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German Pages 360 Year 2007
Volkswirtschaftliche Schriften Heft 552
Konzeption und Erfassung von Armut Vergleich des Lebenslage-Ansatzes mit Sens „Capability“-Ansatz
Von
Ortrud Leßmann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ORTRUD LESSMANN
Konzeption und Erfassung von Armut
Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann
Heft 552
Konzeption und Erfassung von Armut Vergleich des Lebenslage-Ansatzes mit Sens „Capability“-Ansatz
Von
Ortrud Leßmann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät II für Informatik, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 978-3-428-12226-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Kindern Tobias und Pauline, die mir Armut und Reichtum zugleich bescheren Meinem Mann Ulf Teubel, der mir den Luxus wissenschaftlicher Arbeit gönnt Meinen Eltern Oki und Friedrich Leßmann, die mir manche Möglichkeiten eröffnet haben
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist über einen langen Zeitraum entstanden. Die Absicht, eine Doktorarbeit zu verfassen, lag bereits der Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Herrn Professor Dr. Hans Wiesmeth an der TU Dresden zu Grunde. Das Thema habe ich allerdings erst nach der Geburt meines Sohnes gefunden. Es hat mich lange begleitet. Etwa seit Beginn des Jahres 2001 habe ich mich intensiv der Dissertation widmen können. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Udo Ebert von der Universität Oldenburg, der mich als externe Doktorandin angenommen hat und immer ein offenes Ohr für mich hatte. In den langen Diskussionen mit ihm haben meine Gedankengänge an Präzision gewonnen. Meinem Zweitgutachter Herrn Professor Dr. Wolfgang Voges vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen gilt ebenfalls mein herzlicher Dank für die Unterstützung in den letzten dreieinhalb Jahren. Er hat mein Verständnis sowohl der soziologischen Aspekte wie auch der praktischen Anwendung vertieft. Ermutigung sowie kompetente Kritik bezüglich des philosophischen Hintergrunds habe ich von Herrn Professor Dr. Volker Peckhaus (Universität Paderborn) und Herrn Dr. Thomas Uebel (Universität Manchester) erfahren. Des Weiteren möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Hans-Peter Weikard (Universität Wageningen) bedanken für die Begleitung des Promotionsvorhabens von den ersten Ideen bis hin zum Korrekturlesen. Für das Gegenlesen eines Teils der Dissertation sowie für manchen Ratschlag möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Jürgen Volkert (FH Pforzheim) bedanken. Auf das Werk von Amartya Sen hat mich zuerst William Kingsmill (DFID) aufmerksam gemacht, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Schließlich möchte ich die Doktorandenseminare an den Universitäten Dresden, Oldenburg und Bremen erwähnen, die dafür gesorgt haben, dass ich nicht vom Kurs abgekommen bin. Insbesondere sei Herrn Professor Dr. Johannes Bröcker (jetzt Universität Kiel) für seine freundliche Erlaubnis gedankt, an seinem Doktorandenseminar in Dresden teilzunehmen, das mein Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten geprägt hat. Für ihre finanzielle Unterstützung im Jahr 2002 bedanke ich mich bei der Heinz Neumüller Stiftung, Oldenburg.
Vorwort
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Ohne die beruhigende Gewissheit, dass meine Kinder im Kindertagesheim Spitzbergenweg in Hamburg gut aufgehoben waren und sind, hätte ich die Arbeit nicht schreiben können, darum an dieser Stelle ein herzlicher Dank an alle Erzieherinnen und die Leitung des Kindertagesheims! Für Geduld, Aufmunterung, Finanzierung und praktische Unterstützung bedanke ich mich herzlich bei meinem Mann Dr. Ulf Teubel. Hamburg im Mai 2006
Ortrud Leßmann
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ................................................................................................................... 13 2. Armutsmessung: eine Einführung .............................................................................. 21 2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut.................................................. 23 2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze ...................................................... 26 2.3 Armutsmaße ......................................................................................................... 31 2.3.1 Die klassischen Armutsmaße und ihre Kritik .............................................. 31 2.3.2 Axiomatik der modernen Armutsmaße........................................................ 32 2.3.3 Drei exemplarische Armutsmaße................................................................. 37 2.4 Armutsordnungen................................................................................................. 41 2.4.1 Armutsordnungen: Variation der Armutsgrenze.......................................... 42 2.4.2 Armutsordnungen: zusätzlich Variation der Armutsmaße........................... 47 2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung................................................ 49 2.5.1 Äquivalenzskalen ........................................................................................ 50 2.5.2 Sequentielle Armutsdominanz..................................................................... 51 2.5.3 Schematische Einteilung und Definition multidimensionaler Armutsmaße 52 2.5.4 Zur Identifikation der Armen im multidimensionalen Fall.......................... 55 2.5.5 Multidimensionale Axiomatik und Armutsordnungen ................................ 57 3. Der Lebenslage-Ansatz .............................................................................................. 60 3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath.................................................................. 62 3.1.1 Motivation und Kontext............................................................................... 62 3.1.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes ............................................... 65 3.1.3 Diskussion ................................................................................................... 76 3.1.4 Aussagen zu Armut ..................................................................................... 78 3.1.5 Operationalisierung ..................................................................................... 81 3.2 Exkurs: Die Beiträge Nelsons und Grellings........................................................ 85 3.2.1 Die Theorie des wahren Interesses von Nelson ........................................... 86 3.2.2 Der Lebenslage-Ansatz nach Grelling......................................................... 90 3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser .................................................................. 93 3.3.1 Motivation und Kontext............................................................................... 93 3.3.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes ............................................... 94
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Inhaltsverzeichnis 3.3.3 Diskussion ................................................................................................... 99 3.3.4 Aussagen zu Armut ................................................................................... 109 3.3.5 Operationalisierung ................................................................................... 111 3.4 Zusammenfassung: Zwei Lebenslage-Ansätze .................................................. 123
4. Der Ansatz von Sen .................................................................................................. 126 4.1 Motivation und Kontext ..................................................................................... 126 4.1.1 Das Wissenschaftsbild Sens ...................................................................... 127 4.1.2 Kritik an vorhandenen Theorien als Ausgangspunkt ................................. 128 4.1.3 Zusammenfassung ..................................................................................... 136 4.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes...................................................... 137 4.2.1 Verwirklichungsmöglichkeiten und Funktionen........................................ 137 4.2.2 Formale Darstellung .................................................................................. 138 4.2.3 Basis für interpersonelle Vergleiche.......................................................... 139 4.2.4 Freiheit im Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten ............................. 142 Exkurs: Sens Begriff von Freiheit ...................................................................... 143 4.3 Diskussion.......................................................................................................... 145 4.3.1 Freiheit und Wohlergehen ......................................................................... 146 4.3.2 Freiheit und Menschenbild ........................................................................ 150 4.3.3 Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz................................................................. 155 4.3.4 Gegenüberstellung der Ansätze von Sen und Nussbaum........................... 158 4.3.5 Zusammenfassende Einschätzung ............................................................. 165 4.4 Aussagen zu Armut ............................................................................................ 166 4.4.1 Absolute oder relative Armut? .................................................................. 166 4.4.2 Dualismus im Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten......................... 168 4.4.3 Liste minimaler Funktionen....................................................................... 173 4.4.4 Zur wechselseitigen Beziehung zwischen Einkommen und Verwirklichungsmöglichkeiten ................................................................. 175 4.5 Operationalisierung des Ansatzes ...................................................................... 176 4.5.1 Auswahl der Dimensionen......................................................................... 177 4.5.2 Mögliche Datenquellen.............................................................................. 186 4.5.3 Vorgehen beim Vergleich.......................................................................... 189 4.5.4 Methoden................................................................................................... 194 5. Vergleich der Ansätze .............................................................................................. 204 5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich .......................................... 205 5.1.1 Die Lebenslage-Ansätze im Kontext ......................................................... 206 5.1.1.1 Der selbstgewählte Kontext ........................................................... 206 5.1.1.2 Rezeption ....................................................................................... 210 5.1.2 Sen im Kontext .......................................................................................... 218
Inhaltsverzeichnis
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5.1.2.1 Der selbstgewählte Kontext ........................................................... 218 5.1.2.2 Rezeption ....................................................................................... 222 5.1.3 Zusammenfassender Vergleich des Kontexts ............................................ 226 5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich ...................................................... 229 5.2.1 Parallelen in der Struktur........................................................................... 230 5.2.2 Zentrale Begriffe ....................................................................................... 239 5.2.3 Zusammenfassender Vergleich von Struktur und Begrifflichkeit der Ansätze................................................................................................ 256 5.3 Konzeption von Armut....................................................................................... 266 5.3.1 Absolute und relative Armut ..................................................................... 267 5.3.2 Dualismus in beiden Ansätzen................................................................... 270 5.3.3 Armut als „Erfüllungslücke“?.................................................................... 273 5.3.4 Zusammenfassung ..................................................................................... 275 5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung .................................................. 276 5.4.1 Auswahl der Dimensionen......................................................................... 277 5.4.2 Zur Rolle von Indikatoren ......................................................................... 287 5.4.3 Zur Auswahlmenge.................................................................................... 294 5.4.4 Zusammenfassung ..................................................................................... 301 5.5 Armutsmessung.................................................................................................. 303 5.5.1 Dimensionen für die Armutsmessung........................................................ 303 5.5.2 Struktur der Ansätze und Armutsmessung................................................. 307 5.5.3 Zusammenfassung ..................................................................................... 313 6. Ergebnisse und Perspektiven .................................................................................... 315 6.1 Ergebnisse des Vergleichs.................................................................................. 315 6.2 Ausblick ............................................................................................................. 323 Literaturverzeichnis...................................................................................................... 328 Personen- und Sachregister .......................................................................................... 354
Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Listen Abbildung 1: Dominanz erster Ordnung – Armutsinzidenzkurve ..................................43 Abbildung 2: Dominanz zweiter Ordnung – Armutsdefizitkurve...................................44 Abbildung 3: Dominanz dritter Ordnung – Armutsstärkekurve .....................................46 Abbildung 4: Schema zur Einteilung von Armutsmaßen, die mehrere Dimensionen berücksichtigen.........................................................................................54 Abbildung 5: Schnittmenge und Vereinigungsmenge zur Identifikation der Armen......56 Abbildung 6: Schema zur Einordnung der Kategorie Wohlergehen.............................136 Abbildung 7: Armut als Fehlen minimaler Verwirklichungsmöglichkeiten.................172 Abbildung 8: Begrenzung des Bereichs der Auswahlmenge........................................297 Tabelle 1: Eigenschaften einiger Armutsmaße...............................................................40 Tabelle 2: Datenquellen und Konzepte für Wohlergehen.............................................186 Tabelle 3: Empirische Arbeiten I..................................................................................202 Tabelle 4: Empirische Arbeiten II ................................................................................203 Tabelle 5: Zu vergleichende Begriffe...........................................................................240 Tabelle 6: Begriffe mit ähnlicher Bedeutung ...............................................................257 Tabelle 7: Vergleich der Struktur der Ansätze .............................................................258 Tabelle 8: Vergleich der Beispiele für Dimensionen von Neurath und Sen .................282 Tabelle 9: Gegenüberstellung von Nussbaums und Nahnsens Dimensionen ...............284 Liste 1: Leitfaden für die Analyse der uns heute interessierenden Lebenslagen ..........113 Liste 2: Weissers Gliederung der Gesellschaft nach Schichten ....................................114 Liste 3: Dimensionen sozialer Lagen ...........................................................................121 Liste 4: Nussbaums Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten.......................................181 Liste 5: Alkires favorisierte Liste letzter Gründe für Handlungen ...............................182 Liste 6: Desais Liste mit Verwirklichungsmöglichkeiten (grundlegende Funktionen) ..............................................................................183
1. Einleitung Der Lebenslage-Ansatz und der „Capability“-Ansatz legen beide eine Konzeption für Wohlergehen und Armut vor. Ihre Konzeptionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Wohlergehen und Armut nicht nur an einer Größe – sei es das Einkommen oder sei es der Nutzen – festmachen, wie es in der Wohlfahrtsökonomie üblich ist. Die Lebenslage bzw. das „Capability set“ sind multidimensional. Zudem entwickeln beide Ansätze die Vorstellung, Wohlergehen sei von der Handlungsfreiheit, die ein Mensch genießt, abhängig, und fassen Armut daher als eingeschränkte Handlungsfreiheit auf. Die Ähnlichkeit zwischen beiden ist einigen Wissenschaftlern1 bereits aufgefallen, aber eine Untersuchung darüber, wie weit die Ähnlichkeit geht, liegt bislang noch nicht vor. Diese Lücke wird mit dieser Arbeit geschlossen. Im Blick steht allerdings nicht nur die Konzeption von Armut in beiden Ansätzen, sondern auch die Vorschläge zur Erfassung von Armut. Konzeption und Erfassung von Armut bedingen sich gegenseitig. Um Armut erfassen – messen – zu können, bedarf es einer Definition, was unter Armut zu verstehen ist. Zugleich steht hinter der Suche nach einer Konzeption und Definition von Armut bei den Ansätzen die Auffassung, dass Armut ein Problem ist, das es zu bekämpfen gilt. Um diesen Kampf erfolgreich zu führen, muss das Ziel nicht nur klar definiert sein, sondern sich auch erfassen lassen. Die Erfassung von Armut ist gleichsam schon bei der Konzeption mitgedacht. Wie groß ist die Armut? Wer ist betroffen? In welchen Formen tritt Armut auf? Ist die Armut gestiegen oder gesunken? Armut zu erfassen, heißt, solcherlei Fragen zu beantworten. Die genaue Formulierung der Fragen obliegt indes der Konzeption von Armut. Mit ihrer Konzeption von Armut schließen die Ansätze an ein Verständnis von Armut an, das wir im Alltag verwenden: Armut erschöpft sich nicht darin, wenig Geld zu haben. Generell sagen wir, jemand sei „arm dran“, wenn ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist. „Arm“ nennen wir denjenigen, der seine Arbeit verloren hat, ebenso wie denjenigen, der von seinem Partner verlassen wurde oder krank geworden ist. Wir wissen, dass unser Leben viele Aspekte hat, die unser Wohlergehen ausmachen, und man daher genau hinschauen ___________ 1
Hinweise auf die Ähnlichkeit der beiden Ansätze finden sich bei Leibfried/Voges (1992), Schulz-Nieswandt (1995), Engelhardt (1998), Nemeth (1999), Rosner (2001), Sell (2002) und Uebel (2004). Vgl. auch Kapitel 5.
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1. Einleitung
muss. Die befriedigende und gut bezahlte Arbeit kann mit Überstunden und einem langen Fahrtweg verbunden sein. Die günstige und schöne Wohnung mitten in der Stadt ist für ein kinderloses Paar gut, sobald jedoch Nachwuchs da ist, ist sie zu klein und fehlen die Spielplätze, Kindergärten, Schulen, Ärzte u. ä. in der Nähe. Wir wägen ab und beurteilen die Lage des anderen in ihrer Gesamtheit. Als „arm“ bezeichnen wir in der Umgangssprache insbesondere auch diejenigen, die nicht die Perspektive haben, aus ihrer Situation herauszukommen, wie z. B. eine Familie mit mehreren Kindern, von denen eines an einer chronischen Krankheit leidet, und die in einem Viertel wohnt, wo zwar Großeltern und Arbeitsstelle in der Nähe sind, aber weder Kindergärten noch weiterführende Schule. Die knappen Finanzen, die Pflege besonders des kranken Kindes, die geringen Betreuungs- und Bildungsangebote für die Kinder sowie die Schwierigkeiten eines Stellen- und Ortswechsels wirken zusammen und lassen jegliche Veränderung der Situation schwierig bis unmöglich erscheinen. Im Alltagsverständnis von Armut lassen sich also beide Elemente wiederfinden, welche die Konzeption von Armut in den hier betrachteten Ansätzen kennzeichnen: die Multidimensionalität und die Berücksichtigung der Handlungsfreiheit. Und dies gilt keinesfalls nur für das Verständnis von Armut in Industrieländern. Bspw. haben die Südafrikaner im Kampf gegen das Apartheidregime wirtschaftliche Einbußen in Kauf genommen. Die Armutsmessung greift dennoch fast ausschließlich auf das Einkommen zur Bestimmung von Armut zurück. Dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen: Erstens zielt jegliche Messung auf Quantifizierung dessen ab, was gemessen werden soll. Diese Aufgabe ist leichter in Bezug auf nur eine als auf mehrere Größen zu bewerkstelligen und leichter bei Größen, die ohnehin schon in quantifizierter Form vorliegen. Zweitens wird Armut teilweise auf Geldmangel zurückgeführt in der Annahme, man könne sich mit Geld alles kaufen, was für ein (gutes) Leben wichtig ist. Drittens gibt es bislang nur wenige Versuche, Armut multidimensional zu konzipieren. Eine solche Konzeption ist aber eine notwendige Voraussetzung, um Messkonzepte erstellen zu können. Diese Arbeit stellt zwei entsprechende Ansätze vor und vergleicht sie einschließlich ihrer Vorschläge zur Erfassung multidimensionaler Armut. Der Lebenslage-Ansatz hat in Deutschland seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Renaissance erfahren, indem er zunächst als Grundlage für die Sozialberichterstattung propagiert wurde und schließlich dem ersten Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung Deutschlands (BMA 2001a, b) zugrunde gelegt wurde. Über die Grenzen Deutschlands hinaus ist der Lebenslage-Ansatz kaum bekannt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass dem Begriff „Lebenslage“ sehr unterschiedliche Bedeutungen zugesprochen werden. Dies ist nicht erst seit der „Wiederentdeckung“ des Ansatzes so, sondern liegt in der Entwicklung des Lebenslage-Ansatzes begründet: Otto Neurath hat den Begriff der „Lebenslage“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Friedrich
1. Einleitung
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Engels aufgenommen und darunter die Lebensbedingungen eines Menschen oder einer Gesellschaft verstanden. Kurt Grelling hat den Begriff übernommen und Gerhard Weisser darauf aufmerksam gemacht, ihn aber gleichzeitig neu interpretiert als Menge der möglichen Lebensbedingungen, unter denen jeder Mensch zu wählen habe, um seine Interessen zu befriedigen. Gerhard Weisser hat diese Auffassung in den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt und die griffige Definition der Lebenslage als „Spielraum“ für die Befriedigung von Interessen geprägt. Überlagert wird die Bedeutung des Begriffs gemäß des Lebenslage-Ansatzes zudem von der umgangssprachlichen Bedeutung und von der Bedeutung im soziologischen Kontext von „Lebenslagen, Lebensläufen und Lebensstilen“ (Berger/Hradil 1990). Amartya Sen arbeitet an dem „Capability-Ansatz“, den ich im Folgenden als „Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten“ bezeichnen werde, seit Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bis heute. Ausgehend von einer Kritik sowohl an der Wohlfahrtsökonomie als auch an den Ideen von Rawls und Nozick sucht er einerseits das, was Wohlergehen ausmacht, besser und direkter zu erfassen mit seiner Kategorie der Funktionen (functionings) und andererseits auch der Freiheit und ihrem Prozesscharakter eine Rolle einzuräumen, indem er eine Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten konzipiert. Bezüglich Sens Terminologie existiert – wie beim Lebenslage-Ansatz – eine gewisse Unstimmigkeit, weil der Unterschied zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten (capabilities) nicht immer deutlich ist und Sen selber seine Begriffe mit der Zeit verändert hat. Sen bietet in Grundzügen auch eine Formalisierung seines Ansatzes. Zudem hat er den Ansatz stets auch angewandt. So hat er an der Entwicklung des Human Development Index (HDI) und des Human Poverty Index (HPI) für das United Nations Development Program (UNDP) mitgearbeitet und ist von der Weltbank zu Vorträgen eingeladen worden. Seine Ideen haben großes Aufsehen erregt und werden lebhaft in der ganzen Welt diskutiert.2 Wie bereits erwähnt, haben die beiden Ansätze nicht nur gemeinsam, dass sie Armut bzw. allgemeiner Wohlergehen multidimensional konzipieren, sondern sie enthalten beide die Vorstellung einer Auswahlmenge – die Weisser treffend als „Spielraum“ umschreibt und Sen als Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten (capability-set) bezeichnet. Der Vergleich der Ansätze auf ihre Ähnlichkeit ist das erste Ziel der Arbeit. Dabei lässt sich die allgemeine Frage, wie ähnlich sich die Ansätze sind, in Bezug auf die Terminologie zuspitzen: Sind die Begriffe austauschbar? Meinen Neurath und Weisser mit „Lebenslage“ dasselbe wie Sen mit „Verwirklichungsmöglichkeiten“? In Bezug auf die Struktur lauten die Fragen: Stimmen die Dimensionen beider Ansätze überein? Fügen sie die Auswahlmenge an derselben Stelle in ihre Struktur ein? ___________ 2
Dies wird in Abschnitt 5.1.2 ausführlich dargestellt.
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1. Einleitung
Falls sich die Vermutung bestätigt, dass die Ansätze sich in ihrer Konzeption ähneln, ist die daran anschließende Vermutung zu überprüfen, dass sie sich auch in den Anwendungen, bei der Erfassung von Armut, ähneln. Denn das zweite Ziel der Arbeit ist es, Wege zu skizzieren, wie sich die Konzeption multidimensionaler Armut in die Erfassung derselben umsetzen lässt. Wie bereits oben angedeutet, steht die Konzeption von Armut in engem Zusammenhang mit ihrer Erfassung, so dass einer Konzeption, die sich nicht auch für die Armutsmessung eignet, etwas entscheidendes fehlt. Der Vergleich der Ansätze erstreckt sich daher auch auf die Operationalisierung im weitesten Sinne und konzentriert sich besonders auf die Anwendung bei der Erfassung von Armut. Eine wichtige Voraussetzung für den Vergleich der Ansätze hinsichtlich ihrer Anwendung auf die Armutsmessung stellt dabei die Kenntnis der Theorie zur Erfassung von Armut dar. Die Arbeit nähert sich den Ansätzen mit Hilfe von Originaltexten, d. h. unter Bezugnahme auf Texte jener Autoren, die den jeweiligen Ansatz entwickelt haben. Daher hier eine Bemerkung zur Zitierweise: Falls ich es nicht ausdrücklich anders erwähne, übernehme ich die Hervorhebungen aus dem Original. Der Vergleich der Ansätze stellt sie zunächst einander gegenüber, um ihre Stärken und Schwächen vor dem Hintergrund des jeweils anderen Ansatzes zu identifizieren. Der Vergleich mündet jedoch nicht in die Empfehlung eines Ansatzes als „überzeugendste Konzeption“, sondern untersucht, inwieweit ein Ansatz in Einzelpunkten überzeugender als der andere ist und ob sich die Ansätze ergänzen. Ebenso wenig mündet die Gegenüberstellung der Ansätze bezüglich ihrer Anwendung in der Empfehlung einer Methode. Vielmehr ist die Arbeit in dem Interesse geschrieben worden, Probleme bei der Konzeption und Erfassung multidimensionaler Armut aufzuzeigen und Lösungen dafür zu skizzieren und gegeneinander abzuwägen. Die Ergebnisse der Arbeit dürften für die Einschätzung der deutschen Armutsberichterstattung im internationalen Vergleich von Bedeutung sein. Ähnelt das ihr zugrunde liegende Konzept des Lebenslage-Ansatzes der Konzeption von Sen, so können die empirischen Studien zu beiden Ansätzen verglichen werden und so die Methoden in beide Richtungen übertragen.
Skizze des weiteren Vorgehens Bevor die hier im Mittelpunkt stehenden multidimensionalen Ansätze vorgestellt werden, führt Kapitel 2 in die Theorie der Armutsmessung ein. Bislang wird Armut meist als Einkommensarmut gemessen. Die grundlegenden Schwierigkeiten der Erfassung von Armut sind bereits an der Messung von Einkommensarmut abzulesen: Über die Definition von Armut herrscht alles andere als Einigkeit, aber die verschiedenen Definitionen lassen sich im Spek-
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trum zwischen absoluter und relativer Auffassung von Armut ansiedeln. Die Messung von Einkommensarmut lässt sich in zwei Schritte, nämlich die Identifikation der Armen und die Aggregation der Armut, einteilen. Der erste Schritt beinhaltet die Festlegung einer Armutsgrenze und der zweite die Auswahl eines Armutsmaßes. Beiden Schritten haftet eine gewisse Willkür an, so dass die Frage nach der Robustheit von Armutsmessungen gegenüber Veränderungen der Armutsgrenze bzw. des Armutsmaßes entsteht. Eine Möglichkeit, die Robustheit zu untersuchen, ist die Erstellung von Armutsordnungen. All diese Überlegungen beziehen sich auf die Erfassung von Armut anhand des Einkommens und belegen eindrucksvoll, wie viel zu beachten ist, selbst wenn Armut nur anhand einer Dimension gemessen wird. Bemerkenswert ist ferner, dass sowohl die Einteilung der Armutsmessung in zwei Schritte als auch der Anstoß zur axiomatischen Charakterisierung von Armutsmaßen von Sen gekommen ist, er also mit den Problemen der Messung von Einkommensarmut bestens vertraut ist. In den letzten zehn Jahren ist nicht nur der Ruf nach multidimensionaler Armutsmessung lauter geworden, sondern es sind auch verstärkt Anstrengungen zur Entwicklung multidimensionaler Messkonzepte unternommen worden. Das Kapitel 2 endet mit der Vorstellung dieser Konzepte und definiert, was unter einem „multidimensionalen Armutsmaß“ zu verstehen ist. Es schafft damit eine Grundlage zur Einschätzung der Vorschläge zur Armutsmessung, die aus den in der Arbeit betrachteten Ansätzen entstanden sind, wie sie in Kapitel 5 vorgenommen wird. Nach dieser Vorarbeit wird im Kapitel 3 der Lebenslage-Ansatz und im Kapitel 4 der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten von Sen vorgestellt. In diesen beiden Kapiteln werden die Ansätze je für sich dargestellt, also ohne Bezug auf den jeweils anderen. Ziel ist hierbei, jeweils ihre eigene Logik aufzuspüren, sie aus sich selbst und ihrem Kontext heraus zu begreifen und ihren spezifischen Beitrag zur Armutsmessung (zur Konzeption von Armut und zur Anwendung für die Messung) herauszuarbeiten. Dem Kapitel 5 ist vorbehalten, die beiden Ansätzen in Beziehung zueinander zu setzen und sie zu vergleichen. Um den Vergleich zu erleichtern, sind die Kapitel 3 und 4 gleich gegliedert in folgende fünf Abschnitte: Motivation und Kontext, zentrale Begriffe und Struktur, Diskussion, Aussagen zu Armut sowie Operationalisierung. Im ersten Abschnitt über Motivation und Kontext wird jeweils der historische Platz des Ansatzes kurz skizziert, die Themen, die den Autor des Ansatzes beschäftigt haben, und das Bild von Wissenschaft und dem Verhältnis von Wissenschaft zu Politik, das sich in seinen Schriften finden lässt. Der zweite Abschnitt über die zentralen Begriffe und die Struktur des Ansatzes arbeitet den Kern des jeweiligen Ansatzes heraus. Die zentralen Begrif-
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1. Einleitung
fe zeigen, für welche Themen der Ansatz eine Begrifflichkeit entwickelt hat (und für welche nicht). In der Struktur der Ansätze spiegelt sich wider, welche Zusammenhänge als wichtig erachtet werden (und welche nicht). Dabei beschränkt sich der zweite Abschnitt in den Kapiteln 3 und 4 darauf, die innere Logik der Ansätze nachzuzeichnen. Die kritische Diskussion ist dem folgenden Abschnitt vorbehalten und die Gegenüberstellung mit dem jeweils anderen Ansatz dem Kapitel 5. Die Diskussion des Ansatzes im dritten Abschnitt enthält erstens die Diskussion von Unstimmigkeiten, die bei der Vorstellung der zentralen Begriffe und der Struktur zutage getreten sind. Zweitens wird – so vorhanden – die Diskussion des jeweiligen Ansatzes in der Literatur wiedergegeben und drittens die daraus entstandene Weiterentwicklung des Ansatzes kurz skizziert. In einem vierten Abschnitt sind jeweils alle Aussagen des Ansatzes gesammelt, die sich speziell auf Armut beziehen. Dabei wird deutlich, dass die Ansätze sich nicht auf die Konzeption von Armut beschränken, sondern Wohlergehen im Allgemeinen konzipieren und Armut als einen – wichtigen – Spezialfall ansehen. Diesbezüglich treffen sie sowohl Aussagen zur relativen oder absoluten Natur von Armut und Gerechtigkeit, als auch Aussagen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei der Festlegung von Standards. Neben diesen eher abstrakten Gedanken finden sich auch Überlegungen zur Festlegung von Armutsgrenzen und zur Frage, welche Dimensionen neben dem Einkommen für die Erfassung von Armut von Bedeutung sind. Kurzum: Dieser Abschnitt ist eine Zusammenstellung all dessen, was die Ansätze zu Armut aussagen. Auch der fünfte Abschnitt in der Vorstellung der Ansätze ist sehr breit angelegt. In ihm sind sehr unterschiedliche Ausführungen im Zusammenhang mit der Operationalisierung des jeweiligen Ansatzes zu finden. Der Begriff der „Operationalisierung“ wird dabei weit gefasst: Beginnend mit grundsätzlichen Überlegungen der Autoren der Ansätze, ob eine Anwendung überhaupt wünschenswert ist, ob sie eher qualitativer oder quantitativer Natur sein soll und welche Rolle die Mathematik dabei spielt, befasst sich der Abschnitt mit konzeptionellen Überlegungen zur Anwendung der Ansätze, wie z. B. mit der Auswahl der Dimensionen, der Aggregation über mehrere Dimensionen sowie der Systematisierung verschiedener Methoden und Datenquellen. Schließlich bietet dieser Abschnitt auch einen Überblick über empirische Studien, die sich auf den jeweiligen Ansatz berufen und daher als Operationalisierung desselben betrachtet werden können. Wie die Arbeit zeigt, verbergen sich hinter „dem“ Lebenslage-Ansatz zwei, wenn nicht drei Ansätze. Daher werden im Kapitel 3 die Ansätze von Neurath und Weisser in Unterabschnitten getrennt vorgestellt und zwischen beiden in einem Exkurs die Ideen von Nelson und der Ansatz von Grelling kurz skizziert.
1. Einleitung
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Der recht bekannte Lebenslage-Ansatz von Nahnsen wird hingegen als eine Weiterentwicklung des Weisserschen Ansatzes aufgefasst und daher im Abschnitt zur Diskussion von Weissers Ansatz erläutert. Wie bereits erwähnt, stellt das Kapitel 4 den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten von Sen vor. Seine Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus und anderen Gerechtigkeitstheorien wird im Abschnitt 4.1 zu Motivation und Kontext wiedergegeben, denn sie gehört m. E. nicht zum Kern seines Ansatzes, sondern stellt „nur“ einen wichtigen Hintergrund dar für die Entwicklung seiner Gedanken. Zum Kern seines Ansatzes gehört indes sein Freiheitsbegriff, der allerdings – weil Sen ihn bereits vor und parallel zu seinen Arbeiten zum Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten entwickelt hat – in einem Exkurs tiefergehend betrachtet wird. Der Ansatz von Nussbaum, der ebenfalls unter dem Namen „Capability-Ansatz“ bekannt ist, weist etliche Unterschiede zu Sens Ansatz auf, weshalb m. E. zwischen beiden stärker differenziert werden sollte, als es meist der Fall ist. Hier wird Nussbaums Ansatz im Abschnitt 4.3 über die Diskussion des Senschen Ansatzes vorgestellt, ihre Überlegungen fließen jedoch auch in den Abschnitt 4.4 zu Armut und den Abschnitt 4.5 zur Operationalisierung des Ansatzes ein. Kapitel 5 vergleicht die Lebenslage-Ansätze von Neurath, Grelling und Weisser mit dem Ansatz von Sen und geht teilweise auch auf die Ideen von Nahnsen und Nussbaum sowie auf die verschiedenen Vorschläge zur Operationalisierung ein. Es folgt dabei einer etwas anderen Gliederung als die Vorstellung der Ansätze in den vorigen Kapiteln, weil der Schwerpunkt auf dem Vergleich der Ansätze bezüglich der Konzeption und Erfassung von Armut liegt. Zunächst wird im Abschnitt 5.1 der theoretische – im Gegensatz zum politischen und zeitgeschichtlichen – Kontext erläutert, in welchem die Ansätze stehen. Zum einen ist darunter der selbstgewählte Kontext zu verstehen, in den die Autoren ihre Ansätze gestellt haben und der bereits bei der Vorstellung der Ansätze unter der Überschrift „Motivation und Kontext“ angedeutet wird. Zum anderen geht es um den Kontext, in welchem sie wahrgenommen und diskutiert wurden und werden, was teilweise schon unter der Überschrift „Diskussion“ bei der Vorstellung der Ansätze erwähnt wird. Die Erörterung im Kapitel 5 geht allerdings über die entsprechenden Stellen in vorigen Kapiteln hinaus, weil sie den Kontext der Lebenslage-Ansätze gebündelt jenem des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten gegenüber stellt und dabei auch Themengebiete aufgreift, die in keinem direkten Zusammenhang zur Armutsmessung stehen und daher vorher nicht erwähnt worden sind. Nach der Gegenüberstellung fasst ein Vergleich des Kontexts die (wenigen) Gemeinsamkeiten und die deutlichen Unterschiede darin zusammen. Es zeigt sich, dass Armut zu den gemeinsamen Themen der Ansätze zählt, aber von unterschiedlicher Warte aus angegangen wird.
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1. Einleitung
Im Abschnitt 5.2 werden die Ansätze in ihrer Struktur und ihre zentralen Begriffe verglichen. Dieser Abschnitt stellt gewissermaßen den Kern des Vergleichs dar. Er steht in enger Verbindung zu den jeweiligen Abschnitten „Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes“ in den Kapiteln 3 und 4, betrachtet allerdings zuerst die Parallelen in der Struktur, um dann durch den detaillierten Vergleich der Begrifflichkeit die Ähnlichkeit in der Struktur der Ansätze zu bestätigen oder zu widerlegen. Der abschließende Schritt des Vergleichs besteht darin, ein Schema zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Ansätze zusammenfassend darstellen lassen. Die grundlegenden Erwägungen der Ansätze zur Konzeption speziell von Armut werden in Kapitel 5 von konkreten Überlegungen zur Erfassung von Armut getrennt behandelt. Abschnitt 5.3 vergleicht die Ansätze auf ihre – relative bzw. absolute – Auffassung von Armut hin und daraufhin, ob und wie sie den Widerspruch zwischen objektivistischer und subjektivistischer Ausrichtung auflösen. Bevor die konkreten Ideen zur Armutsmessung verglichen werden, nimmt Abschnitt 5.4 die allgemeinen Probleme der Operationalisierung und ihre Lösung in den Ansätzen unter die Lupe. Ein Problem, das allen multidimensionalen Ansätzen gemein ist, ist die Auswahl relevanter Dimensionen. Verschiedene Kriterien sind im Zusammenhang mit den LebenslageAnsätzen und dem „Capability“-Ansatz vorgeschlagen worden. Ein weiteres allgemeines Problem multidimensionaler Ansätze ist die Rolle von Indikatoren. Ein Problem speziell dieser beiden Ansätze besteht darin, die Idee der Auswahlmenge anwendbar zu machen. Abschnitt 5.5 widmet sich dann der Anwendung der Ansätze auf die Armutsmessung. Zunächst werden noch einmal die allgemeinen Probleme der Auswahl von Dimensionen und der Rolle des Einkommens als Indikator erörtert und die Ansätze daraufhin befragt, ob sie in der Armutsmessung einen Sonderfall diesbezüglich sehen. Dann stellt der Abschnitt die Definition multidimensionaler Armutsmaße aus Kapitel 2 der schematischen Einteilung der behandelten Ansätze in Abschnitt 5.2 gegenüber und diskutiert, welche Methoden für die Armutsmessung mit Hilfe dieser Ansätze in Frage kommen und welche Rolle die Datengrundlage spielt. Die Ergebnisse des Vergleichs und die Perspektiven, die sich daraus für die weitere Forschung und Verwendung der Ansätze ergeben, fasst Kapitel 6 zusammen. Insbesondere werden die Stärken und Schwächen der Ansätze eingeschätzt und Anregungen für die weitere Entwicklung und Verwendung derselben gegeben. Ferner wird auf weiteren Forschungsbedarf hingewiesen.
2. Armutsmessung: eine Einführung Dieses Kapitel führt in die (Theorie der) Armutsmessung3 ein. Nach Sen (1976a) lässt sich die Armutsmessung in zwei Schritte einteilen: Identifikation der Armen und Aggregation der Armut in der Gesellschaft. Zur Identifikation der Armen dient eine Armutsgrenze, welche die Bevölkerung in Arme und Nichtarme einteilt. Ist die Armutsgrenze gegeben, so versucht ein Armutsmaß, die Armut in der Gesamtgesellschaft in einer Kennziffer zu erfassen. Die Armutsmaße unterscheiden sich dahingehend, welche verschiedenen Aspekte der Armut – Anzahl der Armen, Ausmaß und Verteilung der individuellen Armut – sie erfassen und wie sie erfasst werden. In der Regel wird Armut dabei anhand des Einkommens gemessen. Insgesamt orientiert sich die Gliederung des Kapitels an diesen beiden Schritten der Armutsmessung, doch zuvor (Abschnitt 2.1) sollen kurz die Auffassungen skizziert werden, welche die Pole darstellen, zwischen denen die verschiedenen Definitionen von Armut sich einordnen lassen: die absolute und die relative Auffassung von Armut. Zu welcher Auffassung eine Definition von Armut neigt, zeigt sich vor allem bei der Festlegung der Armutsgrenze (Abschnitt 2.2). Doch auch einige Eigenschaften der Armutsmaße (Abschnitt 2.3) stehen für eine relative bzw. absolute Auffassung von Armut. Die weit entwickelte Axiomatik, welche die Eigenschaften der Armutsmaße systematisch erfasst, wird indes meist gar nicht ausgenutzt: In der Praxis stellt die Anzahl der Armen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung (die Armutsquote) immer noch das am häufigsten verwendete Armutsmaß dar. Als ein Grund dafür lässt sich anführen, dass die Axiomatik nicht dazu führt, ein „ideales“ Armutsmaß zu identifizieren, sondern eher die Vor- und Nachteile einzelner Maße aufweist. Zudem ist auch die Entscheidung für eine Armutsgrenze mit einer gewissen Willkür behaftet. Daher suchen Armutsordnungen nach Übereinstimmungen in der Beurteilung von Einkommensverteilungen für verschiedene Armutsgrenzen (Abschnitt 2.4.1) oder verschiedene Armutsmaße (Abschnitt 2.4.2). Ein Grundproblem bleibt jedoch auch bei diesen Ansätzen zur Beurteilung von Armut über Dominanzordnungen: Sie beruhen nur auf der Einkommensverteilung. ___________ 3 Eine kurze Einführung in die Armutsmessung findet man bei Quibria (1991) und Blackwood/Lynch (1994). Einen guten Überblick in Hinsicht auf die Anwendung besonders in Entwicklungsländern geben Sautter/Serries (1993) sowie Ravallion (1994). In die Theorie führt Seidl (1988) ein.
2. Armutsmessung: eine Einführung
22
Die Definition von Armut nur über die Einkommensverteilung wird jedoch schon seit langem kritisiert und einhellig gefordert, Armut als multidimensionales Phänomen zu definieren. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellen die Äquivalenzskalen (Abschnitt 2.5.1) dar, mit denen der Lebensstandard von Haushalten verschiedener Größe und Zusammensetzung vergleichbar gemacht werden soll. Weil jedoch der Festlegung auf eine Äquivalenzskala ebenso wie der Festlegung auf eine Armutsgrenze Willkür anhaftet, sucht die sequentielle Dominanz (Abschnitt 2.5.2) nach Übereinstimmungen in der Beurteilung von Einkommensverteilungen über verschiedene Äquivalenzskalen. Es ist jedoch fraglich, ob damit das Problem der Multidimensionalität umfassend gelöst ist. Daher stelle ich in Abschnitt 2.5.3 ein Schema vor, mit dem sich multidimensionale Ansätze klassifizieren und Fragen zur Definition multidimensionaler Armutsmaße systematisch erfassen lassen. In Abschnitt 2.5.4 werden die Probleme diskutiert, die sich im multidimensionalen Fall für die Identifikation der Armen ergeben. Der Abschnitt 2.5.5 erläutert, inwieweit eine Übertragung der Axiomatik sowie eine Anwendung der Methode der stochastischen Dominanz auf den multidimensionalen Fall möglich ist. Bevor ich mit dem eigentlichen Kapitel beginne, möchte ich noch auf einige grundlegende Probleme bei der Einkommensmessung aufmerksam machen, denn das Einkommen ist für die Armutsmessung eine zentrale Größe, selbst wenn man zu mehreren Dimensionen übergeht. Den Daten zum Einkommen haften mehrere Probleme an4: Erstens sind einige Komponenten des Einkommens schwierig zu erfassen. Bei Sachleistungen (z. B. Fahrkarten), öffentlichen Gütern (z. B. Infrastruktur) und Eigenproduktion stellt sich die Frage, wie diese monetär zu bewerten sind und in das Einkommen einfließen. Zweitens ist die zeitliche Abgrenzung gerade in bezug auf Armutsmessung von Bedeutung. Das jährliche Einkommen spiegelt nicht die saisonalen Schwankungen wider, die zu zeitweiser Armut führen. Auf eine Woche oder gar auf einen Tag bezogene Angaben sind aber unbefriedigend, weil sie überhaupt keinen (erwünschten oder erzwungenen) Ausgleich zulassen. In diesem Zusammenhang stellt sich drittens die Frage, inwieweit das Vermögen mit einbezogen werden soll und kann. Viertens vertreten einige Autoren5 die Ansicht, es sei besser die Ausgaben als das Einkommen zu messen, weil dies einige der Probleme löst: Das Einkommen kann saisonale Schwankungen aufweisen, die bei den Ausgaben ausgeglichen werden. Doch für die Ausgaben gilt, dass in der Regel keine Daten vorhanden sind. Sie
___________ 4 5
Diese Probleme beschreibt bspw. Ruggels (1990) ausführlicher. Vgl. bspw. Quibria (1991), Blackwood/Lynch (1994) oder Jorgenson (1998).
2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut
23
müssten durch umfassende empirische Studien erhoben werden und werden eventuell durch die Studie selbst beeinflusst.6
2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut In der Armutsmessung gibt es zwei gegensätzliche Grundüberzeugungen, die ich als absolute und relative Auffassung von Armut bezeichnen möchte. Sie sind als Pole zu verstehen, zwischen denen die verschiedenen Definitionen von Armut eingeordnet werden können. In der Regel wird nur von absoluter und relativer Armutsgrenze (s. u.) gesprochen, ich meine jedoch, dass sich die Auffassung auch auf die Armutsmessung auswirkt und somit die Wahl des Armutsmaßes bestimmt. Die hier aufgeführten Aussagen sind als pointierte Versionen der Auffassungen zu betrachten. Die Vertreter der absoluten Auffassung von Armut haben den Kampf um Leben und Tod vor Augen, daher lässt sich Armut im absoluten Sinne folgendermaßen definieren: Arm ist, wer nicht über die Dinge verfügt, die zum Überleben notwendig sind.
Anders gesagt: Wer verhungert, ist arm. Wer durch mangelnde Hygiene lebensbedrohlich erkrankt, ist arm. Es sind solche Fälle, bei denen sich kaum bestreiten lässt, dass Armut vorliegt, die als kraftvolle Argumente für diese Auffassung vorgebracht werden (z. B. Sen 1983a). Die Vertreter der absoluten Auffassung sehen Armut als einen Zustand an, der sich qualitativ stark von Nicht-Armut unterscheidet. Insofern stellt die Armutsgrenze nach der absoluten Auffassung prinzipiell etwas dar, das sich nicht beliebig festlegen oder verschieben lässt. Der Unterschreitung der Armutsgrenze wird ein großes Gewicht beigemessen, weil an dieser Grenze ein absoluter Verlust einsetzt, auch wenn die Unterschreitung der Grenze relativ geringfügig ist (Bourguignon/Fields 1997, S. 157). Wenn mir z. B. ein Cent zum Kauf von Schuhen fehlt, ist die Scham, keine Schuhe zu besitzen, genau so groß wie in dem Fall, wenn mir 20 Euro dafür fehlen. Problematisch an dieser Auffassung ist, dass sie mit der überzeugenden Festlegung einer absoluten Grenze steht und fällt. Die lebensnotwendigen Dinge – oder zumindest die Kriterien dafür – sollen bestimmt werden für alle Orte, für alle Zeiten und für alle Menschen. Doch die Menschen7 unterscheiden sich in ihrem Geschlecht, ihrer Größe, ihrem Gewicht und ihrem Alter. Sie ___________ 6
Wer die täglichen Ausgaben festhalten muss, wird sich ihrer mehr bewusst und verändert deshalb eventuell sein Verhalten. 7 In meiner Arbeit benutze ich die Begriffe „Mensch“, „Person“ und „Individuum“ synonym.
2. Armutsmessung: eine Einführung
24
leben in unterschiedlichen Klimazonen, gehen unterschiedlichen Arbeiten nach und verfügen über verschiedenste Technik. Nicht zuletzt gehören sie unterschiedlichen Kulturen an und die Gesellschaften, in denen sie leben, sind unterschiedlich strukturiert. Tatsächlich ist es noch nicht einmal möglich, einheitlich für alle ein Minimum an Nährstoffen zu bestimmen8 und daraus eine Zusammenstellung der lebensnotwendigen Lebensmittel abzuleiten. Schwieriger noch dürfte dieses Unterfangen in anderen Bereichen lebensnotwendiger Dinge sein wie Kleidung und Behausung, da in diesen Bereichen kulturelle Unterschiede noch augenfälliger sind. Völlig unmöglich erscheint die Festlegung eines absoluten Bedarfs an gesellschaftlicher Anerkennung. Die relative Auffassung geht daher davon aus, dass Armut nur mit Bezug auf das gesellschaftliche Umfeld definiert werden kann: Arm ist, wer sich den in der Gesellschaft herrschenden minimalen Lebensstandard nicht leisten kann.
Der minimale Lebensstandard lässt sich ebenso wenig eindeutig festlegen wie die lebensnotwendigen Dinge, aber es ist ein Standard, der nur für einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit Gültigkeit beansprucht. Damit stellt sich aber zugleich die Frage, ob Armut eine besondere Qualität aufweist und in welchem Verhältnis sie zu sozialer Ungleichheit steht.9 Es fällt schwer, Armut im Sinne der relativen Auffassung als eigenständiges Phänomen zu definieren. Die Willkür bei der Festlegung einer Armutsgrenze wird von dieser Auffassung zwar zutreffend entlarvt, aber durch die Variation der Armutsgrenze nicht wirklich gelindert. Die Notwendigkeit und Bedeutung einer Armutsgrenze für die relative Auffassung von Armut ist nicht offensichtlich. Hingegen legt sie großen Wert auf die Feststellung, dass die Schwere der Armut zunimmt, je ärmer eine Person ist (Bourguignon/Fields 1997, S. 157), dass es im Beispiel von oben eben doch wichtig ist, ob mir nur ein Cent oder gar 20 Euro zum Kauf der Schuhe fehlen. Die Beschränkung der Gültigkeit einer Armutsgrenze auf ein bestimmtes gesellschaftliches Umfeld gerät der relativen Auffassung von Armut zur Falle, wenn es um einen Vergleich der Armut in mehreren Ländern oder zu unterschiedlichen Zeiten geht, denn für einen solchen Vergleich braucht man einen einheitlichen Maßstab. Einheitliche Kriterien für die Ermittlung einer relativen Armutsgrenze lösen das Problem der Vergleichbarkeit nicht wirklich, weil zunächst die Vergleichbarkeit der betrachteten Gesellschaften gesichert sein muss. Vertreter der relativen Auffassung müssen sich daher fragen lassen, wie sie sich abgrenzen zum „extremen Relativismus“, der keinen Maßstab zur ___________ 8 9
Siehe hierzu: WHO (1985). Siehe hierzu den Streit zwischen Sen (1983a, 1985) und Townsend (1985).
2.1 Absolute versus relative Auffassung von Armut
25
Bewertung liefern kann und droht „in Subjektivismus zu verfallen“ (Nussbaum 1992). Der Unterschied zwischen absoluter und relativer Auffassung in der Armutsmessung zeigt sich am deutlichsten bei der Festlegung der Armutsgrenze: Eine absolute Armutsgrenze beansprucht Gültigkeit über die untersuchte Gesellschaft hinaus und lässt sich ohne Kenntnis der genauen gesellschaftlichen Umstände festlegen. Eine relative Armutsgrenze hingegen bezieht sich auf die jeweilige Gesellschaft, erhebt also weder den Anspruch, auch auf andere Gesellschaften angewandt werden zu können, noch lässt sie sich ohne genaue Kenntnis der gesellschaftlichen Umstände ermitteln. Ist die Armutsgrenze einmal festgelegt, gibt es kein Kriterium, an dem man erkennen kann, ob es sich um eine absolute oder eine relative Armutsgrenze handelt. Allerdings unterscheiden sie sich typischerweise in der Anpassung an Veränderungen im Zeitablauf: Die relative Armutsgrenze steigt schneller als die absolute (Ruggels 1990, Gustafsson 1995, Foster 1998). Die Auswahl eines Armutsmaßes10 ist nicht so deutlich von der Grundüberzeugung geprägt. Dennoch lassen sich m. E. bestimmte Tendenzen feststellen: Wer eine absolute Auffassung von Armut in der Armutsmessung verfolgt, wird der Anzahl der Armen ein großes Gewicht beimessen und sich generell auf die Betrachtung derer beschränken, die unter die Armutsgrenze fallen (Bourguignon/Fields 1997). Dem relativen Ansatz hingegen entspricht es, die Ungleichheit in der Gesamtbevölkerung im Auge zu behalten, indem ein progressiver Transfer auch dann positiv gewertet wird, wenn er zur Verarmung einer vorher nicht armen Person führt. Den Schwerpunkt legt der relative Ansatz auf die Messung des Ausmaßes und der Verteilung der individuellen Armut. Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Frage der Ausprägung des Transferaxioms (vgl. Abschnitt 2.3.2) zu: Die schwache Ausprägung des Transferaxioms, welche nur Transfers innerhalb der Gruppe der Armen betrachtet, entspricht der absoluten Auffassung in der Armutsmessung, während die starke Ausprägung des Transferaxioms, bei der auch Transfers zugelassen sind, durch welche die Anzahl der Armen verändert wird, – also die Stetigkeit des Armutsmaßes an der Armutsgrenze vorausgesetzt wird (Donaldson/Weymark 1986, s. u.) – der relativen Auffassung entspricht.
___________ 10 Es existieren auch die Begriffe absolutes und relatives Armutsmaß. Diese Begriffe sind definiert bei Blackorby/Donaldson (1980), Donaldson/Weymark (1986), Foster/Shorrocks (1991) und Zheng (1994). Sie hängen nicht zusammen mit der absoluten bzw. relativen Auffassung von Armut.
2. Armutsmessung: eine Einführung
26
2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze Der erste Schritt der Armutsmessung besteht wie gesagt in der Identifikation der Armen mittels einer Armutsgrenze. Im Anschluss werden die gängigsten Methoden zur Festlegung einer Armutsgrenze mit ihren Vor- und Nachteilen vorgestellt. Bei der absoluten Armutsgrenze kann sowohl zwischen der direkten Methode und der Einkommensmethode unterschieden werden, als auch zwischen verschiedenen Arten, wie die Deckung der Grundbedürfnisse bestimmt wird. Noch größer ist die Methodenvielfalt bei Armutsgrenzen, welche der relativen Auffassung von Armut entspringen: Sowohl die subjektive Armutsgrenze, als auch die Grenze, welche relative Benachteiligung misst, wie die relative Armutsgrenze, definieren Armut im Verhältnis zum vorherrschenden Lebensstandard in der Gesellschaft. Offizielle Armutsgrenzen lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Zweifelsohne prägen offizielle Armutsgrenzen aber das Verständnis von Armut in einer Gesellschaft. Insgesamt wird deutlich, dass neben der Grundeinstellung auch praktische Probleme wie die Datenverfügbarkeit bzw. der Aufwand bei der Beschaffung von Daten eine große Rolle bei der Wahl der Methode spielen. Im Ergebnis erscheint jede Armutsgrenze willkürlich, weil sie scharf zwischen arm und nicht arm trennt.
Direkte Methode versus Einkommensmethode Die Armutsgrenze11 lässt sich entweder direkt festlegen, indem man all die Dinge auflistet, über die jeder verfügen sollte. Wer über etwas aus dieser Liste nicht verfügt, ist folglich arm. Oder man legt eine Armutsgrenze im Einkommensbereich fest, kalkuliert also das Einkommen, das nötig ist, um all die Dinge aus der Liste zu kaufen.12 Die direkte Methode konstatiert, dass jemand über etwas aus der Liste nicht verfügt und deklariert diesen Menschen als arm, unabhängig davon, ob er es sich nicht leisten kann oder nicht leisten will. Hingegen erlaubt die Einkommensmethode Abweichungen vom Durchschnittsgeschmack, indem sie lediglich feststellt, ob sich jemand alles, was aufgelistet ist, leisten kann. Liegen regionale Preisschwankungen vor, so ist die Einkommensmethode fragwürdig, weil das Einkommen dann nicht überall ausreichend für das Güterbündel sein könnte. Die direkte Methode bietet den weiteren Vorteil, dass sie andere Einkommensquellen wie Sachleistungen und Eigenproduktion erfasst (s. o.) und nicht die Schwankungen des Einkommens, ___________ 11 Einen guten Überblick über die Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze geben Callan/Nolan (1991). Das Problem wird auch in Quibria (1991) und Blackwood/Lynch (1994) diskutiert. 12 Zu Definition und Diskussion von direkter versus Einkommensmethode vgl. Sen (1979a) und Callan/Nolan (1991).
2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze
27
sondern der Versorgung wiedergibt. Doch macht die Anwendung der direkten Methode aufwendige empirische Studien erforderlich, um entsprechende Daten zu erheben. Die Anwendung der Einkommensmethode hat den Vorzug, auf Daten zu basieren, die meist bereits existieren. Direkte Methode und Einkommensmethode spielen bei der Festlegung einer absoluten Armutsgrenze eine Rolle. Hier wird die Festlegung der absoluten Armutsgrenze jedoch nur für die – meist verwendete – Einkommensmethode geschildert. Verwendet man statt Angaben über das Einkommen Daten zu den Ausgaben, so werden zumindest die saisonalen Schwankungen des Einkommens geglättet.
Absolute Armutsgrenze Diese Methode versucht die Kosten zu ermitteln, die entstehen, wenn die Grundbedürfnisse (hier: Nahrung, Kleidung und Behausung) gerade gedeckt werden. Rowntree13, der als einer der ersten Armutsmessungen durchgeführt hat, wandte diese Methode an. Er hat zunächst einen Ernährungsplan entwickelt, der ausreichend Nährstoffe bietet, sich an den herrschenden Gewohnheiten orientiert und relativ kostengünstig ist, und dann die Bestandteile des Ernährungsplanes mit Marktpreisen bewertet. Bei der Kleidung ging Rowntree entsprechend vor. Schließlich fügte er eine Pauschale für Heizkosten und die tatsächlich anfallenden Wohnungskosten hinzu. Auch Orshansky verwendete diese Methode zur Bestimmung der USamerikanischen Armutsgrenze 1966. Nach der Ermittlung der Kosten für Lebensmittel multipliziert sie diese mit dem Kehrwert des durchschnittlichen Ausgabenanteils für Lebensmittel und berücksichtigt auf diese Weise die Kosten für andere Grundbedürfnisse (Callan/Nolan 1991). An diesem Vorgehen ist kritisiert14 worden, dass es zirkulär ist, insofern die Bedürfnisse anhand der vorherrschenden Konsumgewohnheiten bestimmt werden. Zudem hat bereits Engel beobachtet, dass der Ausgabenanteil für Lebensmittel mit steigendem Einkommen abnimmt, also bei Armen besonders hoch ist.15 Ausgehend von dieser Beobachtung Engels wird der Ausgabenanteil für Lebensmittel noch auf eine andere, direkte Weise zur Bestimmung der Armutsgrenze genutzt. Dazu legt man einen Höchstwert für den Anteil an Ausgaben
___________ 13
Vgl. zur Arbeit von Rowntree die Ausführungen in Townsend (1979). Mit der Methode von Orshansky und der Kritik daran setzen sich Ruggels (1990) und Foster (1998) auseinander. 15 Dies ist das so genannte Engelsche Gesetz, vgl. bspw. Herberg (1985, S. 100). 14
2. Armutsmessung: eine Einführung
28
für Lebensmittel am Einkommen fest. Das Einkommen, bei dem dieser Höchstwert (in der Regel) erreicht ist, dient als Armutsgrenze.16 Allen diesen Methoden gemeinsam ist zum einen der Versuch, einen Warenkorb mit lebensnotwendigen Dingen zusammenzustellen und dann die Armutsgrenze so zu setzen, dass mit dem entsprechenden Einkommen diese Dinge erworben werden können, und zum anderen die Vorstellung, dass die so hergeleitete Armutsgrenze über einen längeren Zeitraum konstant ist.17 Daher wird eine solche Armutsgrenze auch oft als „absolute Armutsgrenze“ bezeichnet.
Subjektive Armutsgrenze Problematisch an den obigen Methoden ist auch, dass „Experten“ darüber bestimmen, was lebensnotwendig ist, ohne jedoch zu einem einheitlichen Ergebnis zu kommen. Aus dem Zweifel an der Objektivität und Kompetenz der Experten heraus wuchs die Idee, die Bevölkerung selbst zu befragen. Insbesondere einige Wissenschaftler, die in Leyden lehren oder lehrten, haben verschiedene Fragebögen entwickelt, um eine Armutsgrenze zu bestimmen (Callan/Nolan 1991). Die ausgeklügelste Variante, die auch Leyden-Armutsgrenze genannt wird, bittet die Befragten darum, jeweils das Einkommen anzugeben, das sie für sich selbst als sehr schlecht/schlecht/unzureichend/ausreichend/gut/ sehr gut ansehen. Von diesen Angaben wird eine Armutsgrenze unter bestimmten Annahmen abgeleitet (Hagenaars/Van Praag 1985). Diese Methode entspricht eher der relativen Auffassung, nimmt sie doch expliziten Bezug auf die Gesellschaft, für die die Armutsgrenze ermittelt werden soll. Leider haften ihr die Probleme aller Umfragen an: Erstens ist fraglich, inwieweit Interviewer und Interviewter dasselbe Verständnis von den Fragen haben; zweitens repräsentiert die Gruppe der Befragten die Gesellschaft nur unvollständig; und drittens hat sich ein Zusammenhang zwischen dem Einkommen und den Antworten der Befragten gezeigt.
___________ 16
Diese Methode wird in Kanada genutzt, vgl. Hagenaars/Van Praag (1985) und Callan/Nolan (1991). 17 Die amerikanische Armutsgrenze von Orshansky ist gerade deshalb problematisch, weil sie das Konsummuster der 60er Jahre zugrunde legt, vgl. Ruggels (1990).
2.2 Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze
29
Relative Benachteiligung Auch Townsend18 hat eine große Umfrage zur Bestimmung einer Armutsgrenze durchgeführt. Allerdings hat er nicht direkt nach einer Einkommensgrenze gefragt, sondern hat die These aufgestellt, dass es eine Einkommensschwelle gibt, unterhalb derer die Teilnahme an dem in der Gesellschaft üblichen Lebensstil nicht mehr möglich ist. Arm ist in Townsends Augen eben derjenige, der relativ benachteiligt („relatively deprived“) ist, d. h. sein Leben nicht in der Weise führen kann, die in der Gesellschaft üblich ist. Die relative Benachteiligung kann vollständig sein oder partiell, also nur gewisse Bereiche des Lebensstils betreffen. Sie kann temporär oder langfristig sein. Indem er die Anzahl an Bereichen relativer Benachteiligung dem Einkommen gegenüberstellt, ermittelt Townsend schließlich die Einkommensschwelle, die als Armutsgrenze zu verstehen ist. Mit diesem Vorgehen kommt Townsend dem Kern der relativen Auffassung, dass Armut durch das Nicht-Erreichen des vorherrschenden Lebensstandards gekennzeichnet ist, von allen relativen Ansätzen am nächsten. Problematisch an Townsends Arbeit ist erstens die These einer Einkommensschwelle. Seine Methode, die Einkommensschwelle zu bestimmen, wurde heftig kritisiert, und in späteren Untersuchungen (vor allem Desai/Shah 1988) konnte die Existenz einer Einkommensschwelle nicht nachgewiesen werden. Zweitens ist die Definition eines in der Gesellschaft üblichen (minimalen) Lebensstils außerordentlich schwierig. Townsend (1979, S. 46ff) selbst unterscheidet drei verschiedene Formen relativer Benachteiligung: a) objektive, b) normative (oder allgemein anerkannte) und c) subjektive Benachteiligung, und er merkt an, dass der Übergang zwischen normativer und subjektiver Benachteiligung fließend ist. Zudem erwähnt Townsend auch, dass es verschiedene regionale Abgrenzungen gibt, für die jeweils etwas anderes als minimaler Standard gilt (Townsend 1974, S. 27). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass seine Definition eines minimalen Lebensstils kritisiert wurde. Man muss jedoch anerkennen, dass Townsend versucht, die Definition der Armut zu erweitern und sie in Zusammenhang mit relativer Benachteiligung in verschiedenen Bereichen des Lebens bringt, also einen Schritt in Richtung Multidimensionalität tut. Seine groß angelegte empirische Studie stellt eine Pionierleistung dar.
___________ 18 Kurz zusammengefasst findet sich seine Theorie in Townsend (1974), seine große Studie schildert er detailliert in Townsend (1979).
30
2. Armutsmessung: eine Einführung
Relative Armutsgrenze Unter einer relativen Armutsgrenze im engeren Sinne versteht man eine Armutsgrenze, die explizit Bezug nimmt auf die Einkommensverteilung innerhalb der Gesellschaft (zuerst bei Fuchs 1967). Entweder wird die Armutsgrenze proportional zum Medianeinkommen19 oder zum Durchschnittseinkommen definiert. Diese Methode hat den Vorteil, dass keine weiteren Daten zu erheben sind. Sie wird daher gerne angewandt. Mehr noch als bei den anderen Methoden zur Festsetzung der Armutsgrenze wird hier die Willkür deutlich, mit der die Armutsgrenze festgelegt wird: Soll sie bei 40, 50 oder 60 Prozent des Median- oder des Durchschnittseinkommens liegen? Man kann diese Entscheidung nicht begründen. Außerdem fragt man sich bei dieser Methode, ob die Armutsmessung nicht nur ein Teil der Ungleichheitsmessung ist.20 Implizit geht diese Methode davon aus, dass die Einkommensverteilung einen guten Indikator für das gesellschaftliche Umfeld darstellt. Armut wird deshalb eindimensional definiert.
Offizielle Armutsgrenze In der Empirie greift man oft auch auf sogenannte offizielle oder politische Armutsgrenzen zurück, wie bspw. den Mindestlohn, die Sozialhilfesätze oder das Mindesteinkommen. Diese Armutsgrenzen sind mit unterschiedlichen Methoden hergeleitet worden, haben jedoch gemeinsam, dass sie dem politischen Prozess entspringen. Bei ihrer Bestimmung haben nicht nur methodische Überlegungen Einfluss genommen, sondern auch politische, wie z. B. die Höhe des Budgets zur Armutsbekämpfung, der Wunsch von Politikern, Erfolge bei der Armutsbekämpfung aufzuweisen, die Größe bestimmter Interessengruppen in der Wählerschaft usw. Dieser politische Einfluss wiegt umso schwerer, als dass Armut meist gemessen wird, um entweder den Erfolg einer Politik einschätzen zu können oder Empfehlungen für politische Maßnahmen herauszuarbeiten.
___________ 19 Definition: Die eine Hälfte der Bevölkerung hat ein größeres, die andere Hälfte ein geringeres Einkommen als das Medianeinkommen. 20 Kritisch äußert sich Sen (1983a) dazu.
2.3 Armutsmaße
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2.3 Armutsmaße Ist die Armutsgrenze festgelegt, kann man zur Frage übergehen, wie das Ausmaß der gesamtgesellschaftlichen Armut erfasst werden kann. Armutsmaße21 versuchen auf diese Frage zu antworten. Hierbei gehen die vorgestellten Armutsmaße von der Annahme einer homogenen Bevölkerung aus. D. h. es wird angenommen, dass jedem Individuum i ein Einkommen yi zugeordnet werden kann und sich die Individuen nur hinsichtlich des Einkommens unterscheiden. Dabei bezeichnet n die Größe einer Bevölkerung mit der Einkommensverteilung y ( y1 , y 2 , , y n ) . Die individuellen Einkommen yi seien aufsteigend geordnet: y1 d y2 d y3 d ... d yn . Die Armutsgrenze wird mit z bezeichnet.
2.3.1 Die klassischen Armutsmaße und ihre Kritik Das klassische Armutsmaß schlechthin ist die Armutsquote, d. h. der Anteil der Armen an der Bevölkerung. Bezeichnet man die Anzahl der Armen mit q q(z ) , so lässt sich die Armutsquote H („head-count ratio“) wie folgt schreiben: H
q n
Die Armutsquote wurde bereit von Rowntree22 als Armutsmaß verwendet und wird heute noch in vielen empirischen Studien eingesetzt. So wichtig jedoch die Information über die Anzahl der Armen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung vor allem im Sinne des absoluten Ansatzes in der Armutsmessung ist, so wenig aussagekräftig ist die Armutsquote hinsichtlich anderer Aspekte der Armut. Zum Beispiel kann ein regressiver Transfer, d. h. ein Einkommenstransfer von einem Armen zu einem reicheren Individuum nicht zu einer Erhöhung der Armutsquote führen (Sen 1979a, S. 295). Entweder liegen die Einkommen von Geber und Empfänger des Transfers vorher und nachher unter der Armutsgrenze, so dass sich die Armutsquote nicht ändert, oder das Einkommen des Empfängers wird durch den Transfer über die Armutsgrenze gehoben, so dass die Armut sogar abnimmt.
___________ 21 Eine Übersicht zu Armutsmaßen bieten Foster (1984), Seidl (1988) und Zheng (1997), sowie Gös/Marggraf/Schiller (1995,1996) und Scheurle (1996). Zhengs Aufsatz ist nicht nur recht aktuell und umfassend, sondern auch sehr gut gegliedert und klar verständlich. Daher lehne ich mich bei der Darstellung an seinen Aufsatz an. 22 Vgl. die Ausführungen von Townsend (1979) zu Rowntrees Vorgehen.
32
2. Armutsmessung: eine Einführung
Das zweite Armutsmaß, das als klassisch (Sen 1979a, S. 294) bezeichnet werden kann, ist die aggregierte Einkommenslücke der Armen. Sie gibt an, wie viel Geld nötig wäre, um allen Armen ein Einkommen in Höhe der Armutsgrenze zu sichern, und beleuchtet damit einen zweiten Aspekt der Armut. Wird die aggregierte Einkommenslücke auf das Produkt von Armutsgrenze und Anzahl der Armen bezogen, ergibt sich die Armutsintensität I („income gap ratio“), die angibt, wie viel Einkommen (gemessen in Prozent der Armutsgrenze) den Armen durchschnittlich zur Erreichung der Armutsgrenze fehlt – hier auch ausgedrückt im Verhältnis des Durchschnittseinkommens der Armen P zur Armutsgrenze: q
¦ ( z yi ) I
i 1
zq
1
ȝ z
Die Armutsintensität ist als Armutsmaß insofern unbefriedigend, als dass sie eine Zunahme der Armut anzeigen kann, wenn das Einkommen eines Armen ansteigt, so dass er über die Armutsgrenze gehoben wird. Ohne dass sich an den Einkommen der verbleibenden Armen etwas geändert hat, kann die durchschnittliche Einkommenslücke zunehmen (Ravallion 1994, S. 46). Es bietet sich an, einfach Armutsquote und Armutsintensität zu kombinieren zur Armutslücke P („poverty gap“): q
P
H I
¦ ( z yi ) i 1
zn
Dieses Maß erfasst sowohl die Anzahl der Armen als auch die Höhe der Einkommenslücke, aber es erfasst nicht einen dritten, relativen Aspekt, nämlich die Verteilung der Armut. Die Armutslücke reagiert nicht auf eine Verschlechterung der Situation für einige Arme, solange diese Verschlechterung durch eine Umverteilung innerhalb der Gruppe der Armen entstanden ist. Auf der Suche nach einem Armutsmaß, das alle drei Aspekte der Armut erfasst, führte Sen (1976a) die axiomatische Herangehensweise in die Armutsmessung ein und schuf damit die Grundlage für eine Fülle von Beiträgen zur Armutsmessung.
2.3.2 Axiomatik der modernen Armutsmaße Axiome sind nichts anderes als Anforderungen, die an ein Armutsmaß gestellt werden. Sie formulieren explizit bestimmte Eigenschaften, die für ein Armutsmaß wünschenswert sein können. In einigen Fällen lässt sich nachweisen, dass nur ein einziges Armutsmaß existiert, das eine bestimmte Kombination von Axiomen erfüllt. Man sagt dann, das Armutsmaß sei durch die Axio-
2.3 Armutsmaße
33
me charakterisiert.23 Gewisse Axiome lassen sich nicht kombinieren, andere hingegen ergeben kombiniert ein weiteres Axiom.24 Einige Axiome stellen lediglich stärkere Anforderungen als andere. Aus der Fülle der vorgeschlagenen Axiome stelle ich hier nur einige vor, die Zheng (1997) als grundlegende Axiome beschrieben hat in dem Sinne, dass sie möglichst unabhängig voneinander sind und von den meisten Forschern akzeptiert werden. Im Folgenden bezeichnet P( y, z ) ein Armutsmaß und D( y, z ) die Gruppe der Armen in Abhängigkeit der Einkommensverteilung y und der Armutsgren ze z.
Fokusaxiom25 Seien y0 und y1 zwei Einkommensverteilungen mit y i0 i D( y 0 , z )
D ( y 1 , z ) , dann gilt: P ( y 0 , z )
y i1 für alle
P( y 1 , z ) .
Das heißt, solange sich nur die Einkommensverteilung der Nichtarmen ändert, soll dies keine Auswirkungen auf das Ausmaß der Armut haben. Dies ist wünschenswert für ein Armutsmaß vor allem aus Sicht des absoluten Ansatzes. Die Tatsache, zur Gruppe der Armen zu gehören, erhält dadurch Gewicht, und ein Vergleich der Situation eines Armen mit der Situation von Nichtarmen wird verhindert. Jedoch kann die Anzahl der Nichtarmen bzw. der Gesamtbevölkerung nach wie vor Einfluss auf das Armutsmaß haben.
Stetigkeitsaxiom P( y, z ) ist eine stetige Funktion der Einkommensverteilung y für jede beliebige Armutsgrenze z.
Die Stetigkeit des Armutsmaßes bedeutet, dass es keinen Sprung macht bei einer geringfügigen Veränderung eines Einkommens. Es ist umstritten, ob Stetigkeit auch an der Armutsgrenze wünschenswert für ein Armutsmaß ist. Einerseits ist es in Anbetracht der Willkür, die der Armutsgrenze anhaftet, gut, wenn das Armutsmaß stetig ist, so dass der Übergang von Armut zu Nichtarmut stetig ist. Stetigkeit ist somit eine Eigenschaft, die der ___________ 23
Z. B. hat Sen (1976a) sein Armutsmaß charakterisiert, allerdings hat er dafür einige Axiome eingeführt, die später kritisiert wurden, weil sie willkürlich erscheinen. 24 Vgl. hierzu den Aufsatz von Donaldson/Weymark (1986), der insbesondere die Rolle der Stetigkeit bei der Kombination von Axiomen hervorhebt. 25 Das Fokusaxiom wurde von Sen (1976a) eingeführt.
2. Armutsmessung: eine Einführung
34
relativen Auffassung von Armut entspricht, weil sie die Bedeutung, die das Überschreiten der Armutsgrenze gemäß der absoluten Auffassung besitzt, „herunterspielt“. Andererseits ist Unstetigkeit an der Armutsgrenze ein Ausdruck für den Wert, den man der Tatsache, dass jemand arm ist, beimisst, und deshalb wünschenswert für Anhänger der absoluten Auffassung.26
Replikationsinvarianzaxiom P( y k , z )
P( y, z ) , falls n( y k )
k n( y ) und y k
( y, y, y,... y ) für eine k mal
beliebige ganze Zahl k. Das Replikationsinvarianzaxiom wurde aus der Ungleichheitsmessung übernommen.27 Es ermöglicht den Vergleich von Einkommensverteilungen unterschiedlicher Größe, denn jedes Paar von Einkommensverteilungen lässt sich auf dieselbe Größe replizieren.
Symmetrieaxiom28 P( y 0 , z )
P( y, z ) , falls y 0 aus y durch eine Permutation29 hervorgeht.
Dieses Axiom besagt, dass nur die Höhe des Einkommens eines Individuums entscheidend ist, nicht der Name oder sonst eine Eigenschaft. Es ermöglicht, mit geordneten Einkommensverteilungen zu arbeiten (wie das hier geschieht, s. S. 31), und ist weitgehend unumstritten.
Schwaches Monotonieaxiom Seien y 0 und y1 zwei Einkommensverteilungen für die gilt: es gibt ein j D( y 0 , z ) D( y 1 , z ) : y 0j y 1j und für alle i z j gilt yi0
yi1 . Dann gilt:
P( y 0 , z ) ! P( y1 , z ) .
___________ 26 Vgl. Bourguignon/Fields (1990, 1997), die zeigen, dass die Einführung einer Unstetigkeitsstelle an der Armutsgrenze Auswirkungen auf die Armutsbekämpfungsstrategie hat, die durch das Armutsmaß nahegelegt wird. 27 Chakravarty (1983a) führte dieses Axiom in die Armutsmessung ein. 28 Manchmal wird es auch Anonymitätsaxiom genannt. 29 Eine Permutation liegt vor, falls gilt y0=yM, wobei M eine Permutationsmatrix ist, also ein Matrix, deren Elemente nur aus 0 und 1 bestehen und deren Reihen und Spalten sich zu eins summieren.
2.3 Armutsmaße
35
Wenn also die Anzahl der Armen konstant bleibt, sich nur das Einkommen eines Armen erhöht und die Einkommen aller anderen sich nicht ändern, soll das Armutsmaß eine Verringerung der Armut anzeigen. Das Monotonieaxiom wurde von Sen (1976a) bei der Erörterung der klassischen Armutsmaße eingeführt. Die Armutsquote ist nämlich insofern unbefriedigend, als dass sie dieses Axiom nicht erfüllt, was die Armutsintensität hingegen tut. Der Grundgedanke dieses Axioms ist, dass es wichtig ist, wie arm jemand ist. Dies ist der Kern der relativen Auffassung, nach der die Armut relativ zur Gesellschaft gesehen werden muss (Bourguignon/Fields 1997). Die relative Auffassung liegt auch den nächsten beiden Axiomen zugrunde, die explizit relative Betrachtungen in Form von Vergleichen anstellen.
Schwaches Transferaxiom Seien y 0 und y1 zwei Einkommensverteilungen für die gilt: yi0 alle i z j und i z k
und y 0j ! y1j ! y1k ! y k0 , y 0j y1j
k D( y 0 , z ) D( y1 , z ) und D( y 0 , z )
yi1 für
y 1k y k0 für
D( y1 , z ) . Dann gilt: P( y 0 , z )
! P( y1 , z ) .
Auch dieses Axiom hat Sen (1976a) eingeführt. Es betrachtet einen progressiven Transfer, d. h. einen Transfer von einem reicheren Individuum zu einem armen, und fordert, dass das Armutsmaß eine Verringerung der Armut durch den Transfer anzeigen soll. Das hier eingeführte Transferaxiom heißt „schwach“, weil es keine Veränderung der Anzahl der Armen zulässt. Es ist daher mit der absoluten Auffassung von Armut vereinbar, die dem Überschreiten der Armutsgrenze einen besonderen Wert beimisst (s. o.). Einige Autoren30 fordern ein starkes Transferaxiom, das auch dann noch eine Abnahme der Armut durch einen progressiven Transfer feststellt, wenn der Geber durch den Transfer arm wird (die Armutsgrenze überschreitet). Dies entspricht eher der relativen Auffassung von Armut, denn der Abnahme der Ungleichheit durch den progressiven Transfer wird mehr Gewicht beigemessen, als der Zunahme der Anzahl der Armen. Donaldson und Weymark (1986) haben gezeigt, dass ein stetiges Armutsmaß, welches das schwache Transferaxiom erfüllt, auch das starke Transferaxiom erfüllt.
___________ 30 Insbesondere Thon (1979, 1981) diskutiert diesen Punkt. Siehe auch Foster (1984) und die Zusammenfassung der Diskussion bei Zheng (1997).
2. Armutsmessung: eine Einführung
36
Transfersensitivitätsaxiom Seien y 1 und y 2 zwei Einkommensverteilungen, die aus der Einkommensverteilung y 0 durch einen Transfer des Betrags G hervorgegangen sind, wobei in y 1 der Betrag von i zu einem Individuum mit dem Einkommen y i0 h und in y 2 von j zu einem Individuum mit dem Einkommen y 0j h
transferiert worden ist und gilt: z ! y 0j ! y i0 und D( y 0 , z )
D( y1 , z )
D( y 2 , z ) . Dann gilt: P( y 1 , z ) P( y 0 , z ) ! P( y 2 , z ) P( y 0 , z ) .
Hier werden zwei regressive Transfers – d. h. Umverteilungen von einem armen Individuum zu einem reicheren – des gleichen Betrags verglichen und gefordert, dass derjenige regressive Transfer eine stärkere Zunahme der Armut zur Folge hat, in dem ein ärmerer Armer der Geber ist. Je ärmer ein Individuum ist, desto stärker fällt eine Verschlechterung seiner Situation ins Gewicht. 31
Zerlegbarkeitsaxiom32 Sei y eine Einkommensverteilung, die in m Untergruppen j=1,2,....,m mit n den Einkommensverteilungen y ( j ) und den Bevölkerungsanteilen j unn m n j terteilt ist. Dann gilt: P( y, z ) ¦ P( y ( j ) , z ) . j 1 n
___________ 31
Diese Form der Transfersensitivität wurde von Kakwani (1980) eingeführt. Daneben gibt es noch eine ähnliche, anders spezifizierte Form, die von Foster/Shorrocks (1987, 1988b, c) eingeführt wurde. Sie betrachtet den Ausgleich eines regressiven durch einen progressiven Transfer, so dass Varianz und Durchschnittseinkommen der Armen unverändert bleiben. Siehe auch Fußnote 43 zur Defnition eines FACT. Kakwani schlägt noch ein weiteres Transfersensitivitätsaxiom vor, das auf dem Rang der Einkommen der beteiligten Individuen basiert. Vgl. dazu Foster (1984, S. 229) oder Seidl (1988). 32 Das Zerlegbarkeitsaxiom („Decomposability“) wurde von Foster/Greer/Thorbecke (1984) eingeführt. Eine schwächere Anforderung ist die Untergruppenmonotonie. Sie besagt, dass eine Veränderung der gemessenen Armut einer Untergruppe eine gleichgerichtete Veränderung der insgesamt gemessenen Armut zufolge haben soll, gegeben dass die Größe der Untergruppe unverändert ist und sich in der anderen Untergruppe die Armut nicht ändert. Foster/Shorrocks (1991) diskutieren den Zusammenhang zwischen der Untergruppenmonotonie und der Zerlegbarkeit. Sie zeigen, dass ein Armutsmaß, welches stetig ist und das Axiom der Untergruppenmonotonie erfüllt, dargestellt werden kann als Transformation eines zerlegbaren Armutsmaßes. Dies ist für alle angeführten Maße (siehe Tabelle 1) möglich. Daher sehe ich hier davon ab, Untergruppenmonotonie formal einzuführen, die Zheng (1997) zu seinen Basisaxiomen zählt, sondern führe direkt das Zerlegbarkeitsaxiom ein.
2.3 Armutsmaße
37
Ein Armutsmaß soll die Armut als Summe der Armut verschiedener Bevölkerungsgruppen – gewichtet mit ihrem Bevölkerungsanteil – messen. Dies ist vor allem aus praktischen Erwägungen wünschenswert, denn so lässt sich leichter analysieren, welche Bevölkerungsgruppen besonders von Armut betroffen sind und wie welche Bevölkerungsgruppen auf eine politische Maßnahme reagieren. In diesem Sinne ist es damit möglich, nach den Ursachen der Armut zu forschen. Allerdings wird somit ausgeschlossen, dass es wechselseitige Wirkungen zwischen den Gruppen gibt, weil bspw. sich der Abstand zwischen den Gruppen verringert und eine Gruppe ihre Situation relativ zu einer anderen Gruppe beurteilt, wie Sen (1992a, S. 106) bemerkt. Daher zweifelt er an, ob die Eigenschaft der Zerlegbarkeit immer wünschenswert ist.
2.3.3 Drei exemplarische Armutsmaße
Nach Zheng (1997) können Armutsmaße in drei Gruppen eingeteilt werden: die Gruppe der Senschen Armutsmaße, d. h. derjenigen Maße, die auf dem Armutsmaß von Sen basieren, die Gruppe der ethischen Armutsmaße und die Gruppe der zerlegbaren Armutsmaße. Ich möchte hier für jede dieser Gruppen stellvertretend je ein Maß vorstellen. Am Ende des Abschnitts befindet sich Tabelle 1, die neben diesen exemplarischen noch weitere Armutsmaße dieser Gruppen mit ihren Eigenschaften aufführt und einen Überblick ermöglicht.
Das Sen-Maß Das Sen-Maß ist nicht nur ein Beispiel für diese Gruppe, sondern der Ausgangspunkt für sie. Das Maß ist wie folgt definiert: q 2 ( z yi )(q 1 i) . ¦ (q 1)nz i 1
PSEN ( y, z )
Sen aggregiert also die gewichteten individuellen Einkommenslücken und normalisiert sie dann, wobei der Rang eines Individuums als Gewicht fungiert. (Der Ärmste hat den höchsten Rang und somit das höchste Gewicht.) Die Gewichtung mit dem Rang entspricht dem Vorgehen bei der Berechnung des Gini-Koeffizienten, so dass sich das Sen-Maß für große Bevölkerungen auch schreiben lässt als: c PSEN
>
@
H I (1 I )G p für n( y ) o f .
Gp bezeichnet dabei den Gini-Koeffizienten für die Einkommensverteilung der Armen.
38
2. Armutsmessung: eine Einführung
Das Sen-Maß erfüllt das Fokus-, das schwache Monotonie- und Transferaxiom, es verstößt jedoch gegen das Stetigkeits-, das Transfersensitivitäts- und das Zerlegbarkeitsaxiom. Die Varianten des Sen-Maßes33 behalten den Rang als Gewichtung bei und erfassen auf diese Weise den Verteilungsaspekt der Armut. Alle Maße dieser Gruppe erfüllen daher das schwache Monotonie- und das schwache Transferaxiom, lassen sich aber nicht zerlegen.
Das Maß von Blackorby und Donaldson Blackorby und Donaldson (1980) führten zusammen mit ihrem Maß auch den Begriff „ethische Armutsmaße“34 ein, der für solche Armutsmaße steht, die explizit Bezug nehmen auf eine Soziale Wohlfahrtsfunktion, die dem Maß zugrunde liegt. Die Eigenschaften ethischer Armutsmaße35 hängen daher immer von den Eigenschaften der zugrunde gelegten Sozialen Wohlfahrtsfunktion ab. Die ethischen Armutsmaße unterscheiden sich darin, wie die Soziale Wohlfahrtsfunktion in das Maß einfließt. Blackorby und Donaldson führen in Analogie zum Äquivalenzeinkommen von Atkinson-Kolm-Sen36 ein repräsentatives Einkommen yp ein, das durch die Soziale Wohlfahrtsfunktion in folgender Weise bestimmt ist: Die Soziale Wohlfahrtsfunktion bewertet die bestehende Einkommensverteilung der Armen genauso wie die Verteilung, die entsteht, wenn alle Armen das repräsentative Einkommen hätten. Das Maß von Blackorby und Donaldson ist dann wie folgt definiert: PBD ( y, z )
ªz yp º H« ». ¬« z ¼»
Auch das Sen-Maß (für große Bevölkerungen) lässt sich in dieser Weise schreiben: P 'SEN ( y, z )
ª z yGp º H« », «¬ z »¼
___________ 33 Dazu zählen die Vorschläge von Anand (1977), Kakwani (1980), Thon (1981), Takayama (1979) und Shorrocks (1995). 34 Blackorby und Donaldson übertragen damit die Idee ethischer Verteilungsmaße auf die Armutsmessung. 35 Zu den ethischen Armutsmaßen zählen ferner die Vorschläge von Hamada/Takayama (1977, wiedergegeben in Zheng 1997), Kakwani (1980), Chakravarty (1983a), Clark/Hemming/Ulph (1981) und Vaughan (1987). Vgl. auch den Ansatz von Pyatt (1987). 36 Dieses Konzept wird in Büchern zur (ökonomischen) Verteilungstheorie erläutert, siehe bspw. Sen/Foster (1997, S. 38) und Lüthi (1981, S. 42ff).
2.3 Armutsmaße
39
wobei yGp das repräsentative Einkommen der Armen ist, das gemessen an der Gini-Wohlfahrtsfunktion dieselbe Wohlfahrt erzeugt wie die jetzige Einkommensverteilung der Armen. Das Sen-Maß lässt sich also interpretieren als Produkt aus Armutsquote und der prozentualen Lücke zwischen repräsentativem Einkommen der Armen und der Armutsgrenze (Zheng 1997, S. 147). Falls die Soziale Wohlfahrtsfunktion bestimmte Eigenschaften37 hat, erfüllt das Maß von Blackorby und Donaldson das Fokus-, das schwache Monotonieund das schwache Transferaxiom, es verstößt hingegen gegen das Stetigkeits-, das Transfersensitivitäts- und Zerlegbarkeitsaxiom.
Das Maß von Foster, Greer und Thorbecke Die Armutsmaße, die das Zerlegbarkeitsaxiom erfüllen, gehören zur Gruppe der zerlegbaren Armutsmaße38. Foster, Greer und Thorbecke (1984) waren zwar nicht die ersten, die Zerlegbarkeit als eine wünschenswerte Eigenschaft für Armutsmaße betrachteten, aber sie formulierten diese Eigenschaft als erste in Form eines Axioms und führten ein zerlegbares Maß ein, das nach ihnen benannt ist: PFGT ( y, z )
1 q ¦ ( z yi )( z yi ) z n i 1 2
>
@
H I 2 (1 I ) 2 C 2p ,
wobei C p2 den Variationskoeffizienten der Einkommensverteilung der Armen bezeichnet. Analog zu Sen aggregieren sie die gewichteten individuellen Einkommenslücken und normalisieren das Ergebnis anschließend, aber sie verwenden die Einkommenslücke selbst als Gewicht (ähnlich wie der Variationskoeffizient). Ihr Maß haben sie daher zur Klasse der PĮ -Maße verallgemeinert, indem sie den Grad, mit dem die Einkommenslücke potenziert wird, nicht festgelegt haben: Į
PĮ ( y, z )
1 q§ y · ¨1 i ¸ mit Į t 0 . ¦ n i 1© z ¹
___________ 37 Die Soziale Wohlfahrtsfunktion muss rekursiv, stetig, monoton steigend, Schurkonkav und symmetrisch sein, vgl. Zheng (1997, S. 147f). 38 Zu dieser Gruppe gehören neben der Familie der Foster-Greer-Thorbecke Maße die Maße von Watts (1968), Clark/Hemming/Ulph (1981), Chakravarty (1983b) und Hagenaars (1987).
