkundigen und der Medikamentenversorgung, labile Ethikorientierung und unzulängliche hygienische Verhältnisse. 6. Das aufklärerisches Konstrukt einer sozialpolitischen Utopie zielt auf das Konfliktfeld von bürgerlichem Eliteanspruch und Elitewechsel, Öffentlichkeit und Infragestellung der absolutistischen Herrschaftsverhältnisse im Kontext der ‚anthropologischen Wende‘. Eine Sozialreform, orientiert am Humanitätsideal einer ständeübergreifenden mündigen Bürgergesellschaft, verspricht, daß Selbstverantwortung und staatliche Fürsorge zu weitgehender Befreiung von körperlichem wie sozialem Leiden führen.

22 Siegfried von Lindenberg (41784), III. Teil, Kap. 34, 15.

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V. Bibliographie: Antoine, Annette, Literarische Unternehmungen der Spätaufklärung. Der Verleger Friedrich Nicolai, die „Straußfedern“ und ihre Autoren, Teil 2 (Würzburg 2001) Dinges, Martin, „Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 1830: Der Körper eines Patienten von Samuel Hahnemann“, in: Martschukat, Jürgen (Hrsg.), Geschichte schreiben mit Foucault (Frankfurt/Main, New York 2002) 99–125 Jütte, Robert, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit (München, Zürich 1991) Jütte, Robert (Hrsg.), Medizin, Gesellschaft und Geschichte 15 (Stuttgart 1996) Lachmund, Jens/Gunnar Stollberg, Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien (Opladen 1995) Ritter, Alexander (Hrsg.), J. G. Müller von Itzehoe und die deutsche Spätaufklärung (Heide 1978) Ritter, Alexander (Hrsg.), Freier Schriftsteller in der europäischen Aufklärung. Johann Gottwerth Müller von Itzehoe (Heide 1986) Ritter, Alexander u. a.: „Johann Gottwerth Müller (gen. Müller von Itzehoe, 1743–1828). Bibliographie der Werke und Forschungsliteratur (Stand 2004)“, Lichtenberg-Jahrbuch 2004 221–237 Ritter, Alexander, „Der Aufklärer und die Wunderheilerin. J. G. Müller (von Itzehoe) über Magnetismus, ‚Wunderheilung‘ und Scharlatanerie, über medizinische Professionalität und das Medikalsystem um 1800 im holsteinisch-hamburgischen Raum. Eine Dokumentation“, Steinburger Jahrbuch 2005, 49 (2004) 75–118 –, „Medizinale Fachliteratur in der Aufklärer-Bibliothek des 18. Jahrhunderts. Zum Buchbestand des medizinisch gelehrten ‚freien Schriftstellers‘ Johann Gottwerth Müller (1743– 1828)“, Medizin, Gesellschaft und Geschichte 23 (2004) Stuttgart 2005, 69–104 –, „Bornierte ‚Bösewichte‘ der ‚griechischen Gesichter‘ und die reformerische Macht des gelehrten Wundarztes im Ständestaat. Medizinal- und gesellschaftskritische Perspektiven des Romanciers und Mediziners Johann Gottwerth Müller (1743–1828) in der Spätaufklärung“, Steinburger Jahrbuch 2006, 50 (2005) 241–250 Steinke, Hubert (Hrsg.), Der nützliche Brief. Die Korrespondenz zwischen Albrecht von Haller und Christoph Jakob Trew 1733–1763 (Basel 1999) Stolberg, Michael, „‚Mein äskulapisches Orakel!‘ Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert“, Österreichische Zeitschrift für Geisteswissenschaften 7, 3 (1996) 385–404 Wöbkemeier, Rita, Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800 (Stuttgart 1990) Zelle, Carsten (Hrsg.), „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung (Tübingen 2001) Websites: „‚Müller von Itzehoe‘. Der gelehrte Erfolgsschriftsteller Johann Gottwerth Müller (Hamburg 1743–Itzehoe 1828)“ (Itzehoe 2006) [Biographie und Bibliographie] http://www.itzehoe.de/Itzehoe/Kultur/Johann_Gottwerth_Mueller Dokumentation „Johann Gottwerth Müller“, goethezeitportal.de > Wissen > Künstler- und Denkerenzyklopädien > Johann Gottwerth Müller

Behandlungsverläufe: Die französischen Patienten von Samuel und Mélanie Hahnemann (1834–1868) Olivier Faure

Auch ohne die unbrauchbaren Zettel stellen die 328 Schriftstücke, die im Fonds C des Hahnemann-Archivs am Institut für Geschichte der Medizin der RobertBosch-Stiftung in Stuttgart2 enthalten sind, eine sehr bedeutsame Sammlung für die Geschichte der Kranken dar. Die benutzbaren Dokumente betreffen 59 „französische“ Kranke (darunter einige französisch sprechende Engländer), die in den ersten beiden Dritteln des 9. Jahrhunderts gelebt haben. Diese Texte erlauben es, eine bislang sehr auf das 8. Jahrhundert und in geringerem Maße auf die Jahrhunderte zuvor zentrierte Patientengeschichte in geographischer und in chronologischer Hinsicht zu erweitern. Auch wenn diese Dokumente nur Patienten betreffen, die von Samuel Hahnemann (755–843) und seiner Frau Mélanie d’Hervilly (800–876) behandelt wurden, bietet ihre Analyse weitergehende Aufschlüsse. Die Patienten, die sich der Homöopathie zuwenden, unterscheiden sich nämlich nicht grundsätzlich von der sonstigen Patientenschaft. Zumeist haben sie vorher andere Ärzte konsultiert und andere Behandlungen versucht. Sie teilen, grob betrachtet, die Eigenschaften all derer, die finanziell und kulturell in der Lage sind, eine ärztliche Konsultation per Korrespondenz vorzunehmen. Dagegen zwingt sie die homöopathische Anamnese, genauer als die übrigen Kranken die Behandlungen zu beschreiben, die sie zuvor erhalten haben. Um die Originalität dieser Zeugnisse hervorzuheben und um zugleich eine weniger bekannte Seite der Krankheitserfahrung zu beleuchten, habe ich mich dazu entschieden, in der Untersuchung mehr Aufmerksamkeit auf die Wege der Behandlung als auf die autobiographischen Krankheitsberichte zu richten. Diese Auswahl ist vor allem dadurch begründet, daß hier mehrere Krankengeschichten vorliegen, die von Dritten niedergeschrieben worden sind, ohne Zweifel von Ärzten, Familienmitgliedern oder Hahnemanns Ehefrau Mélanie. Wenn diese Vorgehensweise den Nachteil hat, daß die Zeug

2

Mein herzlicher Dank gilt dem Leiter des Instituts, Robert Jütte, sowie Martin Dinges für ihre wissenschaftliche, materielle, menschliche und finanzielle Unterstützung insbesondere während meiner Aufenthalte im Mai und Oktober 2003. Ich danke ebenfalls Séverine Pilloud für die Übersendung ihres Manuskripts und ihre Unterstützung. Die Korrespondenz der französischen Patienten ist im Bestand C des IGM analog zur Nummerierung der französischen Krankenjournale von C  bis C 7 gruppiert (zum Teil in chronologischer Reihenfolge, doch viele Briefe sind nicht datiert). Die Nummern 6 und 7 enthalten Briefe aus den 860er Jahren, die nach S. Hahnemanns Tod alle an Mélanie adressiert sind. Auch zu Lebzeiten Hahnemanns werden Briefe an Mélanie gesendet, die sich an beide richten, wobei Mélanie die Funktion der Sekretärin übernimmt. Im folgenden als „IGM“ zitiert.

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nisse, die in sich eine unbestreitbare Einheit besitzen, zu Analysezwecken gewissermaßen „zerstückelt“ werden, so hat sie vielleicht den Vorteil, die Untersuchung eher auf das Verhalten der Patienten als auf deren Vorstellungen oder Interpretationen von der Krankheit zu lenken. So kann man den Kranken eine aktivere Sichtweise zugestehen, ohne untersuchen zu müssen, wie groß ihre Fähigkeit ist, die gängigen literarischen, sozialen und medizinischen Codes ihrer Zeit und ihres Milieus zu reproduzieren. Mit dem folgenden Text möchte ich vor allem die These verdeutlichen, daß die Briefe nicht zuerst Orte sind, in denen präexistente Modelle widergespiegelt werden, sondern eher Arenen darstellen, in denen die Patienten und ihre Angehörigen neue Einstellungen und Verhaltensweisen – in der Interaktion mit den Ärzten – erzeugen und einüben, die insbesondere die medizinische Behandlung betreffen.3 Von der Krankheit zur Homöopathie Wie es bei Quellen dieser Art üblich ist, läßt sich ausgehend vom verfügbaren Material keine genaue soziodemographische Beschreibung der Autoren liefern. Schon die Namen sind unter den handschriftlichen Unterschriften manchmal schwer zu entziffern. Die Adressen sind nicht immer angegeben, allein die erwartbare Überrepräsentation der Region Paris ist offenkundig. Die Berufe werden noch seltener erwähnt, und die spärlichen Zeichen der sozialen Zugehörigkeit können einen falschen Eindruck vermitteln. Adelstitel (Gräfinnen, Markgrafen und Markgräfinnen) sind nicht sehr zahlreich (etwa ein Dutzend). Man wäre im Irrtum, wenn man von der Präsenz einiger großer Namen – wie den Damas, den Chabrol oder der Herzogin von Albuféra (der Witwe des Marschalls Suchet)4 – darauf schließen würde, daß Hahnemanns Pariser Patienten sich auf das schmale Band der hohen Aristokratie reduzierte. Die Namen mit Prädikat sind gewiß zahlreich vertreten, jedoch nicht zahlreicher als die Offiziere, Ärzte, Professoren, Kleriker und Kaufleute. Die bescheidene soziale Stellung von einigen steht außer Zweifel. Die Eheleute Meslin, Brauer aus Châtellerault, müssen auf die Behandlung verzichten. Die Gattin opfert sich für ihren Mann mit den Worten: „Ich gebe die Behandlung auf. Die Kosten wären einfach zu hoch. Wenn wir nur die Heilung meines Mannes erreichen könnten, das würde ich mir wünschen.“5 Man findet auch einen gleichsam in Lautschrift verfaßten Brief einer Hamelin genannten Person (Herr oder Frau), die aufgrund ihres Quasi-Analphabetismus dem unteren Segment der Unterschicht zuzurechnen sein dürfte.6 In dem eindrücklichen Panorama finden sich auch rand3 4 5 6

Vgl. das Arbeitsmodell von Roger Chartier bzgl. der Beziehungen zur Schrift in: Cavallo/ Chartier 997, passsim. Entsprechend: C 2, 6. C 3, 8. C 2, 5 Damas und Chabrol gehörten zu den ältesten Adelsfamilien Frankreichs. Louis-Gabriel Suchet (770–826) war Marschall in der kaiserlichen Armee. C 3, 3. 0. Februar 840. C 3, .

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ständige Personen wie jener Valtier, Sohn eines hohen Beamten und Schülers der École Polytechnique7, der sich als Schauspieler einer umherziehenden Theatertruppe angeschlossen hat und am Ende seines (wohl durch den SaintSimonismus beeinflußten) Briefs Hahnemann davon zu überzeugen sucht, ihm Kredit zu gewähren.8 Mit Sicherheit kennt man schließlich nur das Geschlecht der Korrespondenten und in geringerem Maße das Alter (in einem von fünf Fällen). Die Frauen sind etwa doppelt so häufig vertreten wie die Männer. Der traditionellen Sorge der Frauen für ihre Gesundheit und die ihrer Familien kann man in der Folge von Michael Stolberg9 hinzufügen, daß, zumindest in den gebildeten Schichten, die Ärzte die einzigen männlichen Personen außerhalb des familiären Rahmens waren, mit denen die Frauen sprechen konnten, ohne zu viel Verdacht zu erregen. Diejenigen, die schreiben, sind in der großen Mehrzahl zwischen 20 und 40 Jahre alt. Aus dieser skizzenhaften soziologischen Betrachtung ergeben sich eher methodologische Überlegungen als wissenschaftliche Hypothesen. Auf dieser Ebene kann man allein die soziale Homogenität der Patienten in Zweifel ziehen und vermuten, daß sich die ärztliche Konsultation per Korrespondenz zu Beginn des 9. Jahrhunderts auch bei den gebildeten Kleinbürgern oder in noch niedrigeren Sozialschichten entwickelt hat. Die Unkenntnis über die Autoren der zu analysierenden Texte hat für den Historiker von nicht zu unterschätzende Nachteile. Sie gefährdet die externe Kritik und die Kontextualisierung, die für sein Vorgehen von zentraler Bedeutung sind. Dieses Problem macht sich in unserem Fall besonders bemerkbar, insofern die Patienten Hahnemanns – ebenso wie die von Tissot und den anderen Ärzten – sich eher „als Leidende denn als Kranke“0 präsentieren. Wie die anderen Patienten verbinden sie ihren Gesundheitszustand mit der Gesamtheit ihrer Existenz. Zwar kommt in unserer Auswahl die Anspielung auf die Masturbation als Ursache für die Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht vor, dafür werden aber körperliche und seelische Traumata, sexueller Mißbrauch, Eßverhalten, Vererbung oder nervöse Empfindlichkeit in einem fort zur Erklärung für gesundheitliche Veränderungen herangezogen. Für einen Historiker wäre es unabdingbar, unter Verwendung anderer Quellen die Krankheitserfahrungen in die Lebensgeschichten so einzufügen, wie es die Patienten in ihren Berichten tun. Die Generationszugehörigkeit, die Eheverhältnisse, die Zahl und der Werdegang der Kinder, das familiäre und soziale Umfeld oder das Lektüreverhalten zu kennen, wäre Voraussetzung für eine genauere Analyse der Berichte. Es scheint also notwendig, die Sozialgeschichte der Individuen,2 welche die für jede menschliche Existenz fundamentale Erfahrung der Krankheit oftmals ausschließt, mit einer Ge7 8 9 0  2

793 gegründete Eliteschule zur Ausbildung von Ingenieuren. C 4, 27. Brief vom 7. September 840, 4 Seiten, handgeschrieben. Stolberg 2003, 94. Pilloud 2003, 25. Stolberg 2003. Corbin 998.

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schichte der Kranken, welche die anderen Lebensumstände gerne vergißt, zusammenzuführen. Diese Verbindung könnte dabei helfen, den Versuchungen einer etwas fleischlosen Geschichte der Diskurse und Repräsentationen zu widerstehen und den Gefahren der alten Sozialgeschichte, die alles, einschließlich der Empfindungen einer Krankheit, mit soziodemographischen Eigenschaften von Individuen erklären möchte, zu entgehen. Die Kranken, die Hahnemann ihr Schicksal anvertrauen, haben gewöhnlich eine lange Erfahrung im Umgang mit der Welt der Medizin hinter sich. So wie sie es beschreiben, ist ihre Einstellung gegenüber den Behandlungen nie ganz passiv, sondern führt von abwechselnden Vorlieben bis hin zur gleichzeitigen Nutzung der Gesamtheit des vorhandenen medizinischen Angebots. Ein gutes Beispiel für das erste Verhaltensmuster ist eine Mutter, die von Januar 839 an unter starken Knieschmerzen litt, welche sie sich eigenen Angaben zufolge bei einem Ortswechsel zugezogen habe, der durch die Krankheit ihrer kleinen Tochter notwendig geworden sei. Tränke, Beruhigungsmittel, Blutegel und Umschläge, die vom behandelnden Arzt, einem gewissen Pinel (der nichts mit dem berühmten Nervenarzt gemein hat), verschrieben wurden, linderten etwas die Schmerzen, ohne aber dem Knie seine Beweglichkeit oder seinen normalen Umfang zurückzugeben. Sicher im Einvernehmen mit dem behandelnden Arzt konsultiert die Patientin Anfang Mai 839 zwei berühmtere Doktoren, Pierre-Adolphe Piorry (794–879) und Jules-Gremain Cloquet (790–883). Nach einer erfolglosen Behandlung verordnen diese Bewegungslosigkeit und eine Bäderkur in Enghien. Die ausbleibende Besserung führt die Kurärzte dazu, Bewegungen zu verordnen, wodurch das Knie wieder seinen Normalzustand erreicht. Zurück zu Hause wird die Patientin von neuem zur Unbeweglichkeit verurteilt, aus der sie der Arzt erst nach einer Schwangerschaft befreit. Trotzdem muß die Unglückliche auf Krücken und einem Stützbein3 gehen. Als sie sich am Ende dieses Parcours an Hahnemann wendet, drückt ihr Brief keinerlei Unbehagen gegenüber diesen widersprüchlichen und wenig überzeugenden Behandlungen aus und enthält auch kein Anzeichen eines Aufbegehrens oder eines Selbstbehandlungsversuchs. Bei Monsieur de Comerios ist die Selbstbehandlung dagegen an der Tagesordnung. Im Alter von 34 Jahren von einem stechenden Schmerz an der rechten Seite befallen, schenkt er ihm zunächst keine Aufmerksamkeit. Als sich das Übel in einen andauernden Magenschmerz verwandelt, begnügt sich der Patient damit, gezuckertes Wasser mit Äther zu trinken. „Da die Schmerzen zurückgingen, dachte ich, daß das Mittel genügte, und ich rief keinen Arzt.“ Später verschreibt man ihm Schröpfköpfe und Blutegel, doch er zieht es vor, zur Ruhe aufs Land zu fahren und sich massieren zu lassen. Nach seiner Rückkehr beruft er eine Konferenz mehrerer Ärzte ein, die erneut zur Verordnung von Schröpfköpfen und Blutegeln führt, welche er schlecht verträgt. Zweifellos sind diese unpassenden Behandlungsversuche der Grund dafür, daß er, seiner „traurigen Situation überdrüssig, auf Herrn Dr. Hahnemann zurückgegriffen“ hat. „Wenn 3

C 4, 22.

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er glaubt, mich mit der Methode, die er erfunden hat, heilen zu können, bitte ich ihn, meine Behandlung zu übernehmen.“4 Die Familie de Fontenay ist eine ähnliche Konsumentin von ärztlichen Konsultationen, aber dabei noch aktiver im Wechsel der Ärzte und kritischer gegenüber den verordneten Behandlungen. Nachdem sie eine ihrer Töchter durch eine Lungenkrankheit verloren hatte, achtete Madame de Fontenay mit großer Sorge auf die Gesundheit der jüngeren Tochter und ließ sie wiederholt durch mehrere Ärzte, die zum Teil aus der großen Nachbarstadt Lyon anreisten, untersuchen. Dies hinderte die Mutter nicht daran, die Behandlungen zu kontrollieren. Nach einer Konsultation am 22. Juli 838 schreibt sie: „Man gab als Mittel nur Blutpulver und keine Anwendungen.“ Das folgende Rezept „wurde aufgrund von Gegenanzeigen nicht verwendet, und man begnügte sich damit, einige gemischte Bäder, ein wenig Ablenkung und viel Behutsamkeit zu verordnen.“ Die Rückkehr der undeutlichen Schmerzen führt zu einer Konsultation, bei der drei Ärzte zusammenkommen. Unter dem Druck der Mutter setzt sich die Ansicht des behandelnden Arztes durch, der sich allerdings in der Minderheit befindet. Die Bäderkur in Plombières dagegen wird dem Arzt durch die Familie, welche die Jodbäder, die dieser verschrieben hat, schon bald unterbricht, beinahe aufgezwungen. Angesichts der Uneinigkeit zwischen den Ärzten und in der Hoffnung auf wirksamere Heilmittel hat die Familie die Omöopathie [sic!] vorgezogen und mit dem Ziel, Mademoiselle die beste Pflege angedeihen zu lassen, Herrn Hannemann [sic!] ihr Vertrauen ausgesprochen. Die Familie ist davon überzeugt, daß er diese Behandlung nur bei einer begründeten Aussicht auf Erfolg ausführen wird und nichts unternimmt, was Mademoiselle de Fontenay schaden könnte oder zweifelhafte Wirkung hätte.5

Um ein Kapitel, das unendlich fortgeführt werden könnte, vorübergehend abzuschließen, erwähne ich nur noch den Rückgriff auf Methoden, die von der Mehrheit der Ärzteschaft abgelehnt werden. Diese Rückgriffe werden zuweilen von direkten therapeutischen Eingriffen durch Angehörige begleitet, wie zum Beispiel bei jenem Monsieur Morris, der sich den Magnetismus ausgesucht hat und nach zwei oder drei Versuchen in der Lage ist, seine junge Frau ohne die geringste Berührung einzuschläfern, worauf er sie zu einer Somnambulen schickt6. Madame de Saladoire geht auf die gleiche Weise vor, bevor sie sich vertrauensvoll an Hahnemann wendet.7 Man befände sich jedoch im Unrecht, wenn man diese letzten beiden Fälle verallgemeinern und im Übergang zur Homöopathie eine radikale Ablehnung der als schmerzhaft und unwirksam angesehenen Behandlungen durch orthodoxe Mediziner erkennen würde. Den Rückgriff auf die Parallelmedizin als Unzulänglichkeit oder Unmenschlichkeit der orthodoxen Medizin zu interpretieren, ist zweifellos nicht hinreichend. Wenn die Zuwendung zur Homöopathie auch sehr oft einer Bekehrung gleich4

C 2, 0. 2. Januar 835. Die Nutzung der dritten Person scheint hier als Höflichkeitsformel zu dienen. 5 C 9, 3. (839). 6 C 4, 9. Madame Morris (Oktober 839). 7 C 2, 6.

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kommt, so führt diese jedoch nicht zu einem absoluten Bruch mit der übrigen Medizin.8 Im Bericht zur Anamnese eines kranken Kindes, das von Hahnemann übernommen wird, schreibt ein Mitarbeiter, daß es eine Rippenfellentzündung gehabt habe, die der Mutter zufolge „nicht ausreichend, das heißt mit zu wenig Aderlässen behandelt“ worden sei, und das obwohl der Patient dreimal Blutegel bekam und fünfmal zur Ader gelassen wurde9. Mehrere Jahre später stützt sich eine Patientin aus der Region Toulouse auf Beobachtungen ihres Onkels, der Arzt ist, um sich selbst eine Diagnose zu stellen, und reduziert Mélanie Hahnemann auf die bloße Funktion einer Verschreiberin von Medikamenten, von denen sie sich unmittelbare Wirkung erhofft.20 Hier ist hervorzuheben, wie deutlich diese direkten Zeugnisse belegen, daß die Kranken aufgrund der Erfahrung von Leiden und Krankheiten bereits eine längere Schulung in der Selbstbeobachtung durchlaufen haben. Zugute kommt ihnen auch ein regelmäßiger Umgang mit der Welt der Medizin und deren Heil- und Pflegepraktiken. Die Patienten haben zunehmend einen therapeutischen Eklektizismus sowie eine Fähigkeit entwickelt, Nutzen aus einem reichhaltigen medizinischen Angebot zu ziehen. Sie sind in der Lage, die verschiedensten und aus unserer Sicht widersprüchlichsten Methoden auszuprobieren. Sie nehmen sich das Recht heraus, die ärztlichen Verordnungen abzuändern, und wissen, ihre Ärzte in Konkurrenz zueinander treten zu lassen, indem sie Konferenzen einberufen, was gar nicht selten der Fall gewesen zu sein scheint. Manche zögern nicht, die in der Tat wenig hermetische Grenze zwischen dem Kranken und dem Patienten zu überschreiten. Es sind vor allem die Langzeitkranken, die, zu Experimenten bereit und zugleich aufgeklärt, mißtrauisch und fordernd zugleich schließlich zu Hahnemann gehen. Die Krankheit heilen und das Leben ändern Die Briefe, die die französischen Patienten während ihrer Behandlung an Hahnemann senden, sind aus der Not geschrieben. Dieser Umstand führt leicht dazu, die Bedeutung des Medikaments in der therapeutischen Beziehung zu überschätzen. Glücklicherweise zeigen die längeren Krankheitsgeschichten, daß bei weitem nicht alle an den Arzt gerichteten Fragen die Medikation betreffen. Da die Krankheit das ganze vorangegangene Leben widerspiegelt, sollte die Behandlung die gesamte weitere Existenz verändern. Die meisten an Hahnemann gerichteten Patientenbriefe verfolgen im Wesentlichen das Ziel, Medikamente zu erhalten. Dieses Ziel scheint den Rhythmus der Korrespondenz zu bestimmen, wie die seltenen längeren Briefwechsel belegen, über die wir verfügen. Ein Kaufmann aus der Normandie namens Barbier schreibt Hahnemann im Herbst 84 regelmäßig immer dann, wenn 8 Gijswjit-Hofstra 997, 6–82 ; Faure 2002, 88–96. 9 C 2, 20. 20 C 7, , 2. Briefe von Madame Lafaye, 4. Juli und 8. August 862.

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er, „den letzten Löffel Ihres letzten Medikaments eingenommen“ hat. Diese Formulierung kehrt gleichmäßig alle 4 Tage wieder. Manche Patienten antizipieren den Moment, an dem sie ihre Medikamentenreserve aufbrauchen. „Ich habe nur noch für drei Tage Homöopathie“, schreibt eine Madame de Barolles und fügt, an Mélanie gerichtet, hinzu: „Seien Sie so gut, darauf zu achten, daß die Pulver in Ihrem Brief so wenig Platz wie möglich einnehmen, damit das Porto nicht zu teuer wird.“2 Andere sind weniger vorausschauend, wie Adèle Sanson, die den letzten Moment für ihre Ankündigung abwartet: „Morgen gehen die Pulver aus. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir umgehend neue schicken würden.“22 Unter denen, die warten, bis ihr verschriebenes Mittel aufgebraucht ist, findet man nicht nur den oder die Analphabeten,23 sondern auch gebildetere Personen, die in der Lage sind, den Verlauf ihres Leidens mit einem sehr reichhaltigen Vokabular zu beschreiben. Eine unter ihnen hebt am Ende ihres Briefs den unpersönlich formulierten Satz hervor: „Es gibt keine Medikamente mehr.“24 Auf den ersten Blick stützt diese Art der Formulierung nur die seither verbreitete Ansicht von der zentralen Rolle des Medikaments im therapeutischen Umgang mit den Kranken, die zumindest seit dem Ende des 8. Jahrhunderts bestehen soll.25 Die Homöopathie trägt zur Verstärkung dieser historischen Entwicklung auf verschiedene Weise bei. Die Behandlung reduziert sich trotz der Hochschätzung der Diätetik in den homöopathischen Schriften zumindest in der Sicht der Patienten auf die bloße Einnahme von Medikamenten und schließt die anderen therapeutischen Techniken, die in der Allgemeinmedizin damals verbreitet waren, aus. Im übrigen sind die homöopathischen Medikamente trotz der Entstehung von spezialisierten Apotheken, auf die einige wenige Familien zurückgreifen,26 in den meisten Apotheken nicht erhältlich und werden oftmals durch den Arzt geliefert, der sie einem Brief beifügt. Somit ist es nur folgerichtig, daß die Frage nach Arzneimitteln in den Briefwechseln so häufig auftaucht. Doch man irrt, wenn man unterstellt, daß dieser Austausch keine tiefere Bedeutung hätte. Er läßt sich nicht auf eine kommerzielle Nachfrage reduzieren. Die Seltenheit des Medikaments erzeugt bei den Kranken die Angst eines Mangels, was seinen Wert sowohl auf der realen als auch auf der symbolischen Ebene erheblich steigert. In gleicher Weise erhöht das Geheimnis, mit dem die homöopathischen Medikamente umwoben sind, deren Prestige. Die meisten Kranken kennen die Zusammensetzung dessen, was ihnen Hahnemann verschreibt, nicht. So müssen sie das entsprechende Medikament mit vagen Worten wie Pulver, Mittel oder Medizin beschreiben. In Ermangelung eines Namens wird das Medikament durch die Nummer seiner Verpackung bezeichnet. „Ich habe 2 C 4, 8. 22 C 4, . 23 C 3, . Brief von Hedelin „vous prie da voir la bontee de me fer pascer un medicamnet car je net plue rien aprandre“ (sic). 24 C 7, . Brief von Madame Paisant, Mai 842. 25 Ramsey 982, 25–232; Jones/Brockliss 997 Kap. 0; Faure 993, passim. 26 C 4, 23.

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den Brief des Doktors erhalten und die zwei Päckchen Nr. , die er enthielt“, schreibt eine Patientin, die im übrigen nicht zögert, den Rest des Päckchens Nr.  aufzubrauchen, welches ihr mehrere Monate zuvor verschrieben worden war.27 Es kommt auch vor, daß das Geheimnis der Homöopathie, in Verbindung mit dem Verteilungsmonopol des Arztes, irrationale Verhaltensweisen hervorruft, welche die Medikamente schnell zu Allheilmitteln werden lassen. „Ich weiß nicht, welch starker Wunsch mich dazu getrieben hat, Sie um eines Ihrer so wohltuenden Pulver zu bitten, das den Kopf befreit,“28 schreibt eine Frau, während eine andere etwas verlangt, „das mir hilft“.29 Eine dritte fragt für eine Kranke, um die sie sich kümmert, nach „ein wenig Erleichterung“,30 und ein vierter verlangt ein Mittel, das seine Schmerzen „ganz verschwinden läßt“.3 Während sie beide in Behandlung sind, erreicht die Eheleute Meslin ein Brief, in dem sich nur ein Päckchen befindet. „So hat mein Mann das Mittel probiert, weil er sich nicht sicher war, ob es für ihn oder für mich bestimmt war. Er nimmt es seit drei Tagen ein, ohne daß sich irgendein Übel eingestellt hätte.“32 Die Unkenntnis über die Zusammensetzung eines Medikaments kann aber auch beunruhigen, wie es bei der Frau des Doktors Croserio (786–855), eines Schülers von Hahnemann, deutlich zum Ausdruck kommt: Wären Sie so gut, mir zu sagen, was es für ein Medikament ist, das Sie meinem Mann verabreichen, denn wenn ich ihn leiden sehe, ohne den Grund dafür zu kennen, verliere ich den Kopf. Wenn ich aber wüßte, woraus das Mittel besteht, könnte ich sehen, ob es sich um einen primären Effekt handelt, ich wäre ruhiger und könnte auch meinen Kranken beruhigen.33

Selbst Patienten, die weder fähig noch autorisiert sind, ihre Zweifel auf diese Weise kundzutun, zögern nicht, die vorgeschriebene Behandlung zu verändern. Die Taktik des Geheimnisses, welche die Abhängigkeit gegenüber dem Arzt verstärkt, stößt schnell an ihre Grenzen.34 Tatsächlich werfen die Briefwechsel Fragen zur Befolgung von therapeutischen Anweisungen auf. Es herrscht gewiß kein Mangel an Kranken, die stolz bezeugen, daß sie die zugesendeten Medikamente genau nach Vorschrift eingenommen haben,35 doch diejenigen, die eine persönliche Initiative ergreifen, sind in der Mehrzahl. Es wird von Auslassungen oder Aufschüben der Behandlung während der Regel oder anderen schmerzhaften Episoden selbst von Kranken berichtet, die ansonsten ihre Treue zu den ärztlichen Anweisungen bekunden.36 Zumeist ist es die Angst vor zusätzlichen Störungen, mit der diese 27 28 29 30 3 32 33 34 35 36

C 0, 3. 9. August 839. C 6, 24. Brief der Gräfin de Chousy. C 3, 4. C 8, 2. Brief von Madame Provost. C 4, 25. Brief von Bertin, 2. Mai 84. C 6, 2. 26. April 840. C 6, 2. 7. März 842. Dinges 2002, 98–04. C 7, 6. Brief der Gräfin Ferrand. C 7, 9. C 6, 6. C 6, 22. C 4, 2. C 7, 23. C 7, 34. C 7, 49.

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Verschiebungen gerechtfertigt werden. Auch die Anzeichen der Gesundung rechtfertigen Unterbrechungen oder die Aufgabe der Behandlung. Ein Mann schreibt, nachdem es seiner Frau vier Tage lang spürbar besser gegangen ist: Zwei Tage zuvor war das letzte Medikament ausgegangen. Ich hatte die Idee, einen Abstand von zwei oder drei Tagen zu lassen, und ich wollte Ihnen erst morgen schreiben ... Das erneute Auftreten der Blutung ließ mich jedoch bereuen, daß ich nicht dem natürlichen Weg gefolgt bin und Ihnen schrieb, als das Medikament zu Ende war.37

Patienten, die ihre Behandlung verändern, stellen ebenso interessante Fälle dar wie diejenigen, welche die Einnahme des Medikaments unmittelbar mit der Präsenz von Symptomen verbinden. Hier sind zwei Varianten zu unterscheiden. Im ersten Fall verändert der Kranke, seinen eigenen Beobachtungen folgend, die Dosierung des Medikaments. Diese Form der Eigenständigkeit wird durch die Entfernung begünstigt und steht häufig im Zusammenhang mit dem Sommerurlaub fernab von Paris.38 Auch bescheidenere Kranke in der Provinz praktizieren sie, wie zum Beispiel Elisa Marteau, die versichert: „Ich glaube, pro Tag nur zwei Löffel von dem Medikament nehmen zu müssen, denn es schien mir, daß ich stärker litt, als ich drei Löffel nahm. Und vier Löffel (zweifellos die vorgeschriebene Dosis, O.F.) habe ich gar nur einmal genommen.“39 Die Mehrheit zeigt eher die Tendenz, die Dosis zu erhöhen, und neigt dementsprechend dazu, auch stärker wirkende Mittel zu probieren. Eine anonyme Person behauptet, daß sie sich „[das Medikament] pur in der Dosis von einem Eßlöffel an jedem Morgen verabreicht“ habe, bis zum Auftritt von Koliken, die sie dazu gebracht hätten, „das Medikament nicht mehr zu nehmen“.40 Verzweifelt darüber, daß er nach drei Tagen keine Wirkung feststellt, erhöht ein anderer Patient die Dosis und nimmt schließlich „eine neue Medizin in der Dosis von zwei Löffeln, aufgelöst in 3 Eßlöffeln Wasser und zwei Löffeln Schnaps“.4 Der zweite (seltenere) Fall betrifft Patienten, die den Zweck eines Medikaments entfremden. Basierend auf einer Vorstellung von Körperökonomie, nach der sich Herzschmerzen und Magenschmerzen gegenseitig ausschließen, nutzt Madame de Charce die ihr verschriebenen Medikamente auf eine merkwürdige Weise. Sie nimmt zwar das verschriebene Medikament, wendet es aber für einen ganz anderen als den vom Arzt intendierten Zweck an: Ich habe meinen Löffel Medikament, wie Sie es verordnet haben, in zwei Gläsern Wasser aufgelöst, doch dies verhinderte nicht, daß ich mehr Herzschmerzen hatte als vor dem letzten Mittel. Ich habe es trotzdem weiter genommen, weil ich dachte, es wäre nützlich für die Regel.42

37 38 39 40 4 42

C , 20 (Ende 84). C 5, 2. C 2, 24. 5. November 837. C 7, 20. C 7, 2. Brief von Delaunois (Reims), 27. Oktober 84. C 6, 9.

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All diese Fälle könnten einfach als Illustration für einige der grundlegenden Tendenzen der „vorherrschenden Medikalkultur“ angesehen werden. Sie haben den Vorteil, dass man hier einen wichtigen Aspekt, die besondere Beziehung zum Medikament, in der tagtäglichen Interaktion beobachten kann. Die herausragende Rolle des Medikaments in der Homöopathie, die besonderen Bedingungen seiner Verteilung sowie die Geheimnisse, die es umgeben, tragen zur einer Art Sakralisierung des Arzneimittels bei, das in dieser Zeit bereits eine zentrale Rolle in der Beziehung zwischen dem Arzt und den Kranken spielt. Es ist bestimmt kein Zufall, daß unter den Patienten Hahnemanns zumindest auch ein frühes Beispiel für bestimmte Formen von Medikamentenabhängigkeit zu finden ist. In den zahlreichen Briefen, die sie von April 842 bis Januar 843 schreibt,43 vergißt Aline de Saint-Ouen aus Valenciennes niemals, nach Medikamenten zu fragen, die ihr stets „gut bekommen“. Ihr Vertrauen in die Pulver ist absolut: „Wie Sie sehen, geht es mir zur Zeit gut, doch das verdanke ich dem Medikament des Doktors.“44 Für Madame de Saint-Ouen dienen die Medikamente nicht nur zur Bekämpfung der Krankheit, sondern auch zur Erhaltung der Gesundheit. Der Gebrauch wird also regelmäßig: „Wie Sie sehen, geht es mir weiterhin gut, doch ich könnte nicht lange ohne die Mittel des Doktors bleiben, denn die Hitze in der Brust und vor allem im Magen würde sofort wieder zurückkehren.“45 Sie kommt nicht mehr ohne das Hilfsmittel aus. Am 25. April 842 schreibt sie: Seit langer Zeit haben Sie mir kein Medikament mehr geschickt … Ich würde mich freuen, wenn Sie mir ein neues Päckchen zusendeten, denn ich fürchte, vor allem in dieser Jahreszeit, ohne Medikament zu bleiben. Es ist die Zeit, in der die leidige Krankheit begonnen hat, die Zeit der Blätter, und ich fürchte, daß das eine und das andere nicht ohne Einfluß auf mich bleiben.46

Wenn diese Beispiele auch längst nicht repräsentativ sind, haben sie doch eine gewisse Bedeutung. Die regelmäßige, häufige und massive Einnahme von Arzneimitteln ist weder völlig neu noch spezifisch für die Homöopathie, denn zumindest gegen Ende des 8. Jahrhunderts lässt sich in den breiten Belvölkerungs mehrheit sowohl ein weit verbreiteter massiver Gebrauch der Thermalbäder als auch der Geheimmittel belegen.47 Allerdings verpflichtet die homöopathische Behandlung den Patienten, sich auch außerhalb der direkten ärztlichen Kontrolle ständig selbst zu beobachten, um über seinen Zustand berichten zu können. Durch diese Art der Konsultation werden sowohl die Autonomie des Kranken als auch seine Selbstmedikation besonders gefördert. Dies macht auch in den Oberschichten die massive Nutzung von Medikamenten heimisch. Diese Selbstbeobachtung festigt auch den Zusammenhang zwischen Krankheit und der gesamten Existenz des Kranken. 43 44 45 46 47

C , 9 bis 8. C , 0. 9. Mai 842. C , . 30. Mai 842. C , 0. Ramsey 988 passim; Faure 985 p. 245–258

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Leben und Lebensweise verändern Die Erwartungen der Kranken beschränken sich nicht nur auf den Erhalt von Medikamenten, denen mehr oder weniger magische Fähigkeiten zugeschrieben werden. Obwohl sich die Antwortbriefe Hahnemanns nicht erhalten haben, ist es möglich zu beschreiben, wie die Kranken innerhalb der therapeutischen Beziehung ihrem seelischen und geistigen Zustand immer mehr Bedeutung zuweisen. Von da an gelangen einige zu dem Wunsch, ihre Lebensweise oder gar ihr Leben zu verändern, und zählen auf den Arzt, ihnen dabei zu helfen. Es ist natürlich nicht leicht, nachzuzeichnen, wie man sich dessen bewusst wurde, was man heute die Psyche nennt. Bei den Beschreibungen der Krankheitsverläufe messen die Hahnemann nahestehenden Ärzte, wie noch die Gesamtheit der Mediziner des 8. Jahrhunderts, dem Temperament und insbesondere der nervlichen Verfassung große Bedeutung zu. In der Lebensbeschreibung von Mademoiselle Walker heißt es, daß sowohl der Vater als die Mutter nervös gewesen seien. „Sie selbst war seit der Kindheit nervös und unruhig, sie schlief wenig.“ Mit zwölf Jahren war sie „immer fröhlich, aber nervös, sie stand in der Nacht auf und ging in ihrem Zimmer herum“. Mit 5 „zeigte sie eine starke Schüchternheit in Gesellschaft“. Als Erwachsene wird sie folgendermaßen beschrieben: „Sie ängstigt sich aus dem geringsten oder gar keinem Grund, und dann leidet sie an Kopfschmerzen, Schwere- oder Völlegefühl, was ihren Wunsch auslöst, mit Blutegeln behandelt zu werden.“48 Die Briefschreiben liefern mit ihren Beschreibungen während der Fallaufnahme den Ärzten konkrete Anhaltspunkte für die Theorie, daß die Nerven für Krankheiten eine hohe Bedeutung haben. Ein Beispiel mag das illustrieren. Mithilfe der Informationen, welche die folgende Patientin übermittelt, erstellt der Arzt das sehr genaue und moderne Bild eines Angstzustands im heutigen Sinn des Wortes: Man legt sich hin, weil man schlafen möchte, doch sobald man im Bett ist, arbeitet die Vorstellung. Die schwärzesten Ideen präsentieren sich massenhaft. Man kann sie nicht verjagen. Sehr alter Kummer kommt ins Gedächtnis zurück. Erstickung, Ängste, Verzweiflung und Unruhe wie in Erwartung eines Unglücks, das Sie ereilen wird.49

Ein anderer Fall bietet dem Arzt die Gelegenheit, die Rolle der Psyche in der Entwicklung von körperlichen Symptomen hervorzuheben. Nachdem er den Haarausfall einer Krankheit zugeschrieben hat, notiert er: „Der Schmerz, den sie über den Verlust der Haare empfindet, trägt möglicherweise dazu bei, daß der Haarausfall sich verstärkt.“50 Die spontanen Bekenntnisse der Kranken beinhalten trotz der leicht veränderten Wortwahl nichts anderes. „All das kommt von den Nerven“, sagt ein Patient einem Freund. „Ich habe oft bei mir Ideen, die ich als ganz eigene erkenne und niemandem gegenüber äußern würde“, schreibt eine Patientin, die ihr Unbewußtes entdeckt. „Ich habe wenig Hoffnung auf eine Heilung“, so beginnt Madame Cazalet ihre „kleine Krank48 C , 6. 49 C 2, 4. 2. Dezember 837. (Madame Poudra). 50 C 6, 6. (Madame Jouvenel).

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heitsgeschichte“. „Seit sechs Jahren werde ich vom Unglück verfolgt, tief innen trage ich ein Übel, das mich aushöhlt.“ Die Aufzählung ihrer Leiden schließt sie mit den Worten ab: „Meine armen Nerven sind in einem solchen Zustand, daß ich jeden Moment losheule. Ich fühle mich traurig und unglücklich.“5 Die Schilderungen von Madame Frétellière klingen etwas weniger tragisch: „Im Verlauf dieses Abschnitts meines Lebens habe ich mir genügend Sorgen gemacht, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß sie meine Krankheit beeinflussen, denn wenn ich Grund zum Kummer hatte, litt ich stets noch mehr.“52 So selten diese Ausnahmezeugnisse sind, sie zeigen, daß das Schreiben über die Krankheit durch den Zwang, Dinge genau zu erklären und in Worte zu fassen, zu einer Veränderung der Wahrnehmung und der Interpretation sowohl bei den Kranken als auch bei den Ärzten führt. Im Rahmen einer therapeutischen Beziehung begnügen sich die Patienten nicht damit, ihre Krankheiten zu beschreiben oder deren Beendigung einzufordern. Jenseits der verbreiteten Bitte um Medikamente, welche die Krankheit besiegen oder die Gesundheit erhalten mögen, erwarten manche Patienten ganz andere Dinge von ihrem Arzt. In der Fortsetzung eines moralischen Umgangs mit Krankheit wünschen sie, ihren Charakter zu verändern. Der Umweg über die Schrift erleichtert hier vielleicht den Ausdruck von Hoffnungen, den gesamten Lebenswandel und damit auch die weitere Lebensperspektive zu ändern. Als minoritäre Praxis und als medizinische Richtung, die mit anderen mehr oder weniger prophetischen Strömungen wie dem SaintSimonismus in Verbindung steht, hilft die Homöopathie den Kranken gewiß, in ihren Briefen über den bloß medizinischen Bereich hinauszugehen. Die Art der Beziehung zwischen einer charismatischen Persönlichkeit wie Hahnemann und den Kranken, die sich ihm vertrauensvoll eröffnen, erklärt die Vielfalt unterschiedlichster Fragen, die sie an ihn richten. Tatsächlich sind die Zeichen des Vertrauens, der Freundschaft, der Zuneigung oder gar der Liebe in der Korrespondenz mit Hahnemann weit verbreitet. Diesen affektgefärbten Verhältnissen verdanken wir die erstaunlichsten Erklärungen. Die bereits zitierte Madame Cazalet beendet ihren Brief mit den folgenden Worten: „Ich erbitte von Ihnen Kraft und Mut … Geben Sie mir die Kraft, all meinen Kummer zu ertragen.“53 Den Arzt um Kraft und Mut zu bitten, ist vom bloßen Verlangen nach Medikamenten weit entfernt. Durch Vermittlung eines Freundes fordert ein anderer Patient von Mélanie, daß sie ihm ein wenig Ruhe verschaffe, und endet folgendermaßen: „Sagen Sie ihr, daß ich lymphatisch, dünn und blaß bin. Und wie dankbar ich ihr wäre, wenn sie all das ändern könnte.“54 Andere Korrespondenten sind pragmatischer. Ein Priester vom Orden Saint-Sulpice55 5 52 53 54 55

C 2, 3. C 2, 7. C 2, 3. C 5, 7. Die im Jahre 642 gegründete „Compagnie des prêtres de Saint-Sulpice“ spielte eine bedeutende Rolle in der Mission, insbesondere in Quebec, sowie bei der rigoristischen und konservativen Ausbildung der französischen Priester im 9. Jahrhundert.

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bittet um Rat, ob er besser ein aktives Leben in Kanada führen oder „sich um die kirchliche Jugend im Seminar kümmern“ solle. Gleichwohl fragt er den Herrn Doktor, ob er nicht „in seiner Kunst über ein Mittel verfügt, das die Aktivität der Vorstellungskraft indirekt beruhigt“.56 Madame Paillet bedankt sich bei Mélanie dafür, daß sie ihre Gesundheit wiederhergestellt habe: „Ich hoffe fest darauf, daß mir Ihre Wissenschaft die Erscheinung des Alters nimmt und meinen Körper dazu bringt, sich so zu fühlen, als wäre er jung.“57 Man kann diese Äußerung natürlich als einen Ausdruck des alten Mythos vom Jungbrunnen interpretieren. Allerdings ist sie an einen „Arzt“, nicht an einen Hexenmeister gerichtet. Damit ist sie Teil einer rationellen Strategie, von der man konkrete Resultate erwartet, und nicht Ausdruck magischen Denkens. Insofern könnte man diesen Wunsch sogar mit heutigen Erwartungen vergleichen, in denen das Jungbleiben ein Vorteil und eine Art sozialer Verpflichtung geworden ist. Insofern sollte dieser Patientenwunsch nicht als Archaismus, sondern eher als frühes Zeugnis der Entstehung eines „Selbstverbesserungsmarktes“58 deuten. So ist die medizinische Korrespondenz, jenseits der Besonderheit der untersuchten Beispiele, mehr als nur ein Abbild für existierende Modelle. Sie stellt in gewisser Weise eine Werkstatt zur Verfügung, in der im Rahmen der Beziehung Arzt/Patient sowohl neue unmittelbare Verhaltensweisen gegenüber den Behandlungen als auch neue Auffassungen von Krankheit und Individualität zunehmend ausbilden. Diese betreffen gleichermaßen die Ärzte und die Patienten in dem fortwährenden Austausch, den die Konsultationen per Brief darstellen. Man kann die Geburt der Psychoanalyse und die Entstehung anderer neuer Techniken also nicht als Resultat einer Bewegung ansehen, die allein innerhalb der Welt der Medizin stattfindet. Die zunehmende Aufmerksamkeit für das Individuum und seine Psyche ist natürlich nicht ohne die globale gesellschaftliche Entwicklung zu verstehen, doch sie benötigt besondere Umstände, um sich herauszukristallisieren. Die ärztlichen Konsultationen stellen zweifellos einen der wichtigsten Orte dar, in denen neue Bestrebungen ausgearbeitet werden und Formen annehmen, die weit über die bloße physische Gesundheit hinausgehen. Bibliographie Cavallo, Giorgio/Roger Chartier (Hrsg.), Histoire de la lecture dans le monde occidental (Paris 997) Corbin, Alain, Le monde retrouvé de L. F. Pinagot. Sur les traces d’un inconnu (Paris 998) Dinges, Martin, „Men’s bodies explained on a daily basis in letters from Patients to Hahnemann“, in: Martin Dinges (Hg.), Patients in the history of homeopathy (Sheffield 2002), 98– 04 56 C 4, 5. 4. September 840. 57 C 6, . 26. April 868. 58 Ehrenberg 995.