Armutsquote
ja ja ja nein nein nein nein ja nein nein nein nein nein ja ja ja ja ja ja
Shorrocks
Kakwani
Anand
Sen
Intensität
ja ja nein ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein* ja nein nein ja ja nein nein nein nein ja ja ja nein ja ja ja ja nein ja nein nein nein nein ja nein ja nein nein nein nein** nein nein nein ja nein nein nein nein nein n ein ja ja ja ja ja nein ja nein ja nein ja ja nein ja nein ja ja ja ja nein ja nein nein nein nein ja nein ja nein ja ja ja ja ja ja nein nein nein nein nein nein nein nein ja ja ja ja nein ja ja ja ja ja ja ja ja nein nein nein nein nein nein nein ja ja ja ja ja ja ja nein nein nein nein nein nein nein
Thon
Blackorby/ Donaldson ja ja nein nein nein nein nein nein ja nein ja nein ja nein ja ja nein ja nein nein
nein
nein nein nein nein
ja ja
ja ja nein ja ja ja nein nein ja ja ja ja ja nein nein ja nein ja nein
Clark/ Hemming/ Ulph 1 ja ja ja nein ja nein ja nein ja ja ja nein ja nein ja ja nein ja nein
Foster/ Greer/ Thorbecke ja ja ja ja ja ja ja*** ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein ja nein
Zerlegbare Maße
ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein ja nein ja nein
ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein ja ja nein ja nein
Watts
ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein nein ja nein nein nein
Hagenaars
Quelle: Zheng (1997, S. 143) ergänzt um Angaben zum Maß von Anand und Takayama/Hamada (vgl. hierzu Seidl 1988, S. 111 und 120) und zum Maß von Shorrocks (Shorrocks 1995) sowie um Angaben zur Erfüllung der von Blackorby und Donaldson (1980) ausführlich betrachteten Axiome „scale invariance“ und „translation invariance“ (vgl. hierzu auch Zheng 1997, S. 138f.). Bei den im Text nicht weiter vorgestellten Axiomen habe ich die englischen Bezeichnungen beibehalten, zu den Definitionen vgl. Zheng (1997)
* ja für große Bevölkerungen; ** ja für große k bei fester Bevölkerungsgröße, vgl. Foster (1984), S. 229f.; *** ja gilt nur für D>2. Die Eigenschaften des Maßes von Takayama/Hamada hängen von der verwandten Nutzenfunktion ab (Seidl 1988, S. 120).
Axiome FokusSymmetrieReplikationsinvarianzStetigkeitspoverty line regressive transfer Transfersensitivitätssubgroup monotonicity Schwaches Monotonie Starkes Monotonie Schwaches Transfer progressive transfer montonicity sensitivity Zerlegbarkeitsnonpoverty growth Normalisierungspoverty growth scale invariance translation invariance
Takayama
Ethische Maße Takayama/ Hamada
Sen-Maß und Variationen Chakravarty 1
Armutsmaße Chakravarty 2
Tabelle 1: Eigenschaften einiger Armutsmaße
Clark/ Hemming/ Ulph2
Klassische Maße
40 2. Armutsmessung: eine Einführung
2.4 Armutsordnungen
41
Zu dieser Klasse gehört die Armutsquote mit Į 0 und die Armutslücke mit Į 1 . Das Maß von Foster, Greer und Thorbecke (mit Į 2 ) erfüllt alle vorgestellten Axiome wie auch die anderen Maße (mit Į t 2 ) aus dieser Gruppe (s. Tabelle 1). Tabelle 1 fasst die Ergebnisse dieses Abschnitt zusammen und ergänzt sie um die Betrachtung weiterer Armutsmaße und Axiome. Die behandelten Armutsmaße und Axiome sind in Tabelle 1 hervorgehoben. Daneben sind weitere Armutsmaße mit ihren Eigenschaften aufgeführt, sowie weitere Axiome genannt, die in der Literatur zu finden sind, um eine Idee vom Umfang der hier nicht behandelten Literatur zu vermitteln. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Axiomatik zu mehr Klarheit über die Eigenschaften von Armutsmaßen verhilft und die Stärken und Schwächen der Armutsmaße zu zeigen vermag. Die Wahl des Armutsmaßes bleibt jedoch letztlich eine normative Entscheidung und hängt ferner vom Forschungszweck und von den Daten ab (Seidl 1988, S. 136ff).
2.4 Armutsordnungen Sowohl die Entscheidung über eine Armutsgrenze als auch die Entscheidung über ein Armutsmaß ist in gewissem Sinne willkürlich. Daher stellt sich die Frage, ob es möglich ist, Einkommensverteilungen übereinstimmend gemäß der in ihnen enthaltenen Armut (partiell) zu ordnen, ohne sich auf eine Armutsgrenze oder ein Armutsmaß festlegen zu müssen. Wenn man nach Übereinstimmung in der Ordnung über verschiedene Armutsgrenzen oder verschiedene Armutsmaße hinweg sucht, ist vorauszusehen, dass es Situationen geben wird, in denen keine Übereinstimmung erzielt werden kann, die also in der Armutsordnung39 nicht enthalten sind. Daher werden solche Armutsordnungen partiell, d. h. unvollständig sein. Als Faustregel lässt sich festhalten: Je größer die Vollständigkeit einer Ordnung, desto kleiner die Menge der Armutsmaße, auf die sich diese Ordnung stützt, bzw. desto kleiner der Bereich, in dem die Armutsgrenze liegen darf. In Übereinstimmung mit der Einteilung von Zheng (2000) wird hier unterschieden zwischen Armutsordnungen, die sich auf einen Schwankungsbereich für die Armutsgrenze beziehen („poverty-line orderings“, Abschnitt 2.3.1), und Armutsordnungen, die sich auf ganze Klassen von Armutsmaßen beziehen („poverty-measure orderings“, Abschnitt 2.3.2).
___________ 39 Einen guten und ausführlichen Überblick über Armutsordnungen bietet Zheng (2000).
2. Armutsmessung: eine Einführung
42
2.4.1 Armutsordnungen: Variation der Armutsgrenze
Foster und Shorrocks (1988a, b, c) waren die ersten, die das Konzept der stochastischen Dominanz für die Armutsmessung nutzten. Sie konzentrierten sich darauf, die Armutsgrenze nicht festlegen zu müssen. Ihrer Festlegung hafte immer Willkür an, zumal der Einkommensunterschied zwischen einem Armen und einem Nichtarmen geringfügig sein könne. Foster und Shorrocks beginnen mit der Feststellung, dass eine Bevölkerung, von der mindestens ein Mitglied einen Betrag quasi „von außerhalb geschenkt“ bekommt, reicher wird durch dieses „Geschenk“ (Dominanz erster Ordnung). Sie fahren fort mit der Feststellung40, dass eine Umverteilung „von oben nach unten“ zur Verminderung der Ungleichheit und daher zu einer Verringerung der relativen Armut führt (Dominanz zweiter Ordnung). Schließlich betrachten sie eine sehr spezielle Form der Transfersensitivität, bei der eine Umverteilung „von unten nach oben“ durch eine gegenläufige Umverteilung zumindest kompensiert werden kann und so die Armut zumindest nicht vermehrt wird (Dominanz dritter Ordnung). Nachfolgend sind ihre Definitionen und Ergebnisse wiedergegeben, wobei eine Einkommensverteilung die andere dominiert, wenn mehr Armut in ihr herrscht.
Dominanz erster Ordnung y 1 dominiert y 0 schwach in erster Ordnung
: P0 ( y1 , z ) t P0 ( y 0 , z )z und für die Armutsquote P0 ( y, z ) y d y i und j: y y 1 i
0 i
1 j
H
0 j
y 0 entsteht aus y 1 durch Inkremente (Zuwächse). Die Armutsquote P0 ist für y 0 geringer als die für y1 oder gleich, wenn sich die beiden Einkommensverteilungen nur durch Zuwächse eines oder mehrerer Einkommen unterscheiden, gleichgültig, wo die Armutsgrenze gezogen wird. In der graphischen Darstellung (Abbildung 1) bedeutet dies, solange sich die Verteilungsfunktion von y1 nie links oder oberhalb der von y 0 befindet, dominiert y1 im Sinne von mehr Armut. Die Verteilungsfunktion wird in diesem Zusammenhang auch „Armutsinzidenzkurve“ 41 genannt.
___________ 40
Zu strittigen Punkten an dieser Feststellung vgl. Amiel/Cowell (1998). Ravallion (1994) führt den Begriff „poverty incidence curve“ ein, den ich ins Deutsche übertragen habe. 41
2.4 Armutsordnungen
43
Kumulierter Anteil der Bevölkerung 1 3/4 1/2 Beispiel 1:
1/4
y0 = (1, 4, 5, 10) y0, y1 1
5
y1 = (2, 4, 6, 10)
10 (Foster/Shorrocks 1988c, S. 183)
Armutsinzidenzkurve Eigene Darstellung
Abbildung 1: Dominanz erster Ordnung – Armutsinzidenzkurve
Dominanz zweiter Ordnung y 1 dominiert y 0 schwach in zweiter Ordnung
: P1 ( y 1 , z ) t P1 ( y 0 , z )z für die Armutslücke P1 ( y, z )
i
i
y 1k d ¦ y k0 i ¦ k 1 k 1
1, , n
und
j
j
k 1
k 1
H I
j : ¦ y 1k ¦ y kj
y 0 entsteht aus y 1 durch eine Reihe von progressiven Transfers und/oder Inkrementen. Die Armutslücke in y 0 ist geringer als die in y 1 oder gleich, falls sich die Einkommensverteilungen nur durch progressive Transfers oder Zuwächse unterscheiden, gleichgültig, wo die Armutsgrenze gezogen wird. Graphisch bedeutet dies, dass sich die Verteilungsfunktionen schneiden können. Geht man aber zu den Armutsdefizitfunktionen42 über, also den Funktionen, welche die Fläche unter den Verteilungsfunktionen abbilden, so darf die zu y 1 gehörende ___________ 42 Ravallion (1994) spricht von „poverty deficit curve“, weil die Funktion für jede beliebige Armutsgrenze abbildet, wie groß die Einkommenslücke der Armen pro Kopf der Gesamtbevölkerung ist. Es ist die graphische Darstellung des Integrals über die Verteilungsfunktion.
2. Armutsmessung: eine Einführung
44
Armutsdefizitkurve niemals links oberhalb der zu y 0 gehörenden Kurve liegen (Abbildung 2). Fläche unter der Armutsinzidenzkurve
Kumulierter Anteil der Bevölkerung
5
1
4 3/4 3
C 1/2
2
B
1
1/4 A
y0, y1
y0, y1 1
5
10
1
Armutsinzidenzkurve
5
10
Armutsdefizitkurve
Beispiel 2 (Foster/Shorrocks 1988c, S. 186):
y0 = (1, 5, 5, 10)
y1 = (2, 4, 6, 10)
Eigene Darstellung
Abbildung 2: Dominanz zweiter Ordnung – Armutsdefizitkurve
Dominanz dritter Ordnung y 1 dominiert y 0 schwach in dritter Ordnung
: P2 ( y 1 , z ) t P2 ( y 0 , z )z für das Maß von Foster, Greer und Thorbecke mit Į=2: P2 ( y, z ) PFGT y 0 entsteht aus y 1 durch eine Reihe von FACTs, progressiven Transfers und/oder Inkrementen. Dabei bezeichnet FACT einen „favourable composite transfer“, d. h. einen regressiven Transfer, der durch einen progressiven Transfer in dem Sinne ausgeglichen wird, dass Varianz und Durchschnittseinkommen der Verteilung
2.4 Armutsordnungen
45
gleich bleiben.43 Auch diese Dominanzbedingung lässt sich graphisch ablesen, und zwar an den Armutsstärkekurven44 („poverty severity curves“, Ravallion 1994), welche die Fläche unter den Armutsdefizitkurven messen. Liegt die Armutsstärkekurve von y 1 nirgends links oberhalb der von y 0 , so dominiert die Verteilung y 1 – enthält also mehr Armut – gleichgültig, wo die Armutsgrenze gezogen wird (vgl. Abbildung 3). Drei Bemerkungen sind zu den Armutsordnungen von Foster und Shorrocks noch zu machen. Erstens bezieht sich jede Armutsordnung bei ihnen auf (nur) ein Armutsmaß und gilt für alle Armutsgrenzen. Es ist fraglich, ob dies für die Armutsmessung, die sich ja auf den unteren Teil der Einkommensverteilung konzentrieren sollte (Fokusaxiom), wünschenswert ist. Diese Skepsis wird gestützt durch ein Ergebnis von Foster und Shorrocks (1988a), mit dem sie die Äquivalenz zwischen ihrer Dominanz zweiter Ordnung und der Generalisierten Lorenz-Dominanz zeigen, also die Äquivalenz einer Armutsordnung mit einem Konzept aus der Wohlfahrtsmessung. Foster und Shorrocks (1988c) halten es selbst für sinnvoll, den Bereich, in dem die Armutsgrenze schwanken darf, zumindest nach oben hin einzuschränken, denn über eine solche maximale Armutsgrenze dürfte leichter Einigkeit zu erzielen sein, als über eine einfache Armutsgrenze. Sie schlagen vor, ihre Dominanzbedingungen auf zensierte Einkommensverteilungen45 anzuwenden. Zweitens gehören die Armutsmaße, die Foster und Shorrocks betrachten, alle zur Klasse der Foster-, Greer- und Thorbecke-Maße. Diese Klasse erfüllt das Replikationsinvarianzaxiom, so dass sich mit den daraus resultierenden Armutsordnungen auch Bevölkerungen unterschiedlicher Größe und mit unterschiedlichem Durchschnittseinkommen vergleichen lassen. Drittens zeigen Foster und Shorrocks (1988b, c), dass ihre Armutsordnungen immer vollständiger werden, dass also die Dominanz dritter Ordnung vollständiger ist als die Dominanz zweiter Ordnung und diese wiederum vollständiger als die erster Ordnung. Je vollständiger eine Ordnung, desto mehr Paare von Einkommensverteilungen können miteinander verglichen und ___________ 43
Foster/Shorrocks (1987) führen den FACT als eine besondere Form der Transfersensitivität ein und definieren ihn folgendermaßen: Eine Verteilung x entsteht aus einer Verteilung y durch einen FACT dann und nur dann, wenn i, j, k und l existieren, so dass: x y ǻ (ei e j ) į (el ek ) mit ǻ ! 0;į ! 0 ; ı 2 ( x) ı 2 ( y ) ; xi d x j d xk xl ;
yi y j d yk d yl wobei ei 44
(0,,0,1,0,0) , mit 1 genau an i-ter Stelle.
Die Armutsstärkekurve ist die graphische Darstellung des Integrals über die Armutsdefizitfunktion. 45 Zensierte Einkommensverteilungen werden aus der ursprünglichen Einkommensverteilung erzeugt, indem alle Einkommen oberhalb der Armutsgrenze durch den Wert der Armutsgrenze selbst ersetzt werden. Eingeführt wurde diese Idee von Hamada/Takayama (1977).
2. Armutsmessung: eine Einführung
46
geordnet werden. (Wie die graphisch illustrierten Beispiele in den Abbildungen 1, 2 und 3 zeigen.) Die erhöhte Vollständigkeit wird erreicht durch strengere Anforderungen an das Armutsmaß: Die Armutsquote (Dominanz erster Ordnung) erfüllt weder Transfer- noch Transfersensitivitätsaxiom, die Armutslücke (Dominanz zweiter Ordnung) erfüllt immerhin das Transferaxiom, wenn auch nicht die Bedingung der Transfersensitivität, wie sie das Maß von Foster, Greer und Thorbecke (Dominanz dritter Ordnung) erfüllt. Kumulierter Anteil der Bevölkerung 1 3/4 1/2 Beispiel 3:
1/4
y0 = (1, 5, 7, 9) y1 = (2, 4, 6, 10)
y0, y1 1
5
10
(Foster/Shorrocks 1988c, S. 189)
Armutsinzidenzkurve Fläche unter der Armutsdefizitkurve
Fläche unter der Armutsinzidenzkurve 5
12
4
10
3
8 6
2
4 1
2 y0, y1 1
5 Armutsdefizitkurve
10
y0, y1 1
5 Armutsstärkekurve
Eigene Darstellung
Abbildung 3: Dominanz dritter Ordnung – Armutsstärkekurve
10
2.4 Armutsordnungen
47
2.4.2 Armutsordnungen: zusätzlich Variation der Armutsmaße
Nicht nur die Festlegung der Armutsgrenze erscheint willkürlich, sondern ebenso die Festlegung auf ein Armutsmaß. Gerade im Hinblick auf die politische Relevanz der Armutsmessung ist eine breite Basis für sie wünschenswert. Ein Konsens erscheint wahrscheinlicher, wenn die Armutsordnung von mehreren verschiedenen Armutsmaßen gestützt wird, die freilich eine Gemeinsamkeit bezüglich bestimmter Eigenschaften aufweisen müssen, so dass von einer Klasse von Armutsmaßen gesprochen werden kann. Die Darstellung der Dominanzrelationen für die Klassen von Armutsmaßen erfolgt in stetiger Form.46 Die Verteilungsfunktion F(y) tritt daher an Stelle der Einkommensverteilung y ( y1 , y 2 , , y n ) . Mit f(y) wird die zu F(y) gehörende Dichtefunktion bezeichnet und mit G(y) das Integral über F(y), also die y
stetige Armutsdefizitkurve: G ( y )
³0 F (t ) dt .
Ein Armutsmaß schreibt sich
nun wie folgt: P( F , z ) . Die Ergebnisse von Foster und Shorrocks lassen sich auf die Klasse der additiv separablen Armutsmaße ausweiten, wie Atkinson (1987) zeigt. Allerdings muss der Bereich, in dem die Armutsgrenze variieren darf, dann von oben beschränkt werden. Additiv separable Armutsmaße lassen sich folgendermaßen schreiben: z
P( F , z)
³ p( y, z ) f ( y ) dy , 0
wobei p(y, z) eine individuelle Armutsfunktion („deprivation function“) ist. Atkinson definiert mit Hilfe von Bedingungen, die er an die individuelle Armutsfunktion stellt, zwei Unterklassen: ȇ1
^P p( y, z) ist stetig
wp( y, z ) wy d 0 y >0, z @` , das sind die
und
additiv separablen Armutsmaße, die das Monotonieaxiom erfüllen (Zheng 1999, S. 355) und ȇ2
^P P ȇ
1
und
`
w 2 p ( y, z ) wy 2 t 0 , das sind die
Maße, die zusätzlich zum Monotonieaxiom auch das starke Transferaxiom erfüllen (Zheng 1999, S. 355). Für diese Unterklassen zeigt er folgende Ergebnisse: ___________ 46 Für die Illustration der Ergebnisse von Foster und Shorrocks zu Armutsordnungen bezüglich der Armutsgrenze, erschien mir die Darstellung in diskreter Form besser geeignet. Sie zeigen ihre Ergebnisse jedoch auch in stetiger Form (Foster/Shorrocks 1988a).
2. Armutsmessung: eine Einführung
48
Schwache Dominanz erster Ordnung für additiv separable Armutsmaße F 1 dominiert F 0 schwach in erster Ordnung : P( F 1 , z ) t P( F 0 , z )P ȇ1 und z d z max F 1 ( y) d F 0 ( y)
y d z max .
Schwache Dominanz zweiter Ordnung für additiv separable Armutsmaße F 1 dominiert F 0 schwach in zweiter Ordnung : P( F 1 , z ) t P( F 0 , z )P ȇ2 und z d z max G 1 ( y ) d G 0 ( y )y d z max .
Atkinson verwendet hier – wie auch Foster und Shorrocks in den in Abschnitt 2.4.1 aufgeführten Ergebnissen – eine schwache Form der Dominanz. Er verlangt lediglich, dass die Verteilungsfunktion (bzw. Armutsdefizitkurve) zu F 1 unterhalb oder auf der zu F 0 gehörigen Verteilungsfunktion (bzw. Armutsdefizitkurve) liegt. Daher kann er nur feststellen, dass Verteilung F 1 die Verteilung F 0 schwach dominiert, d. h. dass die Armut in F 1 größer als oder gleich der Armut in F 0 ist. Man kann eine stärkere Form der Dominanz für additiv separable Armutsmaße47 zeigen, muss dafür jedoch den Bereich, in dem die Armutsgrenze variieren darf, auch von unten einschränken. Über eine solche minimale Armutsgrenze bzw. einen solchen Variationsbereich ist m. E. leichter Einigkeit zu erzielen als über eine einfache Armutsgrenze. Wie Zheng (1999) zeigt, gilt die stärkere Dominanz nur, wenn die Verteilungsfunktionen (bzw. die Armutsdefizitkurven) stärkere Bedingungen erfüllen. Auch für andere Klassen lassen sich Dominanzrelationen definieren. Insbesondere ist es möglich, für eine Klasse von Armutsmaßen, welche nur das schwache Transferaxiom erfüllen48, die so genannte gemischte Dominanz (mixed dominance) zu zeigen Howes (1993). Diese Dominanzbedingung ist dadurch charakterisiert, dass sowohl Bedingungen der Dominanz erster Ordnung als auch der Dominanz zweiter Ordnung für die Verteilungsfunktionen erfüllt sein müssen. ___________ 47 Die Klasse der additiv separablen Armutsmaße umfasst neben dem Foster-, Greerund Thorbecke-Maß noch andere zerlegbare Armutsmaße, so die Maße von Watts, Chakravarty 2 und Clark, Hemming und Ulph 2. Eigenschaften dieser Maße sind in Tabelle 1 aufgeführt. Zheng (1997) stellt sie vor. 48 Zu dieser Klasse gehört auch das Sen-Maß, vgl. Tabelle 1.
2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung
49
Neben Dominanzbedingungen, die sich auf den Vergleich der Einkommensverteilungen stützen, lassen sich Dominanzbedingungen für die Verteilung der Einkommenslücken definieren.49 Diese alternative Darstellung lässt naturgemäß keine Schwankung der Armutsgrenze zu, weil mit deren Hilfe die Einkommenslücke definiert ist, bietet aber Lösungen für einige andere Probleme an. 50
2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung Die bisher vorgestellte Art der Armutsmessung, insbesondere die Verwendung von Armutsmaßen, basiert auf der Annahme, dass die Individuen sich nur hinsichtlich ihres Einkommens unterscheiden (vgl. Abschnitt 2.3). Menschen unterscheiden sich jedoch auch bezüglich ihres Geschlechts, ihres Alters, ihres Gewichts, ihrer Größe, ihrer Tätigkeit, ihrer körperlichen Konstitution, ihrer Talente, ihrer Vorlieben, ihres Umfelds usw. Einige dieser Unterschiede sind unbestritten relevant für die Armutsmessung und sind bereits im Zusammenhang mit der Festsetzung der Armutsgrenze erwähnt worden. Die Relevanz anderer Merkmale für die Armutsmessung ist umstritten. Einigkeit besteht darin, dass die Verschiedenartigkeit der Menschen in die Armutsmessung einfließen muss, zu unterscheiden sind jedoch zwei Wege, wie diese Multidimensionalität einfließt. Zum einen werden mehrere Dimensionen erfasst, um die Einkommen vergleichbar zu machen, und zum anderen existieren erste Überlegungen zu multidimensionalen Armutsmaßen, die davon ausgehen, dass sich nicht alle Dimensionen in Geldeinheiten umrechnen lassen. Die Vergleichbarkeit von Einkommen in Bezug auf den Lebensstandard ist aus zwei Gründen nicht direkt gegeben: Erstens sind die Menschen verschieden und haben daher unterschiedliche Bedürfnisse und zweitens sind die Einkommen nicht direkt Individuen zugeordnet, sondern meist Haushalten. Kinder erzielen bspw. kein eigenes Einkommen, so dass sich die Frage stellt, welches Einkommen ihnen zuzuordnen ist. Zudem können größere Haushalte sparsamer wirtschaften als kleine Haushalte; sie haben Skalenvorteile. Welches Einkom___________ 49 Vgl. Spencer/Fisher (1992), Shorrocks (1998) und Jenkins/Lambert (1998a, b). Des Weiteren gibt es den Ansatz von Foster/Jin (1998), die nicht die Verteilung der Einkommenslücken, sondern der Nutzenlücken zur Grundlage der Dominanzbedingungen machen. Zheng (2000, S. 447ff) fasst diese Arbeiten zusammen unter der Überschrift: „Eine alternative Charakterisierung der Ordnung verteilungssensitiver Armutsmaße“. 50 So bietet diese Dominanzrelation Lösungen für den Vergleich zwischen zwei Bevölkerungen mit unterschiedlichem Lebensstandard oder bei Berücksichtigung des Umrechnungsfaktors für Vergleiche (Kaufkraftparität bei regionalen und Inflationsrate bei intertemporalen Vergleichen). Mit der Willkür von Umrechnungsfaktoren beschäftigt sich Gustafsson (1995).
50
2. Armutsmessung: eine Einführung
men sichert einem kleinen Haushalt denselben Lebensstandard wie einem großen? Zum einen soll das Einkommen angemessen sein in Bezug auf die verschiedenen Eigenschaften (in diesem Zusammenhang werden sie meist Bedürfnisse genannt) der Haushaltsmitglieder und zum anderen soll dabei der Möglichkeit der Einsparung, die ein großer Haushalt gegenüber einem kleinen hat, angemessen berücksichtigt werden. Im Folgenden wird zunächst der übliche Weg, diesem Problem zu begegnen, kurz erläutert. Es ist die Verwendung von Äquivalenzskalen zur Ermittlung von so genannten Äquivalenzeinkommen (Abschnitt 2.5.1). Die Verwendung dieser Äquivalenzeinkommen und ihrer Verteilung als Grundlage für die Armutsmessung ist jedoch problematisch und die Spezifizierung der Äquivalenzskalen umstritten. Das Konzept der sequentiellen Dominanz (Abschnitt 2.5.2) geht einer genauen Spezifikation von Äquivalenzskalen aus dem Weg, sondern vergleicht die Einkommensverteilungen gruppenweise. Auch wenn Äquivalenzskalen und sequentielle Dominanz die Annahme aufheben, Menschen unterschieden sich nur anhand ihres Einkommens, so messen sie doch die Armut in dieser Dimension. Multidimensionale Armutsmaße hingegen messen die Armut bezüglich verschiedener Dimensionen gleichzeitig. In Abschnitt 2.5.3 wird schematisch dargestellt, welche Methoden zum Umgang mit Multidimensionalität unterschieden werden können, und es werden einige Anforderungen an ein multidimensionales Armutsmaß vorgestellt. Auch bei multidimensionalen Armutsmaßen muss in einem ersten Schritt die Gruppe der Armen identifiziert werden (Abschnitt 2.5.4) und in einem zweiten Schritt die Armut aggregiert werden. Abschnitt 2.5.5 stellt kurz die Lösungen für diesen zweiten Schritt vor, nämlich die Übertragung der Axiomatik auf den mehrdimensionalen Fall sowie die Möglichkeit multidimensionaler Armutsordnungen.
2.5.1 Äquivalenzskalen
Äquivalenzskalen51 dienen dazu, die Einkünfte von Haushalten mit unterschiedlichen Merkmalen vergleichbar zu machen. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist die Haushaltsgröße, daneben wird die Zusammensetzung des Haushalts bezüglich des Alters und manchmal auch des Gesundheitszustandes der Mitglieder berücksichtigt, ansonsten aber Homogenität der Individuen unterstellt. Im Ergebnis wird die Gesellschaft in Gruppen unterschiedlicher Haushaltstypen eingeteilt. Als Referenzhaushalt dient meist der Einpersonenhaushalt. Der Bedarf von Mehrpersonenhaushalten wird proportional zum ___________ 51 Faik (1995) und Missong (2004) stellen sowohl die Theorie als auch die empirische Anwendung von Äquivalenzskalen in Deutschland dar.
2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung
51
Bedarf eines Einpersonenhaushaltes ausgedrückt, wobei die Frage beantwortet wird, welches Einkommen ein Mehrpersonenhaushalt benötigt, um den gleichen Lebensstandard wie ein Einpersonenhaushalt zu erreichen. Ordnet die Äquivalenzskala einem Zweipersonenhaushalt den Faktor 1,5 zu, so heißt dies, dass der Zweipersonenhaushalt anderthalbmal so viel Einkommen benötigt wie der Einpersonenhaushalt, um denselben Lebensstandard wie dieser zu erreichen. Das Äquivalenzeinkommen für Mitglieder von Zweipersonenhaushalten wird dann berechnet, indem ihr Haushaltseinkommen (die Summe der von Mitgliedern dieses Haushaltes erzielten Einkommen) durch den Faktor 1,5 geteilt wird. Hierbei ist auf ein weiteres Problem hinzuweisen: Implizit wird dabei angenommen, dass die Verteilung des Einkommens innerhalb der Haushalte so beschaffen ist, dass alle Haushaltsmitglieder den gleichen Lebensstandard haben. Diese Annahme ist durchaus problematisch, wie einige empirische Studien52 gezeigt haben. Es gibt verschiedene Methoden, um Äquivalenzskalen herzuleiten53, und es existieren viele verschiedene Äquivalenzskalen, die in empirischen Studien verwendet werden oder politischen Zwecken dienen (Buhmann u. a. 1988), wie bspw. die Regelsätze der Sozialhilfe in Deutschland. Insofern ist jede Spezifikation einer Äquivalenzskala umstritten. Einigkeit herrscht nur darüber, dass ein großer Haushalt in der Regel mehr Einkommen braucht als ein kleinerer und dass der Bedarf aufgrund der Skalenerträge nicht im gleichen Maß ansteigt wie die Anzahl der Personen im Haushalt. Im Allgemeinen sind die Faktoren der Äquivalenzskalen also kleiner als die Anzahl der Haushaltsmitglieder aber größer als eins.
2.5.2 Sequentielle Armutsdominanz
Das Konzept sequentieller Armutsordnungen vermeidet die Verwendung von Äquivalenzskalen. Sequentielle Armutsdominanz wird nicht für die Gesamtverteilung der Äquivalenzeinkommen festgestellt, sondern schrittweise für die Verteilung der tatsächlichen Einkommen. Grundlage für dieses Verfahren ist die Einteilung der Bevölkerung in Gruppen unterschiedlicher Bedürftigkeit. Es werden Haushaltstypen gebildet und die Bevölkerung entsprechend in Gruppen aufgeteilt. Dann werden die Gruppen in eine Rangordnung gemäß ihrer Bedürftigkeit gebracht, beginnend mit der bedürftigsten Gruppe (bspw. Vielpersonenhaushalten). Nun wird für jede Gruppe eine Obergrenze für die ___________ 52 Vgl. Sen (1981b, 1983b) und die dort angegebene Literatur oder bspw. Rerrich (1990). 53 Vgl. hierzu Deaton/Muellbauer (1980) sowie Buhmann u. a. (1988).
2. Armutsmessung: eine Einführung
52
jeweilige Armutsgrenze festgelegt. Damit wird die Spezifizierung einer Äquivalenzskala vermieden. Das Verhältnis der Obergrenzen für die Armutsgrenzen der einzelnen Gruppen wird jedoch bestimmte Bedingungen erfüllen, wie z. B. die, dass die Äquivalenzfaktoren kleiner als die Anzahl der Haushaltsmitglieder sein sollen54. Die Dominanz wird nun in folgenden Schritten festgestellt: Zunächst wird die Einkommensverteilung der ranghöchsten Gruppe in der einen Einkommensverteilung mit jener der ranghöchsten Gruppe der anderen Einkommensverteilung verglichen. Dabei wird festgestellt, in welcher Einkommensverteilung mehr Armut herrscht (welche Einkommensverteilung die andere dominiert). Dann wird die gemeinsame Einkommensverteilung der ranghöchsten und rangnächsten Gruppe mit der anderen verglichen usw. bis die vollständigen Einkommensverteilungen miteinander verglichen werden. Ein eindeutiges Ergebnis liegt also nur vor, wenn eine Einkommensverteilung die andere in allen Schritten dominiert. Das Ziel der sequentiellen Armutsordnungen55 ist es zu überprüfen, wie robust sich die Ergebnisse von Armutsmessungen gegenüber der Verwendung verschiedener Systeme von Armutsgrenzen erweisen. Daher dürfen die Armutsgrenzen für die verschiedenen Haushaltstypen in einem Schwankungsbereich variieren. Die zugrunde gelegten Armutsmaße müssen das Zerlegbarkeitsaxiom erfüllen (wie z. B. additiv separable Maße s. S. 36) sonst könnte man von einer Abnahme der Armut in einer Gruppe nicht auf eine Abnahme der Armut in der Gesamtbevölkerung schließen.
2.5.3 Schematische Einteilung und Definition multidimensionaler Armutsmaße
Multidimensionale Armutsmessung56 unterscheidet sich von eindimensionaler Armutsmessung durch die Betrachtung mehrerer Dimensionen. Anstatt also ___________ 54
Diese Regel ist unproblematisch, solange nur die Anzahl der Haushaltsmitglieder betrachtet wird. Spielt aber auch die Altersstruktur eine Rolle, so muss bspw. geklärt werden, ob ein Zweipersonenhaushalt zweier Erwachsener mehr Einkommen benötigt als der von einem Erwachsenen und einem Kind und wenn ja, wie viel mehr Einkommen er braucht. 55 Sequentielle Dominanz wurde zunächst für die Ungleichheitsmessung entwickelt, vgl. Atkinson/Bourguignon (1987). Die grundlegenden Arbeiten mit Anwendung auf Armutsmessung sind Atkinson (1992) und Jenkins/Lambert (1993). In letzter Zeit wurde dieses Konzept immer häufiger auch in empirischen Studien angewandt und dafür verfeinert, vgl. bspw. Ehlers (1997), Chambaz/Maurin (1998) und Duclos/Makdissi (1999). 56 Die Literatur zu multidimensionaler Armutsmessung ist bislang überschaubar, aber im Wachsen begriffen. Bourguignon/Chakravarty (1998, 1999, 2003), Chakravarty/Mukherjee/Ranade (1998), Mukherjee (2001), Tsui (2002) und Atkinson (2003a) übertragen den axiomatischen Ansatz auf mehrere Dimensionen. Darauf aufbauend
2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung
53
nur ein Merkmal (Einkommen) und seine Verteilung zwischen den Individuen zu betrachten, werden mehrere Merkmale jedes Individuums erfasst, so dass sich für jedes Merkmal eine Verteilung ergibt. Dies lässt sich in Form einer Matrix ausdrücken mit m Merkmalen und n Individuen in der Gesellschaft. Zu den zwei Schritten der Armutsmessung, die Sen (1976a) unterschieden hat, gesellt sich bei der Bildung multidimensionaler Armutsmaße ein dritter, nämlich die Aggregation über die Dimensionen. Multidimensionale Armutsmessung lässt sich folglich in drei Schritte einteilen: 1. Festlegung der Armutsgrenze(n) (Identifikation), 2. Aggregation über die Dimensionen und 3. Aggregation über die Individuen. In Abbildung 4 teilt die Methoden schematisch je nach Reihenfolge dieser Schritte in drei Kategorien ein. Alle bisher aufgeführten Armutsmaße entsprechen dem Armutsindex A aus Abbildung 4, bei dem zunächst die individuelle Wohlfahrt in einem Index aggregiert wird und dann eine Armutsgrenze für diesen Index definiert wird. Auch das Vorgehen bei der sequentiellen Dominanz entspricht diesem Ansatz, denn die Armutsgrenze wird nur für eine Dimension – das Einkommen – festgelegt, wenn auch abgestuft je nach Zugehörigkeit zu einem Haushaltstyp. In der Hauptsache versucht die sequentielle Dominanz – wie auch die Äquivalenzskalen – das Problem der Multidimensionalität zu lösen, indem ein Einkommen ermittelt wird, das den Bedürfnissen der Individuen angemessen sein soll. In ähnlicher Weise lassen sich auch Probleme bei weiteren Dimensionen lösen, wenn an der prinzipiellen Aussagekraft des Einkommens über den Lebensstandard nicht gezweifelt wird. Es ist allerdings fraglich, wie viele Probleme gleichzeitig – Haushaltsgröße, Gesundheitszustand der Haushaltsmitglieder, Bildungsgrad der Haushaltsmitglieder etc. – auf diese Weise behandelt werden können, weil mit der Anzahl der Probleme auch die Anzahl der Gruppen steigt und damit die Anzahl der Faktoren, die für eine Äquivalenzskala festgelegt werden müssen.57
___________ entwickeln Mukherjee (2001), Duclos/Sahn/Younger (2001) und Bourguignon/Chakravarty (2003) multidimensionale Dominanzkonzepte. Garcia Diaz (2003) fasst die Literatur zu multidimensionalen Armutsmaßen und Armutsordnungen zusammen. Cerioli/Zani (1990), Chiappero-Martinetti (1994, 1996, 2000), Cheli/Lemmi (1995) und Schaich/Münnich (1996) versuchen die Fuzzy-Set-Theorie auf die Armutsmessung anzuwenden. Auch zu mehrdimensionaler Ungleichheitsmessung gibt es nicht viel Literatur: Kolm (1977), Atkinson/Bourguignon (1982), Tsui (1994, 1995), Maasoumi (1986, 1989 a, b) sind bspw. zu nennen. Einen Überblick gibt Savaglio (2002). 57 Einen Versuch, Äquivalenzskalen für andere Probleme als die Haushaltsgröße herzuleiten, stellt Lelli (2003) vor. Vgl. Kap. 4.4.
2. Armutsmessung: eine Einführung
54
Townsend (1979) hat sehr viel dafür getan, dass Armut als multidimensionales Phänomen gesehen wird. In seiner empirischen Studie hat er Fragen zu verschiedenen Dimensionen des Lebens gestellt und bestimmte minimale Standards – also Armutsgrenzen – für jede Dimension vorgeschlagen. Doch er schlägt keinen Armutsindex der Art B oder C vor, sondern leitet eine Einkommensschwelle ab, so dass mit einem Index der Art A gemessen werden kann (s. S. 29). Matrix individueller Merkmale
Aggregation über Dimensionen (individuelle Wohlfahrtsfunktion)
Armutsgrenze für jede Dimension (z = (z1, z2,...,zm))
Armutsgrenze (z)
Aggregation über Dimensionen (individuelle Armutsfunktion)
Aggregation über Haushalte (merkmalsspezifische Armutsfunktion)
Aggregation über Haushalte
Aggregation über Haushalte
Aggregation über Dimensionen
Armutsindex A
Armutsindex B
Armutsindex C
Eindimensionales Armutsmaß
Mehrdimensionales Armutsmaß
Eigene Darstellung
Abbildung 4: Schema zur Einteilung von Armutsmaßen, die mehrere Dimensionen berücksichtigen
Armutsindizes der Art A, bei denen zunächst ein Wohlfahrtsindex gebildet wird und Armut dann als Unterschreiten eines bestimmten Niveaus – einer Armutsgrenze – dieses Wohlfahrtsindizes definiert wird, gleichen Armutsma-
2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung
55
ßen, die sich nur auf das Einkommen beziehen, und können daher als methodisch eindimensionale Indizes bezeichnet werden (Bourguignon/Chakravarty 1998, S. 5f). In dieser Arbeit werden daher nur Indizes der Art B oder C als „multidimensionale Armutsmaße“ bezeichnet, also solche, bei denen der Schritt der Identifikation zuerst und mit Hilfe von je einer Armutsgrenze pro Dimension erfolgt. Bourguignon und Chakravarty (1998) betrachten Armutsindizes der Art B. Sie weisen darauf hin, dass es im Falle zerlegbarer und in Bezug auf die Dimensionen additiver Armutsmaße – sie lassen sich sowohl als Summe individueller als auch als Summe merkmalspezifischer Armutsfunktionen darstellen – keinen Unterschied macht, ob zunächst über die Dimensionen oder über die Haushalte aggregiert wird. In diesem Falle gleichen sich die Armutsmaße der Art B und C (siehe Abschnitt 2.5.5). Auch Schaich und Münnich (1996) wählen einen Ansatz der dem Armutsindex B entspricht. Bei multidimensionaler Armutsmessung entstehen zwei Probleme, welche die eindimensionale Armutsmessung nicht hat: Zum einen ist die Identifikation der Armen (Abschnitt 2.5.4) nicht mehr eindeutig, weil eine Person in einer Dimension arm und in einer anderen nicht-arm sein kann. Es besteht die Frage, ob ein Ausgleich zwischen verschiedenen Dimensionen möglich ist. Zum anderen muss für eine mehrdimensionale Verteilung definiert werden, wann eine Verteilung gleichmäßiger als eine andere ist, d. h. auch hier ist die Frage zu klären, ob ein Ausgleich zwischen verschiedenen Dimensionen möglich ist (Abschnitt 2.5.5).
2.5.4 Zur Identifikation der Armen im multidimensionalen Fall
Bourguignon und Chakravarty (1998) gehen bezüglich des ersten Problems davon aus, dass Armut in einer Dimension nicht durch Nichtarmut in anderen Dimensionen aufgewogen wird. Es ergeben sich daher zwei mögliche Definitionen der Gruppe der Armen: Entweder werden nur diejenigen zur Gruppe der Armen gezählt, die in allen Dimensionen unter die Armutsgrenze fallen, die also in der Schnittmenge B der Bereiche unterhalb der Armutsgrenzen liegen (Abbildung 5). Oder alle diejenigen werden zur Gruppe der Armen gezählt, die in mindestens einer Dimension unter die jeweilige Armutsgrenze fallen, die also in der Vereinigungsmenge ABC aller Bereiche unterhalb der Armutsgrenzen liegen (Abbildung 5). Dann kann es aber zu Doppelzählungen kommen, wenn man die Anzahl der Armen pro Dimension einfach zur Gesamtzahl der Armen in der Gesellschaft aufaddiert. Bourguignon und Chakravarty (1998) beschreiben daher ein Vorgehen, das Doppelzählungen vermeidet. Wie Bourguignon und Chakravarty (2002) zeigen, ist es für die Entscheidung, welche Definition für die Gruppe der Armen gewählt wird, wichtig, ob
2. Armutsmessung: eine Einführung
56
ein substitutives oder ein komplementäres Verhältnis zwischen den Dimensionen angenommen wird. Bei perfekten Komplementen58 ist es naheliegend, dass die Vereinigungsmengendefinition gewählt wird, weil kein Ausgleich zwischen den Dimensionen möglich ist. Bei perfekten Substituten59 hingegen ist die Schnittmengendefinition angemessen. Um nun die Anzahl der Armen im multidimensionalen Fall zu berechnen, muss hinzugefügt werden, auf welche Definition man sich bezieht. Die multidimensionale Armutsquote kann dann definiert werden als Anzahl der Armen gemäß der Schnittmengendefinition (oder der Vereinigungsmengendefinition) im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung. y1
A
D
B
C
z1
z2
y2
Eigene Darstellung in Anlehnung an Bourguignon/Chakravarty (1998)
Abbildung 5: Schnittmenge und Vereinigungsmenge zur Identifikation der Armen
___________ 58 Als perfekte Komplemente werden solche Güter bezeichnet, die nur gemeinsam konsumiert den Nutzen erhöhen, z. B. linke und rechte Schuhe. Vgl. Varian (1993, Kap. 6.7). 59 Als perfekte Substitute werden solche Güter bezeichnet, die in einem proportionalen Verhältnis einander ersetzen. Ein Beispiel sind Zuckerwürfel und loser Zucker. Meist kann nicht von „perfekter“ Substitution gesprochen werden, aber ein substitutives Verhältnis zwischen Butter und Margarine ist durchaus plausibel, vgl. Varian (1993, Kap. 6.7).
2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung
57
Wie Garcia Diaz (2003, S. 3f) bemerkt, gehen Bourguignon und Chakravarty von Armutsgrenzen aus, die für jede Dimension unabhängig von der Verteilung und in diesem Sinne absolut festgelegt wurden. Die Schnittmengendefinition identifiziert nur jene als arm, die in allen Dimensionen unterhalb der Armutsgrenze liegen, die Vereinigungsmengendefinition hingegen alle, die mindestens unter einer Armutsgrenze liegen. Ein naheliegender Kompromiss besteht darin, die Anzahl der Dimensionen zu betrachten, in denen eine Person unter die Armutsgrenze fällt, und jene als arm zu bezeichnen, die in mindestens k Dimensionen unter die Armutsgrenze fallen. Dieses Konzept wird in empirischen Studien teilweise unter der Bezeichnung „kumulative Armut“ angewandt (z. B. Hanesch u. a. 1994, Kapitel III.3.). Atkinson (2003a) bezeichnet dieses Konzept, bei dem es um die Kumulation der Armut in mehreren Dimensionen geht, als „counting approach“.
2.5.5 Multidimensionale Axiomatik und Armutsordnungen
Axiomatik für multidimensionale Armutsmessung Eine ganze Reihe von Axiomen lassen sich unmittelbar vom ein- auf den mehrdimensionalen Fall übertragen. So führen Bourguignon und Chakravarty (1998, 2002, 2003) das Stetigkeits-, das Replikationsinvarianz-, das Symmetrie-, das Monotonie- und das Zerlegbarkeitsaxiom in multidimensionaler Fassung an.60 Beim Fokusaxiom unterscheiden sie eine schwache Variante, die verlangt, dass das Armutsmaß unabhängig von den Merkmalsausprägungen der Nichtarmen, also all jener, die in Abbildung 5 in Bereich D liegen, ist, und eine starke Variante, die verlangt, dass das Armutsmaß unabhängig von allen Merkmalsausprägungen, die über den jeweiligen Armutsgrenzen, also in den Bereichen AD bzw. CD liegen, ist. Die Anwendung des starken Fokusaxioms schließt nicht nur die Betrachtung von Transfers zwischen Armen und NichtArmen aus, sondern auch von Transfers zwischen Armen, welche eine Veränderung der nicht-armen Merkmale beinhalten. Insofern entspricht das starke Fokusaxiom einer absoluten Auffassung von Armut, weil die Armut in einer Dimension nicht durch „Reichtum“ in einer anderen Dimension gelindert werden kann. ___________ 60
Des Weiteren hat Tsui (2002) das Skaleninvarianz- und das Transformationsinvarianzaxiom auf den multidimensionalen Fall übertragen. Wie Zheng (1994) für den eindimensionalen Fall fragt Tsui, ob ein multidimensionales Armutsmaß beide Axiome erfüllen könne, also „absolut“ und „relativ“ zugleich sein könne. Garcia Diaz (2003) macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass es bei multidimensionalen Armutsmaßen wünschenswert sein könne, für die verschiedenen Merkmale verschiedene Eigenschaften des Armutsmaßes anzunehmen. Vgl. zur Axiomatik auch Chakravarty/Mukherjee/Ranade (1998).
2. Armutsmessung: eine Einführung
58
Wie bereits diese Überlegung zeigt, ist insbesondere die Betrachtung von Transfers im multidimensionalen Fall komplexer als im eindimensionalen Fall. Zunächst lässt sich die Forderung erheben, dass das eindimensionale Transferaxiom für jede Dimension gelten soll. Relativ unstrittig ist zudem die Anforderung an Armutsmaße, dass sie immer dann erhöhte Armut anzeigen sollen, wenn in allen Dimensionen höchstens dieselbe Ausprägung wie in der Vergleichssituation erreicht wird (multidimensionales Transferaxiom61). Das multidimensionale Transferaxiom ignoriert jedoch die Korrelation zwischen zwei Merkmalen.62 Verändert sich durch einen Transfer die Korrelation der Merkmalsausprägungen63, so müssen Annahmen über das Verhältnis der Dimensionen zueinander getroffen werden, um die Wirkung auf das Ausmaß der Armut abschätzen zu können. Bourguignon und Chakravarty (1999, 2003) betrachten wiederum Dimensionen, die als Komplemente oder als Substitute zueinander gelten. Sie unterscheiden dann vier Fälle.64 Man kann jedoch auch die Annahme treffen, dass die Dimensionen voneinander unabhängig sind. Dies ist bei Armutsmaßen der Fall, die sowohl zerlegbar sind (d. h. additiv bezüglich der Individuen) als auch additiv in den Merkmalen (Bourguignon/Chakravarty 1998, S. 15; 2003, S. 36). Einige Beispiele für Armutsmaße, welche die verschiedenen Axiome insbesondere zu multidimensionalen Transfers erfüllen finden sich in Bourguignon und Chakravarty (2003).
Armutsordnungen Um die Messung mit Hilfe von multidimensionalen Armutsmaßen auf ihre Robustheit zu untersuchen, teilen Bourguignon und Chakravarty (2002) die Armutsmaße entsprechend des Verhältnisses, das sie zwischen den Dimensionen unterstellen, in drei Gruppen ein: 1. Armutsmaße, welche die Dimensionen als Komplemente ansehen, 2. solche, die sie als Substitute ansehen und 3. jene, ___________ 61
Kolm führt jedoch ein spezifisch multidimensionales Transferaxiom in die Literatur ein, das Bourguignon/Chakravarty (1998) für Armutsmaße formulieren. 62 Vgl. Kritik von Atkinson/Bourguignon (1982), S.191 an Kolm, sowie Tsui (1994). 63 Die Korrelation steigt, wenn eine Person i weniger Einheiten des Merkmals k und mehr Einheiten des Merkmals j als eine Person l hat und dann ein Transfer stattfindet, so dass Person i mehr Einheiten von beiden Merkmalen hat als Person l. Die Umkehr zu diesem „correlation increasing switch“ ist der „correlation decreasing switch“ (für die formale Definition siehe Bourguignon/Chakravarty 1999, 2003, Chakravarty/Mukherjee/Ranade 1998, Garcia Diaz 2003 und Atkinson 2003a). 64 Sind die Dimensionen Substitute, so kann die Armut bei einer korrelationssteigernden Umverteilung nicht abnehmen, bei einer korrelationssenkenden Umverteilung hingegen nicht zunehmen. Sind die Merkmale Komplemente, so kann durch eine Umverteilung, welche die Korrelation zwischen den Merkmalen steigert, die Armut nicht zunehmen, bei einer Umverteilung, welche die Korrelation zwischen den Merkmalen senkt, dagegen nicht abnehmen. Vgl. Burguignon/Chakravarty (1999, 2002, 2003).
2.5 Ansätze zur multidimensionalen Armutsmessung
59
welche Unabhängigkeit zwischen den Dimensionen postulieren. Für diese Gruppen von Armutsmaßen65 definieren sie Dominanzbedingungen erster Ordnung. Dabei zeigt sich, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Verhältnis der Dimensionen, der Identifikation der Armen und den Eigenschaften des Armutsmaßes existiert: Bei Unabhängigkeit der Dimensionen voneinander muss nur in jeder einzelnen Dimension die Armutsquote höher sein. Bei Substituten muss zusätzlich die multidimensionale Armutsquote (s. S. 52f) im Bereich der Schnittmenge höher sein, bei Komplementen jedoch im Bereich der Vereinigungsmenge. Atkinson (2003a) beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Verhältnis die von Bourguignon und Chakravarty definierte Armutsordnung zur Zählung der Kumulation von Armut („counting approach“, s. S. 55) steht. Bei multidimensionalen Ansätzen zur Armutsmessung werden oft Dimensionen benannt, die sich nicht kardinal erfassen lassen, wie bspw. Gesundheit oder Bildung. Liegt nur ein Merkmal in diskreter Form vor, so ist es möglich, analog zur sequentiellen Dominanz vorzugehen, wenn man die Zerlegbarkeit des Armutsmaßes unterstellt (Duclos/Sahn/Younger 2001). Zudem suchen Duclos, Sahn und Younger (2001) nach Dominanzkriterien höherer Ordnung unter der Annahme eines substitutiven Verhältnisses zwischen den Merkmalen. Dominanzbedingungen höherer Ordnungen lassen sich jedoch nur für Armutsmaße herleiten, die Unabhängigkeit zwischen den Merkmalen annehmen (also Additivität sowohl bezüglich der Merkmale als auch bezüglich der Individuen). Sonst lassen sie sich nicht mehr interpretieren, meinen Bourguignon und Chakravarty (2002) sowie Atkinson (2003a). Die Beschränkung auf Dominanz erster Ordnung bedeutet jedoch auch, dass das multidimensionale Transferaxiom von den zugrunde gelegten Armutsmaßen nicht erfüllt werden muss. Die Umsetzung einer relativen Auffassung von Armut in multidimensionale Dominanzbedingungen scheint daher schwierig zu sein.66 Dafür spricht auch, dass für die Ermittlung von Dominanzbedingungen für (eindimensionale) Armutsmaße, welche die Rangordnung der Individuen bezüglich des Merkmals einbeziehen, wie dem Sen-Maß (s. S. 37), gemischte Dominanzbedingungen gelten (s. S. 47f). ___________ 65 Außerdem setzen sie voraus, dass die Armutsmaße das starke Fokus-, das Replikationsinvarianz-, das Symmetrie-, das Monotonie-, das Stetigkeits- und das Zerlegbarkeitsaxiom erfüllen. 66 Die Arbeit von Duclos/Sahn/Younger (2001) geht insofern von einem relativen Ansatz aus, als dass sie annehmen, die Armutsgrenze in einer Dimension würde in Abhängigkeit der Armutsgrenze in einer anderen Dimension festgelegt. Sie beschränken sich jedoch auf Armutsmaße, die ein substitutives Verhältnis zwischen den Dimensionen annehmen.
3. Der Lebenslage-Ansatz Der erste multidimensionale Ansatz, der hier vorgestellt werden soll, ist der Lebenslage-Ansatz. Obwohl der Ansatz auf Otto Neurath zurückgeht, der den Begriff „Lebenslage“ bereits während des ersten Weltkriegs verwendet und ihn nach und nach in eine Theorie eingebettet hat, ist der Lebenslage-Ansatz in Deutschland hauptsächlich mit dem Namen Gerhard Weissers verbunden, der diesen Ansatz im wesentlichen nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt und dazu beigetragen hat, den Begriff „Lebenslage“ auch in der Politik gebräuchlich zu machen. Zunächst stellt sich mir daher die Frage nach dem historischen und inhaltlichen Zusammenhang dieser beiden Lebenslage-Ansätze. Ein Zusammenhang zwischen beiden Ansätzen soll hier nicht verneint werden, aber der historische Zusammenhang ist meines Erachtens nur lose und der inhaltliche Zusammenhang beschränkt sich auf den Begriff „Lebenslage“, so dass ich es für sinnvoll halte, zwischen den Ansätzen klar zu unterscheiden. Der historische Zusammenhang zwischen beiden Ansätzen ist insofern lose, als dass sich Weisser zwar auf Neurath bezieht, gleichzeitig aber betont, der Ansatz sei erst durch Kurt Grelling fruchtbar gemacht worden. Damit geht er auf einen Beitrag Grellings zu den wirtschaftswissenschaftlichen Rundbriefen des Internationalen Jugendbundes (IJB) aus dem Jahr 1921 ein (vgl. Abschnitt 3.2.2). Zu dieser Zeit hatte Neurath erst in einem Text von 1917 (Neurath 1917a) den Begriff „Lebenslage“ zusammen mit der Theorie, in welche er den Begriff einbettet, ausführlich dargestellt. Diese Theorie übernehmen allerdings weder Grelling noch Weisser. Es ist zudem zu vermuten, dass Grelling und Weisser nur die Schriften Neuraths zur Sozialisierung kannten, die in der „Bibliographie zur Übergangswirtschaft“67, welche im IJB kursierte, genannt waren. D. h. sie kannten weder die Arbeiten Neuraths68, in denen er sich mit ___________ 67
Diese Bibliographie befindet sich in dem Teil des Nelson-Nachlasses, der sich im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn befindet. Genannt werden folgende Schriften Neuraths: 1917b, 1919a, 1919b, 1920, Neurath/Schumann (1919), sowie „Vollsozialisierung“, Diedrichs, Jena 1919; „Betriebsräte, Fachräte, Kontrollrat und Vorbereitung der Vollsozialisierung“, Buchverlag Rätebund, „Die Sozialisierung Sachsens“, Verlag des Arbeiter- und Soldatenrats, Chemnitz 1919; „Bayrische Sozialisierungserfahrungen“, Wien 1920. 68 „Nationalökonomie und Wertlehre. Eine systematische Untersuchung“ Neurath (1911a), „Das Problem des Lustmaximums“, Neurath (1912).
3. Der Lebenslage-Ansatz
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der Mess- und Vergleichbarkeit der „Lebensstimmung“ auseinander setzte, noch jenen Beitrag aus dem Jahr 1917, in dem er den Lebenslage-Ansatz erstmals ausführlich und differenziert erläutert. In den Sozialisierungsschriften stellt Neurath den Begriff „Lebenslage“ nur kurz vor und verwendet ihn dann. Nur so erklärt sich auch das Urteil Weissers, erst Grelling habe den Begriff „Lebenslage“ fruchtbar gemacht. Inwieweit auch politische Differenzen zu dieser Geringschätzung des Neurathschen Ansatzes durch Weisser führten, vermag ich nicht einzuschätzen. Offensichtlich ist jedoch der Unterschied im erkenntnistheoretischen Standpunkt: Während Neurath den Wiener Kreis mitbegründet hat und zu den logischen Empiristen zählt, bleibt Weisser seinem Lehrer Nelson zumindest insofern treu69, als dass er wie Nelson (vgl. Abschnitt 3.2.1) selbst „unmittelbares Wissen“ nicht nur für möglich hält, sondern dessen Existenz sogar zu beweisen trachtet. Neurath hat Kant wohl gelesen, aber er zitiert ihn nirgends, wohingegen sich Nelson und Weisser ausdrücklich auf Kant und seine Theorie von a priori gegebenem Wissen beziehen. Interessant ist auch in diesem Punkt die Mittlerrolle von Kurt Grelling: Zunächst war Grelling ein enger Mitarbeiter Nelsons und Mitglied im IJB wie Weisser. Im Jahr 1921 geht Grelling jedoch nach Berlin und schließt sich dort dem Kreis um Hans Reichenbach70 an, einem Vertreter des Logischen Empirismus. Im Jahr darauf bricht er mit dem Kreis um Nelson (Peckhaus 1992, 1993). Weisser hat dann im Wesentlichen nach dem zweiten Weltkrieg seinen Lebenslage-Ansatz entwickelt, ohne jedoch auf den Ansatz Neuraths und seine in der Zwischenzeit erschienenen Veröffentlichungen dazu einzugehen.71
___________ 69 Im Jahr 1922 gab es eine Auseinandersetzung zwischen Nelson und Weisser, die zu einem Bruch führte. Nelson hielt Weisser für untragbar für den IJB, weil er nicht zum Inhalt eines Vortrags stand, den er selbst gehalten hatte. Vgl. Franke (1997). 70 Diese Entwicklung Kurt Grelling ist in Peckhaus (1992 und 1993) nachgezeichnet. Später stand Grelling in Briefkontakt zu Neurath, der sich jedoch nicht auf den Lebenslage-Ansatz bezog (nach Auskunft von Volker Peckhaus). 71 Bemerkenswert ist, dass in vielen späteren Texten auf Neurath bezug genommen wird. Dabei erwähnt einzig Hillen (1975) den Beitrag Grellings und zeichnet die Entwicklung der Theorie von Neurath über Grelling zu Weisser nach, Nahnsen (1992) und Neumann (1995) sehen anscheinend eine Kontinuität von Neurath zu Weisser, Wendt (1984, 1988), Andretta (1990) und Voges u. a. (2001) stellen die beiden Ansätze nebeneinander und nur Amann (1983) macht auf die „großen Unterschiede“ zwischen beiden Ansätzen aufmerksam. In keinem dieser Beiträge – insbesondere nicht in jenen von Weissers Schülern (siehe Fußnote 104) – wird Bezug genommen auf Neuraths Beitrag von 1917, was ich als weiteren Hinweis darauf deute, dass Weisser in Neurath vor allem den Sozialisierungstheoretiker sah. Vgl. dazu Nahnsen (1992, S. 102), die bei beiden „einen Kontext unmittelbarer gesellschaftlicher Gestaltungsabsichten“ erkennt.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
Die Frage der inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen beiden Lebenslage-Ansätzen wird durch die Erörterung beider Ansätze in diesem Kapitel geklärt werden. Die Lebenslage-Ansätze von Neurath und Weisser werden jeweils in fünf Schritten vorgestellt: Zuerst erläutere ich die Motivation und den Kontext der Einführung und Entwicklung eines solchen Ansatzes (Abschnitt 3.1.1 und 3.3.1). Dann stelle ich die zentralen Begriffe und die Struktur des jeweiligen Ansatzes dar (3.1.2 und 3.3.2) und diskutiere im Anschluss den Ansatz bzw. gebe die Kritik und Weiterentwicklung wieder (3.1.3 und 3.3.3). In einem vierten Abschnitt fasse ich die Aussagen zu Armut, die sich in den Schriften finden, zusammen (3.1.4 und 3.3.4). Schließlich stelle ich in einem letzten Abschnitt die Operationalisierung der Ansätze im weitesten Sinne vor, d. h. konzeptionelle Überlegungen zur Operationalisierung ebenso wie Studien, die sich auf den jeweiligen Ansatz berufen (3.1.5 und 3.3.5). Weil für den Zusammenhang der Lebenslage-Ansatz von Neurath und Weisser die Arbeiten Grellings wichtig sind und zudem Nelson einen großen Einfluss auf Weisser gehabt hat, stelle ich in einem Exkurs die entsprechenden Arbeiten Grellings (Abschnitt 3.2.1) und Nelsons (Abschnitt 3.2.2) vor.
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath Neurath war der erste, der den Begriff „Lebenslage“ verwandt hat, weshalb sein Ansatz zuerst vorgestellt wird. Besonderes Kennzeichen seines Ansatzes ist zweifelsohne sein Eintreten für die „Naturalwirtschaft“, also für ein Wirtschaftssystem, das völlig auf Geld verzichtet. Diese Position hat dazu geführt, dass sein Ansatz kaum beachtet wurde (vgl. O’Neill 1996). Im Anschluss stelle ich die wesentlichen Punkte seines Ansatzes vor, ohne jedoch näher auf die Entwicklung seines Ansatzes über die Zeit einzugehen.
3.1.1 Motivation und Kontext Der Begriff „Lebenslage“ taucht bei Neurath in Zusammenhang mit Sozialisierungsplänen als Maßstab für die Qualität einer Lebensordnung auf. Bereits vorher hat Neurath allerdings zum einen die Geldrechnung kritisiert und zum anderen die Berechenbarkeit des Nutzens (er spricht von „Lust“ und „Unlust“72) in Frage gestellt. So macht er in einem Diskussionsbeitrag über die ___________ 72 In seinem Beitrag „Das Problem des Lustmaximums“ von 1912 bezieht er sich explizit auf die Diskussion, welche durch die utilitaristische Forderung nach dem „Glücksmaximum einer menschlichen Gesellschaft“ hervorgerufen wurde. Ferner wird
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
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Produktivität des Geldes beim Verein für Socialpolitik darauf aufmerksam, „daß bei der Berufswahl, bei der Wahl seines Aufenthaltsortes vieles, so auch die Möglichkeit der künstlerischen oder religiösen Befriedigung von Bedeutung ist“ und erinnert dabei „an die aus letztem Grunde erfolgten Auswanderungen“ (Neurath, 1909, S. 218). Erst dann könne man davon sprechen, die „Gesamtlage einer Menschengruppe“ zu erfassen. Seine Kritik an der Geldrechnung wird gestärkt durch seine intensive Beschäftigung mit der Wirtschaft zu Kriegszeiten (bereits vor dem Ersten Weltkrieg). Statistiken über die Wirtschaft während einiger Kriege, die sich darauf beschränken, Ausgaben für bestimmte Güter festzuhalten, ohne jedoch auf die Mengen der Güter einzugehen, hält er für ungeeignet, zumal wenn es darum geht, die „Lust“ (den Nutzen)73 der Menschen zu ermitteln (Neurath 1913). Er hält fest: „Ein Volk, dessen Gesamteinkommen in Geld gerechnet zugenommen hat, braucht deshalb nicht besser ernährt, besser bekleidet, besser behaust als früher zu sein. ... Der ganze Geldapparat interessiert uns in der Kriegswirtschaftslehre nur insofern, als er ein Mittel darstellt, die Versorgung der Bevölkerung mit Bedarfsartikeln zu fördern oder zu erschweren.“ (Neurath 1913, S. 217f)
Wie gesagt hinterfragt Neurath die Möglichkeit, dass Nutzen berechenbar ist. Bereits 1911 untersucht er systematisch den Zusammenhang von Messbarkeit und (interpersoneller und intertemporaler) Vergleichbarkeit des Nutzens. 74 Im Jahr 1912 führt er in „Das Problem des Lustmaximums“ die Untersuchung fort, wobei er von der Annahme ausgeht, dass Nutzen eine vergleichbare aber nicht (kardinal) messbare Größe sei. Er stellt fest: „Um jetzt wieder zu einem Resultat gelangen zu können, wäre es notwendig, das Größersein der Lust selbst wieder ganz allgemein als vergleichbaren Gegenstand zu statuieren. ... d. h. jeder beliebige Lustabstand müßte mit jedem beliebigen anderen Lustabstand verglichen werden können.“ D. h. die kardinale Messbarkeit – die Messbarkeit auf einer Intervallskala – ist Voraussetzung für die Vergleichbarkeit des Nutzens. 75 Wenig später stellt er fest, dass für die totale Vergleichbarkeit des Nutzens nicht nur eine Intervallskala, sondern eine Verhältnisskala definiert werden muss: „Damit die Lüste, nicht nur die Lustabstände, meßbare ___________ klar, dass Neurath „Nutzen“ im Sinne von „Glück“ – und nicht im Sinne von Befriedigung (siehe Abschnitt 3.1.2) – interpretiert. Vgl. auch Neurath (1911a). 73 Neurath bezieht sich in diesen Arbeiten ausdrücklich auf utilitaristische Schriften, weshalb die Begriffe „Lust“ und „Unlust“, „Glück“ und „Unglück“ sowie „Lebensstimmung“, die Neurath verwendet, mit dem Begriff „Nutzen“ gleichgesetzt werden können. Eine ausführlichere Analyse bieten Abschnitte 3.2 und 5.2.2. 74 Systematische Untersuchungen des Zusammenspiels von Messbarkeit und Vergleichbarkeit des Nutzens sind mir sonst nur aus der Social Choice Theorie bekannt, vgl. Sen (1970b, c, 1977a, 1979b). 75 Wie Köhler (1982) bemerkt, macht Neurath hiermit bereits auf die Bedeutung von Intervall-Skalen aufmerksam.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
Größen sind, wäre es erforderlich, einen Nullpunkt statuieren zu können“ (Neurath 1912, S. 50f). Die Zielsetzung, den Nutzen als Maßstab des Wohlergehens zu ermitteln, stellt Neurath jedoch nicht in Frage: „Da sich der statistischen Erfassung der Sensationen (des Nutzens, Anm. O.L.) große Schwierigkeiten in den Weg stellen, muß man die Statistik der Sensationenursachen als Surrogat verwenden.“ (Neurath 1913, S. 216). Als Ursachen des Nutzens („Lusterreger“) sieht Neurath ganz offensichtlich Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. an, also das, was er später mit dem Begriff „Lebenslage“ zusammenfasst. Ein Grund, weshalb sich Neurath bereits früh mit der Wirtschaft zu Kriegszeiten beschäftigt, ist die Feststellung des scheinbaren Paradoxes, dass der durchschnittliche Lebensstandard in Kriegszeiten nicht unbedingt fällt, sondern im Gegenteil sogar steigt: „Daneben hat man aber bereits seit vielen Jahrzehnten beobachten können, daß nicht selten nach dieser ersten Zeit erheblicher Störungen, und zwar noch bevor es zu Sieg oder Niederlage kam, ein allgemeiner Aufschwung beobachtet werden kann.“ (Neurath, 1911b, S. 521). Als Erklärung nimmt Neurath an, dass die Wirtschaft während des Krieges effizienter arbeitet, weil sie nicht über den Markt gesteuert wird, sondern von der Verwaltung geplant wird. Seine Schlussfolgerungen sind daher weitreichend: „Man mußte annehmen, daß ein jahrelang dauernder Weltkrieg verwaltungswirtschaftliche und naturalwirtschaftliche Einrichtungen begünstigen und die Schaffung eines Wirtschaftsplanes nahegelegt werde, um auf Grund desselben die vorhandenen Kräfte im Interesse des Staates zu verteilen und möglichst vollständig auszunutzen.“ (Neurath 1917b, S. 159)
Sein Ideal ist fortan die „Verwaltungswirtschaft“ und das „bedeutet ... zentralistische, planmäßige Naturalrechnung“ (Neurath 1920, S. 57), die Marktwirtschaft (er nennt sie „Verkehrswirtschaft“) hält er für überholt: „Es hat lange gedauert, bis man einigermaßen überzeugend nachwies, daß die überlieferte Form der Verkehrswirtschaft Krisen, Depressionen und Kraftverschwendungen aller Art nicht zu verhindern wisse, ja sogar automatisch hervorrufe.“ (Neurath 1920, S. 49)
Trotz dieses pointierten Standpunktes, der ihn zu einem Außenseiter in den Wirtschaftswissenschaften machte, war Neurath alles andere als ein Dogmatiker, was an seinem berühmt gewordenen Bild für die Arbeit der Wissenschaftler deutlich wird: „Wir sind wie Seefahrer, die auf offenem Meere sich genötigt sehen, mit Balken, die sie mitführen oder die herantreiben, ihr Schiff völlig umzugestalten, indem sie Balken für Balken umsetzen und die Form des Ganzen ändern.“ (Neurath 1913, S. 215f)
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
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Dieses Bild zeigt auch, wie sehr sich der „logische Empirismus“ Otto Neuraths76, für den er weitaus bekannter ist als für seine nationalökonomischen Arbeiten, von anderen positivistischen Positionen unterscheidet.77 Neurath glaubt nicht an eine „Wahrheit an sich“, sondern definiert Wahrheit als Widerspruchsfreiheit und Übereinstimmung von Sätzen, die von verschiedenen Wissenschaftlern akzeptiert werden (Rutte, 1982, S. 70f). Welche Auffassung von Wahrheit Neurath genau hatte, ist umstritten. Laut Rutte (1995, S. 375) sieht Neurath nicht die „Verifikation“ sondern allerhöchstens die „Bewährung“ oder „Erschütterung“ von Theorien als Aufgabe empirischer Überprüfung an und fordert eine empirische Überprüfung von Theorien, obwohl er Beobachtungen nicht als unmittelbares Wissen ansieht (wie bspw. Schlick, s. Rutte, 1995, S. 367). Für Neurath ist auch ein Protokollsatz – das ist ein Satz, der eine Beobachtung unter Angabe von Raum- und Zeitbezug protokolliert – nur ein Satz. Letztendlich wird also nicht die Theorie durch die Wirklichkeit bestätigt, sondern ein Protokollsatz fügt sich in andere akzeptierte Sätze ein und ermöglicht so die Erklärung und Prognose bestimmter Zusammenhänge. Dies ist der Kern von Neuraths Wahrheitstheorie, die Uebel (1991b, 1996) abweichend von Rutte als naturalistische Epistemologie interpretiert. Neuraths Auffassung von Wahrheit ist eng mit einer Wissenschaftstheorie verbunden: „In the end Neurath outlined a theory of science that sought to provide the tools to empower its practitioners to intervene in, develop and newly create a social practice even under conditions ,not of their own choosing‘.“ (Cartwright u. a. 1996, S. 164f)
3.1.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes Bei Neurath lassen sich einige zentrale Begriffe wie „Lebensstimmung“, „Lebenslage“, „Lebensboden“ und „Lebensordnung“ finden, die er in eine zeitliche Struktur einbettet. Neben dieser zeitlichen Struktur führt Neurath durch die Bildung von „Lebenslagentypen“ auch eine Gesellschaftsstruktur ein. Das Struktur-Merkmal, das uns besonders interessiert an seinem Ansatz ist jedoch die Mehrdimensionalität und die Frage, wie interpersonelle Vergleiche im multidimensionalen Fall durchgeführt werden können. Schließlich ergibt sich die Frage, welche Dimensionen zu beachten sind.
___________ 76
Neuraths Auffassung fassen Hegselmann (1979) und Rutte (1982, 1995) zusammen, vgl. hierzu auch Hempel (1982) und Stadler (1982a) sowie Uebel (1991c) und Cartwright u. a. (1996). 77 Uebel (1991c, S. 11) führt die mangelnde, bzw. fehlerhafte Rezeption Neuraths u. a. auf die Darstellung im „Positivismusstreit“ (Adorno u. a., 1972) zurück, wo kaum zwischen Popper und dem Wiener Kreis unterschieden wird und erst recht nicht zwischen den Positionen einzelner Mitglieder des Wiener Kreises.
3. Der Lebenslage-Ansatz
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Ausgangspunkt ist für Neurath die „Lebensstimmung“. Damit bezeichnet er „[d]ie Erfreulichkeit oder Unerfreulichkeit des Erlebens“, die „sowohl ‚Glück‘ als auch ‚Unglück‘ sowohl ‚Reichtum‘ als auch ‚Armut‘ umfasst“ (Neurath 1925, S. 271). An anderer Stelle verwendet Neurath auch das Wort „Sensationen“ (1913) oder spricht von „Lust“ und „Unlust“ (1920, 1931a). Daran wird deutlich, dass er mit „Lebensstimmung“ in etwa das meint, was in der Volkswirtschaftslehre heute „Nutzen“ heißt (vgl. auch Rosner 2001). Wie oben bereits ausgeführt, sieht Neurath die interpersonelle Vergleichbarkeit und Messbarkeit der Lebensstimmung kritisch, daher führt er die Kategorie der „Lebenslage“ ein: „Die Lebensstimmungen können wir nicht unmittelbar erfassen, wir werden uns daher an die Lebenslagen halten, an Wohnung, Nahrung, Kleidung, Arbeitszeit usw. ...“ (1920, S. 58). Geht man auf den ersten Text78 zurück, in dem Neurath seinen Ansatz systematisch und vollständig dargestellt hat, so wird deutlich, dass er mit „Lebenslage“ die Ursache für die „Lebensstimmung“ umschreiben möchte: „Da wir keine feineren Untersuchungen vorhaben, wollen wir uns damit begnügen, festzustellen, daß die Innenlage eines Zeitelements von der Innenlage des vorhergehenden Zeitelements und einer Reihe weiterer Bestimmungsstücke abhängig zu sein scheint, als welche etwa die Verdauungsvorgänge, der Ernährungszustand, der Muskelzustand, der Erwärmungszustand, der Haut und vieles andere anzuführen sind. Wir wollen den Inbegriff dieser Bestimmungsstücke als Lebenslage bezeichnen, wobei die Beziehungen der Lebenslagenstücke zueinander nicht immer im einzelnen erörtert werden müssen. ... Wir können bei den Betrachtungen, die wir anstellen, den Begriff der Lebenslage auch noch auf eine weitere Schale der Einwirkungen ausdehnen und daher etwa das Brot, welches gerade zur Verdauung gelangt, an Stelle des Verdauungszustandes, das Kleid, welches die Erwärmung der Haut unmittelbar bedingt, an Stelle des Erwärmungszustandes zur Lebenslage im weiteren Sinne rechnen. Es kann dann vorkommen, daß man die Lebenslage eines Menschen in einem gewissen Zeitabschnitt durch die Menge Brot, welche er ißt, durch die Kleidermenge, welche er benutzt, durch die Arbeit, die er leistet, und die Krankheit, die er mitmacht, nach Menge, Anordnung usw. charakterisiert.“ (Neurath, 1917a, S. 106f)
Unterscheidet Neurath hier noch zwischen Lebenslage im engeren und im weiteren Sinne, so bezeichnet er später mit Lebenslage, das, was er zunächst Lebenslage im weiteren Sinne, genannt hat, nämlich jene Lebensbedingungen, die sich gut erfassen lassen: „Lebenslage ist der Inbegriff all der Umstände, die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltungsweise eines Menschen , seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage, auch die Menge an Malariakeimen, die bedrohlich einwirken. Sie ist die Bedingung jenes Verhaltens, das wir als Lebensstimmung bezeichnen.“ (Neurath, 1931a, S. 125)
___________ 78 Den Lebenslagenansatz stellt Neurath vor allem in folgenden Schriften dar: 1917a, 1920, 1925, 1931a, 1935, 1937, 1944 und Neurath/Schumann (1919).
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
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Schließlich definiert Neurath noch die Begriffe „Lebensboden“ und „Lebensordnung“, die seinem Ansatz eine klare Struktur geben:79 „Soweit wir ein Stück Welt mit all seinen Bestandteilen, Einrichtung als Bedingungen von Lebensstimmung ansehen, wollen wir es als Lebensboden bezeichnen.“ (Neurath 1925, S. 271) „Klima, geographische Verhältnisse, kurzum alles, was für das Verhalten von Bedeutung ist, gehört zum Lebensboden eines Volkes.“ (Neurath 1931a, S. 116)
Auch den Lebensboden definiert Neurath mit Blick auf die Lebensstimmung. Es sind all jene Umstände, auf die der einzelne keinen Einfluss hat oder welche er zunächst als gegeben hinnehmen muss wie das Klima, die geographischen Bedingungen, aber auch das, was wir heute unter „Infrastruktur“ verstehen, nämlich Straßen, Leitungen, Bildungseinrichtungen etc., sowie schließlich auch die gegebene Lebenslage selbst: „Sowie man in der Berufsprüfung einem jungen Mann allerlei Hebel, Schrauben usw. vorlegt und ihm die Aufgabe stellt, eine Konstellation zu finden, die Hubleistungen ermöglicht, so kann man bei gegebenem Lebensboden die Frage stellen, welche Lebenslagenleistung eine Lebensordnung erzeugen kann. Die jeweils erzeugte Lebenslage wird selbst zu einem Stück Lebensboden, mit dem weiterhin gerechnet werden muß.“ ( Neurath 1931a, S. 119)
Der Lebensboden ist hier der Rohstoff, aus dem erst die Lebensordnung etwas – die Lebenslage – erzeugt. Unter Lebensordnung versteht Neurath das typische, regelhafte Verhalten eines Individuums oder einer Gesellschaft: „Die Gesamtheit der Maßnahmen, Einrichtungen, Gebräuche eines Menschen oder einer Menschengruppe wollen wir Lebensordnung nennen.“ (Neurath 1925, S. 271) „... Lebensordnungen, worunter wir den Inbegriff von Handlungen, Maßnahmen, Sitten, Gebräuchen und derlei mehr verstehen wollen, welche für Einzelmenschen oder Völker charakteristisch sind, ...“ (Neurath 1917a, S. 109)
Insofern man von der Effizienz einer Lebensordnung bei der „Produktion“ von beglückenden Lebensstimmungen sprechen kann, nennt Neurath die Lebensordnung auch „Wirtschaftsordnung“: „Soweit wir rechnend und schematisierend diese Abhängigkeit der Lebensstimmung von der Lebensordnung erfassen können, nennen wir die Lebensordnung ,Wirtschaftsordnung‘ oder ,Wirtschaft‘, und sagen die Wirtschaftlichkeit einer Wirtschaftsordnung sei höher als die einer zweiten, wenn die erste demselben Lebensboden beglückendere Lebenslagen als die andere zu entlocken vermag.“ (Neurath 1920, S. 47)
Aus den Zitaten wird klar, dass Neurath nicht nur einen Wirkungszusammenhang zwischen der Lebenslage und der Lebensstimmung eines Menschen gesehen hat, sondern einerseits auch die geographische Bedingtheit der Le___________ 79 Diese Begriffe definiert Neurath bereits 1917, aber die hier angegebenen späteren Definitionen erscheinen mir griffiger.
3. Der Lebenslage-Ansatz
68
benslage in Form des Lebensbodens berücksichtigt hat und andererseits eine klare zeitliche Struktur unterstellt hat: Die Lebenslage von heute hängt davon ab, inwieweit die gewählte Lebensordnung es vermag, den Lebensboden, welcher die Lebenslage von gestern mit umfasst, in eine günstige Lebenslage von heute umzuwandeln. In einer Formel ließe sich das so ausdrücken: f ( x t 1 , y ) ,
xt
wobei x für Lebenslage steht, f für die Lebensordnung, y für den Bestandteil des Lebensbodens, der nicht zur Lebenslage gehört, und t die Zeitperiode angibt. Die Lebensstimmung hängt nun von der Lebenslage ab: h
h( x t ) ,
wobei h für Lebensstimmung steht. Während Neurath die zeitliche Struktur deutlich in seinen Texten ausarbeitet, äußert er sich nicht klar darüber, ob der obige Zusammenhang für Individuen oder für Gesellschaften oder beide gilt. Die Lebenslage x könnte ein individueller Vektor sein, ein Vektor, der die Lebenslage der gesamten Gesellschaft zusammenfasst, oder eine Matrix, in der die Lebenslage jedes Individuums aus der Gesellschaft in ihren vielen Dimensionen abgetragen ist. Insbesondere fragt sich, inwiefern Neurath einen Zusammenhang zwischen der Lebenslage verschiedener Personen sieht oder nicht. y ist mit Sicherheit ein Vektor, der die relevanten Eigenschaften des Lebensbodens beschreibt, aber auch hier lässt sich fragen, ob der Vektor für jede Person anders aussieht, oder ob der Vektor für alle Personen einer Gesellschaft identisch ist und daher auch für die Gesellschaft als Ganzes gilt. Schließlich lässt sich fragen, ob sich die Lebensstimmung h als Skalar ausdrücken lässt.
Lebenslagentypen Wenn Neurath von der Typisierung von Lebenslagen spricht, sagt er ein wenig darüber aus, ob sich der Begriff „Lebenslage“ immer auf ein Individuum bezieht und wie er den Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft sieht. Ausgangspunkt ist für Neurath offensichtlich das Individuum: „Man kann nun daran gehen, die Lebenslagen verschiedener Menschen auf Grund objektiv angebbarer Merkmale zu vergleichen. Man kann so in jedem Zeitabschnitt ein Lebenslagenrelief aufstellen, das sich ändert. Zunächst ist das Lebenslagenrelief derart, daß jedes Individuum besonders behandelt wird. Man kann aber auch verwandte Gruppen zusammenfassen und eine Art Durchschnitt herstellen, etwa Bevölkerungsklassen auf ihre Lebenslage hin untersuchen.“ (Neurath 1931a, S. 125)
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
69
Zunächst möchte Neurath also die Lebenslagen auf individueller Ebene erfassen, um dann Gruppen zu bilden. Dies geschieht teilweise aus praktischen Erwägungen (man erinnere sich daran, dass zu Neuraths Zeit die Datenverarbeitung praktisch noch nicht existierte): „Um die Ergebnisse zu meistern, die uns ein Lebenlagenkataster bringt, werden wir uns genötigt sehen, gewisse Typen von Lebenslagen abzugrenzen und Lebenslagen gleich hoch anzusetzen, die inhaltlich verschieden sind.“ (Neurath 1925, S. 276)
Die Frage ist nun, wie Neurath die Typen ermitteln will, bzw. nach welchem Kriterium er die Gruppen einteilt. Dazu schreibt er: „Wir können etwa von den einzelnen Menschen aussagen, was sie Jahr für Jahr an Nahrung verbrauchen, in welchen Wohnungen sie leben, was sie und wieviel sie lesen, welche Familienschicksale sie erfahren, wieviel sie arbeiten, wie oft und wie sehr sie erkranken, wieviel Zeit sie dem Spazierengehen, dem Gottesdienst, der Kunst usw. widmen. Ja, wir werden sogar gewisse durchschnittliche Lebensläufe auffinden, von denen andere für rohere Untersuchungen als unwesentliche Abweichungen erscheinen. In ähnlicher Weise können wir auch die Lebenslagen ganzer Menschengruppen feststellen, indem wir angeben, der wievielte Teil der Menschen an bestimmten Krankheiten darniederliegt, der wievielte Teil in bestimmtem Alter stirbt, der wievielte Teil in gewissen Wohnungen wohnt und derlei mehr, schließlich der wievielte Teil auf einzelne Lebenslagentypen entfällt.“ (Neurath 1917a, S. 116)
In diesem frühen Text schildert Neurath zumindest zwei verschiedene Vorgehensweisen: Zum einen kann eine Typisierung aufgrund ähnlicher Ausstattung mit „Nahrung, Wohnung, Kleidung, Arbeitszeit usw.“ erfolgen. Bemerkenswert ist, dass Neurath hier einen zeitlichen Aspekt hineinbringt und von Lebensläufen, nicht von Lebenslagen spricht. An anderer Stelle (Neurath 1920, S. 58) meint er, man könne die Lebenslagen typisieren, so dass man „z. B. mehrere Stufen bäuerlicher Lebenslage in irgendeiner Gegend“ erhält. Von „Stufen“ spricht Neurath auch 1935 (S. 18f), wenn es um die „Lebenslagenverteilung“, bzw. „Schichtung der Gesellschaft“ geht. Die Stufen entsprechen verschiedenen Lebenslagenhöhen und: „Es wäre z. B. eine Wirtschaftsordnung als ‚stufenfrei‘ zu bezeichnen, in der alle Mitglieder ungefähr gleich günstige Lebenslagen aufweisen, die deshalb noch lange nicht gleicher Art sein müßten ...“ (Neurath 1935, S. 18f). In diesem Zusammenhang verweist Neurath auch auf die Arbeiten von Le Play. Zum anderen hält er es auch für möglich und sinnvoll, die Lebenslage einer gegebenen Gruppe, bspw. einer Gesellschaft durch Angabe von Quoten zu charakterisieren. Diese Vorgehensweise findet sich in einem späteren Text wieder: „Man kann zwei soziale Ordnungen miteinander vergleichen, solange man Sterberate, Selbstmordrate, Analphabetismus, Verwendung von Radiogeräten und dergleichen im Auge hat. Wir wollen von verschiedenen ‚Silhouetten‘, die aus fraglichen Gegenständen zusammengesetzt sind, in Analogie zu individuellen ‚Profilen‘ sprechen.“ (Neurath 1944, S. 962)
3. Der Lebenslage-Ansatz
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Man kann also festhalten, dass Neurath die Lebenslage sowohl auf der individuellen Ebene erfasst, um daraus Lebenslagentypen abzuleiten, als auch die Lebenslage einer Gesellschaft als Ganzes durch Quoten charakterisiert. So kann man sowohl die Lebenslage als Kriterium verwenden, um eine Gesellschaft zu strukturieren, als auch einer gegebenen Gruppierung verschiedene Lebenslagen zuordnen.
Mehrdimensionalität Wie die vorangegangenen Zitate zeigen, schwebt Neurath als Grundlage seiner Theorie eine genaue Erfassung der Lebenslage in ihren verschiedenen Dimensionen vor. Tatsächlich legt er großen Wert auf eine exakte Beschreibung der Lebenslage und fordert daher eine entsprechende Statistik: „Die Grundlage für diese Lebenslagenübersichten, welche für uns von ausschlaggebender Bedeutung sind, werden durch Haushaltsbeschreibungen und verwandte Erhebungen geliefert. Wenn die Arbeiten auf diesem Gebiet auch auf die Geldrechnung abgestellt zu sein pflegen ..., so liefern sie uns doch immerhin auch viele sonstige Angaben ...“ (Neurath 1917a, S. 116) „Die bisherigen Betrachtungen führen uns zu der Forderung nach einem Ausbau der Wohlhabenheitsstatistik im weitesten Sinne. Dieselbe würde vor allem die Verbrauchsstatistik behandeln müssen. Außer der Verbrauchsstatistik benötigen wir auch eine Nutzungsstatistik, welche feststellen müßte, wieviele Kleider, Tische, Bücher usw. benutzt werden. ... Zur Nutzungsstatistik gehört auch die Behausungsstatistik. ... Die Bedingungen der Unlust erfassen wir insbesondere durch die Arbeitszeitstatistiken, Unfallstatistiken, sowie durch Zusammenstellungen über Morbidität und Mortalität.“ (Neurath 1916, S. 142f)
Die Aufstellung all dieser Daten nennt Neurath (1917a, 1935, 1937) das „Lebenslagenkataster“. An dieser Bezeichnung, wie an seinen vielen anderen der Erdkunde entliehenen Begriffen, wie bspw. Lebenslagenrelief bzw. Lebenslagensilhouette, zeigt sich Neuraths Vorstellung von Mehrdimensionalität: Er stellt sich eine Landschaft vor mit Hügeln, Tälern und Ebenen – also ein dreidimensionales Gebilde! Ein Schnitt durch diese Landschaft entlang der Linie eines Individuums oder einer Gruppe von Menschen nennt Neurath „Lebenslagen-Silhouette“ und ein Schnitt entlang der Linie eines Merkmals gibt die Verteilung dieses Merkmals in der Bevölkerung wieder, wie z. B. in „Modern Man in the Making“ (Neurath 1939, S. 61 und 94) zu sehen.
Vergleichbarkeit Wie nun lassen sich Lebenslagen – sei es auf individueller Ebene, sei es auf gesellschaftlicher Ebene – miteinander vergleichen?
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
71
Eigentlich zielt die Erfassung der Lebenslage ja darauf ab, der Lebensstimmung möglichst nahe zu kommen, und die Lebensstimmung ist folglich das Kriterium, anhand dessen Lebenslagen zu ordnen sind: „Whereas this atomistic approach coordinates positive and negative ,feeling‘quantities with positive and negative conditions, we shall coordinate the totality of a person’s feeling, or that of a group, with his or its entire living condition and investigate the extent to which changes in the ,state of felicity‘ (,Lebensstimmung‘, Anm. O.L.) in a positive or negative direction depend upon changes in these conditions. ... we investigate ... the conditions under which the totality of feeling becomes more or less pleasurable. Only these elements are significant for our approach to standards of living (,Lebenslagen‘, Anm. O.L.). We call that standard of living higher which produces a more pleasurable state of felicity characterized by a certain attitude or behavior.“ (Neurath 1937, S. 142)
Eigentlich also sieht Neurath einen Zusammenhang zwischen Lebenslage und Lebensstimmung, und die Lebenslagen sollten je nach Lebensstimmung, welche sie erzeugen, beurteilt werden. Doch auch wenn Neurath hier andeutet, man könne die Lebensstimmung am Verhalten der Individuen ablesen, hegt er (siehe Abschnitt 3.1.1) große Zweifel an der interpersonellen Vergleichbarkeit der Lebensstimmungen einerseits und stellt andererseits in Frage, ob der Zusammenhang zwischen Lebenslage und Lebensstimmung für alle Individuen gleich ist. Da er versucht, mit der Annahme auszukommen, „daß nur die Lebensstimmungen miteinander vergleichbar sind, welche ein bestimmter Mensch von einem bestimmten Zeitpunkt aus zu erleben vermag“ (Neurath 1917a, S. 118), ist es nur konsequent, dass er die Beurteilung der Lebenslagen teilweise für reine Geschmackssache hält: „Es gibt keine Möglichkeit, die Wirkungen von Maßnahmen auf die Lebensstimmung menschlicher Gruppen unter allen Umständen einheitlich auszudrücken und die Wirkungen in einem Falle mit den Wirklungen im anderen Falle rechnungsmäßig zu vergleichen: Vielmehr kann man allgemein nur Lebensstimmungsreliefs einander gegenüber stellen; welchem Lebensstimmungsrelief man den Vorzug gibt, muß jedesmal so entschieden werden, wie man darüber entscheidet, ob man diese oder jene Speise lieber ißt, diesen oder jenen Architekturplan lieber ausführen will.“ (Neurath, 1925, S. 274)
Dieser Ausweg, die Entscheidung als Sache des Geschmacks darzustellen, mag in Neuraths Sozialisierungsplänen seinen Sinn gehabt haben, wenn letztendlich klar ist, dass es eine politische Entscheidung ist, die in einem bestimmten Prozess gefällt werden muss. Insgesamt befriedigt er Neurath jedoch nicht, so dass er auf den Vergleich der Lebenslagen übergeht. Dabei gibt er allerdings zu bedenken: „In jenen Fällen, in welchen wir Durchschnittslebensstimmungen nicht miteinander vergleichen können, liegt es nahe, die Durchschnittslebenslagen miteinander zu vergleichen, was besonders in der Verbrauchsstatistik geschieht. Es muß aber nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß den Durchschnittslebenslagen keineswegs immer die Durchschnittslebensstimmungen entsprechen. Vielmehr sind es oft rein
3. Der Lebenslage-Ansatz
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rechnerische Größen. Freilich, wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, hält man sich zur Not gerne an solch einen Ausweg.“ (Neurath 1917a, S. 120)
In diesem Zusammenhang macht Neurath darauf aufmerksam, dass sich bestimmte Elemente der Lebenslage (sein Beispiel ist Zuckerwasser und Ofenwärme, Neurath 1917a, S. 121f) ergänzen. Daher fordert Neurath, die Lebenslage insgesamt zu betrachten, und von der Idee, einzelne Elemente der Lebenslage seien unabhängig voneinander, Abstand zu nehmen. Allen Bedenken zum Trotz versucht Neurath also, Lebenslagen miteinander zu vergleichen. Dass es dabei nahe liegt, eine Art Index zu bilden, ist Neurath durchaus bewusst: „Wollte man diese Probleme genauer behandeln, muß man eine Skala der Lebenslagen aufstellen, welche der mineralogischen Härteskala zu vergleichen wäre. Wieweit es einen Sinn hat, alle Lebenslagen mit Hilfe einer Skala zu ordnen, ob man nicht je nach Zeit und Situation verschiedene Skalen verwendet, ist eine andere Frage.“ (Neurath 1931a, S. 126)
Aber zugleich ist Neurath Indizes gegenüber sehr kritisch. Schon 1909 (S. 220) bekundet er: „Die Indexzahlen haben ... sehr viel Bedenkliches.“ Später führt er seine Bedenken näher aus: „Die Kritik gegen diesen Vorschlag gründet auf der in allen ähnlichen Fällen wichtigen Bemerkung, daß man zwar Konventionen durch Auswahl nur eines Standards festlegen kann, daß aber die auf diese Weise erhaltene Ordnung unverändert bleiben sollte, wenn eine andere Standardpopulation gewählt wird. ... Die Gefahr rührt, kurz gesagt, vom Versuch her, Indexzahlen mittels Vermischung von Items zu erhalten, Items, die in verschiedenen Einheiten gemessen wurden, oder solche, die man erhalten hat, indem man Benotungen (Resultate von Reihungen ) als Kardinalzahlen behandelt, obwohl sie nur Ordinalzahlen sind.“ (Neurath 1944, S. 963)80
Es sind also zwei Punkte, die ihn beschäftigen: erstens die Tatsache, dass bei der Bildung eines Indexes Größen miteinander vermischt werden, die in verschiedenen Einheiten gemessen werden; und zweitens die Möglichkeit, dass das Ergebnis nicht eindeutig ist in dem Sinne, dass es vom gewählten Referenzpunkt – Neurath spricht von „Standard“ – abhängt. Das Beispiel, an dem Neurath den zweiten Punkt erläutert, ist der Vergleich zweier Gesellschaften bezüglich ihrer Sterblichkeitsrate, indem eine bestimmte Altersstruktur als Referenzpunkt gewählt wird. Seine Kritik lässt sich als Anforderung an Indizes lesen: Die Ordnung, welche durch einen Index generiert wird, sollte sich nicht verändern, wenn ein anderer Standard als Referenzgröße gewählt wird. Letztendlich sucht Neurath nach einer anderen Möglichkeit, Lebenslagen miteinander zu vergleichen. Die größte Hoffnung scheint er bei der Beschrän___________ 80 In ähnlicher Weise äußert er sich bereits in Neurath (1937, S. 146 und 1935, S. 38).
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
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kung auf eine Reihung (Ordnung) zu hegen, auch wenn er die Grenzen dieses Ansatzes sieht: „Wenn ein Durchschnitt mehr Nahrung, Kleidung usw. aufweist, als der andere, weniger Arbeit, weniger Krankheit usw., dann kann man wohl sagen, daß die dazu gehörige Lebensstimmung mindestens nicht niedriger ist als die andere; wenn aber die Nahrungsmenge größer, die Wohnungsmenge kleiner, die Arbeitsmenge größer, die Krankheitsmenge kleiner ist, so ist eine neue Abschätzung dieser Durchschnittslagen erforderlich.“ (Neurath 1917a, S. 120)
Ausgehend von einer klaren Einteilung in positive und negative Bestandteile der Lebenslage, reicht es aus, Lebenslagensilhouetten miteinander daraufhin zu vergleichen, welche oberhalb der anderen liegt, bzw. wie wir heute sagen, welche die andere dominiert (vgl. Abschnitte 2.4 und 2.5.6). Probleme ergeben sich erst, wenn es zu Überschneidungen der Silhouetten kommt. Dann lassen sich die beiden Lebenslagen nicht miteinander vergleichen. Die (Dominanz-) Ordnung, die auf diese Weise erzeugt wird, ist unvollständig. Die Unvollständigkeit der Ordnung bereitet Neurath offensichtlich Unbehagen. Er deutet an, dass man die Ordnung vollständiger machen muss, doch scheint ihm der Weg dahin nicht klar gewesen zu sein. Das dürfte mit seiner Methode zu tun haben, wie er die Multidimensionalität der Lebenslagen veranschaulicht: In einer Landschaft liegen die Dimensionen nebeneinander, sie stehen nicht miteinander in Beziehung. Würde er die Lebenslage als Vektor begreifen, der bekanntlich als Punkt in einem mehrdimensionalen Raum veranschaulicht werden kann, so wären die verschiedenen Dimensionen direkt miteinander in Beziehung gesetzt. Es wäre dann möglich, mit größerer Präzision die Frage zu stellen, ob die Dimensionen in einem komplementären oder substitutiven Verhältnis miteinander stehen. Neuraths Festhalten an der Darstellung in Form von Silhouetten ist umso bemerkenswerter, als dass er Pareto gelesen hatte und seine Darstellung von Indifferenzkurven kannte. Er wendet dagegen aber ein: „Die geometrische Darstellung ist auch deshalb sehr oft unangebracht, weil wir über die ebene oder höchstens die räumliche Darstellung nicht hinausgehen können, wodurch wir leicht verführt werden alle Probleme so zu formulieren, daß jeweils nur zwei oder höchstens drei Variable vorkommen.“ (Neurath 1911a, S. 79)
Statt also die „geometrische“ Darstellung mit einem mehrdimensionalen Raum zu nutzen, bleibt Neurath bei seiner „geographischen“ Darstellung81, bei der jede Dimension einem Breitengrad entsprechen und die Lebenslage jedes Individuums oder jeder Gesellschaft entlang eines Längengrades darstellt wird. Auch bei der Auseinandersetzung um die Gewichtung von Dimensionen, um Austauschverhältnisse zwischen Dimensionen, bleibt Neurath in der geogra-
___________ 81 Die Bezeichnung „geographische“ Darstellung sowie die Veranschaulichung mit Hilfe von Längen- und Breitengraden stammt von mir. O.L.
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phischen Darstellung, wenn er schreibt, dass es nötig ist, „Lebenslagen gleich hoch anzusetzen, die inhaltlich verschieden sind.“ (Neurath 1925, S. 276)82 Ein Vergleich in der „geographischen“ Darstellung fragt für jede Dimension einzeln die Größenverhältnisse ab. (Ist jedes einzelne Element des einen Vektors mindestens so groß wie das entsprechende Element im anderen Vektor?) Die Maßeinheit, in der eine Dimension gemessen wird, hat zwar wie bei der Bildung eines Indizes einen Einfluss auf das Verhältnis der verschiedenen Elemente, aber da auf eine Aggregation verzichtet wird, haben die Maßeinheiten keinen Einfluss auf die Ordnung, die durch den Vergleich erzielt wird, wie folgendes Beispiel Neuraths zeigt: „For the sake of simplicity let us take as an example a standard of living silhouette characterized only by food, housing and health. All three are measurable quantities. Two human groups, A and B are given; f signifies a unit of food, d a unit of dwelling, and h a unit of health. (We assume that we can measure these three quantities by means of specific units.) The standard of living A, is composed of 3f + d +3h, B of 2f + 3d + h: Person A fff d hhh
Person B ff ddd h
The standard of living A is characterized by more food, a smaller coefficient with respect to dwelling, and a greater degree of health (to this might be added leisure time, working time, etc.). The form of the silhouette depends upon the choice of units. In this case given here A silhouette is ,concave‘, the B silhouette is ,convex‘. If the unit of dwelling were assumed to be smaller, then both silhouettes might be ,convex‘, but B silhouette would then be more convex than the A silhouette.“ (Neurath 1937, S. 143)
In dem Beispiel hat sich zwar das Bild der Lebenslagelandschaft geändert, nicht jedoch die Ordnung der Silhouetten: Die B Silhouette ist konvexer83 als die A Silhouette. Genau dies macht Neuraths Form der Veranschaulichung der Lebenslage attraktiv: Es ist möglich, auf den ersten Blick zu sehen, welcher „Gipfel“ höher ist, welche Lebenslage eher einer „Ebene“ und welche einem „Gebirge“ entspricht, d. h. welche Lebenslage gleichmäßige bzw. ungleichmäßige Merkmalsausprägungen aufweist. Natürlich ist gerade die Frage der ___________ 82
In der sozialisierten Wirtschaft könnte es nach Neurath/Schumann (1919, S. 51f) verschiedene Kaufhäuser geben, aus denen sich die Menschen je nach zugeteilter Lebenslage (die in ihrer sozialistischen Gesellschaft an die Stelle des Einkommens tritt) eine bestimmte Menge an Gegenständen nehmen dürfen, wobei sie sich nach Geschmack entscheiden können. Weitere Beispiele finden sich in Neurath (1935, S. 17– 19). 83 Die Form der Silhouette hängt freilich auch von der Anordnung der Dimensionen ab. Insofern ist die Bezeichnung der Silhouetten als „konvex“ und „konkav“ irreführend.
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
75
Gleichmäßigkeit stark von der Wahl der Einheiten abhängig, aber für den Vergleich zweier Lebenslagen reicht es aus, zwischen mehr und weniger gleichmäßig unterscheiden zu können. Tatsächlich vertraut Neurath auf den gesunden Menschenverstand und hält schon deshalb an seiner Betrachtung fest: „In everyday speech one might say that the standard of living of a group has been reduced, and mean thereby not only that their income is lower, so that they are able to buy less food and clothing, but also that, for example their working hours has been lengthened, that their leisure time has thus been shortened and also that there are thus more conflicts within this group, and that the incidence of disease and mortality has increased.“ (Neurath 1937, S. 140)
Zudem ist Neurath davon überzeugt, dass bereits die Informationen, die im Lebenslagenkataster enthalten sind, unser Denken und Handelns beeinflussen. Er fragt: „Was nützen alle diese Silhouetten, all diese mehrdimensionalen Surveys, wenn wir doch auf jeden Fall Entscheidungen treffen müssen?“ (Neurath 1944, S. 968) und antwortet: „Wenn wir das von den Sozialwissenschaften bereitgestellte Material kennen, dann argumentieren wir anders und handeln anders.“ (Neurath 1944, S. 977).
Auswahl der Dimensionen Welche Elemente gehören nun in die Lebenslage? Welche sind wichtig für die Entscheidungen? Neurath nennt in zahlreichen Beispielen84 die Dimensionen, die er für wichtig hält: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildungsmöglichkeiten, Gesundheit, Vergnügungen, Muße- und Arbeitszeit. Bemerkenswert an seinen Aufzählungen ist wiederum die Betonung zeitlicher Aspekte und der Bezug auf bestimmte Zeitperioden. Neurath nennt jedoch kein Kriterium, nach dem die Dimensionen ausgewählt werden sollten. Etwas lax heißt es bei ihm: „Sozialwissenschaftler können ‚Lebenslagen‘ charakterisieren, indem sie von Obdach, Nahrung, Unterhaltung, Freundschaft, ‚ozeanischem Gefühl‘ reden, oder von was immer sonst sie für wichtig halten.“ (Neurath 1944, S. 967)
Allerdings meint Neurath, jede Beobachtung sei von einer Theorie geleitet, und wendet sich gegen reines Datensammeln (vgl. auch Neurath 1936, S. 773): „To be sure, the systematic treatment of such inventories of standard of living presupposes that, in broad outline, one has certain assumptions as to which data might be essential for purposes of comparison. ... Without a specific theoretical orientation the investigator will overlook or omit much that may later prove to be important. On the other hand it is possible today to note down much that can only be profitably
___________ 84 Siehe bspw. Neurath (1916, S. 142f; 1917a, S. 115f; 1925, S. 275 und 1944 S. 967).
3. Der Lebenslage-Ansatz
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evaluated later, in order to set up new hypotheses or to test old ones in a new way.“ (Neurath 1937, S. 147f)
Die Hypothese Neuraths lässt sich in obiger Formel wiedergeben: h( xt )
h( f ( xt 1 , y ))
Die Aufgabe des Sozialforschers besteht nun darin, möglichst viel über den Zusammenhang von Lebensboden, Lebenslage und Lebensstimmung in Erfahrung zu bringen, um so eine möglichst gute Grundlage für Entscheidungen zu schaffen. Bezüglich dieses Zusammenhangs hat Neurath ein geradezu mechanistisches Weltbild, wie bereits in einigen Zitaten deutlich wurde. Er hält es offensichtlich für möglich, zu „berechnen“, welche Lebenslagen vom gegebenen Lebensboden durch verschiedenen Lebensordnungen erzeugt werden können. So schreibt er noch 1944: „Wir fangen bei demselben ‚Lebensboden‘ an (einer Aggregierung, die sich aus Menschen, Sümpfen, Feldern, Häusern, Mikroorganismen usw. zusammensetzt) und fragen, welche verschiedenen Lebenslagen sich zeigen, wenn wir dieselben Komponenten in verschiedener Weise zusammensetzen.“ (Neurath 1944, S. 967)
An diesem Modell soll sich auch die Auswahl der Dimensionen der Lebenslage orientieren. Wie bereits oben zitiert, hält Neurath (1937, S. 142) nur jene Elemente für relevant, welche die Lebensstimmung beeinflussen. Dabei kommt es jedoch nicht auf die Messbarkeit an: „Daß man die meßbaren, einer handfesten Bearbeitung zugänglichen Größen ausführlicher berücksichtigt als die mehr unbestimmten, wie Religiosität, Kunstbetrieb und derlei, ist klar. Doch muß man sich hüten, jene Größen, welche einer klaren Erfassung leichter zugänglich sind, auch für wesentlicher anzusehen oder gar zu glauben, daß die Größen, welche man so erfassen kann irgendwie grundsätzliche Unterschiede gegenüber den weniger klar erfaßbaren aufweisen.“ (Neurath 1917a, S. 116)
3.1.3 Diskussion Leider ist Neuraths Ansatz kaum beachtet und daher auch kaum diskutiert worden. Zweifelsohne ist aber zu fragen, welche Rolle das Einkommen in seinem Ansatz spielt, zumal er für eine Naturalwirtschaft eintritt, zugleich aber in einer Geldwirtschaft lebt. Im Anschluss fasse ich den Ansatz, seine Stärken und seine Schwächen kurz zusammen.
Rolle des Geldeinkommens Das Einkommen wurde bereits zu Neuraths Zeit (und wird noch heute) gerne zur Ermittlung des Wohlstands herangezogen, weil es messbar ist. Neurath hingegen sieht die Rolle des Einkommens völlig auf das eines Mittels reduziert,
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
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dessen Zweck die Beschaffung der Dinge ist, deren Verfügbarkeit eine Lebenslage kennzeichnet. Daher taucht es bei ihm nicht als Dimension der Lebenslage auf: „Selbstverständlich kann man durch Verbindung der Geldeinkommen und der Kaufkraft in Bezug auf bestimmte Gegenstände gewisse Eigentümlichkeiten des Standards feststellen, welche eben Wohnung, Nahrung usw. der Menge nach nebeneinander stellen. Gegen derartige Ergebnisse ist oft nichts Wesentliches einzuwenden. Grundsätzlich aber ist wohl die unmittelbare Erfassung des Lebensstandards vorzuziehen.“ (Neurath 1916, S. 145)
An dieser Stelle darf man nicht vergessen, dass Neurath eine geplante Naturalwirtschaft anstrebt. D. h. langfristig meint er auf das Geld sogar in seiner Funktion als Recheneinheit oder zur Festsetzung von Preisen (Tauschverhältnissen) verzichten zu können.85 Insbesondere wendet sich Neurath gegen die Bestrebungen, Geld als die Maßeinheit zu sehen, welche dem Nutzen – in seiner Sprache der Lebensstimmung bzw. der Lust und Unlust – am nächsten kommt, d. h. gegen das Konzept des monetarisierten Nutzens86, wie es heute bspw. in der Kosten-NutzenAnalyse gängig ist: „Ist es da möglich, einen Kalkül aufzustellen, derart, daß wir Wohnung und Nahrung als eine Größe zusammenfassen, und die Ehre als eine andere? Ausgeschlossen! Wir sind nicht in der Lage, einen derartigen Komplex, der Lust und Unlust umfaßt, in der Weise zu berechnen, daß wir erst abgesondert die Höhe der Lust, dann die der Unlust feststellen und die Summe bilden. Die Konsequenz daraus ist, daß uns die Umrechnung in Geld in diesem Falle nicht hilft. ... Wir müssen in letzter Linie einen Komplex von Lust und Unlust als Ganzes in Erwägung ziehen, wenn wir die Gesamtlage eines Menschen charakterisieren wollen.“ (Neurath 1909, S. 219)
Immerhin räumt Neurath zunächst dem Geld als Alternative zu Indizes einen Platz ein, wenn es um die Ermittlung des Lebensstandards geht: „So frägt es sich, ob die Umrechnung des Einkommens in Geldsummen und umgekehrt die Ableitung des wirklichen Einkommens aus dem Geldeinkommen nicht indirekt wenigstens von Vorteil ist. Ich glaube höchstens insoweit, als nicht Indexzahlen zur Verwendung kommen. Die Indexzahlen haben ... sehr viel Bedenkliches.“ (Neurath 1909, S. 220)
Letztendlich sieht Neurath das Einkommen jedoch weder in der Rolle einer Dimension noch in der Rolle eines einheitlichen Maßstabs zur Kennzeichnung von Lebenslagen. Es scheint so, als habe Neurath die Rolle des Einkommens in der herrschenden Lebens- und Wirtschaftsordnung, welche er als „Verkehrswirtschaft“ bezeichnet, weitgehend geleugnet, um der Konzentration auf Geld ___________ 85
Dass er bei der Sozialisierung zunächst am Geld als Recheneinheit festhalten möchte, zeigt sich z. B. hier: „Die Erörterung werden sich daher auf Naturallöhne zuspitzen, welche in Geld verrechnet werden mögen.“ (Neurath 1920, S. 63). 86 Vgl. zum Konzept des monetarisierten Nutzens bspw. Varian (1992, S. 108ff).
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3. Der Lebenslage-Ansatz
und Preise nicht noch weiteren Vorschub zu leisten. Dies ist insofern eine Schwäche seines Ansatzes, als dass sein Eintreten nicht nur für die Planwirtschaft sondern für eine geplante Naturalwirtschaft unverständlich bleibt. Zusammenfassende Einschätzung Die Lebenslage in dem Ansatz Neuraths ist zunächst ein Behelf, um sich der Lebensstimmung, deren Mess- und Vergleichbarkeit Neurath bezweifelt, über erfassbare Größen anzunähern. Daher ist die Lebenslage immer zu sehen als Träger der Lebensstimmung einerseits und als Produkt von Lebensordnung und Lebensboden andererseits. Dennoch ist es das zentrale Anliegen des Ansatzes, die Lebenslage multidimensional zu erfassen. Die von Neurath dafür gewählte – dreidimensionale – Veranschaulichung erweist sich einerseits als sehr eingängig, weil sie an unsere Alltagserfahrung mit Landschaften anknüpft, andererseits stellt gerade diese Veranschaulichung ein Problem dar für die Fortentwicklung des Ansatzes. Eine formale Struktur kann in dreierlei Hinsicht helfen: Erstens gilt es zu klären, auf welcher Aggregationsebene der Ansatz anzusiedeln ist, bzw. welches Verhältnis zwischen verschiedenen Aggregationsebenen besteht; zweitens ist die These über den zeitlichen (autoregressiven) Zusammenhang zwischen Lebenslagen zu überprüfen und drittens sind die Möglichkeiten für einen Vergleich multidimensionaler Strukturen zu erörtern. Eine große Schwäche in Neuraths Ansatz stellt die Behandlung des Einkommens dar. So richtig die Erkenntnis ist, dass das Einkommen nicht mit dem Lebensstandard zu verwechseln ist, so wenig vermag eine Theorie des Lebensstandards zu befriedigen, die ignoriert, dass große Teile des Lebensstandards durch das Einkommen bestimmt werden.
3.1.4 Aussagen zu Armut Bei Neurath finden sich nur wenige Aussagen zu Armut. Die größte Rolle spielt Armut als Motivation für den Entwurf eines solchen Ansatzes. Daneben finden sich ein paar Überlegungen zur „Mindestlebenslage“ sowie Aussagen zu absoluten Standards, die im Zusammenhang mit dem Spannungsverhältnis, in dem die in Abschnitt 2.1 vorgestellte absolute und relative Auffassung zueinander stehen, interessant sind. Armut als Motivation Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath, wie ich ihn bis hierher dargestellt habe, zielt nicht auf die Messung von Armut, sondern auf die Erfassung des
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
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Lebensstandards in Ermangelung einer besseren Annäherung an die Lebensstimmung. Lebensstimmung, Glück und Unglück, Lust und Unlust sind jedoch genau die Kategorien, in denen Neurath (z. B. in 1928, S. 285) von Gerechtigkeit spricht. Immer wieder87 stellt sich Neurath in die Tradition derer88, welche die Hauptaufgabe der Wirtschaftswissenschaften in der Beantwortung der Frage sehen, wie gesellschaftlicher Wohlstand erzeugt wird: „Geschichtlich knüpft die betriebene Wirtschaftslehre an alle jene an, welche den Reichtum, das, was die Menschen im weitesten Sinne ‚erzeugen‘ und ‚verbrauchen‘ in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, an alle jene, welche sich gleichzeitig mit verschiedenen Wirtschaftsformen beschäftigen, an alle jene, welche als Utopisten sich mit möglichen Einrichtungen abgeben.“ (Neurath 1917a, S. 128)
Müller meint daher, dass das Auseinanderklaffen von potentiellem Reichtum und tatsächlicher Armut Neurath zu seinen Sozialisierungstheorien, also auch seinem Lebenslagen-Ansatz motiviert hat: „Die Notwendigkeit zur Planung leitet sich bei Neurath aus der Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlich möglichen Reichtum und der alltäglich realen Armut her. Vom Standpunkt der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung läuft die kapitalistische Maschinerie weitgehend leer. Die Distribution gesellschaftlichen Reichtums geht unter Ausschluß weiter Teile der Öffentlichkeit vor sich.“ (Müller 1982, S. 105)
Wie hierbei deutlich wird, denkt Neurath an Armut niemals als isoliertes Phänomen, sondern immer im gesellschaftlichen Kontext. Insofern verwundert es nicht, dass er an keiner Stelle Armut zu definieren, zu identifizieren oder gar zu erfassen sucht.
Mindestlebenslage Insbesondere definiert Neurath nirgendwo Armutsgrenzen. Die einzige Stelle, an der sich ein ähnliches Konzept finden lässt, ist das Büchlein „Können wir heute sozialisieren?“, an dem Neurath als Koautor von Schumann mitgewirkt hat.89 Hier findet sich die Forderung, dass eine sozialistische Gesellschaftsord___________ 87
Vgl. auch Neurath (1911a, 1935, 1937). Namentlich nennt Neurath (1917a, S. 128): Aristoteteles, J.J. Becher, Quesnay, Steuart, Smith, Ricardo, Sismondi, Thünen, List, Roscher, Gossen, Stuart Mill, Karl Marx, Leon Walras, Karl Menger, Wilhelm Neurath, Johann von Kormorzynski, Vilfredo Pareto, aber auch Epikur (1928, S. 285). Vgl. auch Neurath (1937, S. 140). 89 Schumann schreibt im Vorwort: „Diese Schrift ist von mir geschrieben worden. Ich danke indessen meinem Freunde Otto Neurath nicht nur mehrere einschneidende Verbesserungen, sondern auch, nach manchem Jahr der Schülerschaft, nahezu den gesamten wirtschaftswissenschaftlichen Inhalt meiner Arbeit. Aus Dankbarkeit wie aus dem Gefühl heraus, nicht eigentlich allein der Urheber dieser Arbeit zu sein, habe ich ihn daher gebeten, auch seinen Namen auf das Titelblatt setzen zu dürfen. ... Wir übernehmen zusammen für sie die Verantwortung ...“ 88
3. Der Lebenslage-Ansatz
80
nung jedem Mitglied der Gesellschaft eine Mindestlebenslage sichern muss. Diese Forderung hatte vorher bereits Popper-Lynkeus (192390) in seinem Buch „Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage“ aufgestellt. Da Neurath sich immer wieder auf Popper-Lynkeus bezieht und dessen Arbeit als Beispiel für eine gelungene Aufstellung eines Wirtschaftplanes hält (Neurath 1920, S. 49), ist anzunehmen, dass er Popper-Lynkeus auch in den Methoden zur Berechnung eines Existenzminimums zustimmt. Dieser hat (optimistisch) geurteilt: „Ein besonderer Vorzug des Planes, aus aller Produktion und Tätigkeit der Gesellschaft nur dasjenige herauszuheben, was sich auf das Notwendige ... bezieht, ..., besteht darin: daß beinahe gar keine wesentliche Unbestimmtheit in den Quantitäten oder sonstigen, charakteristischen Eigenschaften der hauptsächlichen, namentlich leiblichen Bedürfnisse und Genüsse vorhanden ist.“ (Popper-Lynkeus 1923, S. 135)
Dementsprechend geht Popper-Lynkeus davon aus, dass man die Mindestlebenslage wissenschaftlich bestimmen kann. Er fordert jedoch, dass vollständige Gleichheit aller Menschen vorhanden sein muss, was dieses Existenzminimum angeht: „Muß gehungert werden, so sollen Alle gleich stark hungern.“ (PopperLynkeus 1923, S. 137) Diesem Gedanken folgen Neurath/Schumann, wenn sie die Mindestlebenslage anhand von praktischen Erwägungen festlegen und sich dabei nicht von theoretischen Überlegungen leiten lassen: „Bezüglich der Mindestmengen wird ungefähr folgendermaßen vorgegangen. Für einen gewissen Zeitpunkt wird statistisch festgestellt, wie viele Mengen der zu den Mindestlebenslagen gehörigen Dinge vorhanden sind und wie viele Menschen damit versorgt werden müssen. Durch Division ergibt sich dann, wie viel von allem auf jeden Einzelnen entfällt, nachdem man vorher eine abgeschätzte Menge für Mehrzuweisungen abgezogen hat. ... Es sind also genügend Wohnungen gebaut, genügend Nahrungsmittel bereitgestellt, genügend Bücher, Musikinstrumente, Kleiderstoffe, Ledermengen usw. vorhanden, genügend Theater und Konzertgesellschaften in Betrieb, um damit eine erfreuliche Mindestlebenslage der Gesamtheit bestreiten zu können.“ (Neurath/Schumann 1919, S. 50f)
Diese Methode zur Ermittlung der Mindestlebenslage entspricht der Warenkorb-Methode zur Bestimmung einer Armutsgrenze (siehe Abschnitt 2.2) und damit einer absoluten Auffassung von Armut. Für die Ermittlung – und spätere Kontrolle – der Lebenslage soll ein „Zentralwirtschaftsamt“ zuständig sein, welches sich dafür „ein[es] Netz[es] von Vertrauensleuten aller Schichten Berufe, Gruppen, von Arbeiterräten und Arbeiterausschüssen“ bedient und zudem „[v]orhandene Kräfte (Armenpfleger, Fürsorgestellen, Institutsvorsteher, Verwaltungsbeamte)“ – also Experten – ___________ 90
Das Buch ist erstmals 1912 erschienen. Die Idee der allgemeinen Nährpflicht zur Sicherung eines Existenzminimums in natura hat Popper-Lynkeus bereits 1878 in „Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben“ eingeführt.
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
81
heranziehen kann, um „die dringendsten Bedürfnisse fest[zu]stellen und für deren Befriedigung [zu] sorgen“ (Neurath/Schumann 1919, S. 59f). Neurath setzt große Hoffnung auf die Rationalisierung, wozu er auch die Möglichkeit rechnet, die Arbeitsleistung mit Hilfe physiologischer und psychologischer Erkenntnisse zu steuern.91 Zugleich strebt er eine Arbeitspflicht an.92
Zu absoluten Standards Im Hinblick darauf, dass die Diskussion um „absolute“ versus „relative“ Armut in der gegenwärtigen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielt, sind Neuraths Äußerungen zu „absoluter Gerechtigkeit“ von Interesse. „Die Logischen Empiristen würden vielleicht vorschlagen, den Terminus ‚gerecht‘ so relativ zu verwenden, wie sie den Terminus ‚angenehm‘ verwenden würden – ein Buch mag für eine Gruppe von Lesern angenehm sein, für eine andere unangenehm. Das findet man heraus, indem man die Leser fragt oder ihr Verhalten analysiert. Aber es gibt Denker, die sich gegen eine ‚Relativierung‘ wenden; sie meinen, daß ‚der Mensch absolute Standards der Gerechtigkeit hat‘. Die Logischen Empiristen widersetzen sich allen Spielarten dieser Einstellung, da die Vertreter des ‚Absolutismus‘ nicht angeben, wie eine Meinungsverschiedenheit zu bereinigen wäre ...“ (Neurath 1941, S. 921)
Eine solche Möglichkeit zur Bereinigung von Meinungsverschiedenheiten kann nur aus empiristischen Sätzen, die als Testsätze zur Verfügung gestellt werden, bestehen. Da solche Sätze nicht denkbar sind, fordert Neurath, „absolute“ Ausdrücke zu vermeiden. Diese Forderung steht in Widerspruch zur Herleitung einer Mindestlebenslage in absolutem Sinne im vorigen Abschnitt.
3.1.5 Operationalisierung Im Allgemeinen können drei Arten von Informationen im Zusammenhang mit der Operationalisierung von Interesse sein: die allgemeinen Überlegungen, die im Ansatz vorhanden sind, eigene empirische Arbeiten und empirische Arbeiten, die sich auf den Ansatz beziehen. Im Folgenden wird wiedergegeben, was in Bezug auf die Operationalisierung von Neuraths Ansatz zu finden ist.
___________ 91 Neurath hat einige Aufsätze zu diesem Thema geschrieben, vgl. Neurath (1918, 1920), siehe auch Neurath/Schumann (1919, S. 58f). 92 Vgl. Neurath/Schumann (1919, S. 62) und auch Neurath (1919b, 1920, 1925).
3. Der Lebenslage-Ansatz
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Allgemeine Überlegungen Bei der Frage der Operationalisierung des Ansatzes muss noch einmal auf die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Neuraths (vgl. Kap. 3.1.1.) hingewiesen werden. Das Ziel Neuraths wird bei Cartwright u. a. (1996, S. 92) folgendermaßen beschrieben: „to develop and employ a conception of knowledge as an instrument of emancipation“. Theorie ist nach dieser Konzeption immer als Antwort auf Fragen und Probleme aus der Praxis zu sehen. Sie muss sich zudem an der Praxis bewähren. Es ist nach Neurath (1944, S. 947) „wichtig, sich zu überlegen, wie wir Argumente und Hypothesen bewähren können oder wie wir sie erschüttern können.“ Bei diesem Unterfangen wird der Empirist zwar oft gezwungen sein, mit unbestimmten Ausdrücken zu arbeiten, aber er sollte nach Neurath (1944, S. 931) Mehrdeutigkeit vermeiden. Die Unbestimmtheit von Ausdrücken und Behauptungen erläutert Neurath anhand der Methode von Rangordnungen („Reihungen“) im Gegensatz zur Indexbildung und kommt in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Mathematik zu sprechen: „Daß wir dieser Übermathematisierung aus dem Weg gehen, sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, Mathematisierung überhaupt abzulehnen, eine ablehnende Haltung, wie sie häufig von einem metaphysischen Standpunkt aus eingenommen wird.“ (Neurath 1944, S. 964)
Die Terminologie soll also nach Neurath „unbestimmt – aber eindeutig“ (Neurath 1944, S. 931) sein, vor der Übermathematisierung warnt er, befürwortet jedoch zugleich den Einsatz von Mathematik, und in Bezug auf die Lebenslage hält er es für sinnvoll, die Lebenslage manchmal nur grob anhand weniger Merkmale, die auf der Makroebene erfasst werden, zu kennzeichnen (s. o.), sich aber manchmal auf die Erklärung bestimmter Zusammenhänge zu beschränken: „Es reicht zwar nicht aus, wenn wir Stück für Stück eines Komplexes betrachten, um das Ganze zu verstehen, es sind aber deswegen die Untersuchungen nicht zu verwerfen, die den Kausalzusammenhang betreffen, der zwischen einzelnen Teilen besteht.“ (Neurath 1909, S. 220)
Bezüglich des Lebenslage-Ansatzes formuliert Neurath schon früh das Ziel eines Systems der Naturalrechnung (z. B. 1920, S. 57f). Darunter versteht er die zunächst eine „Universalstatistik“, die er sich im Wesentlichen wie eine Input-Output Tabelle vorstellt mit Angaben darüber, wer wann welche Mengen von was produziert, weiterverarbeitet oder konsumiert hat. Mithin ist das „Lebenslagenkataster“ (Neurath 1935, 1937), also die Zusammenstellung von Angaben darüber, wer über wieviel Wohnraum, Nahrung usw. verfügt und wie viele Stunden arbeiten muss, ein Teil der Universalstatistik. Während er dieses Vorhaben 1920 noch als leicht zu bewerkstelligen schildert, macht er 1935 und vor allem 1937 auf die Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer solchen Statistik aufmerksam. So schildert er die Auswahl von relevanten Daten als
3.1 Der Lebenslage-Ansatz nach Neurath
83
Gradwanderung zwischen der Anhäufung von (zu vielem) empirischen Material und dem Verzicht auf empirisches Material: „For, just as theoretical work suffers from the lack of opportunity to work up sufficient concrete material, so the amassing of observational material without a strict definition of concepts and a strict formulation of the problem can lead to a dissipation of forces which often contributes to underrating the significance of the assembling of material.“ (Neurath 1937, S. 148)
Zugleich sieht er das Problem, dass die vorhandenen Daten oft nicht vergleichbar sind, weil sie sich nicht auf dieselben Personen oder denselben Zeitraum beziehen. Daher fordert er: „Statistics and descriptions of certain relationships must be developed in such a way that one could set up and compare inventories of the standard of living (Lebenslagenkataster, O.L.) for particular districts, whole countries or the world at various periods.“ (Neurath 1937, S. 146)
Zudem sieht er die verschiedenen Dimensionen als unvergleichbar (Neurath 1935, S. 19) an, so dass er die Lebenslage in ihrer Multidimensionalität nicht bewerten und nur dimensionsweise vergleichen kann. Selbst bei dieser Beschränkung auf den Vergleich anhand einzelner Dimensionen sieht Neurath (1937, S. 146) Probleme, so dass er von einer vollständigen Ordnung verschiedener Lebenslagen weit entfernt ist. All diesen Problemen zum Trotz plädiert Neurath für eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lebenslage-Ansatz und eine Ausweitung der empirischen Datengrundlage. Auch die Betrachtung nur einzelner Zusammenhänge hält er für sinnvoll (s. o.): „Research on the standard of living can be used in many ways; above all, the whole set of social institutions can be compared within its framework. At any rate, whether or not one has in mind such comprehensive social problems, research into the standard of living, in the sense of developing a theory of measurement in kind, should gradually become an important scientific activity.“ (Neurath 1937, S. 150)
Insgesamt ist Neuraths Haltung pragmatisch und auf die jeweilige Problemstellung hin orientiert, wobei er sich stets der Vorläufigkeit von wissenschaftlichen Ergebnissen bewusst ist, wie an seinem Bild vom Boot, das auf hoher See umgebaut wird, abzulesen ist.
Bezüge zu empirischen Arbeiten anderer Mir ist keine empirische Arbeit bekannt, die sich direkt auf den LebenslageAnsatz Neuraths bezieht.93 Es gibt aber einige Hinweise darauf, dass sein ___________ 93 Auch Thomas Uebel, der sich intensiv mit dem Ansatz beschäftigt, konnte mir kein Beispiel für eine Operationalisierung nennen.
3. Der Lebenslage-Ansatz
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Ansatz mehr oder minder indirekten Einfluss auf einige empirische Arbeiten gehabt hat. So lässt sich vermuten, dass Neurath die Studie der „Löhne und Lebenshaltung der Wiener Arbeiterschaft“, die in den Jahren 1925 bis 1928 von der Wiener Arbeiterkammer durchgeführt (Wiener Arbeiterkammer 1928, 1929) wurde, mit angeregt hat. Er hatte zu dieser Zeit bereits das „Institut für Gemeinwirtschaft“ und das „Museum für Wohn- und Städtebau“ gegründet, das er u. a. durch die Unterstützung des Präsidenten der Wiener Arbeiterkammer zum „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum“ zum Jahr 1925 umgestalten konnte (Rauscher 1982). Die statistische Erhebung nicht nur der Löhne, sondern auch der Lebenshaltung, d. h. der Wohnungssituation, der Ernährungslage und der Ausgaben für Genussmittel und Kleidung, mit dem Ziel, die „soziale Lage“ (Kautsky 1937, S. 1) der Arbeiter zu erfassen, mag zwar einem allgemeinen Trend94 zu solchen Erhebungen gefolgt sein, dürfte aber zumindest deutliche Ermutigung von Seiten Neuraths erfahren haben. Eine solche Ermutigung durch Neurath ist belegt für die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975). Paul Neurath (1982a), der Sohn Otto Neuraths und spätere Soziologe, schildert, dass der Kontakt zwischen Neurath und Lazarsfeld 1924 begann und bis zu Lazarsfelds Emigration nach Amerika 1933 anhielt. Zeisel (1975)95 berichtet vom großen Einfluss, den Neurath auf die Gruppe um Lazarsfeld gehabt habe. Neurath hat auch zu einem Ökonomen, dessen Schwerpunkt auf empirischen Arbeiten lag, Kontakt gehabt, nämlich mit Tinbergen während seiner Emigration in die Niederlande (Jolink 1994). Auch in diesem Falle gilt: Neurath hat vielleicht Einfluss auf Tinbergen gehabt, aber dieser Einfluss ist nicht offensichtlich, d. h. Tinbergen zitiert Neurath nirgends. Allerdings hat Tinbergen (1936) ein Werk Neuraths zum Lebenslagen-Ansatz (1935) besprochenund positiv bewertet.
Neuraths eigene empirische Arbeiten Die einzigen empirischen Arbeiten, die als Anwendung seines LebenslagenAnsatzes betrachtet werden können, hat Neurath selbst erstellt. Damit hat er bereits im Museum für Gesellschaft und Wirtschaft in Wien begonnen, wo er bspw. den Zusammenhang zwischen den Wohnbedingungen und der Mortalität in verschiedenen Stadtvierteln aufgezeigt hat (Stadler 1982). ___________ 94 95
Neurath selbst weist auf ähnliche Erhebungen in Hamburg usw. hin. Vgl. auch P. Neurath (1982b) und Jahoda (1982).
3.2 Exkurs: Die Beiträge Nelsons und Grellings
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Ausführlich veranschaulicht Neurath seinen Ansatz in „Modern Man in the Making“ (1939). Anhand von bereits verfügbaren Daten weist er auf einige Zusammenhänge hin, z. B. dass der Rückgang sowohl der Geburten- als auch der Sterberate mit einer Verstädterung einher geht (Neurath 1939, S. 45) oder dass in Schweden im Zeitraum 1756 bis 1935 die Geburtenrate abgenommen, die Selbstmordrate zugenommen und die Arbeitszeiten geringer geworden sind (Neurath 1939, S. 54). Seinen Anspruch bei diesem Unterfangen beschreibt er im Vorwort: „The aim is to trace the origin of ,modern men‘ and depict their behaviour and achievements, without presenting any social or economic theory.“ (Neurath 1939, S. 7)
D. h. Neurath will zunächst das Verhalten beschreiben und weder eine Bewertung einführen noch eine Theorie über das Zusammenwirken präsentieren. Trotzdem verwendet er den Begriff „Silhouette“, den er auch in seinen Beiträgen zum Lebenslage-Ansatz benutzt, und stellt so eine Verbindung zu seinen theoretischen Arbeiten her. Seine (Lebenslage-)Silhouetten, mit denen er anhand der durchschnittlichen Lebenserwartung der weiblichen Bevölkerung, der Selbstmordrate, der Alphabetisierungsrate und der Verbreitung des Radios die Lebenslage in zehn Ländern (USA, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Australien, Italien, Japan, die Niederlande, Indien und Deutschland) charakterisiert, veranschaulichen die Komplexität eines Vergleichs bei mehreren Dimensionen.
3.2 Exkurs: Die Beiträge Nelsons und Grellings Wie bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel erwähnt, bezieht sich Weisser auf Arbeiten Nelsons und Grellings. Meines Erachtens sind seine Ausführungen zum Lebenslage-Ansatz nur unter Berücksichtigung der Arbeiten Nelsons und Grellings zu verstehen. Von Nelson übernimmt Weisser den Begriff des wahren Interesses, den er zum Mittelpunkt seines Lebenslage-Ansatzes macht. Viele Ausführungen Weissers sind als Auseinandersetzung mit der Theorie Nelsons zu verstehen (vgl. Abschnitt 3.3.2). Zudem hat Nelson mit seinem Wohlstandsbegriff, der auf die Möglichkeiten eines Individuums abzielt und nicht auf das, was das Individuum aus diesen Möglichkeiten macht, einen nachhaltigen Einfluss sowohl auf Grelling wie auf Weisser ausgeübt. Sowohl Nelsons Theorie des wahren Interesses als auch einige Elemente seiner Sozialpolitiklehre stelle ich in Abschnitt 3.2.1 vor.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
Grelling hält im Wintersemester 1919/20 ein sozialpolitisches Seminar für die Ortsgruppe Göttingen des IJB ab96. An diesem Seminar nimmt auch Weisser teil. Soweit dies im Nachhinein zu klären ist, führt zunächst Grelling den Begriff der „Lebenslage“ von Neurath in diesem Seminar ein. Im Anschluss an das Seminar entspannt sich eine Diskussion zwischen den Seminarteilnehmern, die sich in einem internen Organ – den „Wirtschaftswissenschaftlichen Rundbriefen“ 97 – niederschlägt. In seinem Beitrag „Zum Prinzip der Güterverteilung“ definiert Grelling „Lebenslage“ auf eine Weise, die bereits stark von Neuraths Verständnis abweicht. Es ist eindeutig Grellings Definition, auf die sich Weisser in den 50er Jahren bei der Entwicklung seiner Sozialpolitiklehre bezieht. Grelling hat dabei noch beides im Auge: die Möglichkeiten, die ein Individuum hat, und das, was es daraus macht. Weisser abstrahiert jedoch von letzterem, so dass ohne Kenntnis von Grellings Beitrag die Entwicklung von Neurath zu Weisser unverständlich bleibt. Daher gehe ich im Abschnitt 3.2.2 ausführlich auf Grellings Position ein.
3.2.1 Die Theorie des wahren Interesses von Nelson Bereits im Jahr 1913 hat Nelson einen Vortrag zur Theorie des wahren Interesses gehalten, der jedoch erst später veröffentlicht wurde. Darin dehnt er die „Lehre von der ursprünglichen Dunkelheit der rein-vernünftigen Erkenntnis“ (Nelson 1936, S. 3) von Jakob Friedrich Fries98 auf die Theorie der praktischen Vernunft aus. (Die Begriffe „reine“ und „praktische Vernunft“ sind von Kant übernommen.) Es geht Nelson darum, zu beweisen, dass es eine unmittelbare Erkenntnis gibt. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen objektiven Interessen, welche eine Erkenntnis von Werten darstellen, Werten, die unabhängig vom erkennenden Subjekt existieren, und subjektiven Interessen, welche auf einen Gegenstand gerichtet sind, der erst durch dieses Interesse an ___________ 96 Dieses Seminar wurde auch dokumentiert, vgl. Literaturangaben zu Grelling (1921a, S. 5). Eventuell befindet sich die Niederschrift – sofern sie noch erhalten ist – in dem Teil des Nachlasses von Nelson, der im Zuge des Zweiten Weltkriegs nach Moskau verschleppt wurde, wo sich laut der Internetseite www.sonderarchiv.de/fondverzeichnis.htm die Unterlagen der Göttinger Ortsgruppe des IJB befinden. 97 In verschiedenen Archiven sind einige Ausgaben der „wirtschaftswissenschaftlichen Rundbriefe“ erhalten. Ich zitiere aus dem siebten, neunten, elften und zwölften Rundbrief, die aus dem AdsD, Bonn, und dem Archiv für Hessische Schulgeschichte stammen (siehe Literaturverzeichnis). Grellings Beitrag ist recht unbekannt – bisher hat nur Hillen (1975) darauf Bezug genommen und er wurde nicht anderweitig veröffentlicht. Daher zitiere ich ihn ausführlich. An dieser Stelle gilt mein Dank dem von Volker Peckhaus aufgebauten Grelling-Archiv, Paderborn, für den Hinweis darauf, dass und wo die Rundbriefe erhalten sind! 98 Jakob Friedrich Fries (1773 – 1843) versuchte Kants Lehre auf Selbstbeobachtung zu gründen.
3.2 Exkurs: Die Beiträge Nelsons und Grellings
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Wert gewinnt. In der Regel werden objektive Interessen nur durch Reflexion bewusst, daher nennt Nelson sie mittelbar, während subjektive Interessen unmittelbar bewusst oder auch „intuitiv“ sind. Von beiden Arten des Interesses unterscheidet sich das wahre Interesse: „Wir müssen also von der reflektierten Form des objektiven Interesses noch das unmittelbare objektive Interesse selbst unterscheiden, und dieses ist, obgleich ein nichtreflektives, so doch kein intuitives, sondern ein ursprünglich dunkles Interesse.“ (Nelson 1936, S. 17)
Dieses Interesse ist weder ein sinnliches (weil es weder intuitiv noch subjektiv ist), noch ein sittliches (weil es keine negative Schätzung enthält), sondern ein ästhetisches Interesse, denn der Gegenstand dieses Interesses – die Persönlichkeit – ist „sinnesanschaulich gegeben“ (Nelson 1936, S.17f). Und nur beim ästhetischen Interesse fällt nach Nelson der Gegenstand dieses Interesses mit dem Naturgegenstand zusammen, weshalb er es für möglich hält, den Inhalt dieses Interesses zu bestimmen: „Schönheit ist, nach Schillers Ausdruck, überall Freiheit in der Erscheinung, Schönheit der Persönlichkeit also Unabhängigkeit der Lebenstätigkeit von zufälligen, d. h. dem Wesen des vernünftigen Geistes fremden Antrieben oder, positiv ausgedrückt, vernünftige Selbstbestimmung. Die ästhetische Schätzung gibt uns daher, auf die Persönlichkeit angewandt, das Ideal der Bildung, d. h. der vernünftigen Selbstbestimmung. Für die Gesellschaft folgt daraus von selbst das Ideal der persönlichen Freiheit, d. h. eines Zustandes, in dem niemand von Seiten anderer in der Möglichkeit der Bildung beschränkt wird.“ (Nelson 1936, S. 20)
Das Interesse an vernünftiger Selbstbestimmung ist nach Nelson wahr, selbst wenn es nicht wirklich in dem Sinne ist, dass sich ein Individuum dieses Interesses bewusst ist. Es ist unmittelbar, auch wenn es dem Individuum erst durch Reflexion bewusst wird, weil es ein „ursprünglich dunkles reines Interesse“ ist. Und: „Das unmittelbare Interesse selbst als solches ist irrtumsfrei, kraft des Prinzips des Selbstvertrauens der Vernunft.“ (Nelson 1936, S. 20) Aus dem wahren unmittelbaren Interesse an der vernünftigen Selbstbestimmung leitet Nelson einige politische Forderungen ab, die er als Naturrechte ansieht. Er stellt fest: „Das wahre Interesse hat nun das Eigentümliche, daß seine Befriedigung nur durch Selbsttätigkeit möglich ist. Es kann also nie die Pflicht entstehen, dies Interesse bei einem anderen Menschen zu befriedigen, sondern es kann nur die Pflicht sein, ihm die Möglichkeit zu gewähren, es selbst zu befriedigen.“ (Nelson 1936, S. 22)
Daher fasst er seine Forderungen in folgendem „Naturrechtssatz“ zusammen: „Alle ihrer Natur nach bildungsfähigen Wesen haben das gleiche Recht auf die äußere Möglichkeit, zur Bildung zu gelangen.“ (Nelson 1936, S.23)
Entsprechend definiert Nelson Wohlstand als „dasjenige Maß von Besitz, das notwendig und hinreichend ist, um dem Einzelnen zu ermöglichen, zu dem
3. Der Lebenslage-Ansatz
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Höchstmaß an Bildung zu gelangen, das er unter hinreichend günstigen äußeren Bedingungen wirklich erreichen würde.“ (Nelson 1924, S. 27) und stellt fest: „Es gibt daher kein allgemeines ‚Recht auf das Existenzminimum‘.“ (Nelson 1924, S. 17). Aufgabe der Gesellschaft ist es nach Nelson, jedem die gleiche Chance zur vernünftigen Selbstbestimmung zu geben, nicht aber dafür zu sorgen, dass jeder diese Chance auch nutzt. 99 Allerdings beinhaltet dies, „daß das wahre Interesse des Einzelnen geachtet werden soll, auch wenn es nicht durch ein faktisches Bedürfnis vertreten wird und er also von sich aus die Ansprüche seines wahren Interesses nicht geltend machen kann.“ (Nelson 1924, S. 24). In diesem Sinne ist es ein „unveräußerliches Recht“ (Nelson 1936, S. 23). Das unmittelbare wahre Interesse hat indessen nicht nur eine Vorrangstellung, sondern es ist auch inhaltlich bestimmt. Beides zusammen benutzt Nelson als Kriterium zur Einordnung der Interessen in höhere und niedere: „Wir setzen voraus, daß wir es mit einer Gesellschaft von Menschen zu tun haben, d. h. von vernünftigen Wesen, die als solche nicht nur ein Interesse am Wert ihres Lebens haben, sondern sich diesen Wert selbst zu geben vermögen, einen Wert, der eben, sofern es von ihnen selbst abhängt, ihn sich zu geben, Würde heißt. Menschen stehen, mit anderen Worten, unter dem Ideal der Bildung. Und der Inhalt dieses Ideals ist es, was uns den Maßstab für die Bewertung ihrer Interessen gibt. ... Interessen, die auf die Verwirklichung dieses Ideals gerichtet sind, nennen wir als solche höhere Interessen, im Unterschied von den niederen, die auf den Genuß gerichtet sind und nur nach ihrer faktischen Stärke verglichen werden können.“ (Nelson 1924, S. 25)
Hier lauert indes ein innerer Widerspruch: Einerseits richtet sich das wahre Interesse ja gerade auf Selbstbestimmung, was den subjektiven Interessen einen gewissen Wert zuspricht, andererseits misst Nelson subjektiven Interessen, die seines Erachtens intuitiv und auf Gegenstände gerichtet sind, denen kein Wert an sich zukommt, den Wert ihrer Stärke bei. Es fragt sich daher, ob subjektive Interessen jemals zugleich höhere Interessen sein können. Dieser Spannung in seiner Theorie ist er sich bewusst, wenn er schreibt: „Die durch die Berücksichtigung des wahren Interesses bedingte Einschränkung der Befriedigung der subjektiven Interessen erstreckt sich andererseits – wie aus seiner Inhaltsbestimmung hervorgeht – nicht so weit, daß die Rücksicht auf die subjektiven Interessen ganz entfiele. Denn die hier eingeführte Modifikation der Bewertung der Interessen über die bloße Stärke hinaus betrifft nicht sowohl die Materie der einzelnen Interessen, als vielmehr die Art, wie der Mensch zu deren Befriedigung gelangt, ob nämlich durch freie Selbsttätigkeit oder in der Abhängigkeit von der Gunst der Umstände, – wobei das Ideal der freien Selbsttätigkeit, da es aufs Ganze des Lebens
___________ 99
Dieser Gedanke Nelsons hat durch seine Schüler – insb. durch Willi Eichler – Eingang in die sozialdemokratische Politik gefunden, vgl. Meyer (1982) und Franke (1997).
3.2 Exkurs: Die Beiträge Nelsons und Grellings
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geht, freilich auch das Ideal der selbsttätigen Gestaltung der Lebensumstände umfaßt.“ (Nelson 1924, S. 26)
Höhere Interessen sind also zum einen dadurch definiert, dass sie auf das Ideal der Bildung abzielen, zum anderen jedoch dadurch, dass zu ihrer Befriedigung der Mensch selbst tätig wird. Während die erste Bestimmung inhaltlicher Natur ist oder anders gesagt ein Ergebnis beschreibt, ist der zweite Bestimmungsgrund am Prozess orientiert. Nelson versäumt es, das Verhältnis dieser beiden Bestimmungsgründe zu bestimmen: Liegt ein höheres Interesse schon dann vor, wenn nur eines der Kriterien erfüllt ist? Ist das wahre Interesse, das ja als Maßstab dient, das einzige, welches beide Kriterien erfüllt? Oder haben alle Interessen, die sich am Ideal der Bildung ausrichten, die Eigenschaft, nur durch Selbsttätigkeit befriedigt werden zu können? Zudem ist die Vielfalt der Kategorien, die Nelson einführt, verwirrend: Erstens unterscheidet er sinnliche, sittliche und ästhetische Interessen, zweitens objektive und subjektive und drittens höhere und niedere Interessen. Nachdem das wahre Interesse, das ja als Maßstab dienen soll, ein ästhetisches Interesse ist, und sämtliche Beispiele Nelsons darauf hindeuten, dass das Ideal der Bildung in (klassischer) Musik, Kunst, Kultur etc. besteht, stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis der Kategorien „ästhetisches“ und „höheres“ Interesse. Die theoretische Einteilung und Bewertung der Interessen mag Nelson für eindeutiger halten, als sie mir erscheint, bei der Anwendung auf die Praxis erläutert er indessen selbst die Schwierigkeiten der Interessenabwägung: „Daher ist es keineswegs genug, auf die wirklich eintretende Annäherung des Wohlstands hinzuweisen, um die kommunistische Wirtschaftsform zu rechtfertigen. Vielmehr ist erst die Frage, ob mit dieser gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstandes auch eine Hebung – oder wenigstens keine Senkung – der wirtschaftlichen Lage der Benachteiligten einhergeht. ... Es bleibt zu bedenken, ob und wie weit die Abhängigkeit, die in der Lohnsklaverei als solcher liegt, eine Verletzung des wahren Interesses mit sich bringt, deren Beseitigung als hinreichender Ausgleich für die fragliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage gelten kann.“ (Nelson 1924, S. 40)
Zum Schluss ist noch seine Auffassung zu erwähnen, dass Armut und Reichtum relative Begriffe sind. Ein Mensch könne sowohl arm als auch reich genannt werde, je nachdem, mit welchem anderen in der Gesellschaft man ihn vergleiche (Nelson 1924, S. 20). Auch „Wohlstand“ ist seines Erachtens ein relativer Begriff, jedoch nicht in Hinblick auf die Gesellschaft, sondern insofern es „das Verhältnis des Besitzes zum Bedürfnis des Einzelnen“ wiedergibt.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
3.2.2 Der Lebenslage-Ansatz nach Grelling In seinem Beitrag in den „Wirtschaftswissenschaftlichen Rundbriefen“ des IJB beschäftigt sich Grelling zunächst mit der Frage der Messbarkeit und Vergleichbarkeit von „Interessen“, wie er jene Größe in Anlehnung an Nelson (s. o.) nennt, die in der heutigen Wirtschaftstheorie „Nutzen“ genannt wird und durch „Nutzenfunktionen“ wiedergegeben wird. Er schreibt: „Interessen sind nicht addierbar und folglich auch nicht zahlenmäßig messbar.“ (Grelling 1921a). Zugleich meint er jedoch, dass man die Stärke – und damit nach Nelson der Wert – eines Interesses daran erkennen könne, welches Interesse tatsächlich befriedigt wird, und dass man somit den „objektiven Wert“ eines Interesses bestimmen könne. Damit nimmt er die Theorie der offenbarten Präferenzen von Samuelson (1948) vorweg. Konsequenterweise hält Grelling es für möglich, Interessen nach ihrer Stärke zu ordnen und auch interpersonell zu vergleichen. Lebenslage definiert Grelling folgendermaßen: „Man kann sagen, dass kein Mensch jemals alle seine Interessen voll befriedigen kann; er muss vielmehr immer eine Auswahl zwischen ihnen treffen. Die Gesamtheit der von einem Menschen in einer bestimmten Periode seines Lebens faktisch befriedigten Interessen, wobei jedes einzelne mit dem Grade zu versehen ist, bis zu welchem es befriedigt wird, will ich die Lebenshaltung dieses Menschen während dieser Periode seines Lebens nennen. Die Gesamtheit der möglichen Lebenshaltungen, zwischen denen er am Anfang der Periode (etwa bei Aufstellung eines Haushaltsplanes) wählen kann, nenne ich seine Lebenslage. Es ist dann klar, dass zu jeder Lebenslage eine maximale in ihr erreichbare Zufriedenheit (in dem früher von mir definierten Sinne) gehört. Man kann also jeder Lebenslage den objektiven Wert zuordnen, der durch die maximale in ihr erreichbare objektive Zufriedenheit bestimmt ist. Man kann also auch Lebenslagen verschiedener Personen hinsichtlich ihres objektiven Wertes vergleichen.“ (Grelling 1921a, S. 1f)
An dieser Definition wird deutlich, wie weit sich Grellings Begriff der „Lebenslage“ von Neuraths unterscheidet: Zwar gehen beide von dem Problem aus, wie man „Interessen“ – oder „Lebensstimmung“ – messen kann, und meinen beide, dass diese Größe bestenfalls ordinal messbar ist, aber sie sind sich uneinig, was die interpersonelle Vergleichbarkeit angeht. Neurath sieht diese als nicht gegeben an und sucht deshalb nach einer Möglichkeit, wenn schon nicht direkt, so doch indirekt die Lebensstimmung zu messen, indem er die Lebenslage erfasst. Die Lebenslage besteht bei ihm aus beobachtbaren Größen, die vielleicht nicht alle leicht zu erfassen sind, die aber doch besser vergleichbar sind als die Lebensstimmung. Grelling hingegen hält die Erfassung der Interessen als solche für möglich. Die Lebenslage umfasst bei ihm alle Interessen, deren Befriedigung (zu Beginn einer Periode) möglich erscheint, und entspricht insofern Nelsons Begriff des Wohlstands. Es ist eher der Begriff der „Lebenshaltung“, der dem Neurathschen Begriff der „Lebenslage“ nahe kommt. Und über den Neurathschen Begriff der „Lebensstimmung“ sagt
3.2 Exkurs: Die Beiträge Nelsons und Grellings
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Grelling aus, dass dieser dasselbe bezeichnet, was er „subjektiven Wert der Lebenshaltung“ nennt (Grelling 1921b, S. 2). Betont werden muss, dass Grelling hier eine Struktur entwickelt, die sowohl eine zeitliche als auch eine inhaltliche Komponente hat: Für ihn ist die Lebenslage zu Beginn jeder Zeitperiode neu zu bestimmen. Das Individuum wählt aus der Lebenslage, welche die Möglichkeiten der Interessenbefriedigung zusammenfasst, eine Lebenshaltung, d. h. eine konkrete Möglichkeit, bestimmte Interessen bis zu einem bestimmten Grad zu befriedigen, aus. Auch für die Auswahl einer Lebenshaltung benennt Grelling einen Zeitpunkt, nämlich den Beginn einer Periode. Interessant ist ferner, dass Grelling den „objektiven Wert einer Lebenslage“ bestimmt sieht durch die maximale Zufriedenheit, die in ihr erreicht werden kann. Letztendlich unterstellt er implizit, dass die Individuen bestrebt sind, ihre Zufriedenheit zu maximieren, bzw. in der Sprache der modernen Wirtschaftswissenschaft, dass sie Nutzenmaximierer sind. Sodann entwickelt Grelling eine Theorie über den zeitlichen Zusammenhang von Lebenslagenverteilungen: „Ist nun eine Lebenlagenverteilung so geartet, dass, soweit die Abhängigkeit der Produktion von der Verteilung in Frage kommt, am Ende dieselbe Verteilung wie zu Anfang bestehen kann, so nennen wir eine solche Verteilung eine mögliche stationäre Verteilung.“ (Grelling 1921a, S. 2)
Hier kommt eine ähnliche Vorstellung des Zusammenhangs und der Berechenbarkeit von Güterproduktion einerseits und Verteilung andererseits zum Vorschein, wie auch Neurath sie hat. Allerdings macht es natürlich einen Unterschied, ob es sich um Lebenslagen im Grellingschen Sinne handelt, also um die Menge der möglichen Lebenshaltungen, oder um Lebenslagen, wie Neurath sie definiert. Zudem fließt auch in die Definition der „möglichen stationären Verteilung“ ein Moment der Unsicherheit ein, bezieht sie sich doch auf die Möglichkeit derselben Verteilung vor und nach einer Periode. Zugleich führt Grelling das Symmetriepostulat aus der Verteilungstheorie (siehe Abschnitt 2.3.2) ein, d. h. er hält es für unerheblich, welches Individuum welche Lebenslage innehat. Da Grelling meint, den Interessen einen objektiven Wert zuweisen zu können, schlägt er vor, eine Art Lorenzkurve100 zu erstellen, die er „Charakteristik der Verteilung“ nennt. Jene Verteilungen, die durch die gleichen Zahlen charakterisiert werden können, sind für Grelling „gleich“. D. h. jene Lebenslagen, die denselben objektiven Wert haben, sieht er als gleich an. Dies ent___________ 100
Die Lorenzkurve wird meistens zur Beschreibung der Einkommensverteilung genutzt. Sie gibt an, wie viel Prozent des Gesamteinkommens die ärmsten D Prozent der Gesamtbevölkerung auf sich vereinigen, z. B. über wie viel Prozent des Gesamteinkommens die Ärmsten fünf Prozent der Bevölkerung verfügen. Vgl. zur Lorenzkurve jedes gängige Statistikbuch, bspw. Bamberg/Bauer (1989, S. 24).
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3. Der Lebenslage-Ansatz
spricht Neuraths Vorschlag, Lebenslagen zu einem Typus zusammenzufassen, welche dieselbe Lebensstimmung erzeugen. Schließlich definiert Grelling einige Prinzipien, mit deren Hilfe er eine „gerechte“ Verteilung herleitet: Das erste ist eine Art Transfer-Prinzip (siehe Abschnitt 2.3.2) und das zweite lehnt sich an das Pareto-Prinzip an. Er formuliert die Prinzipien folgendermaßen: „Sind zwei Personen in verschiedener Lebenslage, so hat derjenige, der sich in besserer Lebenslage befindet, – ich will ihn kurz den ‚Reicheren‘ nennen –, die Pflicht, in jede Verschlechterung seiner Lage einzuwilligen, durch die 1) die Lage des Ärmeren verbessert und 2) seine eigene nicht unter die des anderen gebracht wird.“ (Grelling 1921a, S. 3)
Dieses Transfer-Prinzip geht über das in Kapitel 2 eingeführte Transferaxiom dadurch hinaus, dass ein progressiver Transfer nicht nur als Ausgleich bewertet wird, sondern dieser Ausgleich auch eingefordert wird. Die Gleichverteilung ist das Ideal dieses Prinzips. „Jeder ist verpflichtet, in eine Änderung der Lebenslagenverteilung einzuwilligen, bei der seine Lage sich nicht verschlechtert und die anderer sich verbessert.“ (Grelling 1921a, S. 3)
Dieses Prinzip entspricht einer Interpretation des Pareto-Prinzips als moralischer Imperativ. Aus beiden Prinzipien zusammen genommen leitet Grelling den Begriff der „äqualeren Verteilung“ ab, die dadurch definiert ist, dass die Lage der Reicheren nach einer Umverteilung sich nicht soweit verschlechtern darf, dass sie unter die verbesserte oder gleichgebliebene Lage eines Ärmeren fällt. Schon daran wird sichtbar, dass es Grelling vor allem um die Verbesserung der Lage der Ärmeren geht, wie er im „Prinzip der Verteilungspolitik“ deutlich formuliert: „Wir denken uns zunächst wieder unter allen möglichen Verteilungen eine derartige Auswahl getroffen, dass innerhalb der übrig bleibenden kein Übergang von einer Verteilung zur anderen möglich ist, bei dem alle Mitglieder der Gesellschaft reicher werden. Die so ausgewählten Verteilungen ordnen wir nach dem Wert der Lebenslage der ärmsten Schicht und wählen wiederum diejenigen aus, bei denen dieser Wert sein Maximum hat, sodass also nunmehr kein Übergang möglich ist, bei dem der Wert der Lebenslage der ärmsten Schicht sich verändert. ... [Wir müssen] nun auch noch auf die Anzahl der zu jeder Schicht gehörenden Personen Rücksicht nehmen. Wir wählen also wiederum diejenigen Verteilungen aus, bei denen die ärmste Schicht am kleinsten ist, sodass also nunmehr kein Übergang möglich ist, bei dem die Anzahl der zur ärmsten Schicht gehörigen sich verringert.“ (Grelling 1921a, S. 4)
Das Prinzip der Verteilungspolitik von Grelling besteht also in einer konsequenten Anwendung des Maximin-Prinzips. Zwar hat bereits Nelson im Kern gefordert, dass eine Verteilung sich daran messen lassen muss, wie es um die Lage der Benachteiligten gestellt ist (s. o.), doch Grelling formuliert den Gedanken wesentlich konsequenter und macht ihn zum Mittelpunkt seiner Theorie. Freilich basiert die Theorie auf der Annahme, man könne den Lebens-
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
93
lagen einen objektiven Wert beimessen und die Lebenslagen entsprechend ordnen. Die Ähnlichkeit zum Unterschiedsprinzip von Rawls fällt auf, auf die auch Weisser (1972b) und Neumann (1995) hinweisen. Allerdings bezieht sich Grelling auf die Lebenslage, d. h. auf die Möglichkeit, die ein Mensch zur Befriedigung seiner Interessen hat, und Rawls auf Grundgüter, also auf „Dinge, von denen man annimmt, daß sie jeder vernünftige Mensch haben möchte, was auch immer sonst er haben möchte.“ (Rawls 1979, S. 112). Die Frage lautet daher, ob analog zu den Grundgütern ein Katalog an Interessen erstellt werden kann, der für alle Individuen gleich ist. Auf diese Frage gehe ich hier aus Platzgründen nicht weiter ein.
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser Weisser ist derjenige, der den Begriff „Lebenslage“ bekannt gemacht hat als einen bedeutenden Bestandteil seiner Sozialpolitiklehre. An der Nützlichkeit des Begriffs „Lebenslage“ für die Sozialpolitik zweifelt er auch in späteren Schriften nicht, aber er konzentriert sich dort auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen. Und so ist es ein Kennzeichen seines Ansatzes, dass Weisser ihn nur in Form von Vorlesungsmanuskripten dargelegt und veröffentlicht hat. Die folgende Darstellung des Lebenslage-Ansatzes von Weisser basiert sowohl auf den Vorlesungsmanuskripten aus den 1950er und 1960er Jahren als auch auf späteren Veröffentlichungen zum Thema Sozialpolitik.
3.3.1 Motivation und Kontext Den Begriff „Lebenslage“ verwendet Weisser erstmals in einem Text zur „Zwangswirtschaft“ (Weisser 1921a), also zu jenen wirtschaftlichen Steuerungsmethoden, die in der Zeit des ersten Weltkriegs und danach eingesetzt wurden, und die von einigen – wie z. B. Neurath – als Vorstufe zum Sozialismus gedeutet wurden. Dagegen wendet sich Weisser und interpretiert die Methoden der „Zwangswirtschaft“ als verteilungspolitische Maßnahmen. Zugleich versucht er in seinem Beitrag zu ermitteln, wann solche Maßnahmen angebracht und gerechtfertigt sind. „Lebenslagen“ deutet er in diesem Zusammenhang als „relative Wohlstandshöhen“, wobei er sich auf die Nelsonsche Definition von Wohlstand als „dasjenige Maß von Besitz, das notwendig und hinreichend ist, um seine Bedürfnisse zu befriedigen“ (Nelson 1924, S. 20), bezieht. Bereits in diesem Text konzentriert sich Weisser auf die Lage der „Armen“ (,was wohl teilweise der vorherrschenden Diskussion im sozialpolitischen Seminar, das von Grelling abgehalten wurde, zu schulden ist). Er stellt folgende These auf:
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3. Der Lebenslage-Ansatz „Vergleichen wir nunmehr die Lage der Armen mit der der Wohlhabenden, so zeigt sich sofort, dass sie sich nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zu der der Reichen ganz ungeheuer verschlechtert hat. Wohl muss auch der Wohlhabende sich einschränken, aber doch nur in Bezug auf Güter, die Bedürfnissen niederer Dignität dienen. Der Arme dagegen ist sogleich in seiner Existenz, zum mindesten in seiner physischen Leistungsfähigkeit bedroht.“ (Weisser 1921a, S. 12)
Wenn Weisser hier von den Armen spricht und eine Anwendung von Zwang zur Umverteilung als gerechtfertigt ansieht, sobald eine oder mehrere Schichten unter das (psychische) Existenzminimum fällt (Weisser 1921b, S. 8), so argumentiert er vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit als Volontär am Dresdner Wohnungsamt im Jahr 1921, denn die Linderung der Wohnungsnot war eines der wichtigsten Felder für zwangswirtschaftliche Maßnahmen. Auch seine späteren Ausarbeitungen zum Begriff Lebenslage sind vor dem Hintergrund seiner praktischen Tätigkeiten in der Verwaltung zu sehen (1923– 1930 im Wohnungsamt Magdeburg, 1930–1933 als Bürgermeister in Hagen, 1945–1950 als Generalsekretär der britischen Zone und Finanzstaatssekretär in Nordrhein-Westfalen). Als Weisser 1950 auf einen Lehrstuhl für Sozialpolitik und Genossenschaftswesen berufen wird, macht er den Begriff „Lebenslage“ zur zentralen Kategorie seiner Sozialpolitiklehre. Er definiert Sozialpolitik „als Inbegriff der Maßnahmen ..., die der Änderung der Lebenslage der sozial schwachen Schichten dienen“ (Weisser 1951, S. 1). Weiterhin konzentriert er sich also auf diejenigen, die „arm“ sind. Sein Engagement blieb nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf politischen Einfluss. So hat Weisser in den 50er Jahren an allen Programmkomissionen der SPD mitgearbeitet und einige Denkschriften der EKD (Evangelischen Kirche Deutschlands) mit verfasst. Im Bereich der Politik hat er offensichtlich erfolgreicher den Begriff „Lebenslage“ eingeführt als in der Wissenschaft, da sein Einfluss in diesem Gebiet zum Titel des ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung „Lebenslagen in Deutschland“ (BMA 2001a, b) geführt hat, während sein Einfluss in jenem Bereich auf seine Schüler beschränkt blieb. Die Theorie zur Lebenslage und sozialer Schwäche entwickelt Weisser in den 50er Jahren. Danach verschiebt sich der Schwerpunkt seiner Gedanken auf das, was er „Grundanliegen“ nennt und auf die Frage, wie sie zu ermitteln sind. Im Prinzip kehrt er damit zurück zur Frage Nelsons, ob es ein wahres Interesse gibt, und zum Versuch, dieses zu beweisen.
3.3.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes Es sind nur wenige Begriffe, die in Weissers Ansatz eine zentrale Rolle spielen: Lebenslage, Grundanliegen und äußere Umstände. Sie sind alle bereits in
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
95
der Definition des Begriffs „Lebenslage“ enthalten, aber insbesondere der Begriff „Grundanliegen“ hat eine lange Geschichte und bedarf der genauen Erläuterung, die in der anschließenden Diskussion (Abschnitt 3.3.3) geleistet wird. Noch schwieriger ist es, eine Struktur aus Weissers Ausführungen herauszulesen. Es ist zu vermuten, dass Weisser ähnliche Vorstellungen wie Grelling hat, aber er selbst führt nur aus, dass der Lebenslage-Begriff geeignet ist, die Gesellschaftsstruktur zu kennzeichnen. Hierbei interessiert Weisser insbesondere die Schicht der „sozial Schwachen“.
Lebenslage Während Weisser in seinen frühen Definitionen von Lebenslage sich an den Wohlstandsbegriff von Nelson anlehnt und sich am „Besitz“ bzw. den Mitteln orientiert, über die ein Individuum zur Befriedigung seiner Interessen verfügen kann, geht er im Jahr 1951, als er den Begriff „Lebenslage“ für seine Vorlesung „Sozialpolitik“ definiert, dazu über, Lebenslage als „Spielraum“ zu kennzeichnen. Damit greift er die Unterscheidung Grellings zwischen „Lebenslage“ und „Lebenshaltung“ auf. Zunächst spricht auch Weisser (1951, S. 2) von „Lebenshaltung“, ersetzt aber bereits ein Jahr später diesen Begriff durch „tatsächliche Gestaltung des Lebens durch den Einzelnen“ (Weisser 1952, S. 2, Hervorhebung durch die Verfasserin O.L.). Für ihn ist jedoch nicht die tatsächliche Gestaltung des Lebens ausschlaggebend, sondern nur die Lebenslage, also die Möglichkeiten, die ein Mensch hat. Darin unterscheidet sich seine Theorie von der Grellings, der Auswahl als empirisches Kriterium für den Vergleich von Interessen vorgeschlagen hat. Weissers Definition lautet: „Die ‚Lebenslage‘ eines bestimmten Menschen wird also dadurch ermittelt, daß ich für seine einzelnen Interessen den Spielraum ermesse, den er objektiv nachhaltig bei ihrer Befriedigung hat. Je mehr Interessen er befriedigen kann und je stärker der Grad ist, in dem er die einzelnen Interessen befriedigen kann, umso günstiger ist seine Lebenslage. Hierbei ist es natürlich unvermeidlich, daß sich die Ermittlung auf die besonders wichtigen Interessen – die Interessen von besonders großer ‚Dignität‘ – beschränkt.“ (Weisser 1952, S. 2f)
Im Jahr 1957 gibt er folgende Definition wieder: „Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die er bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung als bestimmend für den Sinn seines Lebens ansieht.“ (Weisser 1957a, S. 6)
Schließlich verändert er die Definition nochmals und schreibt 1972: „Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbesinnung und zu konsequentem
3. Der Lebenslage-Ansatz
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Verhalten hinreichender Willensstärke leiten würden.“ (Weisser 1972a, S. 275, Fußnote)
Grundanliegen An den Veränderungen in der Definition von „Lebenslage“ lässt sich ablesen, dass die Grundanliegen eine zentrale Rolle bei der Ermittlung der Lebenslage spielen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu Grundanliegen ist die Theorie des wahren Interesses von Nelson (Weisser 1962, S. 6). In Anlehnung an Nelson spricht er zunächst von „wichtigen Interessen“, von „Interessen von besonders großer ‚Dignität‘“ (s. o.). Später führt er den Begriff „Grundanliegen“ dafür ein.101 Grundanliegen sind für Weisser unmittelbare Interessen, „d. h. Anliegen, die logisch ... nicht auf andere Anliegen als ihre Voraussetzungen zurückgeführt werden“ (Weisser 1974b, S. 110). „Als Grundanliegen einschließlich fundamentaler innerer Bindungen mögen dabei diejenigen positiven und negativen Interessen, deren Gegenstände um ihrer selbst willen geschätzt oder verabscheut werden, als innere Bindungen die Postulate und Desiderate gelten, die der Bejaher unmittelbar, ohne Ableitung aus anderen, im besondere ohne äußeren Zwang bejaht; sei es, daß er sich lediglich für seine Person gebunden fühlt, sei es, daß er von der Allgemeinverbindlichkeit überzeugt ist. ... Meist beschränkt man sich auf den völlig unzureichenden Grundanliegenkatalog der Aufklärungsepoche: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit (Gerechtigkeit) Brüderlichkeit (Friedlichkeit, Gemeinschaft). ... Mit so knappen Katalogen kann die Axiomatik keiner Ordnungskonzeption auskommen, im besonderen auch keiner wirtschaftspolitischen.“ (Weisser 1963a, S. 59)
Grundsätzlich hält Weisser es für eine Tatsache, „daß die Menschen in dem, was sie unmittelbar begehren, also in ihren unmittelbaren Interessen, nicht übereinstimmen“ (Weisser 1957b, S.142). Insofern ist es schwierig, einen einheitlichen Katalog von Grundanliegen zu erstellen. Weisser (1956a, 1963a) schlägt daher vor, eine eigene normative Disziplin zu schaffen, deren Hauptaufgabe gerade in der Ermittlung eines normativen Fundaments für andere Wissenschaften bestünde.
Äußere Umstände Das Gegengewicht zu den Grundanliegen beim Zustandekommen einer Lebenslage sind die „äußeren Umstände“, „d. h. die Gegebenheiten, die der Einzelne nicht beeinflussen kann“ (Weisser 1957a, S. 6). Leider geht Weisser nicht näher auf diese äußeren Umstände ein und erläutert auch den Wirkungs___________ 101 Vgl. dazu Nahnsen: „Er benutzte daher auch anstelle des Terminus ,wichtige Interessen‘ den Ausdruck ,Grundanliegen‘.“ (Nahnsen 1992a, S. 102)
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
97
zusammenhang nicht näher. Allerdings scheint ein Teil der äußeren Umstände die Gesellschaft zu sein102: „Immer klarer hat sich in der deutschen Sozialpolitik in einem Zeitraum von mindestens anderthalb Jahrhunderten die Überzeugung durchgesetzt, daß der Arme und Hilfsbedürftige nicht ein Versager, ein Mensch zweiter Klasse ist, demgegenüber höchstens die Pflicht der ‚Mildtätigkeit‘ bestehe. Immer klarer hat auch die Wissenschaft herausgestellt, daß die Verantwortung für Not und Elend und auch für viele immaterielle Nöte in erster Linie die Gesellschaft trifft und daß selbst der Versager bestimmte Rechtsansprüche haben soll.“ (Weisser 1974b, S. 126)
Nun ist das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen immer ein wechselseitiges, denn die Gesellschaft prägt nicht nur die Menschen, sie besteht aus eben jenen Menschen, die sie prägt, und wird somit von ihnen geprägt. Dies erkennt Weisser auch prinzipiell an, wenn er schreibt: „Die Lebenslagen formen sich in einem Prozeß, den die Gesellschaft bewirkt und für den ihre Mitglieder daher eine originäre Verantwortung tragen.“ (Weisser 1956b, S. 302)
Aber er betont immer wieder, vor allem in Bezug auf sozial Schwache, dass das Maß an Zufriedenheit mit der Lebenslage manipuliert werden könne (Weisser 1972a, S. 278): „[I]ch kann nicht den Zufriedenheitsgrad einfach zum Maßstab meiner Bewertung sozialer Verhältnisse machen, wenn ich weiß, dass es möglich ist und in der Geschichte immer wieder vorgekommen ist, dass selbst Menschen in dem tiefsten Elend, in ihrer Psyche so manipuliert worden sind, dass sie sich selig fühlen.“ (Weisser 1963b, S. 5)
Seine Version des Zufriedenheitsparadoxes (Glatzer/Zapf 1980) unterstellt also immer eine Instanz, die auf die Zufriedenheit trotz schlechter Verhältnisse hinarbeitet. Hier tritt die Frage auf, wer denn diese Menschen manipuliert. Es fehlt an dieser Stelle eine Theorie, die den Zusammenhang zwischen äußeren Umständen, Gesellschaft, Grundanliegen und der Bewertung der individuellen Lebenslage klärt.
Typisierung und Schichtung Zugleich ist die Feststellung individueller Lebenslagen ein Ausgangspunkt, um die Gesellschaftsstruktur zu kennzeichnen: ___________ 102
Zu diesem Schluss kommt auch Nahnsen: „Wenn Weisser von den ,äußeren Umständen‘ als Konstituanten des Spielraumes spricht, der die Lebenslage begründet, so hat er zweifellos und nach Maßgabe aller Interpretationshilfen, die man in seinen Publikationen finden kann, die gesellschaftlichen Umstände, also Elemente der Sozialstruktur im Sinn.“ (Nahnsen 1992a, S. 108)
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3. Der Lebenslage-Ansatz „Mitglieder einer Gesellschaft, deren Spielraum bei der Befriedigung einer Mehrzahl bestimmter lebenswichtiger Interessen annähernd der gleiche ist, mögen dadurch gekennzeichnet werden, daß die dem gleichen ‚Lebenslage-Typus‘ angehören. Man kann den Versuch machen, den Inhalt des Begriffs ‚Bevölkerungsschicht‘ vom Begriff des Lebenslage-Typus aus zu bestimmen ...“ (Weisser 1951, S. 2f)
Eine solche Definition des Begriffs Bevölkerungsschicht über den Lebenslage-Typus bringt Weisser in seiner Vorlesung zur Sozialpolitiklehre (1957a, S. 11) und versucht dementsprechend die Gesellschaft nach Schichten zu gliedern (Weisser/Herkenrath 1957, S. 12ff). Später beschränkt er sich darauf, die „wirtschaftlich schwachen Schichten“ über die Lebenslage zu definieren.
Soziales Existenzminimum, soziale Schwäche und soziale Gefährdung Genauer gesagt grenzt Weisser die „sozial schwachen Schichten“ von den „sozial gefährdeten Schichten“ ab. Als Grenze dient das „soziale Existenzminimum“: „,Sozial schwachen Schichten‘ gehören Gesellschaftsmitglieder an, deren Lebenslage von der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung als nicht zumutbar angesehen wird. ‚Sozial gefährdeten Schichten‘ gehören Gesellschaftsmitglieder an, deren Lebenslage durch bereits eingetretene oder vorausschaubare Ereignisse bedroht ist, unter das nach vorherrschender Meinung noch zumutbare Niveau abzusinken. ... Eine Lebenslage, die gerade noch als zumutbar angesehen wird, heiße ,soziales Existenzminimum‘. Das soziale Existenzminimum ist also nicht eine Größe, die ein für alle mal feststeht. Die Eigenschaften der Lebenslage, die gegeben sein müssen, damit das ,soziale Existenzminimum‘ vorliegt, können auch in einer gegebenen Gesellschaft von Mensch zu Mensch verschieden sein. Wird z. B. ein Klaviervirtuose, um existieren zu können, zu harter manueller Arbeit genötigt, so kann ihn das in eine Lebenslage versetzen, die als unzumutbar angesehen wird.“ (Weisser 1957a, S. 3f)
Einerseits beruft sich Weisser hier auf die Gesellschaft und die in ihr vorherrschende Meinung (über die er uns freilich nicht sagt, wie sie zu ermitteln ist). Andererseits betont er im gleichen Zuge, dass sich die Meinung über das Existenzminimum nicht nur mit der Gesellschaft ändern kann, sondern auch innerhalb der Gesellschaft nicht einheitlich ist. Insofern ist diese Definition weder operationabel noch klar. Weissers Definition des sozialen Existenzminimums und sozialer Schwäche wird auch von Nahnsen und Andretta kritisiert. Sie sehen einen „Widerspruch zwischen der Fremdbestimmung des ‚Zumutbaren‘ und des ‚sozialen Existenzminimums‘ zu [der Betroffenheits-]Maxime“, die besagt, dass es darum geht, „die Bedingungen für die Erfüllung der Grundanliegen der Betroffenen zu verbessern“ (Nahnsen 1992a, S. 113 und 104, vgl. auch Andretta 1991, S. 60ff).