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Ehrenberg, Alain, L’individu incertain (Paris 995) Faure, Olivier, „La vogue des eaux minérales au XIXe siècle: L’exemple de la région lyonnaise et stéphanoise“, in: Le corps et la santé (Paris 985), Bd. , 245–258 Faure, Olivier, Les Français et leur médecine au XIXe siècle (Paris 993) Faure, Olivier, „L’homéopathie entre contestation et intégration“, Actes de la recherche en sciences sociales, Juni 2002, 88–96 Gijswijt-Hofstra, Marijke, „Conversions to homeopathy in the 9th century. The rationality of medical deviance“, in: Marijke Gijswijt-Hofstra/Hilary Marland/Hans De Wardt (Hrsg.), Illness and healings alternatives in western Europe (London, New York 997) Jones, Colin/Lawrence Brockliss, The medical world of early modern France (Oxford 997) Pilloud, Séverine, Expérience de la maladie et pratique médicale au siècle des Lumières: étude de la correspondance adressée au docteur S. A. Tissot (Lausanne 2003) Ramsey, Matthew, „The regulation of secret remedies in the Ancien Régime“, in: Jean-Pierre Goubert (Hg.) „La médicalisation de la société française (770–830), Historical Reflections/ Réflexions Historiques 9 (982), 25–232 Ramsey, Matthew, Professional and popular medicine in France (1770–1830) (Cambridge 988) Stolberg, Michael, Homo patiens: Krankheit und Körpererfahrung in der frühen Neuzeit (Köln, Weimar 2003)

Krankheitsdarstellungen in Briefen an Samuel Hahnemann – eine Lektüre aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive Bettina Brockmeyer

Einleitung Im Jahre 1833 definierte Samuel Hahnemann (1755–1843) im Vorwort des Organon der Heilkunst Krankheiten als „Verstimmungen“ der „Lebenskraft“1. Ganz unterschiedliche Beschreibungen verstimmter Kräfte präsentierten dem Begründer der Homöopathie zeitgleich seine Patientinnen und Patienten in ihren Briefen3. Um die Darstellungsweisen soll es im Folgenden insbesondere gehen. Briefe bilden als dialogische Selbstzeugnisse und als Orte von (Selbst)Insze­ nierungen eine reichhaltige historische Quelle4. Das gleiche gilt für Patienten­ briefe, aus denen vor allem historische Entwicklungen von Krankheits­ und

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Für Kritik und Anregungen, die zum Entstehen dieses Artikels, der auf ersten Ergebnissen meiner Dissertation zu Körperwahrnehmungen im frühen 19. Jahrhundert basiert, wesent­ lich beigetragen haben, danke ich besonders Prof. Dr. Rebekka Habermas, Dr. Karen Nolte, Tanja Schultz, Prof. Dr. Heide Wunder. Hahnemann 00, 3. Die erste Auflage dieses Hauptwerks von Samuel Hahnemann er­ schien 1810 als „Organon der rationellen Heilkunde“, die zweite und die folgenden (es wurde zu Lebzeiten Hahnemanns fünfmal aufgelegt) als „Organon der Heilkunst“. Den Patientinnen und Patienten wird die . Auflage vorgelegen haben. Dinges 00, 105, Anm. 15. Ich beziehe mich in diesem Artikel auf die 6. Auflage (Manuskript von 184), weil sie als textkritische Ausgabe vorliegt. Francisca Loetz weist darauf hin, dass „Patienten“ mit der Medikalisierung entstünden und diese erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetze. Loetz 1993, 56. Ich verwende jedoch weiterhin den Begriff, da er in den Briefen vorkommt. S. z. B. Pastor Günther über seine Frau, B 3010. Vgl. auch Stolberg 003, 8, Anm. 1. Es handelt sich dabei um über 5000 Briefe und Krankentageblätter aus den Jahren 1831–35. Sie liegen im Homöopathiearchiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und besonders dem Leiter des Archivs, Prof. Dr. Martin Dinges, für die fortwährende Unterstützung bedanken. Ich zitiere im Folgenden aus dem Bestand Patien­ tenbriefe (B). S. zum Inszenierungscharakter von Briefen exemplarisch die Untersuchung zu Heinrich von Kleist. Herrmann 1997. Zur Quellenkritik von Selbstzeugnissen s. z. B. Brändle 001. Allerdings soll der eher defensive Ansatz dieser Einleitung zu Selbstzeugnissen als histo­ rischer Quelle nicht übernommen werden (vgl. die Warnung vor „Irrwegen“ ohne die „Verschränkung von Kontextualisierung und Historisierung“ Brändle 001, 6), vielmehr gilt es meines Erachtens, das Potential für eine Untersuchung zu betonen, das Briefe gerade in ihrer Rhetorik und in ihren Inszenierungen in sich bergen.

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Körperwahrnehmungen ersichtlich werden5. In ihrer Dialogizität gewähren Briefe einen Einblick in Selbstkonstituierungsprozesse. Denn die Korrespon­ denzstruktur zeugt von einem Selbst, das im Austausch mit einem anderen überhaupt erst entsteht bzw. sich entwickelt6. Das frühe 19. Jahrhundert ist aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive besonders interessant. Schließlich wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert die biologisch begründete Kategorie Geschlecht erst „erfunden“7: Die noch junge Anthropologie schied männlich und weiblich qua „Natur“ und auch Lexikon­ artikel belegen die Herausbildung von „Geschlechtscharakteren“8. Für meine Untersuchung ist dabei entscheidend, dass die Verfasser normativer Texte die­ sen Geschlechtscharakteren polarisierte Eigenschaften zuschrieben: So erhielten z. B. Frauen Emotionalität, Empfindung und Gemüt und Männer Rationalität, Wissen und die Fähigkeit zu abstrahieren9. Karin Hausen stellte diese polari­ sierende Differenzierung zwischen Frauen und Männern in einen engen Zu­ sammenhang mit der Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft10. Für das Bürgertum um 1800 liegen mikrohistorische Studien vor, die aufzeigen, wie Geschlechterzuschreibungen (de)konstruiert und umgesetzt wurden11. Im Folgenden untersuche ich anhand von vier (bürgerlichen1) Patientinnen und Patienten, was im Schreiben über Krankheit in Briefen verhandelt wird, und frage zugleich, ob die Diskurse13 über Frauen und Männer von den Ak­ teurinnen und Akteuren14 aufgegriffen wurden. Wie wird Geschlecht herge­ stellt15? 5

Zum historischen Wandel und zur sozialen Konstruktion von Krankheit(svorstellungen) s. z. B. Jütte 199. Im deutschsprachigen Raum hat als erste Barbara Duden Körperwahr­ nehmungen historisiert. Duden 1987. Zu Patientenbriefen als Quelle s. z. B. Stolberg 003, 1. 6 Auch wenn keine Antwortschreiben Hahnemanns vorliegen, weisen die Briefe doch zu­ mindest Vermerke Hahnemanns über seine Antwort auf, und es findet sich in allen Briefen die dialogische Struktur wieder. 7 Wunder bezeichnet Geschlecht im Hinblick auf Mittelalter und Frühe Neuzeit als eine „Erfindung der Moderne“. Wunder 199, 13. Allerdings weist Michael Stolberg darauf hin, dass in der Medizin um 1600 bereits von der „natürlichen“ Beschaffenheit der Frau die Rede ist. Stolberg 003, 4. 8 Hausen 1976, 369f; vgl. auch Honegger 1991; Hausen 1998. 9 Hausen 1976, 368. 10 Hausen 1976, 390–93. 11 Habermas 000 (zum „Bürgertum“ s. S. 1–3); Trepp 1996. 1 Bürgerliche und zunehmend Adelige machten einen Großteil der Patientenschaft aus. Zur sozialen Zusammensetzung s. z. B. Dinges 00. 13 Vgl. zum Diskursbegriff Foucault 1969, 116–138 u. 53. 14 Bei dem Akteursbegriff beziehe ich mich auf Alf Lüdtke, der „Akteur“ keineswegs gleich­ setzt mit einem autonomen Subjekt, sondern auf die Beziehungen zu anderen verweist, in denen Akteure und Akteurinnen ihre „Kapazitäten“ entwickeln. Lüdtke 1991, 1 f. Michael Maset weist darauf hin, dass Untersuchungen der Geschichtswissenschaft nicht mit „einem philosophisch­emanzipatorischen Konzept von Subjekt und ‚agency’“ arbeiten können, da damit ein von der Geschichte unabhängiges Subjekt ausgedrückt wird. Maset 00, 51. 15 Dieser Frage liegt eine Definition von Geschlecht zugrunde, die „männlich“ oder „weib­ lich“ nicht als Zustand beschreibt, sondern vielmehr als permanenten Herstellungs­ und

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Die Analyse der Kategorie Geschlecht kann Aufschluss geben über zwi­ schenmenschliche und gesellschaftliche Beziehungen und Machtverhältnisse16. Dabei ist diese Kategorie als veränderlich und nicht alleinstehend zu betrach­ ten17. Ich werde sie im Folgenden daher auch nicht isoliert, sondern anhand des modernen Begriffs der Privatheit, sowie in Verbindung mit Erfahrung, Diskurs und Konflikt untersuchen. Krankheit und Privatheit – Schreibsituationen Der Chausseegeldereinnehmer Johann Adolph Scheffel schreibt von 1831 bis 1835 zwanzig Briefe nebst Symptomberichten. In letzteren stellt er dar, dass er vor allem unter Bluthusten und den Folgen einer einige Jahre zurückliegenden Trippererkrankung leide18. In der heutigen medizinischen Einschätzung mag der Bluthusten als das gravierendere Symptom erscheinen, doch widmet sich Scheffel vornehmlich seinen Geschlechtsorganen. Akribisch notiert er, was er an ihnen wahrnimmt: Saamenerguß des Nachts ohne Erinnerung eines geilen Traums aller 8.–14. Tage. – Beim Urinieren mitunter etwas brennend schneidende Empfindung in der Harnrohre vorn. – der Hodensack hängt meist schlaff herab die Hoden fühlen sich wie zerquetscht mehr der linke dabei wie mit Nebenhoden oder Knäuelartig umgeben beim Befühlen auch bei der leisesten Berührung wie unterkötig ziehende Empfindung in denselben mehr im linken, manchmal sind die Hoden etwas fühlbarer ohne Empfindung […]19.

In den Symptomschilderungen kann Scheffel eine Detailliertheit zum Ausdruck bringen, die ihm die Schreibsituation ermöglicht. Denn er richtete sie an einen Arzt, der Präzision verlangte. Hahnemann fordert in seinem Organon die “in­ dividualisierende Untersuchung eines Krankheits­Falles“. Die Anamnese be­ steht danach aus folgenden Teilen: Der Arzt solle den Patienten, die Patientin die Beschwerden klagen lassen, dann gezielt nachfragen und seine eigenen Beobachtungen dem Gehörten hinzufügen0. Die homöopathische Anamnese ist sehr intensiv und es liegt ihr ein ganzheitliches Verständnis zugrunde: Nächstdem muß das Alter des Kranken, seine Lebens­Weise und Diät, es müssen seine Beschäftigungen, seine häusliche Lage, seine bürgerlichen Verhältnisse usw. in Rücksicht genommen werden, […]. So darf auch seine Gemüths­ und Denkungs­Art, ob sie die Cur hindere, oder ob sie psychisch zu leiten, zu begünstigen oder abzuändern sey, nicht aus der Acht gelassen werden1.

Damit präsentiert Hahnemann einen Fragenkatalog, der die Darstellung des Selbst richtungsweisend vorstrukturiert und dem Arzt einen weitreichenden Einblick in die Lebensweise der Patientin oder des Patienten ermöglicht. So 16 17 18 19 0 1

Aushandlungsprozess (Doing gender). Vgl. West/Zimmerman 1991. Scott 1987, 1067 f. Vgl. Habermas 000, 1 S. z. B. B 31378, 7; B 331, 6. B 331, 6 f. Hahnemann 00, 17 f. Hahnemann 00, 18.

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schildert auch Chausseegeldereinnehmer Scheffel in den Briefen seine Lebens­ umstände und seine „Gemüths­ und Denkungs­Art“. 1833 hat er Hahnemann eine willkommene Nachricht mitzuteilen: […] in der letzten Zeit wurde ich in Großenhayn mit einen Mädchen von 3. Jahren einer gewißen Demoiselle Schirmer bekannt, von guter unbescholtener Aufführung, und zu allen häuslichen Verrichtungen im Elterlichen Hause angehalten, bin ich überzeugt ein gutes braves Weib an ihr zu finden. Auch ist Sie übrigens auf Versicherung Ihrer Eltern gesund; das Einzige, was mir auch die Eltern vor der Verlobung mittheilten, ist, daß Sie in Ihren Kindesjahren durch Unachtsamkeit des Dienstmädchens ein Mal gefallen und dadurch in der rechten Seite des Körpers eine Art Verkrümmung in der Lendenwirbelge­ gend erhalten hat, […]3.

Mit den Eltern der Braut ist die gesundheitliche Konstitution der zukünftigen Ehefrau besprochen. Im selben Brief schreibt Scheffel, dass er weder den Schwiegereltern noch der Braut von seinem Bluthusten berichtet habe und fragt Hahnemann, wie er in Zukunft das Verfassen von Symptomberichten vor seiner Frau verbergen könne. Der moderne Begriff der Privatheit4 bietet eine Möglichkeit, diese Passage zu deuten. Demnach würde Scheffel hier Geschlechterverhältnisse entwerfen, die ihm ein größeres Reservat an Informationen5 zugestehen als der Braut. Die Hierarchisierung (die Frau bekommt weniger Privatheit zugesprochen als der Mann) verdeckt die Sorge darüber, dass die eigene Krankheit ein Ehehin­ dernis darstellen könnte6. Denn als diese Sorge nach der Heirat obsolet wird, ist auch der Dialog zwischen Scheffel und Hahnemann ein anderer. So fehlt in den Briefen nach der Eheschließung jegliche Darstellung des ehelichen Mit­ einanders. Der Homöopath muss durchaus mehrfach nach der Beziehung zur Ehefrau gefragt haben, Scheffel vermerkt jedoch nur kurz: „[…] die getroffene Wahl ist zu meiner größten Freude für mich ganz beruhigend, da meine Frau an allem was mich betrifft den zärtlichsten liebevollsten Antheil nimmt“7. Hier zeigt sich nicht die Detailliertheit sonstiger Beschreibungen. Damit haben sich die ‚Informationsreservate’ mit der Schreibsituation als Ehemann verschoben, weil nun dem Arzt der weitreichende Einblick in die häusliche Lebensweise verweigert, die Frau dagegen als Anteil nehmende („an allem“) beschrieben wird.

 Willkommen insofern, als Hahnemann Scheffel schon im Jahr zuvor aufgefordert hatte, sich eine Ehefrau zu wählen. B 31031,  f. Generell riet Hahnemann ledigen Männern zu heiraten. Dinges 00, 117. 3 B 331,  f. 4 Beate Rössler führt in ihrer Untersuchung zum „Wert des Privaten“ die Begriffe der dezi­ sionalen (umfasst Entscheidungen und Handlungen), der informationellen (meint den Zugang zu persönlichen Daten und Informationen) und der lokalen (betrifft konkret den Raum) Privatheit ein. Rössler 001, 5. Scheffel beansprucht für sich, dieser Einteilung zufolge, vor allem die informationelle und die lokale Privatheit. 5 Zu „Informationsreservaten“ s. Goffman 1974, 68. 6 Vgl. zu derartigen „Krankheitsängsten“ in der Frühen Neuzeit Stolberg 003, 65 u. 7. 7 B 3514, 1.

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Der unterschiedlich formulierte Anspruch auf Privatheit vor der Ehe – den man auch als Vertrauensbruch Scheffels gegenüber seiner Braut bezeichnen könnte – scheint demnach der Verschleierung der eigenen Krankheit gedient zu haben. In der Darstellung schafft er hierarchische Geschlechterverhältnisse. Im Dialog entwirft sich ein Mann und nicht ein Kranker, indem er sich mehr für seine Geschlechtsteile zu interessieren scheint als für seinen Bluthusten, und indem er seiner Braut und sich unterschiedliche Ansprüche auf Informationen über das Selbst zuschreibt. Schreiben über das Selbst: Krankheit und Erfahrung Bei Kaufmannsfrau Auguste Krause aus Berlin kann man gleichermaßen von Verschleierung sprechen, auch wenn diese nicht absichtsvoll vorgenommen sein muss: Krause argumentiert mit medizinischem Wissen, ohne es als ein solches zu explizieren. Sie wendet sich ihrer Darstellung nach gegen den Willen ihres „ungläubigen“ Mannes an Samuel Hahnemann8. Mit der wiederholten Erwähnung des skeptischen Ehemannes präsentiert sie sich zum einen als Frau, die ihre Therapie selbst wählt, zum anderen artikuliert sie eigene (Un)Zufriedenheit. Ebenso verfährt Krause mit einem anderen Mann: Schildert sie, dass sie ungesund aussehe, erwähnt sie „die Verwunderung“ des Hausarztes bei ihrem Anblick9. Auch rate ihr der Arzt, den Urin zu beobachten30. Die Einfügungen der hausärztlichen Bemerkungen und die Betonung der Skepsis ihres Ehemannes deuten darauf hin, dass die Schreiberin eigene Aussagen zu verstärken suchte, indem sie Meinungen anerkannter Autoritäten äußerte31. Auguste Krause schildert in ihren Schreiben vorwiegend Zahnschmerzen, Rheumatismus und Anfälle von Schwermut. Ihr „Hauptleiden“ bezeichnet sie als „Schwäche“, die sie durch die Einnahme von Fleischbrühe zu überwinden suche3. In ihren Symptomberichten benennt sie häufig präzise Krankheit und Auslöser – zum Beispiel wie folgt: Der Genuß von Walderdbeeren bringt mir immer ein Neßelfieber u muß ich diese daher ganz meiden, das dieß die Apfelsienen aber auch können hatte ich noch nicht erfahren, vielleicht das bei der Periode diese Abkühlung des Blutes nachtheilig auf mich gewirkt, genug ich bekam in der Nacht ein Brennen u Prickeln über den ganzen Körper wie ich es zuvor noch nie empfand, […]33.

8 B 31875, . 9 B 3350, 4. Der Hausarzt sei für das Personal angestellt, schreibt sie an gleicher Stelle und unterstreicht damit rhetorisch Hahnemanns exklusiven Status. 30 B 359, 6. Vgl. zum Urin Voswinckel 1993. 31 Darüber hinaus ist die Inanspruchnahme eines weiteren Arztes ein Beispiel für die Viel­ fältigkeit der medikalen Kultur im frühen 19. Jahrhundert. Zum Begriff „medikale Kultur“ s. Lachmund/Stollberg 1987, 163; zur historischen Entwicklung Lachmund/Stollberg 1995. 3 B 3350, 1. 33 B 359, 3.

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Mit „immer“ markiert Krause ihre körperliche Reaktion als jahrelange Erfah­ rung. Darauf folgen humoralpathologische Erklärungsversuche, die sie resolut mit einem „genug“ beendet. Frauen des Bürgertums fiel in der Familie die Rolle der Expertinnen für Heilmittel und ­methoden zu34. So benennt Krause bei­ spielsweise nächtlichen Schweiß als rheumatischen Schweiß, weil sie diesen an seinem milchigen Geruch seit Jahren erkenne35. Sie diagnostiziert und katego­ risiert ihre Krankheiten. Es handelt sich demnach um ein dezidiert medizi­ nisches Wissen36, das sie in den Dialog mit dem Arzt einbringt. In ihrer Dar­ stellung begründet sie ihre Wahrnehmungen jedoch stets gemäß ihres Ge­ schlechtscharakters, indem sie auf Gefühl und eigene Erfahrung verweist37. Krankheit und Diskurs Die Herkunft ihres medizinischen Wissens bringt die Patientin Krause nicht explizit zum Ausdruck. Obwohl sie sich als einzige in der Familie an den be­ rühmtesten Homöopathen wendet und zudem von Gesprächen im Bekannten­ kreis über die Homöopathie schreibt38, die darauf schließen lassen können, dass sie sich mit den Inhalten der Heilmethode befasst hat, nimmt Auguste Krause die neue Lehre in ihre Symptomberichte nicht auf. In fast allen bisher von mir gesichteten Briefen der Patienten finden sich Hinweise auf den Erwerb und die Rezeption homöopathischer Fachliteratur39. Kaufmann Friedrich Scheil z. B. betont, er wolle das Organon nicht nur lesen, er wolle es gar studieren40. Dieses Studium beeinflusst von Brief zu Brief sicht­ lich mehr sein Schreiben. Zu den Symptomschilderungen erfolgen nun auch Vermutungen über Ursachen, Fachausdrücke wie „Psora“ und „Miasm“ tauchen im Text auf41. Zugleich erwähnt Scheil Artikel anderer Autoren in

34 Habermas 000, 167. 35 B 359, 4. Zu zeitgenössischen Rheumatismus­Vorstellungen und zum Schweiß als „rheu­ matischem Saft“ s. auch Stolberg 003, 134 f. 36 Am ehesten beschreibt vielleicht der Begriff des Überlieferungswissens, den Waltraud Pulz für das Wissen von Hebammen entwickelt hat, diese überwiegend mündlich tradierten Wissensformen. Pulz 1994. 37 Damit möchte ich weder „Erfahrung“ noch „Körper“ als reinen Effekt von Diskursen oder Wissensformationen deuten. Vgl. zur letztlich nicht auszulotenden Grenze zwischen der „Natur unseres Körpers“ und seiner „kulturellen Kodierung“ Sarasin 001, 1. Im Fall Krause geht es mir an dieser Stelle jedoch darum zu betonen, dass diese sich auf eine etablierte Form der Erfahrung bezieht, ein medizinisches Wissen, dass sie durch Bezeich­ nungen wie z. B. Nesselfieber zum Ausdruck bringt. S. allgemein zum Erfahrungsbegriff Scott 199; Canning 00. 38 B 3005, 3. 39 Zum Lese­ und Rezeptionsverhalten vgl. auch Stolberg 003, 108 f. Allerdings erwähnt Stolberg keinen Unterschied zwischen Patientinnen und Patienten. 40 B 33177, 4. 41 S. z. B. B 34018. Hahnemann hatte die chronischen Krankheitsursachen auf drei zugrund­ liegende Miasmen – Psora, Syphilis und Sykosis – reduziert. Hahnemann 00, 36.

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homöopathischen Zeitschriften4. Es zeigt sich in diesen Briefen deutlich das Prozesshafte und Dialogische, in dem der Körper als historischer, veränder­ licher Erfahrungsort entsteht43. Zugleich präsentieren sich Krankheitswahrneh­ mungen vermehrt als Effekte von Diskursen44. Die Schreiben des Kaufmanns Scheil sind nur eines von vielen Beispielen. Meine bisherige Lektüre der Briefe von Patientinnen und Patienten lässt darauf schließen, dass überwiegend Männer wissenschaftliches medizinisches Wissen im Schreiben an den Arzt explizit aufgriffen, wohingegen Frauen ihr Wissen nicht als ein solches formulierten. Obwohl Hahnemann sogar die Beschäftigung mit der Homöopathie forderte45, sind bislang keine Hinweise darauf in den Briefen der Patientinnen zu finden. Gründe hierfür bleiben Vermutungen: Vielleicht handelt es sich um strate­ gische Zurückhaltung der Schreiberinnen gegenüber einem bedeutenden Arzt. Zugleich könnten die unterschiedlichen Darstellungsweisen auch daher rühren, dass die Patienten, deren Briefe ich bislang analysiert habe, sich mehr als die Patientinnen auf den Adressaten konzentrierten und seine Anerkennung suchten, wohingegen Letztere zwar formal den Weg der Unterordnung ein­ schlugen, sich im Grunde jedoch freier im medizinischen Feld bewegten. Allein die Form der Beschreibung wirkt dahingehend, dass von Männern produzierte Diskurse – von Männern produziert insofern, als Frauen aus der Wissenschaft institutionell ausgeschlossen waren – in den Briefen erneut ein männliches Selbst hervorbringen, während das Nichtexplizieren erworbenen Wissens (ob mit oder ohne Intention) im Verweis auf „Erfahrung“ ein weibliches Selbst schafft. Schreiben über andere: Krankheit und Konflikt Bislang waren sämtliche untersuchten Briefe Selbstzeugnisse im eigentlichen Sinne. Wie gestaltet sich jedoch ein Dialog, der über eine(n) Dritte(n) geführt wird? Im nächsten und letzten Fall handelt es sich um einen Ehemann, der über seine Ehefrau schreibt. An diesem Beispiel wird sich zeigen, dass die Varianten des Schreibens über Krankheit – Schilderungen mit Verweis auf Erfahrung und mit Verweis auf (wissenschaftliche) Diskurse – zueinander im Verhältnis stehen. Der Dialog wird nun noch offensichtlicher als im Falle Krause zum Ort, an dem über die Darstellung scheinbar konkurrierender Wissenssysteme Geschlecht hergestellt wird.

4 B 34018, 4. 43 Vgl. zum Körper als epochenspezifischem Erfahrungsort Duden 199, 39. 44 Dinges betont in seiner Untersuchung zu einem Patienten Samuel Hahnemanns den gro­ ßen Einfluss von Diskursen auf die Darstellung von Körpererfahrungen in Selbstzeugnis­ sen. Dinges 00, 99. Vgl. jedoch auch Anm. 37. 45 Zumindest sein Hauptwerk setzte er als Lektüre voraus. Dinges 00, 105.

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Henry Bock46 schreibt über seine Ehefrau, die Französin ist, an Hahne­ mann. Er wendet sich der großen räumlichen Distanz wegen ausschließlich brieflich an den Homöopathen. Der dritte Bestandteil der weiter oben ge­ schilderten Anamnese, die eigene Beobachtung des Arztes, findet hier folglich nicht statt. Krankheit lässt sich für Hahnemann ausschließlich aus dem Text erschließen. Im ersten Brief will Bock demzufolge „eine so genaue Relation von dem physischen Zustande“ seiner Frau geben „als ein Laie einer solchen fähig ist“47. Er beschreibt ihre Kindheit in Lyon, in der sie „kerngesund“48 gewesen sei, die Heirat und ihre Entbindungen. Während sie das erste Kind noch fünf Monate gestillt habe, bis die Milch ausblieb, seien es beim zweiten nur mehr sechs Wochen gewesen. Hierauf sei auch die „Niedergeschlagenheit“ seiner Frau eingetreten, die „bey dem sonst so frohen Sinn meiner Frau, u bey den glück­ lichen Verhältnißen in denen sie lebt u die zu Sorgen u Grillen keinen Kost bieten, befremden mußte, u mich, wie schon früher, auf ein angegriffenes Ner­ vensystem schließen ließ“49. Ein zentrales Thema der Beschreibung bilden für den Verfasser die Nerven seiner Ehefrau. Schwäche der Nerven kennzeichneten im zeitgenössischen Diskurs über Nervenkrankheiten insbesondere Frauen50. Frau Bock habe auf Grund ihrer „glücklichen“ häuslichen Umstände keinen Anlass zu Krankheit. Indem Henry Bock bestimmt, dass Krankheit einen solchen Anlass brauche und ihn zugleich für seine Ehefrau negiert, schafft er sich eine Schreibposition mit Deutungsmacht. Es ist also nur konsequent, wenn er sich am Ende seines Briefes bereits – ohne Hahnemann vorgreifen zu wollen, wie er es ausdrückt – in einer Diagnose versucht: Sie lautet, dass „der Zustand meiner Frau im Säugen der zwey Kinder hauptsächlich seinen Ursprung hat und daß ein zer­ rüttetes Nervensystem mir als Hauptkrankheit erscheint“51. Die „genaue Relation vom physischen Zustand“ seiner Frau besteht dem­ nach aus zwei dominanten Diskursen über das weibliche Geschlecht: Mutter­ schaft und Nerven. Im Allgemeinen Preußischen Landrecht war das Stillen als Pflicht für jede gesunde Mutter gesetzlich verankert5. Auch in der Homöopa­ thie wurde dem Stillen eine besondere Bedeutung beigemessen. Hahnemann hatte bereits 1796 in seiner Übersetzung Rousseaus von Müttern gefordert: „[…] aber ihr müßt die Kinder selbst säugen“53. Und der Homöopath und Anhänger Hahnemanns, Gustav Wilhelm Groß, schrieb 1831 im „Archiv für die homöo­ pathische Heilkunst“ einen Artikel über Kreißende und Wöchnerinnen, in dem 46 Der Beruf Henry Bocks wird aus seinen Briefen nicht ersichtlich. Er ist der Sohn eines Forsteinnehmers in Dessau. B 31339, 1. 47 B 31339, 1. 48 B 31339, 1. 49 B 31339, 3. 50 Stolberg 003, 41. 51 B 31339, 5. 5 Honegger 1983, 10. 53 Hahnemann/Rousseau 1993.

Krankheitsdarstellungen in Briefen an Samuel Hahnemann

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er anmerkte, dass „jede gesunde Mutter“ stillen müsse, und „nur wirkliche Krankheit, namentlich die hervorstechende Anlage zur Lungenschwindsucht, oder auch eine fehlerhafte, verbildete Brust, kann davon abhalten“ 54. Diese Symptome weist Frau Bock offensichtlich nicht auf. Deshalb fällt es umso mehr ins Gewicht, dass Bock in seinem letzten Brief, zu dessen Zeitpunkt seine Ehefrau bereits wieder im siebten Monat schwanger ist, erfragt, was im Wochenbett diätetisch zu beachten sei, um den Milchfluss zu stoppen, da seine Frau „nicht zu stillen gesonnen ist“55. Frau Bock hat demnach andere Vorstel­ lungen über den Umgang mit ihrem Körper als ihr Mann. Das zeigt sich von Beginn der Korrespondenz an. Dem ersten Brief ist ein Nota Bene angehängt, das Bock wie folgt einleitet:„Ich habe den wesentlichen Inhalt des Vorhergesagten meiner Frau mitgetheilt u finde folgende Berichti­ gungen u Hinzufügungen zu machen für nöthig.“56 Henry Bock hat seiner Darstellung nach den Brief verfasst, ohne vorher mit der Protagonistin – die übrigens in allen vier Briefen namenlos bleibt – desselben gesprochen zu haben. Im Anhang schreibt er, dass sie beim ersten Kind nicht die Milch verloren, sondern wegen Kopfschmerzen das Stillen aufgegeben habe, ebenso beim zweiten Kind. Und der letzte Satz lautet: „Schon als Kind hatte sie öfters mit Kopfweh zu kämpfen“57. Das widerspricht seiner zuvor gestellten Diagnose, ihr Leiden rühre ursächlich vom (Nicht)Stillen her. Frau Bock gibt an, ein Wis­ sen um den Körper aus ihrer Biografie entwickelt zu haben – ganz gemäß ihres Geschlechtscharakters –, das demjenigen des Mannes, in das er sich qua Brief eingeschrieben hat und das die Ordnung der Geschlechter repräsentiert, zuwi­ derläuft. Und es scheint, als würde in den Briefen Henry Bocks ein Ehekonflikt ausgetragen, der über die Formulierung verschiedener Krankheitserklärungen läuft. Zusammenfassung: erschriebenes Geschlecht Im Austausch zwischen Arzt und Patientin bzw. Patient wird sichtbar, wie sich ein schreibendes Selbst im Wechselverhältnis konstituiert, und welche verschie­ denen Komponenten in die Wahrnehmung von Körper und Krankheit einflie­ ßen können: Für Scheffel steht vor der Heirat die Sorge um die Ehetauglichkeit im Zentrum, Krause sucht ihr Wissen um den eigenen Körper in einen thera­ peutischen Zusammenhang zu stellen und Frau Bock schließlich weigert sich zu stillen, weil sie damit Kopfschmerzen verbindet. Herstellung von Geschlechterhierarchien und Aufgreifen wissenschaftlicher Diskurse machen vornehmlich die Beschreibungen der untersuchten Briefe aus, die mit einem Männernamen unterzeichnet sind. Verweise auf Erfahrung, Ge­ fühl, die eigene Biografie kennzeichnen Briefe mit einem Frauennamen als 54 55 56 57

Groß 1831, 5 f. B 33546, . B 31339, 6. B 31339, 7.

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Bettina Brockmeyer

Absender. Die Fokussierung auf dominierende58 Formen der Darstellung von Krankheit verdeutlicht, dass der Körper vergeschlechtlicht und umkämpft ist. Und der Kampfplatz lässt sich verorten: Im Schreiben stellen Patientinnen und Patienten Geschlecht her, konstituieren sich Frauen und Männer. Mein Beitrag beruht auf ersten Erkundungen in einem kleinen Ausschnitt eines großen Quellenkorpus. Es wird unter anderem zu untersuchen sein, wie sich Schreibprozesse gestalten, wenn Frauen über Männer schreiben und wenn Akteurinnen und Akteure anderer sozialer Schichten betroffen sind. Bibliographie: Brändle, Fabien (et al.), „Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnis­ forschung“, in: Kaspar von Greyerz/Hans Medick/Patrice Veit (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850) (Köln, Weimar 001) 3–31 Canning, Kathleen, „Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Ma­ terialität“, Historische Anthropologie  (00) 163–18 Dinges, Martin, „Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 1830: Der Körper eines Patienten von Samuel Hahnemann“, in: Jürgen Martschukat (Hrsg.), Geschichte schrei­ ben mit Foucault (Frankfurt/Main, New York 00) 99–15 Dinges, Martin, „Introduction: Patients in the History of Homoeopathy“, in: Martin Dinges (Hrsg.), Patients in the History of Homoeopathy (Sheffield 00) 1–3 Duden, Barbara, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen (Stuttgart 1987) Duden, Barbara, „Medicine and the History of the Body. The Lady of the Court“, in: Jens Lachmund/Gunnar Stollberg (Hrsg.), The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present (Stuttgart 199) 39–51 Foucault, Michel, L’archéologie du savoir (Paris 1969) Goffman, Erving, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, übers. v. R. und R. Wiggershaus (Frankfurt/Main 1974) Groß, Gustav Wilhelm, „Ueber das Verhalten der Kreißenden und Wöchnerin, so wie des neugebornen Kindes, in diätetischer und therapeutischer Rücksicht“, Archiv für die homöopa­ thische Heilkunst 10,  (1831) 33–7 Habermas, Rebekka, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850) (Göttingen 000) Hahnemann, Samuel, Organon der Heilkunst. Aude sapere. Textkritische Ausgabe der sechsten Auflage. Neuausgabe 1999, bearb. u. hrsg. v. Josef M. Schmidt (Stuttgart 00) Hahnemann, Samuel/Jean­Jacques Rousseau, Erziehung des Kleinkindes. Handbuch für Mütter (Berg 1993) (erste Ausgabe Leipzig 1796) Hausen, Karin, „Die Nicht­Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte“, in: Hans Medick/ Anne­Charlott Trepp (Hrsg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (Göttingen 1998) 15–55

58 Auch Patienten beziehen sich auf ‚Erfahrung’ und zudem mag es, wie erwähnt, strategische Gründe für bestimmte Formulierungen geben. Mein Beitrag bezieht sich lediglich auf vorherrschende Beschreibungsweisen und deren Wirkung.

Krankheitsdarstellungen in Briefen an Samuel Hahnemann

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Hausen, Karin, „Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“ – Eine Spiegelung der Dis­ soziation von Erwerbs­ und Familienleben“, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (Stuttgart 1976) 363–393 Herrmann, Britta: „Auf der Suche nach dem sicheren Geschlecht: Die Briefe Heinrich von Kleists und Männlichkeit um 1800“, in: Walter Erhart/Britta Herrmann (Hrsg.), Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit (Stuttgart, Weimar 1997) 1–34 Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850 (Frankfurt/Main, New York 1991) Honegger, Claudia: „Überlegungen zur Medikalisierung des weiblichen Körpers“, in: Arthur E. Imhof (Hrsg.), Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit. L’homme et son corps dans l’histoire moderne. Vorträge eines internationalen Colloquiums. Actes d’un colloque international. Berlin 1.– 3.12.1981 (Berlin 1983) 03–13 Jütte, Robert, „The Social Construction of Illness in the Early Modern Period“, in: Jens Lach­ mund/Gunnar Stollberg (Hrsg.), The Social Construction of Illness. Illness and Medical Knowledge in Past and Present (Stuttgart 199) 3–38 Lachmund, Jens/Gunnar Stollberg, Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien (Opladen 1995) Lachmund, Jens/Gunnar Stollberg, „Zur medikalen Kultur des Bildungsbürgertums um 1800. Eine soziologische Analyse anhand von Autobiographien“, Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 6 (1987) 163–184 Loetz, Francisca, Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (Stuttgart 1993) Lüdtke, Alf, „Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis“, in: Alf Lüdtke (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial­anthropologische Studien (Göttingen 1991) 9–63 Maset, Michael, Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische For­ schung (Frankfurt/Main, New York 00) Pulz, Waltraud, „Nicht alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben“ – Das Hebammenanleitungsbuch von Justina Siegemund. Zur Rekonstruktion geburtshilflichen Überlieferungswissens frühneuzeitlicher Hebammen und seiner Bedeutung bei der Herausbildung der modernen Geburtshilfe (München 1994) Rössler, Beate, Der Wert des Privaten (Frankfurt/Main 001) Sarasin, Philipp, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914 (Frankfurt/Main 001) Scott, Joan W., „Experience“, in: Judith Butler/Joan W. Scott (Hrsg.), Feminists Theorize the Political (New York, London 199) –40 Stolberg, Michael, Homo patiens: Krankheits­ und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit (Köln 003) Trepp, Ann­Charlott, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840 (Göttingen 1996) Voswinckel, Peter, Der schwarze Urin. Vom Schrecknis zum Laborparameter; Urina Nigra ; Alkapton­ urie, Hämoglobinurie, Myoglobinurie, Porphyrinurie, Melanurie (Berlin 1993) West, Candace/Don Zimmerman, „Doing gender“, in: Judith Lorber/Susan A. Farrell (Hrsg.), The social construction of gender (Newbury Park et al. 1991) 13–37 Wunder, Heide, „Geschlechtsidentitäten. Frauen und Männer im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit“, in: Heide Wunder/Karin Hausen (Hrsg.), Frauengeschichte – Geschlechter­ geschichte (Frankfurt/M. 199) 131–136

Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800–1950 Susanne Frank

Die Lebenserwartung von Männern und Frauen war in Deutschland zwischen 1800 und 1850 fast identisch, um 1900 wurden Frauen etwa drei Jahre älter1. Gegenwärtig sterben Männer im Durchschnitt sieben Jahre früher als Frauen. Dabei wird beobachtet, daß Männer gegenüber Frauen bis heute ein geringeres Gesundheits- und Vorsorgebewußtsein haben. So lassen sich Unterschiede im Krankheitsverhalten, d. h. im Umgang mit Krankheiten, in der Wahrnehmung von Beschwerden und der Inanspruchnahme von Ärzten feststellen. Die Deutsche Krebshilfe hat beispielsweise auf dem diesjährigen 5. Deutschen Krebskongreß festgestellt, daß nur jeder sechste Mann Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig nutzt, während es bei den Frauen immerhin noch jede dritte ist. Doch sollte nicht vereinfacht – heute und auch für die Vergangenheit – von „dem“ männlichen bzw. „dem“ weiblichen Gesundheitsverhalten gesprochen werden. Männer galten über Jahrhunderte nicht nur als das „stärkere“ Geschlecht, sondern auch als das gesündere. Die soziale Rolle der Frau wurde demgegenüber mit Krankheit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen gleichgesetzt. Eine verbreitete These ist, daß dieses (Selbst-)Bild der Männer von Stärke und Unverletzlichkeit sie daran hindere, Krankheit vor sich selbst einzugestehen und mit anderen darüber zu sprechen bzw. Gesundheitsprobleme nicht oder erst spät zu thematisieren. Doch Männer nahmen und nehmen durchaus am Gesundheitsdiskurs teil. Das (im Titel genannte) Forschungsprojekt wird im folgenden kurz skizziert, danach schließt sich eine erste Auswertung an. In dem Projekt werden für den Zeitraum von 1800 bis 1950 Kontinuität und Wandel des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens von Männern anhand von Briefen untersucht. Es geht darum, sichtbar zu machen, daß die Erfahrung von Krankheit bzw. Gesundheit sich sowohl aus individuellen als auch aus sozialen Komponenten konstituiert und die Lebensgeschichte, Lebenssituation 1

  

Vgl. dazu Imhof 1990, 6 f. Lebenserwartung bei der Geburt (Deutschland): 1750: Männer/Frauen – 5,71/6, Jahre; 1800: Männer/Frauen – 9,79/0,5 Jahre; 1850: Männer/Frauen – 9,57/9,95 Jahre. Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 10: Gesundheit im Alter, hrsg. vom Robert Koch-Institut, Berlin 00, betrug die mittlere Lebenserwartung der Frauen um 1900 etwa 8 Jahre, die der Männer etwa 5 Jahre. Während heute Frauen in der Bundesrepublik Deutschland im Durchschnitt 80 Jahre alt werden, erreichen Männer ein Lebensalter von etwa 7 Jahren. Vgl. dazu Eickenberg/ Hurrelmann 1997, 118–1; Klotz 1998. Vgl. ARD, Tagesschau vom 7. Juli 00, 0 Uhr. Vgl. dazu Bründel/Hurrelmann 1999, 10–18.



Susanne Frank

und Lebensweise eines Menschen widerspiegelt. Männer werden dabei nicht als eine in sich homogene Gruppe betrachtet. Das Gesundheitsverhalten wird schicht-, alters- und regionalspezifisch differenziert untersucht. Die geschlechtsspezifische Perspektive zielt darauf ab, Besonderheiten eines auf Männer bezogenen Gesundheitsverhaltens – das wiederum einem historischen Wandel unterliegt – herauszuarbeiten. Als Quellen werden in einem ersten Schritt edierte Briefe von Männern aus dem deutschsprachigen Raum herangezogen. Da Politiker und Künstler bereits besser untersucht sind, kommen vor allem Korrespondenzen von Adligen, Unternehmern, Naturwissenschaftlern, Kaufleuten und Handwerkern, aber auch von Arbeitern in Betracht. Die auszuwertenden Briefwechsel werden in drei Zeiträume eingeteilt: (1) 1800–1880/85. () 1885/90–1918. () 1919–1950. Der erste Zeitraum endet mit der Entdeckung des Tuberkuloseerregers 188, der Einführung der Krankenversicherung 188 und den sozialen und strukturellen Veränderungen im Krankenhauswesen. Der Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt ist gekennzeichnet durch eine Krise der Sozialsysteme, die Weltkriegserfahrung und ein Ansteigen von Infektionskrankheiten nach 1918. Der dritte zeitliche Rahmen endet mit dem breiteren Einsatz von Antibiotika in Deutschland. Innerhalb dieser Zeiträume wird die soziale Zugehörigkeit der Briefschreiber unterschieden: Adel, obere Mittelschicht (Kaufleute, Ingenieure, Wissenschaftler), untere Mittelschicht (Handwerker) und Unterschicht sowie jeweils die familiäre Situation (alleinstehend oder verheiratet). Der Fokus wird dabei weniger auf ländlichen Regionen liegen als auf der Stadt, da Selbstzeugnisse von Personen, die auf dem Land lebten, weniger zahlreich sind. Ausgewählt werden Briefe, in denen Krankheit und Gesundheit thematisiert werden, und die nicht an Mediziner5, sondern an Familienangehörige und Freunde gerichtet sind. Inhalt und Glaubwürdigkeit der Briefe als Quelle werden entscheidend dadurch bestimmt, in welchem Verhältnis Absender und Empfänger zueinander stehen. Man schreibt jeweils anders an den Ehemann bzw. die Ehefrau, Kinder, Eltern, Freunde, Vorgesetzte oder Kollegen. Persönliche Briefe mit Nachrichten über das alltägliche Leben bieten eine Vielzahl von Informationen. Sie erlauben Einblicke in Stimmungen, Meinungen und Verhaltensweisen6. In Briefen an die Familie wird fast immer – meist nur in ein bis zwei Sätzen – über den aktuellen Gesundheitszustand berichtet. Zu Fragen nach dem Gesundheitsverhalten und dem Umgang mit Krankheit und Medizin erweisen sich Briefe als unterschiedlich ergiebig, je nach Bedeutung, die der Verfasser diesem

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Briefe an Mediziner haben einen anderen Charakter. Die Kranken suchten Rat und versprachen sich Hilfe vom angeschriebenen Arzt. Zu Patientenbriefen vgl. Stolberg 1996, 87 und Stolberg 00. Zum Brief als Quelle vgl. Weiss 199, 5–60; Bürgel, 1976, 81–97. Zur Vielseitigkeit des Briefes als historische Quelle vgl. auch Habermas 000, 5 f. Zu Selbstzeugnissen allgemein vgl.: Schulze 1996; Arnold u. a. 1999; von Greyerz u. a., 001.

Gesundheitsverhalten von Männern

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Thema zumißt. Dabei gilt es auch zu unterscheiden, ob die Briefe an einen weiblichen oder männlichen Gesprächspartner adressiert sind. Bei detaillierten Krankheitsbeschreibungen in privaten Briefen stehen unterschiedliche Aspekte im Vordergrund, wie Selbstmitleid, Aufforderung zu Mitgefühl, Ausdruck des Vertrauens, Lob oder Kritik eines Arztes, (Selbst-)Beobachtungen und Überlegungen oder auch Ratschläge bzw. Mahnungen an Dritte. Die Briefe werden unter Berücksichtigung der zunehmenden Institutionalisierung der Behandlung von Krankheiten im 19. Jahrhundert analysiert sowie des damit einhergehenden veränderten Arzt-Patient-Verhältnisses7. Es soll aufgezeigt werden, ob und wie sich vor diesem Hintergrund das Gesundheitsverhalten, der Umgang mit Krankheit und die Inanspruchnahme des medizinischen Angebotes verändern. Denn Vorstellungen und Verhaltensweisen sind ebenso dem historischen Wandel unterworfen wie die Medizin selbst8. Die Fragestellungen, anhand derer die Quellen analysiert werden sollen, lauten u. a.: Welchen Stellenwert hat Gesundheit im Zusammenhang von männlicher Identität und Lebensstil (Bedeutung der Arbeit/des Berufs, des Körpers und der Familie)? Was tun Männer, um ihre Gesundheit zu erhalten? Inwiefern verändert eine Erkrankung das Bewußtsein bzw. Verhalten der Männer? Wer ist für die Heilung der Krankheit bzw. die Krankenpflege zuständig (Arzt, Ehefrauen, Mütter, Kinder)? Aktuelle Forschungen weisen darauf hin, daß zwischen der Gesundheit von Frauen und Männern erhebliche Unterschiede bestehen. Danach ignorieren Männer körperliche Beschwerden und nehmen seltener medizinische Hilfe in Anspruch, setzen sich oft höheren Risiken aus und sind suchtanfälliger als Frauen. Es gilt als unmännlich, wenn Männer sich um ihre Gesundheit sorgen9. An einigen Briefauszügen möchte ich zeigen, wie unterschiedlich Krankheit von Männern erlebt und bekämpft wird. Welche Erwartungen sie an die Medizin herantragen, und wie sie die Behandlung durch den Arzt erfahren. Weiter soll sichtbar gemacht werden, welche Verhaltensweisen Männer als Risiken für ihre Gesundheit wahrnehmen und wie sie mit diesen umgehen. Bisher wurden etwa ein Dutzend Briefwechsel ausgewertet. Derzeit bilden Naturwissenschaftler – dem Bildungsbürgertum zugehörig – die größte Gruppe.

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Der Prozeß, während dessen sich u. a. die akademische gegenüber der traditionellen Heilkunde durchsetzt und ein damit einhergehendes verändertes Arzt-Patient-Verhältnis werden von der Forschung als Medikalisierung bezeichnet. Vgl. dazu Stolberg, 1998, 69–86 und Loetz 199. Vgl. dazu auch Lachmund/Stollberg 1995, 9. Vgl. dazu Bründel/Hurrelmann 1999, 16ff und Faltermaier 1997, 67–8.

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Inanspruchnahme des medizinischen Angebotes Bis zur Einführung von Krankenversicherungen war der akademisch gebildete Arzt für Bildungs- und Wirtschaftsbürger neben dem Adel in Krankheitsfällen der wichtigste Ansprechpartner. Der Hausarzt war Familienfreund, erteilte Rat in allen Lebensfragen und löste somit den Pfarrer als Ratgeber zunehmend ab10. So nimmt beispielsweise der Physiker Eberhard August Wilhelm von Zimmermann Anfang des 19. Jahrhunderts – genauer: 1808 im Alter von 65 Jahren – sobald er sich krank fühlt, die Hilfe eines Arztes in Anspruch und befolgt streng dessen Anordnungen. Auch der jährige Physiker Ernst Abbe konsultiert bei Krankheit als erstes seinen Hausarzt. Er beschreibt 186 seinem Freund ausführlich seine Krankheit: […] ich sitze jetzt vermummt bis über die Ohren in einer brühend warmen Stube, nachdem ich  ½ Tag habe zu Bett liegen müssen, aus dem ich erst jetzt habe aufstehen dürfen. […] Donnerstag habe ich so gelegen, mit Kopfschmerz, abwechselnd Fieber u. Erbrechen und ohne Appetit, bis es gestern nach u. nach wieder besser wurde u. heute Morgen hat mir Dr. Lorey, der sich sehr eifrig um mich bekümmert hat, indem er die Krankheit – ein katarrhalisches Fieber, wie es hier jetzt grassiren soll – als gehoben erklärt und mir blos ansagt, noch einige Tage das Zimmer zu hüten. […]11

Die Verwendung der Verben „müssen“ und „dürfen“ weist darauf hin, daß die Autorität des Arztes anerkannt wird. 1860 läßt Abbe auch seine Hühneraugen von einem Arzt behandeln und gibt die Erfolge seines Arztes bei der Behandlung an den befreundeten angehenden Mediziner Carl Martin weiter: […] Der Hofrath Baum1 in Göttingen hat mehrere Wochen hindurch vergeblich daran herumgeätzt, und geschnitten u. gepflastert; als er schon anfing, an Allem zu verzweifeln, gab er mir noch Quecksilberpflaster zum Drauflegen: binnen  Stunden bin ich ohne Beschwer eine Meile weit spazieren gegangen, und nach Verlauf von  Tagen wußte ich nicht mehr, daß ich Hühneraugen gehabt hatte. Baum selbst that sichtlich verwundert über diesen Erfolg. – Für den Fall, daß Du Dir selbst noch nicht geholfen haben solltest, entblöde ich mich nicht, Dir, dem Jünger des Äskulap, dieses Mittel sehr zu empfehlen, indem ich hoffe, daß Du mich deßhalb nicht auf Medizinalpfuscherei denunziren wirst. – 1

Die Weitergabe von Erfahrungen mit Krankheiten bzw. Ratschläge für die Heilung finden sich sehr häufig in den untersuchten Briefwechseln, vor allem in Briefen, die zwischen Ehepaaren gewechselt werden. Familienväter unterstützen – als Ausgleich für ihre oft lange Abwesenheit – auf diese Weise ihre Ehefrauen und nehmen durch ihre Beratung Anteil am Gesundheitszustand ihrer Familie, der wichtig für das eigene Wohlbefinden sein kann. Ein anderes Beispiel: Der Unternehmer Alfred Krupp aus Essen hat ebenfalls großes Vertrauen in seinen Hausarzt. Dessen Wissen und die Behandlungs-

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Frevert 1987,  f. Wahl/Wittig 1986, 165, Ernst Abbe an Harald Schütz; Frankfurt a. M., 1./. Januar 186. Wilhelm Baum (1799–188), Professor für Chirurgie in Greifswald und Göttingen. Wahl/Wittig 1986, 9, Ernst Abbe an Carl Martin; Eisenach, 16.9.1860.