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
99
Später greift Weisser auf ein anderes Kriterium zur Feststellung sozialer Schwäche zurück: „Eine fruchtbare ... heutige Lehre von der Sozialpolitik und Sozialarbeit geht zweckmäßig davon aus, daß es Teilmengen von Gesellschaftsmitgliedern gibt, deren materielle und/oder immaterielle Lebenslage zu ungünstig ist, als daß sich ihre Besserung allein aus der eigenen Initiative der in dieser Lebenslage Befindlichen ergeben könnte, wobei beachtet werden muß, daß auch das Maß, indem eigene Initiative tatsächlich aufgebracht wird, in topologisch bestimmbaren Umfang von der Lebenslage abhängt, besonders bei langdauernden eventuell über Generationen reichenden Bestehen dieser Lebenslage und besonders dann, wenn sich die Lage nahe dem physischen Existenzminimum befindet.“ (Weisser 1972a, S. 278)
Hier ist soziale Schwäche tatsächlich durch Schwäche gekennzeichnet: Diejenigen, die zu schwach sind, ihre Lebenslage selbst zu verbessern, stellen die Schicht der sozial Schwachen dar. Liegt diese Schwäche vor, so ist es an der Sozialpolitik einzugreifen. In ähnlicher Weise definiert Nahnsen ein „Grenzniveau der Lebenslage“, unterhalb dessen die Lebenslagen „restringiert“ seien, und sieht die Aufgabe der Sozialpolitik darin, Lebenslagenrestringenz aufzuheben (s. u.). Die Definition von sozialer Schwäche ist also eng an die Definition von Sozialpolitik gebunden und umgekehrt.
3.3.3 Diskussion Zunächst gilt es, dem Begriff der „Grundanliegen“ bei Weisser nachzugehen. Ich deute die Entwicklung dieses Begriffs bei Weisser als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Überzeugungen seines Lehrers Nelson. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Frage, welcher Rang welchen Grundanliegen eingeräumt wird. Im Anschluss skizziere ich die Weiterentwicklung des Lebenslage-Ansatzes durch einige Schüler Weissers. Die Version von Nahnsen ist zum einen sehr bekannt und zum anderen auch am vollständigsten ausgearbeitet, obwohl auch sie kaum etwas veröffentlicht hat. Andere Arbeiten, die sich auf Weisser – oder Nahnsen – beziehen werden nur kurz genannt. Die Diskussion schließt mit einer zusammenfassenden Einschätzung.
Die Auseinandersetzung Weissers mit Nelsons Theorie des wahren Interesses Hintergrund für Weissers Lebenslage-Ansatz und seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist seine Auseinandersetzung mit der Theorie des wahren Interesses von Nelson. Darin (siehe Abschnitt 3.2.2) behauptet Nelson ja die Existenz eines unmittelbaren und dennoch objektiven Interesses, das auf vernünftige Selbstbestimmung gerichtet sei.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
Dieses Interesse ist objektiv, weil sein Gegenstand um seiner selbst willen geschätzt wird. Objektive Interessen werden ihren Trägern nach Nelson in der Regel erst durch Reflexion, also mittelbar bewusst. Das wahre Interesse hingegen sei unmittelbar und objektiv, weil es eine ursprünglich dunkle Erkenntnis enthalte. Von dieser Position Nelsons distanziert sich Weisser im Laufe der Zeit immer mehr. 1953 hält er zwar an der Nelsonschen Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Interessen fest und betont, dass er „die Beiträge der Fries-Nelsonsche[n] Schule ... für fruchtbar“ hält, schränkt jedoch diese Einschätzung dahingehend ein, dass er Unterschiede in den individuellen Grundanliegen und den zeitlichen Wandel von Grundanliegen nicht a priori ausschließen möchte (Weisser 1953, S. 565). Damit bezweifelt Weisser sowohl die Einzigartigkeit des wahren Interesses, als auch seine „Wahrheit“, d. h. seine Unwandelbarkeit. Bereits 1957 ist der Zweifel zur Gewissheit geworden: „Eine anthropologische geklärte Grundtatsache ist es, daß die Menschen in dem, was sie unmittelbar begehren, also in ihren unmittelbaren Interessen, nicht übereinstimmen.“ (Weisser, 1957b, S. 142) 1962 schlägt Weisser (1962, S. 7) dann – wie oben bereits erwähnt – die Aufteilung der Sozialwissenschaft in einen explikativen und einen normativen Teil vor. Aufgabe der normativen Sozialwissenschaft ist es, die Grundanliegen zu ermitteln, welche die Menschen haben sollten. Die explikative Sozialwissenschaft stellt hingegen fest, welche Grundanliegen die Menschen tatsächlich haben. Hier wagt er es sogar, einen Katalog von Grundanliegen aufzustellen, die für die Analyse der Lebenslage von Bedeutung sind (s. u.). Die von ihm vorgeschlagene normative Soziallehre erörtert Weisser in dem Text „Das Problem der systematischen Verknüpfung von Normen und von Aussagen der positiven Ökonomik in grundsätzlicher Betrachtung, erläutert anhand des Programms einer sozialwissenschaftlichen Grunddisziplin aus Empfehlungen und Warnungen“ (1963a). Er unterscheidet drei Möglichkeiten, normative Prämissen in die Wissenschaft einzuführen: „a) [Der Forscher] kann diesen Axiomen, indem er sich als Philosoph betätigt, in kontrollierbarer Weise den Rang allgemein verbindlicher Aussagen praktischer Art verleihen. b) Er kann sich an ihren Inhalt durch ein nichtwissenschaftliches Bekenntnis personell binden (und dabei möglicherweise Gruppen von Gesinnungsverwandten finden. c) Er kann die benutzten praktischen Axiome lediglich unterstellen und es also dahingestellt sein lassen, ob er selbst, der Ratempfänger oder überhaupt jemand den Inhalt dieser praktischen Axiome bejaht oder bejahen sollte.“ (Weisser 1963a, S. 62f)
Der Möglichkeit a) – nämlich der philosophischen Begründung allgemein verbindlicher Axiome – steht Weisser hingegen kritisch gegenüber:
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
101
„[Dem Verfasser] ist aber kein Philosoph bekannt, dem die Begründung in überzeugender Weise gelungen wäre.“ (Weisser 1963a, S. 64)
Dieses ist eine erste, zurückhaltende Kritik an seinem Lehrer Nelson, der ja genau dies versucht hat. Weisser (1956a, S. 1095ff, 1963a, S. 63, 1972a, S. 280) bevorzugt die „bekenntnismäßige Einführung der praktischen Axiome“, also Möglichkeit b). Die dritte Möglichkeit ist für ihn technologisch und dient seines Erachtens einigen Forschern dazu, sich ihrer persönlichen Verantwortung zu entziehen (Weisser 1963a, S. 63). Die explikative Soziallehre hat eine wichtige ergänzende Funktion. Weisser geht nämlich davon aus, dass es in gewissem Maße Übereinstimmungen in den Grundanliegen verschiedener Menschen gibt, welche sich empirisch ermitteln lassen: „Auch in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft pflegt es sich so zu verhalten, daß die voneinander verschiedenen Bündel von Grundanliegen, die den praktischen Teil der sogenannten Weltanschauung ausmachen, Gemeinsamkeiten aufweisen. ... Liegen solche Situationen vor, so lassen sich trotz der Pluralität der Gesinnungspositionen aus gemeinsamen Grundanliegen, der Zeitanalyse und den geltenden empirischen Gesetzmäßigkeiten gewisse sehr allgemeine Leitregeln ableiten.“ (Weisser 1963a, S. 71)
Die Gewissheit, dass verschiedene Grundanliegen und verschiedene Bündel von Grundanliegen nebeneinander existieren, stellt Weisser vor das Problem, wie diese zu erkennen sind. Er bemüht sich daher, Wege zu finden, Grundanliegen, mit denen er arbeitet, zu legitimieren – und sei es nur, um sie in technologischer Weise zu unterstellen. Weissers Kritik an Nelson tritt 1974 offener zu Tage als zuvor,103 doch es gelingt ihm nicht, das Problem der Gültigkeit von Grundanliegen befriedigend zu lösen. Deutlich zielt er mit folgenden Worten auf Nelson, der das wahre Interesse als das Interesse an vernünftiger Selbstbestimmung definierte: „Für politische Abwägungen ist es wichtig, sich dessen bewußt zu sein, daß die Gesellschaftsangehörigen in der Regel eine Vielzahl von Grundanliegen haben. Versuche, alle Anliegen auf nur ein Grundmotiv – etwa dasjenige der Selbstbehauptung – zurückzuführen, sind psychologisch überholt.“ (Weisser 1974b, S. 110)
Und nicht nur die Behauptung Nelsons, es gäbe nur ein wahres Interesse lehnt Weisser ab, sondern er hält es auch für aussichtslos, Grundanliegen zu beweisen; dies führe in einen unendlichen Regress: „Nicht alles kann ‚abgeleitet‘ sein.“ (Weisser 1974, S. 110). Er bleibt jedoch seinem Lehrer treu im Misstrauen gegen tatsächliche Interessen und gegen das Argument des Konsenses. „[W]as personell – vielleicht in Übereinstimmung mit Massen von anderen – ‚letztlich‘ gewollt wird“, lässt sich seines Erachtens nur aufzeigen, aber dies ___________ 103 Den Wandel von Weissers Position im Verhältnis zu Nelson arbeitet auch Stelzig (1977) klar heraus.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
begründet nicht die Gültigkeit der betreffenden Grundanliegen. „Wir können an diese Gültigkeit nur ahnend glauben und uns personell zu ihr bekennen.“ (Weisser 1974b, S. 112, Fußnote).
Rangordnung von Grundanliegen Auch in der Frage, welchen Rang welche Interessen haben, weicht Weisser von Nelson ab. Dies wird schon 1921 (S. 12) deutlich, wenn Weisser zwischen „Interessen höherer oder niederer Dignität“ unterscheidet und dann von der „hohen Dignität des Nahrungsbedürfnisses“ spricht. Offensichtlich setzt Weisser hier „lebenswichtige Bedürfnisse“ mit Interessen hoher Dignität gleich. Dies setzt sich fort, wenn Weisser den Begriff „wichtige Interessen“ in der Definition des Begriffs „Lebenslage“ durch „Grundanliegen“ ersetzt und so den besonderen Rang dieser Interessen hervorhebt. Anders als bei Nelson ist es nicht nur das wahre unmittelbare Interesse, das als Maßstab dient, sondern allgemein die „unmittelbaren Interessen“ und die „können in physischen Bedürfnissen, in Schätzungen bestimmter Gestaltungen der Persönlichkeit, der Kultur und des Verhältnisses zu Gott sowie in Pflichtvorstellungen hinsichtlich der Rücksichtnahme auf andere bestehen“ (Weisser 1953, S. 564). Sowohl sinnliche als auch sittliche als auch ästhetische unmittelbare Interessen können also grundlegend und wichtig sein und haben somit einen hohen Rang: „Es besteht die Möglichkeit, daß die Interessenträger nicht die Willenskraft aufbringen, entsprechend den aufgabenstellenden unmittelbaren Interessen zu handeln, weil Gegenstände von Interessen minderen Ranges auf sie einen stärkeren Reiz ausüben.“ (Weisser 1953, S. 562)
Neben der Klärung, ob es sich bei Interessen um mittelbare oder unmittelbare Interessen (Grundanliegen) handelt, sieht Weisser zwei weitere Punkte, die zu klären sind: „Zweitens muß in den Grenzen des Möglichen geklärt werden, welchen Rang die einzelnen jeweiligen Grundanliegen im Verhältnis zu anderen gehegten Grundanliegen haben; ... Drittens aber müssen wir uns mit der Möglichkeit befassen, daß der Rang von Grundanliegen unter dem Einfluß äußerer Bedingungen steht. Besonders lang andauerndes materielles und immaterielles Elend kann bestimmte Anliegen und auch unmittelbare innere Bindungen an Aufgaben und Pflichten latent werden lassen – einschlafen lassen – und dem Inhalt anderer Interessen höchste Dringlichkeit verleihen. Überdies können Rang und Inhalt von Grundanliegen und auch von unmittelbaren Interessen von außen her manipuliert sein, und sei es lediglich durch gesellschaftliche Traditionen.“ (Weisser 1974b, S. 110)
Hiermit verwischt Weisser die Unterscheidung zwischen Grundanliegen und anderen Interessen. Wie auch sein Beispiel vom „Interesse des Säufers am Besitz von Alkohol verglichen mit dem Interesse an Mitteln für die Schulbildung seiner Kinder“ zeigt, das er als Augenblicksneigung bezeichnet, die nicht
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
103
zu seinen Grundanliegen zu zählen sei (Weisser 1957a, S. 7). Dasselbe Argument führt er an, um die Politik zur Suchtbekämpfung zu rechtfertigen (Weisser 1974b, S. 132). Bei Weisser lassen sich zwei Konzeptionen für Grundanliegen finden: Nach dem einen Konzept sind Grundanliegen unmittelbare Interessen, die sich daran erkennen lassen, dass es sich um „letztlich Gewolltes“ handelt und sie nicht auf weitere Voraussetzungen zurückzuführen sind. Dieses Konzept führt also ein logisches Kriterium ein, an dem Grundanliegen zu erkennen sind, nämlich deren Voraussetzungslosigkeit. Nach diesem auf der Logik beruhenden Konzept sind Grundanliegen von der jeweiligen Gesellschaft und ihren Traditionen unabhängig, weil diese m. E. als Voraussetzungen in der Definition zu gelten haben. Weder das Interesse an Alkohol noch jenes an den Mitteln zur Schulbildung für Kinder können als Grundanliegen in diesem Sinne betrachtet werden, stellen sie doch mittelbare Interessen dar. Nach dem anderen Konzept sind Grundanliegen das, was ein Mensch will bzw. zu wollen meint. Dies kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein und es unterliegt dem Irrtum. Diese „empirische“ Konzeption von Grundanliegen geht von den Äußerungen der Individuen über ihre Interessen aus und erfordert eine Überprüfung der Interessen daraufhin, ob sie manipuliert worden sind und ob sie in sich konsistent sind. Verwirrung schafft Weisser dadurch, dass er das logische Kriterium der Voraussetzungslosigkeit nicht für tragfähig hält, um die empirisch vorgefundenen Grundanliegen zu überprüfen. Nach Stelzig (1977, S. 272) ist „>d@iese Argumentation Weissers ... problematisch und erscheint unter der erkenntnistheoretischen Position der Fries-Nelson-Schule zudem überflüssig“.
Der Lebenslage-Ansatz von Nahnsen Gerhard Weisser hat den Lebenslage-Ansatz vor allem an seine Schüler104 weitergegeben, von denen er teilweise kritisiert und fortentwickelt wurde. Hier soll zunächst der Ansatz von Nahnsen ausführlich dargestellt werden. Danach stelle ich die Fortentwicklungen des Lebenslage-Ansatzes von Kleinhenz (1970) und Hillen (1975) sowie von Amann (1983), Wendt (1984, 1988), Schulz-Nieswandt (1995, 1998) und Voges (2002) kurz vor. ___________ 104 Zu nennen sind (ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben): Hans Albert, Otto Blume, Werner W. Engelhard, Heiner Flohr, Heiner A. Henkel, Siegfried Katterle, von denen diejenigen, deren Namen kursiv sind, sich zumindest zum Lebenslage-Ansatz geäußert haben. Die Tradition wird weitergetragen von Schülern der Schüler, z. B. Gabriele Andretta, Schülerin von Ingeborg Nahnsen, und Ingrid Krieger, Schülerin von Klaus Lompe.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
Die wohl bekannteste Fortentwicklung des Ansatzes von Weisser nahm seine Schülerin Ingeborg Nahnsen vor.105 Ihr geht es vor allem darum, den Ansatz anwendbar zu machen. Sie definiert Lebenslage folgendermaßen: „Lebenslage ist danach der Spielraum, den die gesellschaftlichen Umstände dem Menschen für die Entfaltung und Erfüllung seiner Grundanliegen bieten. Der Deutlichkeit halber sei hinzugefügt, daß diese gesellschaftlichen Umstände solche sind, die der einzelne auf sich allein gestellt nicht ändern kann.“ (Nahnsen 1992a, S. 110)106
Nahnsens Definition weicht in zwei Punkten von Weissers Definition ab: Zum einen spricht sie nicht von „äußeren“ sondern von „gesellschaftlichen“ Umständen, weil sie Weissers Vorstellung nicht teilt, „daß ein gesellschaftliches Äußeres unabhängig einem individuellen Inneren gegenüberstände“ (Nahnsen 1992a, S. 108). Zum anderen stellt sie die These auf, „daß zur empirischen und praktischen Einlösung des Weisserschen Konzepts ... irgendeine konkrete Kenntnis der einzelnen Individuen“ – und ihrer Grundanliegen – „nicht erforderlich ist“ (Nahnsen 1992a, S. 116) – und verzichtet daher auf die Umschreibung der Grundanliegen als jener Anliegen, die der Mensch „bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung als bestimmend für den Sinn seines Lebens ansieht“. Stattdessen sieht sie in der Lebenslage auch die Bedingung für die Bewusstwerdung oder „Entfaltung“ von Grundanliegen. Ferner definiert Nahnsen ein „Grenzniveau der Lebenslage“ und ersetzt damit Weissers Ausdruck von „sozialer Schwäche“: „Danach kann man von einem Grenzniveau der Lebenslage sprechen, wenn mit dem Versuch, eine alternative Lebensgestaltung zu erreichen, ein überdurchschnittliches Verschlechterungsrisiko für die Ausgangslebenslage verbunden ist.“ (Nahnsen 1992a, S. 114)
Es könnten entsprechend drei Fälle unterschieden werden: „1. Lebenslagen oberhalb des Grenzniveaus, 2. Lebenslagen auf dem Grenzniveau und 3. Lebenslagen unterhalb dieses Niveaus“ (Nahnsen 1992a, S. 115). Dadurch sieht Nahnsen die Bewertbarkeit und Vergleichbarkeit der Lebenslagen als gegeben an. Die Beispiele, die sie anführt, und ihre weiteren Ausführungen sind aber nicht geeignet, die Definition verständlich zu machen. Nahnsen (1992a, S. 115) deutet bspw. die Abwanderung ehemals selbstständiger Landwirte in gewerbliche Berufe in den 60er und 70er Jahren als Versuch der Betreffenden, ihre Lebenslage zu verbessern, und schlussfolgert, dass ihre Lebenslage sich vorher ___________ 105 Leider hat Nahnsen wie ihr Lehrer Weisser viele Gedanken nur in Form von Vorlesungsmanuskripten veröffentlicht, die mir nicht vorlagen. Daher ist die Arbeit von Andretta (1991) eine wichtige Quelle, denn sie zitiert aus diesen Manuskripten. Vgl. ferner: Nahnsen (1975, 1992a und b). 106 Vgl. auch Nahnsen (1975, S. 148).
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
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auf dem Grenzniveau befunden habe. Es ist nicht klar, ob das Kriterium zur Erkennung einer Lebenslage auf dem Grenzniveau darin besteht, dass das Individuum von einer Verschlechterung seiner Lebenslage bedroht ist, so dass es zu einer Veränderung gezwungen ist, oder ob es darin besteht, dass zu einer Veränderung der Lebenslage letzte Reserven aufgebraucht werden, so dass jegliche Veränderung das Risiko mit sich bringt, in eine noch schlechtere Lebenslage abzurutschen. Nach Andretta (1991, S. 88) sieht Nahnsen die Aufgabe der Sozialpolitik darin, Lebenslagen zu verbessern, die sich auf oder unterhalb des Grenzniveaus befinden. Insofern ist die Unterteilung in drei Fälle nur eine theoretische Spielerei. Praktisch unterteilt Nahnsen die Lebenslagen in jene auf oder unterhalb des Grenzniveaus und jene oberhalb des Grenzniveaus. Dabei bleibt wie gesagt unklar, woran das Grenzniveau der Lebenslage zu erkennen ist. Nahnsen (1992a, S. 114) behauptet jedoch: „Trotz ihrer abstrakten Formulierung lässt sich diese Definition eines Grenzniveaus der Lebenslage für empirische und praktische Zwecke anwenden.“ Ihren Ansatz charakterisiert Nahnsen durch sechs „Postulate“: Betroffenheits-, Vollständigkeits-, Sozialitäts-, Bewertbarkeits-, Vergleichbarkeits- und Operationalitätspostulat. Die ersten beiden Forderungen beziehen sich auf die Grundanliegen. Sie besagen, dass es um die Grundanliegen der betroffenen Personen geht und alle – materielle und immaterielle – Grundanliegen betrachtet werden sollen. Das dritte Postulat definiert Lebenslage als objektive Gegebenheit in dem Sinne, dass es um jene Umstände geht, die eine einzelne Person nicht ändern kann. Das vierte und fünfte Postulat sieht Nahnsen mit ihrer Definition eines Grenzniveaus als erfüllt an. Das sechste Postulat sieht eine Aufteilung des Gesamtspielraumes in Einzelspielräume vor, die Nahnsen allerdings nur als Hilfsmittel zur Analyse der Lebenslage verstanden wissen will und nicht als unabhängig voneinander bestehende Bereiche. Im Gegenteil beharrt sie darauf, dass die Lebenslage als Einheit gesehen werden müsse und die Einzelspielräume auf vielfältige Weise voneinander abhängen.107 Sie unterscheidet folgende Spielräume: 1. Einkommens- und Versorgungsspielraum, 2. Kontakt- und Kooperationsspielraum, 3. Lern- und Erfahrungsspielraum, 4. Regenerations- und Mußespielraum und 5. Dispositionsspielraum.108 ___________ 107 Die Einzelspielräume sind teilweise als Dimensionen der Lebenslage missverstanden worden, vgl. Schäuble (1984). 108 Der Lebenslage-Ansatz von Nahnsen ist nicht mit dem „Pentagon der Armut“ zu verwechseln, das Iben (1989, 1991) propagiert. Zwar geht auch Iben von fünf Bereichen aus und spricht von „verschiedenen Bereichen der Lebenslage“, aber er bezieht sich nie direkt auf Vertreter des Lebenslage-Ansatzes und setzt ihn zudem gleich mit dem Deprivationsansatz von Townsend. Dies ist besonders unglücklich, weil die Verwirrung um den Begriff „Lebenslage“ ohnehin groß ist. Vgl. Abschnitt 4.4.
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3. Der Lebenslage-Ansatz
Fortentwicklung des Lebenslage-Ansatzes Kleinhenz und Hillen zielen auf die Operationalisierung des LebenslageAnsatzes ab. Daher kritisieren sie die Forderung Weissers, nur „wichtige“ Interessen, bzw. Grundanliegen zu berücksichtigen. Sie sprechen statt dessen „generell nur von ‚Interessen‘“ (Hillen 1975, S. 81). Da die Interessen selbst gesellschaftlich geprägt sind, verzichten sie in ihrer Definition der Lebenslage auch auf die Erwähnung der äußeren Umstände, verweisen jedoch auf ihre Relevanz für die empirische Ermittlung der Lebenslage: „Die Lebenslage ist ... der Spielraum, den ein Mensch zur Verwirklichung seiner Interessen hat. ... Konkreter Ausdruck für den Spielraum zur Interessenbefriedigung ist die faktische Ausprägung der einzelnen Lebenslage-Merkmale im Rahmen bestimmter äußerer Verhältnisse.“ (Hillen 1975, S. 84)
Auch wenn Hillen (1975, S. 81f.) darauf hinweist, dass Interessen „unabhängig davon berücksichtigt werden können, ob die betreffenden Personen sie tatsächlich selbst verfolgen“, bedeutet die Konzentration auf die „faktische Ausprägung der Lebenslage-Merkmale“ eine Wendung zum Neurathschen Lebenslage-Begriff. Amann (1983) und Wendt (1988) möchten den Lebenslage-Begriff für die Sozialarbeit fruchtbar machen. Ihr Hauptaugenmerk liegt daher auf dem Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft. Auch sie konzentrieren sich auf die konkreten Lebensbedingungen, lassen jedoch die Frage der Grundanliegen insofern fallen, als dass sie davon ausgehen, dass diese durch die Sozialisierung geprägt werden. Amann definiert Lebenslage folgendermaßen: „Lebenslagen sind die je historisch konkreten Konstellationen von äußeren Lebensbedingungen, die Menschen im Ablauf ihres Lebens vorfinden, sowie die mit diesen äußeren Bedingungen in wechselseitiger Abhängigkeit sich entwickelnden kognitiven und emotionalen Deutungs- und Verarbeitungsmuster, die diese Menschen hervorbringen. Lebenslage ist ein dynamischer Begriff, der die historische, sozialen und kulturellen Wandel erzeugende Entwicklung dieser äußeren Bedingungen einerseits umfaßt und andererseits die spezifischen Interaktionsformen zwischen dem sozialen Handeln der Menschen und diesen äußeren Bedingungen.“ (Amann 1983, S. 147)
In Kenntnis nicht nur Weissers sondern auch Neuraths Arbeiten sieht Amann die Stärke des Lebenslagen-Ansatzes in der Möglichkeit, ihn dynamisch zu deuten und „für eine integrierende Zusammenschau von sozialwissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischer Maßnahmenplanung“ (Amann 1983, S. 20) zu nutzen. In seinem ersten Beitrag zu „Lebenslagen und Not“ (1984) zieht Wendt zusätzlich ein Konzept aus der Gesundheitsforschung heran, welches die Wirkung der Gesellschaft auf das Individuum verdeutlicht: die „Lebensweise“. Er schreibt: „Man spricht von einem ‚mediatisierenden Konzept‘, das sowohl auf Individuen wie auf soziale Gruppen anwendbar ist, nämlich auf die Weisen (Muster), wie sie indivi-
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
107
duell und kollektiv strukturelle Lebensbedingungen unter Nutzung eigener Potentiale und sozialökologischer und soziokultureller Ressourcen bewältigen. Eine Lebensweise wäre somit die aktive Gestaltung dessen, was die gegebene individuelle Lebenslage ermöglicht.“ (Wendt 1984, S. 108)
Ohne die Unterscheidung Grellings in „Lebenslage“ und „Lebenshaltung“ zu kennen, führt Wendt sie wieder ein, weil die „Lebensweise“ (oder „Lebenshaltung“) eine vermittelnde Kategorie ist: Sie vermittelt sowohl zwischen Makro- und Mikroebene als auch zwischen verschiedenen Zeitpunkten. Das betont Wendt, indem er schreibt, dass es bei der Lebensweise um die Sequenzen des Handelns geht. In ähnlicher Weise betont Voges (2002)109 die Doppeldeutigkeit der Lebenslage als zu erklärender Sachverhalt (Explanandum) und erklärender Sachverhalt (Explanans). Er entwickelt in Anlehnung an Esser (1993) ein Modell, in welchem die Lebenslage sowohl erklärt wird aus dem Zusammenwirken von Makro- und Mikroebene als auch zur Erklärung von Veränderungen auf diesen Ebenen dient, wobei die Zeit als vermittelnde Kategorie auftritt. Auch ein Schüler Weissers, Schulz-Nieswandt, deutet Lebenslage als Ursache und Wirkung: „Sozialphilosophisch gesprochen geht es um die Konstitution personaler Identität im dialektischen Wechselspiel von Entwurf und Faktizität. Philosophisch gesehen ist die Lebenslage daher als ‚In-der-Welt-Sein‘ immer beides: Entwurf (Sartre) und Geworfensein (Heidegger).“ (Schulz-Nieswandt 1995, S. 59)
Zusammenfassende Einschätzung Unter „Lebenslage“ versteht Weisser in Anlehnung an Grelling eine Menge von Möglichkeiten, einen Spielraum, der geformt und begrenzt wird von den (individuellen) Grundanliegen einerseits und den äußeren (vom Individuum nicht beeinflussbaren) Umständen andererseits. Den Wert einer Lebenslage sieht er durch die Größe des Spielraumes gegeben (Weisser 1957a), die Möglichkeit zur Interessenbefriedigung und nicht durch die tatsächliche erreichte Befriedigung von Interessen. Ein Großteil von Weissers Gedanken kreisen um die Frage der Grundanliegen: Welche Interessen sind so wichtig, dass sie Grundanliegen genannt werden können? Wie kann man Grundanliegen erkennen? Lässt sich ein einheitlicher Katalog von Grundanliegen aufstellen? Verändern sich Grundanliegen im Laufe der Zeit? Sind sich die Menschen ihrer Grundanliegen bewusst? Um diese Fragen zu beantworten teilt Weisser seine Sozialpolitiklehre in zwei Bereiche auf: Aufgabe der normativen oder praktischen Sozialpolitiklehre ist ___________ 109
Vgl. auch Voges u. a. (2001).
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3. Der Lebenslage-Ansatz
es, die erkenntnistheoretische Grundlage von Grundanliegen als unmittelbare Interessen klar heraus zu stellen und die Frage der Gültigkeit zu beantworten. Aufgabe der explikativen Sozialpolitiklehre ist die Ermittlung tatsächlich vorgefundener Grundanliegen und die Erfassung der äußeren Umstände. Mit dieser Trennung zwischen Empirie als alleinige Aufgabe der explikativen Sozialpolitiklehre und Theorie als Aufgabe der normativen Sozialpolitiklehre geht jedoch die größte Schwäche des Weisserschen Ansatzes einher: Er kann weder den Zusammenhang zwischen äußeren Umständen und Grundanliegen erklären noch das Verhältnis zwischen empirisch festgestellten Grundanliegen und den erkenntnistheoretischen Eigenschaften der Grundanliegen klären. Teilweise rührt die Schwäche daher, dass er zwar den Begriff „Lebenslage“ von Grelling übernimmt, nicht aber die Idee, dass aus der Lebenslage eine Lebenshaltung ausgewählt und verwirklicht wird. Grelling schafft damit zwei miteinander verbundene Ebenen: eine, zu der ein direkter empirischer Zugang besteht, nämlich die Lebenshaltung, und eine, die ihn eigentlich theoretisch interessiert: die Lebenslage. Schon die Lebenshaltung definiert Grelling multidimensional als „Gesamtheit der von einem Menschen in einer bestimmten Periode seines Lebens faktisch befriedigten Interessen“ (Grelling 1921a, s. o.). Die Interessen spannen bei ihm einen multidimensionalen Raum auf, in dem jede Lebenshaltung als Punkt verzeichnet werden kann. Die Lebenslage ist dann eine Menge solcher Punkte, nämlich die Menge der möglichen Lebenshaltungen. Bei dieser komplexen multidimensionalen Struktur ist sofort klar, dass es äußerst schwierig ist, Lebenshaltungen oder gar Lebenslagen zu vergleichen und zu bewerten. Bei Weisser tritt diese Struktur zurück. Seine Beschreibung der Lebenslage als „Spielraum“ ist sehr anschaulich und verdeutlicht, dass die Lebenslage als Ganzheit gesehen werden muss, aber sie lässt vergessen, dass es sich um eine Menge in einem multidimensionalen Raum handelt. Seine Frage nach den Grundanliegen lässt sich als Frage nach den zulässigen Dimensionen bei dieser Betrachtung interpretieren und ist insofern in der Tat von zentraler Bedeutung. Daher ist seine Einschätzung, die Grundanliegen seien von Person zu Person unterschiedlich, würden sich mit der Zeit verändern und seien den Menschen selbst nicht immer bewußt, so verheerend: Wenn man sich nicht auf die Dimensionen der Lebenslage verständigen kann, erscheint eine Erfassung der Lebenslage aussichtslos und auch die Lebenshaltung kann dann nicht definiert werden. Durch die Abspaltung der explikativen von der normativen Sozialpolitiklehre versucht Weisser zwar den Weg für eine Anwendung seines Ansatzes frei zu halten, doch der Widerspruch zwischen erkenntnistheoretischem Fundament und sozialpolitischem Engagement ist auf diese Weise fest in seinem Ansatz
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
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verankert. Zugleich führt jedoch gerade sein Festhalten an erkenntnistheoretischen Fragen dazu, dass Weisser einen erfrischend anderen Blick auf wirtschaftliche Fragen hat. Seines Erachtens sind wirtschaftliche Interessen immer mittelbar – insbesondere jenes an der Steigerung des Sozialproduktes – und daher erst auf die ihnen zugrundeliegenden unmittelbaren Interessen zu hinterfragen (Weisser 1953, 1963a). Daher muss sich auch die Wirtschaftswissenschaft auf die normative Soziallehre stützen.
3.3.4 Aussagen zu Armut Der Begriff „Lebenslage“ ist bei Weisser das zentrale, definierende Element seiner Sozialpolitiklehre, die er als „Inbegriff der Maßnahmen ..., die der Änderung der Lebenslage der sozial schwachen Schichten dienen“ sieht. Schon damit wird klar, dass es ihm im weiteren Sinne um „die Armen“ geht. Allerdings verwendet er nicht den Begriff „Armut“ sondern „soziale Schwäche“. In seiner Vorlesung (vom 27.1.1964) argumentiert er, das Wort von der „sozialen Schwäche“ sei allgemein eingeführt und er verwende es deshalb. Zwar spricht er manchmal von „den Armen“110, aber er definiert den Begriff „Armut“ nirgends. Klar ist, dass Weisser für ein multidimensionales Verständnis des Lebensstandards eintritt, dass er insbesondere meint, der Lebensstandard könne nicht in Geldgrößen ausgedrückt werden (Weisser 1962, S. 20), und dass er den Lebensstandard als die Möglichkeiten eines Menschen betrachtet und nicht als das, was dieser Mensch daraus gemacht hat. Vielleicht sind dies die Gründe, weshalb er nicht von „Armut“ spricht. Mit seiner Konzeption von sozialer Schwäche und sozialer Gefährdung sucht Weisser jedenfalls eine Schicht mit Hilfe ihrer Lebenslage abzugrenzen, die man „arm“ nennen kann. Deutlicher noch tut dies Nahnsen, wenn sie ein „Grenzniveau der Lebenslage“ definiert. Diese Konzepte dienen der Identifikation der „Armen“. Mit dem „Spornungspostulat“ (s. u.) stellt Weisser darüber hinaus eine Verteilungsregel auf.
Soziale Schwäche bei Weisser Wie bereits im Abschnitt 3.3.2 aufgezeigt, entwickelt Weisser zunächst die Idee, soziale Schichten über ähnliche Lebenslagen zu definieren. Er tut dies insbesondere für „sozial schwache Schichten“, deren Lebenslage „von der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung als nicht zumutbar angesehen ___________ 110
Vgl. Weisser (1963b, 16.12.1963; 1974c, S. 126).
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3. Der Lebenslage-Ansatz
wird“ (Weisser 1957a). Das Kriterium für die Ähnlichkeit von Lebenslagen ist ihr Wert und diesen Wert definiert Weisser folgendermaßen: „Das Maß, in dem einem Menschen die Erfüllung seiner Grundanliegen möglich ist – die Größe des ‚Spielraumes‘ ... – bestimmt den Wert einer Lebenslage.“ (Weisser 1957a, S. 9)
Diese Formulierung geht scheinbar von einem einheitlichen Maß für die Lebenslage aus und steht in starkem Widerspruch zu ihrem multidimensionalen Charakter. Seine spätere Definition von sozialer Schwäche kann als Versuch gedeutet werden, ein Kriterium für die Ähnlichkeit der Lebenslage sozial schwacher Personen zu finden, nämlich, dass ihre Lebenslage „zu ungünstig ist, als daß sich ihre Besserung allein aus der eigenen Initiative der in dieser Lebenslage Befindlichen ergeben könnte“ (Weisser 1972a, S. 278). Jedoch setzt auch diese Definition sozialer Schwäche die – zumindest ordinale – Vergleichbarkeit von Lebenslagen voraus („Besserung“) und erfordert zusätzlich die Abgrenzung eines Bereichs der „eigenen Initiative“ gegenüber einem Bereich der Initiative von außen. Vorrang hat für Weisser immer die eigene Initiative, weil sie eng mit Freiheit verknüpft ist, die er für ein „geistiges, und zwar kulturelles“ Grundanliegen hält, „dessen Inhalt nicht diskursiv behandelt werden kann“ (Weisser 1974b, S. 127f). Paternalistische Maßnahmen von Seiten des Staates bedürfen der Rechtfertigung. Ein möglicher Grund für ein Eingreifen des Staates ist die „Befreiung von inneren, psychischen Zwängen“, wie Weisser (1974b, S. 132) am Beispiel von Süchtigen ausführt. Dies mag ein Spezialfall von sozialer Schwäche sein. Generell scheint Weisser aber den Begriff „Lebenslage“ in Zusammenhang mit sozialer Schwäche nicht auf eine Menge von Möglichkeiten zu beziehen, sondern im umgangssprachlichen Sinne als Ausdruck für die konkrete Lage eines Menschen zu verwenden. Hier kommt eine große Schwäche von Weissers Ansatz besonders stark zum Tragen: Da er die Struktur des Ansatzes nicht näher kennzeichnet und nicht bereit ist, sie formal darzustellen, kann er weder die Frage des Vergleichs von Lebenslagen befriedigend lösen noch den Zusammenhang zwischen der konkreten Lebensgestaltung und der Lebenslage modellieren. Um seinen Lebenslage-Ansatz zum Ausgangspunkt für eine Theorie der Armut zu machen, müsste beides geleistet werden.
Grenzniveau der Lebenslage von Nahnsen Stärker als Weissers Begriff von „sozialer Schwäche“ ruft Nahnsens Begriff vom „Grenzniveau der Lebenslage“ den Gedanken hervor, dass sie damit eine Armutsgrenze definiert. Ihre Definition des Grenzniveaus der Lebenslage anhand des „Verschlechterungsrisikos für die Ausgangslebenslage“ (s. o.,
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
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Nahnsen 1992a, S. 114) ähnelt sehr Weissers späterem Versuch, sozial schwache Schichten anhand der Besserungschancen zu definieren. Insofern gilt die Kritik an Weisser auch für ihren Ansatz. Dies wird umso deutlicher, als dass sie drei Fälle unterscheidet, nämlich „1. Lebenslagen oberhalb des Grenzniveaus, 2. Lebenslagen auf dem Grenzniveau und 3. Lebenslagen unterhalb dieses Niveaus“ (Nahnsen 1992a, S. 115). Für die Messung der Armut ist es sinnvoll, diejenigen, die sich auf der Armutsgrenze befinden, entweder zu den Armen oder zu den Nicht-Armen zu zählen (siehe Abschnitt 2.2), es sei denn, diese Einteilung ist im Sinne verschiedener Dringlichkeitsstufen für eine Armutsbekämpfungspolitik zu deuten.
Spornungspostulat von Weisser Von Grelling übernimmt Weisser dessen Prinzip der Verteilungspolitik (siehe Abschnitt 3.2.2), das später als „Spornungspostulat“ bekannt wird (Weisser 1972b, Neumann 1995) . Zum einen stellt Weisser das Prinzip der Chancengleichheit auf, das jedoch begrenzt wird durch das Erfordernis, Leistungsanreize zu setzen (Ansporn zu geben): „Jedem Gesellschaftsmitglied würde dann die gleiche Chance eingeräumt werden müssen, über Güter und Dienste in dem Maße zu verfügen, wie dies dem Sinn seines Lebens auf Grund seiner Anlagen und seiner Neigungen, soweit sie mit seinen geklärten Interessen vereinbar sind, entspricht. ... Unterschiede in der Lebenslage der Produzenten (der selbständigen und der abhängigen) sollen in der Höhe bestehen, die unter den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen erforderlich ist und hinreicht, um die Produzenten zu den wünschenswerten Leistungen zu veranlassen.“ (Weisser 1954a, S. 378f)
Zum anderen fordert Weisser: „Unter mehreren zur Auswahl stehenden Wirtschaftsverfassungen soll diejenige bevorzugt werden, bei der die Lebenslage der wirtschaftlich schwächsten Schichten günstiger als in jeder anderen zur Auswahl stehenden Wirtschaftsverfassung ist.“ (Weisser 1954, S. 381)
Auf die Ähnlichkeit dieser Gedanken zu den Überlegungen von Rawls wurde bereits im Abschnitt 3.2.2 verwiesen. Problematisch ist aber auch hier, dass die Vergleichbarkeit der Lebenslage vorausgesetzt wird, obwohl sich doch die Grundanliegen der Menschen unterscheiden.
3.3.5 Operationalisierung Wie bei Neurath sind drei Arten von Informationen zur Operationalisierung des Ansatzes abzufragen: die allgemeinen Überlegungen von Weisser dazu, seine eigenen empirischen Arbeiten und Arbeiten, die sich auf seinen Ansatz
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beziehen. Während Weisser anders als Neurath kaum eigene empirische Arbeiten erstellt hat, begleitete er wohlwollend die Arbeiten des Otto-BlumeInstituts, deren Bezug zum Lebenslage-Ansatz jedoch nur bruchstückhaft dokumentiert ist. Zwei weitere Forschungsstränge lassen sich unterscheiden, die sich auf Weissers Lebenslage-Ansatz beziehen: erstens qualitative Studien, die auf Nahnsens Unterteilung in fünf Einzelspielräume zurückgreifen, und zweitens Studien, die den Lebenslage-Ansatz zur Sozialstrukturanalyse nutzen. Der Abschnitt schließt mit einer Einschätzung der Operationalisierbarkeit des Ansatzes.
Allgemeine Bemerkungen und empirische Skizzen Weissers Zu den grundlegenden erkenntnistheoretischen Überzeugungen Weissers gehört es, die Gültigkeit von empirischen Ergebnissen als nicht beweisbar anzusehen, weil sie „bereits die Gleichheit jener >Erkenntnis-@Vermögen voraus>setzen@, die der Gegenstand der betreffenden Aussagen sind.“ (Weisser 1972b) „Als Kriterium auch des Empirischen steht nur das zur Verfügung, was der konsequente Gelehrte nicht für ‚objektive‘ Erkenntnis halten darf und heute nicht mehr hält. Auf die Übereinstimmung alles dessen, was wir Wahrnehmungs-, Denk- und Wertungsvermögen nennen, mit dem ‚Objektiven‘ können wir nur vertrauen.“ (Weisser 1972a, S. 280) In dieser Form kritisiert er die „Reste des ... klassischen Positivismus“ (Weisser 1972a, S. 280), der einige Forscher in Weissers Augen (1972b) zu einem „Operationalitätsperfektionismus“ führt. In dem Bestreben, möglichst exakte Aussagen zu treffen, habe sich daher in den Sozialwissenschaften die „Neigung zu Quantifizierungsperfektionismus“ (Weisser 1972a, S. 282) breit gemacht. Es lasse sich aber nicht alles quantifizieren, insbesondere zum Begriff der Lebenslage gehören nach Weisser (1957a, S. 13) Merkmale, „bei denen nicht ‚gemessen‘ werden kann, in welcher Quantität sie bei den Gegenständen gegeben sind“.111 Einerseits also warnt Weisser (1968, S. 612; 1974b, S.115) davor, „das prinzipiell oder vorläufig nicht kardinal Quantifizierbare eben, weil es sich nicht quantifizieren lässt, als nicht vorhanden zu behandeln“. Andererseits rät er auch zur Skepsis gegenüber „einer romantischen und ästhetisierenden Abneigung gegen das Quantifizieren“. So hält er es für möglich, unter der Bedingung, dass die theoretische ceteris paribus Annahme eine empirische Entsprechung hat, zu wertvollen empirischen Ergebnissen zu kommen: „Trifft diese Annahme der Nichtänderung innerhalb zu bestimmender räumlicher und zeitlicher Grenzen zu und sind alle verwendeten axiomatischen Voraussetzungen (‚Daten‘) quantifizierbar oder – besser gesagt – in irgendeiner Weise mathematisch
___________ 111
Darauf geht er näher in Weisser (1964, S. XII) ein.
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
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erfaßbar, so lassen sich Erklärungen in der Form nachprüfbarer Behauptungen über Gesetzmäßigkeiten und, mit entsprechender raumzeitlicher Begrenzung, Prognosen bieten.“ (Weisser 1968, S. 615)
Insbesondere für die Ermittlung von Grundanliegen ist die Annahme der Nichtänderung entscheidend, denn sie können nach Weisser manipuliert werden oder zumindest der Lebenslage angepasst werden („Zufriedenheitsparadox“, s. S. 96). Der Lebenslage-Ansatz vermeidet aber eine zu subjektivistische Sicht nach Weissers Überzeugung: „Zustände effektiver Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit lassen sich ... manipulieren. Es ist oft schon deswegen zweckmässig, dass die vom Sozialpolitiker durchzuführenden Analysen, um hinreichend fruchtbar zu sein, nicht einfach vom Grad des tatsächlichen Wohlbefindens, sondern von einer in gewissem Masse objektivierten Grösse ausgehen, wie dies bei dem hier empfohlenen ‚Lebenslage‘ genannten Begriff der Fall sein dürfte.“ (Weisser 1957a, S. 10)
Obwohl sich diese Überlegungen, die eine empirische Ermittlung von Grundanliegen als zumindest schwierig, wenn nicht unmöglich darstellen, bereits in den Vorlesungsmanuskripten aus den 1950er Jahren von Weisser finden, hat er in seinem Vorlesungsmanuskript „Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebenslagen-Analysen“ einen Katalog von Interessen skizziert (siehe Liste 1). Auch wenn sich die Interessen nur auf den Bereich des Wirtschaftens beziehen, ist Weissers extreme Orientierung an bestimmten Merkmalen der Beschäftigungsverhältnisse und an der Frage der Versorgung bemerkenswert. Interesse an Gesundheit und Bildung wird nur indirekt unter dem Punkt Vorsorge angesprochen, dafür nennt Weisser häufig Interessen, die im Zusammenhang mit Selbstverwirklichung stehen. Liste 1 Leitfaden für die Analyse der uns heute interessierenden Lebenslagen 1. Mittelbares Interesse an Ausstattung mit denjenigen Mitteln zur Befriedigung sinnlicher oder geistiger Interessen, die im Verhältnis zum Bedarf knapp sind (Wohlstandsstreben), 2. Interesse an der Deckung des Bedarfs an sog. ,lebenswichtigen‘ Gütern (Interesse am sozialen Existenzminimum), 3. Interesse an ,Einkommen‘, 4. Interesse an Vermögen (Genuß- oder Produktivvermögen), 5. Interesses an Gegenständen des ,Gemeinbedarfs‘, 6. Interesse an ausreichender Vorsorge, 7. negatives Interesse an der Belastung mit Steuern und Abgaben, 8. negatives Interesse an der Beeinträchtigung der Bedarfsdeckung durch Abhängigkeit, 9. Interesse an aktiver Teilnahme am Wirtschaftsleben,
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3. Der Lebenslage-Ansatz
10. Interesse an Selbstbestimmung des wirtschaftlichen Handelns, 11. Interesse an Gemeinschaft beim Wirtschaften, 12. Interesse an Deckung fremden Bedarfs und Gemeinschaftsbedarfs (Dienstmotiv beim Wirtschaften), 13. Interesse an Arbeitsfreude, 14. negatives Interesse an Arbeitsmühen, 15. Interesse an Freiheit der Berufswahl, 16. Interesse an Freizügigkeit, 17. Interesse an gesellschaftlichen Ansehen, das sich aus der Wirtschaftstätigkeit ergibt, 18. Interesse am sogenannten sozialen Aufstieg. Quelle: Weisser 1962 (überarbeitete Fassung eines Manuskripts aus dem Jahr 1956), S. 22–37
Weisser (1962, S. 22) macht darauf aufmerksam, dass der Leitfaden sowohl unmittelbare wie mittelbare Interessen enthält, und unterscheidet zwischen Interessen, die sich auf die Ergebnisse des Wirtschaftens beziehen (Ziffer 1–8), und jenen, die sich auf den Vollzug des Wirtschaftens beziehen (Ziffer 9–18). Schließlich merkt er an, dass der Katalog keineswegs vollständig sei (Weisser 1962, S. 37). Diese Merkmale von Weissers Sicht auf die Lebenslage treten noch deutlicher hervor bei seinem „Versuch einer Gliederung der Gesellschaft nach Schichten, die sich aus wichtigen Momenten der Lebenslage ergeben“ (Weisser/Herkenrath 1957, siehe Liste 2). Liste 2 Weissers Gliederung der Gesellschaft nach Schichten Versuch einer Gliederung der Gesellschaft nach Schichten, die sich aus den Merkmalen der Lebenslage ergeben. a) Die besitzlosen Erwerbsunfähigen Die Lebenslage der Angehörigen dieser Millionenschicht ist am stärksten dadurch gekennzeichnet, daß diese Menschen überhaupt nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, weil sie von der aktiven Teilnahme am Wirtschaftsleben ausgeschlossen sind. Ihre Ausstattung mit Realeinkommen reicht vielfach zur Beschaffung des sozialen Existenzminimums nicht aus. Ihr Anteil am Volksvermögen beschränkt sich auf den Besitz von notwendigen Gegenständen des Genußvermögens. Dagegen ist ihr Anteil an Gütern und Diensten des Gemeinbedarfs relativ hoch. Der Grad der ihnen gewährten ‚sozialen Sicherheit‘ reicht nur für die Mindestversorgung aus. Das Maß der tatsächlichen Freizügigkeit dieser Menschen ist sehr beschränkt, ihr sozialer Geltungsdrang wird ständig verletzt. Schließlich fehlt ihnen – da sie am Arbeitsleben nicht teilnehmen – die Möglichkeit, alle jene Interessen zu befriedigen, die vornehmlich mit dem Vollzug des Wirtschaftens verbunden
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sind: etwa das Interesse an innerlich befriedigender Arbeit, an Freiheit der Berufswahl, an Aufstiegsmöglichkeiten, an Gemeinschaft usw. Die so charakterisierte Gruppe setzt sich vor allem zusammen aus den meisten Sozialrentnern und Fürsorgeempfängern, den versorgungsberechtigten und Empfängern anderer Unterstützung und den Dauerarbeitslosen: also den wegen Alters, körperlicher Gebrechen, Tod des Ernährers oder struktureller Arbeitslosigkeit zum Erwerb Unfähigen ohne Erwerbsvermögen. b) Die Bezieher niedriger Einkommen unter den unselbständigen Erwerbspersonen Diese Menschen können zwar als Erwerbstätige aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt sorgen. Ihre Möglichkeit, andere wirtschaftlich relevante Interessen zu befriedigen, ist jedoch vielfach sehr eingeschränkt. Hervorstechend sind der Mangel an Selbstbestimmung beim Wirtschaften, an tatsächlicher Freizügigkeit, an Bildungsund Aufstiegsmöglichkeiten, an Muße. Die geringe Ausstattung mit Realeinkommen und der geringe Anteil am Volksvermögen (Besitz an Produktivvermögen kaum vorhanden, nur Anteile an Genußvermögen) erlaubt ihnen nur eine bescheidene, oft sogar dürftige Lebenshaltung. Zu dieser Gruppe gehören die Landarbeiter sowie ein großer Teil der Industriearbeiterschaft und der ‚kleinen‘ Angestellten und Beamten. Die obere Schicht dieser Gruppe, die sich vor allem durch die bessere Lebenshaltung abhebt, wird von ‚mittleren‘ Angestellten und Beamten und den qualifizierten Industriearbeitern mit günstigeren Positionen auf dem Arbeitsmarkt gebildet. c) Die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen unter den Selbständigen Diese Gruppe ist recht uneinheitlich zusammengesetzt und umfaßt in breiter Streuung die sog. ‚kleinen und mittleren‘ Selbständigen. Die Differenzierung der Lebenslagen kommt in der Tatsache zum Ausdruck, daß das Einkommen eines Teils dieser Schicht sich nur wenig über das soziale Existenzminimum erhebt (Teile der Bauernschaft und der Kleingewerbetreibenden). Charakteristisch für die Lebenslage dieser Menschen ist das relativ hohe Maß an Selbstbestimmung bei der wirtschaftlichen Tätigkeit, an Arbeitsfreude und – im oberen Teil der Gruppe – an tatsächlicher Freizügigkeit, Aufstiegsmöglichkeit und Freiheit der Berufswahl. Die Ausstattung mit Vermögen ist recht unterschiedlich. d) Die Bezieher mittlerer und hoher Einkommen unter den unselbständigen Erwerbstätigen Die Angehörigen dieser Schicht sind in leitender Stellung in der Wirtschaft oder als mittlere oder höhere Beamte im öffentlichen Dienst tätig. Ihre Lebenslage wird gekennzeichnet durch das höhere Einkommen, während heute auch bei dieser Schicht die Ausstattung mit Vermögen nicht erheblich ist. Wichtig sind auf der anderen Seite das höhere Ausmaß an eigener Verantwortung bei den Dispositionen im Beruf und die günstigere gesellschaftliche Stellung, die besseren Aufstiegschancen und Bildungsmöglichkeiten und dergl. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß auch hier Abhängigkeiten bestehen, etwa beim Manager oder beim führenden Staatsbeamten. Diese Abhängigkeiten sind in Grenzsituationen geeignet, Charaktere zu brechen. e) Die Selbständigen mit hohem Vermögen und Einkommen Neben dem hohen Einkommen und dem hohen Anteil am Produktiv- und Genußvermögen bestimmen das gesellschaftlich erreichte Höchstmaß an Selbstverantwor-
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3. Der Lebenslage-Ansatz
tung, Unabhängigkeit, sozialer Geltung, Freizügigkeit, wirtschaftlicher Sicherheit und – für die Nachkommenschaft – an Aufstiegs- und Bildungschancen die Lebenslage dieser obersten Schicht der Lebenslagepyramide. Zu beachten ist, dass diese grobe Aufgliederung in 5 Lebenslageschichten nicht mit der herkömmlichen Gliederung in Klassen oder Stände verwechselt werden darf. Eine Verfeinerung ist naturgemäß möglich. Quelle: Weisser/Herkenrath 1957, S. 12–15
Die Skizze der Verteilung der Lebenslagen findet sich nach einigen Angaben zu „Fläche und Bevölkerung“ und den „Erwerbspersonen“ in Deutschland sowie einer Analyse der Entwicklung, der Verwendung und der Verteilung des Sozialprodukts. Obwohl diese Skizze sich nicht ausdrücklich auf den Bereich des Wirtschaftens bezieht, ordnet Weisser die Lebenslagen zum einen nach den Einkommen und zum anderen nach der Herkunft des Einkommens aus selbstständiger bzw. unselbstständiger Arbeit. Selbstständigkeit verbindet er dabei mit einem höheren Maß an Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Das Interesse an Bildung ist eng gekoppelt mit Aufstiegsmöglichkeiten. Gesundheit taucht nur in ihrer Abwesenheit auf, nämlich als Grund für die Erwerbsunfähigkeit. Schließlich tritt die Orientierung am Modell der Familie mit männlichem Ernährer deutlich hervor. Bei Frauen und Kindern wird unterstellt, dass sie die Lebenslage ihrer Männer und Väter teilen.
Die Arbeiten des Otto-Blume-Instituts Zusammen mit Otto Blume gründete Weisser zu Beginn der 1950er Jahre das „Institut für Selbsthilfe und Sozialforschung“, das seit 1968 bis heute unter dem Namen „Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik“ fortbesteht (Engelhardt 1998, S. 30), aber auch häufig verkürzend als „Otto-BlumeInstitut“ bezeichnet wird. Wie Prim (2000, S. 9) schildert, wurde das Institut von Otto Blume geleitet und war dem Lehrstuhl von Weisser zugeordnet, der als Verwaltungsrat des Instituts tätig war (Philipp 1997, S. 76). Am Institut wurde versucht, den Lebenslage-Ansatz empirisch umzusetzen (Neumann 1979) mit besonderem Augenmerk auf sozial Schwache und Arme, wobei diese nicht als Randgruppen aufgefasst wurden, sondern der Bezug zu strukturellen Problemen der Gesellschaft hergestellt wurde (Breuer 1979, S. 150). Breuer (1979, S. 150) nennt die Zahl von mehr als 70 empirischen Erhebungen mit Lebenslage-Analysen, die in seinen Augen eine „Pionierarbeit“ geleistet haben. In der Tat beschränken sich die Analysen nicht auf die statistisch leicht zu erfassenden Bereiche wie die Wohnungsausstattung, die Wohnungsgröße, die
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erreichten Schulabschlüsse, das Einkommen u. ä., sondern gehen immer auch ein auf Themen wie die Freizeitgestaltung, die Vereinsamung älterer Menschen bzw. die Möglichkeiten für soziale Kontakte.112 Es sind sehr umfassende und differenzierte empirische Studien, die häufig in den Versuch münden, „Empfehlungen und Warnungen“ für die Politik auszusprechen und in diesem Sinne Weissers (1963a) Vorstellung von Politikberatung auszuführen (Blume 1968, S. 7ff). Allerdings findet sich nur in einigen der Studien überhaupt der Begriff „Lebenslage“ wieder und nirgendwo sind Diskussionen darüber dokumentiert, wie der Lebenslage-Ansatz Weissers umzusetzen sei. Insofern lässt sich aus heutiger Sicht der Bezug zum theoretischen Konzept Weissers leider nicht nachvollziehen. In ähnlicher Weise wird in der Studie von Kiesau (1976) der Bezug zum Lebenslage-Ansatz nur durch einige vorangestellte „Leitsätze“ hergestellt. Mit Ausnahme der Studie von Blume (1968), welche die Sozialhilfegesetze in gewissem Sinne als Grundanliegen interpretiert, gehen die Studien nicht auf die Frage ein, wie die Grundanliegen zu ermitteln seien oder welche Grundanliegen unterstellt werden. Insofern können die Studien nicht wirklich als gelungene Operationalisierung des Lebenslage-Ansatzes nach Weisser betrachtet werden.
Qualitative Forschung mit Bezug auf Nahnsen Beginnend mit einer Studie von Lompe (1987) zur „Realität der neuen Armut“ hat sich ein Forschungsstrang entwickelt, der den Lebenslage-Ansatz durch eine Kombination von quantitativer und qualitativer Analyse umzusetzen sucht. Gemein ist den hier genannten Studien zudem, dass sie die Einteilung Nahnsens (1975) in Einzelspielräume nutzen, um die wesentlichen Dimensionen der Lebenslage zu erfassen. Lompe (1987) erhebt in einem ersten Schritt Daten über den Anteil der Arbeitslosen unter den Sozialhilfeempfängern. Die Beschränkung auf diese Gruppe der „Armen“ erfolgt im Zusammenhang mit der damaligen Debatte um die „neue Armut“, nämlich die durch Arbeitslosigkeit bedingte Armut (vgl. hierzu bspw. Leibfried/Voges 1992). Die Analyse der erhobenen Daten mündet in der Ermittlung von „Problemgruppen“, die vor allem anhand des Haushaltstyps, aber auch je nach Alter und Geschlecht des Haushaltsvorstands abgegrenzt werden (Lompe 1987, S. 115). In einem zweiten Schritt werden Tiefeninterviews mit „typischen“ Vertretern der Problemgruppen durchgeführt und ___________ 112
Diese Charakterisierung der Studien beruht auf der Sichtung weniger Beispiele: Blume (1960, 1962, 1968); Blume/Kuhlmeyer (1966); Blume/Dieck (1979) und Statistisches Amt der Stadt Trier (1966).
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3. Der Lebenslage-Ansatz
deren Lebenslage in den Einzelspielräumen charakterisiert. Nur bei der Charakterisierung des „Versorgungs- und Einkommensspielraums“ wird ein Bezug auf die Problemgruppen hergestellt. Die anderen Einzelspielräume werden in erzählerischer Form geschildert. Dabei stellt der „Versorgungs- und Einkommensspielraum“ den wichtigsten und der „Lern- und Erfahrungsspielraum“ den nächstwichtigen Einzelspielraum dar (Lompe 1987, S. 210ff). In einem letzten Schritt werden schließlich fünf „Lebenslagetypen“ gebildet und hierarchisch geordnet (Lompe 1987, S. 285f). Wie Andretta (1991, S. 97) kritisiert, folgt Lompe nicht konsequent dem Vorschlag Nahnsens, nur die Bedingungen zur Interessenentwicklung und -entfaltung aufzuzeigen, der darauf abzielt, subjektive Deutungsmuster zu vermeiden. Zwar arbeitet Lompe mit den Einzelspielräumen, die m. E. als Dimensionen bezeichnet werden können und somit die inhaltliche Bestimmung der Grundanliegen bei Weisser ersetzen, aber sie sehen die Spielräume in Anlehnung an Amann (1983) als „Zusammenspiel von objektiven Gegebenheiten und subjektiver Wahrnehmung und Deutung von Betroffenen“ (Lompe 1987, S. 2). Andretta (1991, S. 97) kritisiert, dass somit wieder das von den Betroffenen jeweils (subjektiv) angestrebte Interessenbündel anstatt der strukturellen (objektiven) Bedingungen zur Interessenentfaltung in das Blickfeld gerät. In Reaktion auf Andrettas Kritik schildert eine Mitarbeiterin Lompes – Ingrid Krieger (1993, S. 113) – das Vorgehen, in Interviews „Betroffene zu befragen und daraus hypothesengenerierend zu einem Katalog von Interessen zu gelangen“, wobei auf die Einzelspielräume als bereits bekannte Lebenslagenvariablen zurückzugreifen sei, als bewährte Umsetzung des LebenslageAnsatzes. Die Kombination von objektiven und subjektiven Indikatoren für die Einzelspielräume hat zahlreiche Nachahmer gefunden und wird mit dem Namen Nahnsens verbunden (bspw. in Glatzer/Hübinger 1990, S. 36), auch wenn sie keine treue Umsetzung des Operationalisierungskonzepts von Nahnsen darstellt. Von Hübinger (1989) und Glatzer/Hübinger (1990) wurde diese Interpretation des Lebenslage-Ansatzes noch mit Konzepten aus der Erforschung zur Lebensqualität vermischt, so dass sich die Sicht durchgesetzt hat, der Lebenslage-Ansatz biete die Möglichkeit, „objektive Lebensbedingungen mit subjektiven Verarbeitungsmustern zu verbinden“ (Hanesch u. a. 1994, S. 25). Dieser Interpretation des Lebenslage-Ansatzes folgen die Arbeiten von Glatzer und Hübinger (1990), Hanesch (1993), Hanesch u. a. (1994), Glatzer und Noll (1995), Voges u. a. (2001) und Sell (2002).
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
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Lebenslage als Konzept für die Sozialstrukturanalyse Weisser selbst legt nahe, den Begriff der Lebenslage zu nutzen, um eine Analyse der Gesellschaftsstruktur zu erstellen, und skizziert selbst eine solche Struktur (s. o.). Dieser Anregung folgt Hillen (1975) und stellt den Begriff der Lebenslage anderen Begriffen der Sozialstrukturanalyse wie Stand, Klasse und Schicht gegenüber. Er konstatiert eine „Verwandtschaft zwischen dem soziologisch determinierten Geiger’schen Begriff der sozialen Schicht und dem sozialpolitisch motivierten (von Gerhard Weisser angewendeten ) Begriff der Lebenslage“ (Hillen 1975, S. 40). Zugleich benennt er einen Vorzug des Begriffs der Lebenslage gegenüber dem Klassen-Begriff: „Während bei der ‚Klasse‘ ökonomische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen, berücksichtigt die ‚Lebenslage‘ die Gesamtheit der menschlichen Bedürfnisse“ (Hillen 1975, S. 55). Schließlich entwickelt Hillen ein sechsstufiges Konzept zur Umsetzung des Lebenslage-Begriffs in empirischen Untersuchungen: „1. Entscheidung über die zu untersuchende Gruppe. ... 2. Aufstellung des Katalogs der als relevant (im Hinblick auf das Untersuchungsziel) angesehenen Interessen. ... 3. Feststellung der Lebenslage-Merkmale >n@ach Maßgabe des Interessen-Katalogs ... 4. Feststellung der die Lebenslage beeinflussenden äußeren, d. h. politischen, ökonomischen, regionalen usw. Verhältnisse. ... 5. Gegenüberstellung der als wesentlich angesehenen Interessen und der erhobenen, die Lebenslage kennzeichnenden tatsächlichen Lebensbedingungen. ... 6. Folgerungen für die wirtschafts- und sozialpolitischen Aussagen.“ (Hillen 1975, S. 85–91)
Zum einen wird an diesem Forschungskonzept deutlich, wie eng sich Hillen an dem Weisserschen Lebenslage-Begriff orientiert, wenn er zunächst als Maßstab für die Lebenslage die relevanten Interessen und dann die äußeren Umstände als Beschränkung der Lebenslage ermitteln will. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass sein Ziel nicht die Erfassung der Struktur der Gesamtgesellschaft ist, sondern die Konzentration auf bestimmte Gruppen, die eventuell gleiche Lebenslage-Merkmale aufweisen. Daher kann man den Ansatz von Krause und Schäuble (1988) als erste konsequente Nutzung des Begriffs der Lebenslage für die Sozialstrukturanalyse bezeichnen. Sie verwenden Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage (ALLBUS), um die verschiedenen Haushalte sowohl hinsichtlich des Einkommens als auch hinsichtlich „Wohlfahrtslagen“ zu Gruppen zusammenzufassen und die Unterschiede zwischen der eindimensionalen, nur am Einkommen orientierten Betrachtung und der mehrdimensionalen Betrachtung hervorzuheben. Als Variablen zur Kennzeichnung der Haushalte ziehen sie den Haushaltstyp, das Alter, die soziale Stellung, die Einkommensquelle, den beruflichen Bildungsabschluss, den allgemeinbildenden Schulabschluss, die Gemeindegröße, das Haushaltsnettoeinkommen sowie das gewichtete Pro-Kopf-Einkommen
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3. Der Lebenslage-Ansatz
des Haushalts heran (Krause/Schäuble 1988, S. 36ff). Die Relevanz der Variablen haben Krause und Schäuble zunächst mit Hilfe einer Faktorenanalyse getestet, um dann anhand der Variablen eine Clusteranalyse durchzuführen, welche die Homogenität der gebildeten Gruppen betont (anstatt die Unterschiedlichkeit zwischen den Gruppen). Das Hauptmerkmal in ihrem Schich tungsmodell (Krause/Schäuble 1988, S. 104f) ist nach wie vor das Einkommen, doch kommen sie zu dem Ergebnis, dass es „eine Art doppelter Strukturierung der sozialen Situation von Haushalten“ gibt (Krause/Schäuble 1988, S. 148). Den Begriff der Lebenslage führen Krause und Schäuble (1988, S. 210) ein, um darauf abzuheben, „daß innerhalb gleicher materieller Wohlfahrtslagen unterschiedliche Lebensansprüche oder -möglichkeiten handlungsleitend und bewußtseinstiftend sein können“ und daher auch bei gleichen materiellen Verhältnissen nicht die gleiche Wohlfahrt anzunehmen ist. Bezüglich der Gruppe der Armen kommen sie zu dem Schluss, dass das monetäre Armutskriterium einerseits recht hart sei und andererseits im Einzelfall zahlreicher Aufwärts- oder Abwärtskorrekturen bedürfe (Krause/Schäuble 1988, S. 219). Obschon Krause und Schäuble den Lebenslage-Ansatz Weissers kennen (vgl. dazu auch Schäuble 1984, S. 235ff) und ihn innovativ im Rahmen der Möglichkeiten nutzen, um eine Sozialstruktur „jenseits von Klasse und Schicht“ (so ihr Titel) vorzulegen, fehlt doch das wesentliche Element einer getreuen Umsetzung von Weissers Konzept, nämlich die Bestimmung der Grundanliegen der Menschen. Zudem verwenden sie zur Gliederung der Gruppen in erster Linie das Einkommen und unterscheiden erst in einem zweiten Schritt die Gruppen genauer nach anderen Kriterien, so dass ihr Modell als „modifizierte Einkommensschichtung“ bezeichnet wurde (Glatzer/Hübinger 1990, S. 39). Ein Konzept „sozialer Lagen“, das darauf abzielt, Gruppen mit gleicher Lebenslage zu bilden und dabei nicht auf die Merkmale herkömmlicher Klassenoder Schichtenmodelle zurückzugreifen, sondern anhand allgemein anerkannter Zielvorstellungen Merkmale abzuleiten, stellt Schwenk (1999) vor. Er beginnt mit der Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten für „Lebenslage“ oder „soziale Lage“ und unterscheidet im Ergebnis zwischen einer „älteren“ Konzeption von „Lebenslage“, die auf die ökonomischen Bedingungen abhebt und „als Aspekt der traditionellen Schichtungskonzepte verstanden werden“ könne (Schwenk 1999, S. 61), und einer „neueren“ Konzeption von „sozialen Lagen“, die von der „Gesamtheit der Dimensionen sozialer Ungleichheit“ ausgehe und die Klassen- oder Schichtungsansätze nicht differenzieren, sondern ablösen wolle (Schwenk 1999, S. 63f). Zu den Modellen der „älteren Konzeption“ rechnet Schwenk auch den Ansatz von Zapf, dem sich Glatzer und Hübinger (1990) anschließen. Die Arbeiten von Hillen sowie Krause und Schäuble zitiert Schwenk nicht, würde sie aber vermutlich ebenfalls jener „älteren“ Konzeption zuordnen. Das Konzept Weissers hingegen zählt
3.3 Der Lebenslage-Ansatz nach Weisser
121
Schwenk (1999, S. 62f) zur „neueren“ Konzeption. Sein Konzept „sozialer Lagen“ ist allerdings nicht auf Weisser zurückzuführen, sondern stellt eine empirische Umsetzung von Hradils (1987, 1990) Arbeiten dar. Ähnlich wie Weisser kommt Hradil zu dem Schluss, dass die Lebensbedingungen daran zu messen sind, inwieweit sie die Erfüllung von „Lebenszielen“ erlauben (Schwenk 1999, S. 73ff). Während bei Weissers Ansatz das größte Hindernis, das einer Operationalisierung im Wege steht, die Ermittlung der Grundanliegen ist (vgl. Nahnsen 1975, Andretta 1991), schlägt Hradil eine Definition der Lebensziele vor, die Schwenk (1999, S. 74) als einen Mittelweg zwischen der subjektiven und der objektiven Fassung des Begriffs bezeichnet und die sich zugleich empirisch umsetzen lässt. Als relevant für die Auswahl der Dimensionen sozialer Ungleichheit sieht Hradil jene Lebensziele an, die sich an Gesetzen, Erklärungen von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden oder ähnlichen Texten ablesen und als Produkt der politischen Willensbildung interpretieren lassen. Im Ergebnis kommt Hradil (1987, S. 147) zu einer (theoretischen) Einteilung der Lebensziele in ökonomische, wohlfahrtsstaatliche und soziale, die Schwenk übernimmt und zur Auswahl der Variablen aus den Daten des ALLBUS bzw. des Wohlfahrtssurveys nutzt. Übrig bleiben folgende Dimensionen sozialer Lagen im empirischen Modell (siehe Liste 3). Liste 3 Dimensionen sozialer Lagen
Lebensziele
Bereiche/Dimensionen ungleicher Lebensbedingungen
Wohlstand
„ökonomisch“
Erfolg
Einkommen Formale Bildung Wohnungsausstattung
Be-/Entlastung
„wohlfahrtsstaatlich“
Gesundheit Emanzipation Partizipation
Umweltbedingungen Anomie
„sozial“
Soziale Integration Wohnraum
Selbstverwirklichung Quelle: Schwenk 1999, S. 105
Insgesamt hält Schwenk einen Methodenmix zur Umsetzung des Konzepts für unumgänglich. Dementsprechend bildet Schwenk nach der Vorbereitung des Datenmaterials zunächst für die Dimensionen „Wohnungsausstattung“, „Umwelt“ und „Anomie“113 Indizes, führt eine Faktoranalyse für die Dimensi___________ 113
Laut Duden (1990) ist unter Anomie ein „Zustand mangelhafter gesellschaftlicher Integration innerhalb eines sozialen Gebildes, verbunden mit Einsamkeit, Hilflosigkeit u. ä.“ zu verstehen.
122
3. Der Lebenslage-Ansatz
onen „Wohnraum“ und „soziale Integration“ durch und konstruiert Variablen für die Dimensionen „Bildung“ und „Einkommen“. Dann führt er eine Clusteranalyse durch, aus der sich eine Typologie sozialer Lagen in Deutschland ergibt, welche schließlich näher mit Hilfe sozialdemographischer Merkmalen charakterisiert wird (Schwenk 1999, Kap. III.1). Diese Typologie enthält naturgemäß keine „Gruppe der Armen“, aber Schwenk teilt die sozialen Lagen in drei Gruppen, nämlich solche mit „eindeutig vorteilhaften Lebensbedingungen“, „mit Konstellationen vorteilhafter und nachteiliger Lebensbedingungen“ und „mit eindeutig nachteiligen Lebensbedingungen“. Die Grundbedingungen für eine empirische Umsetzung des Weisserschen Lebenslage-Ansatzes erfüllt die Arbeit von Schwenk auf originäre Weise: Die Grundanliegen werden in ähnlicher Form ermittelt, wie Weisser (1962) (s. Liste 1, S. 113) – allen Bedenken zum Trotz – „Leitbilder“ abgeleitet hat. Am Anspruch Weissers, dass der Begriff der Lebenslage „in gewissem Maße objektiv“ sei, hält Schwenk ebenfalls fest. Und die Einteilung der Gesellschaft in „Schichten“ wie Weisser sagt, bzw. „soziale Lagen“ erfolgt anhand mehrerer Dimensionen.
Abschließende Einschätzung zur Operationalisierung des Ansatzes Bei der Einschätzung der vorhandenen empirischen Arbeiten zum Lebenslage-Ansatz Weisser darf man nicht vergessen, wann sein Ansatz entstanden ist und wann die empirischen Arbeiten entstanden sind. Es hat in diesem Zeitraum große Fortschritte im Bereich der empirischen Sozialforschung gegeben, sowohl was die theoretische Entwicklung von Methoden, als auch was die praktische Umsetzung mit Hilfe der Datenverarbeitung anbelangt. Zudem sind die empirischen Arbeiten – mit Ausnahme der Arbeiten des Otto-BlumeInstituts – viel später als Weissers Schriften zum Lebenslage-Ansatz entstanden, teilweise ohne direkte Zugriffsmöglichkeit auf seine Schriften, so dass sich der Ansatz verändert hat und der Begriff „Lebenslage“ nun nicht mehr eindeutig einem Konzept verbunden ist. Das größte Problem bei der Operationalisierung des Weisserschen Lebenslage-Ansatzes bleibt die Ermittlung der Grundanliegen, die dadurch erschwert wird, dass Weisser zwei unterschiedliche Konzeptionen dafür vorlegt (s. S. 102f). Die eine Konzeption, die Grundanliegen durch das Kriterium der Voraussetzungslosigkeit identifiziert, lässt sich als „objektiv“ bezeichnen, während die andere empirische Konzeption von den Individuen ausgeht und in diesem Sinne „subjektiv“ ist. Die Mehrdeutigkeit von Weissers Konzeption zwingt daher zu einer Interpretation seines Ansatzes im Laufe der Operationalisierung.
3.4 Zusammenfassung: Zwei Lebenslage-Ansätze
123
Ein anderes großes Problem bei der Operationalsierung von Weissers Ansatz ist seine Auffassung, dass nicht die „tatsächliche Gestaltung“ des Lebens durch den einzelnen relevant ist, sondern nur die Lebenslage verstanden als Spielraum zur Gestaltung des Lebens. Wenn Hillen (1975, S. 84) nun die „faktische Ausprägung der einzelnen Lebenslage-Merkmale“ erhebt, um das Konzept der Lebenslage empirisch umzusetzen, kritisieren ihn Nahnsen und Andretta (1991) dafür, dem Begriff der Lebenslage als Spielraum nicht gerecht zu werden. Deren formelles Festhalten am Begriff „Spielraum“ wiederum ist nicht wirklich mit einem empirischen Modell ihrer „Einzelspielräume“ verbunden. Auch hier zwingt eine Unklarheit in Weissers Konzeption die Anwender seines Ansatzes dazu, zunächst den Ansatz zu interpretieren. Auf weitere Arbeiten, die das Konzept Weissers im weitesten Sinne operationalisieren, bin ich nicht eingegangen, weil sie nicht auf die Erfassung von Armut und Lebensstandard ausgerichtet sind. Zu nennen sind die Arbeiten von Kleinhenz (1970), der ein Programm für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sozialpolitik entwickeln möchte, von Engelen-Kefer (1973), die einen Katalog „arbeitsorientierter Interessen“ als Grundlage für eine gewerkschaftliche Strategie herleitet,114 und die Arbeiten von Amann (1983) und Wendt (1984), die das Konzept der Lebenslage für die Sozialarbeit nutzbar machen (s. S. 106ff). Weil ein Bezug auf den Ansatz Weissers nicht nachzuweisen ist, bin ich auch nicht auf die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mit dem Titel „Lebenslagen im Wandel“ (Rendtel/Wagner 1991) eingegangen. Sie lehnen sich mit ihrem Konzept von „Lebenslage“ an die Skandinavischen Wohlfahrtsstudien („Level of Living Surveys“, die seit Ende der 1960er Jahre erhoben werden, vgl. z. B. Eriksson/Aberg 1987) an, die objektive und subjektive Indikatoren erheben und einander gegenüberstellen und daher Ähnlichkeiten zu den Arbeiten aufweisen, die oben unter der Bezeichnung „qualitative Forschung mit Bezug auf Nahnsen“ (s. S. 117) zusammengefasst werden.
3.4 Zusammenfassung: Zwei Lebenslage-Ansätze Wie die Darstellung gezeigt hat, ist es sinnvoll, zwischen dem LebenslageAnsatz von Neurath und dem von Weisser zu unterscheiden, weil sie einige Unterschiede aufweisen. Der wichtigste besteht im Verständnis des Begriffs „Lebenslage“. Während Neurath unter „Lebenslage“ die konkreten Lebensumstände der Menschen versteht und die Lebenslage als „Surrogat“ für die – nicht ___________ 114 Kritik an den Arbeiten von Kleinhenz und Engelen-Kefer übt Andretta (1991, S. 69ff).
124
3. Der Lebenslage-Ansatz
interpersonell vergleichbare – Lebensstimmung einführt, definiert Weisser „Lebenslage“ als „Spielraum“, den ein Mensch für die Gestaltung seines Lebens hat. Verbinden lassen sich beide Ansichten nur, wenn man den Grellingschen Text kennt, der zwar bereits „Lebenslage“ als Möglichkeitenmenge definiert, aber auch die konkreten Lebensbedingungen noch im Auge hat, die er „Lebenshaltung“ nennt. Neurath stellt sich das zu Stande Kommen einer Lebenslage eher mechanistisch als Produkt von Lebensboden und Lebensordnung vor. Er thematisiert nicht den Einfluss des Individuums auf seine Lebenslage, sondern höchstens den Einfluss der Gesellschaft, die sich eine Lebensordnung sucht, mit deren Hilfe sie aus dem Lebensboden eine möglichst gute Lebenslage, d. h. eine solche, die eine hohe Lebensstimmung bedingt, erzeugt. Grelling führt dann die Vorstellung ein, dass das Individuum seine konkreten Lebensbedingungen aus mehreren Möglichkeiten auswählt. Die Lebenslage – verstanden als Möglichkeitenmenge – ist auch bei ihm nur teilweise individuell beeinflussbar: Durch Auswahl einer Lebenshaltung, die jene konkreten Lebensumstände umfasst, die Neurath noch „Lebenslage“ nennt, beeinflusst das Individuum seine zukünftigen Möglichkeiten, also seiner zukünftige Lebenslage im Sinne von Grelling. Dennoch ist die Lebenslage auch im Grellingschen Verständnis hauptsächlich ein Ergebnis des Zusammenhangs von Produktion und Verteilung, also nur eingeschränkt individuell beeinflussbar. Während Neurath seine ethischen Vorstellungen noch mit Hilfe des utilitaristischen Konzepts der Lebensstimmung formuliert und das Konzept der Lebenslage nur zur Beschreibung einer Gesellschaft heranzieht, geht Grelling anschließend an die Definition seines Begriffs Lebenslage dazu über, seine ethischen Vorstellungen in Form des Konzeptes einer gerechten Verteilung der Lebenslagen zu beschreiben. Auch er ist dabei insofern vom Utilitarismus geprägt, als dass er den objektiven Wert der Lebenslage durch die darin erreichbare maximale Zufriedenheit gegeben sieht. Er schlägt jedoch nicht die utilitaristische Summenregel sondern das Maximin-Prinzip für die Bestimmung der gerechten Verteilung vor. Weisser nun unterscheidet sehr klar den Einflussbereich des Individuums von dem Bereich, den das Individuum nicht beeinflussen kann, nämlich den „äußeren Umständen“. Das Individuum hat bei ihm einen großen Einfluss auf seine Lebenslage, denn diese definiert er als „Spielraum zur Erfüllung von Grundanliegen“ und diese Grundanliegen sind individuell. Auch wenn Weisser den Spruch prägt: „Verteilt werden Lebenslagen!“, hat er nicht die Vorstellung wie Neurath und Grelling, dass die Lebenslagen sich als Ergebnis des Prozesses von Produktion und Verteilung bestimmen lassen. Überhaupt ist die Erfassung von Lebenslagen für ihn problematisch, weil er als Maßstab eben die individuellen Grundanliegen nehmen möchte und die Lebenslagen sich somit interpersonell ebenso wenig vergleichen lassen wie Neuraths Lebensstimmungen. Auch Grellings Kriterium der Zufriedenheit, die in einer Lebenslage erreichbar
3.4 Zusammenfassung: Zwei Lebenslage-Ansätze
125
ist, zur Erfassung des Wertes einer Lebenslage übernimmt Weisser nicht, weil er vermutet, dass die Zufriedenheit u. a. von der Gesellschaft manipuliert werden kann. Neben diesen Unterschieden gibt es jedoch auch eine große Gemeinsamkeit zwischen den Lebenslage-Ansätzen: „Lebenslage“ ist ein Begriff zur Umschreibung des Wohlergehens von Menschen und er drückt aus, dass dieses Wohlergehen nicht allein durch das Einkommen bestimmt ist. Bei allen Unterschieden könnte man die Ansätze aufgrund dieser Gemeinsamkeit entlang den Gedanken Grellings (wieder) miteinander vereinbaren. Wichtig wäre dann, den Begriff „Lebenslage“ eindeutig zu definieren, und den Zusammenhang zwischen den konkreten Lebensumständen und dem Spielraum, in dem sie liegen, zu verdeutlichen. Insbesondere im Hinblick darauf, was eine „ungünstige Lebenslage“ ist, könnte die Integration der Ansätze zu mehr Klarheit führen, indem zwischen der Ungünstigkeit der konkreten Lebensumstände („Lebenslage“ nach Neurath) und der Ungünstigkeit der Möglichkeiten („Lebenslage“ nach Weisser) unterschieden wird.
4. Der Ansatz von Sen Der zweite multidimensionale Ansatz, der im Rahmen dieser Arbeit vorgestellt werden soll, ist der Capability-Ansatz von Sen. Beginnend mit seinem Aufsatz „Equality of What?“ (Sen 1980a) hat Sen aus der Kritik an vorhandenen Theorien heraus seinen Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten („capabilities“115) entwickelt. Analog zum Lebenslage-Ansatz wird auch Sens Ansatz in fünf Schritten vorgestellt: In Abschnitt 4.1 finden sich einige Bemerkungen zu Motivation und Kontext seines Ansatzes. Der Abschnitt 4.2 stellt die zentralen Begriffe und die Struktur des Ansatzes vor. Der Ansatz wird in Abschnitt 4.3 diskutiert, wo auch die Beiträge Martha Nussbaums vorgestellt werden, die ebenfalls unter dem Namen „Capability“-Ansatz116 bekannt sind. Der Abschnitt 4.4 fasst die Aussagen des Ansatzes zu Armut zusammen und im Abschnitt 4.5 finden sich sowohl allgemeine Überlegungen Sens zur Operationalisierung als auch ein Überblick über einige empirische Arbeiten, die sich als Anwendung des Ansatzes verstehen.
4.1 Motivation und Kontext Generell sieht Sen einen Zusammenhang zwischen Erkenntnis, der Bildung einer Theorie und ihrer Anwendung für politische Belange. Wissenschaft ist bei ihm nicht „l’art pour l’art“, sondern zielt auf eine Veränderung der Welt hin, wie im Abschnitt 4.1.1 skizziert wird. Den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten hat Sen aus der Auseinandersetzung mit vorhandenen Theorien heraus entwickelt. Die Kritik am Utilitarismus, aber auch an den Theorien von Rawls und Nozick (Abschnitt 4.1.2) setzt er um in die Konstruktion seines Ansatzes. Daher ist es zum Verständnis seines Ansatzes wichtig, diese Kritik ___________ 115
Dies ist meine Übersetzung des Begriffs „capabilities“, die ich im Folgenden durchgehend verwende. Einige Gründe für diese Übersetzung führe ich in Fußnote 125 an. 116 Ihr Ansatz ist im Deutschen unter dem Namen Fähigkeiten-Ansatz bekannt. Die Übersetzung des Begriffs „capabilities“ bei Nussbaum mit dem deutschen Ausdruck „Fähigkeiten“ erscheint mir durchaus angemessen und treffend. Im Folgenden werde ich bei Nussbaum daher „capabilities“ mit „Fähigkeiten“ übersetzen, bei Sen mit „Verwirklichungsmöglichkeiten“. Wenn Sen und Nussbaum gemeint sind, übernehme ich den englischen Begriff und spreche vom „Capability“-Ansatz.
4.1 Motivation und Kontext
127
an vorhandenen Theorien – zumindest in ihrer Kurzform (Abschnitt 4.1.3) – zu kennen.
4.1.1 Das Wissenschaftsbild Sens Gefragt, warum er Wirtschaft studiert habe, antwortet Sen: „For someone from India it is not a difficult question to answer. The economic problems engulf us. ...“ (Klamer, 1989, S. 136)
und verweist darauf, dass er mit neun Jahren die Bengalische Hungersnot erlebt habe. Sein Interesse an Wirtschaft und speziell an Themen wie Ungleichheit und Armut hat also seinen Ursprung im – negativen – Erleben dieser Phänomene. Das Interesse an der Messung von Ungleichheit und Armut ist seines Erachtens immer mit der Bewertung dieser Phänomene verbunden: „Even if we take inequality as an objective notion our interest in its measurement must relate to our normative concern with it ...“ (Sen/Foster 1997, S. 3).
Sen will zur Lösung der Probleme beitragen, was sich in seiner Art der Theoriebildung niederschlägt. Immer ist sie auch an praktischen Erfordernissen ausgerichtet: „In all these exercises clarity of theory has to be combined with the practical need to make do with whatever information we can feasibly obtain for our actual empirical analysis. The Scylla of empirical overambitiousness threatens us as much as the Charybdis of misdirected theory.“ (Sen, 1985a, S. 49)
Dass Sen mit seinen Theorien letztlich darauf abzielt, politisch etwas zu verändern, wird in folgendem Zitat deutlich: „The importance of the formal results lies ultimately in their relevance to normal communication and to things that people argue about and fight for.“ (Sen/Foster 1997, S. vii)
und auch, wenn er warnt: „There is, however, the danger of falling pray to a kind of nihilism that characterizes much of normative economics ... This takes the form of noting, quite legitimately, a difficulty of some sort, and then constructing from it a picture of total disaster.“ (Sen/Foster 1997, S. 78)
Zugleich ist sich Sen bewusst, dass Theorien aus einer Erwartungshaltung entstehen, wie er in seinem Aufsatz „Description as Choice“ (Sen 1980b) verdeutlicht. Seine Ausrichtung auf praktische Probleme lässt ihn an manchen Stellen fordern, von bekannten Pfaden der Theoriebildung abzuweichen, wie bspw. bei seinen Studien zu Hungersnöten: „The ,survival problem‘ for general equilibrium models calls for a solution not in terms of a clever assumption that eliminates it irrespective of realism, but for a reflection of the real garanties that actually prevent starvation deaths in advanced capitalist economics.“ (Sen 1981a, S. 455)
128
4. Der Ansatz von Sen
Die Untersuchung von solchen Problemen wie Hungersnöten darf sich auch nicht auf die Betrachtung der ökonomischen Aspekte beschränken, denn die wirtschaftlichen Beziehungen hängen ab von den rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Charakteristika der betroffenen Gesellschaft und der Position der betroffenen Person darin (Sen, 1981a, S. 454). Insofern sieht Sen die Notwendigkeit von fächerübergreifenden Studien, ohne auf fachspezifische Schulung verzichten zu wollen: „It is quite important to integrate the lessons that emerge from economics, from politics, from sociology, anthropology, and even literature and cultural studies, not to mention philosophy. And this is not the same thing as arguing for interdisciplinary studies because that could be very mechanical. I am ferociously keen on strong disciplinary training within each discipline. But with that disciplinary training, the opportunity of learning from other disciplines is very great.“ (Solow/Arrow/Sen, 2000, S. 30)
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Sen intensiv die philosophische Grundlage von Wohlfahrtstheorien erforscht und fragt, inwieweit sie zur Lösung der Probleme beiträgt. Insbesondere hat er sich mit dem Utilitarismus, den Theorien von Rawls und einiger liberaler Denker wie Nozick beschäftigt. Sein theoretischer Ansatz entwickelt sich aus der Kritik dieser Theorien heraus.