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methoden werden auch von ihm nicht hinterfragt. Er schreibt 1885 im Alter von 77 Jahren: Ich war immerfort nicht recht im Schuß, nicht was Gesundheit der Organe angeht, aber behaftet mit Ihrem geliebten Hexenschuß […] Ich hatte in den letzten Tagen 6 Schröpfköpfe auf dem Rücken […]. Ich habe einen Doktor hier aus Berlin (Schweninger), der mich heilen soll und ich habe Vertrauen.1

In manchen Krankheitsfällen raten die Ärzte zu einem Ortswechsel. Dabei werden auch Orte aufgesucht, deren Klima ein heilender Einfluß auf die Gesundheit zugeschrieben wird. Die Möglichkeit eines Kuraufenthaltes steht jedoch nur Wohlhabenderen – wie Krupp – offen. Zum Wunsch nach Gesundheit kamen oft Faktoren wie Unterhaltung und Geselligkeit sowie die Aussicht auf Kontakte im Hinblick auf Ämter oder Geschäfte15. Ich bin von Hause gereist und werde vom Doktor jetzt nach Bad Homburg bei Frankfurt a. M. gesandt. – Vermuthlich ist noch niemand herüber zur Fabrik gereist und da ich wenigstens 1 Tage in Homburg bleiben muß, so wäre es mir lieb, wenn auch Niemand früher nach Essen ginge. […] Wenn ich zurück sein werde, kann dagegen Alles mit Einem Male abgemacht werden. Zuvörderst denke ich jetzt an meine Gesundheit. – Sollte es durchaus wichtig sein, daß ich früher zu Hause käme, weil man gern vorher den Contract näher besprechen möchte, so gehe ich jedenfalls nach Hause zu dem Zwecke, wenn ich zeitig genug Ihre Nachricht erhalte, wann man in Essen sein will. – Andernfalls würde ich es vorziehen, in Homburg bis Ende d. Monats bleiben zu können. […]16

Der Kuraufenthalt dient Wohlhabenderen häufig als Ausgleich für Stress im Berufsleben. Krupp sieht sich in seiner eigenen Firma als unabkömmlich und ist sogar bereit für einen Vertragsabschluß seine Kur abzubrechen. Handwerker machen sich bei Krankheit vor allem Gedanken um ihre berufliche Zukunft, da sie auf ihre körperliche Arbeitskraft angewiesen sind. Deshalb tun sie ihr möglichstes, um schnell wieder gesund zu werden und nutzen sowohl die Möglichkeit der Selbsthilfe durch Selbstmedikation – vor allem aus finanziellen Gründen – als auch das ihnen zur Verfügung stehende medizinische Angebot. Der Riemergeselle Friedrich Wilhelm Schneider schreibt 180 aus Wien an seinen Vetter und seine Großmutter: […] Bester Herr Vetter, ich bin in einer sehr traurigen Lage, der Daum an der rechten Hand, ist bey mir wie los und kann bey der leichtesten Arbeit die Nadel kaum heraus ziehen, welches sonst gar nicht gewesen ist, ich bin nicht im Stande mit zwey Nadeln zu nehen, ich kann ihnen Schreiben, daß ich ihn im geringsten nicht beschädigt habe, und muß dieserhalb aus Arbeit gehen, ich habe schon geschmieret mit Kampfer Geist und habe mich auch sonst schon befragt in der Apotheke es wird aber nicht anders, weshalb ich so schlecht schreiben habe müssen, ich bitt Ihnen um guten Rath. Ich habe Tag und Nacht Sorgen darüber und denke mit Bangigkeit in die Zukunft. […]17 1 Berdrow 198, 1 f., Alfred Krupp an Longsdon; Hügel, .5.1885. 15 Kos 199, . 16 Berdrow 198, 97, Alfred Krupp an Richter & Hagdorn; Burg Metternich bei Weilerswist, 15.8.187. 17 Schober 1987, 168; Friedrich Wilhelm Schneider an seinen Vetter und seine Großmutter; Wien, 8.9.180.

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Nachdem keine Besserung eintrat, wendet er sich an verschiedene Wundärzte, denen er allerdings nicht so recht zu trauen scheint. Wundärzte waren für äußere Krankheiten wie Wunden, Verbrennungen und Brüche zuständig. Anderthalb Monate später schreibt er wiederum an seinen Vetter und seine Großmutter: Ihren Brief habe ich den 5sten Septbr. richtig erhalten, und mit thränenden Augen Ihre gütigste Theilnahme gelesen, weshalb ich Ihnen mit der größten Freude melten muß, daß sich mein Finger wieder gebessert hat, durch verschiedene Bewegungen, ich bin, vorher ich Ihren Brief erhalten habe, bey mehr als 6 Wundärzten gewesen, welche mir zum Theil lehren Trost gaben und zum Theil sagten, ich sollte ihm [den kranken Daumen] mit Brandwein Seiffen Spiritus oder Kampferspiritus schmieren, oder mit arimatischen Kräutern gekocht, baden, welches ich aber Gott sey Dank nicht gebraucht habe sondern es sich durch Bewegungen wieder eingerichtet hat, und ich doch keine Zeit der Arbeit deshalb habe aussetzen dürfen. […] wenn mir Gott meine Gesundheit so verleiht wie jetzt, so ist mir nicht bange durchzukommen. […]18

Dieser Briefwechsel zeigt auch, daß Angehörige als Ratgeber in den Heilungsprozeß mit einbezogen werden. Auf See berichtet 186 der Matrose Paul Mewes seinen Eltern, wie er versucht, mit Hilfe seiner Kollegen, eine Verletzung am Daumen – ohne einen Arzt – zu heilen: […] Wir hatten heute eine kleine Zänkerei, wo einer mir, da ich daß Messer fest hielt, mir es halb durch den Daumen jagte. Ich blutete wie ein Schwein. Ich mußte die Hand gleich in Essig halten und der Steuermann brachte mir Wundwasser. Es wird wohl bald besser werden. […]19

Die Seefahrt gilt unter den Männerberufen als besonders gefährlich. Unfälle stehen auf der Tagesordnung. Wehleidigkeit und Angst vor Verletzungen scheinen dabei nicht aufzukommen, eher Gleichgültigkeit, was den eigenen Körper anbelangt. Noch offen ist, in wie weit hier ein anderer schicht-/gruppenspezifischer Verhaltensstil vorliegt. Zur Bekämpfung von Krankheiten kamen vor dem Zeitalter der Bakteriologie – also vor ca. 1880 – sowohl medizinische und medikamentöse aber auch diätetische, volksmedizinische oder religiöse Heilungsmethoden in Betracht. Entscheidend war für die Kranken, was Besserung brachte. Selbst den Infektionskrankheiten wurden nicht nur eine, sondern viele – auch gleichzeitige – Ursachen zugeschrieben0. Die Nutzung eines Spitals oder Krankenhauses wird bei keinem der zitierten und bisher von mir ausgewerteten Briefschreiber erwähnt. Die Patientenschaft der Krankenhäuser setzt sich bis in das späte 19. Jahrhundert vorwiegend aus Angehörigen der Unterschicht zusammen. Bei der Hospitalisierung handelt es sich vorrangig um einen Ersatz für die sonst übliche Pflege in der Familie, als um eine Form der medizinischen Versorgung. Patienten kamen 18 Schober 1987, 169; Friedrich Wilhelm Schneider an seinen Vetter und seine Großmutter; Wien, .10.180. 19 Schmidt, I. 1981, 101; Paul Mewes an seine Eltern; 17.1.186. 0 Vgl. Dinges 00, 8.

Gesundheitsverhalten von Männern

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über Gesinde- und Handwerker-Unterstützungskassen in das Krankenhaus oder wurden von der Armenfürsorge überwiesen. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich das Allgemeine Krankenhaus vor dem Hintergrund von Industrialisierung und Urbanisierung auch für die oberen Bevölkerungsschichten zu einer medizinischen Versorgungseinrichtung1. Die ausgewählten Briefwechsel bestätigen, daß Angehörige der Oberschicht sich in Krankheitsfällen zuerst an ihren Hausarzt wenden. Handwerker gehen – wie im Falle des Riemergesellen Schneider – eher „schrittweise“ vor. Sie versuchen sich zuerst z. B. mit Hausmitteln selbst zu helfen, bevor sie sich an einen Apotheker wenden oder zu einem Wundarzt gehen. Dieses Vorgehen hat sicherlich ökonomische Gründe. Ein akademischer Arzt wird möglicherweise erst dann aufgesucht, wenn alle anderen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und nicht zu einer Heilung führen. Dies deutet also darauf hin, daß soziokulturelle Unterschiede ausschlaggebend sind für die Wahl der Behandlung. Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken Männer haben durchaus eine Vorstellung davon, was ihre Gesundheit gefährdet, aber auch, wie sie erhalten werden kann (auch wenn sie dieses Wissen nicht immer in ihrem Alltag umsetzen). Am Beispiel der Genußmittel Nikotin und Alkohol möchte ich dies im folgenden aufzeigen. Der Physiker Wolfgang Bolyai schreibt 1799 an seinen Kollegen Carl Friedrich Gauss: Ich rauche jetzt viel weniger, und speye dabey aus; nachdem ich die Meynung Blumenbachs für falsch fand – da der Speichel ununterbrochen abgesondert, und heruntergeschluckt wird; geht, wenn der Tobackrauch dadurch geleitet worden ist, eine grosse Menge ungeheuer reizendes Safts in den Magen.

Bolyai widerspricht der Theorie eines angesehenen Mediziners und bildet sich eine eigene Meinung über das Rauchen und seine Auswirkungen auf den Körper. Er hat sich also vermutlich nicht nur auf das Wissen der Heiler verlassen, um Vorgänge im eigenen Körper zu verstehen, sondern Fachliteratur gelesen und sich damit auseinandergesetzt. Vier Jahre später (180) berichtet Bolyai wieder an Gauss: […] Seit der Geburt meines Sohnes habe ich nicht geraucht, habe mich entschlossen, in diesem Leben nicht mehr zu rauchen, nur jedes Jahr aus Deiner Pfeife in der letzten Stunde; ich habe noch seitdem die Pfeife im Munde nicht gehabt, wiewohl ich eine schlimme Folge des plötzlichen Brechens einer so alter Gewohnheit, gespührt, eine Ob1 Labisch/Spree 1996.  Johann Friedrich Blumenbach (175–180), von 1778 bis zu seinem Tod Professor der Medizin in Göttingen. Er gilt als (Be)Gründer der physischen und wissenschaftlichen Anthropologie.  Schmidt/Stäckel 1987, 17; Wolfgang Bolyai an Carl Friedrich Gauss; Göttingen, ..1799.

0

Susanne Frank struction von neun Tagen, und eine Mattheit und Dummheit meiner Seele – Es ist nicht mein Weib der Grund davon, sondern nur der, welchen ich auch in Göttingen wuste das es eine dumme schlechte Gewohnheit sei, und ich schämte ein Sclave meines Gaumens zu seyn – ich trinke auch nichts als Wasser ausser zu Arzeney. […]

D. h. die Geburt des Sohnes motiviert zu einem gesünderen Lebensstil. Doch wird hier das Rauchen nicht als gesundheitsgefährdend, sondern eher als Laster – also moralisch – wahrgenommen. Viele Ärzte sahen seit dem 16. Jahrhundert in Genußmitteln wirksame Heilmittel. Der Tabak beispielsweise habe die Eigenschaft, den Körper von schädlichem Schleim zu reinigen. So galt er als Mittel gegen Verstopfung, Erkältungen, geistige Trägheit, Asthma, Wasser- oder Lungensucht. Vor „unmässigem Gebrauch“ wurde allerdings gewarnt5. Bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde der Tabak in Form von Rauchtabak zum Massenkonsummittel von Adeligen, Bürgern wie auch Bauern beiderlei Geschlechts6. Nikotin und Alkohol sind aber auch Mittel zum Genießen und Entspannen. So schreibt der Forstjunker Carl von Thadden 180 an seine Verlobte: Nach Tisch trank B. noch eine Menge Fliederthee und legte sich zu Bett. Ich saß noch ein Stündchen vorm Kamin, trank ordentlichen Thee, rauchte dazu ein Pfeifchen […]7

Oder der Goldschmied Adalbert Ascherfeld aus Wien 180 an seinen Vater: Sonntag den 10ten, lag ich mittags auf dem Bett und blies so recht behaglich die Rauchwolken aus meiner türkischen Pfeife in die Luft und machte Pläne, wie wir den Nachmittag hinbringen sollten […]8

Und 189 fügte er aus München an seine Eltern hinzu: „Das Münchener Bier ist gut. Zuweilen trinke ich 1 ½ Maß abends.“9 Der Physiker Ernst Abbe beschreibt seinem Freund Harald Schütz 186 seinen Tagesablauf in Frankfurt a. M., wie folgt: […] Ich stehe regelmäßig gegen 8 Uhr auf […] und mache mich ans Kaffee trinken, nachdem ich mir, als das Erste, sowie ich aus dem Bett komme, eine Pfeife angezündet habe, – die ich mir des Abends schon stopfe, um gleich frisch anfangen zu können. – Das Kaffeetrinken […] dauert meistens bis gegen Mittag, da ich nichts dazu esse sondern blos rauche und dazwischen gegen 10 Uhr – wenn ich es nicht ganz vergesse – etwas frühstücke. Dabei arbeite ich bis 1 Uhr, wo mir die Hauswirthin das Essen bringt […] – Gegen zwei Uhr gehe ich dann aus, wenn ich nicht grade sehr nothwendig zu thun habe, […] besuche Jemand, oder trinke irgendwo ein Glas Bier od. Wein, […] – und gehe schließlich in den  Schmidt/Stäckel 1987, 5f; Wolfgang Bolyai an Carl Friedrich Gauss; Clausenburg, 7..180. 5 Menninger 001, 0. Die Genußmittel waren innerhalb der frühneuzeitlichen Medizin nicht unumstritten. Ihre Gegner vermuteten, daß Rauchtabak die Lungen schwärze, das Gehirn bis auf Nußgröße schrumpfen lasse und Schnupftabak zum Verlust des Geruchssinns führe. Menninger 000, 8. 6 Menninger 001, . 7 Otto 1995, 9; Carl von Thadden an Henriette von Levetzow; Driesen, .11.180. 8 Historischer Verein für Stadt und Stift Essen um 198, 87; Adalbert Ascherfeld an seinen Vater; Wien, .5.180. 9 Historischer Verein für Stadt und Stift Essen um 198, ; Adalbert Ascherfeld an seine Eltern; München, 10.0.189.

Gesundheitsverhalten von Männern

1

die Stadt umgebenden Promenaden spazieren, so daß ich gewöhnlich erst gegen Abend wieder nach Hause komme. Der Abend, bis gegen 1 Uhr, ist meine eigentliche Arbeitszeit […]0

Die Pfeife nach dem Aufstehen ersetzt dem Physiker das Frühstück. Eine Gewohnheit, die Abbe hier – im Gegensatz zum Familienvater Bolyai – nicht in Frage stellt und dementsprechend auch nicht negativ, weder als Laster noch als gesundheitsschädigend, besetzt. Es bleibt noch zu klären, ob der Familienstand Einfluß auf das Gesundheitsverhalten bzw. die Lebenserwartung hat. Der Tagesablauf des jungen Matrosen Paul Mewes sieht gänzlich anders aus. 186 schreibt er seinen Eltern: […] Ich selber bin gesund und munter und fühle mich hier sehr glücklich an Bord. […] Wir sitzen hauptsächlich den ganzen Tag ins Logis, rauchen und trinken Brantwein. Von letzterem haben wir eine ungeheuere Quantität ins Logis. […] können wir doch so viel Branntwein und Toback kriegen, als wir wollen […] Schlaf giebts aber doch man wenig, bis  Uhr des Nachts wird hier immer an Bord gesungen, getanzt, getrunken und geraucht. […]1

Der tägliche übermäßige Konsum von Nikotin und Alkohol scheint hier – in diesem Milieu, in dieser Berufsgruppe – selbstverständlich und wird nicht als gesundheitsgefährdend empfunden. Rauchen und Alkoholkonsum sind oft auch kulturell vermittelte Instrumente, um männliche Stärke zu signalisieren. Mitunter gehören sie auch einfach zum männlichen Habitus, der in seltenen Fällen in Frage gestellt wird. So schreibt der Soldat Robert Pöhland 1916 an seine Frau: Als ich Dir neulich schrieb, ich möchte Robert einige Ratschläge wie z. Bsp. in Bezug aufs rauchen mitteilen, meinte ich dieses nicht so, wie Du es aufgefaßt zu haben scheinst, sondern es sollte für ihn einen Rat fürs ganze Leben sein. […]. Ich dachte nur, weil es spez. in Bremen fast keinen „Mann“ giebt, der nicht raucht, Robert vielleicht später auch zu der Überzeugung gelangen könnte, daß dieses zur „Männlichkeit“ gehört. 

Das Wissen über die schädlichen Auswirkungen von Nikotin und Alkohol ist (oft) erfahrungsbezogen. Entweder werden eigene Erfahrungen mitgeteilt oder Beobachtungen in der Familie und im Bekanntenkreis. Pöhland berichtet 1916 seiner Frau: Ich fühle mich dann so glücklich, daß ich die Menschen, die ihr Geld versaufen und dafür ihre Familie darben lassen und ihrer eigenen Gesundheit den größten Schaden zufügen mehr bedaure als hasse. 

0 1  

Wahl/Wittig 1986, 177f; Ernst Abbe an Harald Schütz; Frankfurt a. M., ..186. Schmidt, I. 1981, 98ff; Paul Mewes an seine Eltern; 15.1.186. Kachulle 198, 178, Belgien, 19.9.1916. Kachulle 198, 117, Belgien, 7.5.1916.



Susanne Frank

Fazit Gesundheit und Krankheit sind Themen, über die Männer unter entsprechenden Rahmenbedingungen nachdenken, und von denen sie erzählen. Männer gestehen Krankheit in Briefen vor sich selbst ein und sprechen mit anderen darüber. Dabei spielt das Medium (Brief), der Gesprächspartner (Familie, Freunde) und der Gesprächsanlaß (Geschäftsreise, längere Abwesenheit durch Wanderschaft oder eine Freundschaft auf Distanz) eine bedeutende Rolle. Briefe bieten einen geringen zeitlichen und räumlichen Abstand zwischen Erleben und Niederschrift. Persönliche Briefe werden oft über einen längeren Zeitraum gewechselt und lassen deshalb Veränderungen in den Verhaltensweisen des Verfassers sowie dessen Vorstellungen erkennen. Daneben geben sie Einblick in die Lebensumstände des Verfassers, die historische Vielfalt des Umgangs von Männern mit Krankheit und Gesundheit und bieten aufgrund der unterschiedlichen Adressaten und biographischer Kontexte aufschlußreiche Einsichten in das Selbstbild ihres Schreibers. Die positive oder negative Bewertung von Gesundheit hängt mit der jeweiligen Lebenssituation und dem Lebenskonzept der Männer zusammen und nicht unbedingt mit dem Geschlecht. Steht die berufliche Arbeit im Lebensmittelpunkt, dann spielt die Arbeits- und Leistungsfähigkeit eine zentrale Rolle, bei Frauen wie bei Männern. Männer stellen negative Einwirkungen auf ihre Gesundheit in Form von Risiken fest, wenn auch individuell in ungleichem Maße und sehr unterschiedlicher Art. Die subjektiv wahrgenommenen Risiken lassen sich schwerpunktmäßig in der Erwerbsarbeit (schwere körperliche Arbeit, ständige Überstunden), am Lebensstil (Rauchen, Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel) sowie im Prozeß des Alterns (geringere Belastbarkeit) erkennen. Wenn die berufliche Arbeit einen großen Stellenwert im Leben hat, sei es für das Selbstwertgefühl oder – wie in den meisten Fällen – zur Finanzierung des Lebensunterhalts, werden Gesundheitsgefährdungen oft nicht ernstgenommen oder (zwangsläufig) ausgeblendet. Männer sind sich durchaus auch über protektive Faktoren für ihre Gesundheit bewußt. Sie wissen um die Möglichkeiten, von der Arbeit abzuschalten, gehen spazieren oder besuchen das Theater als Ausgleich für einen anstrengenden Arbeitstag5. Das Gesundheitsverhalten der Männer ist eng mit den jeweiligen Männlichkeitsvorstellungen in verschiedenen historischen Epochen verbunden. Identität von Männern kann sehr unterschiedliche Ausprägungen haben, deshalb kann nicht von „der“ männlichen Identität gesprochen werden6. Es gab und gibt „den“ Mann nicht. Jeder Mann verhält sich anders. Ergebnis des hier vorgestellten Projektes könnte sein, verschiedene männliche Verhaltensstile/ Habitus herauszuarbeiten. Dabei wird neben den soziokulturellen Unterschie Vgl. dazu Heuser 001, 75 f. 5 Vgl. dazu auch die neuere Studie von Faltermaier 1998. 6 Wenn ja, nur in idealtypischer Weise.

Gesundheitsverhalten von Männern



den die Differenzierung zwischen alleinstehenden und in Familien lebenden Männer sowie die nach Lebensphasen besonders wichtig sein. Unterschiedliche männliche Identitäten können jedenfalls zu (sehr) verschiedenen gesundheitlichen Vor- und Nachteilen führen. Bibliographie: Arnold, Klaus u. a. (Hrsg.), Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit (Bochum 1999) Berdrow, Wilhelm (Hrsg.), Alfred Krupps Briefe 1826–1887 (Berlin 198) Bründel, Heidrun/Klaus Hurrelmann, Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann (Stuttgart u. a. 1999) Bürgel, Peter, „Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976) 81–97 Dinges, Martin, „Männergesundheit in Deutschland: Historische Aspekte“, in: Jacobi, Günther (Hrsg.), Praxis der Männergesundheit (Stuttgart 00) Eickenberg, Hans-Udo/Klaus Hurrelmann, „Warum fällt die Lebenserwartung von Männern immer stärker hinter die der Frauen zurück?“, Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 17 (1997) 118–1 Faltermaier, Toni, „Gesundheitsverständnis von Männern im Kontext von Identität und Lebensführung“, in: MännerGesundheit. Dokumentation der Tagungsreihe, hrsg. von der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales u. a. (Hamburg 1998) 67–8 Frevert, Ute, „Akademische Medizin und soziale Unterschichten im 19. Jahrhundert: Professionsinteressen – Zivilisationsmission – Sozialpolitik“, Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung  (1987) 1–60 Greyerz, Kaspar von u. a. (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quelle 1500–1800 (Köln u. a. 001) Habermas, Rebekka, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850) (Göttingen 000) Heuser, Magdalene, „Die Jugendbriefe von Therese Heyne-Forster-Huber. Vergewisserung der (weiblichen) bürgerlichen Subjektivität“, in: Kaspar von Greyerz u. a. (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quelle 1500–1800 (Köln u. a. 001) 75–98 Historischer Verein für Stadt und Stift Essen (Hrsg.), „Zwei Essener Goldschmiede auf der Wanderschaft. Reisebriefe der Brüder Adalbert und Wilhelm Ascherfeld aus den Jahren 187 bis 181“, in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, 6 (Essen o. Datum [um 198]) –156 Imhof, Arthur E., Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert (Weinheim 1990) Kachulle, Doris (Hrsg.), Die Pöhlands im Krieg, Briefe einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie aus dem 1. Weltkrieg (Köln 198) Klotz, Theodor, Der frühe Tod des starken Geschlechts (Göttingen 1998) Kos, Wolfgang, „Distanz und Geselligkeit. Das Heilbad als soziale Experimentierbühne“, in: Das Bad. Körperkultur und Hygiene im 19. und 20. Jahrhundert (Wien 199) –51 Labisch, Alfons/Reinhard Spree (Hrsg.), „Einem jeden Kranken in einem Hospitale sein eigenes Bett“. Zur Sozialgeschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland im 19. Jahrhundert (Frankfurt/ Main, New York 1996) Lachmund, Jens/Gunnar Stollberg, Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien (Opladen 1995) Loetz, Francisca, Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (Stuttgart 199)



Susanne Frank

Menninger, Annerose, „Tabak, Zimt und Schokolade: Europa und die fremden Genüsse (16.–19. Jahrhundert)“, in: Urs Faes/Béatrice Ziegler (Hrsg.), Das Eigene und das Fremde. Festschrift für Urs Bitterli (Zürich 000) –6 Menninger, Annerose, „Die Verbreitung von Schokolade, Kaffee, Tee und Tabak in Europa (16.–19. Jahrhundert). Ein Vergleich“, Berner Zeitschrift für Geschichte der Heimatkunde 6, 1 (001) 8–7 Elisabeth Otto, Liebes Henrinchen! Briefwechsel vor dem Sturm der Napoleonischen Kriege, (Berlin 1995) Schmidt, Franz/Paul Stäckel (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Carl Friedrich Gauss und Wolfgang Bolyai (Leipzig 1899) (Nachdruck Hildesheim u. a. 1987) Schmidt, Ingrid (Hrsg.), Briefe und Zeichnungen des Segelschiffsmatrosen Paul Mewes 1860–1865 (Hamburg 1981) Schober, Manfred, „Briefe von Handwerkern, Gesellen und Arbeitern aus dem 19. und frühen 0. Jahrhundert. Eine Bestandsaufnahme nach Sebnitzer Quellen“, Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 0, NF 15 (1987) 1–177 Schulze, Winfried (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Berlin 1996) Stolberg, Michael, „‚Mein äskulapisches Orakel!‘. Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert“, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1996) 85–0 Stolberg, Michael, Homo patiens: Krankheits- und Körpererfahrungen in der Frühen Neuzeit (Köln u. a. 00) Stolberg, Michael, Heilkundige: „Professionalisierung und Medikalisierung“, in: Norbert Paul/ Thomas Schlich (Hrsg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, (Frankfurt/Main, New York 1998) 69–86 Wahl, Volker/Joachim Wittig, Ernst Abbe, Briefe an seine Jugend- und Studienfreunde Carl Martin und Harald Schütz 1858–1865 (Berlin 1986) Weiss, Stefan, „Briefe“, in: Bernd-A. Rusinek/Volker Ackermann (Hrsg.), Einführung in die Interpretation historischer Quellen (Paderborn 199) 5–60

„Ich habe öfter mit den Ärzten darüber sprechen wollen, doch die winken ab … “. Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996 Sylvelyn Hähner-Rombach

Der vorliegende Beitrag stützt sich auf eine erste, exemplarische Auswertung der Korrespondenz der Fördergemeinschaft „Natur und Medizin“ aus den Jahren 1992 bis 1996, die im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung archiviert ist1. Mit dem Bestand dieser Institution liegt ein Quellenkorpus vor, das Auskunft geben kann über die gegenwärtige medikale Alltagskultur von Kranken, die sich für alternative Behandlungsformen interessieren. Nach einer kurzen Charakterisierung der Fördergemeinschaft werden die Briefe hinsichtlich des Absenders, Nutznießers und Schreibanlasses untersucht. In einem dritten Schritt geht es um die Darstellung der Erfahrungen der Absender und ihre Erwartungen an den Adressaten. Abschließend soll versucht werden, den Wert dieses Quellenkorpus’ für eine Sozialgeschichte der Medizin aus Sicht der Patienten und Patientinnen zu bestimmen. Fördergemeinschaft Natur und Medizin „Natur und Medizin“ wurde 1983 als Fördergemeinschaft der zwei Jahre zuvor gegründeten Karl und Veronica Carstens-Stiftung ins Leben gerufen2. Der Hauptzweck der Fördergemeinschaft, die laut eigenen Angaben rund 40.000 Mitglieder, Förderer und Freunde hat, besteht darin, die wissenschaftlichen Untersuchungen der Stiftung zu finanzieren. Daneben erfolgt die Beratung der Mitglieder und anderer Fragesteller sowie die Information der Öffentlichkeit. Die Fördergemeinschaft versteht sich als Interessenvertretung der Kranken, nicht des medizinischen Systems. Die Ziele der Carstens-Stiftung liegen in der wissenschaftlichen Förderung der sogenannten „Erfahrungsheilkunde“ – da1

2

Der Bestand Natur und Medizin des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat die Signatur VNM. Der vorliegende Beitrag basiert auf einer Stichprobe der Briefe, die zwischen 1992 und 1996 verfaßt wurden. Die gesamte Mitglieder-Korrespondenz des offenen Bestandes umfaßt die Jahre 1992–1997. Zur Karl und Veronica Carstens-Stiftung siehe: Karl und Veronica Carstens-Stiftung 1992. Außerdem gibt die Stiftung seit 1995 ein Jahrbuch heraus: Albrecht/Frühwald 1995 ff. Weitere Publikationsreihen der Stiftung, die im KVC Verlag erscheinen, sind „edition forschung“, „Forum Homöopathie“, „Naturheilkunde fundiert“ sowie mehrere Einzeltitel. Die Fördergemeinschaft gibt sechsmal im Jahr die „Mitgliederbriefe“ heraus, eine Auswahl an themenbezogenen Artikeln der Mitgliederzeitschrift wurde in bislang zwei Werken veröffentlicht: Natur und Medizin [1998] sowie Natur und Medizin [2003].

236

Sylvelyn Hähner-Rombach

runter vor allem die Homöopathie – und anderer unkonventioneller Methoden in der Medizin, wie der Naturheilkunde. Um das zu erreichen, werden zum einen wissenschaftliche Untersuchungen angeregt und teilweise auch finanziert, zum anderen werden Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Studentinnen und Studenten der Medizin und für Ärztinnen und Ärzte angeboten. Weil sich die Fördergemeinschaft auch als Ratgeberin für gesundheitliche Fragen versteht, wenden sich viele Menschen mit Problemen an sie. Die Korrespondenz Die Briefe an die Fördergemeinschaft „Natur und Medizin“ haben den Zweck, Auskunft und Rat bezüglich einer Behandlung ganz unterschiedlicher Erkrankungen einzuholen. Die Anregung, sich an die Fördergemeinschaft zu wenden, geht zum einen von deren „Mitgliederbriefen“ aus, die die Leserinnen und Leser zur Korrespondenz ermuntern3, zum anderen sind die Anfragen – das geht aus den ausgewerteten Briefen hervor – das Ergebnis einer „Mund-zuOhr-Propaganda“. Die Schreiber bringen ihr Anliegen unterschiedlich ausführlich und detailliert vor, ein Brief kann eine halbe Seite umfassen oder mehrere Seiten lang sein, er kann persönlich oder sachlich-distanziert verfaßt sein. Der Adressat ist eine „neutrale“ Instanz, weil die Fördergemeinschaft über verschiedenartige alternative Behandlungen informiert. Die folgende Darstellung basiert auf der Auswertung der Briefe, die zwischen 1992 und 1996 von Absendern verfaßt wurden, deren Familienname mit dem Buchstaben „B“ beginnt4. Insgesamt wurden 485 Briefe ausgewertet. Nicht einbezogen sind Erklärungen über Ein- und Austritte von Mitgliedern, Buchund Broschürenbestellungen, private Briefe an Veronica Carstens, Einladungen zu Vorträgen, Bitte um Werbung und ähnliche Schreiben ohne direkten medizinischen Bezug. Untersuchungen zur Entwicklung, Mitgliederstruktur etc. liegen noch nicht vor. Vor diesem Hintergrund sind manche der vorgestellten Befunde als recht vorläufig zu werten.

3 4

So heißt es beispielsweise auf der Homepage der Fördergemeinschaft: „Wenn Sie Mitglied bei Natur und Medizin werden, […] werden Ihre Anfragen zu Naturheilkunde und Homöopathie individuell beantwortet“. Siehe www.natur-medizin.de/wuu/index.php Laut einer Statistik aus Nordrhein-Westfalen von 1995 (eine Statistik der gesamten Bundesrepublik Deutschland gibt es laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes nicht) lag die relative Häufigkeit des Anfangsbuchstabens „B“ der Familiennamen bei 87,28 ‰. Damit gehört dieser Anfangsbuchstabe zusammen mit „H“, „J“, „M“ „Sch“ und „W“ zu am den häufigsten vorgekommenen. Vg. Reinders 1996.

Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996

237

Die Absender Die absolute Mehrheit der Schreiberinnen und Schreiber macht deutlich, daß sie der Schulmedizin kritisch, wenn nicht ablehnend gegenübersteht. Die größte Gruppe innerhalb der sich explizit „bekennenden“ Anhänger von alternativer Medizin sind homöopathische Patientinnen und Patienten5. Durch die Zuordnung der Absender nach Geschlecht erhält man einen ersten Hinweis darauf, wer sich für Gesundheit bzw. Krankheit zuständig fühlte. Tab. 1: Geschlechtsspezifische Verteilung der Absender Gesamtzahl

485 Briefe

davon Frauen

361 Briefe = 74,4 %

davon Männer

122 Briefe = 25,2 %

davon Mann und Frau

2 Briefe = 0,4 %

Gerundet stammen also knapp 75 Prozent der Briefe von Frauen, ein Viertel von Männern. Diese Verteilung ist wenig überraschend, wird doch immer noch davon ausgegangen, daß Frauen sich eher für Gesundheits- und Krankheitsfragen verantwortlich fühlen als Männer6. Nach der Feststellung des Geschlechts des Verfassers hat mich interessiert, für wen er bzw. sie geschrieben hat, um das jeweilige persönliche „Netzwerk“ in den Blick zu bekommen. Denn die Innendifferenzierung relativiert die eben angesprochene Beobachtung der geschlechtlichen Rollenverteilung etwas, wie die folgende Tabelle verdeutlicht:

5

6

Zur homöopathischen Patientenschaft sind in den letzten Jahren einige historische Arbeiten entstanden, auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten in Briefen an Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, ist Thema medizinhistorischer Forschungen. Ein Beispiel dazu liegt vor von Stolberg 2000. Die zeitgenössische Klientel der Homöopathie ist aber auch Gegenstand von Untersuchungen, siehe beispielsweise Stollberg 2000; Günther 2000; zu Brasilien: Fortes/Fraiz 2002; Becker-Witt/Lüdtke/Willich 2002. Der Themenkomplex „Männergesundheit“ gerät zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Zum männlichen Gesundheitsverhalten siehe z. B. das Kapitel „Haben Männer ein anderes Gesundheitsverhalten als Frauen?“ in Bründel/Hurrelmann 1999, S. 126 ff. Angaben zur Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen differenziert nach Geschlecht für Wien bzw. Österreich in Magistrat der Stadt Wien 2002, S. 136. Zur geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme des Versorgungssystems siehe die Beiträge in: Hurrelmann/Kolip 2002, S. 491–564 sowie die Beiträge in Gesundheitsakademie/Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 1998.

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Sylvelyn Hähner-Rombach

Tab. 2: Nutznießer der Briefe Verfasser/in schreibt für

Männer

Frauen

sich

61 = 50 %

190 = 52,6 %

Ehepartner/in

14 = 11,5 %

62 = 17,2 %

Familienmitglied

14 = 11,5 %

66 = 18,3 %

andere Personen

6 = 4,9 %

18 = 5 %

ohne Angabe

27 = 22,1 %

25 = 6,9 %

Der Unterschied der prozentualen Verteilung in der ersten Zeile ist relativ gering. Beide Geschlechter haben in rund der Hälfte der Fälle in einer Angelegenheit geschrieben, die sie selbst betraf. Tatsächlich wandten sich sogar etwas mehr Frauen in eigener Sache an den Verein als Männer, wodurch das Bild der hauptsächlich für andere sorgenden Frau etwas relativiert wird, auch wenn diese Verteilung – zum Teil zumindest – daran liegen könnte, daß viele der Frauen älter und demzufolge (wieder) alleinstehend waren. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der zweiten und dritten Zeile scheinen der immer noch vorausgesetzten Polarisierung der Geschlechter teilweise zu widersprechen: Nur 12,5 % mehr Frauen als Männer wandten sich für den Ehepartner bzw. ein Familienmitglied an den Verein. Anders ausgedrückt: Der Anteil der Männer, die für die Ehefrau oder einen anderen Verwandten Auskunft wünschten, ist relativ hoch. Was im 19. Jahrhundert noch verbreitet war, daß nämlich ein Ehemann oder Vater für Familienmitglieder Briefe verfaßte7, erscheint Ende des 20. Jahrhunderts, in dem für unsere Gruppe von einer gleich hohen Alphabetisierung auch der Frauen ausgegangen werden kann, ungewöhnlich. Auffallend ist auch die große Differenz in der Zeile „ohne Angabe“. Bei über 20 Prozent der Männer konnte nicht ausgemacht werden, in wessen Interesse der Adressat aktiv wurde, während bei den Frauen dieses Kontingent bei nur knapp 7 Prozent liegt. Das rührt nicht daher, daß die männlichen Briefschreiber sich über eine nicht weiter spezifizierte Person ausließen. Statt dessen hatten sie oft eine ganz allgemeine Frage, die unabhängig von einer bestimmten Person schien. Das könnte für den Versuch eines distanzierten oder sachlichen Umgangs mit gesundheitlichen Problemen sprechen8. Die Gruppe der „Familienmitglieder“, für deren Belange Männer und Frauen schrieben, zeigt, daß bei männlichen Verfassern das Spektrum von Familienangehörigen viel eingeschränkter war als bei den Verfasserinnen. Bei letzteren tauchten wesentlich mehr Verwandtschaftsgrade auf, was dafür sprechen könnte, daß der Blick der Frauen auf die Familie einen größeren Personenkreis umfaßt als derjenige der Männer. Das könnte wiederum darauf hin7 8

Laut Michael Stolberg ging die Praxis, daß Männer für ihre kranken Frauen Briefe an Ärzte verfaßten, schon im 18. Jahrhundert zurück. Vgl. Stolberg 2003, S. 94. Ein ähnliches Phänomen findet sich in dem Beitrag von Bettina Brockmeyer im vorliegenden Sammelband.

Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996

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weisen, daß die Kompetenz für den Gesundheitsbereich den Frauen nicht nur zugeschrieben, sondern von diesen auch akzeptiert und aktiv wahrgenommen wird. Tab. 3: Differenzierung der Familienangehörigen, für die Frauen geschrieben haben Gesamtzahl

127

Ehemann (davon 1 mal Lebensgefährte)

62

Sohn

10

Tochter

9

Kind (ohne Angabe des Geschlechts)

2

Kinder (ohne Angabe des Geschlechts)

3

Schwester

10

Mutter

8

Enkel

3

Enkelin

2

Tante

2

Nichte

1

Bruder

1

Schwager

1

Schwiegervater

1

Schwiegertochter

1

Vater

1

Mutter und Nichte

1

sich und Tochter

2

sich und Mann

2

sich und Mutter

1

sich und Familie

1

einen Verwandten

2

Familienmitglied

1

Während die Verfasserinnen ihre Familienangehörigen in 23 Nennungen unterschieden, finden sich bei den Verfassern nur sieben verschiedene Bezeichnungen von Familienangehörigen: Tab. 4: Differenzierung der Familienangehörigen, für die Männer geschrieben haben Gesamtzahl

28

Ehefrau

14

Tochter

5

240

Sylvelyn Hähner-Rombach

Sohn

2

Familienmitglied

2

sich und Familie

3

seine Mutter

1

Schwiegertochter

1

Ähnlich differenziert erfolgte die Einbeziehung der „anderen Personen“ bei den Verfasserinnen. Tab. 4: Differenzierung der als „andere“ bezeichneten Personen, für die Frauen geschrieben haben Gesamtzahl

18

eine Freundin

7

eine Bekannte

5

ein Bekannter

3

ihr Freund

1

Freund der Familie

1

Putzfrau

1

Bei den männlichen Absendern ließ sich der Gruppe der „anderen“, für die geschrieben wurde, nicht differenzieren. Lokale Herkunft der Absender Beim Absender wurde nur nach Stadtgröße über bzw. unter 200.000 Einwohnern sowie nach Innland/Ausland differenziert. Aufgrund dieser Unterscheidung rekrutieren sich die Schreiberinnen und Schreiber folgendermaßen: Tab. 5: Provenienz der Absender Herkunft

Anzahl der Briefe

aus der Großstadt

134 = 27,6 %

aus allen anderen Städten und Dörfern

341 = 70,3 %

aus dem Ausland

10 = 2,1 %

27,6 Prozent der Absender lebten in einem Wohnort, der mehr als 200.000 Einwohner hatte. Die Verteilung der Gesamtbevölkerung Deutschlands unterscheidet sich von diesen Proportionen nur geringfügig. Laut Statistischem Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland von 1996 lebten 24,4 Prozent der deutschen Bevölkerung in Städten ab 200.000 Einwohnern. Das weist darauf hin, daß die Streuung in unserem Sample in etwa der Bevölkerungsverteilung entspricht.

Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996

241

Die ausländischen Absender waren hauptsächlich Deutsche, die im Ausland wohnten und Mitglieder des Vereins waren. Die Bewohner von Großstädten stellen mit 27,6 Prozent die Minderheit unter den Briefschreibern. Das kann daran liegen, daß in den Ballungsräumen das Angebot an alternativer Medizin größer und auch besser bekannt war. So praktizierten 1994 allein von den im Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte organisierten 2.562 Medizinern knapp 33 Prozent in Städten mit über 200.000 Einwohnern. Bei einem geschätzten Anteil von einem Prozent Homöopathen unter den praktizierenden Ärzten9 und einer ohnehin geringeren Arztdichte in Kleinstädten und Landgemeinden10 kann man davon ausgehen, daß das Angebot an alternativer Medizin dort geringer ist als in den Großstädten. Das könnte der Grund dafür sein, daß über 70 Prozent der Briefe aus einem kleinstädtischen bis ländlichen Milieu stammen. Eine weitere Auswertung betraf die Frage, woher die Schreiber und Schreiberinnen von der Existenz der Fördergemeinschaft wußten. Hierbei wurde nicht nach Geschlechtern differenziert. Tab. 6: Wissen über die Existenz der Fördergemeinschaft Woher kam das Wissen über den Verein

Nennungen

Mitglied

154 = 31,7 %

Mitgliederbriefe

57 = 11,7 %

Fernsehen

30 = 6,2 %

Bekannte

17 = 3,5 %

Presse

13 = 2,7 %

Familienangehörige

11 = 2,3 %

Vortrag von Veronica Carstens

10 = 2,1 %

andere Institutionen

3 = 0,6 %

Zufall

1 = 0,2 %

keine Angabe

189 = 39 %

Fast 40 Prozent der Schreibenden verspürten offenbar nicht die Notwendigkeit, die Berechtigung ihres Anliegens z. B. durch eine Mitgliedschaft im Verein zu legitimieren. Dabei kann nicht gesagt werden, wie viele Briefschreiber in der Gruppe „keine Angabe“ Mitglied gewesen sind und wie viele nicht, da eine Abgleichung der Absender mit den Mitgliederlisten nicht erfolgen konnte. Manche werden einfach nicht die Notwendigkeit gesehen haben, ihre Anfrage durch den Nachweis einer Mitgliedschaft zu begründen. Einige wiederum fühlten sich veranlaßt, eine Spende in Aussicht zu stellen bzw. gleich einen Scheck, 9

1992/93 führten knapp 0,6 % aller in den Ärztekammern der BRD organisierten Ärzte die Zusatzbezeichnung „Homöopathie“, Schätzungen über den Prozentsatz der homöopathisch behandelnden Ärzte liegen bei rund 1 %. Vgl. Schlich/Schüppel 1996, S. 221. 10 Zahlenangaben für das Jahr 1990 finden sich in Beske/Hallauer 1993, S. 123.

242

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Bargeld oder Briefmarken beizulegen. Wieder andere versicherten, eventuell anfallende Kosten gerne übernehmen zu wollen. Es war ihnen etwas wert, Auskunft zu bekommen. Und das, obwohl für die Beantwortung des Briefes eine Mitgliedschaft offensichtlich nicht Voraussetzung war, also kein Zwang zur Zahlung bestand. Unter denjenigen, die auf die Zeitschrift des Vereins verwiesen, können sich natürlich auch Mitglieder befunden haben, da die wenigstens schrieben, wie sie an die Zeitschrift kamen. Das heißt auch, daß sich die Gruppe „Mitgliederbriefe“ mit der Gruppe, in der auf Hinweise durch Bekannte verwiesen wurde, zumindest teilweise überschneiden könnte. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre die Gruppe derer, die Hinweise auf die Existenz der Fördergemeinschaft durch das Fernsehen erhalten haben, tatsächlich die drittgrößte. Ein Blick auf die regionale Herkunft derjenigen, die das Fernsehen angegeben haben, zeigt, daß von den 30 Schreibern nur neun aus einer Groß- oder größeren Stadt11 kamen, die übrigen (das sind 70 %) wohnten in einer Kleinstadt bzw. auf dem Land. Das würde bedeuten, daß durch das Fernsehen mehr Hinweise geliefert wurden als durch persönliche Kontakte. Bei den Fernsehsendungen handelte es sich übrigens um das „ZDF Gesundheitsmagazin Praxis“, „Schreinemakers life“ und „Pfarrer Fliege“. Zur „Presse“ gehörten je einmal die „Münchner Medizinische Wochenschrift“, das „Ärzteblatt“, und „Frau im Spiegel“ sowie mehrmals die „Bild Zeitung“ und diverse regionale Tageszeitungen. Die sogenannten „anderen Institutionen“ umfassen die „Multiple-Sklerose-Gesellschaft Regensburg“, den „Stifterverband“ und die „Arbeitsgemeinschaft Mykosen“. Krankheitsspektrum Das Krankheitsspektrum umfaßt die ganze Bandbreite: chronische und akute, unheilbare und heilbare, lebensbedrohliche und Bagatellerkrankungen, psychosomatische, iatrogene, also durch ärztliche Einwirkung entstandene, sowie Umwelterkrankungen. Bei 145 Briefen (29,9 %) fand sich keine Krankheitsangabe. Wenig überraschend kann man die absolute Mehrheit der genannten Leiden, nämlich über 70 Prozent, den chronischen und unheilbaren Erkrankungen zurechnen, denen die Schulmedizin weitgehend hilflos gegenübersteht: neurologische Erkrankungen, wie Multiple Sklerose (mit 33 Nennungen die häufigste Einzeldiagnose12), Krebserkrankungen, Krankheiten des Bewegungsapparates, Hautkrankheiten, Rheuma und Allergien sowie Multimorbidität. Bagatellerkrankungen tauchen zwar auf, allerdings in sehr geringem Ausmaß und meist durch Nebeneffekte begründet, wie zum Beispiel Haarausfall bei

11 Nürnberg, Hamburg, Berlin, Braunschweig, Duisburg, 2mal Bonn, Lüdenscheid und Dresden. 12 Das sich Multiple-Sklerose-Erkrankte so häufig an die Fördergemeinschaft wandten, hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, daß in dem untersuchten Zeitraum eine Studie über die Wirkung der Heilpflanze Ruta bei Multipler Sklerose durchgeführt wurde.

Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996

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einem Heranwachsenden, der zu psychischen Problemen führte und von den Schulmedizinern nicht ernst genommen wurde. Briefanlaß Wichtig erschien es auch, einen Blick darauf zu werfen, was die Schreiberinnen und Schreiber konkret veranlaßte, sich an die Fördergemeinschaft zu wenden. Damit erhält man zumindest einen Eindruck über die Dringlichkeit oder Bedeutung der Anliegen. Die relativ unzweideutig zu eruierenden Motivationen wurden der besseren Handhabung wegen in zehn Kategorien eingeteilt. Dabei kann es natürlich zu subjektiven Zuordnungen kommen, die, wie immer bei solchen Kategorisierungen, nicht ausgeschlossen werden können. Tab. 7: Briefanlaß Briefanlaß

Nennungen

Medizinischer Rat betr. Therapiemöglichkeiten

230 = 47,4 %

Auskunft

83 = 17,1 %

direkter medizinischer Rat

60 = 12,4 %

Auskunft über Therapeuten und Therapieeinrichtungen

45 = 9,3 %

Erfahrungsbericht über Heilung

23 = 4,7 %

Dank an den Verein bzw. Veronica Carstens

13 = 2,7 %

Auskunft über Ruta-Therapie

13 = 2,7 %

Kritik an Gesundheitspolitik und Krankenkassen

13 = 2,7 %

Anregungen

3 = 0,6 %

Verzweiflung (explizit)

2 = 0,4 %

Die Bitte um medizinischen Rat hinsichtlich der Therapiemöglichkeiten – bei oft genauerer Schilderung des bestehenden Leidens – ist die größte Gruppe. Meist wollten die Schreiber wissen, ob es für den geschilderten Fall Behandlungsmethoden gibt, von denen sie bislang nicht wußten, wobei der jeweilige Erfahrungshorizont in der Regel ziemlich genau umrissen wurde. Die Kategorie „Auskunft“ bezieht sich zum größten Teil auf Informationen über Erdstrahlen, Ernährungsfragen, Adressen von Selbsthilfegruppen, Lieferanten spezieller Geräte, die Nebenwirkung von Medikamenten oder Amalgam. Die Kategorie „direkter medizinischer Rat“ subsumiert ganz konkrete Einzelfragen, die in der Regel direkt beantwortet werden konnten, wie z. B. ob die in den „Mitgliederbriefen“ empfohlene Öl-Therapie auch bei Multipler Sklerose (MS) angewandt werden darf oder ob ein spezielles Medikament bei einer bestimmten Krankheit Wirkung zeigt. Bei der Kategorie „Auskunft über Therapeuten und Therapieeinrichtungen“ zielte die Frage – nach einer meist sehr kurzen Krankheitsbeschreibung – ganz konkret auf Namen und Adressen in der näheren Umgebung. Die angeführten „Erfahrungsberichte über Heilungen“ bezogen sich zum Teil auf die Aufforderung im Mitgliedermagazin,

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Sylvelyn Hähner-Rombach

z. B. über die Wirkung der Öl-Therapie zu schreiben, oder erfolgten auf eigene Initiative. Nach der Ruta-Therapie fragten MS-Erkrankte oder deren Angehörige. Bei den „Anregungen“ handelt es sich um Vorschläge von Themen oder Projekten, derer sich die Fördergemeinschaft annehmen sollte. Erfahrungen Unreflektierte, nicht kommentierte, mehr oder weniger ausführlich geschilderte Erlebnisse mit der Schul- oder alternativen Medizin finden sich in den meisten Briefen, die eine Krankheit thematisierten. Zur Auswertung herangezogen wurden jedoch nur die Passagen, in denen die Erlebnisse mehr oder weniger verarbeitet und beurteilt wurden. Gewertete Erfahrungen mit dem bisherigen therapeutischen Weg finden sich in nur wenigen, genauer gesagt in 85 Fällen. Diese können in verschiedene Sparten unterteilt werden. Am häufigsten erscheint Kritik an der Schulmedizin, die entweder gar nicht geholfen, also versagt hat, sich ohnehin machtlos gezeigt oder das Leiden verschlimmert, wenn nicht verursacht hat. Die Freundin eines an einer neurodegenerativen, der MS ähnlichen, Erkrankung leidenden jungen Mannes schrieb beispielsweise: „Täglich kreisen unsere Gedanken nur noch um diese Krankheit und es macht uns alle vollkommen hilflos, dem fortschreitenden Muskelzerfall tatenlos zuzusehen. Laut Aussage der Schulmediziner gibt es keinerlei Hilfe, die Krankheit aufzuhalten oder gar zu stoppen“13. Eine Mutter, deren elfjährige Tochter an einer selten auftretenden Erkrankung des Bindegewebes mit Vernarbung und Entpigmentisierung der Haut litt, hielt fest: „Bedingt durch die geringe Zahl an Erkrankungen gibt es in der Schulmedizin weder eine Erforschung, noch eine Statistik über Heilungschancen. Selbst der Facharzt spricht von unbefriedigenden therapeutischen Möglichkeiten“14. Die MS-Kranken setzten in ihren Briefen die Machtlosigkeit der Schulmedizin gleichsam unausgesprochen voraus und kamen sofort zu ihren konkreten Anliegen. Die „Heilungspläne“ der Schulmedizin erfordern – zum Teil zumindest – ein bestimmtes Verhalten. Ganz augenscheinlich ist dies, wenn eine Operation für notwendig gehalten wird. Ein Krankenhausaufenthalt paßt aber manchmal nicht in die persönlichen Lebensumstände. So schrieb der 85jährige Fritz B., der sich vor einem operativen Eingriff „etwas“ scheute und sich deshalb nach der Möglichkeit erkundigte, seine Durchblutungsstörungen mit Naturheilkunde zu bessern: „Es liegt mir auch deshalb sehr viel daran, weil ich noch eine herzkranke Frau habe, die ich versorgen und betreuen muß, was ich gerne tue“15. Doch war dies nicht der alleinige Grund, sich an die Vertreter der alternativen Medizin zu wenden, Fritz B. hatte ohnehin Vertrauen in deren Heilweisen.