4.1.2 Kritik an vorhandenen Theorien als Ausgangspunkt Bei der Untersuchung philosophischer Wohlfahrtstheorien konzentriert sich das Interesse Sens auf zwei Probleme: Zum einen fragt er, wie Wohlergehen definiert wird, und zum anderen schaut er sich an, wie Freiheit in den Theorien konzipiert wird. Wohlergehen sollte nach Sen so definiert werden, dass das Wohlergehen verschiedener Personen verglichen werden kann, denn nur anhand von interpersonellen Vergleichen ist es möglich, vom Wohlergehen der Individuen auf die Wohlfahrt der Gesellschaft zu schließen. Wichtig ist Sen jedoch gleichzeitig, dass die Verschiedenartigkeit der Menschen in die Definition des Wohlergehens einfließt, wie an seiner Kritik sowohl des Utilitarismus als auch der Theorie Rawls deutlich wird. Um Freiheit zu erfassen, ist die Bewertung von Situationen nur anhand von Ergebnissen (Konsequentialismus) unbefriedigend, weil sich die Freiheit gerade darin zeigt, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind. Dennoch ist die Konzentration auf Prozesse (Prozeduralismus) nach Sen ebenso unangemessen, weil Freiheit in gewissem Sinne wertlos ist, wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse hervorbringt. Es ist aber sehr schwierig, eine Konzeption zu finden, die beide Aspekte – Prozesse und Ergebnisse – enthält.
4.1 Motivation und Kontext
129
Zum Utilitarismus Der Utilitarismus ist eine wichtige Wurzel der modernen Wirtschaftstheorie, die nach wie vor an einigen Positionen des Utilitarismus festhält. J.S. Mill, der zu den klassischen Vertretern des Utilitarismus zählt, fasst die Position wie folgt zusammen: „Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter Glück ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter „Unglück“ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.“ (Mill 1985, S. 13)
Sen zerlegt den Utilitarismus in drei Elemente:117 a) Konsequentialismus (Folgenprinzip), b) Welfarismus (Nutzenprinzip), c) Summenregel.
Das Folgenprinzip besagt, dass eine Situation nur anhand des Ergebnisses von Handlungen bewertet werden soll – Mill spricht davon, was die Handlung bewirkt – und nicht anhand der Handlungen selbst, also des Prozesses, der zu diesem Ergebnis geführt hat. Das Nutzenprinzip bestimmt den Nutzen – Mill spricht auch von Glück – zum einzigen Maßstab, mit dem eine Situation bewertet werden soll. Eine Situation soll folglich anhand des im Ergebnis erreichten Nutzens bewertet werden, wenn man Folgen- und Nutzenprinzip zusammennimmt. Die Summenregel – „das Prinzip des größten Glücks“ bei Mill – fordert, dass diejenige Situation vorzuziehen ist, in der die Summe der individuellen Nutzen (im Ergebnis) am größten ist. Die Summenregel strebt, wie Bentham (wiedergegeben in Höffe 1992, S. 56) es formuliert, nach dem größten Glück der Gruppe. Es ist also eine Regel, die das Glück des Einzelnen dem Glück der Gruppe unterordnet und die bereit ist, sehr große Ungleichheit zwischen den Individuen in Kauf zu nehmen, sofern die Summe maximiert wird. Diese Eigenschaft der Summenregel, dass sie die Effizienz der Gleichheit vorzieht, ist oft kritisiert worden. Dennoch meint Sen (1980a, S. 354), dass der Utilitarismus in bestimmtem Sinne Gleichheit anstrebt, nämlich die Gleichheit der Grenznutzen, was von einigen Anhängern des Utilitarismus interpretiert wird als Gleichbehandlung der Interessen verschiedener Personen. Problematisch ist diese Interpretation nach Sen (1980a, S. 359), weil der Grenznutzen eine hypothetische Größe ist.
___________ 117 Vgl. z. B. Sen (1982d, 1987b, S. 39), eine ähnliche Zerlegung nimmt Höffe (1992, S. 10) vor.
130
4. Der Ansatz von Sen
In den Wirtschaftswissenschaften ist man deshalb dazu übergegangen, dieses Element des Utilitarismus fallen zu lassen und neben der Summenregel auch andere Regeln zu betrachten, die explizit auf die Verteilung des Nutzens (und nicht des Grenznutzens) eingehen, wie z. B. die Leximin-Regel. An den anderen Elementen des Utilitarismus – also des Nutzen- und der Folgenprinzips – wird jedoch festgehalten. Die wohl fundamentalste Kritik am Utilitarismus übt Sen (1985b, S. 187), wenn er das zweite Element des Utilitarismus in Frage stellt: „Is well-being best seen as utility?“ Zunächst analysiert er die verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff Nutzen von Utilitaristen118 und später von Wirtschaftswissenschaftlern gegeben wurden, und ob sie unserem Verständnis von Wohlergehen entsprechen. Er unterscheidet drei Interpretationen (z. B. Sen 1985a, b): 1. Nutzen verstanden als Freude und Leid, 2. Nutzen verstanden als Wunschbefriedigung und 3. Nutzen verstanden als Repräsentation der offenbarten Präferenzen. An den ersten beiden Interpretationen kritisiert Sen zum einen, dass sie Wohlergehen als einen mentalen Zustand begreifen und den körperlichen Zustand der Person außer Acht lassen, und zum anderen, dass sie die Bewertung dieses Zustands durch die Person selbst völlig außer Acht lassen: „A person who is ill-fed, undernourished, unsheltered and ill can still be high up in the scale of happiness or desire-fulfilment if he or she has learned to have ,realistic‘ desires and to take pleasure in small mercies. The physical conditions of a person do not enter the view of well-being seen entirely in terms of happiness and desirefulfilment, ... And this neglect is fortified by the lack of interest, of these two perspectives, in the person’s own valuation as to what kind of a life would be worthwile.“ (Sen 1985a, S. 21)
Die Nichtbeachtung des physischen Zustands einer Person hat verschiedene Nachteile: Zum einen beschreibt Sen hier das Phänomen der adaptiven Präferenzen119, worunter die Anpassung der Erwartungen an die eigene (physische) Situation zu verstehen ist. Adaptive Präferenzen führen dazu, dass Arme sich an kleinen Dingen erfreuen („Zufriedenheitsparadox“, siehe Abschnitt 3.3.2) und Reiche einen „teuren Geschmack“ (Rawls 1979) ausbilden. Zum anderen sind die physischen Bedingungen einer Person zu einem großen Teil direkt
___________ 118 Zu den klassischen Utilitaristen zählen nach Höffe (1992): Bentham, J.S. Mill und Sidgwick¸ Sen (1985a) führt außerdem Edgeworth, Marshall, Pigou und Ramsey an, ferner Harsanyi, Hare und Mirrlees als moderne Vertreter utilitaristischer Positionen. 119 Mit diesem Phänomen hat sich Elster (1982) intensiv und detailliert auseinandergesetzt. Vergleiche dazu auch Nussbaum (2001). Empirische Studien der LeydenSchule z. B. van Praag (1993) belegen dieses Phänomen.
4.1 Motivation und Kontext
131
beobachtbar120, die Zufriedenheit mit der eigenen Situation muss jedoch erfragt oder aus dem Verhalten abgeleitet werden. Die Bewertung der Situation durch die Person selbst wird vom Utilitarismus insofern nicht beachtet, als dass er den Nutzen – also die empfundene Freude bzw. die Befriedigung eines Wunsches – mit dem Wert gleichsetzt. Dies ist nach Sen nicht richtig: Bewerten sei zwar eine mentale Tätigkeit, aber eine reflexive (Sen 1985b, S. 189), die nicht mit Wünschen oder aber dem Empfinden von Freude und Leid zusammenfällt. Den Zusammenhang zwischen wünschen und bewerten macht Sen (1985a, S. 32, 1985b, S. 190) an folgenden Aussagen klar: a)„Ich wünsche x, weil ich es wertschätze.“, b)„Ich wertschätze x, weil ich es mir wünsche.“ Die Aussage a) hält Sen für sinnvoll und weist darauf hin, dass Wünsche ein Indikator für Wertschätzung sein können. Dahingegen sei die Aussage b) lange nicht so sinnvoll und zwingend. Nutzen verstanden als Freude und Leid oder als Wunschbefriedigung – d. h. als mentaler Zustand – ist ein höchst uneinheitlicher Maßstab für Wohlergehen. Nutzen in diesem subjektiven Sinne lässt sich nicht interpersonell vergleichen, selbst wenn man davon ausgeht, man könne ihn messen. Die interpersonelle Vergleichbarkeit hält Sen jedoch für eine wichtige Bedingung, um Wohlergehen zu konzipieren: „An approach that cannot easily acommodate interpersonal comparisons is seriously hadicapped in substantiating the notion of well-being.“ (Sen 1985a, S. 19)
Die dritte Interpretation von Nutzen als Repräsentation von Präferenzen wurde im Rahmen der modernen Wirtschaftstheorie entwickelt und geht vor allem auf Samuelson (1938 und 1948) mit seiner Theorie der offenbarten Präferenzen121 zurück. Dabei schließt man von den Entscheidungen eines Individuums auf seine Präferenzen. Erfüllen die Entscheidungen gewisse Konsistenzbedingungen, so kann man sie als Ergebnisse der Maximierung einer Auswahlfunktion auffassen, die dann Nutzenfunktion genannt wird. Mit diesem Ansatz hat sich Sen (1977b, 1982a1997a) intensiv auseinandergesetzt und ihn in vielen Punkten kritisiert. Hier interessiert nur seine Einschätzung des Ansatzes als Definition für Wohlergehen: „To assume that the binary relation underlying choice (if choice is consistent enough to yield such a binary representation) must be the person’s ordering of own wellbeing is an heroic simplification.“ (Sen 1985a, S. 19)
Zudem lässt auch diese Interpretation von Wohlergehen keine interpersonellen Vergleiche zu, denn eine Person hat nicht wirklich die Wahl, eine andere ___________ 120
Sen (1979a) diskutiert die Vor- und Nachteile der direkten im Gegensatz zur Einkommensmethode. Vgl. Abschnitt 2.2. 121 Mit der Theorie der offenbarten Präferenzen befasst sich Sen (1971, 1973 und 1977b).
132
4. Der Ansatz von Sen
Person zu sein. Insofern urteilt Sen (1985a, S. 20) über diese Interpretation des Begriffs „Nutzen“: „The choice approach to well-being is, for these reasons, really a non-starter.“ Insgesamt ist Sens Antwort auf die Frage, ob Wohlergehen am besten als Nutzen gesehen wird, ein klares Nein. Wohlergehen hat seines Erachtens noch andere Aspekte außer dem mentalen Zustand der Glückseligkeit (oder des Leids), insbesondere körperliche Aspekte. Das eigene Wohlergehen ist auch nicht die einzige Motivation für eine Wahlentscheidung. Zudem sollte Wohlergehen so definiert werden, dass interpersonelle Vergleiche möglich sind, denn Wohlergehen dient als Anhaltspunkt, um einen gesellschaftlichen Zustand zu beurteilen. Auch wenn Sen die Möglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche bestreitet, beschreibt er als einen Vorzug des Utilitarismus: „... the need to pay attention to the well-being of the people involved when judging social arrangements and their results (the interest in people’s well-being has obvious atttractions, even if we disagree on the utlitity-centered mental-metric way of judging well-being).“ (Sen 1999a, S. 60)
Der Konsequentialismus122 als drittes Element des Utilitarismus führt dazu, dass der Utilitarismus Rechte und Freiheiten nur an ihren Ergebnissen misst und sie daher nur als Instrumente betrachtet. Sen (1987b, S. 60; 1999a, S. 62) hingegen meint, dass Rechte und Freiheiten einen intrinsischen Wert haben, dass sie wertvoll sind über das hinaus, was das Individuum mit ihrer Hilfe erreichen kann. Er unterschiedet daher das, was ein Individuum erreicht, von der Freiheit, etwas erreichen zu können (z. B. unterschiedet er Wohlergehen von der Freiheit zu Wohlergehen). Abgesehen von dieser rein instrumentellen Sicht von Rechten und Freiheiten billigt der Utilitarismus durch die Kombination von Folgen- und Nutzenprinzip moralisch fragwürdiges Handeln, wenn bspw. der Nutzen, den ein Sadist daraus zieht, andere zu quälen, gegen das Leid der Opfer aufgerechnet wird. Diese Eigenschaft des Utilitarismus hat bereits Rawls (1979, S. 49) kritisiert und Sen (1980a, S. 363) stimmt mit ihm in dieser Kritik überein. So sehr Sen das Folgenprinzip in seiner reinen Form ablehnt, so sehr verteidigt er ergebnisorientiertes Denken. Seine Ablehnung des Konsequentialismus bezieht sich vor allem auf die Kombination mit dem Welfarismus (Nutzenprinzip) und darauf, eine Handlung nur an ihren Folgen zu messen (Sen 1987b, S. 74ff). Er verteidigt jedoch ausdrücklich die Auffassung, dass Handlungen ___________ 122 Sen hat in vielen Schriften seine diesbezügliche Auffassung dargestellt. Vgl. dazu Sen (1980a, 1982d,1982c, 1985b, S. 212ff, 1987b, Teil 3, 1999a) sowie die Auseinandersetzung zwischen Scanlon (2001) und Sen (2001a). Vgl. ferner die Literaturangaben zu seinem Freiheitsbegriff unter Abschnitt 4.2.
4.1 Motivation und Kontext
133
auch auf ihre Konsequenzen hin betrachtet werden müssen und dass Rechte und Freiheit auch einen instrumentellen Wert haben.
Zu Rawls Theorie der Gerechtigkeit „While my own approach is deeply influenced by Rawls’s analysis, I argue that the particular informational focus on which Ralws himself concentrates neglects some considerations that can be of great importance to the assessment of equality – and also of efficiency.“ (Sen, 1992a, S. 8)
Es sind die zwei oben angesprochenen Punkte, in denen Rawls Sen stark beeinflusst hat und in denen Sen Rawls dennoch kritisiert: Zum einen stimmt Sen Rawls in seiner Kritik am Nutzen als Definition für Wohlergehen zu, meint jedoch, dass Rawls selbst auf halber Strecke stehen geblieben sei; zum anderen nimmt Sen die Idee, Freiheit in die Konzeption von Wohlergehen mit einzubeziehen von Rawls auf, kritisiert aber wiederum die Konzeption von Rawls. In seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1979)123 legt Rawls die Auffassung dar, dass eine Situation an der Verteilung bestimmter Grundgüter (primary goods) gemessen werden sollte. Er fordert in seinem Unterschiedsprinzip (difference principle), zunächst das Wohlergehen – gemessen an verfügbaren Grundgütern – derer zu maximieren, die am schlechtesten gestellt sind, dann das der Nächstschlechtestgestellten usw. Zu den Grundgütern zählt Rawls auch Grundfreiheiten und -rechte, denen er innerhalb der Grundgüter Priorität einräumt. Allgemein wendet sich Sen gegen Ansätze, deren Bewertungsgrundlage Güter oder auch Ressourcen (Dworkin 1981) sind: „Commodity command is a means to the end of well-being, but can scarcely be the end itself. To think otherwise is to fall into the trap of what Marx (1887) called ,commodity fetishism‘ – to regard goods as valuable themselves and not for (and to the extent that) they help the person.“ (Sen 1985a, S. 28)
Diesen Vorwurf macht er auch speziell Rawls: „Indeed, it can be argued that there is, in fact, an element of ,fetishism‘ in the Rawlsian framework. Rawls takes primary goods as the embodiment of advantage, rather than taking advantage to be a relationship between persons and goods.“ (Sen, 1980a, S. 366)
Hier weist Sen schon auf den Ausweg hin, den er beschreiten wird: Wohlergehen zu definieren als Ergebnis der Beziehung von Menschen und Gütern. Die Gleichverteilung bestimmter Güter, wie sie Rawls vorschwebt und die er als Chancengleichheit interpretiert, verfehlt nach Sen ihr Ziel, weil sie die ___________ 123
In Englisch erschien das Buch „A theory of justice“ bereits 1971.
134
4. Der Ansatz von Sen
körperlichen Unterschiede zwischen den Menschen ignoriert. Während Rawls zunächst von einer „normalen Funktionsfähigkeit“ des Menschen ausgeht und Behinderungen erst später betrachten will, vertritt Sen vehement die Auffassung, dass es eine solche „normale Funktionsfähigkeit“ gar nicht gebe.124 „But, in fact, people seems to have very different needs, varying with health, longevity, climatic conditions, location, work conditions, temperament and even body size (affecting food and clothing requirements). So what is involved is not merely ignoring a few hard cases, but overlooking very widespread and real differences.“ (Sen 1980a, S. 366)
Dies ist insofern bemerkenswert, als dass Rawls am Nutzenkonzept gerade die Nichtbeachtung von Unterschieden in den Präferenzen (er nennt als Beispiele einen „teuren Geschmack“ und Sadismus) der Individuen bemängelt hat. Freiheit taucht in Rawls Theorie der Gerechtigkeit auf zweierlei Weise auf: Erstens zählt Freiheit zu den Grundgütern und genießt unter ihnen Priorität, zweitens räumt Rawls jedem Individuum die Freiheit ein, mit seinen Grundgütern zu machen, was ihm beliebt. Obwohl oder vielmehr gerade weil Sen Freiheit einen intrinsichen Wert beimisst, stellt er in Frage, ob es richtig ist, sie in eine Reihe mit anderen Grundgütern wie Einkommen und Vermögen zu stellen, da Rechte und Freiheiten anders als jene Grundgüter zum individuellen Wohlergehen beitragen. Er schreibt (Sen, 1999a, S. 65): „The claim here is that the political significance of rights can far exceed the extent to which the personal advantage of the holders of these rights is enhanced by having these rights. ... There is ... an asymmetry with other sources of individual advantage, for example income, which would be valued largely on the basis of how much they contribute to the respective personal advantages.“ (Sen 1999a, S. 65)
Diese Asymmetrie sollte nach Sen auch in der Konzeption von Freiheit zu finden sein in Form einer prozeduralen Priorität. Der Übergang von der Bewertung einer Situation anhand des entstandenen Nutzens zu einer Bewertung anhand der vorhandenen Grundgüter hält Sen zwar für einen Fortschritt in der Konzipierung von Freiheit, aber er macht darauf aufmerksam, dass Grundgüter nur die Mittel zu Freiheit darstellen: „An important problem arises from the fact that primary goods are not constitutive of freedom as such, but are best seen as means to freedom.“ (Sen, 1992a, S. 80)
Da nicht jedes Individuum im gleichem Maße in der Lage ist, die Mittel zur Freiheit auch zu nutzen, so wie nicht jedes Individuum im gleichen Maße in der Lage ist, die Mittel zum Wohlergehen zu nutzen, weil sich die Individuen in vielen Eigenschaften unterscheiden, gibt die Verteilung der Grundgüter nicht die Verteilung des Ausmaßes an Freiheit wieder. ___________ 124 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung die Fußnote 28 in Sen (1980a) und die Verteidigung von Rawls durch Daniels (1990).
4.1 Motivation und Kontext
135
Rawls hingegen stellt in seiner Theorie absichtlich nur auf die Mittel zur Freiheit ab, weil es ihm wichtig ist, dass jedes Individuum die Möglichkeit hat, seine eigene Gerechtigkeitsvorstellung zu entwickeln. Eine weitergehende Konzipierung von Freiheit würde seines Erachtens die Möglichkeit der Individuen beschränken, eigene Gerechtigkeits- (und Freiheits-)vorstellungen zu entwickeln. Gleichzeitig betont er jedoch die Verantwortung der Individuen für ihre Handlungen und Vorstellungen: „Trotzdem kann man jedem [Menschen] eine Gerechtigkeitsvorstellung zuschreiben. Das heißt, sie sehen die Notwendigkeit bestimmter Grundsätze für die Festsetzung der Grundrechte und -pflichten und der als gerecht betrachteten Verteilung der Früchte und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, und sie sind bereit, solche anzuerkennen.“ (Rawls 1979, S. 21)
Sen ist der Annahme, die hier implizit getroffen wird, dass jeder Mensch frei entscheiden könne, gegenüber kritisch: „If social conditioning makes a person lack the courage to choose (perhaps even to ,desire‘ what is denied but what would be valued if chosen), then it would be unfair to undertake the ethical assessment assuming that she does have that effective choice.“ (Sen 1992a, S. 149)
Er spricht in diesem Zusammenhang von der „sozialen Disziplin“ als Hindernis für Freiheit.
Zu Nozicks Prozeduralismus Räumt Rawls Rechten und Freiheiten Priorität innerhalb der Grundgüter ein, so gibt Nozick ihnen absolute Priorität in dem Sinne, dass sie unbedingt einzuhalten sind: „Individuals have rights, and there are things no person or group may do to them (without violating their rights).“ (Nozick zitiert nach Sen 1982c, S. 5)
Die Rechte schützen und definieren einen Bereich negativer Freiheit, wie Berlin ihn im Gegensatz zu positiver Freiheit definiert: „Political liberty in [the negative] sense is simply the area within which a man can act unobstructed by others.“ (Berlin 1958, S. 122)
Diese Definition negativer Freiheit ist insofern prozeduralistisch, als dass die Rechte beachtet werden müssen, also ein gewisses Vorgehen eingehalten werden muss, ungeachtet der Konsequenzen. Dies ist ein Punkt, den Sen nicht akzeptiert: „But the possibility of having unacceptable consequences has to be addressed by any such procedural system. ... Indeed, it can be shown, that even gigantic famines can actually take place in an economy that fulfills all the libertarian rights and entitlements specified in the Nozick system.“ (Sen 1995a, S. 12)
136
4. Der Ansatz von Sen
Neben diesem Argument führt Sen noch ein weiteres gegen den Prozeduralismus ins Feld, nämlich die Inkonsistenz der Theorie Nozicks: „Even with negative freedom, multilateral interdependencies can arise and undermine the rationale of the ... approach.“ (Sen, 1982c, S. 6)
Er meint hierbei die Möglichkeit, dass mehrere Rechte oder negative Freiheiten konkurrieren, so dass eine Entscheidung über die Gewichtung verschiedener negativer Freiheiten getroffen werden muss. Sen meint, dass diese Entscheidung nicht ohne konsequentialistische Betrachtungen auskomme. Deshalb plädiert Sen für eine Theorie, die sich in zwei Punkten von Nozick abhebt: „(i) admitting the possibility of these rights being overridden for the benefits related to other rights or non-right goals – if they are sufficiently strong; and (ii) entailing duties of ,third parties‘, who can help or hinder, requiring the evaluation of duties through consequential analysis of interdependences ...“ (Sen 1982c, S. 39)
4.1.3 Zusammenfassung Die Kritik von Sen an den vorhandenen Theorien hat ihn zu folgender Position geführt: Es ist richtig, den Zustand einer Gesellschaft u. a. anhand des individuellen Wohlergehens zu beurteilen. Daher sollte Wohlergehen so definiert werden, dass interpersonelle Vergleiche möglich sind. Das Wohlergehen eines Menschen kann jedoch nicht an seinem Güterbesitz abgelesen werden, weil die Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben und somit auch einen unterschiedlichen Bedarf an Gütern. Wohlergehen ist nicht gleichzusetzen mit der Zufriedenheit, die ein Mensch über seine Situation empfindet, weil Menschen ihre Erwartungen den eigenen Möglichkeiten anpassen (adaptive Präferenzen). Die Kategorie Wohlergehen ist zwischen Gütern und Nutzen anzuordnen. Wohlergehen entsteht mit Hilfe von Gütern und kann mit Nutzen bewertet werden. Güter o Wohlergehen o Nutzen Darstellung in Anlehnung an Atkinson 1999, S. 185
Abbildung 6: Schema zur Einordnung der Kategorie Wohlergehen
Freiheit beeinflusst das Wohlergehen eines Menschen positiv, so dass dem Prozess, durch den das Wohlergehen entsteht, Beachtung geschenkt werden muss, ohne jedoch auf die Betrachtung der Ergebnisse des Prozesses – nämlich
4.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes
137
dem Niveau des Wohlergehens – zu verzichten. Es ist diese Position, die er mit seiner Theorie der Verwirklichungsmöglichkeiten modelliert und ausfüllt.
4.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes Der zentrale Begriff schlechthin im Ansatz von Sen ist natürlich derjenige, der ihm den Namen „Capability“-Ansatz gegeben hat: Verwirklichungsmöglichkeiten. Eng damit verbunden ist der Begriff der Funktionen. Beide werden zunächst verbal umschrieben (Abschnitt 4.2.1) und dann anhand der formalen Struktur erläutert (Abschnitt 4.2.2). Eine wichtige Motivation für den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten stellt das Fehlen einer Größe für interpersonelle Vergleiche des Wohlergehens in anderen Theorien dar. Deshalb stellt sich die Frage, welche Größe in Sens Ansatz – Funktionen oder Verwirklichungsmöglichkeiten – die Grundlage für solche Vergleiche darstellen (Abschnitt 4.2.3). Eine andere wichtige Motivation für den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten ist die in Sens Augen unbefriedigende Modellierung von Freiheit in den vorhandenen Theorien. Wie er Freiheit in seinem Ansatz modelliert ist Thema des Abschnitts 4.2.4. Seinen Freiheitsbegriff hat Sen jedoch nicht erst im Zusammenhang mit dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten entwickelt, wie der Exkurs im Anschluss zeigt.
4.2.1 Verwirklichungsmöglichkeiten und Funktionen Nach Sen steht jedes Individuum einer Menge von Verwirklichungsmöglichkeiten (capabilities oder capability-set) gegenüber, aus der es eine auswählt, indem es sie verwirklicht. Die Menge der Verwirklichungsmöglichkeiten umfasst all das, was ein Mensch zu tun oder zu sein imstande ist.125 Eine solche Verwirklichungsmöglichkeit ist ein Bündel von Funktionen (functionings), worunter all das, was ein Mensch tut oder wie es ihm geht, zu verstehen ist. (Sen spricht von „doings and beings“.) Funktionen sind Aspekte der Lebensbedingungen eines Menschen (Sen 1985a, S. 36); „Functionings represent parts of the state of a person – in particular the various things, that he or she manages ___________ 125 Die hier gewählte Übersetzung von „capability“ mit „Verwirklichungsmöglichkeit“ lehnt sich an die Übersetzung von „Development as Freedom“ (Sen 1999a) in Sen (2000b) an, wo von „Verwirklichungschance“ gesprochen wird. „Verwirklichungsmöglichkeit“ ist meines Erachtens neutraler, weil eine Möglichkeit zum einen gegeben sein muss – wie eine Chance – und zum anderen auch erarbeitet werden muss. Die Übersetzung von „capability“ mit „Fähigkeit“ in Sen (2000a), Sen (1998b) und Nussbaum (1999) betont hingegen zu sehr, dass das Individuum Fähigkeiten als Voraussetzung mitbringen muss. Sen beschreibt Verwirklichungsmöglichkeiten aber als Zusammenspiel aus individuellen Fähigkeiten und äußeren Umständen (siehe Abschnitt 4.2.2).
4. Der Ansatz von Sen
138
to do or be in leading a life“ (Sen, 1993b, S. 31). Funktionen sind sowohl Tätigkeiten als auch Zustände und Fähigkeiten126, wie folgende Beispiele zeigen (Sen 1985a, 1985b, S. 197, 1992a, S. 39): essen und trinken, sich ohne Scham öffentlich zeigen, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, sich selbst achten, Krankheiten vermeiden, lange leben, lesen können, frei von Malaria sein, mobil sein, glücklich sein und gesund sein. Sen siedelt Funktionen zwischen Gütern einerseits und dem Nutzen dieser Güter andererseits an. Sie geben wieder, was ein Mensch aus den Gütern, die ihm zur Verfügung stehen, macht, und sie sind es, denen ein Nutzen zugeordnet werden kann, wie anhand der formalen Darstellung deutlich wird.
4.2.2 Formale Darstellung In seinem Buch „Commodities and Capabilities“ (Sen 1985a, Kapitel 2) gibt Sen die Zusammenhänge zwischen Gütern, Funktionen, Verwirklichungsmöglichkeiten und Bewertung formal wieder: xi
bezeichne das Güterbündel von Person i.
Xi
bezeichne die Budgetmenge des Individuums i.
f i () sei eine Technologie, die ein von Person i mit dem Güterbündel xi erreichbares Bündel von Funktionen bi f i ( x i ) beschreibt. Fi
bezeichne die Menge persönlicher Technologien zur Erzeugung von Funktio-
nen.
Dann sind die mit einem gegebenen Güterbündel xi erreichbaren Funktionen beschrieben in der Menge Pi ( xi ) : Pi ( xi )
^bi bi
`
fi ( xi ) für f i () Fi .
Die Wahl des Güterbündels sei beschränkt auf die Budgetmenge X i . Dann lässt sich die Menge der Verwirklichungsmöglichkeiten von i beschreiben als Menge Qi ( X i ) : Qi ( X i )
^bi bi
fi ( xi ) für f i () Fi
und
`
für xi X i .
In der formalen Darstellung lässt sich erkennen, dass das Einkommen nach wie vor eine große Rolle spielt, nämlich die des bestimmenden Faktors der Budgetmenge. Die Budgetmenge spiegelt in Sens Ansatz viel von den äußeren ___________ 126 Wegen der vielfältigen Dinge, die damit umschrieben werden verwende ich für das englische Wort „functioning“ die Übersetzung „Funktion“ – wiederum angelehnt an Sen (2000b). Es ermöglicht mir, anders als in den Übersetzungen Sen (1998b) oder Nussbaum (1999), „functionings“ immer mit demselben Begriff zu übersetzen. Die Übersetzung mit „tatsächliche Möglichkeit“ in Sen (2000a) scheint mir den Sinn des Begriffs bei Sen nicht zu treffen.
4.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes
139
Umständen wider, denen sich das Individuum gegenüber sieht, ohne dass Sen dies ausdrücklich erläutert. Die Verschiedenartigkeit der Menschen hat in seinen Ansatz Eingang gefunden in Form der Menge persönlicher Technologien (utilization functions) (ebenfalls ohne dass Sen dies ausdrücklich erwähnt). Hinter den persönlichen Technologien verbergen sich die Eigenschaften eines Individuums, seine Talente ebenso wie seine Behinderungen. In diesem Sinne geben die persönlichen Technologien die inneren Möglichkeiten eines Individuums wieder. Bewertet werden nach Sen die Bündel von erreichten oder erreichbaren Funktionen. D. h. Funktionen sind bei ihm die Dimensionen des Bewertungsraumes und eine persönliche Bewertungsfunktion vi () ordnet einem Punkt in diesem Raum – einem Bündel von erreichten oder erreichbaren Funktionen – einen Wert zu: v i v i ( f i ( x i )) v i (bi ) gibt den Wert an, den i den erreichten Funktionen beimisst. Eine Möglichkeit, Bündel von Funktionen zu bewerten, ist, ihnen einen Nutzen entsprechend des Glücks, das mit ihnen verbunden ist, zuzuordnen, aber in Sens Vorstellung ist die Nutzenfunktion nur eine von vielen möglichen Bewertungsfunktionen.
4.2.3 Basis für interpersonelle Vergleiche Als Basis für interpersonelle Vergleiche kommen in Sens Ansatz zwei Größen in Frage: zum einen die Bündel von Funktionen und zum anderen die Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten, die nichts anderes sind als Mengen solcher Bündel von Funktionen.
Bündel von Funktionen Bei der Bewertung des Wohlergehens seien zwei Dinge zu beachten, die teilweise in entgegengesetzte Richtungen weisen (Sen, 1987a, S. 20): Relevanz und Brauchbarkeit. Funktionen sind nach Sen für die Messung des Wohlergehens äußerst relevant; er schreibt: „The claim is that functionings are constitutive of a person’s being, and an evaluation of well-being has to take the form of an assessment of these constituent elements.“ (Sen 1992a, S. 39):
Wohlergehen versteht Sen (1985a, S. 12 und 51) also als eine Größe, die sich aus vielen Funktionen zusammensetzt und dementsprechend nicht als Skalar ausgedrückt werden kann, sondern bestenfalls mit einem Skalar bewertet werden kann.
4. Der Ansatz von Sen
140
Was die Brauchbarkeit von Funktionen als Basis für interpersonelle Vergleiche anbelangt, so behauptet Sen, dass sich Funktionen besser als Nutzen für interpersonelle Vergleiche eignen: „Individual functionings can lend themselves to easier interpersonal comparison than comparisons of utilities ...“ (Sen 1999a, S. 76)127
Diese Behauptung bezieht sich m. E. darauf, dass er Funktionen für beobachtbar hält, wenn auch nicht alle im gleichen Maße beobachtbar sind (Sen 1985a, S. 47f, 1999a, S. 81). Problematisch an Funktionen als Grundlage für interpersonelle Vergleiche ist jedoch ihre Vielzahl und Verschiedenartigkeit: Es ist jeweils ein Bündel verschiedenster erreichter Funktionen eines Individuums, das mit einem Bündel verschiedenster erreichter Funktionen eines anderen Individuums verglichen werden muss. Daher ist es zunächst notwendig, zu definieren, welche Funktionen für das Wohlergehen besonders relevant sind. Der interpersonelle Vergleich führt dann (nur) zu einer partiellen Ordnung, die durch die Bestimmung von Gewichten für die verschiedenen Funktionen vervollständigt werden kann (Sen 1999a, S. 78). Dies ist nach Sen (1985a, und b) der erste Schritt eines zweistufigen Bewertungsprozesses: Die relevanten Funktionen stellen die Dimensionen eines (mehrdimensionalen) Bewertungsraumes dar, die in einem zweiten Schritt zu gewichten sind. Der erste Schritt führt immerhin zu einer partiellen Ordnung, die durch den zweiten Schritt vollständiger gemacht wird, im Extremfall sogar in eine vollständige Ordnung überführt wird. Das Problem von Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Bewertungsgrundlage für das Wohlergehen liegt nach Sen (1999a, S. 77) jedoch in der Sache. Andere Ansätze weichen entweder dem Problem aus, indem sie annehmen, es gäbe eine homogene Bewertungsgrundlage wie bspw. Nutzen, oder teilen diese Problematik mit dem Senschen Ansatz, wenn sie wie Rawls ausdrücklich anerkennen, dass die Bewertungsgrundlage heterogen ist.
Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten Bei seinem Ansatz bietet Sen noch eine zweite Kategorie für die Messung an: die Menge der Verwirklichungsmöglichkeiten. Sie ist relevant, will man die Freiheit eines Menschen, das eine oder andere Leben zu führen, in die Messung des Wohlergehens einbeziehen (vgl. Sen 1992a, S. 40). So mag bspw. ein religiöser Mensch, der fastet, sich ähnlich ernähren wie eine Person, die Hunger leidet, also ein ähnliches Niveau des Wohlergehens gemessen an Funktio-
___________ 127
In diesem Sinne argumentiert Sen auch in: Sen (1985a), S. 53.
4.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes
141
nen erreichen.128 Während Ersterer dies freiwillig tut, ihm also auch andere Verwirklichungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden haben, hungert Letzterer unfreiwillig, weil seine Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten sehr beschränkt ist. Daher ist die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten relevant, wenn man die „Freiheit zu Wohlergehen“ (well-being freedom) erfassen will (Sen 1992a, S. 57). Die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ist jedoch nicht beobachtbar und daher in diesem Sinne nicht so brauchbar, wie (erreichte) Funktionen. Es lassen sich nur von den beobachtbaren Funktionen einige Schlussfolgerungen auf die Menge der Verwirklichungsmöglichkeiten ziehen: Das Bündel der erreichten Funktionen muss zur Menge der Verwirklichungsmöglichkeiten gehört haben. Es wäre jedoch zusätzlich interessant zu wissen, wie groß diese Menge ist und welche Qualität die Verwirklichungsmöglichkeiten haben. Der interpersonelle Vergleich von Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten ist daher noch schwieriger als der von Bündeln von Funktionen, denn es müssen Mengen von Bündeln von Funktionen verglichen werden. Selbst wenn diese Mengen beobachtbar wären, kämen hier noch Probleme der Mengenbewertung129 hinzu: Ist eine Menge immer besser, wenn sie ein weiteres Element enthält? Ist die Anzahl an Elementen einer Menge das einzige Bewertungskriterium oder auch die Qualität der Elemente? Wie lassen sich Anzahl der Elemente und ihre Qualität ins Verhältnis setzen? Wie lassen sich Mengen vergleichen, die keine Schnittmenge haben? Woran bemisst sich die Qualität eines Elementes? Teilweise lassen sich Funktionen so umdefinieren, dass sie zeigen, inwieweit ihnen eine Wahlentscheidung vorausging, wie die Unterscheidung zwischen Fasten und Hungern zeigt. Es stellt sich sogar die Frage, ob die Qualität einer erreichten Funktion maßgeblich davon abhängt, ob eine Wahlmöglichkeit bestand und insofern die umdefinierten Funktionen dieser Natur der Funktionen besser gerecht werden. Sen führt daher umdefinierte Funktionen als weitere Kategorie zur Messung an, ohne jedoch weitere Beispiele zu geben oder die Idee weiter zu verfolgen (Sen 1985b, S. 201).
___________ 128
Dieses Beispiel bringt Sen immer wieder. Vgl. Sen (1985a, 1985b, S. 201, 1987a, S. 37, 1987b, 1992a, S. 52 und 1999a, S. 76). 129 Sen selbst diskutiert solche Probleme in Sen (1985a, 1985b, 1987a, 1989b, 1991 und 1992a). Vgl. ferner die Diskussion mit Williams (1987), sowie die Beiträge von Dworkin (1982), Pattanaik und Xu (1990), Puppe (1995) und Santibanez (2001) und die darin zitierte Literatur. Einen Überblick über damit zusammenhängende Literatur zu „opportunity-sets“ geben Sugden (1998) und Barbera/Bossert/Pattanaik (2004).
142
4. Der Ansatz von Sen
4.2.4 Freiheit im Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten Da Sen die Konzeption von Freiheit bei vorhandenen Theorien (s. S. 133ff) kritisiert hat, ist nun zu fragen, wie er Freiheit in seinem Ansatz konzipiert. Sein Freiheitsbegriff, den er bereits seit 1970 entwickelt hat (siehe Exkurs: Sens Begriff von Freiheit, S. 143), ist durch zwei Punkte charakterisiert: 1. Das Recht auf Privatsphäre beinhaltet das Recht, eine soziale Ordnung in Bezug auf die Privatsphäre festzulegen. Anders formuliert: Freiheit ist nur dann Freiheit, wenn sie auch mit der Macht ausgestattet ist, die eigenen Präferenzen – zumindest auf die Privatsphäre bezogen – durchzusetzen. 2. Freiheit muss nicht persönlich durchgesetzt oder kontrolliert werden. Wenn das Ergebnis der Präferenz eines Individuums entspricht, so kann man davon sprechen, dass es seine effektive Freiheit genossen hat, auch wenn jemand anderes an seiner Statt gehandelt hat.
Das zweite Charakteristikum seines Freiheitsbegriffs findet zum einen direkt Eingang in seine Theorie: Er spricht von der Funktion, Krankheiten zu vermeiden, vorzeitiges Sterben zu vermeiden usw. Die Freiheit von Krankheit ist also eine der Funktionen, die er als relevant für das Wohlergehen eines Menschen erachtet. Zum anderen findet dieses Charakteristikum indirekt Eingang, indem Sen Freiheit nicht nur als Prozess konzipiert (wie der Prozeduralismus). Dies macht er bspw. deutlich, wenn er die Vorzüge seines Ansatzes so darstellt: „The advantage of an enhanced capability includes (1) the fact that a wider freedom gives one more opportunity to achieve valuable functionings ..., and (2) the possibility that a person’s achievement itself depends on the process of choice involved – the fact that the achievements were chosen by the person herself ...“ (Sen 1990, S. 466)
Das erste Charakteristikum spricht Sen bei der Konzeption von Freiheit im Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten nicht direkt an, aber man muss davon ausgehen, dass eine Verwirklichungsmöglichkeit sich tatsächlich verwirklichen lässt und in diesem Sinne Sens erstem Charakteristikum von Freiheit entspricht. Dies lässt sich an seiner Verwendung des Begriffs „Freiheit“ in Zusammenhang mit Verwirklichungsmöglichkeiten ablesen: Während Sen in „Commodities and Capabilities“ (1985a, S. 14) und in „The Standard of Living“ (1987a, S.36) noch vorsichtig von Verwirklichungsmöglichkeiten als „eine Art Freiheitsbegriff“ (a ,freedom‘ type notion) spricht und „Freiheit zu Wohlergehen“ (well-being freedom, Sen 1985b, S. 201) als besondere Kategorie definiert, welche am besten von der Menge der Verwirklichungsmöglichkeiten wiedergegeben wird (Sen 1992a, S. 57), geht Sen mit „Development as Freedom“ (1999a) dazu über, die Begriffe „Verwirklichungsmöglichkeit“ und „Freiheit“ synonym zu verwenden: „Capability is thus a kind of freedom: the substantive freedom to achieve alternative functioning combinations ...“ (S. 75). Diese Verwendung behält er z. B. bei einem Vortrag bei der Alfred Herrhausen Stiftung bei (1999b) und ersetzt dort den Begriff Verwirklichungsmöglichkeit völlig durch „substantielle Freiheit“.
4.2 Zentrale Begriffe und Struktur des Ansatzes
143
An dieser Veränderung in Sens Gebrauch der Begriffe lässt sich meines Erachtens zweierlei ablesen: Erstens ist Freiheit immer mehr in den Mittelpunkt seiner Betrachtung gerückt und zweitens ist Sen immer mehr zu der Überzeugung gekommen, Freiheit mit seiner Theorie der Verwirklichungsmöglichkeiten tatsächlich angemessen abgebildet zu haben.
Exkurs: Sens Begriff von Freiheit Seinen Freiheitsbegriff hat Sen nicht erst in Zusammenhang mit dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten entwickelt. Zunächst in Beiträgen zur Social Choice Theorie und in philosophischen Fachzeitschriften hat Sen seinen Freiheitsbegriff charakterisiert und ihn im Laufe der Diskussionen130, die sein erster Aufsatz (Sen 1970a) hervorgerufen hat, weiter verdeutlicht. Er verwendet dabei im Laufe der Zeit viele verschiedene Begriffe: „minimal liberty“ (Sen 1970a, 1992b), „indirect liberty“ (Sen 1983c), „liberty as effective power“ (Sen 1985b), „effective freedom“ (Sen 1992a) und schließlich „substantive freedom“ (Sen 1999a und b). Wie ich jedoch meine, wechselt er die Begriffe, ohne sein Verständnis von Freiheit zu ändern, das sich (s. o.) durch zwei Punkte charakterisieren lässt: 1. Das Recht auf Privatsphäre beinhaltet das Recht, eine soziale Ordnung in Bezug auf die Privatsphäre festzulegen. 2. Freiheit muss nicht persönlich durchgesetzt oder kontrolliert werden.
In der direkten Reaktion auf den vorgenannten Aufsatz spielte vor allem der erste Punkt eine Rolle, zumal diese Interpretation Sens von Freiheit zum Konflikt zwischen Freiheit und dem Pareto-Prinzip geführt hat. (Wenn ein Individuum das Recht hat, in Fällen, die seine Privatsphäre betreffen, die soziale Ordnung festzulegen, kann es passieren, dass eine Pareto-bessere Ordnung, also eine Ordnung, die mindestens ein Individuum besser stellt ohne ein anderes schlechter zu stellen, nicht zum Tragen kommt.) Als Lösung wurde zum einen angeboten131, dass jedem Individuum die Freiheit zugesprochen wird, über den Aspekt der Situation zu entscheiden, der es selbst betrifft, und nur darüber. Dann zeigt sich, dass die Freiheit in gewissem Sinne leer ist: ___________ 130
Vgl. hierzu u. a. die Beiträge von Bernholz (1974), Gibbard (1974), Nozick (1974), Seidl (1975), Gärdenfors (1981), Dasgupta (1986), Seabright (1989), Gärtner/Pattanaik/Suzumura (1992), Cohen (1994), Carter (1995 und 1996), Weikard (2000 und 2001), Pettit (2001) und Nussbaum (2001), sowie die Reaktionen Sens dazu in Sen (1976b, 1982c und e, 1983c, 1984a, 1988, 1990, 1991, 1992a, b, 1994a, 1996 und 1999a). 131 Diese Lösung lässt sich sowohl mit Begriffen der Social Choice Literatur formulieren als auch spieltheoretisch, vgl. Gibbard (1974), Gärtner/Pattanaik/Suzumura (1992) und Weikard (2000).
144
4. Der Ansatz von Sen
Bestehe die Gesellschaft z. B. aus zwei Individuen, die jeweils das Recht haben, über die Farbe – blau oder weiß – ihrer Kleidung selbst zu bestimmen, und habe das eine Individuum eine Vorliebe für einheitliche Kleidung, das andere eine Vorliebe für unterschiedliche Kleidung, so hat im Ergebnis keines der Individuen die Macht, seine Präferenz durchzusetzen. Sen (1992a, S. 144) schreibt hierzu „... dismissing the ,social judgement‘ interpretation is inconsistent with valuing liberty adequately and can lead to serious political neglect of liberty.“ Zum anderen wurde als Lösung vorgeschlagen (Seabright 1989), mit den Freiheiten, die auch als Rechte verstanden werden können, zu handeln, einen Vertrag abzuschließen und so die Pareto-effiziente Lösung durchzusetzen. Dazu stellt Sen (1992a, S. 146) die Frage, was die Individuen motivieren sollte, einen solchen Vertrag abzuschließen und sich später daran zu halten. Letztendlich wird das Problem dabei verlagert von den Präferenzen bezüglich der Zustände auf die Präferenzen bezüglich eines Vertrages zur Durchsetzung eines Zustandes. Sen (1992a, S. 146) stellt fest: „If the persons are free to have or not to have such a contract, the dilemma of the Paretian liberal remains.“ Das zweite Charakteristikum des Senschen Freiheitsbegriffs greift die Diskussion um Konsequentialismus versus Prozeduralismus (siehe Abschnitt 4.1.2) auf. Insbesondere Nozick (1974) vertritt die Auffassung, dass es bei Freiheit darum geht, einen Prozess zu kontrollieren, dessen Ergebnis er keinen eigenen Wert beimisst. Die Positionen von Konsequentialismus und Prozeduralismus verdeutlicht Sen (1982be, S. 216f) an folgendem Beispiel: Man stelle sich vor, Sen habe den vergangenen Nachmittag damit verbracht, zu Hause ein Buch zu lesen. Nun stelle man sich vor, jemand sei gekommen und habe ihn gezwungen, zu Hause zu bleiben und zu lesen. Schließlich stelle man sich vor, jemand sei gekommen und habe ihn gezwungen, in einen Abwasserkanal hinabzusteigen, was ihm völlig zuwider war. Wie war es in diesen Situationen um seine Freiheit bestellt? Der Prozeduralist Nozick sieht eine Verminderung der Freiheit durch den ausgeübten Zwang des anderen, kann jedoch nicht zwischen dem Zwang, zu Hause zu bleiben und zu lesen, und dem Zwang zur Begehung des Abwasserkanals unterscheiden. Der konsequentialistische Utilitarismus würde hingegen nur das Ergebnis betrachten und daher keinen Unterschied zwischen freiwilligem und erzwungenem Zuhausebleiben sehen, die Freiheit aber durch den (erzwungenen) Besuch des Abwasserkanals sehr eingeschränkt sehen. Wie dieses Beispiel zeigt, sind Präferenzen die Grundlage von Sens Freiheitsbegriff (was dem Ursprung dieses Begriffs in der Social Choice Theorie zu schulden ist, vgl. Sen 1983c, S. 20). Der Bezug auf Präferenzen sorgt dafür, dass das Ergebnis zählt, und Freiheit nicht nur mit einem speziellen Prozess identifiziert wird. Sen geht so weit, dass er die Durchsetzung von Präferenzen auch dann Freiheit nennt, wenn sie nur indirekt stattfindet, d. h. wenn nicht das
4.3 Diskussion
145
Individuum selbst seine Präferenz durchsetzt.132 Als Beispiel führt er (1983c, S. 16ff) den Fall eines Bewusstlosen an, von dem bekannt ist, dass er entschiedener Gegner von Tierversuchen ist. Für die Behandlung seiner Verletzungen gibt es zwei Methoden: eine Methode A, die wenig Nebenwirkungen hat, zu deren Entwicklung jedoch Tierversuche durchgeführt wurden, und eine Methode B, die einige Nebenwirkungen hat. Würde der Mann selbst entscheiden können, so würde er sich für B entscheiden. Da er bewusstlos ist, muss seine Begleitung für ihn entscheiden. Entscheidet sie sich in seinem Sinne, also für Methode B, so spricht Sen davon, dass der Mann indirekte bzw. effektive Freiheit genossen hat. Sen hält dieses Konzept der effektiven Freiheit insbesondere in Fällen für relevant, in denen eine einzelne Person nicht in der Lage ist, ihre Präferenz durchzusetzen, weil sie dazu der Mitarbeit ihrer Mitmenschen bedarf. Als Beispiele führt er Freiheit von Gewalt auf der Straße durch Polizeiarbeit (Sen 1983c, S. 16ff) und Freiheit von Krankheiten wie Malaria (Sen 1992a, S. 66ff) an. Sen sieht den Begriff „Freiheit“ – wie er in der Umgangssprache gebraucht wird – in diesen Fällen als gerechtfertigt an, weil die Individuen vor eine hypothetische Wahl (counterfactual choice133) gestellt werden: Für welche Behandlungsmethode würde sich der Mann entscheiden, wenn er nicht bewusstlos wäre? Würden die Menschen lieber in einer Welt mit oder ohne Malaria leben? Er argumentiert, dass die Antwort auf einige hypothetische Fragen leicht zu erraten sei und dass daher z. B. eine Politik gegen Epidemien, Hungersnöte und chronischen Hunger die Freiheit der Menschen stärkt. Cohen (1994) bemerkt, dass Sens Beispiele nicht wirklich in die gleiche Kategorie fallen: Der Bewusstlose kontrolliert die Entscheidung seiner Begleitung indirekt, indem er seinen Willen vorher kundgetan hat und die Entscheidung später bestätigen oder verwerfen kann. Diese indirekte Kontrolle existiert im Falle der Freiheit von Malaria nicht. Die Anti-Malaria Politik mag dem entsprechen, was das Individuum tun würde, hätte es die Kontrolle darüber, aber sie wird durchgeführt, ohne den Willen jedes Individuums zu erfragen. Cohen (1994, S. 122) meint daher, Sen habe ein wichtiges Phänomen beschrieben, es aber zu unrecht „Freiheit“ genannt.
4.3 Diskussion Wie bereits der Exkurs zeigt, hat insbesondere der Freiheitsbegriff von Sen eine rege Diskussion entfacht. Hier ist diese Diskussion auf den Ansatz der ___________ 132
Pettit (2001) prägt dafür den Begriff „decisive preference“, siehe Abschnitt 4.2.5. Sen (1989a, S. 304) macht darauf aufmerksam, dass hypothetische Entscheidungen in der ökonomischen Theorie von großer Bedeutung sind. 133
146
4. Der Ansatz von Sen
Verwirklichungsmöglichkeiten bezogen und greift daher zwei Themen auf: die Frage, welchen Beitrag Freiheit zum Wohlergehen eines Menschen leistet (Abschnitt 4.3.1), und die Frage, welches Menschenbild hinter der Sens Auffassung von Freiheit steht und ob ein Begriff von Freiheit ohne die Beschreibung eines Menschenbildes auskommen kann (Abschnitt 4.3.2). In beiden Abschnitten steht auch Sens Unterscheidung zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten auf dem Prüfstand. Nussbaum, die zweite Vertreterin des „Capability“-Ansatzes hat eine eigene Variante geschaffen, die als „Fähigkeiten-Ansatz“ im Deutschen bekannt ist. Zunächst wird ihr Ansatz vorgestellt (Abschnitt 4.3.3) und dann dem Ansatz von Sen gegenübergestellt (Abschnitt 4.3.4). Welches die Stärken und welches die Schwächen von Sens Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten sind, fasst Abschnitt 4.3.5 zusammen.
4.3.1 Freiheit und Wohlergehen Zunächst leuchtet die Idee ein, dass Freiheit zum Wohlergehen beiträgt. Sen sieht in den erreichten Funktionen eine gute Beschreibung dessen, was Wohlergehen ausmacht, und in der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten eine Beschreibung der „Freiheit zum Wohlergehen“. Aber lässt sich beides immer so gut trennen wie sein Modell uns glauben macht? Und wird „Freiheit zum Wohlergehen“ eingefordert, wenn Redefreiheit, Versammlungsrecht u. ä. gefordert wird, oder neben der „Freiheit zum Wohlergehen“ eine „Freiheit zur Interessenvertretung“ betrachtet werden, wie Sen das tut? In diesem Abschnitt wird das Freiheitskonzept von Sen um weitere Facetten ergänzt.
Freiheit im Verhältnis zu Wohlergehen In welchem Verhältnis steht Freiheit zu Wohlergehen? Sen sieht einerseits einen positiven Einfluss von Freiheit auf das Wohlergehen: „Suppose I can choose various styles of life – A, B, C and D – and I choose A. Consider now that other styles of life – B, C and D – become unavailable to me, but I can still choose A. It might be said that my standard of living is unchanged, since A is what I would choose anyway. But it is not absurd to argue that there is some loss in my living standard in this reduction of freedom.“ (Sen 1987a, S. 36):
Wenn Freiheit ein intrinsischer Wert – und nicht nur ein instrumenteller Wert – beigemessen wird, dann sollten nicht nur die erreichten Funktionen sondern auch die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten zur Ermittlung des Wohlergehens herangezogen werden (Sen 1992, S. 150). Allerdings lässt Sen ausdrücklich beide Auffassungen von Wohlergehen zu:
4.3 Diskussion
147
„The crucial question here, in the context of well-being, is whether freedom to choose is valued only instrumentally, or is also important in itself. The capability approach is broad enough to permit both the rival – but interrelated – characterizations of well-being, and can be used in either way.“ (Sen 1992a, S. 151)
Andererseits beschränkt sich Sen bei Überlegungen zur Erfassung des Wohlergehens in der Regel auf die Betrachtung der erreichten Funktionen und macht auf einen problematischen Zusammenhang zwischen Funktionen und ihrer Auswahl aus der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten aufmerksam: „It is possible to attach importance to having opportunities that are not taken up. This is a natural direction to go, if the process through which outcomes are generated has significance of ist own. Indeed, ,choosing‘ itself can be seen as a valuable functioning, ...“ (Sen 1999a, S. 76)
Sein Wunsch, Freiheit als Prozess zu konzipieren, und zugleich den Ergebnissen des Prozesses Beachtung zu schenken, wird zu einem Problem, da man nicht mehr unterscheiden kann zwischen Prozess und Ergebnis, zwischen der Auswahl gewisser Funktionen – der Auswahl einer Verwirklichungsmöglichkeit – und den Funktionen selbst. Sen ist sich dieses Problems bewusst: „On this line of reasoning, the extent of the capability set is relevant to the significance and value of the respective functionings. This might look like introducing a circularity in the relationship between functionings and capabilities, and between well-being and well-being freedom. But what it, in fact, does is to force us to see these concepts as mutually dependent, taking note of the simultaneity in the relationships involved.“ (Sen 1985b, S. 202)
Diese Wechselbeziehung zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten führt dazu, dass Sens Konzept zwischen beidem nicht genau trennen kann. Dies gilt umso mehr, als dass beide den gleichen Bewertungsraum zugrunde legen: „Note that while it is an important issue as to whether to concentrate on capability to function or on achieved functionings, it must be remembered that both are defined in the same space, namely, the space of functionings ...“ (Sen 1993c, S. 442)
Sen sieht die Wechselbeziehung zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten als Bestandteil der „konstitutiven Pluralität“134 seines Ansatzes und urteilt: „The formal problems of characterisation, while interesting, are perhaps not ultimately very important, and what is really significant in all this is to accept the legitimacy of certain freedom-type considerations as part of the conditions of life.“ (Sen 1987a, S. 37)
___________ 134 Siehe zu diesem Begriff ausführlich Sen (1987a, 1. Teil). Vgl. auch Sen (1999a, S. 76f).
148
4. Der Ansatz von Sen
Zum Unterschied zwischen „Funktionen“ und „Verwirklichungsmöglichkeiten“ Das angesprochene Problem, dass Sen den Begriff „Verwirklichungsmöglichkeit“ nicht immer eindeutig verwendet, wird verstärkt durch seinen spielerischen Umgang mit der Sprache. Er definiert eine Verwirklichungsmöglichkeit – wie oben ausgeführt – als einen Punkt im mehrdimensionalen Raum der Funktionen (s. o.), nämlich als Bündel von Funktionen. Eine Funktion sieht er somit als eine Dimension an. Gleichzeitig spricht er jedoch auch von „capability to function“ (z. B. in Sen 1992a, S. 111) und bezeichnet damit das Potential eines Individuums, eine Funktion auszuüben, und nicht eine Möglichkeit, die aus einer Kombination vieler Funktionen besteht. Sen tut dies auch in Bezug auf bestimmte Funktionen, so spricht er (Sen 1987a, S. 17) einerseits von „the ... capability of being able to appear in public without shame“ und andererseits von „such functionings as not being ashamed to appear in public“. Hier verwendet er den Begriff der Verwirklichungsmöglichkeiten also als Dimensionsbezeichnung. Insbesondere, wenn er mit Hilfe seines Ansatzes Armut erfassen möchte, benutzt Sen den Begriff „Verwirklichungsmöglichkeit“ als Bezeichnung für Dimensionen. (Eine wichtige Ausnahme ist Sen (1996, S. 118f), wo er betont: „functioning is only a dimension“.) Hierbei spricht er von „grundlegenden“ oder „minimalen“ Verwirklichungsmöglichkeiten (basic/minimal capabilities)135 und zählt als Beispiele Tätigkeiten oder Zustände auf, die er an anderer Stelle als Beispiele für „Funktionen“ anführt. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass Sen (1980a) zunächst nur den Begriff der „Verwirklichungsmöglichkeiten“ und nicht den der „Funktionen“ einführte. Mit „Funktionen“ bezeichnet er erst in „Commodities and Capabilities“ (1985a) das, was ein Individuum zu tun oder zu sein erreicht hat oder erreichen kann, um davon die Menge der erreichbaren Möglichkeiten – die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten abzugrenzen. Leider behält Sen die Zweideutigkeit bei der Verwendung des Begriffs „Verwirklichungsmöglichkeit“ jedoch auch danach noch bei, so dass er bestimmten Fehldeutungen seines Ansatzes Tür und Tor öffnet. Tatsächlich verwendet Nussbaum, die als ___________ 135 Vgl. Sen (1980a, S. 367f, 1987a, S. 17f, 1992a, S. 111f). Anders jedoch in Sen (1999a, S. 87ff). Robeyns (2000, S. 8f) setzt sich mit der Verwirrung um den Begriff der grundlegenden Verwirklichungsmöglichkeiten (basic capabilities) auseinander und stellt die These auf, sie gehörten einer Untermenge der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten an. Diese These ist nicht vereinbar mit der hier vertretenen Auffassung, dass Verwirklichungsmöglichkeiten immer als Bündel von Funktionen verstanden werden sollten. Verwirrend ist ferner, dass Nussbaum ebenfalls von „basic capabilities“ spricht, aber etwas vollkommen anderes meint (s. S. 157, vgl. die Fußnote 19 in Sen 1992a, S. 45).
4.3 Diskussion
149
zweite wichtige Vertreterin des Ansatzes gilt, den Begriff „capability“ immer im Sinne einer Dimensionsbezeichnung (s. S. 156f), so dass die Struktur des Ansatzes stark vereinfacht wird.
Wohlergehen, Freiheit und Interessenvertretung Statt die Frage, in welchem Maße Freiheit zum Wohlergehen beiträgt, zu beantworten, führt Sen die Unterscheidung zwischen Wohlergehen und Freiheit zu Wohlergehen ein, wobei er Wohlergehen am besten durch die erreichten Funktionen abgebildet sieht und die Freiheit zu Wohlergehen durch die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten (s. o.). In diesem Sinne blendet er die Frage nach dem Zusammenhang zwischen beidem aus. Dieses Vorgehen findet die Zustimmung von Basu, der es folgendermaßen rechtfertigt: „My own inclination would be to go along with Sen and evaluate well-being on the basis of functionings, but be content with achievements, instead of capabilities. ... There are two reasons why freedom is important: (i) for what it allows us to achieve and (ii) for its own sake. By ignoring capability sets we miss out on (ii) but not on (i).“ (Basu 1987a, S. 75)
Freiheit erschöpft sich aber nach Sens Vorstellung nicht in der Freiheit zu Wohlergehen. Er führt noch eine weitere Unterscheidung ein, nämlich die zwischen der Freiheit zur Interessenvertretung (agency136 freedom) und der Freiheit zu Wohlergehen (well-being freedom): „The former is one’s freedom to bring about the achievements one values and which one attempts to produce, while the latter is one’s freedom to achieve those things that are constitutive of one’s well-being. It is the latter that is best reflected by a persons capability set, ..., while the former – agency freedom – would have to be seen in broader terms, including aspects of states of affairs that relate to one’s agency objective (whether or not they directly contribute to one’s well-being).“ (Sen 1992a, S. 57)
Freiheit zur Interessenvertretung ist also ein breiteres Konzept als Freiheit zu Wohlergehen, das Sen einführt, weil er die Tatsache berücksichtigen möchte, dass Menschen nicht nur durch ihr Interesse am eigenen Wohlergehen zu Handlungen motiviert werden (wie in der Wirtschaftstheorie gerne unterstellt), sondern auch aus anderen Gründen, die nicht einfach als Eigeninteresse dargestellt werden können.137 Doch auch wenn Freiheit zu Interessenvertretung ein ___________ 136 Dieser Begriff wird teilweise auch mit „Selbstbestimmung“ übersetzt (z. B. in Sen 2000b, der Übersetzung von Sen 1999a), doch da es sich um die Wahrnehmung von Interessen im weitesten Sinne geht, verwende ich hier die Übersetzung „Interessenvertretung“. 137 Mit der Rolle des Eigeninteresses in der ökonomischen Theorie befasst sich Sen (1987b). Vgl dazu auch seine Unterscheidung zwischen „sympathy“ und „commitment“ in „Rational Fools“ (1977b), auf die er in „The Standard of Living“ (1987a) zurückgreift.
4. Der Ansatz von Sen
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breiteres Konzept ist, kann Freiheit zu Wohlergehen nicht einfach darunter subsumiert werden (Sen, 1985b, S. 207), denn es kann zwischen beiden Freiheiten Konflikte geben (Beispiele dazu sind in Sen 1985b und 1992a zu finden). Insgesamt hat Sen somit vier Kategorien geschaffen: (1) erreichtes Wohlergehen, (2) Freiheit zu Wohlergehen, (3) Erfolge in der Interessenvertretung und (4) Freiheit zur Interessenvertretung. Die Unterschiede sind ihm wichtig, um der Vielfältigkeit des menschlichen Lebens (konstitutive Pluralität, s. o.) gerecht zu werden, gleichzeitig macht er auf die Gemeinsamkeiten der Konzepte für Wohlergehen und Interessenvertretung aufmerksam, die nicht nur dieselbe Struktur aufweisen (Freiheit zu – und tatsächliche Erfolge), sondern gemeinsam den Menschen als Handelnden darstellen: „While both well-being and agency are active concepts since both involve various functionings ..., and the distinction between these two aspects does not correspond to that between a ,patient‘ and an ,agent‘, the agency aspect pays more complete attention to the person as a doer.“ (Sen 1987b, S. 59)
4.3.2 Freiheit und Menschenbild Wie gesagt, ist insbesondere der Freiheitsbegriff von Sen diskutiert worden. Hier werden einige Diskussionslinien nachgezeichnet, die einen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Freiheit und einem Menschenbild herstellen. Sen möchte seinen Ansatz nicht mit einem bestimmten Menschenbild verbunden wissen, aber ist diese von ihm als „Pluralismus“ bezeichnete Ansicht vereinbar mit seinem Freiheitsbegriff?
Der Mensch als Handelnder Der letztgenannte Aspekt des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten, dass eine Person immer auch als Handlungsträger gesehen wird, hat Sen den Vorwurf eingebracht, sein Konzept sei zu „athletisch“: „What I cannot accept is the associated athleticism, which comes when Sen adds that ,the central feature of well-being is the ability to achieve valuable functionings‘ (Sen, 1985b, S. 200). That overestimates the place of freedom and activity in well-being.“ (Cohen, 1993, S. 25)
Pettit verteidigt Sens Position folgendermaßen: „In making this charge Cohen is guilty, I believe, of a double failure. His first is a misinterpretation: he mistakenly takes Sen to value capability because of valuing active, athletic choice. And the second is an oversight: he fails to notice the true reason why capability in the non-athletic sense intended by Sen should be found attractive.“ (Pettit 2001, S. 15)
4.3 Diskussion
151
Im Zusammenhang mit dem ersten Punkt, der fehlerhaften Interpretation Sens durch Cohen, erinnert Pettit daran, dass Sen indirekte Freiheit ausdrücklich einbeziehen will, d. h. die Möglichkeit, dass durch die Handlungen und Entscheidungen anderer Verwirklichungsmöglichkeiten entstehen. Cohen (1993, S. 20) selbst hat das Beispiel von Babys gebracht, die wohlgenährt und warm gekleidet sind, ohne dass sie selbst eine Entscheidung getroffen hätten oder gehandelt haben. Sie genießen diese Funktionen aufgrund der Entscheidungen und Handlungen ihrer Eltern. Sen (1993b, S. 43) erwähnt dieses Beispiel, um zu zeigen, dass man nicht sonderlich aktiv sein muss, um Funktionen zu erreichen. Dabei geht er allerdings nicht auf den Zusammenhang zwischen Verwirklichungsmöglichkeiten und Funktionen ein. Pettit hingegen geht auf den Zusammenhang ein und argumentiert, dass es nicht darauf ankomme, aktiv zu entscheiden, sondern darauf, dass die Präferenzen entscheidend sind (decisive preference). Als entscheidende Präferenzen interpretiert Pettit – ganz im Sinne von Sens hypothetischen Entscheidungen (vgl. Fußnote 133 und S. 154f) – auch solche, von denen angenommen werden kann, dass die meisten Menschen sie haben (common avowable interest, Pettit 2001, S. 15). Als zweiten Punkt führt Pettit zur Verteidigung Sens gegen den Vorwurf des „Athletizismus“ an, dass Cohen die politische Bedeutung der Konzeption übersehen habe: Bürger bestimmen die Politik nicht nur durch die Wahlen mit, sondern auch indirekt. Diesen politischen Aspekt seiner Konzeption spricht Sen in folgendem Zitat an: „Central to this approach is the idea of the public as an active participant in change, rather than as a passive and docile recipient of instructions or of dispensed assistance.“ (Sen 1999a, S. 281)
Aber diese aktive Teilnahme der Öffentlichkeit an Veränderungen muss nicht die Form einer systematischen Ausübung von Wahlen haben, wie Pettit (2001, S. 16) anmerkt, sondern entspricht eher einer passiven Machtausübung (passive empowerment). Pettit gibt einige Beispiele für passive Machtausübung an, aber es ist Sen selbst, der die Bedeutung der Konzeption des Menschen als Handelndem für die Politik deutlich macht: „... the need [is] emphasized throughout this work, to see people – even beneficiaries – as agents rather than as motionless patients. The objects of ,targeting‘ are active themselves, and their activities can make the targeting-achievements quite different from targeting-attempts ...“ (Sen 1999a, S. 137)
Durch derartige Mechanismen werden Politiker dazu gebracht, hypothetische Fragen zu stellen und entsprechend den hypothetischen Antworten zu handeln und so den Menschen die effektive Freiheit zu gewähren, dass ihre Präferenzen durchgesetzt werden.
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4. Der Ansatz von Sen
Präferenzen als Grundlage Zwar kann man Sen, der so vehement dafür plädiert, auch indirekte Freiheit als Freiheit zu begreifen, schwerlich vorwerfen, er verlange von den Individuen die ständige Bereitschaft, in einem athletischen Ausmaß Entscheidungen zu treffen, dennoch verweist der Vorwurf Cohens auf ein tiefer liegendes Problem: Sen spricht immer wieder davon, dass das Individuum aus der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten eine, nämlich jene, die aus den erreichten Funktionen besteht, auswählt, aber er sagt sehr wenig darüber aus, wie die Auswahl vonstatten geht oder wodurch sie gekennzeichnet ist. Dass Auswählen selbst als Funktion betrachtet werden kann, ist Sen (1988, 1999a, S. 76) klar, allerdings klärt er nicht auf, wie diese Funktion erreicht werden kann, wenn er sie gleichzeitig voraussetzt. Ihm ist bewusst, dass er sehr stark auf die Fähigkeit der Menschen vertraut, auswählen zu können: „Indeed, the overdependence on what people ,manage to desire‘ is one of the limiting aspects of utilitarian ethics, which is particularly neglectful of the claims of those who are too subdued or broken to have the courage to desire much. It would be particularly unfortunate to err in the same way in the capability accounting. There is, however, no need to err in that way, since the capabilities to be accounted are those that people actually have (and not those that they could have had if they were less influenced by ,social discipline‘). This question is of particular importance in dealing with entrenched inequalities that are supported by the victims’ conditioned acceptance of comparative deprivation (e.g. women’s acceptance of subjugated roles in traditional social arrangements).“ (Sen 1992a, S. 149f)
Die Lösung, die er hier anbietet, ist eine Scheinlösung, denn er tut so, als sei es offensichtlich, wie groß die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ist und welche Verwirklichungsmöglichkeiten tatsächlich darin enthalten sind. In der gleichen Weise hält er es für offensichtlich, dass es die „soziale Disziplin“ ist, welche die Wahrnehmung der Witwen bezüglich ihrer eigenen Gesundheit in folgendem Beispiel verzerrt: „In 1944 – the year of the Great Bengal Famine – a survey was carried out by the All-India Institute of Hygiene and Public Health in Singur, near Calcutta.138 Among the categories of people surveyed in this immediate post-famine year there were many widows and widowers. I should add that the condition of women in India outside elite groups – and of widows in particular – is generally recognised to be nothing short of scandalous, and the position of women in terms of nutrition tends to be particularly bad. But how did the different groups respond to the questionnaire? As many as 48.5 per cent of widowers – men that is – confided that they were ,ill‘ or in ,indifferent‘ health. The proportion of widows, on the other hand in that dual category was just 2.5 per cent. The picture becomes even more interesting if we look at the answers to the question as to whether one was in indifferent health, leaving out the question about definitely ill, for which of course there are more objective stan-
___________ 138 Vgl. R. B. Lal und S. C. Seal: General Health Survey, Singur Health Centre, 1944, in: All-India Institute of Hygiene and Public Health, Calcutta, 1949.
4.3 Diskussion
153
dards. In the more subjective category of being in ,indifferent‘ health, we find 45.6 per cent of the widowers. And what about the widows? It is reported the answer is 0 per cent!“ (Sen, 19841984a, S. 309)
Dabei stellt sich gerade hier die Frage, woran man erkennt, ob es sich um eine „wahre“ Antwort handelt oder eine, die von „sozialer Disziplin“ geprägt ist. Woran erkennt man, welche Verwirklichungsmöglichkeiten einer Person zur Verfügung stehen und welche nicht? Woran erkennt man, dass die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten mehr als ein Element enthält? Und es stellt sich auch die Frage: Wer hat diese Fragen zu entscheiden? Es liegt ein gewisser Widerspruch darin, dass Sen einerseits den Utilitarismus anprangert, weil er sich auf die Wünsche der Menschen bezieht, welche vielen Einflüssen unterliegen, andererseits aber vehement Präferenzen als Grundlage zur Beurteilung von Freiheit verteidigt: „The evaluation of the freedom I enjoy from a certain menu must depend to a crucial extent on how I value the elements included in that menu. Any plausible axiomatic structure in the comparison of the extent of freedom would have to take some note of the person’s preferences.“ (Sen 1991, S. 22)
Wie sehen die Präferenzen der Witwen aus Sens Beispiel aus? Wie lassen sie sich ermitteln, wenn nicht durch eine Befragung? Auch wenn Sen in dem eben zitierten Text davon ausgeht, dass die Präferenzen bekannt sind, muss er sich m. E. fragen lassen, wie sein Freiheitskonzept anzuwenden ist, wenn es sich auf etwas stützt, das schwer zu ermitteln ist und dessen Anfälligkeit für Einflüsse z. B. von „sozialer Disziplin“ er selbst hervorhebt. Elster (1982) hat sich mit adaptiven Präferenzen befasst und sie von gesellschaftlich manipulierten Präferenzen sowie anders verursachten Veränderungen von Präferenzen unterschieden. Er macht auch darauf aufmerksam, wie schwierig es daher ist, Freiheit zu definieren als die Freiheit, das zu tun, was man (autonom) tun möchte: „If this definition of freedom is to be of real value, we need a criterion for autonomous wants. This I cannot provide. I can enumerate a large number of mechanisms that shape our wants in a non-autonomous way, but I cannot say with any confidence whatsoever that the wants that are not shaped in any of these way are ipso facto autonomous.“ (Elster 1982, S.228):
Insofern bieten die Unterscheidungen, die Elster herausarbeitet, keine Grundlage, um „wahre“ Präferenzen von „falschen“ zu unterscheiden. Erst recht bieten sie keine Grundlage, um die „tatsächliche“ Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten von jener zu unterscheiden, die einem Individuum zur Verfügung stände, wäre es nicht so von sozialer Disziplin beeinflusst, denn Elster schlägt ein Bedingung für die Autonomie von Präferenzen vor, die wiederum von der Menge der zur Wahl stehenden Möglichkeiten abhängt.
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4. Der Ansatz von Sen
Positive Freiheiten und hypothetische Entscheidungen Besonders deutlich tritt die Schwachstelle seiner Argumentation hervor, wenn Sen von der Bedeutung hypothetischer Entscheidungen spricht. Sie sind es, die seinen Ausführungen zu Folge rechtfertigen, auch dann von „Freiheit“ zu sprechen, wenn die Person selbst weder ihre Freiheit durchsetzt noch sie kontrolliert. Pettit übersetzt „effektive Freiheit“ wie gesagt mit „Präferenzen, die entscheidend sind,“ (decisive preference) und zeigt damit auf, dass sich Sen auch hierbei auf Präferenzen bezieht. Es ist jedoch zu fragen, ob Sen (und Pettit) damit nicht einer Argumentation anheimgefallen ist, die Berlin folgendermaßen beschreibt: „The perils of using organic metaphors to justify the coercion of some men by others in order to raise them to a ,higher‘ level of freedom have often been pointed out. But what gives such plausibility as it has to this kind of language is that we recognise that it is possible, and at times justifiable, to coerce men in the name of some goal (let us say justice or public health) which they would, if they were more enlightened, themselves pursue, but do not, because they are blind or ignorant or corrupt. This renders it easy for me to conceive of myself as coercing others for their own sake, in their, not in my interest.“ (Berlin 1958, S. 132f)
Der Vorwurf, anderen im Namen des Guten seine eigene Auffassung aufzuzwingen, lässt sich auch Sen machen, sowohl wenn er beim Beispiel der Selbstwahrnehmung der Witwen meint, sie könnten ihre eigene Gesundheit nicht einschätzen, als auch wenn er die These aufstellt, es entspräche den Präferenzen der meisten Menschen, in einer Malaria-freien Welt zu leben. Tatsächlich entsprechen die einzigen Kriterien, die er angibt, wann jemand seinen eigenen Willen ausdrückt, ganz dem, was Berlin beschreibt: „In dealing with responsible adults, it is more appropriate to see the claims of individuals on the society ... in terms of freedom to achieve rather than actual achievements.“ (Sen, 1992a, S. 148) „In fact, the case for concentrating on freedoms to achieve as opposed to actual achievements depends quite heavily on the knowledge and the ability of the persons to understand and intelligently choose from alternatives they really do have.“ (Sen, 1992a, S. 149)
Wenn eine Person erwachsen ist und verantwortungsbewusst, wenn sie über ein gewisses Wissen und die Fähigkeit, intelligent zu wählen, verfügt, dann sollte man ihre Freiheit zu Wohlergehen betrachten und nicht das Wohlergehen selbst. Doch wer soll beurteilen, ob ein Mensch erwachsen und verantwortungsbewusst ist? Wer entscheidet, ob jemand über das Wissen und die Fähigkeit, sich zu entscheiden verfügt? Ist es Sen, der „aufgeklärter“ (more enlightened) in Berlins Sinne ist? Die Grundlage eines jeden Freiheitsbegriffes ist ein Verständnis vom Wesen des Menschen, schreibt Berlin:
4.3 Diskussion
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„This demonstrates ... that conceptions of freedom directly derive from views of what constitutes a self, a person, a man. Enough manipulation with the definition of man, and freedom can be made to mean whatever the manipulator wishes.“ (Berlin 1958, S. 134)
Um seinen Freiheitsbegriff zu untermauern und seine Grundüberzeugungen offen zu legen, wäre es daher hilfreich, wenn Sen explizit sein Bild vom Menschen zeichnete. Genau dies tut Nussbaum in ihrer Version des „Capability“-Ansatzes.
4.3.3 Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz Neben Sen ist Nussbaum die wichtigste Vertreterin des „Capability“Ansatzes. Im Folgenden werden kurz ihre Motivation und die zentralen Begriffe sowie die Struktur ihrer Variante des Ansatzes vorgestellt.
Ausgangspunkt Während Sen seine Theorie aus der Kritik am Utilitarismus, an Rawls’ und Nozicks und den Theorien anderer entwickelt, ist Nussbaums Ausgangspunkt ein anderer: Sie greift die Theorie von Sen auf und versucht nachzuweisen, dass sie viele Gemeinsamkeiten mit der (ethischen) Theorie von Aristoteles hat. Daher nähert sich Nussbaum den Begriffen „Funktionen“ und „Fähigkeiten“ – wie der Begriff „capabilities“ bei ihr treffend übersetzt werden kann (s. S. 126, Fußnote 116) – anders als Sen: Während Sen Funktionen zwischen Gütern, die zur Ausführung von Funktionen nötig sind, einerseits und Nutzen, der aus den Funktionen resultiert, andererseits ansiedelt, definiert Nussbaum Funktionen als die Tätigkeiten und Zustände, die das Leben eines Menschen im Gegensatz zum Leben von Tieren einerseits und dem Leben von Göttern andererseits kennzeichnen. Es sind Fähigkeiten, die den Menschen von Tieren abheben, und Grenzen, die ihn von Göttern unterscheiden. In der Tradition der Griechen zu Aristoteles Zeit leitet Nussbaum (1990, 1995a) aus den Erzählungen verschiedenster Kulturen über die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren bzw. Göttern, sowie aus den Erzählungen darüber, woran sich Menschen verschiedener Ethnien als Menschen erkennen, eine Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten her. Zugleich ist auch ihre Zielrichtung eine andere, in gewissem Sinne weitergehende als bei Sen. Sen sucht eine Bewertungsgrundlage für die Einschätzung des Wohlergehens der Menschen und stellt die Definition und Messung des Wohlergehens (und der Freiheit) in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Dabei ist ihm bewusst, dass die Messung des Wohlergehens die Grundlage für politische Überlegungen und Maßnahmen ist, an manchen Stellen preist er zwar die
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4. Der Ansatz von Sen
Vorzüge von Verwirklichungsmöglichkeiten als Maßstab für die Politik an, doch insgesamt ist er mit Politikempfehlungen sehr zurückhaltend. Nussbaum hingegen macht schon in den Titeln ihrer Aufsätze deutlich, dass es ihr um eine normative politische Konzeption geht: „Nature, Function, and Capability: Aristotle on Political Distribution“ (1988), „Aristotelian Social Democracy“ (1990) und „Human Functioning and Social Justice“ (1992). Sie geht wesentlich weiter als Sen darin, aus dem „Capability“-Ansatz konkrete politische Standpunkte abzuleiten. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht dabei das Menschenbild, das sie versucht, möglichst genau in einer Liste zentraler Funktionen bzw. Fähigkeiten zu umreißen. Aufgabe der Politik ist es, jedem Menschen die Möglichkeit zu geben, diese zentralen funktionalen Fähigkeiten auszuüben und ein in diesem Sinne menschliches Leben zu führen.
Fähigkeiten und Funktionen Wie oben bereits angesprochen bezeichnet „Fähigkeit“ bei Nussbaum eine Dimension. Für sie gibt eine Fähigkeit an, inwiefern ein Individuum in der Lage ist, die betreffende Funktion, auf die sie sich bezieht, auszuüben (capability to function).139 Die Fähigkeit ist das Potential eines Individuums für eine bestimmte Funktion, welches das Individuum ausschöpfen kann aber nicht muss. „Funktion“ hingegen bezeichnet bei Nussbaum das Ausmaß, in dem eine Fähigkeit verwirklicht wurde.140 Um deutlich zu machen, dass sie niemandem eine bestimmte Lebensweise vorschreiben will, nennt Nussbaum daher die Elemente der Liste „zentrale menschliche funktionale Fähigkeiten“: „We shall actually introduce the list as a list of related capabilities, rather than actual functionings, since we have argued that it is capabilities, not actual functionings, that should be in the legislator’s goal.“ (Nussbaum 1990, S. 224)
Die Liste (s. S. 181ff) sieht Nussbaum als einen Entwurf an, über den öffentlich diskutiert werden sollte und der Veränderungen erfahren kann und bereits erfahren hat (Nussbaum 1990, S. 219). Daher ist die Liste immer nur als aktuelle Version zu verstehen. Unter den zentralen Funktionen nehmen zwei nach Nussbaum eine Sonderstellung ein: die praktische Vernunft (practical reason) und das Gemeinschaftsgefühl (affiliation). Nussbaum bezeichnet diese beiden Funktionen als „archi___________ 139 Sämtliche Übersetzungen von Nussbaum ins Deutsche (Nusssbaum 1999, 2002b) verwenden den Begriff „Fähigkeit“ als Übersetzung für „capability“, was meines Erachtens für ihre Version des Ansatzes eine gute Übersetzung ist, vgl. Fußnote 115. 140 In ähnlicher Weise scheint die Übersetzerin von „The Standard of Living“ (Sen 1987a) den Begriff „functioning“ zu verstehen, wenn sie ihn mit „tatsächlicher Möglichkeit“ übersetzt, vgl. Sen (2000a).
4.3 Diskussion
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tektonische Funktionen“. Sie durchdringen die anderen Funktionen und geben ihnen eine menschliche Note: „What is distinctive ... about the human way of doing this is that all these functionings are, first of all, planned and organised by practical reason, and, second, done with and to others.“ (Nussbaum 1990, S. 226)
Interne, kombinierte und grundlegende Fähigkeiten Jede einzelne Fähigkeit kann nach Nussbaum in drei Formen auftreten: als interne, kombinierte oder grundlegende Fähigkeit. Interne Fähigkeiten definiert sie folgendermaßen: „A person is I-capable of function A at time t if and only if the person is so organized at t that, should the appropriate circumstances present themselves, the person can choose an A-action.“ (Nussbaum, 1988, S.160)
Während die interne Fähigkeit angibt, inwieweit eine Person fähig ist, eine Funktion zu verwirklichen, geht die kombinierte (oder externe141) Fähigkeit darauf ein, ob der Person auch die Möglichkeit gegeben wird, die Funktion zu verwirklichen: „A person is E-capable of function A at time t, if and only if at t the person is – capable of A and there are no circumstances present that impede or prevent the exercise of A.“ (Nussbaum, 1988, S. 164)
Hier muss also eine Kombination von (interner) Fähigkeit und (externer) Möglichkeit gegeben sein. Interessant ist, dass Nussbaum explizit einen Zeitbezug herstellt und mithin auf die Entwicklung von Fähigkeiten verweist. Die grundlegende Fähigkeit hingegen ist eine Grundvoraussetzung für das (spätere) Zustandekommen von internen bzw. kombinierten Fähigkeiten: „A person is B-capable of function A if and only if the person has an individual constitution organized so as to A, given the provision of suitable training, time, and other instrumental necessary conditions.“ (Nussbaum, 1988, S. 166)
Grundlegende Fähigkeiten142 sind also bei Nussbaum Veranlagungen oder Talente, die erst noch entwickelt werden müssen. Sie entsprechen dem, was umgangssprachlich als „schlummernde Talente“ bezeichnet wird.
___________ 141
Zunächst bezeichnet Nussbaum sie als „externe“ Fähigkeiten, meint später jedoch, dass der Begriff „kombinierte“ Fähigkeit zutreffender ist, vgl. Nussbaum (2000, S. 84). 142 Nussbaum verwendet wie Sen den Ausdruck „basic capability“, meint jedoch nicht solche Verwirklichungsmöglichkeiten, die minimal gewährleistet werden sollten, sondern die vorhandenen Grundvoraussetzungen für das Erlernen bestimmter Fähigkeiten („capabilities“).
4. Der Ansatz von Sen
158
4.3.4 Gegenüberstellung der Ansätze von Sen und Nussbaum Dass zwischen den Ansätzen von Sen und Nussbaum meist nicht unterschieden wird, liegt vor allem am Gebrauch des Begriffs „Capabilities“. Daneben gibt es weitere Gemeinsamkeiten. Den wichtigsten Unterschied zwischen beiden Ansätzen – dass sie nämlich den Begriff „Capabilities“ mit je anderer Bedeutung versehen – haben Sen und Nussbaum nicht diskutiert. Stattdessen haben sie eine Auseinandersetzung über die Bedeutung von Unvollständigkeit und Pluralität in ihren Ansätzen geführt, während derer sie m. E. öfter aneinander vorbei geredet haben. Daher nimmt die Darstellung dieser Auseinandersetzung einigen Raum ein.