13 14 15

VNM, 16, Ulrike B. vom 7.10.1993. VNM, 66, Karla B. vom 9.8.1994. VNM, 46, Fritz B. vom 18.2.1992.

Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996

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Es gibt auch eine Reihe von Schreibern, die die Menschen, die hinter der Schulmedizin stehen, kritisierten: Es hat sich so gefügt, daß ich in meinem Leben durch die gedankenlose und desinteressierte Behandlung mancher Ärzte schwere Gesundheitsschäden davontragen mußte. […] Da ich während des Krieges an Malaria erkrankte, wurde meine Leber dadurch sehr beeinträchtigt und vertrug viele Medikamente nicht, was von den Ärzten nicht berücksichtigt wurde. ‚Das bilden Sie sich nur ein, es kann solche Auswirkungen nicht geben!‘ – hieß es dann, wenn ich mich über die negativen Nebenwirkungen beklagte16.

Manch eine oder einer hatte eine wahre „Odyssee“ von Arztbesuchen hinter sich, die nicht nur nicht zum Erfolg geführt hatte, sondern in der Regel auch noch demoralisierend wirkte. Auch wurde das Arzt-Patienten-Verhältnis als wenig vertrauensvoll dargestellt. So äußerte eine Frau, die ihre Blutfettwerte mit einer Knoblauch-Kur reduziert hatte: „Zum Arzt bin ich nicht gegangen um den Fettspiegel kontrollieren zu lassen. Es war mir peinlich, ich hätte ja sagen müssen, daß ich die Tabletten garnicht mehr genommen habe und wodurch die Reduzierung erfolgt ist.“ Und das, obwohl ihre vorherigen Erfahrungen mit diesem Arzt folgendermaßen beschrieben wurden: „Sooft ich von Unverträglichkeiten bei der Einnahme sprach, wurde mir gesagt, die Tabletten müssen sie nehmen, sonst bekommen Sie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall.“ Wenn sie auf der Unverträglichkeit bestand, sagte ihr der Arzt: „Die Beschwerden vergehen, wenn sie das Medikament eine Zeit genommen haben. Die müssen sie nehmen“17. Eine weitere Sparte können die Schreiben bilden, in denen auf die Nebenwirkungen der Schulmedizin rekurriert wird, die die Schreiber nicht mehr tolerieren wollten und/oder konnten. So schrieb die 70jährige Anneliese B.: „Vor 7 Jahren erkrankte ich an Gebärmutter- und Eierstockkrebs und bin im Krankenhaus in Rottenburg operiert und anschließend bestrahlt worden. 1 Jahr später stellten sich die ersten Strahlenschäden ein: starke Schmerzen im Darm, auch Blutungen“18. Eine mit Cortison und anderen Medikamenten behandelte Frau, die sich inzwischen der alternativen Medizin zugewandt hatte, die die Krankenkasse nicht bezahlen wollte, begründete ihren Konflikt folgendermaßen: „Nach Ansicht des medizinischen Dienstes gäbe es ja noch genügend andere schulmedizinische Medikamente die ich ausprobieren könnte. Ich habe aber Angst vor diesen starken Nebenwirkungen und möchte auch kein Versuchskaninchen mehr sein“19. Ein grundsätzliches Mißtrauen gegen die Pharmaindustrie findet sich ebenfalls relativ häufig: Es kann m. E. nicht sein, daß sich die Pharma-Lobby nun wieder massiv durchsetzt und letztenendes die Menschen noch mehr durch die Chemie vergiftet werden, wobei ich mir natürlich im Klaren bin, daß pflanzliche Medikamente nicht völlig frei sein können von

16 17 18 19

VNM 46, Veronika B. vom 9.5.1993. VNM 46, Doris B. vom 30.12.1992. VNM 67, Anneliese B. vom 9.11.1994. VNM 65, Gisela B. vom 10.11.1994.

246

Sylvelyn Hähner-Rombach Schadstoffen; jedoch haben sie wohl erwiesenermaßen nicht so viele Nebenwirkungen wie allopathische Mittel. Noch nie hatten wir so viele Nierenkranke!20.

Und nicht selten wurde vermutet, daß Schulmediziner und Pharmaindustrie unter einer Decke stecken: „Nach 14 Tagen leider die gleiche Behandlung Cortison u. Chemotherapie, als wenn die Fachärzte mit der Chemie-Industrie verheiratet sind“21. Erwartungen Die absolute Mehrheit der Schreiber äußerte keine großen Erwartungen an die alternative Medizin. Vor allem diejenigen, die wußten, daß ihre Krankheit unheilbar ist, und diejenigen, die schon alle möglichen Therapien durchgemacht hatten, zeigten sich realistisch oder bescheiden. Viele wollten eigentlich nur wissen, ob es nicht vielleicht doch noch etwas gebe, das die Beschwerden heilen oder zumindest lindern könnte. Eine Aussage wie „Meine Erwartung auf ein Naturheilmittel ist sehr groß“22, findet sich ausgesprochen selten. Aber es gibt auch fast kein Krankheitsbild oder Symptom, für das nicht nach einer alternativen Behandlungsmöglichkeit gesucht wurde. Selbst für einen im Koma liegenden Ehemann wurde nach einem Mittel gefragt. Einige Patienten hatten nicht nur vergeblich die Schulmedizin, sondern auch andere alternative Heilweisen erfolglos ausprobiert und wandten sich nun an die letzte Instanz, die Ihnen noch geblieben zu sein schien. Das machten sie deutlich, aber eine dezidiert höhere Erwartungshaltung resultierte daraus nicht. Implizite Erwartungen finden sich dagegen häufig, wenn z. B. über das Desinteresse, über fehlendes Verständnis oder Einfühlungsvermögen geklagt wurde oder darüber, daß sie von den Schulmedizinern nicht ernst genommen wurden. In diesen Fällen ist klar, daß die Schulmediziner „die anderen“ sind. Bei der Fördergemeinschaft gingen die Briefschreiber davon aus, daß diese sich von „den anderen“ unterscheidet. Man entschuldigte sich zwar oft für den langen Brief, aber man schrieb ausführlich, hatte also schon das Gefühl, daß es angebracht und opportun sei, so vorzugehen. Zusammenfassung Die Angebote der Schulmedizin wurden von den Schreibern zwar durchaus wahrgenommen, persönlich aber zum Teil gar nicht (mehr) in Betracht gezogen, hatten sich als nicht hilfreich oder gar kontraproduktiv erwiesen. Auch das Gesundheitssystem (Krankenkassen, Krankenhäuser, Gesetze und Verordnungen) wurde kritisiert. Die Enttäuschung artikulierte sich in Empörung, Resignation oder nüchterner Feststellung. Eine „Medizinkritik“ wurde implizit 20 VNW 66, Marianne B. vom 14.8.1994. 21 VNM 11, Rudolf B. vom 7.12.1992. 22 VNM 23, Astrid B. vom 30.8.1993.

Briefe an „Natur und Medizin“ zwischen 1992 und 1996

247

oder explizit in vielen Fällen artikuliert, machte sich dabei zum einen an der Schulmedizin, also an den Medikamenten und Behandlungsformen fest, zum anderen an dem Umgang der Schulmediziner mit den Patienten. Aus letzterem läßt sich zwar die Feststellung von gewissen Rechten auf seiten der Patienten, die Forderung nach Individualisierung der Behandlung herauslesen, explizit geäußert wurde sich jedoch sehr selten. Die Briefe an die Fördergemeinschaft sind ein reichhaltiger Quellenfundus, der es erlaubt, neben der impliziten Kritik an der Schulmedizin auch die medikale Alltagskultur von Menschen herauszuarbeiten. Da die Schreibenden sich aus den verschiedensten Altersklassen, regionalen und sozialen Gruppen zusammensetzten, decken die Aussagen eine große Bandbreite innerhalb dieser „medizinkritischen“ Gruppe ab. Bibliographie: Albrecht, Henning/Maria Frühwald (Hrsg.), Jahrbuch. Karl und Veronica Carstens-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Stuttgart bzw. Essen 1995 ff.) Becker-Witt, C./R. Lüdtke/S. N. Willich, „Patienten in der homöopathischen Praxis“, Karl und Veronica Carstens-Stiftung Jahrbuch 9 (2002) 3–15 Beske, D./H. F. Hallauer (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in Deutschland. Struktur, Leistung, Weiterentwicklung (Köln 1993) Bründel, Heidrun/Klaus Hurrelmann, Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann (Stuttgart 1999) Karl und Veronica Carstens-Stiftung (Hrsg.), 10 Jahre Karl und Veronica Carstens-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Essen 1992) Fortes, Lore/Ipojucan Calixto Fraiz, „Homoeopathy from the Patient’s Standpoint: an Empirical Study in the City of Curitiba (Brazil), 1998–99“, in: Dinges, Martin (Hrsg.), Patients in the History of Homoeopathy (Sheffield 2002) 301–316 Gesundheitsakademie/Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, NRW (Hrsg.), Die Gesundheit der Männer ist das Glück der Frauen? (Frankfurt/Main 1998) Günther, Martina: „Der homöopathische Patient in der niedergelassenen Arztpraxis – Ergebnisse einer vergleichenden Patientenbefragung in konventionellen Arztpraxen und homöopathischen Privat- und Kassenpraxen“, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte (18) (2000) 119–136 Hurrelmann, Klaus/Petra Kolip (Hrsg.), Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Männer und Frauen im Vergleich (Bern u. a. 2002) Magistrat der Stadt Wien (Hrsg.), Gesundheitsbericht Wien 2002 (Wien 2002) Natur und Medizin, Fördergemeinschaft der Karl und Veronica Carstens-Stiftung (Hrsg.), Medizin für die Zukunft. Aus den Mitgliederbriefen 1984–1997 (o. O. [1998]) Natur und Medizin, Fördergemeinschaft der Karl und Veronica Carstens-Stiftung (Hrsg.), Gesundheit aus der Natur. Wege zur Selbsthilfe. Aus den Mitgliederbriefen 1998–2002 (o. O. [2003]) www.natur-medizin.de/wuu/index.php Reinders, Marlis, „Häufigkeit von Namensanfängen“, Statistische Rundschau Nordrhein-Westfalen 11 (1996) 651–660 Schlich, Thomas/Reinhart Schüppel, „Gibt es einen Aufschwung für die Homöopathie?“, in: Dinges, Martin (Hrsg.), Homöopathie. Patienten, Heilkundige, Institutionen. Von den Anfängen bis heute (Heidelberg 1996) 210–227 Stolberg, Michael, „Krankheitserfahrung und Arzt-Patient-Beziehung in Samuel Hahnemanns Patientenkorrespondenz“, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 18 (2000) 169–188

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Stolberg, Michael, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit (Köln, Weimar 2003) Stollberg, Gunnar, „Patienten und Homöopathie – ein Überblick über die soziologische Literatur“, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 18 (2000) 103–118

Das Spiel der überkreuzten Reden. Kommentierte Lektüre eines ausgewählten Briefs: „Ich wünsche, Zugang zur Krankenakte meines Vaters zu erhalten“ Gérard Danou

Material und Methode Anläßlich des Kolloquiums „Krankheit in Briefen“ habe ich 18 Dossiers aus den Jahren 2000 bis 2003 zusammengetragen, von denen jedes drei bis vier Dokumente enthält. Nach einer auf einen Gesamteindruck abzielenden Lektüre ging es in einem zweiten Schritt darum, in jedem Text den Sender, den Empfänger, den Moment und den besonderen Ort der Aussage, kurz: die Aussagesituation herauszuarbeiten. Unter Einbeziehung der aktuellen Situation der Krankenhausmedizin, die zum Teil mein Erfahrungsfeld darstellt, vermag diese Art der Lektüre den untersuchten Aussagen, die von Briefschreibern stammen, die ihre Beziehung zur Welt, zu den Anderen und zu anderen Diskursen in ihr Schreiben einbeziehen1, Plastizität bzw. eine gewisse Dichte zu verleihen. In diesem Zusammenhang stelle ich die Lektüre eines Briefes vor, den ich aufgrund der Reichhaltigkeit und der sozialen Aktualität der in ihm angesprochenen Themen zur Interpretation ausgewählt habe: Medizinische und die administrative Redeweisen treffen hier auf den Diskurs der Poesie und das poetische Wort, das mehr evoziert als informiert. Wem schreiben, um was zu fragen? Es handelt sich um ein Briefdossier, dessen Hauptthema eine Beschwerde ist, welche die Tochter eines im Krankenhaus gestorbenen Patienten an die betreffende Institution richtet. Dieses Dossier enthält, in chronologischer Reihenfolge, die folgenden vier Elemente: – – –

1

Einen maschinengeschriebenen Brief der Beschwerdeführerin, der an den Direktor des Krankenhauses adressiert ist. Einen handgeschriebenen Bericht der für den beanstandeten Dienstbereich verantwortlichen Krankenschwester, die gegenüber ihren Vorgesetzten aus ihrer Sicht Stellung bezieht und sich rechtfertigt. Einen Brief des betroffenen Chefarztes, der an die „Kunden-Verwaltung“ (sic!) des Krankenhauses gerichtet ist, welche die verschiedenen Beschwerden und Fragen bearbeitet.

Vgl. Maingueneau 1986.

250 –

Gérard Danou

Eine offizielle Antwort der „Kunden-Verwaltung“ an die Beschwerdeführerin, in der ihr mitgeteilt wird, daß ihr die Krankenakte ihres Vaters antragsgemäß zugesandt worden ist.

Im Prinzip scheint die Angelegenheit einfach und ordnungsgemäß zu Ende gebracht: Die Akte wird verlangt, die Akte wird geschickt. Doch so eindeutig sind die Dinge nicht, wie wir gleich sehen werden, indem wir uns zunächst die Positionen ansehen, welche das Ich der Senderin und das Du des Empfängers im Brief der Beschwerdeführerin einnehmen. Sag mir, wie du heißt Die Senderin, die Tochter des verstorbenen Patienten, wendet sich an den Direktor des Krankenhauses, also an die Autorität. Sie unterwirft jedoch ihr Ich, ihre subjektive Rede, der Institution, der Verwaltungsordnung des Landes, indem sie es aus alltäglicher Gewohnheit, also ohne es zu bemerken, entsubjektiviert. In der Tat legt sie ihre Worte in die Hände der administrativen und politischen Macht, da sie im Briefkopf zuerst ihren Familiennamen und dann ihren Vornamen anführt und nicht umgekehrt. Dieser erste, scheinbar widersprüchliche Punkt ist für die folgende Analyse sehr wichtig. Er ist keinesfalls isoliert; ganz im Gegenteil, die Lektüre der 18 untersuchten Dossiers zeigt, daß die Sachbearbeiter ebenso wie die Mediziner ihren Namen stets in der Reihenfolge Vorname – Nachname angeben und nicht umgekehrt. Im Schriftverkehr mit den Patienten werden sie jedoch in der offiziellen Reihenfolge genannt: Name, gefolgt vom Vornamen. Die sehr interessanten, aber nicht zahlreichen Fälle, in denen die nicht offizielle Reihenfolge wiederhergestellt wird, verdienten eine eigene Untersuchung. Denn sie stellen besondere Situationen dar, die eine relative Resubjektivierung der Patienten z. B. in fruchtbaren mündlichen Unterhaltungen oder wirklichen zwischenmenschlichen Begegnungen erlauben. Das Ich und das Du Während sich die Absenderin zunächst der administrativen Autorität unterwirft, macht sie sodann ihr Ich im Textkörper geltend: „Ich schreibe Ihnen“, „daraus schließe ich“ und vor allem jener in fetten Buchstaben geschriebene Satz: „Ich wünsche, Zugang zur Krankenakte meines Vaters zu erhalten“. Doch das Ich der Aussage richtet sich, wie gesehen, an ein Du. Hier ist das Du, der Empfänger, eine Verwaltungseinheit, die von einem Chef geleitet wird und deren verschiedene Mitglieder ebenfalls individuelle Personen sind, die einen Namen haben, aber selten eine einzelne Stimme oder das Wort eines Subjekts vernehmen lassen, um nicht Gefahr zu laufen, sich in die falsche Richtung zu begeben, das heißt, sich der institutionellen Ordnung der Dinge zu widersetzen. An die-

Das Spiel der überkreuzten Reden

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sem sensiblen und zentralen Punkt gilt es jedoch (für eine Überlegung bezüglich der Praxis) anzusetzen, damit die von den Nutzern der Medizin (also jedem von uns) erwarteten Änderungen eintreten; damit die Regelungen und verschiedenen Gesetze zur informationellen Selbstbestimmung, die durch den sozialen Druck von Patientengruppen erzwungen worden sind, nicht nur auf dem Papier bestehen bleiben, sondern Geist und Buchstabe des Gesetzes in Einklang kommen. Die anderen Ich-Stimmen der Beschwerdeführerin Die Stimme der Senderin empfängt und reflektiert teilweise andere Stimmen (Polyphonie), wobei die Anführungszeichen im Text zeigen, daß sie deren Aussagen nicht für sich beansprucht. Es handelt sich um die Lektüre des Berichts, den der Vater über seinen Krankenhausaufenthalt geschrieben hat. Die Senderin gibt die Rede der väterlichen Stimme im Indikativ Präsenz wieder: „Der Arzt ist vorbeigegangen, ohne mich zu visitieren“, oder: „Ich habe die Schwester nach meinem Pullover gefragt; sie wachte eine Dreiviertelstunde später auf; zum Glück hat ihn mir mein Zimmernachbar gegeben.“ An einer anderen Stelle gibt sie wieder, was die Krankenschwester gesagt hat: „Ich komme, um den Apparat zu holen, ich brauche ihn für einen anderen Patienten.“ Die Polyphonie umfaßt ebenfalls, in der Stimme der Senderin, die Kopräsenz der Stimme der Mutter und ihrer Angehörigen (im Pronomen „wir“, „Kinder und Enkel“, „jeden Sonntag“). Einige Behauptungen, die als allgemeine Betrachtungen geäußert werden, stellen Einschübe in der Aussage dar. Man kann nicht recht entscheiden, an wen sie gerichtet sind, wenn nicht an einen Dritten, ein Ihn, die Institution, die Gesellschaft, die Anderen und letztlich an uns alle: „Doch sprechen wir nicht von der Unmenschlichkeit von einigen [Mitarbeitern], das ist eine Frage des Herzens und der Berufsauffassung.“ Dieser formelhafte Satz ruft Gemeinplätze bzw. Erwähnungen auf, die sinnentleert scheinen. Doch die offensichtliche Banalität zeugt im Kontext der derzeitigen medizinischen Doxa vom Erwartungshorizont des durchschnittlichen Nutzers der Medizin, welcher recht hat: In der Tat verlangt die gewissenhafte Arbeitshaltung von einem Pfleger, daß er auch Rücksicht auf besondere Umstände nimmt. Schließlich zeugen diese in die Luft gesprochenen Einschübe auch vom Ungleichheit der Konfliktbeteiligten – bzw. in den Begriffen Foucaults2, von Machtverhältnissen – wobei die schriftliche Beschwerde einen Akt des Widerstands darstellt, einen Versuch der Herausforderung gegenüber einer institutionellen Ordnung, die noch zu kalt und zu unpersönlich ist.

2

Vgl. Foucault 1994, 232–243.

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Das Tempus der Verben und das Sterben des Vaters Eine Aussagestimme im Indikativ Präsens und in der Vergangenheitsform [passé composé] stellt die Argumentationslinie her, welche die Frage nach dem Zugang zu der Krankenakte rechtfertigt. Sie zählt in informativer Weise Tatsachen auf, die sich in einer kürzlich definitiv vollendeten Vergangenheit abgespielt haben. Eine zweite Stimme des Aussage-Ich übernimmt, manchmal im Perfekt, aber meistens im Imperfekt, die Erzählung vom Leiden des Vaters, wählt die Begebenheiten aus und erzählt die Geschichte. In der französischen Sprache entsteht bei den Zeiten der Vergangenheit und insbesondere beim Imperfekt ein „Schmerz“. In der gesprochenen Sprache bezeichnet das Imperfekt die Unvollendetheit und die Unbestimmtheit der exakten Dauer; doch in der geschriebenen Sprache enthält es weitere Bedeutungen: es ist ein „Modus des Seins“. Und dieser Seinsmodus ist melancholisch; er ist, wie Danièle Sallenave sagt, „die melancholische Farbe, welche die ewige Gegenwart prägt, der die Dinge anvertraut sind“3. In unserem Fall handelt es sich bei der Aussage um einen Todesfall und um den Bericht dieses Todesfalls, der nach der zu teilenden Schuld der Lebenden fragt. Dieser Kontext (der Schmerz des Verlusts und der Trauer) ist grundlegend, sowohl vom persönlichen als auch vom anthropologischen Standpunkt aus gesehen. Das Imperfekt ist das Tempus der Toten, das Tempus der Fiktion, welche die Dinge für die Ewigkeit verwandelt und sie für die „ewige Gegenwart“ der Lektüre festhält. An dieser Stelle unserer Analyse wird deutlicher, daß hier eine Ambivalenz vorherrscht zwischen der ausdrücklichen Frage nach einer Krankenakte (mit der Möglichkeit, darauf zu antworten) und dem Wunsch, etwas ganz anderes in Erfahrung zu bringen, etwas, das in keiner Krankenakte verzeichnet wird (und dem nachzukommen unmöglich ist). Eine Frage, die nach ihrem Ort sucht Die Frage wird von der Senderin in dem mit der Nummer 3 bezifferten Absatz ausdrücklich gestellt. Doch die Plazierung dieser Frage innerhalb des Gesamttextes ist ungewöhnlich, denn der Brief beginnt mit dem Bekenntnis eines Unverständnisses. Der zweite Teil, der mit dem Absatz Nummer 3 beginnt, erzählt sodann die Ereignisse des letzten Tages ihres Vaters (des 18. September, wie sie sagt). Was aus der Sicht der Erzählerin unannehmbar scheint, ist der Gedanke, daß die Ärzteschaft die Familie nicht über den unmittelbar bevorstehenden Tod ihres Vaters benachrichtigt hat. Die plötzliche Verschlimmerung des Zustands ist als solche unmöglich zu verstehen. Die Verleugnung der Realität des drohenden Todes löst bei der Senderin Gefühlsreaktionen aus, mit Überinterpretationen und Elementen, die sie auf die Pfleger projiziert. Dieser häufig vor3

Sallenave 1991, 176–179.