Gemeinsamkeiten Sen und Nussbaum kennen sich persönlich und haben eine Zeitlang gemeinsam bei WIDER (World Institute of Development Economics Research) gearbeitet. Gemeinsam haben sie den Aufsatz „Internal Criticism and Indian Rationalist Theories“ (1989) geschrieben und das Buch „The Quality of Life“ (1993) herausgegeben. In dem Aufsatz wenden sie sich gegen die Ansicht, dass Indiens Kultur nur auf Religion und Mythen basiere und Rationalität ihren Ursprung „im Westen“ habe. Sie wenden sich mithin gegen den Kulturrelativismus, der besagt, dass jede Kultur nur an den „eigenen“ Werten zu messen sei und universalistische Werte ablehnt.143 In „The Quality of Life“ sind Arbeiten zusammengefasst, die sich mit dem „Capability“-Ansatz und seiner Anwendung befassen. Dort hat sich Sen kritisch zu Nussbaums Version geäußert, aber es wird dort auch deutlich, dass ihr gemeinsames Interesse den Entwicklungsländern und der Position von Frauen gilt. Beide sprechen ferner immer wieder von der bedeutenden Rolle und Notwendigkeit von öffentlichen Diskussionen und der Möglichkeit politischer Partizipation.144 Sie sind optimistisch, dass in gewissem Rahmen Einigkeit über die Beschaffenheit von Wohlergehen erzielt werden kann, und sie vertrauen hierbei auf die Fähigkeit des Menschen, Mitmenschen als solche zu erkennen und zu verstehen.145 Letztendlich haben sie ein ähnliches Verständnis von ___________ 143
Diese Ideen führen sie auch in späteren Schriften aus: insb. Nussbaum (1993, 2002a, b) und Sen (1999a, Kap. 10). 144 Vgl. Nussbaum (1988, S. 163, 1990, S. 237) und Sen (1999a, Kap. 6). Zudem ist Sens (z. B. 1992a, S. 46, s. S. 177) Eintreten für die Methode der stochastischen Dominanz (siehe Abschnitt 2.4) auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass er die Übereinkunft über die zugrunde liegenden Dimensionen als ersten Schritt auf dem Weg zu einer vollständigen Ordnung auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Übereinkunft ansieht. 145 Nussbaum (1990, S. 218, 1992, S. 215, 2000, S. 70ff) leitet auf dieser Grundlage ihre Liste mit zentralen Funktionen ab; Sen (2001b) führt diesen Grund an, wenn er sich
4.3 Diskussion
159
Objektivität, wenn Nussbaum ihre Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten als „objektiv“ bezeichnet, weil sie auf öffentlicher Diskussion beruht und auf der eben genannten Fähigkeit des Menschen, einen anderen Menschen als solchen zu erkennen, und wenn Sen (2001b) das Konzept des „unparteiischen Beobachters“ von Adam Smith der Vertragstheorie Rawls’ vorzieht, weil der unparteiische Beobachter persönliches Desinteresse und Verständnis für andere miteinander kombiniert. Schließlich sind Nussbaum (2000, S. 96ff) und Sen (1982c, 1984a, 1999a, Kap. 10) davon überzeugt, dass Menschenrechte am besten in Bezug auf Verwirklichungsmöglichkeiten bzw. Fähigkeiten formuliert werden können. Es sind Rechte nicht im Sinne einer Vereinbarung zwischen zwei Parteien, die mit Pflichten verbunden sind, sondern im Sinne von positiven Freiheiten (Sen 1982c, S. 16). Es sind Rechte, die erst dann so zu nennen sind, wenn sie nicht nur auf dem Papier stehen, sondern effektiv den Menschen frei stehen (Nussbaum 2000, S. 98).
Unterschiede Trotz einiger Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die Versionen des „Capability“-Ansatzes von Sen und Nussbaum deutlich voneinander.146 Einige Unterschiede spricht Nussbaum (2000, S. 11ff) an: Sie erwähnt, dass die Unterscheidung in grundlegende, interne und kombinierte Fähigkeiten von ihr stammt. Allerdings geht weder sie selbst noch Sen darauf ein, dass sie „capability“ anders als Sen immer als Dimensionsbezeichnung verwendet.147 Crocker (1995) und Gasper (1997) nehmen dieses Problem insofern wahr, als dass sie Sens Begriff der Verwirklichungsmöglichkeit interpretieren als eine Menge an Möglichkeiten oder Optionen. Gasper führt dafür den Begriff „O-capability“ (O für opportunity) ein, den er gleichsetzt mit Nussbaums kombinierten Fähigkeiten. Nussbaums interne Fähigkeiten nennt er „S-capability“ (S für skill) und ihre grundlegenden Fähigkeiten nennt er „P-capability“ (P für potential). Die Bezeichnung der Kategorien von Nussbaum durch Gasper wirkt einerseits klärend, weil sie deren Bedeutung besser kennzeichnet, andererseits geben sie ___________ für das Konzept des unparteiischen Beobachters im Gegensatz zu Rawls Vertragstheorie ausspricht. 146 In Crocker (1992, 1995), Gasper (1997) und Sumner (1996) werden die Ansätze verglichen. 147 Es gibt noch weitere Arbeiten zu dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten, die Verwirklichungsmöglichkeit als Dimensionsbezeichnung verstehen, z. B. Hossain (1990). Sen kennt die meisten Arbeiten zu seinem Ansatz und verweist auf sie (bspw. Sen 1999, S. 311) übt jedoch höchstens in direkten Antworten wie in Sen (1987a, 1990, 1994a, 1996, 2001a) Kritik an anderen Ansätzen.
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4. Der Ansatz von Sen
den Entwicklungszusammenhang, den Nussbaum sieht, nicht wieder. Zudem ist nicht klar, ob Gasper die Ansicht vertritt, dass Nussbaums Begriff der kombinierten Fähigkeiten mit Sens Begriff der Verwirklichungsmöglichkeiten übereinstimmt, wie seine Gleichsetzung beider Begriffe mit „O-capability“ nahe legt. Crocker (1995) hingegen stellt beide Begriffe eindeutig nebeneinander: Entweder ist „capability“ als allgemeine Charaktereigenschaft zu konstruieren, wie Nussbaum es tut, oder als Option oder Möglichkeit wie bei Sen: „Hence, for Sen, capabilities are not powers of the person that might or might not be realized in different situations. They are, rather, options (sets of compossible options) for actions. ... These options may refer to but are not identical with traits of a person. Sen, of course, could take personal traits into consideration to specify a person’s capabilities as opportunities. One’s internal powers would be relevant as means that make us free to do or be in certain ways.“ (Crocker 1995, S. 163)
Crocker geht jedoch nicht darauf ein, dass Sen persönliche Eigenschaften in der Menge an persönlichen Technologien (siehe Abschnitt 4.2.2) berücksichtigt und somit als bestimmenden Faktor der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten konzipiert hat. Was an Nussbaums Aufteilung in grundlegende, interne und kombinierte Fähigkeiten überzeugt, ist vor allem der zugrunde liegende Gedanke einer (zeitlichen) Abfolge, die bei Sen fehlt. Fähigkeiten müssen sich entwickeln bzw. entwickelt werden, und sie haben großen Einfluss auf die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten. Z. B. vergrößert die Entscheidung, heute zur Schule zu gehen, meine Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten von morgen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Bedingungen von Nussbaum ausreichend sind, um diesen Zusammenhang zu erfassen, denn schon diese Entscheidung setzt voraus, dass ich die Fähigkeit habe, sie zu treffen. Dieses Problem wurde bereits im Abschnitt 4.2.4 diskutiert. Ein weiterer Unterschied zwischen Sen und Nussbaum besteht in der Bedeutung, die sie Freiheit geben. Während es ein zentrales Anliegen von Sen ist, Freiheit angemessen zu konzipieren, empfindet Nussbaum einige Begriffe, die Sen einführt, als unnötig: „One set of distinctions prominently used by Sen is absent in my own version of the capabilities approach. This is the distinction between well-being and agency, which, together with the distinction between freedom and achievement, structures much of his recent writing about capabilities. I agree with Sen that the concepts introduced by these distinctions are important: but I believe that all the important distinctions can be captured as aspects of the capability/function distinction.“ (Nussbaum, 2000, S. 14)
Die Ansicht Nussbaums, dass die Unterscheidung zwischen Freiheit und Erfolg (freedom and achievement) bereits in der Unterscheidung zwischen Verwirklichungsmöglichkeit und Funktion ausgedrückt ist, lässt sich auf ihr
4.3 Diskussion
161
Verständnis der letztgenannten Begriffe zurückzuführen: Für sie gibt „capability“ die Dimension an, und Funktionen versteht sie durchgehend als verwirklichte Funktionen. Zugleich sieht sie politische Freiheiten offensichtlich als ein davon losgelöstes Konzept an: „Another area of strong agreement is in the important role we both give to the political liberties. ... [I]nsofar as we both argue strenuously that economic needs should not be met by denying liberty, we are in complete agreement.“ (Nussbaum 2000, S. 12)
Die Unterscheidung zwischen Interessenvertretung und Wohlergehen erscheint Nussbaum überflüssig, weil sie betont, dass auch das Streben nach Wohlergehen Handeln des Individuums erfordert. Sen hingegen hat diese Unterscheidung eingeführt, um einerseits das Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften zu erweitern, welches nur das Eigeninteresse als Motivation für Handeln kennt, und andererseits die Reichweite seines Ansatzes zu begrenzen (Sen 1992a, S. 87; siehe auch Abschnitt 4.2.4).
Unvollständigkeit und Pluralität I Der einzige Punkt, über den sich Sen und Nussbaum öffentlich (in Nussbaum 1988, 2000, Sen 1993b ) auseinandergesetzt haben, knüpft an die Kritik an, die unter Abschnitt 4.3.2 bereits ausgeführt wurde: Sens Ansatz mangelt es an einem Menschenbild, das eine Grundlage bilden könnte für seine Forderungen nach positiven Freiheiten. Die Kritik äußert Nussbaum folgendermaßen: „It seems to me, then, that Sen needs to be more radical than he has been so far in his criticism of the utilitarian accounts of well-being, by introducing an objective normative account of human functioning and by describing a procedure of objective evaluation by which functionings can be assessed for their contribution to the good human life.“ (Nussbaum 1988, S. 176)
Das, was ihres Erachtens bei Sen fehlt, nimmt Nussbaum in ihre Version auf: die Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten und eine Beschreibung davon, wie die Liste zustande gekommen ist. Sie ergänzt beides um die Beschreibung eines Projektes zur Alphabetisierung von Frauen in Bangladesch, mit der sie zum einen die Nützlichkeit von universalen Werten belegt und zum anderen zeigt, wie universale Werte regional unterschiedlich umgesetzt werden. Sen fasst die Kritik Nussbaums als eine Kritik an der Unvollständigkeit des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten auf: „I accept that this would indeed be a systematic way of eliminating the incompleteness of the capability approach. ... My difficulty with accepting that as the only route on which to travel arises from the concern that this view of human nature (with a unique list of functionings for a good human life) may be tremendously overspecified, and also from my inclination to argue about the nature and importance of this type of objectivity involved in this approach. But mostly my intransigence arises, in
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4. Der Ansatz von Sen
fact, from the consideration that the use of the capability approach as such does not require taking that route, and the deliberate incompleteness of the capability approach permits other routes to be taken which also have some plausibility.“ (Sen 1993b, S. 47)
Dieser Einschätzung stimmt Qizilbash (1998, S. 57) zu, der schreibt, Nussbaums Version würde den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten so sehr vervollständigen, dass er sich nicht mit dem Geist des Pluralismus vereinen ließe. Allerdings muss man fragen, ob Qizilbash hier nicht Nussbaums Standpunkt mit dem anderer Aristoteliker gleichsetzt.148 Zugleich hält auch Qizilbash es für ein Versäumnis Sens, seine Vorstellung vom „guten Leben“ nicht weiter auszuführen: „This open-endedness in the list is, in certain respects, Sen’s Achilles heel. The reason, broadly, that Sen is in trouble here is that he fails to give any specific account of the good life (well-being etc.).“ (Qizilbash, 1998, S. 54)
Letztendlich geht es hier jedoch um zwei verschiedene Formen der Unvollständigkeit: Zum einen geht es um die Frage der Unvollständigkeit bezüglich der Liste von Dimensionen des Bewertungsraumes und zum anderen um die Vollständigkeit der Ordnung, die auf dem Bewertungsraum generiert wird (s. u.).149 Sen vertritt die Ansicht, dass Funktionen nicht nur als Maßstab zur Bewertung von Wohlergehen taugen, sondern auch für andere Bewertungsaufgaben heranzuziehen sind. Je nach Ziel der Untersuchung muss zunächst bestimmt werden, welche Funktionen wertvoll sind (Sen 1993b, S. 31). Wenn Sen sich dagegen wehrt, Nussbaums Weg der „Vervollständigung“ seines Ansatzes als einzigen, richtigen Weg anzusehen, so wehrt er sich dagegen, dass sie eine einzige, vollständige Liste menschlicher Funktionen vorsieht: „In assessing the standard of living of a person, the objects of value can sensibly be taken to be aspects of the life that he or she succeeds in living. The various ,doings‘ and ,beings‘ a person achieves are thus potentially all relevant to the evaluation of that person’s living standard. But this is, of course, an enormous – possibly infinite list, since a person’s activities and states can be seen in so many different ways ...“ (Sen 1987a, S. 29)
Nach Sen ist es denkbar, dass die Liste von Funktionen unendlich viele Elemente umfasst. Jede Liste, die einer Untersuchung zugrunde gelegt wird, ist somit eine unvollständige Liste und es kann keine vollständige Liste geben. Nussbaum hingegen meint, es gäbe eine vollständige Liste, selbst wenn ihre ___________ 148 Sen (1993b, S. 47) unterscheidet zwischen der allgemeinen Argumentation und der konkreten Ausführung von Aristoteles Vorstellung des Guten. Sumner (1996, S. 79) macht darauf aufmerksam, dass Nussbaum die Aristotelische Form von Perfektionismus teilt, unterscheidet sie jedoch von anderen Aristotelikern. 149 An einigen Stellen macht Sen dieselbe Unterscheidung zwischen der Auswahl einer Bewertungsgrundlage und ihrer Gewichtung (Sen 1992a, S. 42ff, 1993b, S. 32).
4.3 Diskussion
163
Version (noch) nicht dieser vollständigen Liste entspricht. Zudem vertritt sie die Auffassung, dass sämtliche Elemente der Liste in jede Betrachtung des Wohlergehens einfliessen müssen und schließt somit auch aus, dass nur ein – unvollständiger – Teil ihrer vollständigen Liste für eine Untersuchung des Wohlergehens herangezogen wird: „The list is emphatically, a list of separate components. We cannot satisfy the need for one of them by giving a larger amount of another one. All are of central importance and all are distinct in quality. The irreducible plurality of the list limits the trade-offs that it will be reasonable to make, and thus limits the applicability of quantitative cost-benefit analysis.“ (Nussbaum 2000, S. 81)
Unvollständigkeit und Pluralität II Neben der prinzipiellen Überlegung Sens, dass es keine vollständige Liste der Dimensionen des Bewertungsraum gibt und geben kann, tritt er für eine andere Form der Unvollständigkeit ein, nämlich die Unvollständigkeit der Ordnung der Elemente des Bewertungsraumes: „The demand for completeness ... may perhaps be inspired by analogy with utility theory, since so many of the ranking exercises are motivated by it. This analogy may be deceptive. ... [Rankings of freedom] could be misled by expecting the complete orderings that utility theory has typically tended to insist on.“ (Sen 1996, S. 115)
Sen schlägt vor, die Methode der (stochastischen) Dominanz150 anzuwenden, weil bereits durch die Auswahl der relevanten Dimensionen eine – unvollständige – Dominanzordnung impliziert sei, die durch Bestimmung von Gewichten vollständiger gemacht werden könne: „[A] particular selection of value-objects (in this case, the functionings and capabilities that are accepted as valuable) would yield a ,dominance partial order‘ even without specification of relative weights. Having more of each relevant functioning or capability is a clear improvement, and this is decidable without waiting to get agreement on the relative weights to be attached to the different functionings or capabilities.“ (Sen, 1992a, S. 46)
Auch Nussbaum strebt keine vollständige Ordnung an, sondern besteht darauf, dass ihre zentralen funktionalen Fähigkeiten nicht gegeneinander aufgewogen werden dürfen (Nussbaum 2000, S. 81). Daher ist eine Vervollständigung der Ordnung durch Bestimmung von Gewichten für die einzelnen Dimensionen nicht in Einklang mit ihrem Ansatz zu bringen. Nussbaum spricht in diesem Zusammenhang von Pluralismus und meint damit dasselbe wie Sen (1987a, S. 2f) mit „konstitutiver Pluralität“, also ___________ 150 Siehe Abschnitt 2.4 zu stochastischer Dominanz. Hier wird die Methode jedoch nicht auf die Einkommensverteilung sondern auf Bündel von Funktionen angewandt.
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4. Der Ansatz von Sen
Vielfältigkeit innerhalb eines Ansatzes.151 Allerdings lässt sich fragen, ob Nussbaum wirklich Vielfältigkeit zulässt, da die Dimensionen bei ihr prinzipiell nicht aggregiert werden dürfen. Die Auseinandersetzung zwischen Sen und Nussbaum dreht sich im Kern nicht um diese Art von Pluralität und Unvollständigkeit, sondern um die Frage, wann man damit beginnen sollte, Spezifikationen für den Ansatz zu suchen: „It may well be asked: why pause at outlining a general approach, with various bits to be filled in, rather than ,completing the task‘? The motivation underlying the pause relates to the recognition that an agreement on the usability of the capabilityapproach – an agreement on the ,space‘ of value-objects – need not presuppose an agreement on how the valuational exercise may be completed.“ (Sen 1993b, S. 48)
Da Sen zunächst nur eine Einigung über den Bewertungsraum und nicht über das Bewertungsmuster anstrebt, ist sein Eintreten für die Methode der Dominanz folgerichtig. Wenn er über die Einführung von Gewichten nachdenkt, unterstellt er jedoch ein additives Aggregationsverfahren. Während Sen also prinzipiell die Vollständigkeit der zugrunde liegenden Liste mit relevanten Dimensionen ablehnt, lehnt Nussbaum prinzipiell die Vervollständigung der Ordnung von Bündeln in diesen Dimensionen ab. Sen fasst die Kritik Nussbaums leider nur als eine Kritik an der Unvollständigkeit seiner Theorie auf. Auf diese Unvollständigkeit legt er großen Wert und sieht sie als Grundlage an für die Vereinbarkeit seiner Theorie mit verschiedenen „substantiellen Theorien“. Wie Rawls legt er großen Wert darauf, dass jeder selbst eine Theorie des Guten entwickeln kann, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass schon diese Idee einem bestimmten Menschenbild entspricht. Er wünscht sich Zustimmung zum Raum der Funktionen als Bewertungsraum, ohne sich genau festlegen zu wollen, was da bewertet werden soll: das Wohlergehen, die Freiheit dazu, Interessenvertretung, Gerechtigkeit, Gleichheit? Er bietet die komplexe Struktur an mit der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, aus der ein Individuum ein Bündel von Funktionen auswählt, und betont die Bedeutung von Freiheit für Menschen, ohne sein Menschenbild genauer zu umreißen. Wenn Verwirklichungsmöglichkeiten als solche wünschenswert sind, weil ein Individuum dann die Freiheit hat, unter mehreren Bündeln von Funktionen zu entscheiden, dann ist darin die klare Vorstellung enthalten, dass diese Freiheit zum Menschsein gehört, dass sie in gewissem Sinne das Ziel des Menschseins ist. ___________ 151 Im Gegensatz dazu besteht zwischen verschiedenen Ansätzen zur Messung des Wohlergehens eine „kompetitive Pluralität“ (Sen 1987a, S. 2f). Eine interessante Frage an Sen lautet daher, ob zwischen seinem und Nussbaums Ansatz eine „kompetitive Pluralität“ herrscht oder eine „konstitutive Pluralität“ besteht. Vgl. hierzu auch Alkire (2002, S. 8ff), die zwischen Pluralismus und Unvollständigkeit als wichtige Komponenten von Sens Ansatz unterscheidet.
4.3 Diskussion
165
4.3.5 Zusammenfassende Einschätzung Beitz sieht im Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten vor allem eine Möglichkeit zur Definition des Wohlergehens:152 „The capabilities approach is a solution to the problem of finding an adequate basis for interpersonal comparisons, or, in other words, to the problem of defining wellbeing.“ (Beitz 1984, S. 290)
Doch gerade diesbezüglich löst Sen ebenso viele Fragen, wie er aufwirft: Wohlergehen lässt sich messen anhand der erreichten Funktionen, aber die Freiheit dazu, die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, hat einen positiven Einfluss auf das Wohlergehen. Wie die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten zu messen und interpersonell zu vergleichen ist, bleibt eine schwierige, ungelöste Frage. Dennoch ist die Struktur, die Sen seiner Theorie gibt, ihre große Stärke, denn damit positioniert Sen seine Theorie zwischen andere Theorien zur Wohlfahrtsmessung und knüpft an vorhandene Messkonzepte an. Die Struktur seines Ansatzes ist klar, aber komplex. Sie erlaubt durch ihre Komplexität die Untersuchung der Frage, welche Rolle Freiheit bei der Entstehung von Wohlergehen spielt, und weitet den Blick dafür. Gleichzeitig bietet die Struktur verschiedene Ansatzpunkte für eine Operationalisierung. Die Klarheit in der Struktur des Ansatzes wird jedoch getrübt durch Unklarheiten was das Verhältnis von Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten anbelangt. Insbesondere ist eine genaue Analyse des Zusammenhangs von Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten notwendig. Sens Aussage, die scheinbare Zirkularität der Begriffe zeige ihre Gleichzeitigkeit und gegenseitige Abhängigkeit (Sen 1985b, S. 202, s. S. 145), ist nicht befriedigend. Nussbaums Analyse, wie Fähigkeiten entstehen, könnte ein Anfang sein, um zeitliche (und strategische) Zusammenhänge zwischen Funktionen, also der Ausübung von Fähigkeiten, und den Fähigkeiten selbst zu modellieren. Obwohl Nussbaum dieselben Ausdrücke wie Sen verwendet, lässt sich ihre Analyse aber nicht direkt auf den Zusammenhang zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten bei Sen übertragen, weil sie unter „capability“ das erreichbare Niveau in einer Dimension versteht und nicht eine Kombination im Raum der Funktionen. Für die Anwendung der Theorie in der Wohlfahrtsmessung und mehr noch für die Herleitung politischer Handlungsoptionen wird es wichtig sein, das zugrunde liegende Menschenbild offen zu legen und so der öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen. Zu diesem Menschenbild gehört nicht nur eine ___________ 152 Robeyns (2000, S. 3) hingegen vertritt die Auffassung, dies sei die unbedeutendste Aufgabe des Ansatzes von Sen. Sie sieht den Ansatz in erster Linie als Denkgerüst, in zweiter Linie als Kritik an der herkömmlichen Wohlfahrtstheorie und erst in dritter Linie als „eine Formel für interpersonelle Vergleiche“.
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4. Der Ansatz von Sen
Liste zentraler Funktionen, wie Nussbaum sie bietet, sondern auch eine Schilderung des Prozesses, wie Verwirklichungsmöglichkeiten entstehen, oder anders herum gesagt die Benennung von Kriterien, an denen man erkennen kann, ob ein Mensch über effektive Freiheit verfügt. Letzteres läuft freilich darauf hinaus, „wahre“ Präferenzen von sozial konditionierten Präferenzen zu unterscheiden. Soziale Konditionierung lässt die Grenze zwischen Objektivität und Subjektivität verschwimmen.153 Insofern mag die Aufgabe, „wahre“ von sozial konditionierten Präferenzen zu unterscheiden, unlösbar sein, aber sie verleiht der Forderung Nachdruck, das Menschenbild offen zu legen, um wenigstens in diesem Sinne Objektivität zu erreichen.
4.4 Aussagen zu Armut Der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten wird in Zusammenhang mit Armut diskutiert, weshalb er in dieser Arbeit als eine Konzeption multidimensionaler Armutsmessung behandelt wird. In diesem Abschnitt sind alle Aussagen zu Armut, die sich innerhalb des Ansatzes – und jenes von Nussbaum – finden lassen, zusammengestellt. Da ist zuerst Sens Beitrag zur Diskussion mit Townsend um absolute versus relative Armut zu nennen (Abschnitt 4.4.1). Die absolute Auffassung hat innerhalb des Ansatzes neben der relativen Auffassung bestand, wie auch an anderen Stellen ein Dualismus bezüglich der Konzeption von Armut innerhalb des Ansatzes sichtbar ist (Abschnitt 4.4.2). Armut ist laut Sen anhand eines Minimalstandards in wenigen Dimensionen messbar wie Abschnitt 4.4.3 erläutert. Eine besondere Rolle bei der Armutsmessung spielt das Einkommen, weshalb Sen sich ausführlich mit dem wechselseitigen Einfluss von Einkommen und Verwirklichungsmöglichkeiten auseinander setzt (Abschnitt 4.4.4).
4.4.1 Absolute oder relative Armut? In der Armutsmessung existieren zwei konkurrierende Auffassungen über den Charakter der Armut (siehe Abschnitt 2.1). Nachdem Armut zunächst absolut verstanden wurde und anhand einer über einen Warenkorb definierten Armutsgrenze gemessen wurde, setzte sich mehr und mehr die Ansicht durch, dass Armut immer nur relativ zur jeweiligen Gesellschaft gesehen werden ___________ 153
Wie Sumner (1996, S. 163) schreibt, hat das Problem der sozialen Konditionierung dazu geführt, dass einige Philosophen ein „Hybridtheorie“ bevorzugen, die objektive und subjektive Elemente vermischt.
4.4 Aussagen zu Armut
167
kann. Diese Auffassung führte dazu, dass die Armutsgrenze nun in den meisten Studien relativ zur Einkommensverteilung, z. B. bei der Hälfte des Durchschnittseinkommens festgelegt wird. In einer Auseinandersetzung mit Townsend154 hat Sen seine Position im Wettstreit der beiden Auffassungen dargelegt: „There is, I would argue, an irreducible absolutist core in the idea of poverty.“ (Sen, 1983a, S. 332) „The characteristic feature of ,absoluteness‘ is neither constancy over time, nor invariance between different societies, nor concentration merely on food and nutrition. It is an approach of judging a person’s deprivation in absolute terms ..., rather than in purely relative terms vis-à-vis the levels enjoyed by others in the society.“ (Sen, 1985c, S. 673)
Es sind die Fehler der ersten Armutsmessungen, nämlich dass der Warenkorb, welcher der Armutsgrenze zugrunde lag, über lange Jahre beibehalten wurde, dass dieselbe Armutsgrenze für verschiedene Länder herangezogen wurde und dass man sich auf Nahrung konzentriert hat, die von Vertretern der relativen Auffassung gleichgesetzt wurden mit der absoluten Auffassung. Dagegen wehrt sich Sen in obigem Zitat. Für die absolute Auffassung von Armut führt er zwei Argumente an: Erstens müsse man nicht darüber diskutieren, dass ein Mensch, der an Hunger stirbt, arm gewesen sei. Zweitens gebe es Formen von absoluter Benachteiligung, die von der Position des Benachteiligten gegenüber anderen abhängt. Hierzu bringt Sen das Beispiel von Smith, der bemerkt, dass es zu seiner Zeit eines Paares Lederschuhe bedurfte, um sich in der Öffentlichkeit nicht schämen zu müssen, zur Zeit der Römer jedoch andere Kleidung üblich war. In gewissem Sinne bleibt das Bedürfnis155, sich nicht schämen zu müssen, gleich, aber die Dinge, mit denen sich dieses Bedürfnis erfüllen lässt, sind andere geworden. Die Schlussfolgerung daraus ist für Sen, dass man genau auf die Grundlage achten muss, nach der Armut absolut bzw. relativ ist: „The same absolute levels of capabilities may thus have a greater relative need for incomes (and commodities).“ (Sen, 1987a, S. 18)
Als weiteres Beispiel führt Sen an: ___________ 154
Diese Auseinandersetzung ist nachzulesen in Sen (1983a, 1985c) und Townsend (1985). 155 Besonders in den frühen Schriften Sens zum Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten fällt auf, dass er öfter von „Bedürfnissen“ spricht. Mit dem „Basic Needs Approach“ aus der Entwicklungspolitik (Streeten 1981) sympathisiert Sen zunächst, weil darin statt Nutzen und Einkommen die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse (basic needs) als Maßstab zur Ermittlung des Wohlergehens herangezogen wird, kritisiert ihn aber auch, weil s. E. der Übergang auf den Maßstab der grundlegenden Bedürfnisse nicht systematisch fundiert ist. Vgl. dazu Crocker (1992) S. 602ff und (1995) S. 181f.
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4. Der Ansatz von Sen
„[I]n a society in which most families own cars, public transport services might be poor, so that a carless family in such a society might be absolutely poor in a way it might not have been in a poorer society.“ (Sen 1983a, S. 337)
Der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten löst in dieser Form den Gegensatz zwischen absolutem und relativem Verständnis von Armut auf.
4.4.2 Dualismus im Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten Auch wenn der Gegensatz zwischen absolutem und relativem Verständnis von Armut im Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten durch die Zuordnung von absoluter Armut zum Raum der Funktionen und relativer Armut zum Güterraum aufgehoben wird, lebt der Konflikt zwischen beiden innerhalb des Ansatzes weiter. Beitz (1986) macht darauf aufmerksam, dass sich Sens Ansatz relativistisch oder absolutistisch interpretieren lässt. Sen selber schwankt zwischen der Idee, Armut anhand von erreichten und von erreichbaren Funktionen zu messen. Und Nussbaum schlägt direkt zwei Armutsgrenzen vor.
Absolutistische und relativistische Interpretation Sens Es sind sehr unterschiedliche Funktionen, die Sen als wertvoll schildert und nebeneinander stellt: einerseits sind es sehr einfache Funktionen, ohne die ein Mensch im wörtlichen Sinne stirbt, andererseits solch komplexe Funktionen wie sich ohne Scham öffentlich zeigen oder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, deren Notwendigkeit nicht durch den Körper vorgegeben ist und daher begründet werden muss – z. B. durch die Offenlegung des dahinter stehenden Menschenbildes. Sen selbst nimmt diese Unterschiede wahr und bemerkt, dass die einfachen Funktionen zu allen Zeiten und an allen Orten etwa die gleichen Güter zu ihrer Verwirklichung bedürfen, während es bei den komplexeren Funktionen enorme Schwankungen gibt: „The capability to live without shame emphasized by Adam Smith, that of being able to participate in the activities of the community discussed by Peter Townsend, that of having self-respect discussed by John Rawls, are examples of capabilities with extremely variable resource requirements.“ (Sen 1983a, S. 337)
Wie Beitz (1986) bemerkt, öffnet Sen damit seinen Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten verschiedenen Interpretation, die Beitz „absolutistisch“ und „relativistisch“ nennt: „According to the absolutist interpretation, functionings refers to a list of activities that are taken to be essential to human life as such and to be the same for everyone, such as speaking, walking about, performing physical labor, and so forth. ... By contrast, according to the relativistic interpretation, functioning involves being able to realize one’s aims, or one’s conception of the good. ... This is a ,relativistic‘ interpre-
4.4 Aussagen zu Armut
169
tation because it makes the content of functioning depend on the nature of a person’s conception of the good; ...“ (Beitz 1986, S. 287f)
Andere verwenden als Kennzeichnung dieser Interpretationen die Begriffe „objektivistisch“ bzw. „subjektivistisch“ (Nussbaum 1988, Sumner 1996).156 Insbesondere Sumner stellt Sens Theorie dar als eine, die versucht, nicht so subjektivistisch zu sein wie der Utilitarismus, aber auch nicht so objektivistisch wie Ressourcen- oder Güter-Ansätze.
Armut als Fehlen minimaler Verwirklichungsmöglichkeiten oder minimaler Funktionen Indem Sen zwischen Funktionen, die beobachtbar und in diesem Sinne objektiv sind, und Verwirklichungsmöglichkeiten, deren Inhalt davon abhängt, welche Funktionen das Individuum wertschätzt, und die insofern als „subjektiv“ bezeichnet werden können, unterscheidet, versucht er, diese gegensätzlichen Positionen miteinander zu vereinbaren.157 Mit Bezug auf welches Konzept – erreichte Funktionen oder Verwirklichungsmöglichkeiten – soll nun nach Sen Armut gemessen werden? Den Begriff der Verwirklichungsmöglichkeiten hat Sen in folgender Passage eingeführt: „[W]hat is missing in all this framework is some notion of ,basic capabilities‘: a person being able to do certain basic things. The ability to move about..., the ability to meet one’s nutritional requirements, the wherewithal to be clothed and sheltered, the power to participate in the social life of the community.“ (Sen 1980a, S. 367)
Schon hier richtet sich das Interesse Sens auf die „grundlegenden Verwirklichungsmöglichkeiten“ (basic capabilities), welche er später heranzieht, um Armut zu messen (Sen 1992a, vgl. auch 1982a).158 Doch anfangs hat Sen nicht zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten unterschieden, und in Bezug auf die Messung von Armut vermeidet es Sen auch später, zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten zu unterscheiden, und spricht ___________ 156 Vgl. auch Robeyns’ (2000) Unterscheidung zwischen „basic“ und „non-basic functionings“, sowie ihre Kategorie der „fundamental capabilties“. Siehe unter 4.4.1. 157 Sumner (1996) nennt dies eine Hybridtheorie, siehe 4.2.8. Sen (1992a, S. 108) diskutiert selber die Möglichkeit, bzw. Unmöglichkeit von Objektivität bei der Auswahl von relevanten Funktionen. 158 Ich nehme an, diese Tatsache führte Cohen dazu, Armut als das eigentliche Thema von Sen zu bezeichnen: „Now, although Sen’s official topic is inequality, his motivating interest is poverty, ... [C]apability provides a highly suitable measure of the deprivation that poverty imposes, but it is not so evidently serviceable when the object is to identify degrees of inequality as such.“ (Cohen 1994, S. 118)
170
4. Der Ansatz von Sen
bspw. von „functionings and the corresponding capabilities“ (Sen 1992a, S. 108). So fällt auch bei den Beispielen für „grundlegende Verwirklichungsmöglichkeiten“ (siehe Abschnitt 4.4.3, vgl. auch Fußnote 135), die Sen anführt, auf, dass er sie mal als „Verwirklichungsmöglichkeit“ und mal als „Funktion“ bezeichnet. Ferner fällt auf, dass die Beispiele der Kategorie entstammen, die Beitz seiner absolutistischen Interpretation zugrunde legt. Um das Konzept schnell zu operationalisieren, hält Sen die Konzentration auf einige wenige Funktionen für sinnvoll, wie folgendes Beispiel zeigt:159 „The three focal features of deprivation of basic capabilities on which I have concentrated in comparing and contrasting the nature of deprivation in India and in subSaharan Africa (viz. premature mortality, undernourishment and illiteracy) do not, of course, provide a comprehensive picture of capability-poverty in these regions. However, they bring out some striking failures and some crucial policy issues that demand immediate attention.“ (Sen 1999a, S. 103)
Dennoch müsste es seiner Ansicht nach das Ziel sein, Armut anhand der Verwirklichungsmöglichkeiten zu messen: „So the focus of attention of poverty analysis has to be capability as opposed to achievement (even though we may sometimes use information about achievement to try to surmise the capability enjoyed by a person).“ (Sen 1992a, S. 112)
Wie er hier bereits andeutet, tritt hier zum einen das Problem der Messung der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten wieder auf (siehe Abschnitt 4.2.3). Zum anderen definiert Sen Armut als Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten nicht näher. Den Unterschied zur Armutsmessung anhand von erreichten Funktionen macht er nur am Beispiel des Fastenden deutlich, der nicht mit dem Hungernden verwechselt werden dürfe (s. u.). Schließlich findet sich auch eine Stelle, an der er Armut anhand von minimalen Funktionen messen möchte: „In the context of poverty, the minimal levels of functionings are absolutely specified, and any failure to meet those levels must count as poverty.“ (Sen 1996, S. 119)
___________ 159
Sen steht auch dem Human Development Index (HDI) positiv gegenüber, der sich auf Indikatoren für Einkommen, Gesundheit und Bildung beschränkt. Vgl. zu Bildung und Beschaffenheit des HDI Todaro, UNDP (1990, 1996). Sen hat am HDI von vorneherein mitgewirkt und sich in Anand/Sen (1994) intensiv mit dem HDI auseinandergesetzt.
4.4 Aussagen zu Armut
171
Identifikation der Armen anhand ihrer Verwirklichungsmöglichkeiten Schaut man sich das Beispiel vom Fastenden, der im Gegensatz zum Hungernden nicht als arm anzusehen sei, näher an, so lässt sich daraus eine Methode ableiten, wie die Armen zu identifizieren sind (Leßmann 2004). „The example … of the person with means who fasts out of choice, as opposed to another who has to starve because of lack of means, is relevant here. Both may end up starving and fail to be adequately nourished, but the person without the means – and thus without the capability to be adequately nourished – is poor in a way that the fasting person is not. So the focus of attention of poverty analysis has to be capability as opposed to achievement …“ (Sen 1992a, S. 111f)
Implizit definiert Sen in seinem Beispiel eine Art Armutsgrenze für die Nahrungsaufnahme, indem er von „ausreichender Nahrungsaufnahme“ (to be adequately nourished) spricht. Folgt man seiner Logik und überträgt sie auf weitere Funktionen, so lässt sich Armut multidimensional und in Abhängigkeit der Verwirklichungsmöglichkeiten definieren. Zur Gruppe der Armen D gehören dann jene Individuen i, in deren Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten Qi kein Bündel von Funktionen bi auf den oder oberhalb der Armuts-
^
grenzen z liegt: D : i bi Qi gilt : mindestens ein j mit bij z j
`(siehe
Abbildung 7). Bei Armen fallen also alle Bündel von Funktionen bi in der Menge ihrer Verwirklichungsmöglichkeiten Qi zumindest in einer Dimension j unter die Armutsgrenze für diese Dimension z j .160 Durch die Anwendung dieser Methode, lassen sich in einem ersten Schritt alle diejenigen als nicht arm identifizieren, die ein Bündel auf oder oberhalb der Armutsgrenzen erreicht haben. Im zweiten Schritt stellt sich die Frage, ob die Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten von denjenigen, die ein Bündel von Funktionen erreicht haben, das unterhalb der Armutsgrenzen liegt, ein Bündel auf oder oberhalb der Armutsgrenzen enthält wie bei j in der Abildung 7, dann sind sie nicht arm, oder nicht wie bei i und k in Abbildung 7, dann sind sie als arm zu bezeichnen. Diese Methode dient also in erster Linie dazu, die Gruppe der Armen wenn nicht zu identifizieren so doch einzugrenzen. Um diese Definition wirklich anzuwenden, müsste jedoch die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten gemessen oder doch zumindest konstruiert werden (siehe dazu Abschnitte 4.5.3 und 5.4.3). Des Weiteren stellt sich die Frage, wie das Ausmaß an Armut gemessen werden soll anhand der Verwirklichungsmöglichkeiten. ___________ 160 Dies entspricht der Vereinigungsmengendefinition der Gruppe der Armen im multidimensionalen Fall, siehe Abschnitt 2.5.4.
4. Der Ansatz von Sen
172
Inwiefern ist diese Definition vereinbar mit Sens Eintreten dafür, nicht nur das Wohlergehen an und für sich zu betrachten, sondern auch die Freiheit zum Wohlergehen? Wird nicht durch den Bezug auf Armutsgrenzen die Qualität einzelner Elemente betont und der Aspekt der Auswahl vernachlässigt? Schon Williams (1987) hat darauf aufmerksam gemacht, dass bestimmte Wahlmöglichkeiten, wie die Wahl zwischen verschiedenen Waschmitteln, trivial sind. Diesen Gedanken führt Sen weiter aus und stellt einen Zusammenhang zwischen der Qualität der Wahlmöglichkeiten und dem Ausmaß an Freiheit her: „A set of three alternatives we see as ,bad‘, ,awful‘ and ,dismal‘ cannot, we think, give us as much real freedom as a set of three others we prefer a great deal more and see as ,great‘, ,terrific‘ and ,wonderful‘. The idea of effective freedom cannot be dissociated from our preferences. Freedom is not just a matter of having a larger number of alternatives, it depends on what kind of alternatives they are.“ (Sen 1990, S. 470)
f2
Qj x fj
z2
x fk
Qi x fi
Qk
z1
f1
Eigene Darstellung
Abbildung 7: Armut als Fehlen minimaler Verwirklichungsmöglichkeiten
4.4 Aussagen zu Armut
173
Wenn Sen hierbei von „Präferenzen“ spricht, bezieht er sich auf individuelle Präferenzen, so dass weiter zu fragen bleibt, ob die Definition der Armen, die auf Armutsgrenzen – und somit soziale Präferenzen – Bezug nimmt, damit vereinbar ist. Darauf lässt sich zweierlei erwidern: Zum einen wird den individuellen Präferenzen in der obigen Definition durchaus ein Spielraum eingeräumt, schließlich kann ein Individuum ein Bündel von Funktionen bevorzugen, das unterhalb einer oder mehrerer Armutsgrenzen liegt, ohne gleich als arm zu gelten. Als arm gilt ein Mensch nach dieser Definition erst, wenn seine Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten vollständig unter den Armutsgrenzen liegt – unabhängig von seinen Präferenzen. Zum anderen hegt Sen (vgl. Abschnitt 4.4.3) einigen Optimismus, dass es zumindest bezüglich der Auswahl armutsrelevanter Dimensionen und der Bestimmung ihrer Gewichte möglich ist, Einigkeit in einer Gesellschaft zu erzielen. In der Tat geht es nicht um eine vollständige Präferenzordnung, sondern nur um eine Übereinstimmung darin, wo Armut anfängt. Statt die Unterscheidung zwischen Fasten und Hungern in der hier vorgeschlagenen Weise auf weitere Funktionen zu übertragen, schlägt Sen (1985a, b) vor, die Funktionen „umzudefinieren“. In die Charakterisierung der „umdefinierten Funktionen“ (refined functionings) fließt die Entscheidungssituation ein, so dass „Fasten“ eine andere Funktion als „Hungern“ darstellt, weil „Fasten“ den gewählten Verzicht auf Nahrungsaufnahme bezeichnet.
Nussbaums Vorstellung von zwei Armutsgrenzen Den oben angesprochenen Dualismus nimmt auch Nussbaum wahr. Sie führt zwei Armutsgrenzen ein: eine Schwelle, die menschliches von unmenschlichem Leben trennt, und eine Schwelle, die menschenwürdiges von menschenunwürdigem Leben trennt: „[W]e want to describe two distinct thresholds: a threshold of capability to function, beneath which a life will be so impoverished that it will not be human at all, and a somewhat higher threshold, beneath which those characteristic functions are available in such a reduced way that although we may judge a life a human one, we will not think it a good human life.“ (Nussbaum 1992, S. 221)
Dabei sei insbesondere diese zweite Grenze schwierig zu ziehen, da ihr Erreichen stark vom Handeln der Individuen selbst abhängt.
4.4.3 Liste minimaler Funktionen In der obigen Diskussion wurde die Frage, welche Dimensionen zur Armutsmessung herangezogen werden sollen, nur am Rande gestreift. Generell meint Sen, dass die Liste mit Funktionen sehr lang und eventuell sogar unend-
174
4. Der Ansatz von Sen
lich ist (siehe Abschnitt 4.4.1). Daher sieht er ohnehin die Notwendigkeit, für jede Untersuchung und jedes Thema von neuem eine Liste mit Funktionen zusammenzustellen. Gerade beim Thema Armut ist er optimistisch, dass sich über eine solche Liste ein Konsens erzielen lässt: „[I]f we concentrate on certain basic general functionings and the corresponding capabilities, there may be much more agreement on their importance, than there would be if we concentrated on particular commodity bundles and particular ways of achieving those functionings.“ (Sen, 1992a, S. 108)
Dieser Optimismus scheint auf den ersten Blick gerechtfertigt, sieht man sich die Listen mit „Funktionen“ an, die in verschiedenen Armutsstudien verwandt werden. Das Problem ist jedoch, dass zwar Einigkeit darüber besteht, dass „gesund sein“ zu den grundlegenden Funktionen gehört, aber große Differenzen existieren, was geeignete Indikatoren für Gesundheit anbelangt (siehe Abschnitt 4.4.1). Sen selber nennt folgende Beispiele: – mobil sein (Sen, 1980a, S. 367), – sich ausreichend ernähren können (Sen, 1980a, S. 367, 1992a, S. 110, 1999a, S. 103), – über Kleidung und Behausung verfügen (Sen, 1980a, S. 367, 1992a, S. 110), – am gesellschaftlichen Leben teilnehmen (Sen, 1980a, S. 367, 1992a, S. 110), – vermeidbare Krankheiten verhindern (Sen, 1992a, S. 110), – sich in der Öffentlichkeit zeigen, ohne sich zu schämen (Sen, 1992a, S. 110), – vorzeitigen Tod verhindern (Sen, 1999a, S. 103), – lesen können (Sen, 1999a, S. 103).
Und er weist darauf hin, dass die Funktionen vielleicht absolut verstanden werden können, dass ihre Erfüllung aber relativ zur Gesellschaft gesehen werden muss. Dies ist der Grund, weshalb sich die Indikatoren, mit denen die Funktionen gemessen werden, noch weniger als die Funktionen selbst im Vorfeld festlegen lassen: „These are rather ,general‘ functionings, but ... the specific form that their fulfilments may take would tend to vary from society to society.“ (Sen 1992a, S. 110)
Wichtig ist auch, welches Ziel eine Studie verfolgt: Ist zunächst die Beschreibung von Armut angestrebt, aus der sich dann Empfehlungen für die Politik ergeben können, oder ist die Entwicklung politischer Maßnahmen das Ziel, durch die implizit Armut definiert wird (Sen 1992a, S. 107)? Soll Armut umfassend und detailliert dargestellt werden oder nur ein erstes grobes Bild entworfen werden? Entsprechend müssen auch die Ergebnisse von Studien interpretiert werden, wie Sen in dem oben zitierten Beispiel einer vergleichenden Studie zu Armut in Indien und Afrika (s. S. 169f) zeigt (Sen 1999a, S. 103).
4.4 Aussagen zu Armut
175
Im Gegensatz zu Sen verfolgt Nussbaum die Absicht, eine vollständige und abgeschlossene Liste mit funktionalen Fähigkeiten vorzulegen. (Ihre Liste ist im Abschnitt 4.5.1, S. 181ff aufgeführt.) Jede dieser Fähigkeiten muss ihres Erachtens bis zu einem gewissen Grad erreichbar sein, um die erste bzw. die zweite höhere Armutsgrenze (s. o.) zu erreichen. Nussbaum legt also die gleiche Liste bei der Einschätzung von Armut wie bei der Einschätzung des Lebensstandards im allgemeinen zugrunde. Zudem geht Nussbaum (1992, S. 222, 231) davon aus, dass die verschiedenen Funktionen unvergleichbar seien und schließt ein substitutives Verhältnis zwischen den Funktionen aus (vgl. Abschnitt 4.3.4, S. 161). Nussbaum weist darauf hin, dass ihres Erachtens die Fähigkeit oder Möglichkeit, eine Funktion auszuüben, das Ziel der Politik sein sollte, und nicht die Ausübung selbst (z. B. Nussbaum 2000, S. 86ff). Zwar sei manchmal die Abwesenheit dieser Möglichkeit an der Nichtausübung zu erkennen (Nussbaum 2000, S. 93) und umgekehrt sei manchmal ein bestimmtes Maß an Ausübung einer Funktion zu verlangen, um die Möglichkeit dafür auch für spätere Zeit offen zu halten, um aber den Lebensstandard eines Menschen einzuschätzen, ist nicht das erreichte Niveau einer Funktion entscheidend, sondern die Fähigkeit (capability), bestimmte Niveaus zu erreichen..
4.4.4 Zur wechselseitigen Beziehung zwischen Einkommen und Verwirklichungsmöglichkeiten Wenn der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten Armut als mangelhaftes Erreichen bestimmter Funktionen definiert, so folgt daraus nicht, dass das Einkommen keine Rolle spielt. Aber die Vertreter des Ansatzes sehen die Rolle des Einkommens vor allem darin, ein Mittel zur Erreichung bestimmter Funktionen zu sein, d. h. sie sprechen dem Einkommen einen intrinsischen Wert ab. Außerdem ist der Zusammenhang zwischen Einkommen und Funktionen bzw. Verwirklichungsmöglichkeiten nicht eindeutig: „[T]he relationship between income and capability would be strongly affected by the age of the person (e.g., by the specific needs of the old and the very young), by gender and social roles (e.g., through special responsibilities of maternity and also custom-determined family obligations), by location (e.g., by proneness to flooding or drought, or by insecurity and violence in some inner-city living), by epidemiological atmosphere (e.g., through diseases endemic in a region) and by other variations over which a person may have no – or only limited – control.“ (Sen, 1992a, S. 113)
Dies ist der erste Grund, weshalb Sen schlussfolgert, dass speziell Armut nicht nur am Einkommen gemessen werden darf: „By focusing poverty study specifically on incomes as such, crucial aspects of deprivation may entirely lost.“ (Sen 1999a, S. 88)
176
4. Der Ansatz von Sen
Der zweite Grund dafür ist die Beobachtung, dass oftmals eine Benachteiligung bei der Einkommenserzielung gekoppelt ist mit einer Benachteiligung bei der Einkommensverwendung: „[T]here can be some ,coupling‘ of disadvantages between (1) income deprivation and (2) adversity in converting income into functionings. Handicaps, such as age or disability or illness, reduce one’s ability to earn an income. But they also make it harder to convert income into capability, since an older, or more disabled or more seriously ill person may need more income (for assistance, for prosthesis, for treatment) to achieve the same functionings (even when that achievement is at all possible).“ (Sen, 1999a, S. 88)
Als drittes Argument führt Sen (1999a, S. 88) die Verteilung des Einkommens innerhalb des Haushalts an, von der die meisten Studien zur Einkommensarmut angenommen wird, sie sei ausgewogen. Eine Benachteiligung z. B. aufgrund des Geschlechts ist mit diesem Ansatz schlecht nachzuweisen, anhand von Funktionen jedoch gut sichtbar. Viertens betont Sen (1999a, S. 89) nochmals (siehe Abschnitt 4.4.1), dass relative Einkommensarmut zu absoluter Armut im Raum der Funktionen führen kann. Alle diese Argumente führt Sen nicht nur an, um für die Messung von Armut als Mangel an Funktionen zu plädieren, sondern auch, um für die Erweiterung der Verwirklichungsmöglichkeiten der Menschen als Politikziel zu werben. Denn eine Erweiterung der Verwirklichungsmöglichkeiten (und hier sind wirklich Verwirklichungsmöglichkeiten, d. h. auch die Erweiterung der Wahlmöglichkeiten gemeint!) wird seines Erachtens auch die Chancen bei der Einkommenserzielung erhöhen: „[E]nhanced capabilities in leading a life would tend, typically, to expand a person’s ability to be more productive and earn a higher income ...“ (Sen, 1999a, S. 90)
4.5 Operationalisierung des Ansatzes Wie bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel erwähnt, verbindet dieser Abschnitt konzeptionelle Überlegungen zur Operationalisierung mit Beispielen aus empirischen Studien, die sich auf den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten berufen. Sen selber hat sich viele Gedanken zur Operationalisierung gemacht und den Ansatz selbst angewandt. Eine grundlegende Frage ist die der Auswahl von Dimensionen (Abschnitt 4.5.1). Die Auseinandersetzung zwischen Sen und Nussbaum (vgl. Abschnitt 4.3.4, S. 161) dreht sich um diese Frage. Überlagert wird die Auswahl von Dimensionen jedoch auch durch die Auswahl von Indikatoren dafür. Welche Indikatoren in Frage kommen, hängt von den möglichen Datenquellen (Abschnitt 4.5.2) ab. Sen bietet ein Schema zur Einteilung von Datenquellen an, das zu Beginn dieses Unterabschnitts
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
177
vorgestellt wird. Nachdem die Grundlage für Vergleiche geklärt ist, geht der Abschnitt 4.5.3 auf das Vorgehen beim Vergleich ein. Wiederum bietet Sen ein Schema zur Einteilung möglicher Prozeduren beim Vergleich von Funktionen an, nicht jedoch für den Vergleich von Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten. Welche Methoden für die Anwendung auf Armutsmessung damit verbunden sind und inwiefern sie dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten entsprechen wird in Abschnitt 4.5.4 geklärt.
4.5.1 Auswahl der Dimensionen Zunächst muss im Zusammenhang mit der Auswahl der Dimensionen die Auseinandersetzung von Sen und Nussbaum über die Frage der Vollständigkeit (s. S. 161ff) noch einmal aufgegriffen werden. Sodann wird betrachtet, welche Kriterien für die Herleitung von Listen mit Dimensionen angewandt worden sind, und es werden einige Beispiele angeführt. An den Beispielen mit Listen wird deutlich, dass es nötig ist, zwischen Dimensionen und Indikatoren dafür zu unterscheiden. Die Verwendung von Indikatoren kann die Struktur der Ansätze verändern, wie am Schluss dieses Abschnitts erörtert wird.
Unvollständigkeit der Liste Eine entscheidende Frage bei der Auswahl von Dimensionen ist die Frage, ob die Liste relevanter Dimensionen vollständig sein muss oder unvollständig sein darf oder sogar gar nicht vollständig sein kann. Um diese Frage dreht sich der Hauptteil der Auseinandersetzung zwischen Sen und Nussbaum (vgl. Abschnitt 4.3.4). Zwei Gründe führt Sen an, weshalb die Liste relevanter Dimensionen – das sind bei ihm die relevanten Funktionen – nicht vollständig sein kann: Zum einen ist der Raum der Funktionen bei ihm nicht nur der Raum zur Bewertung des Wohlergehens und der Armut, sondern auch zur Bewertung der Erfolge in der Interessenvertretung (vgl. Abschnitt 4.3.1, S. 149). Zum anderen will er seinen Ansatz offen halten für verschiedene Theorien des Guten (siehe Abschnitt 4.3.4, S. 163f), die sich u. a. darin unterscheiden, welche Funktionen sie als relevant erachten (Sen 1993a, 1993b, S. 47). Neben dieser prinzipiellen Ablehnung von Vollständigkeit bezüglich der Liste relevanter Dimensionen des Bewertungsraumes, hält Sen es auch für zulässig, sich für eine konkrete Untersuchung auf wenige Dimensionen zu beschränken (Sen 1999a, S. 82), was auch aus praktischen Erwägungen (Datenverfügbarkeit und Umfang der Untersuchung) sinnvoll sein kann. Ferner stellt sich die Frage, ob die Elemente einer vollständigen Liste die Eigenschaft aufweisen müssen, dass sie sich nicht überschneiden. Wie Basu fragt:
178
4. Der Ansatz von Sen
„(i) what constitutes a complete list of capabilities and (ii) how can we be sure that the items in the list do not overlap?“ (Basu 1987a, S. 72)
Denn wenn sich verschiedene Elemente der Liste überschneiden in dem Sinne, dass sie sich gegenseitig verstärken, führt das unter Umständen zu einer zu starken Gewichtung dieser Elemente. Sen hält es daher für erforderlich, die Kovarianz zwischen verschiedenen Elementen (in diesem Falle Funktionen) zu bestimmen, bevor man sich auf Gewichte festlegt (Sen 1999a, S. 313, Fn. 57). Im Gegensatz zu Sen lehnt Nussbaum beide Formen der Unvollständigkeit ab: Sie ist der Auffassung, ihre Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten, wie die Dimensionen in ihrem Ansatz heißen, sei vollständig oder könne zumindest vollständig werden. Nussbaum spricht aber auch von der Unvergleichbarkeit der Elemente der Liste und davon, dass sie nicht gegeneinander aufzuwiegen seien – und damit von der Überschneidungsfreiheit. Diese prinzipielle Forderung nach Unvergleichbarkeit der funktionalen Fähigkeiten verbindet Nussbaum mit der Forderung, immer die vollständige Liste zugrunde zu legen (s. u.), ihre Liste also auch nicht unvollständig zu machen. Eine dritte Position nimmt Alkire (2002) ein, die zwar von der prinzipiellen Vollständigkeit ihrer Liste letzter Gründe für Handlungen (basic reasons for action, s. u.) ausgeht, aber eine Beschränkung auf wenige Dimensionen für die Armutsmessung für sinnvoll hält.
Kriterien für die Herleitung einer Liste Ob eine Liste als vollständig angesehen wird oder nicht, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sie hergeleitet wird. Sen (1996, S. 117) geht davon aus, dass es eine öffentliche Diskussion über den Inhalt der Liste geben muss, und ist optimistisch, dass es darüber eine Übereinkunft geben kann, zumindest was grundlegende Funktionen anbelangt (wie bereits in Abschnitt 4.3.3 erwähnt). Gleichzeitig macht er jedoch klar, dass es eine solche Übereinkunft nur für gesellschaftliche Belange geben muss. Individuen können hingegen sehr unterschiedliche Vorstellungen haben und behalten: „There is no need here for different people, making their respective judgements, to agree on the same list, or on the same weights for the different items ...“ (Sen, 1996, S. 117)
Zudem geht Sen davon aus, dass es je nach Untersuchungszweck verschiedene Listen geben muss: „The assessment of agency success is a broader exericse than the evaluation of wellbeing. It is also possible to consider ,narrower‘ exercises than the appraisal of wellbeing. A particularly important one is that of evaluating a person’s standard of
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
179
living. This, too, may take the form of focusing on the person’s functionings, but in this case we may have to concentrate only on those influences on well-being that come from the nature of his own life, rather than from ,other-regarding‘ objectives or impersonal concerns.“ (Sen 1993b, S. 37)
Die Herleitung der Liste durch öffentliche Diskussion und in Abhängigkeit des Untersuchungszwecks stimmt mit Sens Meinung überein, dass es keine vollständige Liste gibt. Nussbaum hingegen geht offensichtlich davon aus, dass es eine vollständige Liste gibt, die sie auf dreierlei Art161 herzuleiten versucht: 1. führt sie Argumente der praktischen Vernunft an, 2. baut auch sie auf öffentliche Diskussion zwischen verschiedenen Kulturen und 3. führt sie empirische Beobachtungen an. Wie Alkire (2002, S. 40) kritisiert, nimmt Nussbaum stillschweigend an, dass alle drei Methoden zur Herleitung ihrer Liste mit zentralen Funktionen das gleiche Ergebnis erzielen. Diese Hypothese müsste jedoch erst getestet werden. Zudem kritisiert Alkire (2002, S. 40), dass die empirischen Beobachtungen nur auf Fallstudien beruhen und nicht von größer angelegten empirischen Studien stammen. Ferner macht Gasper (1997b, S. 293) darauf aufmerksam, dass die internationalen Diskussionen, die Nussbaum initiiert hat, hauptsächlich von Philosophen, Ökonomen und Juristen aus Amerika und England, sowie einigen Anhängerinnen des „Capability“-Ansatzes aus „dem Süden“ geführt worden sind, so dass es fraglich bleibt, ob sie die nötige Breite gehabt haben. Zur Beantwortung der Frage, wie der Ansatz von Sen zu operationalisieren sei, geht auch Alkire (2002) den Weg, zunächst eine Liste mit letzten Gründen für Handlungen (basic reasons for actions) herzuleiten. Sie folgt dabei der Argumentation von Finnis, einem anderen Aristoteliker, der sich ganz auf die praktische Vernunft stützt. Durch die hartnäckige Frage: „Warum tue ich bzw. warum tun andere, was wir tun?“ sollen die fundamentalen Gründe für Handlungen hergeleitet werden, die Alkire als Dimensionen menschlicher Funktionen im Sinne Sens interpretiert. Finnis nimmt für seine Liste in Anspruch, dass sie alle grundlegenden Ziele menschlichen Handelns erfasst und insofern vollständig ist. Allerdings räumt auch er – wie Nussbaum – die Möglichkeit ein, die Liste zu revidieren, was er bereits getan hat. Alkire (2002, S. 52) schlägt Finnis Liste als Grundlage für die Einschätzung des Wohlergehens vor. Schon früh machte sich Desai (1990) Gedanken über die Operationalisierung des Senschen Ansatzes und beginnt ebenfalls mit der Aufstellung einer Liste. Sein Kriterium für die Auswahl von Dimensionen beschreibt er wie folgt: „I interpret Sen as saying that there has to be a set of capabilities which every society should try to guarantee every individual member.“ (Desai 1990, ___________ 161 Alkire (2002, S. 38ff) analysiert die Herleitung der Liste bei Nussbaum ausführlich und weist auf diese dreifache Begründung hin.
4. Der Ansatz von Sen
180
S. 9)162 Daher geht er davon aus, dass die Liste nur wenige Verwirklichungsmöglichkeiten beinhalten sollte, die miteinander vereinbar („co-realisable“) sind und die eine Grundlage für das Erreichen vieler verschiedener Funktionen darstellen (Desai 1990, S. 11). Diese Bedingungen deuten an, dass er Verwirklichungsmöglichkeiten nicht als Bündel von Funktionen sieht, sondern ähnlich wie Nussbaum als grundlegende Fähigkeiten. Zugleich ist sich Desai (1990, S. 17) bewusst, dass es nicht möglich ist, diese Verwirklichungsmöglichkeiten direkt zu beobachten, sondern dass Indikatoren dafür gesucht werden müssen. Eine ähnliche Idee wie Desai präsentiert auch Robeyns (2000, S. 9). Sie unterscheidet drei Kategorien von Verwirklichungsmöglichkeiten: „basic capabilities“, „non-basic capabilities“ und „fundamental capabilities“, welche sie folgendermaßen definiert: „These fundamental capabilities are deeper, foundational, more abstract, aggregated (not over persons but over different capabilities in one person) capabilities.“ (Robeyns 2000, S. 9). Unter „basic capabilities“ versteht sie im Gegensatz dazu einfache, lebensnotwendige Funktionen, wie z. B. die Vermeidung des vorzeitigen Sterbens und ausreichende Ernährung. Ihre „fundamentalen Verwirklichungsmöglichkeiten“ kombinieren „basic“ und „non-basic capabilities“. Robeyns behauptet ferner, dass das Konzept der „fundamentalen Verwirklichungsmöglichkeiten“ bereits in einigen Studien stillschweigend verwendet wurde. Dies hängt allerdings nicht unbedingt mit inhaltlichen Überlegungen zusammen, wie das Beispiel von Schokkaert und van Ootegem (1990) zeigt: Sie benutzen die Methode der Faktoranalyse, um aus ursprünglich 46 betrachteten Funktionen 6 herauszufiltern. Als Begründung für die Wahl der Methode führen sie Basus (1987a, s. o.) zweite Frage an, nämlich die Frage, wie man sicherstellt, dass sich die einzelnen Dimensionen nicht überlappen. Dazu schreiben sie: „Note that we keep to the assumption of orthogonality of the basic functionings, making sure that the basic functionings in our list do not overlap.“ (Schokkaert/van Ootegem 1990, S. 437)
Die Frage von Basu lässt sich zu einem Kriterium zur Auswahl von Dimensionen umdeuten: die Auswahl der Dimensionen soll so beschaffen sein, dass sich die Dimensionen nicht überschneiden. Ob dieses Kriterium immer als Orthogonalität der Dimensionen verstanden werden muss, ist allerdings eine weitere Frage. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sehr unterschiedliche Kriterien herangezogen werden, um eine Liste mit relevanten Funktionen zu erstellen. Das Ziel, eine vollständige Liste mit relevanten Funktionen herzuleiten, ist verbunden mit eher abstrakten Kriterien wie bei Nussbaum, Alkire bzw. Finnis und Desai. Sen hingegen zieht pragmatische Kriterien heran: öffentliche Diskussion ___________ 162
Dasselbe Kriterium nennen auch Harrison (2001, S. 17) und Santibanez (2001).
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
181
und Untersuchungszweck. Zudem spielen bei einer konkreten empirischen Studie, wie auch Alkire (2002, S. 199) bemerkt, noch weitere Kriterien eine Rolle: Datenverfügbarkeit (siehe Abschnitt 4.5.2) und die Menge an Ressourcen (Geld, Zeit, Literatur, Datenverarbeitungsprogramme etc.), die zur Erstellung der Studie zur Verfügung stehen. Diese Kriterien spiegeln sich in den Listen wider, die empirischen Studien entnommen sind (s. u.).
Beispiele für Listen Nicht nur der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten, sondern auch der Basic Needs Ansatz, ethische Theorien, deskriptive Ansätze zur Beschreibung des Wohlergehens, die Happiness-Forschung163 oder internationale Vergleiche von Werten haben Listen entwickelt, die je nachdem grundlegende „Funktionen“, „Werte“, „Bedürfnisse“ oder „Dimensionen des Wohlergehens“ aufführen. Alkire (2002, S. 59ff) stellt verschiedene Ansätze und ihre Ergebnisse vor.164 Neben den von ihr angeführten Studien sind noch die Skandinavischen Wohlfahrtsstudien („Level of Living Surveys“, z. B. Allardt 1982, 1993; Erikson und Aberg 1987) und die angesprochene Arbeit von Desai (1990) zu nennen. Die Inhalte der Listen weichen – wie Nussbaum (1990) erfreut feststellt – nicht allzusehr voneinander ab. Zumindest auf einer abstrakten Ebene wie die aufgeführten Listen von Nussbaum, Alkire und Desai zeigen. Liste 4 Nussbaums Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten 1. Life. Being able to live to the end of human life of normal length; not dying prematurely, or before one’s life is so reduced as to be not worth living. 2. Bodily Health. Being able to have good health, including reproductive health; to be adequately nourished; to have adequate shelter. 3. Bodily Integrity. Being able to move freely from place to place; to be secure against violent assault, including sexual assault and domestic violence; having opportunities for sexual satisfaction and for choice in matters of reproduction. 4. Senses, Imagination, and Thought. Being able to use the senses, to imagine, think, and reason – and to do these things in a ,truly human‘ way, a way informed and cultivated by an adequate education, including, but by no means limited to, literacy and basic mathematical and scientific training. Being able to use imagination and
___________ 163
Aus dem breiten Spektrum an Literatur zur Happiness-Forschung seien hier die Sammelbände von Kahnemann/Diener/Schwarz (1999) und Diener/Suh (2000) genannt. Alkire (2004) gibt einen Überblick über die Literatur mit Bezug auf den Begriff der Interessenvertretung von Sen. 164 In Alkire/Black (1997) findet sich ein detaillierter Vergleich der Listen von Finnis und Nussbaum. Nussbaum (1990) vergleicht ihre Liste mit der Liste der Skandinavischen Wohlfahrtsstudien.
4. Der Ansatz von Sen
182
thought in connection with experiencing and producing works and events of one’s own choice, religious, literary, musical, and so forth. Being able to use one’s mind in ways protected by guarantees of freedom of expression with respect to both political and artistic speech, and freedom of religious exercise. Being able to have pleasurable experiences, and to avoid non-necessary pain. 5. Emotions. Being able to have attachments to things and people outside ourselves; to love those who love and care for us, to grieve at their absence; in general, to love, to grieve, to experience longing, gratitude, and justified anger. Not having one’s emotional development blighted by fear and anxiety. ... 6. Practical Reason. Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one’s life. ... 7. Affiliation. A. Being able to life with and towards others, to recognise and show concern for other human beings, to engage in various forms of social interaction; to be able to imagine the situation of another and have compassion for that situation; to have the capability for both justice and friendship. ... B. Having the social bases of self-respect and non-humiliation; being able to be treated as a dignified being whose worth is equal to that of others. This entails protection against discrimination on the basis of race, sex, religion, caste, ethnicity, or national origin. 8. Other species. Being able to live with concern for and in relation to animals, plants, and the world of nature. 9. Play. Being able to laugh, to play, to enjoy recreational activities. 10. Control over one’s Environment. A. Political. Being able to participate effectively in political choices that govern one’s life; having the right of political participation, protections of free speech and association. B. Material. Being able to hold property (both land and movalbe goods); having the right to seek employment on an equal basis with others; having the freedom from unwarranted search and seizure. Quelle: Nussbaum 2000, S. 78ff
Liste 5 Alkires favorisierte Liste letzter Gründe für Handlungen165 Life itself – its maintenance and transmission – health, and safety Knowledge and aesthetic experience. ,Human persons can know reality and appreciate beauty and whatever intensely engages their capacities to know and to feel.‘ Some degree of excellence in work and play: ,human persons can transform the natural world by using realities, beginning with their own bodily selves, to express meanings and serve purposes. Such meaning-giving and value-creation can be realized in diverse degrees.‘
___________ 165
Die hier zitierte Liste beruht auf einem Aufsatz von Grisez, Boyle und Finnis (1987). Finnis hat noch andere Versionen erarbeitet, aber Alkire (2002, S. 47) beruft sich explizit auf die Fassung von 1987.
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
183
Friendship: ,various forms of harmony between and among individuals and groups of persons – living at peace with others, neighbourliness, friendship.‘ Self-integration: ,within individuals and their personal lives, similar goods can be realized. For feelings can conflict among themselves and be at odds with one’s judgements and choices. The harmony opposed to such inner disturbance is inner peace.‘ Self-expression or practical reasonableness: ,one’s choices can conflict with one’s judgements and one’s behavior can fail to express one’s inner self. The corresponding good is harmony among one’s judgements, choices, and performances – peace of conscience and consistency between one’s self and ist expression.‘ Transcendence: ,most persons experience tension with the wider reaches of reality. Attempts to gain or improve harmony with some more-than-human source of meaning and value take many forms, depending on peoples world views. Thus, another category ... is peace with God, or the gods or some nontheistic but more-than-human source of meaning and value.‘ Quelle: Alkire 2002, S. 48
Die Beispiele von Sen, Robeyns (2000), aus den skandinavischen Wohlfahrtsstudien (Erikson/Aberg 1987) und den empirischen Arbeiten von Schokkaert und Van Ootegem (1990), Houssein (1990), HDI (seit 1990), Balestrino (1996), Ruggeri Laderchi (1997), HPI (seit 1997), Brandolini und D’Alessio (1998), Balestrino und Sciclone (2000), Chiappero-Martinetti (2000), Lelli (2001), Klasen (2000), Phipps (2002) und Lelli (2003) umfassen ebenfalls oft gleiche oder ähnliche Dimensionen. Zugleich weisen sie jedoch einige Unterschiede auf, was den Umfang der Listen und die empirische Umsetzung anbelangt. Liste 6 Desais Liste mit Verwirklichungsmöglichkeiten (grundlegende Funktionen) 1. capability to stay alive/enjoy prolonged life 2. capability to ensure (biological) reproduction 3. capability for healthy living 4. capability for social interaction 5. capability to have knowledge and freedom of expression and thought. Quelle: Desai 1990, S. 16
Dimensionen und Indikatoren Die Unterschiede in der Definition und der Wahrnehmung bestimmter Dimensionen werden bei der empirischen Umsetzung noch deutlicher als in den abstrakt gehaltenen Listen von Nussbaum, Alkire und Desai. Beispielsweise
184
4. Der Ansatz von Sen
beinhalten sämtliche Listen irgendwie die Dimension „Gesundheit“. Auf der abstrakten Ebene unterscheidet Nussbaum Gesundheit von der Sicherheit vor körperlichen Übergriffen und Desai Gesundheit von der Fähigkeit zur Reproduktion und zum Leben selbst, während Alkires Liste schlicht von „life itself“ spricht. Bei der empirischen Umsetzung ist es zweckmäßig zwischen Dimensionen und Indikatoren dafür zu unterscheiden. Indikatoren sind dabei die Größen, mit deren Hilfe eine Dimension gemessen wird. Auf der Ebene der Dimensionen wird unterschieden zwischen: – Gesundheit und Ernährung (Balestrino 1996, Ruggeri Laderchi 1997), – Gesundheit und Sicherheit (Balestrino/Sciclone 2000, Klasen 2000) und – psychischer und physischer Gesundheit (Schokkaert/Van Ootegem 1990,
Lelli 2001, 2003). Ferner werden die verschiedensten Indikatoren herangezogen, um die Dimension Gesundheit einzuschätzen: – Mortalität und Lebenserwartung (Sen, HDI, HPI, Balestrino/Sciclone 2000), – chronische Erkrankungen (Brandolini/D’Alessio 1998, Chiappero-Martinetti
2000, Lelli 2003), – Fehlen bestimmter Fähigkeiten (Erikson/Aberg 1987, Brandolini/D’Alessio
1998, Lelli 2003) und – Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands (Schokkaert/Van Ootegem
1990, Ruggeri Laderchi 1997, Brandolini/D’Alessio 1998, Lelli 2003). Teilweise werden verschiedene Indikatoren zusammengefasst zur Dimension „Gesundheit“ (Erikson/Aberg 1987, Schokkaert/Van Ootegem 1990, HDI, HPI, Brandolini/D’Alessio 1998, Lelli 2003), teilweise wird nur ein Indikator herangezogen (Balestrino 1996, Balestrino/Sciclone 2000, ChiapperoMartinetti 2000). Teilweise wird nicht zwischen Indikator und Dimension unterschieden (Schokkaert/Van Ootegem 1990, Phipps 2002, eingeschränkt: Klasen 2000). Letztendlich drückt sich hierin ein Problem aus, das Basu (1987a) bereits angesprochen hat: die Überschneidung verschiedener Dimensionen miteinander. Daher ist danach zu fragen, wie sich die Auswahl von Indikatoren auf die Auswahl von Dimensionen und die Struktur des Ansatzes auswirkt.
Indikatoren und Struktur des Ansatzes Einige empirische Studien unterscheiden zwischen Funktionen und Indikatoren dafür, andere tun dies nicht. Balestrino und Sciclone (2000) suchen bspw.
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
185
für jede Funktion einen Indikator. So ist ihr Indikator für die Funktion „in einer sicheren Umgebung leben“ die Anzahl der Mordfälle pro Einwohner des entsprechenden Wohngebietes. Teilweise wird jedoch nicht nur ein Indikator für eine „Funktion“ gewählt (s. o.). Lelli (2001) verwendet bspw. vier verschiedene Arten von Indikatoren, um die Funktion „wohnen“ zu erfassen, nämlich einen Überbelegungsindex, Heizungsausstattung, subjektive Bewertung und Kennziffern für die Wohngegend. Sen selber hingegen unterscheidet nicht zwischen Funktion und Indikator. Er behandelt „Mortalität“ als Funktion (Sen 1998a, 1999a, S. 96ff). Das ist insofern verwirrend, als dass Mortalität nur für eine Gruppe oder Gesellschaft gemessen werden kann und die Verbindung zwischen der individuellen Funktion „leben“ und der gesellschaftlichen Kennziffer Mortalität so direkt nicht ist. Auch Phipps (2002) unterscheidet nicht zwischen Funktion und Indikator. Das ist bei ihren Beispielen jedoch auch naheliegend: niedriges Geburtsgewicht, Asthma, Unfälle und Einschränkungen in der Bewegung sind die Funktionen, die sie ausgewählt hat, um den Gesundheitszustand von Kindern zu erfassen. Klasen (2000) definiert Funktionen wesentlich enger. Er differenziert zwischen „Wohnung“ und „sanitäre Einrichtungen“ und wählt als Indikator für die erste Funktion166 die Eigenschaften der Wohnung und für die zweite die Art der Einrichtungen. Dies ist ein Beispiel, das deutlich macht, dass derselbe Indikator für verschiedene (übergeordnete) Funktionen herangezogen werden kann. Die sanitären Einrichtungen werden meist – zumindest in Industrieländern – als Teil der Wohnungsausstattung und somit als Indikator für die Funktion „wohnen“ angesehen. Sie sind jedoch auch ein bedeutender Teil der Hygienevorsorge, die als Gesundheitsvorsorge im weiteren Sinne verstanden werden kann und daher ebenso als Indikator für die Funktion „gesund sein“ herangezogen werden könnte. Klasens Weg, die Funktionen sehr eng zu definieren, hat den Vorteil, die Informationen als solche weiterzugeben, ohne sie übermäßig zu interpretieren. Nachteilig ist jedoch, dass dieses Vorgehen nur bei einer auf wenige Funktionen beschränkten Studie (seine umfasst 13 Funktionen) möglich ist, weil die Datenmenge sonst schnell unübersichtlich wird. Der Versuch einer hierarchischen Ordnung von Funktionen in zwei oder drei Ebenen wie sie Robeyns (2001) vorgeschlagen hat, scheint sich bei empirischen Arbeiten (wie sie richtig bemerkt hat) geradezu aufzudrängen. Was Robeyns „fundamentale Verwirklichungsmöglichkeiten“ nennt, sind die abstrakten Begriffe wie „Gesundheit“, „Wohnung“, „Bildung“ usw., die in einigen empirischen Studien (bspw. Balestrino/Sciclone 2000) als Funktionen ___________ 166
Klasen verwendet nicht den Begriff „Funktion“ sondern „Verwirklichungsmöglichkeit“. Vom Inhalt wird aber klar, dass er Funktionen und nicht Verwirklichungsmöglichkeiten im Sinne Sens meint. Vgl. auch Robeyns (2000, S. 27).
4. Der Ansatz von Sen
186
genannt werden. Es sind jene Begriffe, die in den meisten Listen mit Dimensionen vorkommen, auf die wir uns also gut einigen können. Welche konkreten Funktionen jedoch bspw. zu den „grundlegenden Funktionen der Gesundheit“ („basic functionings of health“) gehören und mit welchen Indikatoren diese dann zu erfassen sind, dürfte umstritten sein (s. o.). Insofern hilft eine Systematisierung nicht wirklich weiter.167 Wiederum gilt Sens Pluralismus: Für jede Studie muss je nach Zweck und Ressourcen neu eine Liste mit relevanten Funktionen zusammengestellt und begründet werden. Die Ergebnisse müssen jeweils neu und sorgfältig interpretiert werden, wobei insbesondere die Frage zu beantworten ist, ob die erhobenen Daten direkt Funktionen messen oder als Indikatoren zu verstehen sind und in welchem Verhältnis Indikatoren und Dimensionen stehen. Schließlich sei noch auf die generelle Forderung von Cheli und Lemmi (1995, S. 128) hingewiesen, dass man bei der Interpretation von Indikatoren sorgfältig zwischen Indikatoren für Ursachen und Indikatoren für Wirkungen unterscheiden müsse. Wie schwierig dies im einzelnen sein kann, diskutiert Harrison (2001) anschaulich anhand der Frage, wie weit man in der kausalen Folge zurück gehen solle.
4.5.2 Mögliche Datenquellen Bezüglich der Datengrundlage fordert Sen vor allem, neben Daten zu wirtschaftlichen Transaktionen und den Antworten auf Fragebögen auch Beobachtungen über den Zustand von Personen mit einzubeziehen, d. h. die Informationsgrundlage zu erweitern (siehe Tabelle 2). Tabelle 2 Datenquellen und Konzepte für Wohlergehen Sen (1985a, S. 39) unterscheidet zwischen drei verschiedenen Datenquellen und
drei Konzepten von Wohlergehen, die jeweils basieren auf:
a) Marktdaten
(1) Reichtum
b) Antworten auf Fragebögen
(2) Nutzen
c) Beobachtungen zum Zustand von Personen
(3) Funktionen
Eigene Darstellung
___________ 167 Die Vor- und Nachteile einer weiten Definition von Funktionen diskutiert sehr klar und anhand von Beispielen Harrison (2001, S. 19f).
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
187
Sen ordnet dabei die Daten den Konzepten zu: Marktdaten seien am besten geeignet, Wohlergehen im Sinne von Reichtum zu erfassen, Umfrageergebnisse, um Wohlergehen im Sinne von Nutzen, und Beobachtungen zum Zustand von Personen, um Funktionen zu erfassen. Zunächst stellt sich die Frage, was unter solchen Beobachtungen zum Zustand von Personen zu verstehen ist und ob die Einteilung von Sen tragfähig ist. Dann ist zu untersuchen, welche Daten verfügbar sind, bzw. auf welche Daten die vorhandenen Studien zurückgreifen. Grundsätzlich sieht Sen die Notwendigkeit, alle verfügbaren Informationen zu nutzen: „The assessment of capabilities has to proceed primarily on the basis of observing a person’s actual functionings, to be supplemented by other information.“ (Sen 1999, S. 131)
Beobachtungen zum Zustand von Personen Sen selber gibt einige Beispiele für Beobachtungen des Zustands von Personen: – – – – – – –
Mortalität (insb. Sen 1998a), Krankenhausbesuche von Männern und Frauen im Vergleich (Sen 1985a), Lebenserwartung (vgl. UNDP-Bericht ab 1990), Kindersterblichkeit (vgl. UNDP-Bericht ab 1990), Alphabetisierungsquote (vgl. UNDP-Bericht ab 1990), Arbeitslosigkeit (Sen 1999a, b), Gewicht und Größe von Kindern (zitiert in Sen 1985a).
Das herausragende Kennzeichen dieser Daten ist, dass die Personen nicht selbst befragt werden mussten, sondern von Dritten oder im letzten Beispiel durch den Forscher selbst beobachtet wurden. Meist – mit Ausnahme des letzten Beispiels – sind die Daten jedoch zu einem anderen Zweck als zur Erfassung des Wohlergehens der beobachteten Personen erhoben worden. Zudem sind es meist Daten, die sich nicht auf einzelne Personen beziehen, sondern die Gesellschaft als ganzes kennzeichnen. Anders ausgedrückt: es sind Makro- und keine Mikrodaten.168 ___________ 168
Das bemerken auch Balestrino/Sciclone (2000, S. 6.) Es gibt daher eine Diskussion darum, ob man auch von „social capabilities“ sprechen könne, die in Robeyns (2000) wiedergegeben ist. Robeyns spricht sich gegen die Verwendung des Begriffs „social capabilities“ aus, fordert jedoch, zwischen sozialen und persönlichen Faktoren bei der Konversion von Gütern in Funktionen zu unterscheiden (Robeyns 2000, S. 5).
188
4. Der Ansatz von Sen
Ein interessantes weiteres Beispiel für diese Art von Daten wird in der Studie von Balestrino (1996) verwendet: Ihm stehen Daten über die Teilnahme am Sozialhilfeprogramm der Stadt Pistaia zur Verfügung. Über die Teilnahme am Programm entscheiden Sozialarbeiter. Das Programm umfasst nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch Nachhilfeunterricht und Ausgabe von Mahlzeiten, so dass es für Balestrino möglich ist, den Zusammenhang zwischen Bildungsarmut sowie Mangelernährung und Einkommensarmut zu untersuchen. Bemerkenswert daran ist, dass in der Studie von Balestrino die Beobachtung durch Experten – nämlich die Sozialarbeiter – stattfand. Die meisten Beispiele von Sen bauen hingegen auf Beobachtungen durch statistische Landesämter auf und liegen oft nur in aggregierter Form vor. In einem Falle (zitiert in Sen, 1985a) hat er selbst die Beobachtung gemacht. Sen selber (1985b) hat darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig die Position und die eigene Betroffenheit des Beobachters für das Ergebnis einer Beobachtung ist, daher gilt es, die Herkunft einer Information immer im Blick zu haben (vgl. Phipps 2002).
Verfügbarkeit von Daten Die von Sen für seinen Ansatz favorisierte Datenart – nämlich Beobachtungen zum Zustand von Personen – ist bisher bei den empirischen Anwendungen seines Ansatzes mit Ausnahme von Balestrino (1996) und jenen Arbeiten, die sich mit dem HDI beschäftigen (Baliamoune 2003, Foster/LopezCalva/Székely 2003, Arcelis/Sharma/Srinivasan 2003), nicht genutzt worden. Die meisten Studien nutzen Stichprobenerhebungen, die auf Umfragen beruhen wie bspw. das ECHP (European Community Household Panel) und der Survey of Household Income and Wealth (SHIW) der Bank von Italien. Dies hat viele Gründe. Vor allem sind diese Daten bereits verfügbar und sie gewährleisten eine Vergleichbarkeit bezüglich verschiedener Indikatoren (Dimensionen), weil die Daten derselben Stichprobe entstammen. Die Umfragen verfolgen zudem einen mikrofundierten Ansatz, d. h. sie enthalten über ein und dieselbe Person mehrere Informationen, so dass die Zusammenhänge zwischen den erreichten Werten für verschiedene Indikatoren (Dimensionen) erforscht werden können. Wie Balestrino und Sciclone (2000) und Comim (2001) bemerken, bezieht sich Sen zwar in seinen theoretischen Schriften zum Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten auf Individuen, seine Anwendungsbeispiele beziehen sich aber auf Gruppen oder ganze Nationen. Während Balestrino und Sciclone fordern, nach entsprechenden Mikrodaten zu suchen, rechtfertigt Comim das Vorgehen Sens mit dem Hinweis auf die politische Intention des Ansatzes (wie bereits Desai 1990, s. o.):
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
189
„Sen’s emphasis on the interpersonal variations of conversion ability suggests that we should use mainly individual data on functionings achievement.“ (Balestrino/Sciclone 2000, S. 6) „It is interesting to note that formally the reference unit of the Capability Approach is the individual, but that in practice Sen quite often illustrates the approach by using group or country-level data. ... Indeed, as Douglas and Ney (1998: 72) observe, Sen is only formally or nominally concerned with the individual because in practice ,the measures are designed to assess the institutional support for the individual‘.“ (Comim 2001, S. 9169)
Auf jeden Fall hat die Verwendung von vorhandenem Datenmaterial neben dem großen Vorteil der Verfügbarkeit den großen Nachteil, dass nur jene Indikatoren – und somit auch Dimensionen – berücksichtigt werden können, die in dem Datenmaterial enthalten sind. Dies sollte bei der Interpretation der empirischen Ergebnisse berücksichtigt werden. Zudem stellt sich die Frage, welche weiteren Informationen für ein bestimmtes Untersuchungsziel jeweils wünschenswert wären, ob die Berücksichtigung dieser Informationen das Ergebnis verändern würde und ob eine Studie mit demselben Untersuchungsziel andere Ergebnisse hätte, wenn die Daten zu diesem Zweck erhoben worden wären. Natürlich besteht ein Zwang, nach „praktischen Kompromissen“ zu suchen, wie von fast allen Anhängern des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten170 eingeräumt wird. Dennoch ist bemerkenswert, dass bislang kein Versuch unternommen wurde, Daten für eine empirische Studie zum Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten zu erheben, obwohl die Bestimmung einer Liste mit relevanten Funktionen als Dimensionen und die Suche nach entsprechenden Indikatoren von Chiappero-Martinetti (2000) und Balestrino und Sciclone (2000) als Voraussetzungen für eine empirische Umsetzung des Konzeptes genannt werden. 171
4.5.3 Vorgehen beim Vergleich Sen selber unterscheidet drei Anwendungsmöglichkeiten seines Ansatzes, die sich alle auf den Vergleich von Bündeln von Funktionen und nicht auf Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten beziehen. Die meisten empirischen Studien lassen sich in das von Sen vorgeschlagene Schema einordnen, wie an ___________ 169 Das Zitat bezieht sich auf Douglas, M./Ney, S. (1998): „Missing Persons: a critique of personhood in the social sciences“, Berkeley. 170 Vgl. u. a. Basu (1987a), Sen (1992a, S. 52), Robeyns (2000), ChiapperoMartinetti (2000), Balestrino/Sciclone (2000) und Comim (2001). 171 Einzig Segal (1998) geht den Weg, mit einer Liste von Dimensionen, nämlich Nussbaums (1998) Liste, anzufangen und dann noch möglichen Indikatoren zu suchen.
190
4. Der Ansatz von Sen
Beispielen gezeigt wird. Auf die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten beziehen sich nur wenige Studien, die sich allerdings darauf beschränken, die Vergleichsmöglichkeiten zu erörtern. Sie werden ebenfalls vorgestellt. Sen selber hat seinen Ansatz mikroökonomisch fundiert, aber makroökonomisch veranschaulicht. Es stellt sich daher die Frage, wie die vorhandenen empirischen Studien mit diesem Problem umgehen.
Vergleich von Bündeln von Funktionen Sen (1999a, S. 81ff) sieht drei Möglichkeiten zur Anwendung des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten:172 I. direkt173 a) mit vollständigem Vergleich, b) mit partiellem Vergleich, c) mit Vergleich ausgewählter Funktionen, II. ergänzend zur Betrachtung des Einkommens, III. indirekt zur Erstellung von Äquivalenzskalen. Unter einer direkten Umsetzung seines Ansatzes (Vergleichsmöglichkeit I.) versteht Sen den vollkommenen Übergang zum Bewertungsraum der Funktionen. Es ist also jene Form der Anwendung, die dem Ansatz am weitesten zu folgen scheint: „... the capability approach is concerned with showing the cogency of a particular space for the evaluation of individual opportunities and successes.“ (Sen, 1993b, S. 50)
Aber Sen selber warnt vor dieser Sichtweise: „Since the capability perspective is sometimes interpreted in terribly exacting terms (total comparison under the direct approach = Vergleichsmöglichkeit I. a) O.L.), it is important to emphasize the catholicity that the approach has.“ (Sen 1999a, S. 85)
Der entscheidende Schritt bei der direkten Umsetzung ist jedenfalls der Übergang zu den Funktionen als Bewertungsgrundlage (an Stelle von Einkommen oder Nutzen). Es ist möglich, zunächst nur eine einzelne Funktion (Vergleichsmöglichkeit I. c)) zu betrachten, wie dies z. B. Basu und Foster (1998) in ihrer Arbeit zur Messung der Lese- und Schreibfähigkeit oder Schokkaert ___________ 172
Brandolini/D’Alessio (1998, S. 16) definieren die Anwendungsmöglichkeiten anders: 1. ergänzende Strategie: Analyse einzelner Funktionen; 2. umfassende Analyse, 2.a) nicht-aggregative Strategien (Dominanzanalyse, multivariate Techniken und multidimensionale Ungleichheitsmaße), 2.b) aggregative Strategie (Indikator für Wohlergehen und Äquivalenzskalen). 173 Zumindest diese Anwendungsmöglichkeit sieht Sen auch für Verwirklichungsmöglichkeiten.
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
191
und van Ootegem (1990) in ihrem Beitrag über Arbeitslosigkeit getan haben. Aus solchen Arbeiten lassen sich eventuell Hinweise entnehmen zur Relevanz und Rolle einzelner Funktionen, so dass in einer ersten Annäherung eine partielle Ordnung (Vergleichsmöglichkeit I. b)) erzielt werden kann. Es ist nicht ganz klar, ob Sen hierbei nur auf die Unvollständigkeit der Ordnung abzielt, die mit der Verwendung bestimmter Methoden (s. u.) wie der Fuzzy-set Analyse (z. B. Chiappero-Martinetti 2000) oder von Dominanzrelationen (z. B. bei Brandolini/D’Alessio 1998) einher geht, oder ob Sen die Unvollständigkeit der zugrunde gelegten Liste mit relevanten Dimensionen (siehe Abschnitt 4.5.1) meint, wie bspw. beim HDI in Verbindung mit einer vollständigen Ordnung oder bei Balestrino (1996) ohne vollständige Ordnung. Ein vollständiger Vergleich (Vergleichsmöglichkeit I. a)) kann daher sowohl als Studie mit vollständiger Ordnung (wie eben der HDI) verstanden werden oder aber als Studie, die eine „vollständige“ Liste mit Dimensionen und die vollständige Ordnung umfasst. Wie im Abschnitt 4.5.1 erläutert, streben einige Autoren eine solche vollständige Liste an, allen voran Nussbaum, aber eine empirische Studie, die auf einer solchen vollständigen Liste beruht und eine vollständige Ordnung erzielt, ist mir nicht bekannt. Eine Mehrzahl der bisher verfassten empirischen Studien versucht die Frage zu beantworten, wie der Zusammenhang zwischen Einkommen und Wohlergehen im Sinne von Funktionen ist. Wenn man das Einkommen selbst als Funktion oder zumindest als Indikator einer Funktion interpretiert, dann sind diese Studien ebenfalls als direkte Umsetzung des Ansatzes zu betrachten. Man kann sie aber auch als Beispiele für die Vergleichsmöglichkeit II sehen, nämlich als Studien, in denen Informationen zu Funktionen ergänzend zu Informationen zur Einkommensverteilung heran gezogen werden. Zu dieser Gruppe gehören: Lovell u. a. (1990), Balestrino (1996), Segal (1996), Ruggeri Laderchi (1997), Chiappero-Martinetti (2000), Balestrino und Sciclone (2000) und Klasen (2000). Übrigens kommen alle Autoren zu dem Schluss, dass zwar große Ähnlichkeiten zwischen der Ordnung, die auf einer Betrachtung des Einkommens basiert, und jener, die auf einer Betrachtung von Funktionen basiert, bestehen, dass die Unterschiede zwischen den Ordnungen aber eine zumindest ergänzende Betrachtung von Funktionen nahe legen. Sen (1997b, 1997) ebenso wie Atkinson (1995) zielen direkt auf eine ergänzende Verwendung der Informationen zu Funktionen ab. Ihre Arbeiten sind daher auf jeden Fall Beispiele für die Vergleichsmöglichkeit II. Als Vergleichsmöglichkeit III nennt Sen die indirekte Umsetzung seines Ansatzes. Die Idee ist dabei, Informationen zu Funktionen zu benutzen, um das Einkommen anzupassen, das Einkommen also in Abhängigkeit bestimmter Funktionen zu definieren. In gewissem Sinn sind sämtliche Arbeiten zu Äquivalenzskalen (siehe Abschnitt 2.5.2), die über eine Betrachtung der Skaleneffekte bei größeren Haushalten hinaus gehen, also bspw. das Alter, das Vorhan-
192
4. Der Ansatz von Sen
densein einer Behinderung etc. einbeziehen, alle so zu interpretieren, dass sie Sens Ansatz indirekt umsetzen. Allerdings hat sich bisher nur Lelli (2003) ausdrücklich auf Sen bezogen. Wie Sen (1999a, S. 83f) bemerkt, ist eine solche Umsetzung des Ansatzes nicht einfacher als eine direkte Umsetzung, auch wenn im Anschluss an vertraute Methoden im Umgang mit dem Äquivalenzeinkommen zurückgegriffen werden kann. Die Komplexität dieser Vergleichsmöglichkeit ergibt sich nach Sen aus drei Überlegungen: Erstens muss die wechselseitige Beziehung zwischen Einkommen und Verwirklichungsmöglichkeiten (siehe Abschnitt 4.5.4) beachtet werden, zweitens gilt es, zwischen Einkommen als Maß für Ungleichheit und Einkommen als Mittel zur Bekämpfung von Ungleichheit zu differenzieren, und drittens könnte es sein, dass ein absoluter Verlust an Verwirklichungsmöglichkeiten mit einem geringen relativen Verlust an Einkommen einher geht. Lelli (2003) hat sich daher darauf beschränkt, einzelne statt mehrerer Funktionen in die Äquivalenzskala einzubeziehen.
Vergleich von Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten Wie bereits bei der Einführung der Idee von Sen, die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten zur Grundlage der Bewertung des Wohlergehens zu machen (siehe Abschnitt 4.2.3), angesprochen, ist es sehr schwierig, diese Idee umzusetzen. Der Ratschlag von Basu (1987a, S. 75), sich bei der Bewertung des Wohlergehens auf die Betrachtung der erreichten Funktionen zu beschränken, wurde weitgehend befolgt. Doch zumindest einige Studien gehen auf die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ein und versuchen Wege zur Operationalisierung aufzuzeigen. Auf eine Schwierigkeit bei der Bestimmung der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten hat schon Williams (1987) aufmerksam gemacht, nämlich die Frage, wie wahrscheinlich das Erreichen eines bestimmten Bündels von Funktionen ist und wie relevant es daher ist. Diesen Gedanken greift Hossein (1990, S. 43ff) auf, um Verwirklichungsmöglichkeiten indirekt mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten zu messen. Dazu nimmt er an, dass die Individuen sich „normal verhalten“, so dass man vom beobachteten Verhalten, also von den erreichten Funktionen, Rückschlüsse auf die individuellen Eigenschaften, insbesondere die persönlichen Technologien ziehen kann. In dieselbe Richtung geht auch die Bemerkung von Harrison (2001, S. 8f), man müsse immer die in Bezug auf das Untersuchungsziel relevanten Unterschiede hervorheben und somit Annahmen zum „Normalverhalten“ machen. Brandolini und D’Alessio (1998) gehen ebenfalls auf die Frage der Wahrscheinlichkeit des Erreichens eines bestimmten Bündels an Funktionen ein, sehen dies aber in Zusammenhang mit der Frage des Zeithorizontes. Die
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
193
Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten von heute hängt ihres Erachtens ab von den bereits gestern erreichten Funktionen. Diesen Aspekt diskutiert und veranschaulicht Yaqub (2001) ausführlich vor dem Hintergrund der Frage, wann der beste Zeitpunkt für Interventionen zur Förderung der Verwirklichungsmöglichkeiten ist. Neben diesen beiden Ansätzen zur Operationalisierung der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, die an die Aussage Sens anknüpfen, man müsse die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten konstruieren und das einzige Element, was man sicher kenne, sei das Bündel von erreichten Funktionen, gibt es Ansätze, die bei der formalen Darstellung der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten (siehe Abschnitt 4.2.2) ansetzen und das Zusammenwirken von Ressourcen (der Budgetmenge) und der Menge an individuellen Technologien in den Mittelpunkt rücken. Die Anerkennung der Verschiedenartigkeit von Menschen ist nach Comim (2001) eines der hervorragenden Kennzeichen des Senschen Ansatzes. Sie bewirkt, dass der Zusammenhang zwischen Ressourcen und erreichten sowie erreichbaren Funktionen von Individuum zu Individuum unterschiedlich ist. Dass man trotzdem allgemeine Aussagen über die Bewertung anhand von Verwirklichungsmöglichkeiten machen kann, zeigt Herrero (1997). Auch sie fragt danach, ob die Bewertung gemäß des Ansatzes von Sen andere Ergebnisse bringt als die übliche Bewertung gemäß des Nutzens bzw. des Einkommens. Sie zeigt, dass der Nutzen selbst dann sinken kann, wenn die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten zunimmt. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, macht sie Annahmen über die Eigenschaften der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, die – so üblich sie auch in der Theorie über Mengen sein mögen (vgl. die Schilderung der Annahmen als „self-evident axioms and ... technical conditions“ in der Darstellung des Ansatzes bei Basu/Lopez-Calva 2002, S. 21) – m. E. auf ihre Anwendbarkeit in Bezug auf Verwirklichungsmöglichkeiten geprüft werden müssen. Immerhin stellt Herrero überhaupt die Frage nach den Eigenschaften der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, wenn auch ihre axiomatische Herangehensweise keine Lösung für eine empirische Umsetzung darstellt. Eine interessante Methode wenden Lovell u. a. (1990) an, um den Zusammenhang zwischen verfügbaren Ressourcen und erreichten Funktionen zu untersuchen, nämlich die Input-Output Analyse. Auch wenn in diesem Fall die Definition und Auswahl der Funktionen kritisiert werden kann, weil sie alle das psychische Wohlbefinden messen, könnte doch die Methode der Input-Output Analyse angewandt werden, um Informationen über „typische“ Umwandlungsmuster von Gruppen mit bestimmten Merkmalen zu erhalten. Wiederum müsste man also Annahmen über „normales Verhalten“ (s. o.) machen, um sich empirisch der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten zu nähern.
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4. Der Ansatz von Sen
Balestrino und Sciclone (2000) führen zwar eine Untersuchung auf Ebene der Funktionen durch, interpretieren diese aber als „minimal human rights endowment that should be guaranteed to all people“ (Balestrino/Sciclone 2000, S. 7) und halten so zumindest die Perspektive auf Verwirklichungsmöglichkeiten offen.
4.5.4 Methoden Zwei Phänomene sind bezüglich der angewandten Methoden zu beobachten: Zum einen gibt es Arbeiten wie die von Chiappero-Martinetti (1994, 1996, 2000), die eine bestimmte Methode für die Umsetzung des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten favorisieren, in ihrem Falle die Methode der Fuzzyset Theorie. Zum anderen ist eine Literatur zur Anwendung der stochastischen Dominanz in der Armuts- und Ungleichheitsmessung174, sowie zur multidimensionalen Armuts- und Ungleichheitsmessung175 entstanden, die sich zwar auf Sen beruft, seinen Ansatz hingegen nur als ein Beispiel nennt, für das die entsprechenden Methoden verwendet werden könnten. In seinem Ansatz formuliert Sen drei Überlegungen, die als Kriterien zur Einschätzung einer Methode verstanden werden können. Nach Vorstellung dieser Überlegungen werden die in empirischen Arbeiten angewandten Methoden erläutert und im Lichte dieser Überlegungen diskutiert. Den Abschluss dieses Kapitels bilden Tabellen 3 und 4, welche einen Überblick über empirische Arbeiten, die sich auf den Sen-Ansatz beziehen, geben.
Sens Überlegungen Sen formuliert in seinem Ansatz drei Überlegungen zur Einschätzung von Armut (und Wohlergehen im allgemeinen), die Auswirkungen auf die Wahl der Methode haben: Erstens ist die Einordnung von Situationen in vollständige Ordnungen oft zu genau und spiegelt die Mehrdeutigkeit des Konzepts der Armut zu wenig wider. Daher plädiert Sen für die Zulassung von unvollständigen Ordnungen bei der Armutsmessung. Zweitens hält er die Einschätzung einer Situation nur anhand eines Merkmals, z. B. anhand des Einkommens für unbefriedigend. Sein Ansatz ist multidimensional. Drittens sollte bei der ___________ 174 Vgl. z. B. Zheng (1999, 2000, 2001); Weymark/Donaldson (1998); Weymark/Tsui (1995); Villar (2001); Duclos/Makdissi (1999), Duclos/Sahn/Younger (2001); Garcia Diaz (2003). Siehe auch Abschnitt 2.5. 175 Vgl. z. B. Bourguignon/Chakravarty (1998, 1999, 2002, 2003); Tsui (1995, 1999, 2002). Einen Überblick zur multidimensionalen Ungleichheitsmessung bietet Savaglio (2002). Siehe auch Abschnitt 2.5.
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
195
Einschätzung des Wohlergehens und somit auch der Armut Freiheit eine Rolle spielen. Er erörtert in diesem Zusammenhang die Bedeutung prozessorientierter Bewertungsmethoden und führt die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ein, um einen Auswahlprozess zu modellieren. In seinem Buch „On Economic Inequality“ von 1973 empfiehlt Sen bereits die Anwendung der stochastischen Dominanz für die Armuts- (und Ungleichheits-)Messung mit der Begründung, dass es manchmal wünschenswert ist, zwei Situationen als „unvergleichbar“ zu bezeichnen (Foster/Sen 1997, S. 47). Es ist also vor allem die erste Überlegung, die Sen zu dieser Empfehlung führt. Trotzdem ist es nicht Sens Ziel, eine bestimmte Methode zu protegieren, sondern zwingende Gründe für den Übergang zum Bewertungsraum der Funktionen zu benennen (s. o.). Soll die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten als Grundlage für die Armutsmessung dienen, so bedient sich Sen selbst anderer Methoden als der stochastischen Dominanz, um die Mengen zu bewerten und zu vergleichen. Für eine Anwendung des Ansatzes auf der Ebene der Funktionen ist Sen gegenüber den verschiedenen Methoden aufgeschlossen, wie seine positive Beurteilung methodisch so unterschiedlicher Arbeiten wie denen von Chiappero-Martinetti (Sen 1994a, 1996) und der von Schokkaert und Van Ootegem (Sen 1990) zeigt.
Fuzzy-sets Wie begründet nun Chiappero-Martinetti ihre Wahl der Fuzzy-set Theorie als Methode zur Armutsmessung im Sinne des Ansatzes von Sen? Sie argumentiert folgendermaßen: „Likewise, if we want to make allowance for the diversity of personal characteristics and the individual’s different levels of need, it would be more plausible to assume that there is a gradual passage within the two extreme positions of severe (not only economic) deprivation and clear-cut well-being.“ (Chiappero-Martinetti, 1994, S. 371)
Eine Abwägung der vielen Dimensionen von Armut gegeneinander erscheint schwierig. Die Fuzzy-set Theorie176 definiert einen Übergangsbereich ___________ 176
Der Begriff „fuzzy set“ kann ins Deutsche mit „unscharfe Menge“ übersetzt werden. Die Grundidee ist, dass es Mengen gibt, die sich nicht scharf abgrenzen lassen, bei denen ein fließender Übergang zwischen der Nicht-Zugehörigkeit und der Zugehörigkeit zur Menge besteht. In diesem Übergangsbereich muss daher eine Übergangsfunktion definiert werden, die sozusagen den „Grad“ der Zugehörigkeit zur Menge festlegt. Da an der Festlegung einer Armutsgrenze gerade kritisiert wird, dass sie einen scharfen Schnitt bei einem bestimmten Wert (wie einem auf Eurocent genau bestimmten Einkommen) macht, ist es naheliegend, die Fuzzy-set Theorie auf die Armutsmessung anzuwenden, wie dies Cerioli/Zani (1990) im eindimensionalen Fall tun und
196
4. Der Ansatz von Sen
für jede Dimension, in dem sich nicht scharf zwischen arm und nicht-arm entscheiden lässt. Für die Vereinigung und die Überschneidung von unscharfen Mengen stellt die Fuzzy-set Theorie mehrere Definitionen bereit, was für die Anwendung auf multidimensionale Probleme wichtig ist. Die entstehende Schnitt- bzw. Vereinigungsmenge ist wiederum unscharf. Zudem ist die Fuzzyset Theorie nach Chiappero-Martinetti (1994) gut geeignet, um dichotome oder nur ordinal erfassbare Variablen einzubeziehen. Ihr Fazit ist daher: „Without forgoing the necessary formal rigour, it often makes it possible to reduce the gap between theoretical formulations and their applicability, and proves particularly useful whenever a robust theory is matched by complex real situations that jeopardize its applicability.“ (Chiappero-Martinetti, 1994, S. 372)
Wie Basu (1987b) zeigt, stellt die Verwendung von Fuzzy-sets eine andere Lösung für die Forderung nach Unvollständigkeit der Ordnung dar. In Reaktion auf Sen (1973 in Sen/Foster 1997) schreibt Basu: „After all, a measure of inequality is meant to capture our inherent attitude to inequality and if the latter is imprecise, then this ought to be reflected in the measure. ... It is the contention of this paper that while the standard response to the critique of using orderings has been to jettison the ,completeness‘ axiom, the real culprit is the ,exactness‘ axiom which is generally implicit and therefore has managed to slip by unnoticed.“ (Basu 1987b, S. 275 und 279)
Um also der Forderung Sens nach einer vagen Definition von Ungleichheit (und Armut) nachzukommen, könne man einerseits auf unvollständige Ordnungen übergehen, wie Sen selbst es tut (Sen/Foster 1997, Kap. 3). Man könne aber auch eine Unschärfe in der Definition erlauben. Wie Basu zeigt, ist die Ordnung, die durch das von ihm definierte Fuzzy-set erzielt wird, ungenau und enthält die als Lorenz-Dominanz bekannte – unvollständige – Ordnung. Insofern lässt sich sagen, dass der Übergang zu unscharfen Mengen eine Möglichkeit darstellt, Sens Überlegung bezüglich der Vollständigkeit umzusetzen. Die Überlegungen zur Mehrdimensionalität von Chiappero-Martinetti beschränken sich auf die Frage, wie die Armen im mehrdimensionalen Fall zu identifizieren sind. Sie stellt keine Lösung für die Frage dar, wie die Dimensionen im Falle der Armutsmessung aggregiert werden können. Der Fuzzy-set Ansatz wurde auch für die Ermittlung von Armut entsprechend anderer Theorien multidimensionaler Armut angewandt.177 Wie Sen (1994a, S. 343) be___________ Schaich/Münnich (1996), Cheli/Lemmi (1995) und Chiappero-Martinetti (1994, 1996, 2000) auch für den mehrdimensionalen Fall diskutieren. 177 Cheli/Lemmi (1995) beziehen sich auf Townsend. Sie setzen Townsends Überlegung, dass Armut ein relatives Phänomen ist, um, indem sie die Übergangsfunktion von nicht-arm zu arm für jede Dimension in Abhängigkeit von der statistischen Verteilung des Merkmals in der Bevölkerung bestimmen. So vermeiden sie zudem, sich auf eine Ober- und Untergrenze des Übergangsbereichs festzulegen, die ebenso umstritten sein
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
197
merkt, bleibt Chiappero-Martinetti in ihrer Anwendung auf der Ebene der Funktionen und definiert nicht etwa die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten als Fuzzy-set. Fazit: Fuzzy-sets lösen das Problem der Ungenauigkeit in der Vorstellung von Armut und Ungleichheit auf eine andere Art als partielle (Dominanz-) Ordnungen. Sie bieten ferner eine Lösung für das Problem der Identifikation der Armen im multidimensionalen Fall. Aber bisher liegt weder ein Vorschlag für ein multidimensionales Fuzzy Armutsmaß vor noch für eine Anwendung der Fuzzy-set Theorie für die Menge der Verwirklichungsmöglichkeiten. Die dritte Überlegung Sens ist somit überhaupt nicht umgesetzt worden, die zweite nur teilweise.
Multivariate Methoden Wie Brandolini und D’Alessio (1998, S. 23f) mit der Angabe von Beispielen ausführen sind multivariate Verfahren – wie Faktoranalyse, Hauptkomponentenanalyse und Clusteranalyse – insbesondere geeignet, um die relevanten Dimensionen heraus zu filtern und Gewichte für sie zu finden. So verwenden bspw. Balestrino und Sciclone (2000) die Faktoranalyse, um ihre sieben Funktionen, bzw. die Indikatoren dafür auf drei Faktoren zu reduzieren, welche sie dann mit ihrer Varianz gewichten. D. h. die erreichten Werte der einzelnen Funktionen werden bei der Faktoranalyse zurückgeführt auf „hinter den Variablen liegende“ Faktoren – im Falle von Balestrino und Sciclone sind es die Faktoren „sozioökonomische Entwicklung“, „Gesundheit“ und „Umwelt“ – zu denen die einzelnen Funktionen als Variablen nur einen Beitrag leisten. Insofern ist fraglich, was als Funktion interpretiert werden soll: die ursprünglich ausgewählten Variablen, die Indikatoren dafür oder die aus der Analyse hervorgehenden Faktoren. Auch Lelli (2001) wendet die Faktoranalyse an, um die relevanten Funktionen zu identifizieren und zu gewichten. Dann verwendet sie die KleinstQuadrate Regression als Aggregationsmethode, um einen Wert für das allgemeine Wohlergehen zu erhalten. Schließlich vergleicht sie die Ergebnisse mit Ergebnissen, die eine Betrachtung der Gruppe der Armen als Fuzzy-set erzeugen. Sie weist darauf hin, dass bei der Fuzzy-set Analyse die einzelnen Dimensionen getrennt von einander behandelt werden und ihre Auswahl vorgegeben werden muss. Trotzdem sind die Ergebnisse sehr ähnlich, weshalb Lelli (2001, S. 26) fordert, die formale Beziehung zwischen den Aggregationsmöglichkeiten in der Fuzzy-set Theorie (Vereinigungs- und Schnittmenge sowie Betrach___________ dürften wie eine herkömmliche Armutsgrenze. Diese Herleitung einer Übergangsfunktion stellt Chiappero-Martinetti (2000) neben anderen vor und verwendet sie selbst.
198
4. Der Ansatz von Sen
tung kumulierter Armut178) und der Schätzung mit der Kleinst-QuadrateMethode systematisch zu untersuchen. Klasen (2000) benutzt nicht die Faktoranalyse, sondern die Hauptkomponentenanalyse. Die beiden Verfahren unterscheiden sich rechentechnisch überhaupt nicht, gehen aber von unterschiedlichen Modellen aus. Während die Faktoranalyse die Varianz der Variablen durch die Faktoren erklären möchte, versucht die Hauptkomponentenanalyse, die Datenstruktur mit Hilfe möglichst weniger Komponenten zu reproduzieren.179 Die Faktoren werden bei der Hauptkomponentenanalyse daher nicht als Ursachen für die Varianz der Variablen interpretiert, sondern als Sammelbegriff für mehrere Variablen. Klasen nennt Vor- und Nachteile dieses Verfahrens: „The advantage of such an approach is that it uncovers empirically the commonalities between the individual components and bases the weights of these on the strength of the empirical relation between the deprivation measure and the individual capabilities. ... The disadvantage of such an approach is that it implicitly assumes that only components with strong correlations with each other are relevant for the deprivation measure which may be debatable in some cases.“ (Klasen 2000, S. 39, FN 13)180
Von den bisher aufgeführten Beispielen strebt nur Klasen ausdrücklich die Messung von Armut und nicht Wohlergehen im Allgemeinen an. Die multivariaten Verfahren legen jedoch keine Methode nahe, wie Armutsgrenzen abzuleiten sind. Klasen arbeitet daher nicht mit einzelnen Armutsgrenzen für jede Dimension, sondern führt eine Grenze für seinen Deprivationsindex ein.181 Somit misst er Armut mit einem methodisch eindimensionalen Maß (siehe Abschnitt 2.5.3). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass multivariate Verfahren vor allem eingesetzt werden, um die Datenmenge zu reduzieren und bestimmte Strukturen in den Daten nachzuweisen. Damit stellen diese Verfahren vor allem einen Lösungsansatz für das Problem der Multidimensionalität dar. Wie Klasen andeutet, sind die Ergebnisse vorsichtig zu interpretieren: Ist eine starke Gemeinsamkeit zwischen mehreren Variablen wirklich ein Hinweis auf die ___________ 178
Schaich/Münnich (1996) verwenden das Konzept kumulierter Armut (siehe Abschnitt 2.5.4), d. h. sie gehen von einem fließenden Übergang zwischen Armut und Reichtum aus, je nachdem, in wie vielen Dimensionen eine Person unter die Armutsgrenze fällt. Die Gruppe der Armen wird also bei ihnen als unscharfe Menge definiert, deren Übergangsfunktion ein gewichtetes Mittel aus den Übergangsfunktionen für die einzelnen Dimensionen ist. 179 Vgl. zu den Unterschieden zwischen beiden Verfahren bspw. Backhaus u. a. (1996). 180 Mit „deprivation measure“ bezeichnet Klasen ein Armutsmaß, das auf Funktionen im Unterschied zu Einkommen basiert. Statt von „functionings“ spricht er von „capabilities“, vgl. Fußnote 166. 181 Darauf weist Qizilbash (2004) hin.
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
199
(inhaltliche) Relevanz dieser Variable? Soll die Gewichtung der Variablen aus den Daten abgeleitet oder normativ vorgegeben werden? Multivariate Verfahren bieten weder bezüglich der Forderung nach Unvollständigkeit der Ordnung noch bezüglich der Modellierung von Freiheit eine Lösung im Einklang mit Sens Überlegungen an.
Dominanz In der Literatur182 zu multidimensionalen Armutsordnungen wird betont, dass mit dem Einsatz der stochastischen Dominanz die Robustheit der Ergebnisse von Armutsmessungen in vielerlei Hinsicht überprüft werden kann. Es ist also nicht nur die allgemeine Überlegung von Sen, dass Armutsordnungen als partielle Ordnungen die dem Konzept von Armut und Ungleichheit innewohnende Mehrdeutigkeit bei der Messung berücksichtigen, sondern auch die eher praktische Überlegung, wie robust die Messungen sind, die zur Verwendung der stochastischen Dominanz führen. Armutsordnungen beantworten die Frage, ob bspw. eine Veränderung der Armutsgrenze das empirische Ergebnis einer Armutsmessung verändern würde. Die Frage nach der Robustheit des Ergebnisses einer Armutsmessung kann in vielerlei Hinsicht gestellt werden: Erstens bezüglich der einzelnen Armutsgrenzen, zweitens bezüglich der geeigneten Modellierung des Zusammenspiels der Armutsgrenzen, drittens bezüglich der Äquivalenzskalen und bezüglich der Methode zur Aggregation (der Armutsmaße). Zudem kann die Methode der stochastischen Dominanz auch bei diskreten Variablen angewandt werden. Neben einigen Veranschaulichungen, die Duclos, Sahn und Younger (2001) anführen, haben nur Brandolini und D’Alessio (1998) die Methode der stochastischen Dominanz in Verbindung mit dem Ansatz von Sen genutzt. Sie gehen auf die Frage der Gewichtung der unterschiedlichen Dimensionen ein und testen die Robustheit mit Hilfe der sequentiellen Dominanz. Obwohl also die Methode der Dominanz Lösungsansätze zu vielen Problemen bietet und von Sen selbst propagiert wurde, weil sie seine ersten beiden Überlegungen zu Unvollständigkeit und Multidimensionalität in der Armutsmessung umsetzt, ist sie bislang kaum im Zusammenhang mit dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten genutzt worden. Hier besteht eindeutig weiterer Forschungsbedarf auch in Bezug auf Sens dritte Überlegung, Freiheit in die Bewertung von Wohlergehen und Armut mit einzubeziehen.
___________ 182 Vgl. Atkinson/Bourguignon (1982), Bourguignon/Chakravarty (2002), Savaglio (2002), Garcia Diaz (2003) und Duclos/Sahn/Younger (2003), vgl. Abschnitt 2.5.5.
4. Der Ansatz von Sen
200
Indexbildung Als erstes ist hier der Human Poverty Index (HPI) zu nennen, der von Anand und Sen (1997) entwickelt wurde. Der HPI umfasst dieselben Dimensionen wie der HDI, nämlich Bildung, Gesundheit und Einkommen, wählt aber Indikatoren dafür, welche stärker die Deprivation erfassen. So misst bspw. der HDI den Gesundheitszustand einer Bevölkerung an der Lebenserwartung, während der HPI die Mortalität im Alter bis zu 40 Jahren als Indikator für Deprivation im Bereich Gesundheit heranzieht. Der HPI kann als verallgemeinerter Durchschnitt der Armutsquoten in den drei Dimensionen verstanden werden.183 Diese Konstruktion ermöglicht es, ein substitutives Verhältnis zwischen den verschiedenen Dimensionen zuzulassen (vgl. Anand/Sen 1997, Appendix). Ein auf diese Weise konstruierter Index ist auch unter den Indizes, die Brandolini und D’Alessio (1998) ausprobieren. Des Weiteren untersuchen sie erstens die Armutsquote bzgl. der Vereinigungsmenge (vgl. Abschnitt 2.5.4) im Raum der Funktionen, mit der sie den Anteil der Personen, die in mindestens einer Dimension unter die Armutsgrenze fallen, erfassen, zweitens ein Maß, das die durchschnittliche Armut über sämtliche Funktionen misst, drittens ein Maß, das die durchschnittliche Armut über sämtliche Indikatoren misst (Brandolini/D’Alessio arbeiten mit mehreren Indikatoren für eine Funktion) und viertens einen Index, bei dem die Gewichtung der Dimensionen aus der Häufigkeit abgeleitet wurde. D. h. Brandolini und D’Alessio überprüfen die Robustheit der Ergebnisse gegenüber verschiedenen Gewichtungen und verschiedenen Annahmen zur Substituierbarkeit zwischen den Dimensionen. Unter anderem sprechen Brandolini und D’Alessio damit ein Problem an, das Atkinson (2003a) genauer untersucht: Welches Verhältnis besteht zwischen der Betrachtung der Kumulation von Armut (siehe Abschnitt 2.5.4) und der Annahme von Substituierbarkeit bzw. Komplementarität zwischen den Dimensionen. Wie bereits für den eindimensionalen Fall gezeigt (siehe Abschnitt 2.3.1) ist das Problem bei einer reinen Zählung der Armen, dass das Transferaxiom nicht erfüllt wird. Im mehrdimensionalen Fall ist zusätzlich die Frage der Substitution zu klären. ___________ 183
Der HPI ist mit einer CES-Funktion (constant elasticity of substitution) kon-
struiert: HPI
ª w1 P1Į w2 P2Į w3 P3Į º « » w1 w2 w3 »¼ ¬«
d. h. w1
w3
w2
1/ Į
1 , so ergibt sich HPI
gibt dann die Substitutionselastizität an.
. Werden die Dimensionen gleich gewichtet,
ª1 Į 1 Į 1 Į º « 3 P1 3 P2 3 P3 » ¬ ¼
1/ Į
. Der Wert von D
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
201
Auch Balestrino und Sciclone (2000) fassen ihre Ergebnisse zum Wohlergehen in verschiedenen Regionen Italiens gemessen an Funktionen zu einem Index zusammen, wobei der erreichte Wert in einer Dimension mit Hilfe eines Distanzmaßes in Beziehung zu den Werten gesetzt wird, die in anderen Regionen erreicht wurden. Bemerkenswert an all diesen Indizes ist, dass sie dazu dienen, verschiedene Regionen (bei Brandolini/D’Alessio 1998 und Balestrino/Sciclone 2000) oder Länder (beim HPI) zu vergleichen. Letztlich soll nur eine Rangordnung erstellt werden. Dies mag der Grund dafür sein, dass Sen selbst Indizes vorgeschlagen hat, obwohl sie seinen Überlegungen widersprechen: Sie erstellen eine vollständige Ordnung, sie führen viele Dimensionen auf eine Zahl zurück und beziehen in der Regel nicht Freiheit in die Bewertung von Wohlergehen und Armut ein.
Weitere Methoden und Anwendungsgebiete Bereits die aufgeführten Beispiele belegen die These von Robeyns (2000, S. 26), dass die Anwendungen des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten auf viele verschiedene interessante Techniken zurückgreifen. Hier sei noch auf zwei weitere Methoden aufmerksam gemacht: Ruggeri Laderchi (1997) wendet die Probit-Analyse an, um das Verhältnis zwischen Einkommensarmut und Armut bezüglich einzelner Funktionen zu klären, denn diese erlaube, folgende Frage zu beantworten: „>H@ow much does income affect the probability of a child being malnourished, or not receiving secondary education, or of a person being seriuosly ill, other (relevant) things being equal?“ (Ruggeri Laderchi 1997, S. 353)
Mit der Hauptkomponentenanalyse lässt sich auch nach gemeinsamen Hauptkomponenten („common principal components“) suchen, die für mehrere Gesellschaften und über einen längeren Zeithorizont gelten. Diese Methode haben Quadrado u. a. (2001) angewandt, um die Erfolge im Bildungssektor in verschiedenen spanischen Regionen zu messen. In ähnlicher Weise suchen auch Rahman, Mittelhammar und Wandschneider (2003) nach Vergleichsmaßstäben für Ländervergleiche bezüglich der Lebensqualität. In Tabellen 3 und 4 sind die mir bekannten empirischen Anwendungen des Senschen Ansatzes aufgeführt und kurz bezüglich des Anwendungsgebietes, der verwandten Methode, des räumlichen Bezugs und der Datenbasis charakterisiert. Die Überlegungen von Sen, dass Wohlergehen eine multidimensionale Größe ist, zugleich aber auch ein Konzept, das sich nicht eindeutig fassen lässt, und dass Freiheit zum Wohlergehen dazu gehört, lassen sich nicht alle mit
4. Der Ansatz von Sen
202
einer Methode umsetzen. Deshalb hat sich eine methodische Vielfalt bei der Anwendung des Ansatzes ergeben, die Sens Forderung nach Pluralismus in den Anwendungsgebieten entspricht. Die Methoden haben jeweils Stärken und Schwächen und stellen Lösungen für bestimmte Teilprobleme dar.
Tabelle 3 Empirische Arbeiten I Autor/Studie
Thema
Methode(n)
Region
Datenquelle
Studien zu Armut und Wohlergehen Armut
Probitanalyse
Chile
CASEN
Wohlergehen
Faktoranalyse
Italien
Italien
ISTAT/ italienisches Umweltministerium ISTAT
Italien
SHIW
Italien/ Belgien Italien
ECHP
Brandolini/ D’Alessio 1998 Balestrino 1996
Fuzzy-set/ Faktoranalyse Wohlergehen/ (sequentielle) Armut Dominanz Armut Betrachtung einzelner Funktionen
Pistoia (Italien)
Daten zu kommunalem Wohlfahrtsprogramm
Klasen 2000
Armut
Hauptkomponentenanalyse/ Index
Südafrika
SALDRU
Lovell u. a. 1990
Wohlergehen
Input-Output Modell, Indizes Multidimensionale Dominanz
Australien
ASLS
Brasilien
PNAD household survey
Borda-Regel, Hauptkomponentenanalyse
Länderver- verschiedene gleich Statistiken
Ruggeri Laderchi 1997 Balestrino/ Sciclone 2000
Chiappero Marti- Wohlergehen/ Fuzzy-set Armut netti 2000 Wohlergehen Äquivalenzskala Lelli 2003 Lelli 2001
Wohlergehen
Armut/ BilBourguignon/ Chakravarty 2003 dung Rahman/Mittelhammar/Wandschneider 2001
Wohlergehen
SHIW
Eigene Zusammenstellung; Abkürzungen: ASLS – Australiean Standard of Living Study, CASEN – Chile National Socioeconomic Characterisation Survey, ECHP – European Community Household Panel; ISTAT – Italien central Statistical office, PNAD – Pesquisa Nacional por Amostra de Domicilios, SALDRU – South African Labour and Demographic Research Unit at the University of Cape Town; SHIW – Survey of Household Income and Wealth
4.5 Operationalisierung des Ansatzes
203
Tabelle 4 Empirische Arbeiten II Autor/Studie
Thema Methode(n) Region Datenquelle Der Human Development Index und seine Varianten Wohlergehen Index LänderverLandesHDI (Anand/ gleich statistiken Sen 1994) Wohlergehen HDI – FuzzyLänderverLandesBaliamoune set gleich statistiken 2003 HDI – verteiMexiko LandesFoster/Lopez- Wohlergehen lungssensitiv statistiken Calva/Szekely 2003 Arcelis/Sharma/Srinivasan 2003
Wohlergehen
HDI – Effizienz
Ländervergleich
Landesstatistiken
HPI (Anand/ Sen 1997)
Armut
Index
Ländervergleich
Landesstatistiken
Studien zu speziellen Themen Wohlergehen Faktoranalyse Belgien von Arbeitslosen
Befragung
Hossein 1990
Armut/Unterernährung
Wahrscheinlichkeit/Index/ Dominanz
Beispiele aus mehreren Ländern
verschiedene Statistiken
Phipps 2002
Wohlergehen von Kindern
Dominanzordnung
Kanada/ Norwegen/ USA
NLSCY; Norway Health Survey; National Survey of Children for the U.S.
Kumar 1992
Situation von Frauen und deren Kindern
Index (index of Entwicklungsmaternal länder achievements)
verschiedene Statistiken
Quadrado/ Loman/ Folmer 2001
Bildung
Hauptkomponentenanalyse/ multidimensionaler Index
Spanien
spanisches Bildungsministerium
Basu/Foster 1998
Lesefähigkeit
Index
Indien
Chakravarty/ Majumder 2003
Lesefähigkeit
Index
Indien
Registrar General of India NSSO
Schokkaert/ Van Ootegem 1990
Eigene Zusammenstellung; Abkürzungen: NLSCY – National Longitudinal Survey of Children and Youth, NSSO – National Sample Survey Organisation
5. Vergleich der Ansätze Zwischen dem Senschen Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten und dem (den) Lebenslage-Ansatz(-Ansätzen) wurden schon von verschiedenen Seiten Ähnlichkeiten festgestellt184, ein Vergleich der Ansätze steht indes noch aus. Ein Vergleich setzt immer zweierlei voraus: Zum einen lässt sich nur das vergleichen, was Ähnlichkeiten aufweist. Zum anderen ist ein Vergleich erst dann interessant, wenn nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch Unterschiede existieren. Hier sollen die Ansätze in Bezug auf ihre Eignung als Grundlage für die Armutsmessung verglichen werden. Ziel ist es zum einen, das Ausmaß der Gemeinsamkeiten einzuschätzen, und zum anderen, aufgrund der Unterschiede zwischen den Ansätzen ihre Stärken und Schwächen heraus zu arbeiten und die Möglichkeiten der Operationalisierung zu erörtern. Im Abschnitt 5.1 werden sie auf ihren Kontext hin verglichen. Dabei gilt es, nicht nur den Kontext zu sehen, den die Autoren selbst für ihre Ansätze gewählt haben, sondern auch zu untersuchen, in welchem Kontext die Ansätze diskutiert werden. Im Abschnitt 5.2 werden die Hauptbegriffe und die Struktur der Ansätze im Detail verglichen. In gewissem Sinne ist dies der Kern des Vergleichs, weil hier die Frage beantwortet wird, wie tragfähig die These von der Ähnlichkeit der Ansätze, von ihren Gemeinsamkeiten ist. Abschnitt 5.3 widmet sich der Konzeption von Armut in den Ansätzen. In die Diskussion von absoluter versus relativer Auffassung von Armut mischt sich nur Sen explizit ein. Die Definition von Armutsgrenzen in den anderen Ansätzen, sowie die Diskussion um objektivistische versus subjektivistische Konzeption von Armut zeigt jedoch, dass die Ansätze eher einer absoluten Auffassung von Armut entsprechen. Abschnitt 5.4 erörtert die allgemeinen Probleme der Operationalisierung der behandelten Ansätze. Da die Ansätze multidimensional sind, muss zunächst die Frage beantwortet werden, welche Dimensionen relevant sind. Um die Ansätze anzuwenden, muss des Weiteren geklärt werden, welche und wie viele Indikatoren zur Erfassung der verschiedenen Dimensionen herangezogen werden. Schließlich besteht eine besondere Schwierigkeit der hier betrachteten Ansätze darin, die Idee einer Auswahlmenge empirisch umzusetzen. Nach der Erörterung der allgemeinen Probleme der Operationalisierung in Abschnitt 5.4 widmet sich Abschnitt 5.5 den besonderen Problemen bei der Armutsmessung ___________ 184
Entsprechende Vergleiche finden sich in Leibfried/Voges (1992, S. 21), SchulzNieswandt (1995, S. 59), Engelhardt (1998, S. 31f), Nemeth (1999, S. 204–226), Rosner (2001, S. 26), Sell (2002, S. 23) und Uebel (2004).
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
205
mit Hilfe der Ansätze. Dazu zählt zum einen die Frage, ob für die Armutsmessung dieselben Dimensionen relevant sind wie im allgemeinen Fall. Zum anderen stellt die Armutsmessung besondere Anforderungen an die Struktur der Ansätze. Dies zeigt sich sowohl bei der Gegenüberstellung der Ansätze mit dem Modell multidimensionaler Armutsmessung aus Kapitel 2 als auch bei der Betrachtung der Methoden, die bei der Operationalisierung der Ansätze zum Tragen kommen.
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich Theorien entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern im Zusammenhang mit anderen Theorien, als Reaktion, als Ergänzung, Weiterführung oder Verbindung dieser Theorien. Und sie rufen ihrerseits Reaktionen hervor, werden diskutiert, in neue Zusammenhänge gebracht oder von einem anderen Blickwinkel aus gesehen. In diesem Abschnitt geht es darum, diesen theoretischen Kontext sowohl für die Lebenslage-Ansätze (Abschnitt 5.1.1) als auch für den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten (Abschnitt 5.1.2) zu skizzieren, um dann einen Vergleich (Abschnitt 5.1.3) ziehen zu können. Für die Feststellung, ob der Kontext, in dem die Ansätze stehen, sich ähneln oder voneinander unterscheiden, ist eine bloße Skizze des theoretischen Zusammenhangs ausreichend. Mehr soll und mehr kann hier nicht geleistet werden. Zwei Unterschiede sind freilich sehr offensichtlich und geben den Hintergrund für die Betrachtung ab: der Entstehungszeitraum und die Veröffentlichungssprache der Ansätze. Neurath hat seinen Lebenslage-Ansatz von 1910 bis 1945 entwickelt, Weisser seinen im wesentlichen im Zeitraum 1950 bis 1978, und Sen schreibt zu seinem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten seit 1980. Veröffentlichungen zum Lebenslage-Ansatz sind mit Ausnahme des Beitrag von Neurath 1937 in Deutsch erfolgt, während Sen in Englisch veröffentlicht. Beides, der Entstehungszeitraum wie die Veröffentlichungssprache, hat Auswirkungen auf den theoretischen Kontext der Ansätze und zwar sowohl im Hinblick darauf, in welchen Kontext die Autoren selbst ihren Ansatz setzen, als auch im Hinblick darauf, in welchem Kontext die Ansätze diskutiert werden. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass den Autoren zwei Wege offen stehen, ihren Ansatz in einen Kontext einzubetten: erstens über die Inhalte, die sie diskutieren, und zweitens über die Wahl des Mediums, in dem sie veröffentlichen. (Auch wenn eine Wahlmöglichkeit nur eingeschränkt gegeben ist.) Daher schicke ich den Ausführungen zum selbstgesetzten Kontext ein paar Bemerkungen zum Veröffentlichungsverhalten voraus. Auch diese sind als Skizze zu verstehen und erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit.
5. Vergleich der Ansätze
206
Ebensowenig geben die Ausführungen zum Zitationskontext sämtliche Stellen wieder, an denen die Ansätze zitiert worden sind, sondern weisen auf die Themen hin, in deren Zusammenhang die Ansätze gesehen werden und zu denen sie Reaktionen provoziert haben.
5.1.1 Die Lebenslage-Ansätze im Kontext Obwohl es deutliche Unterschiede zwischen den Lebenslage-Ansätzen von Neurath und Weisser gibt, setzen doch beide teilweise die gleichen Bezüge und vor allem werden beide gemeinsam diskutiert. Daher behandele ich beide im folgenden zusammen, stelle aber heraus, auf wen ich mich jeweils beziehe.
5.1.1.1 Der selbstgewählte Kontext Veröffentlichungen Neurath hat sehr viel veröffentlicht, wie die inzwischen fünf Bände umfassende Ausgabe seiner gesammelten Werke zeigt. Seine ökonomischen Schriften nehmen dabei einen breiten Raum ein. (Bis jetzt wurden nur die ökonomischen Schriften bis 1916 herausgegeben, und die umfassen bereits zwei Bände.) Soweit sich das aus heutiger Sicht beurteilen lässt, verteilen sich die Veröffentlichungen auf unterschiedliche Zeitschriften und Jahrbücher185, sowohl was den thematischen Schwerpunkt der Zeitschriften anbelangt als auch was ihren Stellenwert anbelangt. Bemerkenswert ist sein Engagement für die Bildung der Massen186, das ihn zu einem der Lehrer an der Wiener Arbeiterschule werden lässt, das ihn außerdem zu seinem bildstatistischen System (siehe Abschnitt 4.1.1) motiviert und einige Artikel in der Zeitschrift der Wiener Arbeiter und Angestelltenkammer „Der Kampf“ (z. B. Neurath 1931b) schreiben lässt. Klar zu erkennen ist ferner die Tendenz, ab 1930 hauptsächlich in den selbst herausgegebenen Zeitschriften und der Enzyklopädie zur Einheitswissenschaft zu veröffentlichen. Schließlich hat er im Exil auch in Eng-
___________ 185 Mehrmals hat Neurath im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ veröffentlicht (z. B. 1914, 1920), in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ (z. B. 1913), aber auch in „Der Kunstwart“ (1911b), im Jahrbuch der philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien“ (1912), im „Sociologicus“ (1932) und „The New Era“ (1941). 186 Vgl. hierzu Hegselmann (1979), einige Beiträge aus Stadler (1982).
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
207
lisch187 veröffentlicht. Man darf dabei nicht vergessen, dass sich Neurath immer wieder wegen der politischen Verhältnisse188 umstellen musste. Den Lebenslage-Ansatz hat Weisser hauptsächlich in seiner Zeit als Professor für Genossenschaftswesen und Sozialpolitik an der Universität Köln (1950–1966) entwickelt. Wichtige Schriften dazu hat er in Form von Vorlesungsmanuskripten189 an seine Studenten herausgegeben. Ansonsten hat er einige Vorträge gehalten oder Beiträge zu Festschriften geleistet, die er später (1978) zu einem Band zusammengefasst hat. Insgesamt hat Weisser eher über seine Lehrtätigkeit gewirkt und in der SPD direkten politischen Einfluss genommen als über Veröffentlichungen.
Wohlfahrtstheorie Der Ausgangspunkt von Neurath ist die Frage der Messbarkeit von Lebensstimmung. Insofern nimmt er Bezug auf den Utilitarismus190. Er stellt nicht in Frage, dass es wünschenswert und richtig wäre, Wohlfahrt anhand der Lebensstimmung zu messen, aber er geht davon aus, dass es keine Maßeinheit dafür gibt und es daher sinnvoll ist, auf jene Größen überzugehen, welche die Lebensstimmung erzeugen. Zugleich wendet er sich vehement gegen die Vorstellung, die Wohlfahrt anhand des Einkommens zu messen. Weisser hingegen entwickelt seine eigene Theorie, nach der die Wohlfahrt immer an dem Ausmaß, bis zu dem Grundanliegen erfüllt werden können, beurteilt werden muss, und kritisiert die Wohlfahrtsökonomie von diesem Blickwinkel191 aus. „Glück“ mag dann ein Grundanliegen sein, aber nur eines unter vielen (vgl. Möller 1978). Weisser bestreitet die Möglichkeit eines rein ökonomischen Standpunktes192, weil ökonomische Interessen immer nur mittelbare Interessen und keine Grundanliegen seien. Ebenso wie Neurath wendet er sich daher auch gegen eine reine Betrachtung der Einkommensverhältnisse und prägt den Slogan: „Verteilt werden Lebenslagen!“ (Weisser 1959, S. 386). ___________ 187
Vgl. Neurath (1937, 1939, 1941, 1944). Dies bereits 1920, als er wegen der Beteiligung an der Münchener Räterepublik des Landes verwiesen wurde und damit auch seine Stelle an der Universität Heidelberg verlor. Später ging Neurath zunächst nach Amsterdam und später nach England ins Exil (vgl. Hegselmann 1979). 189 Heute befinden sich diese Manuskripten in seinem Nachlass im AdsD. 190 Vgl. hierzu Neurath (1911a, 1912 und 1917a). 191 Vgl. Weissers Geleitwort zur Arbeit von Bohnen über „Die utilitaristische Ethik als Grundlage der modernen Wohlfahrtsökonomie“ (Weisser 1964). 192 Vgl. insbesondere Weisser (1953 und 1954b). 188
208
5. Vergleich der Ansätze
Erkenntnistheorie/Wissenschaftstheorie Die intensive Beschäftigung Neuraths wie Weissers mit erkenntnistheoretischen Fragen muss vor dem Hintergrund der Entwicklung in der Physik, Logik und Mathematik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gesehen werden.193 Die bis dahin dominierende kantische Transzendentalphilosophie kam in Bedrängnis, „weil sie von der Frage geleitet wird, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, also bereits im Ansatz die Existenz nicht existierender Urteilsarten präsupponiert“ (Hegselmann 1979, S. 11). Dieser Herausforderung begegnet der logische Empirismus, dem Neurath sich anschließt, indem er sich von der kantischen Philosophie abwendet: Synthetische Urteile a priori seien unmöglich, denn Erkenntnis könne nur durch Erfahrung gewonnen werden. Entsprechend entwickelt Neurath den Lebenslage-Ansatz im Rahmen seiner „Empirischen Soziologie“ (1931a), d. h. einer Soziologie, die den Prinzipien des logischen Empirismus folgt und unter dem Dach der Einheitswissenschaft zu Hause ist. Er fordert mit seinem Ansatz zur empirischen Überprüfung in Form eines Lebenslagenkatasters auf und untersucht zugleich, wie weit sich daraus Schlüsse ziehen lassen, inwiefern nämlich interpersonelle Vergleiche der Lebenslage möglich sind. Nelson und in seinem Gefolge Weisser begegnen der Herausforderung der kantischen Philosophie indem sie an der Frage nach der Möglichkeit von apriorischen synthetischen Urteilen festhalten. Bei ihnen lautet die Frage194, ob es wahre Interessen, d. h. unmittelbare aber nicht intuitive Interessen gibt und worauf sie gerichtet sind. Während Nelson die Existenz des wahren Interesses eindeutig bejaht und seinen Inhalt zu kennen meint, stellt Weisser letztendlich durch seine Vorstellung von vielen Grundanliegen, deren Inhalt von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist und sich im Laufe der Zeit wandelt, die Möglichkeit von apriorischen synthetischen Urteilen in Frage. Statt dessen fordert er, jeder Forscher möge „bekenntnismäßig“ seine eigenen Grundanliegen einführen (Weisser 1963a, S. 63). Die kantische Philosophie geht mit der Einteilung in Einzelwissenschaften einher. Insofern stellt sich die Frage, zu welcher Disziplin der LebenslageAnsatz gehört. Da die Lebenslage ein zentrales Konzept in der Sozialpolitik Weissers ist, geht es darum, die Sozialpolitik zu verorten. Weisser (1963a) möchte den Sozialwissenschaften eine normative Grunddisziplin voranstellen, die sich mit der Frage der Gültigkeit von Grundanliegen beschäftigt. Der andere Teil der Sozialwissenschaften, die explikative Sozialwissenschaft, führt empirische Untersuchungen u. a. zu den tatsächlichen Grundanliegen, aber auch über die wirtschaftliche Lage usw. durch. Offensichtlich ist die Sozialpo___________ 193 194
Vgl. dazu Hegselmann (1979) und Peckhaus (1990). Vgl. Abschnitt 4.2.1 und 4.4.2.
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
209
litik sowohl auf Erkenntnisse der normativen wie der explikativen Sozialwissenschaft angewiesen. Weisser macht ferner deutlich, dass die Sozialpolitik nicht allein wirtschaftliche Belange umfasst. Im Anschluss daran widmet sich Nahnsen (1961) der Frage, wo der „systematische Ort der Sozialpolitik in den Sozialwissenschaften“ ist und kommt zu dem Schluss, dass Sozialpolitik weder den Wirtschaftswissenschaften noch der Soziologie unterzuordnen sei, sondern fächerübergreifend zu verstehen sei.
Sozialpolitik und Armut Die unterschiedliche Verortung des Lebenslage-Ansatzes innerhalb der Wissenschaften hat auch Folgen für die Frage, wie Armut behandelt wird. Neurath sieht keinen Bedarf für eine spezifische Sozialpolitik, sondern macht sich Gedanken über die Veränderung der gesamten Wirtschafts- und Sozialordnung, indem er Bedingungen für eine „Sozialisierung“195 – also eine Umwandlung in eine sozialistische Gesellschaft – erörtert. Ihm geht es um die Armut oder den Reichtum der Volkswirtschaft als Ganzes, die sich u. a. darin zeigt, ob und wie viel Arme darin leben. Die Frage des Existenzminimums (siehe Abschnitt 3.1.4) streift Neurath nur. Weisser (1957a) hingegen sieht die Notwendigkeit einer Sozialpolitik, die darauf ausgerichtet ist, die Lage der sozial Schwachen zu verbessern. Offensichtlich ist Weissers Verständnis von Sozialpolitik bereits zur Zeit seiner Mitarbeit im IJB geprägt worden, denn in diesem Kreis wurde ein „sozialpolitisches Prinzip“196 diskutiert, das besagt, dass eine Verteilung nach der Lage der Ärmsten beurteilt werden muss. Wie von verschiedener Seite197 erwähnt, nimmt dieses Prinzip Rawls Gerechtigkeitsvorstellung zum Teil vorweg.
Bildung und Lebenslage Bei Neurath198 ist Bildung ein Bestandteil der Lebenslage. Er bringt verschiedene Beispiele aus diesem Bereich, aber auch viele Beispiele aus dem Bereich Gesundheit.
___________ 195
Vgl. Neurath/Schumann (1919). Vgl. die Literaturangaben zu Grelling (1921a) von Weisser. 197 Vgl. Weisser (1959, 1972a), Neumann (1995), Schulz-Nieswandt (1995) und Prim (2000). 198 Vgl. z. B. Neurath (1917a, S. 116), siehe auch Abschnitt 4.1. 196
210
5. Vergleich der Ansätze
Für Weisser und seine Schüler199 ist Bildung – ganz in der Tradition Nelsons200 – hingegen ein besonders wichtiges Element der Lebenslage. Diese besondere Stellung der Bildung hat mehrere Gründe. Zum einen ist das Interesse an Bildung nach Weisser (1967a, S. 263) ein Grundanliegen, also ein „wichtiges Interesse“. Es ist sicherlich das Interesse, welches dem wahren Interesse nach Nelson201 am nächsten kommt und als solches auch einen höheren Rang als andere Interessen verdient. An dieser Stelle wirkt die Nelsonsche Ethik bei Weisser noch nach. Zum anderen ist Bildung eine Voraussetzung dafür, sich auf seine Grundanliegen besinnen zu können, und verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit. Diese Funktion der Bildung nennt Weisser (1967a, S. 269f) „Haltungspflege“ und beschreibt sie als „Erziehung zur Freiheit“.
5.1.1.2 Rezeption Erkenntnistheorie Lange wurde Neurath weder als Ökonom noch als Philosoph wahrgenommen, sondern als Organisator des Wiener Kreises. Dies hat sich in den letzten zwanzig Jahren geändert, in denen sich einige Arbeiten202 mit der Erkenntnisund Wissenschaftstheorie Neuraths auseinandergesetzt haben. Nur wenige203 beschäftigen sich jedoch mit dem Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie und dem Lebenslage-Ansatz Neuraths. Dabei ist dieser Zusammenhang zum einen interessant, weil Neurath einer der wenigen Anhänger der Einheitswissenschaft war, der versucht hat, die Prinzipien des logischen Empirismus für die Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen204, und zum anderen, weil es auf den ersten Blick unverständlich ist, wie Neurath den logischen Empirismus mit Marxismus verbinden konnte. Zwei Schüler Weissers, Hans Albert und Lothar F. Neumann, haben sich intensiv mit erkenntnistheoretischen Fragen auseinandergesetzt. Während ___________ 199
Vgl. hierzu insbesondere Prim (2000). Nelson (1924, S. 56) erörtert als Beispiel für Sozialpolitik besonders ausführlich die „Verteilung der Berufe“. Zudem hat Nelson selber pädagogische Prinzipien – wie bspw. sein „sokratisches Gespräch“ – entwickelt und versucht, sie umzusetzen. Vgl. dazu Franke (1997) und Prim (2000). 201 Vgl. Abschnitt 4.2. 202 Vgl. bspw. Hegselmann (1979), Hempel (1982), Haller (1982), Rutte (1982a, b), Stadler (1982a, b), Uebel (1991a, 2000) und Cartwright u. a. (1996). 203 Dazu gehören Hegselmann (1979), Cartwright u. a. (1996) und Uebel (1998, 2004). 204 Vgl. Rieden (1936). 200
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
211
Albert205 sich in die Tradition Poppers stellt und somit Weissers Position in Frage stellt, führt Neumann206 die kritizistische Tradition Fries-Nelsonscher Prägung weiter. Eine Auseinandersetzung mit Weissers Position findet sich bei Stelzig (1977), aber erst Prim (2000) stellt Weissers erkenntnistheoretische Position dar.
Wohlfahrtstheorie und ökologische Ökonomie Eine recht frühe und positive Besprechung von Neuraths (1935) „Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?“ hat Tinbergen (1936) vorgelegt. Er fasst sehr knapp die wesentlichen Gedanken Neuraths und ihre Folgen für die Wohlfahrtstheorie zusammen. Inwieweit sein eigenes Werk durch Neurath beeinflusst wurde, lässt sich jedoch nicht ermitteln.207 Köhler (1982) hat auf die messtheoretischen Erkenntnisse Neuraths hingewiesen. Erst Rosner (2001) ordnet Neuraths Position gegenüber anderen wohlfahrtsökonomischen Konzepten ein. Doch auch er hält sich vor allem an die frühen Texte Neuraths (1911a, 1912), in denen noch nicht von „Lebenslage“ die Rede ist. Auch O’Neill (1996) geht auf Neuraths Argumentation bezüglich Mess- und Vergleichbarkeit des Nutzens ein. Er hebt besonders die Argumente hervor, mit denen Neurath sich dagegen wehrt, Vergleichbarkeit über ein Konzept des monetarisierten Nutzens einzuführen, nämlich dass es so nicht möglich ist, sämtliche Wirkungen heutiger Entscheidungen auf zukünftige Generationen abzuschätzen. Daher sieht er in Neurath einen Vorläufer der ökologischen Ökonomie. 208 Der Beitrag Weissers zur Wohlfahrtsökonomie besteht nach Thiemeyer (1963) vor allem darin, den „wohlfahrtsökonomischen Formalismus“ zu ___________ 205 Vgl. bspw. seine Beiträge zu „Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“, Adorno u. a. (1972). Prim (2000) berichtet von anhaltenden Diskussionen zwischen Weisser und Albert. 206 Neumann war Mitherausgeber von „Ratio“, vgl. auch Neumann (1982, 1995). 207 Obwohl eine Ähnlichkeit zwischen Argumenten Tinbergens in „Equitable Distribution: Definition, Measurement, Feasibility“ (1978) und jenen Neuraths offensichtlich ist und ferner ihre persönliche Bekanntschaft während Neuraths Exil in Holland dokumentiert (vgl. Jolink 1998) ist, lässt sich in Anbetracht dessen, dass sich Tinbergen nirgends auf Neurath beruft, ein direkter Einfluss nicht nachweisen. Interessant in Zusammenhang mit dieser Arbeit ist ferner, dass Sen den erwähnten Vortrag Tinbergens gehört und kommentiert hat (S. 53f im selben Band). Tinbergens Frage „Distribution of what?“ (1978, S. 35) nimmt Sens Frage nach „Equality of what?“ (1980a) fast schon vorweg. Doch Sen beruft sich ebensowenig auf Tinbergen, wie dieser auf Neurath. 208 Vgl. auch Martinez-Alier (1992).
212
5. Vergleich der Ansätze
überwinden. Einerseits gelinge ihm das dadurch, dass er nicht dem „Irrglauben, daß sich Wissenschaftlichkeit in Quantifizierbarkeit erschöpfe“ (Thiemeyer 1963, S. 133) anhänge. Andererseits überwinde Weisser den „wohlfahrtsökonomischen Formalismus“ dadurch, dass er zeigt, dass „ökonomische Interessen“ – auch jenes am Einkommen – nur mittelbare Interessen sind, die auf Grundanliegen zurückzuführen sind, und dass diese Grundanliegen nicht wissenschaftlich zu begründen sind.
Soziologie der Armut Obwohl Neurath mit seiner „Empirischen Soziologie“ (1931a) sozusagen Anspruch darauf erhebt, als Soziologe209 wahrgenommen zu werden, ist sein Lebenslage-Ansatz im Zusammenhang mit einer soziologischen Betrachtung der Armut erst durch Weissers Verweis auf ihn rezipiert worden.210 Glatzer und Hübinger (1990) sehen in Neuraths Lebenslage-Ansatz einen Vorläufer zu Theorien der Lebensqualität und stellen ein Konzept zur empirischen Erfassung der Lebenslage vor, das ihnen vorher zur Erfassung der Lebensqualität gedient hat. Voges (2002) hingegen stellt Neuraths Begriffe „Lebensboden“, „Lebenslage“ und „Lebensordnung“ der Terminologie von Esser (1993) gegenüber und sieht Parallelen zwischen Essers individual-strukturalistischen Ansatz und Neuraths Lebenslage-Ansatz. Insbesondere hebt er die zeitliche Struktur bei Neurath hervor, verbindet diese mit Weissers Verständnis der Lebenslage als Handlungsspielraum und entwickelt eine Interpretation des LebenslageAnsatzes als multidimensionalem Mehrebenenmodell. Der Lebenslage-Ansatz Weissers hat viel Beachtung als sozialpolitischer Ansatz211 erfahren und wird speziell zur Definition und Erklärung von Armut212 herangezogen. Fast immer213 handelt es sich bei den entsprechenden Arbeiten um Anwendungen des Konzeptes auf die Armutsmessung, insbesondere zur Untersuchung des Zusammenhangs von Arbeitslosigkeit und Armut. Die Arbeiten kommen zu dem Schluss, dass eine angemessene Darstellung der ___________ 209
Dass er auf die Entwicklung einer empirisch ausgerichteten Soziologie Einfluss genommen hat, lässt sich an den Erinnerungen von Jahoda (1982), Paul Neurath (1982a, b, 1991) Schütte-Lihotzky (1982), sowie der Anmerkung von Zeisel, „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975) seien zu der Zeit entstanden, in der Neurath das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum gegründet habe, ablesen. 210 Vgl. die Anmerkungen zur Abgrenzung zwischen Neuraths und Weissers Lebenslage-Ansatz im Kapitel 4. 211 Vgl. hierzu die Ausführungen in Andretta (1991). 212 Vgl. Hillen (1975), Wendt (1984), Lompe (1987), Krieger (1993), Gehrke (1998), wobei Krieger und Gehrke Mitarbeiterinnen von Lompe waren. 213 Eine Ausnahme stellt Wendt (1984) dar.
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
213
Lebenslage von Armen erstens die „äußeren Umstände“ schildern muss, zweitens die Erfüllung bestimmter zuvor ermittelter Grundanliegen überprüfen muss und drittens die Zufriedenheit der betroffenen Personen abfragen muss. Auf diese Arbeiten nehmen Glatzer und Hübinger (1990) und Hanesch (1994) Bezug und prägen ein Verständnis des Lebenslage-Ansatzes als eines Konzepts, das „objektive Lebensbedingungen mit subjektiven Verarbeitungsmustern“ (Hanesch 1994, S. 25) verbindet. In diesem Sinne fordern sie, das Lebenslage-Konzept zur Grundlage für eine Armutsberichterstattung214 zu machen. Problematisch ist dabei, dass sie Elemente anderer Konzepte, den Ansatz Neuraths und den Ansatz Weissers vermischen und so die Unterschiede verwischen (s. u.).
Lebenslage, Lebensstandard, Lebensqualität und Lebensstil Neben dem Begriff „Lebenslage“ gibt es eine Reihe ähnlicher Begriffe, mit denen teilweise auch ähnliche Konzepte verbunden sind: Lebensstandard, Lebensqualität und Lebensstil. Gemeinsam ist diesen Begriffen, dass sie alle dazu dienen, die gesellschaftliche Wohlfahrt zu konzipieren und deren soziale Ungleichheit zu erfassen. Sie alle sind im Verlauf der Debatte eingeführt worden, ob die Begriffe „Klasse“ und „Schicht“ noch ausreichend sind, um die „neue Unübersichtlichkeit“ (Beck) der Sozialstruktur treffend zu charakterisieren. Diese Debatte kann und soll hier215 nicht nachgezeichnet werden, sondern nur die Verwendung der Begriffe kurz skizziert werden, um den Begriff der Lebenslage in seinem (soziologischen) Umfeld zu zeigen. Der Begriff „Lebensqualität“ hat sich in den 1970er Jahren in Deutschland durchgesetzt (Noll 2000). Er fand auch Eingang in die Politik216, und in Reaktion darauf bot Weisser (1974a) seinen Lebenslage-Ansatz als Konzeptionalisierung des Begriffs „Lebensqualität“ an. Insofern muss es nicht verwundern, dass einige Autoren217 zwischen beiden Konzepten nicht unterscheiden. Gemeinsam haben beide Konzepte sicherlich, dass sie Wohlfahrt nicht mit der materiellen Versorgung gleichsetzen. Wenn aber Noll (2000, S. 7) als ein Merkmal des Konzepts der Lebensqualität anführt, dass sie „sowohl als objek___________ 214
Mit dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: „Lebenslagen in Deutschland“ (BMA 2001a, b) wurde diese Forderung erstmals auf bundesdeutscher Ebene umgesetzt. 215 Vgl. stattdessen dazu z. B. Krause/Schäuble (1988), Berger/Hradil (1990), Döring/Hanesch/Huster (1990) und Müller (1992). In diesen Kontext hat bereits Hillen (1975) den Lebenslage-Ansatz eingeordnet. 216 Vgl. FAZ (2002) zu Willy Brandts Forderung nach „Lebensqualität“ und Gerhard Schröders Formulierung. 217 Vgl. insb. Glatzer/Zapf (1980), Hübinger (1989) und Glatzer/Hübinger (1990).
214
5. Vergleich der Ansätze
tiver Zustand wie auch als subjektive Befindlichkeit oder subjektives Erleben“ betrachtet werden könne, so wird ein wichtiger Unterschied zu den LebenslageAnsätzen deutlich: Neurath unterscheidet klar zwischen der Lebenslage und der Lebensstimmung, welche durch die Lebenslage bedingt wird. Gerade wegen der Unvergleichbarkeit der Lebensstimmungen führt er ja den Begriff der Lebenslage ein. Weisser hingegen wendet sich ausdrücklich dagegen, Zufriedenheit zum Maßstab für Wohlergehen zu machen. Auch wenn Weisser sich vorstellen kann, dass die Grundanliegen individuell verschieden sind, hält er die Möglichkeiten zur Erfüllung der Grundanliegen – also die Lebenslage – für objektiv überprüfbar. Der Begriff Lebenslage wird auch für ein den Konzepten der Lebensqualität eng verwandten Ansatz verwendet (Rendtel/Wagner 1991), nämlich für den skandinavischen Ansatz218 der Wohlfahrtsmessung. Auch dies ist nicht völlig abwegig, wenn man bedenkt, welche Ähnlichkeiten zwischen den Gedanken von Titmuss, auf den sich die Skandinavier (Erikson/Aberg 1987, S. 2) beziehen, und Weisser existieren (Schulz-Nieswandt 1990). Es ist sicher sinnvoll, diese Ähnlichkeiten weiter zu erforschen, dabei jedoch eine begriffliche Trennung zwischen den Ansätzen beizubehalten. Den Begriff „Lebensstandardansatz“ haben Andreß und Lipsmeier (1995, 1999, 2000) gewählt, um ihre Variante der Theorie Townsends (1974, 1979) über Armut als Deprivation zu bezeichnen. Obwohl zwischen ihnen und Befürwortern des Lebenslage-Ansatzes gestritten wird, welcher Ansatz sich besser als Grundlage einer Armutsberichterstattung in der Bundesrepublik eignet, wird in vielen Veröffentlichungen219 nicht zwischen beiden Ansätzen differenziert. Der Begriff „Lebensstil“ schließlich spielt eine zentrale Rolle bei neueren Theorien der sozialen Ungleichheit (Müller 1992). Interessanterweise wird in der Literatur220 relativ strikt zwischen Lebenslage und Lebensstil getrennt, obwohl zwischen beiden Kategorien eine enge Beziehung besteht, wie bereits Wendt (1988) andeutet. Müller (1992, S. 373f) unterscheidet zwischen einem psychologischen Lebensstilbegriff, der stets auf die ganzheitliche Organisation der Persönlichkeit abziele, und dem soziologischen Begriff, der die spezifische Lebensweise von Gruppen bezeichne. Insofern bezeichnet Müller (1992, ___________ 218
Bekannt als „Level of Living Surveys“ (siehe Abschnitt 3.3 und 4.5.1), vgl. bspw. Erikson/Aberg (1987) und Allardt (1981, 1992). Noll (2000) bestimmt das Verhältnis von Konzepten der Lebensqualität zum Skandinavischen Ansatz der Wohlfahrtsmessung. 219 Vgl. Iben (1989), Döring/Hanesch/Huster (1990, S. 11) und Hanesch (1994). 220 Vgl. zum Begriff Lebensstil: Lüdtke (1990), Müller (1992) und Klocke (1993), aber auch Berger/Hradil (1990). Nach Klocke (1993, S. 99ff) verbindet Zapf die Begriffe Lebenslage und Lebensstil, um sein Konzept der Lebensqualität zu erläutern.
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
215
S. 374f) sowohl Ganzheitlichkeit (im Sinne des psychologischen Begriffs) als auch Charakter (im Sinne des soziologischen Begriffs) als Merkmale aller Lebensstilansätze. Sodann betonen Lebensstilansätze nach Müller die Freiwilligkeit, wenn sie von „Stilisierung“ sprechen, und fragen nach der Verteilung von Stilisierungschancen durch das Wertesystem und den materiellen Wohlstand in einer Gesellschaft und der Verteilung von Stilisierungsneigungen innerhalb der Gesellschaft. Anhand dieser Charakterisierung von Lebensstilansätzen wird deutlich, dass sie nicht nur der Beschreibung von sozialer Ungleichheit, die sich in verschiedenen Lebensstilen ausdrückt, dienen, sondern vor allem einen Versuch darstellen, die Entstehung und den Wandel von Sozialstrukturen zu erklären. Ihnen liegt jedoch weder ein Konzept von Wohlfahrt zu Grunde, noch zielen sie auf die Erfassung der sozialen Ungleichheit im Sinne der Verteilung von Wohlfahrt, wie es die Lebenslage-Ansätze tun. Dennoch gibt es einige Berührungspunkte, die hier kurz angesprochen werden sollen.
Exkurs: Lebenslage und Lebensstil Ein „Lebensstil“ kennzeichnet eine bestimmten Gesellschaftsklasse. Der Begriff wird zur Strukturierung der Gesellschaft eingesetzt, ja er zielt darauf, die Sozialstruktur zu analysieren. Dahingegen wird dieser Schritt beim Lebenslagenansatz erst durch die Typenbildung getan. – Die Verwendung des Begriffs „Lebenslage“ für die Sozialstrukturanalyse ist gleichsam ein Nebenprodukt des Ansatzes. Dennoch gibt es bemerkenswerte Ähnlichkeit bei der Charakterisierung von Lebenslage-Typen einerseits und „sozialer Klasse“ bei Bourdieu221, dem bedeutendsten modernen Vertreter der Lebensstilforschung, andererseits. Klocke fasst den Gedankengang Bourdieus wie folgt zusammen: „Die Lage im sozialen Raum (Kapitalvolumen und -struktur) führt zur Ausbildung von (Klassen-)Habitusstrukturen (Geschmacks- und Kulturpräferenzen), die den Lebensstil (Alltagspraxis) bestimmen, der zugleich auf die Lage im sozialen Raum zurückwirkt und damit die Klassenzugehörigkeit reproduziert.“ (Klocke 1993, S. 83)
Zentrales Element dieses Ansatzes ist der „Habitus“, welcher einerseits geprägt wird von der Position eines Individuums innerhalb der Sozialstruktur und welcher andererseits sich in einem Lebensstil niederschlägt, der jene Sozialstruktur reproduziert: „Da sich der Habitus innerhalb der individuellen Lebensgeschichte herausbildet, liegt es nahe, daß ähnliche Lebensverläufe bzw. Lebenslagen zu ähnlichen Habitusstrukturen führen, dem Klassenhabitus.“ (Klocke 1993, S. 82)
___________ 221
Vgl. zur Theorie von Bourdieu Müller (1992) und Klocke (1993). Eine systematische Untersuchung des Verhältnisses von Lebenslage und Lebensstil legt Reichenwallner (2000) vor.
216
5. Vergleich der Ansätze
Obwohl dieser Zusammenhang zunächst an Neuraths Theorie erinnert, dass die Lebenslage einerseits das Produkt von Lebensboden und Lebensordnung ist und andererseits selbst Teil des Lebensbodens wird, ist diese Analogie eher abwegig. Neuraths Lebensboden entspricht nicht der Gesellschaftsstruktur, sondern geographischen und klimatischen Bedingungen sowie der Infrastruktur. Seine „Lebensordnung“, welche „Handlungen, Maßnahmen, Sitten und Gebräuche ..., welche für Einzelmenschen oder Völker charakteristisch sind“ (Neurath 1917a, S. 109) zusammenfasst, also dem Begriff „Habitus“ von Bourdieu wesentlich näher kommt als seine „Lebenslage“, taucht in Neuraths Schriften als eine Art externe Variable auf, die er nicht weiter erklärt. Insgesamt fehlt bei Neurath das voluntaristische Element, d. h. die Idee, dass jedes Individuum seine Lebenslage selbst bestimmt oder zumindest innerhalb eines Spielraumes eine Wahl treffen kann. Dieses voluntaristische Element findet sich aber bei Weisser. Anders als Bourdieu legt Weisser allerdings das Augenmerk nicht auf das Ergebnis dieser Wahl, das man „Lebensstil“ nennen kann, sondern auf das Vorhandensein des Spielraumes, den er „Lebenslage“ nennt. In diesem Sinne ist der Weissersche Lebenslage-Ansatz „objektivistisch“ (Andretta 1991, S. 21f). Zwar meint Weisser, anhand ähnlicher Lebenslagen die Gesellschaft in Schichten einteilen zu können (vgl. Abschnitt 3.3.2), aber er entwickelt keine Theorie über die Reproduktion dieser Schichten. Zugleich tritt Weisser allerdings für die Beurteilung der Lebenslage anhand der Grundanliegen der jeweiligen Individuen ein und hat viel Mühe, diese individuellen Grundanliegen zu bestimmen. Genau zu diesem Zweck verbindet Prim (1998) den Weisserschen Lebenslage-Ansatz mit Bourdieus HabitusBegriff. Bourdieu hebe mit seinem Habitus-Begriff die Trennung von Innen und Außen, die Weissers Lebenslage-Ansatz prägt, auf und erlaube daher einen anderen Blick auf die Grundanliegen: „Die von Nahnsen konstatierte Unbestimmbarkeit der Grundanliegen in der praxeologischen Umsetzung des Lebenslagenkonzeptes von Weisser ließe sich mit dem auch empirisch als fruchtbar erwiesenen Paradigma Bourdieus durch Begriffsvariation ‚heilen‘ ...“ (Prim 1998, S. 243)
Der Vorschlag läuft darauf hinaus, Grundanliegen nicht mehr als extern gegeben anzusehen, sondern sie zu verstehen als Produkt einer Auseinandersetzung des Individuums mit seiner sozialen Klasse. Eine besondere Rolle kommt dabei der kulturellen Prägung der Individuen zu.222 Obschon dieser Vorschlag zur Verbindung des Weisserschen LebenslageAnsatzes mit der Theorie Bourdieus m. E. sinnvoll ist, muss auf einen weiteren ___________ 222 Dem „kulturellen Kapital“ kommt in der Theorie Bourdieus eine besondere Rolle zu. Der Kapitalbegriff Bourdieus lässt sich gut nachlesen in Bourdieu (1983).
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
217
Unterschied zwischen Weisser und Bourdieu hingewiesen werden, der die Vereinbarkeit beider Theorien teilweise in Frage stellt: Bourdieu entwickelt nach Müller (1992, S. 310ff) eine antikantianische Ästhetik. D. h. er möchte die Trennung zwischen ästhetischen und sinnlichen Interessen aufheben, die Kant eingeführt und u. a. Nelson übernommen hat (vgl. Abschnitt 3.2.1). Auch wenn Weisser nicht an der eindeutigen Bevorzugung ästhetischer Interessen festhält, die Nelson gefordert hat, so trennt er doch zwischen ästhetischen und sinnlichen Interessen und hält offensichtlich an der Idee fest, gewisse Grundanliegen wären gegeben, müssten jedoch von den Individuen durch freie und tiefe Selbstbesinnung erst erkannt werden. Inwieweit Weisser damit ästhetische Interessen meint, müsste eingehend untersucht werden. Eine Verbindung mit der Theorie Bourdieus käme dann allerdings einer Abkehr von Weissers Lebenslage-Ansatz gleich.
Sozialarbeit und Gerontologie Ein Bereich, in dem der Begriff „Lebenslage“ anhaltend verwendet wird, und zwar mit Bezug auf Weisser, ist die Gerontologie. Ich vermute, dies ist darauf zurückzuführen, dass Armut alter Menschen in den 1950er und 1960er Jahren ein großes Problem war und sich daher die ersten Studien (Blume 1962, 1968, 1979), die den Lebenslage-Ansatz empirisch umgesetzt haben, auf die Bevölkerungsgruppe der über 65jährigen bezogen haben. Sowohl Dieck (1984) als auch Schulz-Nieswandt (1998, 2002) schätzen den Begriff Lebenslage, weil er auf die individuelle Nutzung eines (durch die äußeren Umstände) gegebenen Spielraumes abhebt und somit auf die wichtige Rolle individueller Kompetenzen zur Bewältigung des Alterns hinweist. Aus einem ähnlichen Grund wendet sich Amann (1983) dem LebenslageAnsatz zu und nutzt ihn zur Theoriebildung für die Sozialarbeit. (Übrigens unterlegt er seine Arbeit mit Lebenslagenanalysen von Klienten der Altenarbeit.) Nach Amann (1983, S. 10) fehlt eine Theorie der Sozialarbeit, die Mikro- und Makroperspektive verbindet. Eine solche entwickelt er auf Grundlage des Lebenslage-Ansatzes, indem er Lebenslagen als „Ausgangsbedingungen individueller Existenz ebenso wie >als@ Produkt des sozialen Handelns im Wege über institutionalisierende Mechanismen“ (Amann 1983, S. 13) sieht. Insofern ist es die Aufgabe des Sozialarbeiters, sowohl das Zustandekommen einer Lebenslage (ex post) aus den äußeren Umständen und dem Zusammenwirken des Individuums damit zu erklären, als auch die Lebenslage (ex ante) als Handlungsspielraum für das Individuum sichtbar zu machen (Wendt 1988).
218
5. Vergleich der Ansätze
5.1.2 Sen im Kontext Wie in Kapitel 4 deutlich geworden ist, lassen sich beim „Capability“Ansatz ebenfalls zwei Ansätze deutlich voneinander unterscheiden: der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten von Sen und der Fähigkeiten-Ansatz von Nussbaum. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich – wie die gesamte Arbeit – vor allem auf den erstgenannten. Doch gilt auch hier, dass bei der Rezeption (Abschnitt 5.1.2.2) nicht immer zwischen beiden Ansätzen unterschieden wird.
5.1.2.1 Der selbstgewählte Kontext Veröffentlichung Seit über dreißig Jahren veröffentlicht Sen viel und stetig. Dabei veröffentlicht er sowohl in volkswirtschaftlichen als auch in philosophischen Zeitschriften. Bei den volkswirtschaftlichen Zeitschriften reicht die Spannbreite von Zeitschriften zur Theorie und Ökonometrie, über jene zur Social Choice Theorie bis hin zu solchen zur Entwicklungspolitik. Schon die ersten Veröffentlichungen zum Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten erfolgten jedoch parallel in volkswirtschaftlichen und philosophischen Zeitschriften, weshalb der Ansatz sowohl unter Vertretern der Philosophie wie unter Volkswirtschaftlern diskutiert wird (siehe Abschnitt 5.1.1.2). Bemerkenswert ist, dass viele Veröffentlichungen223 Sens das Ergebnis von Einladungen zu Vorträgen sind und insbesondere alle größeren Beiträge zum Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten auf diese Weise entstanden sind. Daran lässt sich ablesen, dass Sen dem Gedankenaustausch mit anderen eine große Bedeutung beimisst und bereit ist, die Anregungen anderer in der Weiterentwicklung seines Ansatzes aufzunehmen. Seine Bereitschaft, den verschiedenen Einladungen zu Vorträgen und Tagungen224 – nicht nur im wissenschaftlichen Rahmen – zu folgen, ist groß, und er hat sich nicht gescheut, für „Scientific American“ (einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift) einen Artikel225 zu schreiben. Dies lässt sich interpretieren als Wunsch danach, seine Theorie in einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren und so zugleich die Umsetzung seiner Gedanken zu fördern (vgl. Abschnitt 4.1.1). Ein weiterer ___________ 223
Vgl. Sen (1985a: „Hennipmen Lecture“), (1985b: „Dewey Lectures“), (1987a: „Tanner Lectures“), (1987b: „Royer Lectures“), (1998a: „Innocenti Lecture“). Auch Sen (1999a) ist auf der Grundlage von Vorträgen für die Weltbank entstanden. 224 Vgl. Sen (1990, 1994a, 1996, 1997c, 1999b, 1999c, 2001b). 225 Vgl. Sen (1993b, 1994b).
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
219
Beleg dafür ist die Veröffentlichung von „Development as Freedom“ (Sen 1999a), mit dem sich Sen ausdrücklich an eine breite Öffentlichkeit wendet.
Funktionen zwischen Ressourcen und Nutzen Sen (1980a, 1985a) führt die Kategorie der Funktionen ein, weil er meint, dass weder Nutzen noch Ressourcen oder Güter das Wohlergehen eines Menschen richtig wiedergeben (siehe Abschnitt 4.1.2). Er platziert seine Kategorie der Funktionen zwischen Ressourcen und Gütern einerseits und Nutzen andererseits226: Ressourcen werden benutzt, um Güter zu erwerben; die Güter selbst werden als Mittel zur Erfüllung bestimmter Zwecke erworben; nicht sie selbst interessieren in diesem Zusammenhang, sondern ihre Charakteristika; um diese Charakteristika nutzen zu können, muss jedoch der Konsument selbst gewisse Eigenschaften aufweisen (Sen 1985a, S. 11, spricht von „utilization function“); das Zusammentreffen der Güter-Charakteristika mit den Eigenschaften eines Individuums ermöglicht erst das Erreichen bestimmter Funktionen, d. h. bestimmter Zustände, Tätigkeiten und Fähigkeiten; diese Funktionen können mit Nutzen bewertet werden, aber auch anders bewertet werden. Zugleich entwickelt Sen (1980a, 1992a) eine Art Metatheorie, nach der alle Wohlfahrtstheorien die Gleichheit von etwas fordern, sich aber dieses etwas – er nennt es den Bewertunsraum („evaluative space“ oder „focal space“) – von Theorie zu Theorie unterscheidet. Der Utilitarismus fordere die Gleichheit des Grenznutzens, indem er zur Nutzenmaximierung aufrufe; Rawls fordert Gleichheit bei der Verteilung der Grundgüter und Dworkin die Gleichheit in der Verteilung von Ressourcen. Er selbst aber sehe in den Funktionen den richtigen Bewertungsraum, wenngleich nicht klar ist, ob Sen Gleichheit in den erreichten Funktionen oder in der Menge der erreichbaren Funktionen (Verwirklichungsmöglichkeiten) fordert (s. u.). Damit siedelt Sen seinen Ansatz im Bereich der Wohlfahrts- und Gerechtigkeitstheorien an und fordert einen Platz zwischen Ressourcenansätzen wie jenen von Dworkin und Rawls einerseits und dem Utilitarismus andererseits. Auch wenn insbesondere Rawls Theorie einen nachhaltigen Einfluß auf viele Wissenschaften ausgeübt hat, so wird doch dieser Diskurs um Gerechtigkeit hauptsächlich in philosophischen Kreisen geführt. Zugleich richtet sich Sen an Vertreter der Wohlfahrtsökonomie, die er in einer Sackgasse sieht, weil sie auf interpersonelle Vergleichbarkeit angewiesen ist, aber auf dem utilitaristischen Erbe des Nutzens als Bewertungsgrundlage beharrt. Hier bietet er die Kategorie der Funktionen als Alternative an, die seines Erachtens wesentlich besser als Nutzen die Wohlfahrt wiedergibt. ___________ 226
Vgl. hierzu Sen (1983a, S. 333f, 1985a) und Atkinson (1999, S. 185).
220
5. Vergleich der Ansätze
Verwirklichungsmöglichkeiten und Freiheit Auch seine Kategorie der Verwirklichungsmöglichkeit, verstanden als erreichbares Bündel von Funktionen, plaziert Sen in der Mitte zwischen verschiedenen anderen Kategorien, allerdings nicht entlang der Kette Ressourcen – Güter – Charakteristika – Funktionen – Nutzen, sondern entlang der Einteilung in prozeduralistische und konsequentialistische Theorien. Als typisches Beispiel für konsequentialistische Theorien sieht er den Utilitarismus an, als prozeduralistische Theorie par excellence führt er Nozicks Theorie an. Er selber schafft durch die Einführung der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten Raum für den Prozeß-Aspekt, besteht aber gleichzeitig darauf, daß das Ergebnis des Prozesses ebenfalls in die Bewertung einfließen muss. Der Prozess-Aspekt ist ihm wichtig, weil er jeglicher Konzeption von Freiheit innewohnt und er der Auffassung ist, dass Freiheit positiv auf das Wohlergehen der Menschen wirkt. Zweifellos wird auch dieser Diskurs hauptsächlich in philosophischen Kreisen geführt, doch Sen (1970a) verbindet den eher philosophischen Diskurs um Freiheit und mit der Social Choice Theorie, welche mit ihren Modellen zu den Möglichkeiten der Entscheidungsfindung in Gruppen am Schnittpunkt zwischen Ökonomie und Politologie anzusiedeln ist.