Das Spiel der überkreuzten Reden

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kommende Mechanismus der psychischen Abwehr ist nicht ganz ohne Grundlage; er beruht auf Tatsachen, die auch neutrale Dritte ähnlich bewerten würden und die zutreffend als Rücksichtslosigkeiten in einer schmerzhaften und existentiellen Situation beurteilt werden (z. B. die Episoden der defekten Rollade und des weggenommenen Blutdruckmessers). Der Bericht der Krankenschwester Der handschriftliche Bericht der Krankenschwester, die ihre Sicht der Geschehnisse darlegt, soll hier nicht in ganzer Länge wiedergegeben werden; es ist jedoch zu betonen, daß sie das Verhalten ihrer Kollegen rationalisiert: Die Geschichten mit der Rollade und dem Blutdruckmesser hätten absolut banale Gründe, während sie von der Familie als Gewalttaten und Einbrüche in die Intimsphäre empfunden werden. Doch inakzeptabel bezüglich der Gewalt ist, wie Michel Foucault gezeigt hat4, gerade ihre durch „vernünftige Diskurse“ begründete Rationalität, Kohärenz und Rechtfertigung. Besser durchdachte Worte und Handlungen hätten es ermöglicht, die Situation für die Familie weniger schwer erträglich zu machen. Was in der Welt des Krankenhauses zu häufig fehlt, ist die „Kunst zu improvisieren“, wie René de Ceccatty schreibt5. Im Fall der defekten Rollade hätte die Fähigkeit zur Improvisation, also zu etwas Widerstand gegen die übliche Gewohnheit, die Krankenschwester veranlasst, mit dem Wort Ich gegen die institutionellen Logiken persönlich zu handeln. Diese Fähigkeit war nicht vorhanden. Sie schreibt in ihrem Bericht die folgenden Zeilen: „Es ist wirklich schade, daß der technische Dienst ausgerechnet an dem Morgen gekommen ist, an dem es Herrn X... so schlecht ging, aber was hätte man tun können? Hätte man die Rollade in dem Zustand belassen sollen?“ Zusammenfassung Welche für Ärzte und Pfleger nützliche Lehre kann man aus dieser Lektüre des ausgewählten Briefes ziehen, bei der die kurze Analyse der Aussagesituation im Vordergrund stand? Zunächst ist festzustellen, daß es sehr schwierig ist, das Wort eines Subjekts bzw. ein Aussage-Ich zu verorten und hörbar zu machen, wenn der durchschnittliche Nutzer sich an die Ärzteschaft eines Krankenhauses wie an irgendeine andere Institution richtet. Der Schreiber positioniert sich selbst kraft Gewohnheit in widersprüchlicher Weise, nämlich gleichzeitig als Subjekt in der brieflichen Erzählung und als Objekt, das durch die offizielle Art, seinen Namen zu nennen, unmittelbar der Autorität unterworfen wird. Diese doppelte Bewegung, von der Referenz an das Allgemeine zum Besonderen und wieder zurück, die hier in den gleichen Text eingeschrieben ist, zeigt sehr gut die konstitutive Spannung der zeitgenössischen Medizin, die zwischen 4 5

Vgl. Foucault 1994, 38. Vgl. Ceccatty 1994, 56.

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der Nachfrage eines Individuums und dem Interesse der Gruppe gefangen ist. Trotzdem zeigen diese Briefe auch, daß sich die Beschwerdeführerin nicht ganz in der Adresse geirrt hat. Sie fragt nach einer Akte bei einer Institution, die der Frage schnell stattgibt. Die Beispielhaftigkeit des untersuchten Briefs besteht darin, daß die Briefautorin verschiedene Arten der Rede miteinander vermischt. Sie richtet an die Institution eine Frage, die diese verstehen kann, aber zugleich stellt sie auch Fragen einer ganz anderen Ebene, die deshalb weder verstanden noch beantwortet werden können. Diese anderen Fragen, die implizit in der ersten (dem Zugang zur Akte) enthalten sind, beziehen sich auf den Bereich des Lebens und der Existenz. Sie führen die Notwendigkeit einer Erzählung vom Schmerz und vom Tod des Vaters mit dem Wunsch zusammen, diese Erzählung anderen zu lesen zu geben, um sie mit jemandem zu teilen. Eine Krankenhausakte jedoch, sei sie vom Arzt und vom Pfleger geschrieben, kann über diesen gelebten Bereich der Sprache nichts aussagen. Das steht im Gegensatz zu einer Erzählung oder einer bestimmten poetischen Sprache, die Bilder und Gefühle hervorruft statt wie ein Bericht bloß zu informieren. Der untersuchte Brief stellt hier seine eigene Funktion dar, die nicht in der Unterordnung einer Rede unter die andere besteht, sondern in der Gegenüberstellung von zwei sozialen Verwendungen der Sprache, die nichts miteinander zu tun haben. Der Brief berührt und er ist auf seine Art wahrhaft pathetisch, denn es besteht hier die (durch die Emotion des Schreibers ausgelöste) Illusion, daß die zwei Ebenen des Diskurses durch eine einzige Stimme der Institution empfangen werden könnten. Unterdessen ist der Schreibgestus einer Erzählung immer ein Akt des sozialen oder politischen Widerstands, dessen Bedeutung darin liegt, „die Wirklichkeit mit dem Ziel wiederzugeben, sie zu verändern“6. Also schreiben und trotzdem schreiben, in der Hoffnung auf eine Antwort...

6

Certeau 1990, 200.

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Anhang Abschrift des kommentierten Briefs Madame X, M Adresse... An den Direktor des Krankenhauses... M., den... 2002

Sehr geehrter Herr Direktor, Ich schreibe Ihnen, um Ihnen mein Unverständnis über den Tod meines Vaters, Herrn A., auszudrücken, der in Ihrem Krankenhaus am … September letzten Jahres eingetreten ist. 1) Mein Vater ist in verschiedenen Abteilungen untergebracht worden, zunächst etwa sechs Wochen lang (Mitte Juni bis Ende Juli) in Raum C…, dann 15 Tage in Raum H… und zuletzt vom 3. bis zum 18. September in der Abteilung M… An den ersten beiden Stationen hatte mein Vater nichts zu beanstanden; sehr wohl dagegen an der Abteilung M..., wo das Desinteresse von einigen Personen des Pflegepersonals ihm gegenüber offenkundig war. Mein Vater führte ein kleines Tagebuch, in dem er seine Empfindungen aufzeichnete. Darin heißt es zum Beispiel: „Der Arzt ist vorbeigegangen, ohne mich zu visitieren“, „ich habe die Schwester nach meinem Pullover gefragt; sie wachte eine Dreiviertelstunde später auf; zum Glück hat ihn mir mein Zimmernachbar gegeben“. Dazu muß ich sagen, daß mein Vater 85 Jahre alt war und nicht mehr allein aufstehen konnte, da er unter schrecklichen Rückenschmerzen litt. Auch war er kein Patient, der alle fünf Minuten die Klingel betätigt, nur um das Personal zu belästigen. Doch sprechen wir nicht von der Unmenschlichkeit von einigen, das ist eine Frage des Herzens und der Berufsauffassung. 2) Er befand sich in einem Dreibettzimmer und ist etwa eine Woche vor seinem Tod in ein Einzelzimmer verlegt worden. Daraus schließe ich, daß man diese die „Vorzimmer des Todes“ nennen sollte, denn zuvor hat er nie ein Einzelzimmer bekommen können. Ich denke auch, daß die Ärzte ebenfalls mit dem tragischen Ausgang gerechnet haben, und ich beklage, daß sie uns weder benachrichtigt noch vorbereitet haben. Dabei war meine Mutter jeden Nachmittag anwesend, und wir, Kinder und Enkel, kamen jeden Sonntag. 3) Die Tatsache, die genauen Umstände der Verschlimmerung des Zustands meines Vaters nicht zu kennen, ruft viele Fragen ohne Antwort hervor: Um

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Gérard Danou

wieviel Uhr ist sie eingetreten, hat er sehr gelitten, hat er nach uns gefragt? Aus diesem Grund wünsche ich, Zugang zur Krankenakte meines Vaters zu erhalten, und bitte um Auskunft darüber, wie dieser zu beantragen ist. 4) Am Mittwoch, den 18. September, wurden wir benachrichtigt, ans Bett meines Vaters zu kommen. Obwohl man uns gesagt hatte, daß es bestimmt der letzte Tag wäre, an dem wir ihn sehen könnten, war es sehr schockierend bei der Ankunft in seinem Zimmer festzustellen, daß all seine Sachen bereits weggeräumt waren, während wir immer noch etwas Hoffnung für ihn hatten. Im übrigen war das Wetter sehr schön an diesem Tag, die Sonne erfüllte das Zimmer, und ihre Strahlen fielen auf das Gesicht meines Vaters, der schwitzte. Schon seit vier Tagen hatten mein Vater und meine Mutter immer wieder darauf hingewiesen, daß die Rollade defekt war, denn man konnte sie weder aufnoch zuziehen. So haben wir das Bett meines Vaters nach hinten geschoben, damit er sein Gesicht im Schatten hätte. Dies bemerkte eine Krankenschwester, und zehn Minuten später sahen wir, wie ein Handwerker kam und die Rollade reparierte. Ich finde den Moment, da wir uns am Bett meines Vaters zu sammeln suchten, nicht sehr gut gewählt. Und schließlich, das psychologisch schlimmste, hatte mein Vater am Zeigefinger eine Sonde, die mit einem Apparat verbunden war, der unter anderem seinen Blutdruck anzeigte. Gegen 11 Uhr kam plötzlich eine Krankenschwester in das Zimmer und sagte schonungslos: „Ich komme, um den Apparat zu holen, ich brauche ihn für einen anderen Patienten.“ Ich weiß nicht, ob diese Krankenschwester, wenn sie in der gleichen Lage gewesen wäre, also am Bett ihres sterbenden Vaters, diesen Mangel an Rücksicht und Takt bei einer ihrer Mitschwestern geschätzt hätte. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Wirkung ihrer Worte auf die Familie und den empfundenen Schlag recht eingeschätzt hat. Man kann es folgendermaßen interpretieren: „Für ihn ist es allemal zu Ende, also braucht er den Apparat nicht mehr.“ So haben wir es jedenfalls verstanden, was unseren Schmerz und unsere Verzweiflung noch vertiefte. Nun, mein Vater war 85 Jahre alt, aber die Leere, die er in unseren Herzen hinterlassen hat, wird niemals wieder aufgefüllt. Er war sein Leben lang ein guter Mensch, ein außergewöhnlicher Vater, und wir hätten uns gewünscht, daß der Schmerz, den wir insbesondere an jenem Morgen empfunden haben, nicht vom unmenschlichen Verhalten und von der absoluten Gleichgültigkeit des medizinischen Personals noch verstärkt worden wäre. In Erwartung eines Schreiben von Ihnen, Herr Direktor, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen, Unterschrift Vorname – Name

Das Spiel der überkreuzten Reden

Bibliographie: Foucault, Michel, Dits et écrits IV, 1954-1984 (Paris 1994) Certeau de, Michel, L’invention du quotidien, Les arts de faire (Paris 1990) Sallenave, Danièle, Le don des morts, essai sur la littérature (Paris 1991) Maingueneau, Dominique, Eléments de linguistique pour le texte littéraire (Paris 1986) Ceccatty de, René, L’accompagnement (Paris 1994)

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Representations of Illness in Letters addressed to Samuel Hahnemann: Gender and Historical Perspectives Bettina Brockmeyer Reading letters depicting perceptions of the body, such as those addressed to the founder of homeopathy, Samuel Hahnemann in the 1830’s, is one means to identify how gender influenced the self. Homeopathy produced specific writing situations for the patients. Taking into account the modern concept of privacy, this article demonstrates how patient’s letters can express gender hierarchies, namely through different strategies used by patients in order to hide their own distress caused by illness. The expression and representation of experience and discourse are also analysed. In comparing women’s and men’s writings about their bodies, it is argued that women tend to disclose their knowledge whereas men typically offer names borrowed from different medical discourses in order to describe their illnesses. In short, women refer more often to experience and men to knowledge. One can therefore conclude that the way of representing body perceptions reflects a male or a female self, and suggests distinct constructions of the «nature» of male and female sexes of that time. Clinical Pictures. The Body of the Early Modern Artist Matthias Bruhn Historians usually consult letters by artists in order to verify and to interpret works of art. These letters contain basic information about technical, social and psychological aspects. As personal documents, they have always enjoyed a particular esteem among biographers and collectors. On the other hand, historians have often suggested that artists are the melancholic outcasts of society. But even a brief glance at the available correspondence proves that the majority of letters do not support this diagnosis. When artists mention their own physical constitution, they apologise for delays or request further financial support. Moreover, the letter is subject to literary codes according to which medical issues are adopted as a metaphor for more general problems. The French classical painter Nicolas Poussin, on whom the present analysis is based, displayed a particular interest in questions of style and literacy. His writings should then be regarded as complex «compositions» that stand comparison with his artistic oeuvre rather than mere informal messages to his readers. Indeed, correspondences between artists and their patrons, colleagues and friends form a «genre» in their own right that can be drawn upon as a reliable source for research in medical history.

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A Commented Reading of a Selected Letter : « I want to have access to the medical file of my father », or a Play of Crossed Discourses Gérard Danou In recent years, new patients’ rights have been evolved, allowing them access to records of the state of their health. Many letters addressed by the public to physicians and to administrators are kept in hospitals’ medical files. This chapter presents examples of such letters which are discussed from a linguistic point of view. It remains difficult to ascertain exactly what the patients expected of their letters and what exactly the medical and administrative staff answered. A typical letter contains two distinct themes: logistic or technical questions, and existential or affective issues. For the most part, doctors and administrators tend to answer the first type of questions only, as they feel unqualified to address or express an opinion concerning affective issues. This suggests that regular training in creative writing and reading could be interesting and useful for doctors and administrators, at least in helping them to be more sensitive to the subtleties and complexities of the patients and the patient’s family’s letters. Courses of Cure: The Case of French Patients of Samuel and Melanie Hahnemann (1834–1868) Olivier Faure Based on the letters sent by French patients to Hahnemann and his wife (or written about them), this essay focuses on the behaviour of patients towards treatment rather than on their representations and interpretations of illness and health. Despite the fact that we don’t know exactly who the authors of these letters were, it is clear that they all hope to obtain some of Hahnemann’s medicines. The well-known demand for medicine at the beginning of the 19th Century was reinforced by the mystery surrounding homeopathic remedies and the specific way they were made available. Relying on theories which lent an important role to the nerves and the patient’s character to explain the origins of sickness, patients hoped that Hahnemann and his new doctrine would be able to change both their life and their psychical characteristics. One can conclude that for the authors of such letters, writing about illness could be a means to construct new behaviour patterns and new attitudes towards health and sickness, rather than an illustration of existing medical, social and literary models.

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Health Behaviour of Men. Health and Illness in private letters, 1800–1900 Susanne Frank Current research shows that men generally have a lower awareness of health and health prevention than women. However, differences in illness behaviour can be observed in terms of how to deal with diseases, in the awareness of complaints and in the use of physicians. In this chapter, private correspondences of men from different social classes (aristocrats, scientists, artisans and journeymen) are presented for the period between 1800 and 1950. The questions addressed are the following: What expectations do men have from medicine and how do they experience treatment given by doctors? What actions do they perceive as dangerous for their health and how do they handle them? The health strategies of men are closely linked to the respective concepts of masculinity in different historical epochs. The point in this investigation is to reveal that the experiences of illness and of health are composed of individual as well as of social components: both reflect the history, situation and way of living of one specific person. The Language of Disease in the Correspondence of Antonio Vallisneri Benedino Gemelli It was common practice between the 16th and the 18th c. to submit a clinical case to a physician whose renown and prestige were generally acknowledged even outside academic circles. Patients could normally gain access to Antonio Vallisneri, who was then a famous physician, through their own physician. Vallisneri was regularly engaged in writing consultations and sending them by post, an activity which gave way to a peculiar kind of writing both in style and language level. The patient and his illness are the object of minute descriptions in order to secure an effective therapy. One of the best therapies, nevertheless, seems to be the written communication itself, written by the physician for the patient, which possibly reassured the patient that the best possible therapeutic measures were being taken in order help to retrieve his or her health.

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Illness as Effect of Cultural Construction in the Enlightenment. The Example of Hypochondria Carmen Goetz The relationship between hypochondria – a fashionable disease in the late 18th c. – on the one hand and some of the most important social and cultural developments during the same period on the other, are approached through the correspondence of Friedrich Heinrich Jacobi, merchant, court councilor and author, during a lifetime of residence in Düsseldorf, between 1762 and 1794. Different points are broached in this chapter: The nervous disease called hypochondria fulfilled different functions in the formation of bourgeois ideology, especially regarding the principle of achievement. An effect of autonomy was the main phantasm of the enlightened subject: the body was experienced as an enemy of the most fundamental and almost “holy“ grounds of bourgeois social life. Therefore each bodily experience was in itself pathological. The progression of literacy must be seen as one of the most profound changes of the society in the late eighteenth century. Some evidence suggests that this process has an impact on the somatic malfunctions associated with hypochondria. “I have learned to suffer, madam; this art exempts from learning to be healed, and doesn’t have the inconveniences of it.“ Rousseau and the Epistolary Discourse of Illness Anne-France Grenon Throughout his voluminous correspondence, Rousseau continuously exploits his bodily ailments. Staging illness serves as a specific strategy which can be understood through the concept of desire: a desire for the other, whose absence is ostensibly inscribed in the body of the writer, but also for the discourse of correspondents from whom Rousseau constantly shies away. In his case, the epistolary discourse of illness expresses as much an experience of suffering as a way of relating to the world, as if epistolary writing was the privileged place for a discourse on the suffering body before even becoming a social practice. A few exchanges of letters are analysed, such as the letters between Rousseau and the Duke and the Duchess of Luxembourg, who “gave him back his life” in Montmorenci, and that with Madame de la Tour and Madame de Verdelin, which is particularly revealing of Rousseau’s strategies for dealing with the body in health, sickness and death.

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“I would have liked to speak with the physicians about it but they waved me aside…“ Letters to “Nature and Medicine“ 1992–1996 Sylvelyn Hähner-Rombach The correspondence of the society “Nature and Medicine” (Fördergemeinschaft “Natur und Medizin”) between the years 1992 and 1996 is kept in the Institute for the History of Medicine of the Robert Bosch Foundation in Stuttgart. It offers the possibility to analyse the common medical culture of patients who have an interest in alternative medicine. After a short characterisation of the society itself, the letters are analysed in respect to the figures of correspondents, that of the addressees, and the reasons voiced by both for writing in the first place. The various experiences of the writers with the medical market are then discussed and the patient’s expectations as enounced to the addressee are developed. In short, these documents represent an invaluable source for a social history from the point of view of patients. In particular, they show – beyond the implicit criticism of academic medicine – what meanings and values lay medical culture endorses in everyday life. Fatal Diseases and “Imaginary” Suffering. “Hypochondria” and “Consumption” in the Correspondence between Jean Paul and Johann Bernhard Hermann, with a Perspective on Jean Paul’s Literature and Aesthetics Monika Meier The German writer Jean Paul ( Johann Paul Friedrich Richter, 1763–1825) and his friend Johann Bernhard Hermann (1761–1790) became acquainted with the thoughts of late Enlightenment at the University of Leipzig. They particularly appreciated the anthropology of Ernst Platner, who taught philosophy and aesthetics as well as medicine. Their confidential correspondence contains reflections on their respective situation and well being. Both write about feeling ill and label their illness “hypochondria”. In the course of the correspondence Jean Paul’s understanding of hypochondria evolves from an illness of the entrails as he follows Hermann, who supports the modern concept of hypochondria as an illness of the nerves. Two important themes from this correspondence recur in Jean Paul’s novels and tales: firstly, his way of expressing comfort is related to his aesthetics, and secondly, the satirical way of portraying at least certain aspects of illness as imaginary reappears in his first successful novel “The Invisible Lodge” (1793).

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Interpretative Margins and Narrative Authority in the Autobiographical Account of Illness Séverine Pilloud Patients’ letters are among historical sources that have been recently put forward in the history of medicine in order to shed light on the perspective of the sick and explore the dynamics of therapeutic relationships. They enable historians to focus on the active participation, initiatives and strategies of lay people in the handling of their health and illness. Based on the analysis of letters written by patients to the Swiss physician Samuel-Auguste Tissot in the second part of the 18th Century, this paper deals with the relative autonomy that sick people are able to claim in the process of interpreting and explaining of their medical trajectories. It is argued that they possess a “narrative authority”, which can be defined as the possibility to defend one’s own point of view in the organisation of one’s narrative, thanks to the interpretative latitude due to polyphony and plurality of meanings inherent in the intersubjective construction of the illness experience. Medical Discourse and Poetical Practice: The Different Figures of Authority Within the Correspondance between Mme d’Epinay and the abbé Galiani. Renaud Redien-Collot Letters containing medical data are not simple texts. They stem from a writing process which sees the authors constantly review the way they perceive both their bodies and the way they write. In order to limit the relativism inherent to such processes and reduce the ensuing variability of perspectives, most letter writers eventually assume a form of authority. In the second part of the 18th Century, the correspondence between the abbey Galliano and Mme D’Epinay reveals that while they exchanged details about their health, they also experimented with different positions of authority and adapted their writing process as the relationship evolved. This a salutary lesson for modern researchers who are often tempted to reduce the problematic meaning of the letter writing process, defining the letter as an isolated document. Medical correspondence is exemplary in this respect because it requires a certain level of knowledge and the expression of a certain intimacy, entailing the adoption of one or of several forms of authority.

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Diderot Medical Chronicler in the Lettres à Sophie Volland Odile Richard-Pauchet The private diary Diderot wrote every week for the benefit of his mistress, Sophie Volland, gives an insight into “illness in letters” in the XVIIIth century. Diderot inserts the long story of his wife’s illness (September–October 1762) into his monologue. Indeed, in general, health related topics are commonplace in letters. The health of the author is better expressed in autobiographical writing since this type of text aims to ascertain the author’s sincerity: modern scholars have emphasized the “exhibitionism” inherent to Rousseau’s Confessions. Diderot was the author of the French translation of Robert James’ Dictionary of Medicine, and his continuing interest in the human body is revealed by his depiction of everyday life. The intensely active mind of the philosopher is incapable of locking itself into a love cocoon and Diderot must constantly reassert his presence in the world whatever happens. His correspondence can therefore be considered as an anthropological document containing evidence of the state of medicine in the days when the Encyclopaedia was written. Historiographical Correspondences: Towards an Anthropological and Medical Reading of Epistolarity in the Enlightenment Philip Rieder Analysing the contents of letters exchanged by patients in the 18th century, this chapter aims to demonstrate the capacity of such sources to offer both contextual information on medical practices and first hand information on patient strategies to retrieve and maintain their health. The letter is sometimes closer to the events than other texts and hence, more precise. Series of letters sent by the same author to different addressees can be used to reveal something of the meaning construed around patients’ choices. Letters sent over long distances reveal variations in medical practices in different spatial contexts. In short, the letter, as a historical document, is an important key to lay medical culture. “Haemorrhoidal Colic”, “Strong Pills of Stahl”, and “Quacks”. Johann Gottwerth Müller, Writer of the Enlightenment, Critic of Medicine and his Evils in Letters and Books Alexander Ritter Johann Gottwerth Müller, a so called “independent author”, was one of the most successful novelists in the German Enlightenment around 1800. Educated as a scholar and trained as a physician, although not a practicing physician,

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Müller was sick throughout his life and constantly reflects on his diseases, and on what he considered to be an insufficient “medical system” and a socially “sick” society. This outlook is revealed by his library (in 1828: about 13300 volumes, of which 254 volumes of medical publications), his correspondence and his novels. Letters he exchanged with the publisher Friedrich Nicolai (74 letters between 1777 and 1796) about private and business affairs show that Müller uses statements about his sickness in order to win sympathy, to document his sufferings as part of an “independent” writer’s identity, as a metaphor for social health, and as a means for excuses and compulsions in business connections. The didactic novels serve the author’s transformation of individual suffering into the perspective of an enlightened humanitarian development of the government, the society, and the medical system within the structured society of his day. Surgery in Letters. The Example of Lorenz Heister ‘s Epistolary Consultation Marion Ruisinger The consultation letters of Lorenz Heister enable a specific patient-focused analysis. Heister was not only a famous physician of the early German Enlightenment, but a renowned surgeon as well. His double expertise gives his correspondence a unique character. The consultation letters addressed to him testify not only the well known phenomenon of “medicine-by-post”, but also the less well known practice of “surgery-by-post”. They allow us some insight into the different sensations and strategies of people who suffered from a malady which could call for surgical treatment. Patients’ letters enable historians to compare the expression of fears, hopes and actions with those of their fellowpatients who sought in Heister not the surgeon, but the physician. Such a comparative approach suggests a series of issues, of which two are discussed here: representations of the patient’s history of suffering (Patientenweg), and representations of the patient’s body (Patientenkörper). Sickness in Context. Family’s, Scholars’ and Patients’ Letters in the 18th Century Hubert Steinke Letters represent the most important type of source where patients of the early modern period record their feelings, thoughts and behaviour. It is therefore crucial to put them into context and identify the author’s reasons for writing. Consultation letters written to physicians can be distinguished from family letters or letters exchanged between members of the Republic of Letters. The

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way patients write about their illness is largely determined by the main reason for the letter. Family members want, for instance, to inform their relatives about the general situation of the household. News about the state of health of family and kin is an essential part of such accounts. Though usually sparse in detail, information about health is offered regularly in order to free addressees from uncertainty. Among learned men, accounts of sickness are mostly brief and described as “inconveniences”, as distractions from the pursuit of learning. Neither in family letters nor in learned correspondence should superficial descriptions of illness be considered as a sign of superficial relationships. Patients’ Letters and Pre-Modern Medical Lay-Culture Michael Stolberg Consulting by letter was fairly common practice among the educated, upper classes of early modern Europe. Surviving letters of consultation written by patients, relatives or friends count among the most valuable source for the analysis of pre-modern experiences of disease and the body. This essay gives a brief overview of the various types of consultation letters and related documents which resulted from this practice before tracing the historical development of epistolary consultations from the late Middle Ages through the heyday medical correspondence in the 18th c. before its decline in the 19th c. It presents “experience”, “self-fashioning” and “discourse” as three particularly fruitful levels of analysis on which patients’ letters can be used within the wider framework of a cultural history of medicine. These three levels of analysis, or three distinct approaches, enable historians to access a greater awareness of the ways in which the experience of illness and the body is culturally framed with an analysis of the performative effects of patients’ narratives and the influence of medical discourse among the wider society.

Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG) – Beihefte – Herausgegeben von Robert Jütte

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fRanz steineR VeRlaG stuttGaRt

ISSN 0939-351x