Wohlfahrtsmessung, Armut und Entwicklungspolitik Auch wenn Sen viel Platz in seinen Arbeiten darauf verwendet, die oben genannten Theorien zu diskutieren und sich in diesen Kontext zu stellen, beschäftigt sich sein Ansatz in erster Linie mit der Wohlfahrtsmessung. Nicht zufällig heißen jene Bücher, die nicht auf einen Vortrag zurückgehen: „On economic inequality“ (1973, wiederabgedruckt in Sen/Foster 1997) und „Inequality reexamined“ (1992a). Sie zeigen, dass es Sen nicht nur um eine Erörterung von Freiheit und Wohlergehen geht, sondern dass er immer auch die Frage nach Messbarkeit und Vergleichbarkeit derselben stellt. Daher verfolgt er aufmerksam empirische Ansätze der Wohlfahrtsmessung wie den Skandinavischen Ansatz und den Ansatz der Leyden-Schule227. Besonders interessiert er sich im Zusammenhang mit Wohlfahrt für eine zutreffende Einschätzung der Situation derjenigen, die benachteiligt sind. Er widmet dem Problem der Armut in seinen Büchern (Sen 1992a, Sen/Foster 1997, Sen 1999a) eigene Kapitel. Er führt eine – polemisch gefärbte – Ausei___________ 227 Vgl. z. B. Sen (1992a) zu van Praag (1982, 1993) und Aberg/Erikson (1987) sowie Erikson (1992).
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
221
nandersetzung mit Townsend um die Frage, ob Armut relativ sei (Sen 1983a, 1985c). Schließlich hat Sen einen weiteren Interessenschwerpunkt bei der Ökonomie der Entwicklungsländer.228 Sein Ansatz ist mit Sicherheit vom Basic Needs Ansatz beeinflusst worden, doch er setzt sich davon ab229 In diesem Zusammenhang beschreibt er (Sen 1989c, S. 46) seinen Ansatz als eine Möglichkeit, die Lebensqualität zu messen. Er beteiligt sich aktiv an der Suche nach einem besseren Wohlfahrtsindex für Entwicklungsländer, die zur Entwicklung des Human Development Index führt (UNDP 1990). Er arbeitet für das United Nations Development Program (UNDP), das World Institute for Development Economics Research (WIDER) und die Weltbank.230
Gesundheit als Beispiel Wenn Sen Beispiele bringt für die Anwendung seines Ansatzes, dann entstammen sie meist dem Bereich Gesundheit und Ernährung. Seinen Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten hat er ja im Anschluss an seine Studien zu Hungersnöten231 entwickelt und nutzt diese Daten als Illustration seines Ansatzes. So belegt er die Benachteiligung von Frauen in Indien anhand von Daten zur Gesundheitsversorgung und zu Gewicht und Größe von Kindern.232 Seine Vorstellung von effektiver Freiheit erläutert er am Beispiel der Freiheit von Hunger, Malaria und anderen Krankheiten (Sen 1992a, S. 66ff). Besonders intensiv beschäftigt er sich mit „Mortalität als Indikator für ökonomischen Erfolg und Misserfolg“ (Sen 1998a). Außerdem macht er Querverweise zu den Arbeiten zur Lebensqualität und zur Umsetzung bestimmter Ideen im Gesundheitsbereich.233
___________ 228
Vgl. Abschnitt 4.4.1 (Fußnote) und Sen (1984a, 1989c und 1999a). Vgl. Sen (1987a, S. 24f, 1989c, S. 46, 1992a, S. 109) und Crocker (1992). 230 Vgl. UNDP (1990), Nussbaum/Sen (1993) und Sen (1999a). 231 Vgl. Sen (1981a) sowie Dreze/Sen (1989, 1990). 232 Vgl. Sen (1985a, Appendix). 233 Vgl. Sen (1992a) zu Culyer (1986) und De Leonardo/Maurie/Rotelli (1986). 229
222
5. Vergleich der Ansätze
5.1.2.2 Rezeption Gerechtigkeitstheorie Eine ganze Reihe von Autoren234 nehmen Sens Frage „Equality of What?“ auf und diskutieren seinen Ansatz im Zusammenhang mit den Ansätzen von Rawls und Dworkin. Im Zentrum steht die Frage, was Wohlfahrt ist bzw. wie Wohlfahrt am besten zu bestimmen ist. Auch wenn einige mit Sens Ansatz nicht übereinstimmen, übernehmen sie doch allein schon mit der Fragestellung Sens (Meta-)Theorie, man könne Gerechtigkeitstheorien durch die Frage „Equality of What?“ ordnen. Gegen seine These, alle Gerechtigkeitstheorien enthielten die Forderung nach Gleichheit von etwas, gibt es bemerkenswert wenig Widerspruch. Ein anderer Schwerpunkt der Diskussion über Sens Ansatz beschäftigt sich vor allem mit seinem Freiheitsbegriff235. Wie bereits im Exkurs im Kapitel 4 ausgeführt, hat Sen seinen Freiheitsbegriff vor und unabhängig von seinem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten entwickelt, ihn aber darin integriert und nach und nach zum Mittelpunkt seines Ansatzes gemacht. Entsprechend wurde zunächst über seine Darstellung von Freiheit im Rahmen der Social Choice Theorie diskutiert236 und in Frage gestellt, ob Freiheit wirklich beinhaltet, über andere Individuum zu bestimmen. Erst die späteren Beiträge gehen auf Sens Konzept von effektiver Freiheit ein237 und fragen, ob beispielsweise die Freiheit von Malaria wirklich – wie von Sen befürwortet – als Freiheit begriffen werden sollte. Dies entspricht der Frage, ob Freiheit tatsächlich auch an den Konsequenzen gemessen werden soll. Ein dritter Schwerpunkt in der Diskussion um Sens Ansatz als Gerechtigkeitstheorie sieht seinen Ansatz als objektive Theorie (Sumner 1996), bzw. als „substantive goods theory“ (Scanlon 1993)238. Trotz dieser einhelligen Zuord-
___________ 234 Vgl. Arneson (1989, 1990), Cohen (1990, 1993), Daniels (1990), Roemer (1986) und van Parijs (1990). 235 Vgl. Abschnitt 3.2.4 und die dort genannten Autoren. 236 In den Beiträgen von Bernholz (1974), Gibbard (1974), Nozick (1974), Seidl (1975), Gärdenfors (1981), Seabright (1989) und Gärtner/Pattanaik/Suzumura (1992). 237 Vgl dazu Carter (1995, 1996), Cohen (1989, 1990, 1993, 1994) und Steiner (1990). 238 Scanlon (1993) zitiert zunächst Parfit, der Wohlfahrtstheorien in drei Kategorien einteilt: hedonistische, „desire theories“ und „objective list theories“. Da aber Scanlon den Begriff „objektiv“ in diesem Zusammenhang unglücklich findet, spricht er lieber von „substantive goods theories“ um anzuziegen, dass diese Theorien von der Beschreibung dessen ausgehen, was „gut“ ist.
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
223
nung von Sens Ansatz zur Kategorie der „substantive goods theories“ 239 wurde ihm der Vorwurf gemacht, seine „substantiellen Güter“ – die Funktionen – nicht genau genug zu charakterisieren, und es wurden andere Listen bzw. Charakterisierungen „substantieller Güter“ 240 vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang ist die Frage aufgekommen, inwieweit solche Theorien pluralistisch sein können (Qizilbash 1997a).
Wohlfahrtstheorie Sowohl die Beiträge241 aus Anlaß der Nobelpreisverleihung an Sen 1998 als auch die Besprechungen242 einzelner Werke von Sen sehen seinen Ansatz in wohlfahrtsökonomischer Perspektive. Seine Kritik am „Welfarismus“ (siehe Abschnitt 4.1.2) wird im allgemeinen positiv aufgenommen. Zumindest drei Bestandteile seines Ansatzes werden kritisch diskutiert und provozieren die Weiterentwicklung in der Wohlfahrtsökonomie: Erstens wird auch innerhalb der Wohlfahrtsökonomie243 die Frage danach gestellt, auf welcher Grundlage das Wohlergehen eines Menschen erfasst werden sollte. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang sowohl Sens unklarer Gebrauch der Begriffe „Funktion“ und „Verwirklichungsmöglichkeit“ (z. B. Sugden 1993) als auch sein Ziel, Verwirklichungsmöglichkeiten als empirische Größe zu nutzen (Basu 1987a). Zweitens stellt sich wegen der Multidimensionalität des Ansatzes die Frage, wie Mengen von Bündeln von Funktionen bewertet werden können. Diese Frage ist eng mit der ersten Frage verknüpft, wie Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten zu unterscheiden sind. Sugden (1993) merkt dazu an,
___________ 239 In diese Richtung geht auch Williams (1987). Auch Dasgupta (1986) versteht ihn in diesem Sinne und vertritt die Auffassung, dass eine Politik der Sachleistungen eher diesem Ansatz entspricht als eine Politik der pauschalen Transfers. 240 Alkire (2002) gibt einen Überblick über verschiedene Listen „substantieller Güter“ und favorisiert selber den Ansatz von Finnis. Qizilbash (1996, 1997b) plädiert für die Theorie Griffins von „prudential values“ und Nussbaum (1988, 1990, 1992, 1993, 1995 1998, 2000) entwickelt ihre eigene Liste „zentraler Funktionen“. 241 Vgl. Royal Swedish Academy of Sciences (1999), Atkinson (1999), Arrow (1999), Weikart (1998) und Pressman/Summerfield (2000). 242 Vgl. Basu (1987a), Beitz (1986), Delbono (1986), Gärtner (1988), Sugden (1986, 1993) und Streeten (2000). 243 Die Social Choice Theorie kann als Bestandteil der Wohlfahrtsökonomie angesehen werden und somit muss auch der Teil der Diskussion um Freiheit und ihre Modellierung, der in der Social Choice Theorie geführt wird, an dieser Stelle erwähnt werden.
224
5. Vergleich der Ansätze
dass Sen selbst wenig dazu ausführt, wie dieses Problem zu bewältigen ist. Seither sind aber weitere Vorschläge244 in die Diskussion gebracht worden. Drittens hat die Multidimensionalität seines Ansatzes gepaart mit seinem vehementen Eintreten für Unvollständigkeit bei der zu erzielenden Ordnung zu einigen Vorschlägen245 geführt, wie sein Konzept mit Hilfe der multidimensionalen Dominanz umgesetzt werden kann. Allerdings ist Sugden (1993) kritisch, ob Sens Optimismus bezüglich der Tragfähigkeit dieses Ansatzes gerechtfertigt ist, und die wenigen Versuche der Umsetzung scheinen seiner pessimistischeren Einschätzung recht zu geben.
Armut und Entwicklungspolitik Nicht nur Beitz (1986) meint, dass Sen sein besonderes Augenmerk auf Armut richtet, sondern auch die zahlreichen Autoren246, die Sens Ansatz im Zusammenhang mit Armutsmessung nennen und seinen Ansatz dafür nutzbar machen wollen. Armutsmessung ist in gewissem Sinne ein Sonderfall der Wohlfahrtsmessung, der durch die Verwendung von Armutsgrenzen gekennzeichnet ist. Die speziellen Schwierigkeiten beim Umgang mit Armutsgrenzen in einem multidimensionalen Rahmen, wie er von Sens Ansatz gefordert wird, haben einige Autoren247 aufgezeigt und untersucht, welche Lösungsmöglichkeiten eine Verallgemeinerung der Axiomatik auf den multidimensionalen Fall oder eine Anwendung der Fuzzy-set Theorie bieten. Andere Autoren248 versuchen, Sens Ansatz empirisch umzusetzen und fragen nach dem Verhältnis von Armut als Mangel an minimalen Funktionen oder als Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten und Einkommensarmut. Aus der Überzeugung heraus, dass Armut mit Bezug auf Verwirklichungsmöglichkeiten ___________ 244
Vgl. hierzu die Angaben in Foster/Sen (1997, S. 202, Fußnote). Vgl. bspw. Duclos/Sahn/Younger (2001), Villar (2001) und die Angaben in Savaglio (2001). 246 Vgl. bspw. Hossein (1990), Leibfried/Voges (1992), Chiappero-Martinetti (1994), Balestrino (1996), Nolan/Whelan (1996), Balestrino/Sciclone (2000), Duclos/Sahn/Younger (2001), Krämer (2001) sowie die „Conference on Justice and Poverty: examining Sen’s Capability Approach“ (St. Edmunds College, Cambridge, 2001) und die „3rd Conference on the Capability Approach“ (University of Pavia, Italy, 2003). Vgl. außerdem die Internet-Seite: www.hd-ca.org. 247 Vgl. Bourguignon/Chakravarty (1998, 1999, 2003), Chiappero-Martinetti (1994, 1996, 2000). 248 Z. B. Balestrino (1996), vgl. aber auch Hossein (1990), Lovell u. a. (1990), Brandolino/D’Alessio (1998) sowie Abschnitt 4.5 und 5.4. 245
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
225
definiert werden muss, haben Reddy und Pogge (2002) eine Diskussion249 über die Aussagekraft der Armutsmessung durch die Weltbank in Gang gesetzt. Ein Beispiel für eine direkte Anwendung seines Ansatzes auf die Wohlfahrtsmessung in Entwicklungsländern hat Sen mit dem Konzept des HDI (s. o.) gegeben. Dieser Index hat viel Beachtung gefunden und Diskussionen250 zur Folge gehabt. Zum einen stellt sich allgemein die Frage, wie sinnvoll eine Indexbildung ist, weil damit viele Informationen, die zunächst mühsam zusammengestellt werden müssen, wieder verschenkt werden (Srinivasan 1994). Zum anderen stellt sich bei der Indexbildung die Frage nach den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Dimensionen (vgl. Anand/Ravallion 1993). Auch die Zusammenarbeit von Nussbaum und Sen hat in einem entwicklungspolitischen Rahmen, nämlich am WIDER stattgefunden. Im Anschluss sind die Konzepte von Nussbaum und Sen einander gegenübergestellt und verglichen worden. Dabei hat der Ansatz von Nussbaum größeren Zuspruch251 erfahren, vor allem weil ihr ethischer Ansatz mehr überzeugte, allerdings ohne dass der konzeptionelle Unterschied zwischen Nussbaums und Sens Verständnis des Begriffs „capabilities“ gesehen worden ist.
Lebensqualität und ähnliche Konzepte Durch den Titel des Buches, das Sen mit Nussbaum gemeinsam herausgegeben hat, „Quality of Life“, wird der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten in Zusammenhang mit der Kategorie „Lebensqualität“ gebracht. Entsprechend zitiert Noll (2000) den Ansatz als einen, der versucht, Wohlfahrt etwas breiter zu definieren. Zugleich bemängelt Noll (2000, S. 20), dass der Ansatz in Form des HDI in sehr unbefriedigender Weise operationalisiert worden sei. Konzepte der Lebensqualität zielen aber nach Noll gerade auf eine Messung der Lebensqualität ab, weshalb er den Skandinavischen Ansatz zur Messung der Wohlfahrt („Level of Living Surveys“) zu den Konzepten für Lebensqualität zählt, den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten jedoch nur in die Nähe rückt. Neben dem Forschungszweig zur Messung der Lebensqualität, der eher in der Soziologie beheimatet ist, hat sich aus den Wirtschaftswissenschaften heraus ein Zweig unter dem Namen „Happiness-Forschung“252 entwickelt. Mit ___________ 249
Vgl. Reddy/Pogge (2002a, b, c) und Ravallion (2002). Vgl. z. B. Griffin/Knight (1989), Anand/Ravallion (1993), Streeten (1994), Srinivasan (1994), Noll (2000). 251 Vgl. Crocker (1992, 1995), Gasper (1997). 252 Vgl. die Ausführungen zu Ähnlichkeiten bei den Listen relevanter Dimensionen in verschiedenen Ansätzen in Abschnitt 4.5.1. 250
5. Vergleich der Ansätze
226
den Ähnlichkeiten zwischen der „Happiness-Forschung“ und dem Ansatz von Sen beschäftigt sich der „Workshop on Capabilities and Happiness“ (März 2004 am St. Edmund’s College in Cambridge).
5.1.3 Zusammenfassender Vergleich des Kontexts Zunächst muss noch einmal auf die beträchtlichen Unterschiede im Entstehungszeitraum und in der Veröffentlichungssprache hingewiesen werden. Die Entwicklung der Lebenslage-Ansätze von Neurath und Weisser war bereits abgeschlossen, bevor Sen 1980 das erste Mal den Begriff „capability“ verwendete. Der geschichtliche Kontext war also ein ganz anderer bei Sen als bei Neurath und Weisser. Wenn hier ein ähnlicher Kontext behauptet wird, handelt es sich also um einen inhaltlich definierten Kontext, der aber zu Neuraths und zu Weissers Zeit eine andere Form hatte als zu Beginn von Sens Veröffentlichungen zum Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten. Neurath hat nur wenig in Englisch veröffentlicht, Weisser meines Wissens gar nicht, Neurath ist kaum253 und Weisser meines Wissens überhaupt nicht im Ausland zitiert worden, so dass es keine direkten Bezüge Sens auf einen der Lebenslage-Ansätze gibt. Insgesamt müssen die Lebenslage-Ansätze als deutsches Spezifikum angesehen werden, da sie nur im deutschsprachigen Raum bekannt sind und diskutiert werden. Daher kann von einer Übereinstimmung des Kontexts, in dem die Ansätze rezipiert werden, auch nur in weiterem Sinne gesprochen werden.
Zum selbstgewählten Kontext Wenn man von diesen grundsätzlichen Unterschieden der Entstehungszeit und des Sprachraums absieht, lassen sich drei Bereiche erkennen, in die beide Lebenslage-Ansätze und der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten gehören: Erstens sind sie alle in der Auseinandersetzung mit der (zu ihrer Zeit) herrschenden Wohlfahrtstheorie entstanden. Bei Neurath ist es die Auseinandersetzung mit der Frage der Messbarkeit von Nutzen (Lebensstimmung), die ihn den Übergang von der nicht mess- und vergleichbaren Kategorie Lebensstimmung zur Kategorie Lebenslage vorschlagen lässt. Weisser kritisiert in allgemeiner Weise die Fixierung auf quantifizierbare (also kardinal messbare) Resultate in ___________ 253
Als Ausnahmen können Uebel (1991a), Martinez-Alier (1992), O’Neill (1996) gelten. Cohen und Uebel (2004) sind ferner dabei, eine englische Ausgabe der wichtigsten ökonomischen Schriften herauszugeben.
5.1 Der theoretische Kontext der Ansätze im Vergleich
227
der Wohlfahrtstheorie. Er beschreibt folglich Lebenslagen nicht nur anhand von quantitativen, sondern auch von qualitativen Eigenschaften. Sen hingegen stellt – ähnlich wie Neurath – fest, dass die Wohlfahrtstheorie sich in einer Sackgasse befindet, solange sie an der interpersonell nicht vergleichbaren Kategorie Nutzen festhält. Zweitens entwickeln alle Ansätze Vorstellungen davon, wie Wohlfahrt gerecht verteilt werden kann. In Neuraths Worten ist dies eine „sozialistische Lebensordnung“, bei der eine Mindestsicherung gewährleistet ist und einige Leistungsanreize gesetzt werden. Weissers Anspruch ist nicht so weit reichend, denn ihm geht es in erster Linie um eine Charakterisierung der Sozialpolitik. Doch er übernimmt von Grelling das „Prinzip der Verteilungspolitik“, das bei ihm „Spornungspostulat“ heißt und in dem der Grundgedanke von Rawls „Differenzenprinzip“ enthalten ist. Hingegen ist Sen unentschlossen, ob eine gerechte Verteilung durch eine Gleichverteilung der Funktionen oder durch eine Gleichverteilung der Verwirklichungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Deutlich fordert er jedoch durch seine Meta-Theorie einen Platz für seinen Ansatz zwischen anderen Gerechtigkeitstheorien. Schließlich betrachten alle drei Ansätze insbesondere die Situation der Armen. Sen spricht ausdrücklich von Armut und beschäftigt sich sowohl mit der Frage, wie Armut zu charakterisieren ist, als auch mit der Frage, wie sie zu messen sei. Zwar spricht Weisser von „sozialer Schwäche“, doch scheint es legitim zu sein, diese mit Armut gleichzusetzen. Am wenigsten setzt sich Neurath explizit mit dem Problem der Armut auseinander. Seine „sozialistische Gesellschaft“ wird jedoch keine Armut kennen. Neben jenen Bereichen, in deren Kontext sich alle drei Ansätze stellen, sind einige Bereiche zu nennen, auf die nicht alle Ansätze eingehen. Neurath und Weisser behandeln ausführlich – und mit ganz unterschiedlichen Standpunkten – erkenntnistheoretische Fragen, wohingegen Sen diese nur streift (Sen 1989a). Sens Berührungspunkt mit der Philosophie ist eher die Ethik. Vor allem seine Auseinandersetzung mit Rawls und Nozicks Theorien über die Rolle von Rechten und Freiheiten für die Gerechtigkeit ist hier zu nennen. Auch Weisser (z. B. 1967b) widmet einige Aufsätze der Frage des „freiheitlichen Sozialismus“, geht jedoch nicht auf die vornehmlich im englischen Sprachraum und erst gerade beginnende Diskussion ein, in die Sen eingreift. Neurath sieht seinen Ansatz als Teil der „empirischen Soziologie“, während Weisser ihn als zentralen Bestandteil der Sozialpolitiklehre sieht. Sen hingegen beschäftigt sich zwar mit „public action“ (Drèze/Sen 1989) und „public policy“ (1994a), entwickelt die Leitlinien aber aus der Wohlfahrtsökonomie und der Social Choice Theorie. Sen bettet seinen Ansatz zudem in die Entwicklungspolitik ein und nutzt ihn auch in diesem Bereich. Zu Neuraths Zeiten hat es dafür noch keine eigene Disziplin gegeben, aber auch Weisser (z. B. 1960c) hat seine
5. Vergleich der Ansätze
228
Vorschläge von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ noch im Hinblick auf das Nachkriegsdeutschland vorgebracht. Schließlich fällt auf, dass Weisser vor allem Bildung als Beispiel für eine Dimension der Lebenslage anführt, während Sen viele Beispiele aus dem Gesundheitsbereich bringt. Neurath führt sowohl Beispiele aus dem Bereich Bildung als auch aus dem Bereich Gesundheit an. Bemerkenswert an seinen Ausführungen ist der Verweis auf die Bedeutung der Zeit als wichtige Komponente zur Bestimmung der Qualität eines Bestandteils der Lebenslage (z. B. Arbeitszeit oder Zeit, die jemand für seinen Garten zur Verfügung hat).
Zur Rezeption Noch schwieriger, als einen gemeinsamen selbstgewählten Kontext auszumachen, ist es, einen gemeinsamen Kontext der Rezeption der beiden Lebenslage-Ansätze und des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten zu finden. Eindeutig ist eine solche Gemeinsamkeit nur für die Frage der Definition und Messung von Armut zu erkennen (vgl. auch Abschnitt 5.3). In diesem Bereich werden sie zitiert, weil sie zwei Eigenschaften miteinander teilen: Sie wenden sich gegen eine Reduktion von Armut auf Einkommensarmut und treten folglich für ein multidimensionales Verständnis von Armut ein. Diese Übereinstimmung geht so weit, dass die Ansätze alle in Zusammenhang mit dem Skandinavischen Ansatz der Wohlfahrtsmessung („Level of Living Surveys“) genannt werden. Sen (1992a, S. 113) sieht im Skandinavischen Ansatz der Wohlfahrtsmessung eine mögliche empirische Umsetzung seines eigenen Ansatzes. Zugleich verwenden Rendtel und Wagner (1991) für ihre Studien, die vom Skandinavischen Ansatz inspiriert wurden, den Begriff „Lebenslage“ im Titel, allerdings ohne auf die Konzepte von Weisser oder Neurath einzugehen. Sowohl Schulz-Nieswandt (1990) als auch Andretta (1991, S. 22) weisen jedoch auf eine Ähnlichkeit von Lebenslage- und Skandinavischem Ansatz auf konzeptioneller Ebene hin. In einem zweiten Bereich werden Neurath und Sen zitiert, nämlich im Bereich der Messtheorie (vgl. Abschnitt 5.2.1). Ansonsten werden die Ansätze in bemerkenswert unterschiedlichem Kontext diskutiert: Generell wird der Lebenslage-Ansatz eher in der Soziologie als in der Ökonomie im Zusammenhang mit soziologischen Wohlfahrtskonzepten (Lebensqualität, Lebensstandard und Lebensstil) und deren Rolle bei der Analyse der Sozialstruktur betrachtet, und selbst Weissers Bezüge zur Wohlfahrtsökonomie sind weitgehend254 ungehört verhallt. Entsprechend ist auch die ___________ 254
Eine Ausnahme stellen seine eigenen Schüler dar.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
229
Nutzung des Ansatzes für die Sozialarbeit und die Gerontologie weit von ökonomischen Fragestellungen entfernt. Einzig Neuraths Lebenslage-Ansatz wurde von einigen ökologischen Ökonomen wieder entdeckt, wobei sie sich auf wenige Passagen stützen und ihr Augenmerk auf die Fragwürdigkeit des Geldes als Wertmaßstab richten. Der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten von Sen hingegen wird als Alternative zum klassischen Ansatz der Wohlfahrtsökonomie wahrgenommen. Seine Anwendungsmöglichkeiten werden einerseits in der Armutsmessung und andererseits im Bereich der Entwicklungspolitik gesehen. Im Bereich der Philosophie wird zum einen der Ansatz als Theorie der Gerechtigkeit diskutiert und zum anderen Sens Begriff der effektiven Freiheit erörtert. Zum einen muss man daher festhalten, dass die Lebenslage-Ansätze, obschon von zwei ausgebildeten Ökonomen vorgebracht, vor allem in der Soziologie Anklang fanden und finden. Zum anderen bleibt zu fragen, warum der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten kaum Reaktionen aus dem Bereich der Soziologie provoziert hat.255
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich Ansatzpunkt für den Vergleich der zentralen Begriffe ist das Aufweisen ähnlicher Strukturen bei den Lebenslage-Ansätzen und dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten (bzw. dem Fähigkeiten-Ansatz von Nussbaum). Jeder Vertreter des Lebenslage-Ansatzes hat – wie die Vorstellung des Ansatzes im Kapitel 3 gezeigt hat – andere Schwerpunkte gesetzt und dem Ansatz auch jeweils eine andere Struktur gegeben. Trotz der unterschiedlichen Strukturen lässt sich von jedem Vertreter des Lebenslage-Ansatzes eine Parallele zu Sen ziehen, auch und gerade im Hinblick auf die Struktur. Neben diesen Ähnlichkeiten finden sich aber auch einige Überlegungen zur Struktur, die nur dem Lebenslage- bzw. nur dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten eigen sind. Diese Parallelen in der Struktur sind Gegenstand des Abschnitts 5.2.1, in dem zugleich darauf hingewiesen wird, welche Begriffe aus den verschiedenen Ansätzen in ähnlicher Weise verwandt werden. Im Anschluss überprüft Abschnitt 5.2.2 näher, ob die Begriffe nur ähnlich verwandt werden oder auch dieselbe Bedeutung haben. Der detaillierte Vergleich der Begrifflichkeit zeigt Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Ansätzen in Einzelfragen. Dabei wird auch deutlich, welchen Platz die Begriffe in der Struktur der jeweiligen Ansätze einnehmen. Um den Vergleich der Struktur und Begrifflichkeit der Ansätze zusammenzufassen, wird in Abschnitt ___________ 255
Eine Ausnahme stellt Coleman (1986) dar.
230
5. Vergleich der Ansätze
5.2.3 zunächst ein Schema entwickelt, nach dem sich alle Ansätze ordnen lassen. Entsprechend dieses Schemas werden die Ansätze auf den darin enthaltenen drei Ebenen verglichen und dann zusammenfassend charakterisiert.
5.2.1 Parallelen in der Struktur Auf den ersten Blick drängen sich einige Parallelen zwischen den Lebenslage-Ansätzen und dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten auf: Neurath und Sen beschäftigen sich intensiv mit dem Problem der Vergleichbarkeit, Grelling entwickelt wie Sen die Vorstellung einer Auswahlmenge und Weisser misstraut wie Sen der Zufriedenheit als Maßstab für das Wohlergehen und tritt wie Sen für Pluralismus ein. Weissers Ansatz erinnert aber auch stark an Nussbaums Variante des „Capability“-Ansatzes (dem Fähigkeiten-Ansatz), weil beide darum ringen, jene Dimensionen zu benennen, welche als Maßstab bei der Ermittlung des Wohlergehens dienen. Nussbaum skizziert außerdem wie Neurath und Grelling einen zeitlichen Zusammenhang in ihrem Ansatz. Die genannten Parallelen werden hier zunächst grob umrissen. Die Schilderung jeder Parallele mündet jeweils in eine Auflistung der Begriffe, die in den verschiedenen Ansätzen in ähnlicher Weise verwandt werden. Zugleich sind auf den ersten Blick einige Eigenheiten der Ansätze zu erkennen: Nur Neurath schildert das Zusammenwirken von Entscheidungen auf der Mikro- und der Makroebene, nur die Lebenslage-Ansätze formulieren die Idee, die Lebenslage-Typen zu bilden während nur Sen seine Theorien auch formal darstellt.
Vergleichbarkeit (Neurath – Sen) Wie bereits öfter angesprochen, besteht eine Parallele zwischen Neurath und Sen darin, dass sie sich zunächst beide mit der interpersonellen Vergleichbarkeit von Nutzen auseinandersetzen. Es ist die Erkenntnis, dass Nutzen als nur ordinal erfassbare Größe nicht interpersonell vergleichbar ist, gepaart mit dem Willen, trotzdem die Wohlfahrt verschiedener Individuen miteinander zu vergleichen, welche Neurath und Sen nach einer anderen Größe zur Erfassung der Wohlfahrt suchen lässt. Neurath geht von der „Lebensstimmung“ auf die „Lebenslage“ über: „Die Lebensstimmungen können wir nicht unmittelbar erfassen, wir werden uns daher an die Lebenslagen halten, an Wohnung, Nahrung, Kleidung, Arbeitszeit usw. ...“ (Neurath 1920, S. 58)
Sen hingegen stellt zunächst fest:
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
231
„The failure of utility to get very far, and the role of ,subjectivism‘ in this failure, may well push us in the direction of more objective considerations.“ (Sen 1987a, S. 14)
Dann erörtert er den Ansatz, Wohlfahrt mit Güterbesitz oder Reichtum gleichzusetzen, urteilt aber: „The movement in the objectivist direction away from utility may be right, but opulence is not the right place to settle down.“ (Sen 1987a, S. 16). Stattdessen schlägt Sen die Funktionen vor als Größe, um die Wohlfahrt zu ermessen: „It is easy to see that the well-being of a person must be thoroughly dependent on the nature of his or her being, i.e. on the functionings achieved. Whether a person is well-nourished, in good health, etc. must be intrinsically important of the wellness of that person’s being.“ (Sen 1992a, S. 40)
Das Problem, mit dem beide – Neurath wie Sen – konfrontiert sind, nachdem sie von der Betrachtung des Nutzens zur Lebenslage bzw. zu den Funktionen übergegangen sind, ist die Multidimensionalität dieses Maßstabs. Die Lebenslage bzw. das Bündel der erreichten Funktionen einer Person mag sich zwar mit jener bzw. jenem einer anderen Person vergleichen lassen in dem Sinne, dass eine klare Maßeinheit für jedes einzelne Element der Lebenslage bzw. für jede einzelne Funktion existiert, aber die Gesamtheit der Lebenslage bzw. der erreichten Funktionen lässt sich nur dann vergleichen, wenn man das Verhältnis zwischen den einzelnen Elementen der Lebenslage bzw. zwischen den einzelnen Funktionen klärt. Interessanterweise plädiert sowohl Neurath (vgl. Abschnitt 3.1.2) als auch Sen (z. B. Sen 1999a, S. 78) dafür, zunächst Dominanzrelationen festzustellen, d. h. die Fälle herauszusuchen, in denen sich eindeutig entscheiden lässt, welchem Individuum es besser geht, weil es in allen relevanten Bereichen über einen höheren Wert der Lebenslage bzw. der erreichten Funktionen verfügt. Beim Vergleich von Neuraths Lebenslage-Ansatz und Sens Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten ist es daher wichtig zunächst nachzuweisen, dass Neurath mit „Lebensstimmung“ dasselbe meint, wie Sen mit „Nutzen“. Sodann ist zu überprüfen, wie weit sich die Begriffe „Funktionen“ und „Lebenslage“ entsprechen oder ob Neuraths Lebenslage-Ansatz nicht doch schlicht die Ausstattung mit Gütern misst wie die sogenannten Ressourcenansätze, gegen die Sen sich ausspricht. Schließlich gilt es, kurz auf die Methode der Dominanz einzugehen.
Auswahlmenge (Grelling – Sen) Um die Ähnlichkeit zwischen der Struktur, die Grelling seinem LebenslageAnsatz gibt, und jener, die Sen seinem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten unterlegt, herauszustreichen, sei zuerst die Definition der Lebenslage von Grelling nochmals zitiert:
232
5. Vergleich der Ansätze
„Man kann sagen, dass kein Mensch jemals alle seine Interessen voll befriedigen kann; er muss vielmehr immer eine Auswahl zwischen ihnen treffen. Die Gesamtheit der von einem Menschen in einer bestimmten Periode seines Lebens faktisch befriedigten Interessen, wobei jedes einzelne mit dem Grade zu versehen ist, bis zu welchem es befriedigt wird, will ich die Lebenshaltung dieses Menschen während dieser Periode seines Lebens nennen. Die Gesamtheit der möglichen Lebenshaltungen, zwischen denen er am Anfang der Periode (etwa bei Aufstellung eines Haushaltsplanes) wählen kann, nenne ich seine Lebenslage. Es ist dann klar, dass zu jeder Lebenslage eine maximale in ihr erreichbare Zufriedenheit (in dem früher von mir definierten Sinne) gehört. Man kann also jeder Lebenslage den objektiven Wert zuordnen, der durch die maximale in ihr erreichbare objektive Zufriedenheit bestimmt ist. Man kann also auch Lebenslagen verschiedener Personen hinsichtlich ihres objektiven Wertes vergleichen.“ (Grelling 1921a, S. 1f)
Grelling unterscheidet hierin zwischen der Auswahlmenge, die er „Lebenslage“ nennt und dem ausgewählten Bündel von – bis zu einem bestimmten Grade – befriedigten Interessen, das er „Lebenshaltung“ nennt. Am Schluss erörtert er die Frage, wie sich die Auswahlmenge bewerten lässt. In ähnlicher Weise unterscheidet Sen zwischen der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, aus der ein Individuum ein Bündel von Funktionen auswählen kann, und den erreichten Funktionen: „Functionings represent parts of the state of a person – in particular the various things that he or she manages to do or be in leading a life. The capability of a person reflects the alternative combinations of functionings the person can achieve, and from which he or she can choose one collection.“ (Sen 1993b, S. 31)
Wenn man diese Auswahlmenge bewerten will, so ergibt sich nach Sen (1985a, S. 59) das Problem der Mengenbewertung und ein Vorschlag dafür ist jene Möglichkeit, die Grelling anführt. Sen (1985a, S. 61f) nennt sie die „elementweise Bewertung“ („elementary evaluation“) und kritisiert sie. Beim Vergleich von Grellings Lebenslage-Ansatz mit Sens Ansatz ist also zunächst das Augenmerk auf die „Interessen“ und die „Lebenshaltung“ nach Grelling im Vergleich zu den „Funktionen“ und dem „Bündel von Funktionen“ nach Sen zu richten. Hierbei ist auch zu fragen, in welchem Verhältnis der Interessenbegriff der Nelson-Schule zu Sens Begriff von „agency“ („Interessenvertretung“, vgl. Abschnitt 4.2.4) steht und inwieweit die Befriedigung von Interessen dasselbe meint, wie „Nutzen“ im Sinne der Interpretation von Nutzen als Bedürfnisbefriedigung, die Sen von der Interpretation des Nutzens im Sinne von „Freude und Leid“ unterscheidet. Dann gilt es, die Begriffe „Lebenslage“ nach Grelling und „Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten“ nach Sen zu vergleichen, sowie die Frage zu beantworten, ob Grellings Methode der Bewertung einer Lebenslage wirklich der „elementweisen Bewertung“, die Sen erwähnt, entspricht.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
233
Individualismus und Pluralismus (Weisser – Sen) Weisser übernimmt von Grelling das Verständnis des Begriffs „Lebenslage“ als Auswahlmenge. Anders als Grelling konzentriert sich Weisser nicht auf die (mathematische) Struktur der Auswahlmenge und der damit verbundenen Bewertungsprobleme, sondern auf die Frage, welche „Interessen“ so wichtig sind, dass sie zu den „Grundanliegen“ gezählt werden können. Der Wert einer „Lebenslage“ hängt in Weissers Definition davon ab, ob die individuellen Grundanliegen erfüllt werden können: „Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbesinnung und zu konsequentem Verhalten hinreichender Willensstärke leiten würden.“ (Weisser 1972a, S. 275, Fußnote)
In ähnlicher Weise fordert Sen, die individuellen Präferenzen einer Bewertung der „effektiven Freiheit“ zu Grunde zu legen: „The evaluation of the freedom I enjoy from a certain menu must depend to a crucial extent on how I value the elements included in that menu. Any plausible axiomatic structure in the comparison of the extent of freedom would have to take some note of the person’s preferences.“ (Sen 1991, S. 22)
In diesem Sinne sind beide Ansätze individualistisch. Beide – Weisser wie Sen – verbinden mit diesem Individualismus die Forderung nach Pluralismus. Es sei nicht möglich, einen einheitlichen Katalog von Grundanliegen, bzw. Präferenzen, Funktionen oder Verwirklichungsmöglichkeiten aufzustellen. Daher müssten ihre Ansätze pluralistisch sein, um den verschiedenen individuellen Vorstellungen von Wohlfahrt gerecht werden zu können (vgl. z. B. Weisser 1957c und Sen 1993b, S. 47). Wie aber lassen sich dann die individuellen Grundanliegen bzw. Präferenzen bestimmen, die als Wertmaßstab dienen sollen? Übereinstimmend warnen Sen und Weisser davor, die subjektive Zufriedenheit als Indikator für die individuellen Präferenzen bzw. Grundanliegen zu verwenden. Weisser schreibt: „[I]ch kann nicht den Zufriedenheitsgrad einfach zum Maßstab meiner Bewertung sozialer Verhältnisse machen, wenn ich weiß, dass es möglich ist und in der Geschichte immer wieder vorgekommen ist, dass selbst Menschen in dem tiefsten Elend, in ihrer Psyche so manipuliert worden sind, dass sie sich selig fühlen.“ (Weisser 1963b, S. 5)
Sen formuliert diese Beobachtung, die manchmal kurz mit dem Begriff „Zufriedenheitsparadox“ (vgl. Abschnitt 3.3.2) bezeichnet wird, so: „A person who is ill-fed, undernourished, unsheltered and ill can still be high up in the scale of happiness or desire-fulfilment if he or she has learned to have ,realistic‘ desires and to take pleasure in small mercies.“ (Sen 1985a, S. 21)
Wenn man den Äußerungen der Betroffenen wegen des Zufriedenheitsparadoxes nicht trauen kann, wie lassen sich dann die individuellen Präferenzen
234
5. Vergleich der Ansätze
bzw. Grundanliegen bestimmen? Hier schlagen Weisser und Sen unterschiedliche Lösungswege ein: Weisser plädiert dafür, dass der Forscher seine Grundanliegen „bekenntnismäßig“ einführt, weil er meint, dass es weder möglich sei, den Grundanliegen den „Rang allgemein verbindlicher Aussagen praktischer Art >zu@ verleihen“ (Weisser 1963a, S. 62), noch sie empirisch zu bestimmen. Sen hingegen ist zuversichtlich, dass sein Ansatz nicht in der selben Form wie der von ihm dafür kritisierte Utilitarismus unter der Schwäche des Zufriedenheitsparadoxes leidet. Sein Ansatz beruhe auf jenen Verwirklichungsmöglichkeiten, die die Menschen tatsächlich haben: „>T@he capabilities to be accounted are those that people do actually have (and not those that they could have had if they were less influenced by ,social discipline‘).“ (Sen 1992a, S. 149f)
Auch wenn Sen hiermit nicht wirklich klärt, wie die Verwirklichungsmöglichkeiten zu erkennen sind, ist sein Hinweis auf ihren objektiven Charakter aufschlussreich: die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ist bei Sen begrenzt durch das Zusammenwirken von zwei Mengen, nämlich der Budgetmenge einerseits und der Menge an persönlichen Technologien zur Erzeugung von Funktionen („utilization functions“) andererseits (vgl. Abschnitt 4.2.2). Die Budgetmenge ist nur bedingt (z. B. über die Arbeitszeitentscheidung) von den persönlichen Präferenzen abhängig und fasst gemeinsam mit der Menge persönlicher Technologien die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums zusammen. Die individuellen Präferenzen sagen etwas über die Bewertung der Auswahlmenge durch das Individuum aus, aber sie strukturieren diese Menge nicht. Anders bei Weisser: Zwar ist auch bei ihm die Auswahlmenge begrenzt, nämlich durch die „äußeren Umstände“, aber die individuellen Grundanliegen haben eine Funktion, die über die reine Bewertung hinausgeht. Sie spannen den Spielraum erst auf, indem sie die – individuellen – Dimensionen der Lebenslage angeben. Die individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten, die bei Sen in Form der persönlichen Technologien auftreten, sind bei Weisser an der Entwicklung der Grundanliegen selbst beteiligt und damit untrennbar mit den Präferenzen vermischt. Dieser „subjektiven“ Seite der Lebenslage stehen die „äußeren Umstände“ als „objektive“ Seite gegenüber. Gründlich ist daher zu prüfen, ob sich die hier festgestellte Abweichung zwischen Weissers und Sens Ansatz bei der Betrachtung der Begrifflichkeit bestätigt: Entsprechen Weissers „Grundanliegen" eher den „Funktionen“, den „Verwirklichungsmöglichkeiten“ oder „effektiven Freiheiten“ oder den „Präferenzen“ bei Sen? Dabei muss auch die Frage geklärt werden, inwieweit Sen selbst zwischen diesen Begriffen klar unterscheidet und ihnen eine unterschiedliche Bedeutung verleiht. Welches sind die Dimensionen der Ansätze und wodurch werden die relevanten Dimensionen bestimmt? Verglichen werden
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
235
müssen auch die Begriffe „äußere Umstände“ bei Weisser mit der „Budgetmenge“ und der „Menge an persönlichen Technologien“ bei Sen.
Verantwortung und politische Anwendung (Weisser – Nussbaum) Der Begriff der Lebenslage steht bei Weisser im Mittelpunkt seiner „Sozialpolitik“. Dies ist kein Zufall. Immer wieder macht Weisser deutlich, dass es Ziel der Politik, zumal der Sozialpolitik, sein müsse, die Lebenslage zu verbessern. Im Begriff der Lebenslage sieht Weisser (1974a, S. 152) die beste Entsprechung für das „Postulat, das von der erstrebenswerten Freiheitlichkeit der Gesellschaft und im besonderen von der erstrebenswerten Selbstverantwortung der Gesellschaftsmitglieder für die Gestaltung ihres Lebens ausgeht und daher vor Bevormundung warnt“: „Dies gab sprachlich Raum für die Forderung, daß der einzelne aus der ihm in gerechter Weise zu bietenden ‚Lage‘ in freier Selbstverantwortung das für ihn nach seiner Überzeugung Beste machen solle.“ (Weisser 1974a, S. 152)
Mit dem Vorwurf der Bevormundung setzt sich auch Nussbaum auseinander. Sie formuliert diese Kritik folgendermaßen: „People are the best judges of what is good for them, and if we prevent people from acting on their own choices, we treat them like children.“ (Nussbaum 2000, S. 51)
Gegen diesen Vorwurf verteidigt sie ihr Festhalten an universellen Werten, nämlich ihrer Liste mit zentralen funktionalen Fähigkeiten, indem sie auf fünf Eigenschaften ihres Ansatzes aufmerksam macht, von denen zwei um die individuelle Entscheidungsfreiheit kreisen: „Second, capability as goal: the basic political principles focus on promoting capabilities, not actual functioning, in order to leave to citizens the choice whether to pursue the relevant functioning or not to pursue it. Third, liberties and practical reason: the content of the capabilities list gives a central role to citizens’ powers of choice and to traditional political and civil liberties.“ (Nussbaum 2000, S. 105)
Weisser hat die Vorstellung, dass der individuelle „Spielraum zur Erfüllung von Grundanliegen“ durch „äußere Umstände“ begrenzt sei. Dass es in seiner Vorstellung Aufgabe der Politik ist, auf eben jene äußeren Umstände Einfluss zu nehmen, um den Spielraum zur Erfüllung der Grundanliegen zu vergrößern, spricht er nicht direkt an, aber es ist eine naheliegende Vermutung. Bemerkenswert ist, dass auch Nussbaum ein Zusammenspiel innerer und äußerer Umstände beschreibt, wenn sie die „kombinierten Fähigkeiten“ definiert: „[T]here are combined capabilities, which may be defined as internal capabilities combined with suitable external conditions for the exercise of the function.“ (Nussbaum 2000, S. 84f)
Ihre Liste mit „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ versteht sie als Liste kombinierter Fähigkeiten (Nussbaum 2000, S. 85), denn die Hauptaufgabe
236
5. Vergleich der Ansätze
dieser Liste sei die Bereitstellung politischer Prinzipien als Grundlage für nationale Verfassungen (Nussbaum 2000, S. 105). Somit sind die kombinierten Fähigkeiten bei Nussbaum und die Lebenslage bei Weisser weniger zur Messung des Wohlergehens konzipiert, als vielmehr zur Bestimmung von Zielen der Politik in einer politischen Theorie. Trotz aller Ähnlichkeiten in der Argumentation, muss allerdings gefragt werden, ob die unmittelbaren Interessen, bzw. Grundanliegen bei Weisser universelle Werte im Sinne Nussbaums darstellen und ob es Weissers „äußere Umstände“ sind, welche aus „internen“ „kombinierte Fähigkeiten“ bei Nussbaum machen, ob also Weissers „Lebenslage“ den „kombinierten Fähigkeiten“ von Nussbaum entspricht?
Zeitlicher Zusammenhang (Neurath, Grelling und Nussbaum) Das unten zu beschreibende Zusammenwirken von Makro- und Mikroebene bei Neurath hat auch eine zeitliche Struktur: Die Lebenslage von heute ist Teil des Lebensbodens, welcher zusammen mit der Lebensordnung die Lebenslage von morgen hervorbringt (vgl. Abschnitt 3.1.2). Auch Grelling (vgl. Abschnitt 3.2.2) entwirft eine Theorie über den zeitlichen Zusammenhang der Lebenslagen. Zu beachten ist dabei natürlich, dass Grelling unter „Lebenslage“ eine Möglichkeitenmenge versteht, während Neurath damit die konkreten Lebensbedingungen beschreibt. Grelling stellt sich die Frage, wann eine Lebenslagenverteilung sich selbst reproduziert. Eine solche, sich selbst reproduzierende Lebenslagenverteilung nennt er „stationäre Verteilung“. Ihm geht es um eine Art stationäres Gleichgewicht, in dem die Güterproduktion und die Verteilung der daraus resultierenden Lebenslagen sich zumindest in ihrer Struktur nicht verändern, wobei sich die Verteilung der Lebenslagen auf die Individuen sehr wohl ändern kann. Den zeitlichen Zusammenhang definiert Grelling also auf der Makroebene. Über den zeitlichen Zusammenhang auf der Mikroebene, wie beispielsweise die Auswahl von gestern die Auswahlmenge von heute beeinflusst, macht Grelling keine Aussage, aber er definiert die Lebenslage zeitbezogen, indem er von den Auswahlmöglichkeiten zu Beginn einer Zeitperiode spricht. Auch Sen macht einige Bemerkungen über den Zusammenhang von individuellen Funktionen und der Organisation der Gesellschaft (s. u.). Dass dieser Zusammenhang eine zeitliche Dimension hat, dürfte klar sein, aber Sen stellt nicht wie Neurath eine Theorie über den zeitlichen Zusammenhang auf. Seine Äußerungen über allgemeine Gleichgewichtsmodelle (Sen 1981a, S. 455) machen auch deutlich, dass Sen nicht an einer Theorie über die stationäre Verteilung von Funktionen oder Verwirklichungsmöglichkeiten, wie Grelling sie aufstellt, interessiert ist, weil er solche Modelle durch ihre Realitätsferne für
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
237
geradezu zynisch hält. Aber der Gedanke Grellings, dass die Lebenslage je für eine Periode definiert ist, könnte auch in Sens Ansatz einfließen und insbesondere dazu dienen, den Zusammenhang zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten (vgl. Abschnitt 4.2.5) zu modellieren. Nussbaum stellt zwar nicht einen Zusammenhang zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten her, sondern zwischen grundlegenden Fähigkeiten auf der einen und internen und kombinierten Fähigkeiten auf der anderen Seite, trotzdem fragt sich, in welchem Verhältnis ihre Gedanken zu jenen Sens stehen. Grundlegende Fähigkeiten sind angeboren (Nussbaum 2000, S. 84) und stellen die Voraussetzung für die Entwicklung interner Fähigkeiten dar, zu der jedoch auch die Möglichkeit von außen gegeben sein muss. Setzt Sen nicht die Fähigkeit zu wählen als gegeben – und somit als angeboren – voraus? Müssen nicht bestimmte Funktionen – auch dank äußerer Umstände – erreicht werden, um Verwirklichungsmöglichkeiten zu schaffen? Nussbaums (1988, s. Abschnitt 4.3.3) formale Kennzeichnung von grundlegenden (!), internen und kombinierten Fähigkeit als Fähigkeiten zum Zeitpunkt t lässt sie indes später fallen, so dass die äußerliche Ähnlichkeit zu Grellings Darstellung nicht wirklich Ansatzpunkte für einen Vergleich bieten.
Zusammenwirken von Makro- und Mikroebene (Neurath) Neurath sieht die Lebenslage als Produkt von Lebensboden und Lebensordnung an. Wie er sich diesen Zusammenhang konkret vorstellt und warum dies hier als Zusammenwirken von Makro- und Mikroebene bezeichnet wird, mag ein Beispiel zeigen: „Der Lebensboden erscheint als Reiz, der auf die Lebensordnung ausgeübt wir, so daß sie sich ändert. Ein Jägervolk, an die Küste verschlagen, wird den Fischfang beginnen. Die Verknüpfung der Menschen wird sich ändern, ihre Lebensordnung. ... Die Lebenslage wieder ist gewissermaßen der Reiz, welchen die Lebensordnung in Verbindung mit dem Lebensboden schafft. Es können bei gleichem Lebensboden verschiedene Lebensordnungen wesentlich verschiedene Reize erzeugen. Die Lebenslage ist dann deutlich abhängig von der Lebensordnung.“ (Neurath 1931a, S. 112)
Während „Lebensboden“ und „Lebensordnung“ Begriffe sind, die Bedingungen beschreiben, welche die Gesellschaft als Ganzes betreffen, lässt sich der Begriff „Lebenslage“ auch bei Neurath auf das einzelne Individuum beziehen (vgl. Abschnitt 3.1.2). Die individuelle Lebenslage erscheint daher gesellschaftlich bedingt. Zugleich fließen die individuellen Lebenslagen nach Neurath in den Lebensboden ein, werden also gesellschaftlich wirksam. In dieser Weise wirken die gesellschaftliche – Makro- – Ebene und die individuelle – Mikro- – Ebene zusammen. Allerdings modelliert Neurath – anders als später Grelling und Weisser und anders als Sen – das Individuum nicht als Entschei-
238
5. Vergleich der Ansätze
dungsträger. Welche Möglichkeiten das Individuum hat, seine Lebenslage zu beeinflussen und damit einen Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes auszuüben, bleibt unklar. Einige der Einflussfaktoren, die Neurath unter den Begriffen „Lebensboden“ und „Lebensordnung“ zusammenfasst, erwähnt auch Sen (1985a, S. 25ff), wenn er sich mit der Frage auseinandersetzt, ob es möglich ist, einen Warenkorb zu bestimmen, der all das enthält, was ein Mensch zum Leben braucht. So stellt Sen (1980a, S. 366) heraus, dass ein solcher Warenkorb keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann, weil sich die klimatischen Bedingungen („Lebensboden“), unter denen die Menschen leben, unterscheiden. Ferner weist er (1983a, S. 336f) darauf hin, dass die Menschen unterschiedliche Gebräuche („Lebensordnungen“) entwickelt haben, die einen solchen universellen Warenkorb unmöglich machen. Diese Aspekte sind für Sen ein Grund, für eine individuelle Betrachtung zu plädieren, bei der neben der Verfügbarkeit von Gütern auch die Möglichkeiten, die ein Individuum hat, diese Güter zu verwenden, in Form von „persönlichen Technologien“ beachtet wird. Ansätze zu einer Theorie des Zusammenwirkens von Individuum und Gesellschaft finden sich bei Sen erst in neueren Veröffentlichungen (z. B. 1999a, S. 178ff und 249ff), wobei er auf die Bedeutung von individuellen Funktionen – wie z. B. Lesen – für das Funktionieren der Gesellschaft – z. B. für die Meinungsfreiheit – hinweist und umgekehrt auf die Bedeutung der Organisation einer Gesellschaft („Lebensordnung“) für das Erlangen individueller Funktionen am Beispiel der Hungerprävention durch Demokratie. Dennoch ist hierbei nur von „Ansätzen“ zu sprechen, die keine klare Struktur aufweisen und nicht mit Neuraths Theorie zu vergleichen sind.
Typenbildung (Neurath, Grelling und Weisser) Bei allen drei hier behandelten Versionen des Lebenslage-Ansatzes findet sich die Idee, Gesellschaftsschichten oder -klassen anhand ähnlicher Lebenslagen zu definieren. Die Ähnlichkeit von Lebenslagen ist bei Neurath (1931a, S. 125f) durch dieselbe Lebensstimmung definiert, bei Grelling (1921a, S. 2) durch denselben „objektiven Wert“ der Lebenslage und bei Weisser (1951, S. 2) durch den annähernd gleichen Spielraum zur Befriedigung „einer Mehrzahl bestimmter lebenswichtiger Interessen“. Neurath, Grelling und Weisser binden damit den Begriff Lebenslage in die Sozialstrukturanalyse ein. Allerdings ist fraglich, ob sich das jeweils angegebene Kriterium – die „Lebensstimmung“ bei Neurath, der „objektive Wert der Lebenslage“ bei Grelling bzw. der Spielraum bei Weisser – so gut messen lässt, dass sich Schichten oder Klassen voneinander abgrenzen lassen.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
239
Trotz dieses Identifikationsproblems stellt die Idee der Typisierung eine wichtige Verbindung zu soziologischen Theorien über die Gesellschaftsstruktur her und macht die große Beliebtheit des Lebenslage-Ansatzes in der Soziologie verständlich. Bei Sen findet sich kein derartiger Vorschlag, welcher die Verbindung zur Sozialstrukturanalyse in der Soziologie herstellen könnte. Doch könnte dies der Boden für eine fruchtbare Verknüpfung von LebenslageAnsatz und Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten sein (siehe Abschnitt 6.1).
Formale Darstellung (Sen) Nur Sen (vor allem 1985a) bietet eine formale Darstellung seines Ansatzes. Wie bereits erwähnt, müssen die verschiedenen Elemente seines Ansatzes – Funktionen, Verwirklichungsmöglichkeiten, Budgetmenge und Menge an persönlichen Technologien – daraufhin untersucht werden, ob sie und wenn ja welchen Begriffen der Lebenslage-Ansätze sie entsprechen. Zugleich stellt sich die Frage, ob die Lebenslage-Ansätze sich in derselben Weise formal darstellen lassen und ob sich die Struktur des Senschen Ansatzes dafür eignet. Eine formale Darstellung ist m. E. ein erster Schritt im Hinblick auf die Anwendung der Ansätze. Diese Frage kann aber erst beantwortet werden, nachdem geklärt ist, in welchem Verhältnis die Begriffe der Lebenslage-Ansätze zu jenen des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten stehen und wird daher erst in Abschnitt 5.2.3 wieder aufgegriffen.
5.2.2 Zentrale Begriffe Welche Begriffspaare gemäß dem groben Vergleich der Ansätze im vorigen Abschnitt näher auf ihre Übereinstimmung überprüft werden müssen, fasst Tabelle 5 zusammen. Zusätzlich können sich aus der detaillierten Überprüfung der Begriffspaare weitere Ähnlichkeiten ergeben, denen gegebenenfalls nachgegangen wird.
Lebensstimmung (Neurath) – Nutzen (Sen) Zunächst spricht Neurath (1911a, 1912) meistens von „Lust“ und „Unlust“, wenn er sich mit der Frage auseinandersetzt, ob das „Lustmaximum“ zu berechnen sei. Er verwendet aber auch den Ausdruck „Glücksmaximum“, den die englischen Utilitaristen populär gemacht hätten (Neurath 1912, S. 47). In seiner ersten Darstellung des Lebenslage-Ansatzes (Neurath 1917a, S. 104) geht er dazu über, von „Lebensstimmung“ zu sprechen, weil er einen Ausdruck suche,
5. Vergleich der Ansätze
240
mit dem „Glück“ und „Unglück“ zusammenfassend – sozusagen „saldiert“ – bezeichnet werden können. In diesem Text knüpft er an die vorigen Überlegungen zur Mess- und Vergleichbarkeit von „Lust“ und „Unlust“ an, verwendet aber fortan den Begriff „Lebensstimmung“. Neurath bezieht sich mit dem Ausdruck „Lebensstimmung“ also eindeutig auf das, was die Utilitaristen mit „Nutzen“ bezeichnen. Tabelle 5 Zu vergleichende Begriffe Lebenslage-Ansätze
Capability-Ansätze
Lebensstimmung (Neurath)
Nutzen (Sen)
Interesse (Nelson, Grelling, Weisser)
Funktionen (Sen) Interessenvertretung (Sen) Präferenzen (Sen)
Grundanliegen (Weisser)
zentrale funktionale Fähigkeiten (Nussbaum) persönliche Technologie (Sen)
äußere Umstände (Weisser)
Budgetmenge (Sen) kombinierte Fähigkeiten (Nussbaum)
Lebenslage Weisser)
(Neurath,
Grelling,
Bündel von Funktionen (Sen) Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten (Sen)
mittelbare und unmittelbare Interessen (Nelson, Weisser)
instrumenteller und intrinsischer Wert (Sen)
(Vorgehen von Neurath)
Dominanz (Sen)
objektiver (Grelling)
Wert
der
Lebenslage
universelle Werte (Nussbaum) elementweise Bewertung (Sen)
Eigene Zusammenstellung
Für die Überlegungen zur Vergleichbarkeit ist es unerheblich, in welcher Weise der Begriff „Nutzen“ interpretiert wird, denn es ist die Eigenschaft der Ordinalität, die den Ausschlag dafür gibt, dass Nutzen nicht interpersonell vergleichbar ist. Dennoch bietet Sen bei seinen Überlegungen zum Nutzenbegriff drei Interpretationen, wovon eine – nämlich die als offenbarte Präferenzen – erst nach Neuraths Veröffentlichungen zum Lebenslage-Ansatz entstanden ist. Neurath interpretiert „Lebensstimmung“ immer im Sinne von „Glück“ und „Unglück“ und geht nicht auf die Interpretation im Sinne der Befriedigung von Wünschen (vgl. Sen 1985a, Abschnitt 3) ein.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
241
Bestandteile der Lebenslage (Neurath) – Funktionen (Sen) Wenn Neurath nun den Begriff der Lebenslage einführt, so tut er das im Hinblick auf die Lebensstimmung, wie er noch 1931 schreibt: „Lebenslage ist der Inbegriff all der Umstände, die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltungsweise eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen. ... Sie ist die Bedingung jenes Verhaltens, das wir als Lebensstimmung bezeichnen.“ (Neurath 1931a, S. 125).
Aufschlussreich ist die Unterteilung in Lebenslage im engeren und im weiteren Sinne, die er anfangs einführt. Eigentlich ist es die Lebenslage im engeren Sinne, „als welche etwa die Verdauungsvorgänge, der Ernährungszustand, der Muskelzustand, der Erwärmungszustand der Haut und vieles andere anzuführen sind“ (Neurath 1917a, S. 107), die direkt die Lebensstimmung bestimmt. Doch „bei den rohen Betrachtungen, die wir anstellen,“ erscheint es Neurath sinnvoll, die „Lebenslage im weiteren Sinne“ „durch die Menge Brot, welche er ißt, durch die Kleidermenge, welche er benützt, durch die Arbeit, die er leistet, und die Krankheit, die er mitmacht, nach Menge, Anordnung usw.“ zu charakterisieren (Neurath 1917a, S. 107). Eigentlich geht es Neurath also um den Zustand, in dem sich ein Mensch befindet, aber er meint diesen Zustand annähernd auch durch Angaben über die Güter, über welche er verfügt, den Gesundheitszustand und die Arbeit des Menschen beschreiben zu können. Wobei er von der Lebenslage in einem bestimmten Zeitabschnitt spricht (Neurath 1917a, S. 107). Obgleich Sen aus ähnlichen Überlegungen wie Neurath heraus nach einer Größe sucht, die das Wohlergehen eines Menschen erfassen kann, besteht doch ein erheblicher Unterschied zwischen beiden darin, dass für Sen „Nutzen“ nicht nur nicht interpersonell vergleichbar ist, sondern auch das Wohlergehen eines Menschen nicht richtig kennzeichnet. Seine „Funktionen“ sind daher nicht in erster Linie gedacht als Bedingungen für Nutzen, sondern als Elemente des Wohlergehens selbst: „The claim is that functionings are constitutive of a person’s being ...“ (Sen 1992a, S. 39). Dennoch charakterisiert Sen seine „Funktionen“ ähnlich wie Neurath die Lebenslage als Beschreibung des Zustands einer Person: „Functionings represent parts of the state of a person – in particular the various things that he or she manages to do or be in leading a life.“ (Sen 1993b, S. 31)
Bezeichnend ist allerdings, dass Sen die Funktionen aus einer anderen Perspektive beschreibt als Neurath die Lebenslage. Dies wird besonders an den Beispielen deutlich, die sie beide geben. Während Neurath (1931a, S. 125) von den „Malariakeimen, die bedrohlich einwirken“ als Teil der Lebenslage spricht, nennt Sen (1985b, S. 197) als Beispiel für Funktionen „being free from malaria“; während Neurath die „Krankheiten, die er durchmacht,“ als Teil der Lebenslage eines Menschen ansieht, formuliert Sen (1992a, S. 39) „being in
242
5. Vergleich der Ansätze
good health, avoiding escapable morbidity and premature mortality“; während Neurath (1931a, S. 125) die „freundliche menschliche Umgebung“ zur Lebenslage zählt, beschreibt Sen (1985b, S. 199) eine Funktion mit „being able to visit and entertain friends“ und „taking part in the life of the community“. Die Lebenslage von Neurath erscheint als eine Aufzählung von gegebenen Tatsachen. Selbst die „freundliche menschliche Umgebung“ wird aufgezählt als eine extern vorgegebene Tatsache. Der betroffene Mensch erscheint als eher passives Element, das einer Lebenslage gleichsam ausgesetzt ist. Dahingegen sind Funktionen bei Sen immer Eigenschaften des Individuums. Auch wenn diese Eigenschaften an allgemeinen Standards davon gemessen werden, ob sie vermeidbar sind, ist der Mensch als aktives Wesen im Mittelpunkt der Betrachtung von Sen. Neben dem Zustand einer Person zählen daher auch Aktivitäten und Fähigkeiten von ihr zu den Funktionen: „I shall refer to various doings and beings that come into this assessment as functionings. These could be activities (like eating or reading or seeing), or states of existence or being, e.g., being well nourished, being free from malaria, not being ashamed by the poverty of one’s clothing or shoes ...“ (Sen 1985b, S. 197f)
In der Konsequenz ist Sen nicht bereit, Funktionen annäherungsweise über die Verfügbarkeit von Gütern zu bestimmen, anders als Neurath, der die Lebenslage im engeren Sinne durch die Lebenslage im weiteren Sinne, die unter anderem – aber nicht nur – die Verfügbarkeit von Gütern festhält, ersetzt. Trotz dieses Unterschieds bin ich der Meinung, dass Neuraths Lebenslage dem Senschen Begriff der Funktionen sehr nahe kommt, denn schließlich sind die Theorien zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten entstanden: Die Position Sens ist in entscheidender Weise durch die Auseinandersetzung mit Rawls Theorie geprägt, dem Sen ja „Güterfetischismus“ vorwirft. Zudem kann Sen über andere und ausgefeiltere Methoden der empirischen Sozialforschung verfügen als Neurath und kann daher von Neuraths „rohen Betrachtungen“, die sich mit der Lebenslage im weiteren Sinne zufrieden geben, zu feineren Analysen übergehen, welche die Erfassung der Lebenslage im engeren Sinne, bzw. der Funktionen zum Ziel haben.
Interessen (Grelling/Nelson) – Nutzen, Bedürfnisse und Funktionen (Sen) Grelling stellt seiner Definition von Lebenslage einige Bemerkungen zur Vergleichbarkeit von Interessen voran, die hier zunächst wiedergegeben werden: „I. Simultane Interessen einer Person sind immer vergleichbar. Von zwei Interessen ist stets entweder eines das stärkere, oder sie sind gleich stark. Das empirische Kriterium für die Vergleichung ist die Auswahl: dasjenige Interesse ist das stärkere, dessen Befriedigung im Falle der Wahl vorgezogen wird.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
243
II. Unterschiede von Interessenpaaren (einer Person) sind nur vergleichbar, wenn der eine ganz in den anderen fällt. ... Folgerung: Interessen sind nicht addierbar und folglich auch nicht zahlenmässig messbar. III. Der objektive Wert (die objektive Dringlichkeit) von Interessen verschiedener Personen ist vergleichbar. Kriterium ist die Stärke der betreffenden Interessen vereinigt gedacht in einer vollkommen gebildeten Person in der betreffenden Situation (die genaue Definition der Situation steht noch aus).“ (Grelling 1921a, S. 1)
Hier erscheint es zunächst so, dass verschiedene Interessen sich mit ein und demselben Maßstab messen lassen. Einziges Kriterium ist die Stärke eines Interesses256, wobei jedoch die interpersonelle Vergleichbarkeit durch einen Trick eingeführt wird, nämlich die Vorstellung einer „vollkommen gebildeten Person“. Diese Vorstellung findet sich auch schon bei Nelson (dem Lehrer von Grelling): „Hier zeigt sich nun der Grund der Möglichkeit einer Vergleichung der Stärke mit dem Wert der Interessen. Wir führen die Vergleichung von Interessen überhaupt auf die Vergleichung von objektiven Interessen zurück, indem wir folgendes Kriterium aufstellen: Die Vorzugswürdigkeit eines Interesses gegenüber kollidierenden bestimmt sich durch die relative Stärke des Interesses, das eine vollkommen gebildete Person an seiner Befriedigung haben würde, wenn unter einer vollkommen gebildeten Person eine solche verstanden wird, die einerseits über vollkommene Einsicht verfügt und andererseits stets das als wertvoll erkannte dem als weniger wertvoll erkannten vorzieht.“ (Nelson 1936, S. 14)
Bei Nelson hilft also die Vorstellung der vollkommen gebildeten Person das Problem zu lösen, wie man Wert und Stärke eines Interesses gegeneinander abwägen kann. Dabei werden Parallelen zu den Überlegungen einiger Utilitaristen sichtbar, die sich ebenfalls damit befassen, wie sich unterschiedliche Interessen oder Wünsche miteinander vergleichen lassen: Bereits Bentham hat mehrere Kriterien zur Bestimmung des individuellen Nutzens eingeführt, zu denen die Intensität, die Dauer, die Gewissheit, die zeitliche Nähe und die Folgenträchtigkeit des Nutzens zählen (Höffe 1992, S. 19). Mill ergänzt diese Kriterien um Überlegungen zur Wertigkeit des Nutzens, wobei er körperliche als niedere und geistige als höhere Freuden kennzeichnet (Höffe 1992, S. 23). Kurzum: die Interessentheorie von Nelson und Grelling lässt sich als Variante der Interpretation des Nutzens als Wunschbefriedigung (vgl. Abschnitt 4.1.2) auffassen. Bei der Definition der Lebenslage entwickelt Grelling aber die Vorstellung, dass jeder Mensch verschiedene Interessen habe, zwischen denen er abwägen muss und die er nur zu einem bestimmten Grad befriedigen kann. Das heißt, dass Grelling trotz der vorher behaupteten Vergleichbarkeit von Interessen diese als unterschiedliche Dimensionen setzt, die einen multidimensionalen (Bewertungs-)Raum aufspannen, in dem sich dann die Befriedigung der Inte___________ 256
Vgl. hierzu Scanlon (1975) und den Kommentar dazu von Sen (1980a, S. 363f).
244
5. Vergleich der Ansätze
ressen als Vektor darstellen lässt. Von der Rolle, die Interessen bei der Definition der Lebenslage spielen, sind sie also mit den Funktionen von Sen zu vergleichen: Grelling nennt die Dimensionen, die für eine Bewertung des Wohlergehens relevant sind, „Interessen“ und Sen nennt sie „Funktionen“. Leider gibt Grelling in dem vorliegenden Text keine Beispiele für Interessen, und auch die Aufzählung bei Nelson (1936, S. 17), dass es sinnliche, sittliche und ästhetische Interessen gebe, trägt nicht sehr zur Veranschaulichung des Begriffs bei. Erst die Gleichsetzung von Interessen mit Bedürfnissen, die sich bei Nelson (1924) findet, sagt etwas mehr darüber aus, was mit Interessen gemeint ist, obwohl das einzige Beispiel, das Nelson (1924, S. 26) anführt, das Interesse an Bildung und das Bedürfnis, an der Kultur teilzunehmen, ist. Die Gleichsetzung von Interessen und Bedürfnissen ist insofern von Bedeutung, als dass auch Sen seinen Ansatz zunächst als Interpretation des Begriffs „Bedürfnisse“ einführt: „I believe what is at issue is the interpretation of needs in the form of basic capabilities.“ (Sen 1980a, S. 368)
Später erläutert Sen näher, warum es ihm wichtig erscheint, Bedürfnisse neu zu interpretieren: „The strategic relevance of basic needs is not a controversial matter. What is open to debate and disputation is the foundation of this concern. Are basic needs important because and only because their fulfilment contributes to utility? If not, why are they important?“ (Sen 1987a, S. 25)
Hierbei verweist Sen auf die Bedeutung der Form, die den Bedürfnissen gegeben wird: Sind sie als Bedarf an Gütern zu interpretieren, als Ursache von Nutzen oder aber als intrinsisch wertvoll, wie er Funktionen sieht? Bei Grelling ist die Rolle der Interessen nicht ganz klar: Einerseits bewertet er eine Lebenslage nur anhand des Maßes an Befriedigung der Interessen, was als Nutzen interpretiert werden kann; andererseits stehen die verschiedenen Interessen zunächst nebeneinander und jedem von ihnen wird ein (intrinsischer) Wert beigemessen. Insofern lassen sich die Interessen bei Grelling auch interpretieren im Sinne von Sens Funktionen.
Interessen (Nelson/Grelling/Weisser) – Interessenvertretung („agency“ bei Sen) Nachdem die Parallele zwischen Interessen bei Nelson und Grelling und Funktionen bei Sen gezogen ist, stellt sich die Frage, ob der Begriff der Interessen im Lebenslage-Ansatz ebenso breit angelegt ist, wie der Begriff der Funktionen bei Sen. Funktionen sind bei Sen nicht nur geeignet, das Wohlergehen einer Person zu bewerten, sondern auch, um die „Freiheit zur Interessenvertretung“ (vgl. Abschnitt 4.2.4) einzuschätzen. Der Begriff der Interessenvertre-
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
245
tung lenkt bei Sen die Aufmerksamkeit auf die Handlungen des Individuums und die Verfolgung von Zielen jedweder Art durch das Individuum: „A person’s ,agency freedom‘ refers to what the person is free to do and achieve in pursuit of whatever goals or values he or she regards as important. ... Whereas wellbeing freedom is freedom to achieve something in particular, viz., well-being, the idea of agency freedom is more general, since it is not tied to any one type of aim.“ (Sen 1985b, S. 203)
Die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ist also beschränkt auf Funktionen, die das Wohlergehen eines Menschen umschreiben, während die Freiheit zur Interessenvertretung auch solche Funktionen257 erfasst, die sich auf die Verwirklichung anderer Ziele beziehen, bspw. das Erfüllen von Verpflichtungen, welche dem eigenen Wohlergehen zuwider laufen können, oder die Wahrnehmung von politischen Rechten, deren Beziehung zum persönlichen Wohlergehen nicht eindeutig ist. Der Bewertungsraum der Funktionen kann somit sowohl zur Bewertung des Wohlergehens wie auch zur Bewertung der Möglichkeiten zur Interessenvertretung dienen. Welche Interessen sind nun Gegenstand der Lebenslage bei Grelling (und Weisser)? Beziehen sie sich nur auf das Wohlergehen oder auch auf andere oder weitergehende Ziele? Da Nelson, Grelling und Weisser diese Frage so nicht gestellt haben, müssen anhand einiger Aussagen über Interessen und den Begriff „Lebenslage“ Schlussfolgerungen gezogen werden. Nelson (1936, S. 37) stellt in seiner Theorie des wahren Interesses den Bezug zum „Wohlstand“ her und fordert in diesem Zusammenhang, nur jene Interessen zu berücksichtigen, deren Befriedigung im wahren Interesse des einzelnen liege. In ähnlicher Weise bezieht Grelling (und auch Weisser) den Begriff „Lebenslage“ auf die Befriedigung der Interessen des jeweiligen Individuums. Doch diese Interessen sind nicht so divers, dass für ihre Bewertung kein einheitlicher Maßstab zur Verfügung steht, und daher lässt sich schlussfolgern, dass sie sich nicht auf Ziele jedweder Art beziehen, sondern auf ein einziges Ziel. Dieses Ziel ist ein möglichst großer objektiver Wert der Lebenslage, d. h. die Erreichbarkeit von möglichst großer „Zufriedenheit“. Daher lässt sich die Auffassung vertreten, dass die Interessen im Lebenslage-Ansatz sich tatsächlich auf das Wohlergehen und nicht auf die Interessenvertretung im weiteren Sinne beziehen. Zugleich ist aber zu bemerken, dass Sen mit seinem Begriff der Interessenvertretung die aktive Rolle des Menschen noch mehr als mit dem Konzept der Verwirklichungsmöglichkeiten betont (vgl. Abschnitt 4.2.4). Darin liegt eine Ähnlichkeit zu Nelsons „wahrem Interesse“, das nur durch Selbsttätigkeit befriedigt werden kann (vgl. Abschnitt 3.2.1). ___________ 257
onen.
Sen (1987b, S. 59) beschreibt auch Interessenvertretung als Erreichen von Funkti-
246
5. Vergleich der Ansätze
Unmittelbare Interessen (Nelson/Weisser) – intrinsischer Wert (Sen) Während Grelling einfach von „Interessen“ spricht, spezifiziert Weisser die Interessen, die für die Lebenslage relevant sind, als unmittelbare im Gegensatz zu mittelbaren Interessen. Er stellt so explizit die Verbindung zur Interessentheorie Nelsons (vgl. Abschnitt 3.2.1) her. Weisser definiert unmittelbare und mittelbare Interessen im Zusammenhang mit der Kennzeichnung wirtschaftlicher als mittelbarer Interessen: „Wie steht es nun mit dem Inhalt der wirtschaftlichen Interessen? Sie haben eine mit einem Begehren verbundene Schätzung der angegebenen Gegenstände, Verrichtungen und Rechte in der Eigenschaft als Mittel der Befriedigung von sogenannten Bedürfnissen, d. h. unmittelbarer Interessen, zum Inhalt. Die wirtschaftlichen Interessen sind also mittelbare Interessen. Mittelbare Interessen haben ihrem Begriff zufolge keinen selbständigen Inhalt; ihr Inhalt, ihre Stärke und ihre Dringlichkeit bestimmen sich nach den zugrunde liegenden unmittelbaren Interessen.“ (Weisser 1953, S. 552)
Unmittelbare Interessen sind also Bedürfnisse. Weisser unterscheidet später in Anlehnung an Nelson sinnliche, sittliche und ästhetische unmittelbare Interessen (s. o.). Sie beziehen ihre Stärke und Dringlichkeit aus sich selbst. Mittelbare Interessen hingegen beziehen ihre Stärke und Dringlichkeit – ihren Wert – aus jenen unmittelbaren Interessen, die mit ihrer Hilfe befriedigt werden können. Eine ähnliche Unterscheidung führt Sen im Hinblick auf Freiheit ein: Freiheit habe zum einen einen instrumentellen Wert und zum anderen einen intrinsischen Wert: „>T@he intrinsic importance of freedom of choice has to be contrasted with ist instrumental relevance ... While the instrumental role of freedom as a means to other ends is undeniable, that derivative function does not exhaust the importance of freedom. It can be seen as having foundational importance as well, even though this intrinsic value has often been neglected in the standard literature ...“ (Sen 1988, S. 293)
Später überträgt Sen (1991) diese Unterscheidung auf jegliche Bewertungsgrundlage von Wohlfahrts- und Gerechtigkeitstheorien: „In each evaluative structure, some types of factual matters are taken to be important in themselves, others not so. The former variables ... reflect the basic ends in that specific evaluative system ... The importance of these variables is intrinsic rather than derivative. ... There can, obviously, be indirect effects through causal connections, and a variable can be instrumentally influential through its role in the determination of the intrinsically valuable variables.“ (Sen 1991, S. 16f)
Welcher Variable ein intrinsischer Wert zugesprochen wird, hängt also von der Theorie ab, der man anhängt. Zugleich besteht die Möglichkeit, dass eine Variable sowohl einen intrinsischen Wert als auch einen instrumentellen Wert hat.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
247
Der entscheidende Unterschied zwischen Weissers Einteilung in mittelbare und unmittelbare Interessen und Sens Einteilung in Variablen mit instrumentellem oder intrinsischem Wert ist demnach, dass die Einteilung Sens auf die Dimensionen verschiedener Bewertungsräume übertragbar ist, während Weissers Einteilung sich ausschließlich auf die Dimensionen seines Bewertungsraumes – die Interessen – bezieht.
Unmittelbare Interessen (Nelson/Weisser) – universelle Werte (Nussbaum) Die unmittelbaren Interessen, die für die Bewertung der Lebenslage relevant sind, bezeichnet Weisser schließlich als „Grundanliegen“: „Mit unmittelbaren ‚Interessen‘ sind bei Nelson auch die nichtabgeleiteten, sondern als unmittelbar gültig anerkannten Pflichten und kulturellen Aufgaben gemeint. Da es nicht sprachüblich ist, bei dem Inhalt solcher Aufgaben von ‚Interessen‘ zu sprechen bedient sich der Verfasser des Ausdrucks ‚Grundpostulate‘, die zusammen mit den ‚Grunddesideraten‘ von ihm kurz ‚Grundanliegen‘ genannt werden.“ (Weisser 1953, S. 564)
Die Kategorie der Grundanliegen ist mithin bei Weisser definiert durch das Kriterium der Unmittelbarkeit oder Voraussetzungslosigkeit (vgl. Abschnitt 3.3.3), welches besagt, dass das betreffende Interesse selbst der letzte Grund für Handlungen ist und keine anderen Gründe vorausgesetzt werden. Aus dem obigen Zitat ist herauszulesen, dass Weissers Lehrer Nelson die unmittelbaren Interessen als universelle Werte konzipiert hat, d. h. als Werte, die über raumzeitliche Grenzen hinweg gültig sind wie bei Nussbaum. Bei Nussbaum bestehen die universellen Werte hingegen nicht in letzten Gründen für Handlungen, sondern in jenen Eigenschaften, die sie als genuin menschlich ansieht, weil sie zum Bild des Menschen über kulturelle Grenzen hinweg gehören. Festzuhalten ist daher, dass Nelson zwar unmittelbare Interessen als universelle Werte angesehen hat, dass er den Inhalt dieser Werte aber ganz anders herleitet als Nussbaum. Wie in Abschnitt 3.3.3 ausgeführt, hat sich Weisser jedoch gerade mit Nelsons Postulat der universellen Gültigkeit der unmittelbaren Interessen kritisch auseinandergesetzt. M. E. ist die Haltung Weissers nicht eindeutig: Man kann ihn so verstehen, dass er die unmittelbaren Interessen – die Grundanliegen – nicht als allgemeingültig betrachtet und somit nicht als universelle Werte sieht. Dann fragt sich aber, auf welcher Grundlage er von Gerechtigkeit sprechen kann, wenn er fordert: „Die Gesellschaftsmitglieder sollen in die Lage versetzt werden, unter eigener Verantwortung für ihr Leben das Optimum an Qualität gemäß den von ihnen vertretenen Grundwerten zu erreichen, wobei es sozialpolitisch auf die Gerechtigkeit bei dieser Chance, das Leben in eigener Verantwortung zu verbessern, ankommen solle.“ (Weisser 1974a, S. 152)
248
5. Vergleich der Ansätze
Eine andere mögliche Interpretation von Weissers Ausführungen besteht darin, das Kriterium der Unmittelbarkeit als ein Kriterium zur Ermittlung von Präferenzen über die Interessen anzusehen (s. u.). Interessen wären mithin universell gültige Werte, die aber jede Person anders gewichtet. Grundanliegen sind dann die von einer Person präferierten Interessen. Auf diese Weise ist die Behauptung universeller Werte vereinbar mit Weissers (1957c, S. 142). Überzeugung, „daß die Menschen in dem, was sie unmittelbar begehren, also in ihren unmittelbaren Interessen, nicht übereinstimmen.“ Die Grundanliegen Weissers sind somit in keinem Falle als universelle Werte im Sinne Nussbaums zu verstehen.
Grundanliegen (Weisser) – Präferenzen (Sen) Wie bereits angesprochen, lassen sich Grundanliegen bei Weisser als Ausdruck von Präferenzen interpretieren. Gestützt wird diese Beobachtung auch durch die synonyme Verwendung der Begriffe „Präferenzen“ und „Grundanliegen“ in den Texten des Weisser-Schülers Schulz-Nieswandt (z. B. 1990, S. 276). Zudem lässt sich eine Parallele zwischen der Rolle, die Weisser den Grundanliegen und Sen den Präferenzen zuspricht, ziehen (vgl. Abschnitt 5.2.1). Zunächst sind die unmittelbaren Interessen die Bewertungsgrundlage von Weissers Wohlfahrtstheorie. Ihnen misst er einen intrinsischen Wert bei, betont aber, dass unmittelbare Interessen zugleich mittelbar sein können, d. h. dass ihnen sowohl ein intrinsischer als auch ein instrumenteller Wert innewohnen kann. In der Definition der Lebenslage bezieht Weisser dann jedoch die unmittelbaren Interessen auf den einzelnen Menschen. Für die Lebenslage sind diejenigen Grundanliegen relevant, „die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten“ (Weisser 1972a, S. 275). Es sind also jene Grundanliegen, die von dem jeweiligen Individuum ausgewählt oder auch präferiert werden. Präferenzen werden in der Volkswirtschaftslehre zunächst verstanden als Ordnung mehrerer Möglichkeiten. Hat die Präferenzordnung gewisse Eigenschaften (nämlich Reflexivität, Vollständigkeit, Transitivität, Monotonie und Stetigkeit), so kann sie durch eine Nutzenfunktion repräsentiert werden.258 Bei den „Möglichkeiten“, die geordnet werden, kann es sich um Güter, Güterbündel (in der Mikroökonomie), aber auch um soziale Situationen (in der Social Choice Theorie) handeln. In vielen Schriften259 hat sich Sen mit den Annahmen ___________ 258
Vgl. hierzu die übliche Darstellung der Mikroökonomie, bspw. in Varian (1993, Abschnitt 3). 259 Vgl. seine Sammlung von Arbeiten in dem Band „Choice, Welfare, and Measurement“, Sen (1982b).
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
249
an die Präferenzordnung, insbesondere mit der Annahme der Vollständigkeit und der Transitivität, kritisch auseinandergesetzt, aber auch mit der Bedeutung, die den Präferenzen in der Volkswirtschaftslehre zugesprochen wird: „In economic analysis individual preferences seem to enter in two different roles: preferences come in as determinants of behaviour and they also come in as the basis of welfare judgements.“ (Sen 1973, S. 66)
Die Doppelrolle, die Sen hier für den Begriff „Präferenzen“ konstatiert, entspricht genau jener Doppelrolle, die auch Weisser seinem Begriff „Grundanliegen“ zukommen lässt, nämlich als Ausdruck von Wahlentscheidungen einerseits und als Dimensionen seines Bewertungsraumes andererseits. Die Mehrdeutigkeit der Verwendung des Begriffes „Präferenzen“ in der Volkswirtschaftslehre enthält jedoch auch Chancen. Nach Sen (1991, S. 19) werden Präferenzen in der Volkswirtschaftslehre fast immer als Ausdruck einer Wahlentscheidung verstanden. Insofern erscheint es möglich, Präferenzen als Wahl bezüglich der Dimensionen verschiedener Bewertungsräume zu definieren, neben Gütern und Güterbündeln auch als Wahlentscheidungen bezüglich Sens Funktionen (oder Weissers Grundanliegen). Den als relevant erachteten Dimensionen des Bewertungsraumes entsprechend lassen sich verschiedene Konzepte voneinander abgrenzen: Erreichte Funktionen sind nach Sen (1987a, S. 28) relevant, um den Lebensstandard einer Person zu beurteilen, erreichbare Funktionen, also Verwirklichungsmöglichkeiten, sind relevant, um das Wohlergehen zu bewerten, und anderweitige Funktionen sind für die Beurteilung der Freiheit zur Interessenvertretung relevant. Dabei wird unterstellt, dass sich Präferenzen bezogen auf die verschiedenen Dimensionen des Bewertungsraumes definieren lassen. „Grundanliegen“ sind hingegen selbst die Dimensionen des Bewertungsraumes und die Präferenzordnung über diese Dimensionen. Zudem ist es möglich und auch üblich, zwischen individuellen und sozialen Präferenzen zu unterscheiden. Die Social Choice Theorie beschäftigt sich ja gerade mit dem Zusammenhang von individuellen und sozialen Präferenzen und fragt danach, ob eine soziale Präferenzordnung aus individuellen Präferenzen abgeleitet werden kann. Eine solche Unterscheidung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Grundanliegen nimmt Weisser nicht vor, sondern geht von individuellen Grundanliegen aus, die zudem von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein können und sich im Laufe der Zeit verändern können (vgl. Abschnitt 3.3.2), so dass eine gesellschaftliche Betrachtung so gut wie unmöglich erscheint.
Grundanliegen (Weisser) – Metapräferenzen (Sen) Selbst wenn die Mehrdeutigkeit der Verwendung des Begriffs „Präferenzen“ in der Volkswirtschaftslehre die Möglichkeit eröffnet, den Begriff auf ver-
250
5. Vergleich der Ansätze
schiedene Bewertungsgrundlagen zu beziehen, so wird doch jeweils nur eine Präferenzordnung unterstellt. Konflikte zwischen verschiedenen Präferenzen, z. B. zwischen Präferenzen bezüglich Güterbündeln einerseits und sozialen Situationen andererseits, werden auf diese Weise schlicht nicht zugelassen. Sen kritisiert dies: „A person is given one preference ordering, and as and when the need arises this is supposed to reflect his interests, represent his welfare, summarize his idea of what should be done, and describe his actual choices and behaviour. Can one preference ordering do all these things?“ (Sen 1977b, S. 99)
Um die vielen Aufgaben der Präferenzen einerseits deutlich zu machen und andererseits analytisch voneinander zu trennen und so ihr Zusammenspiel analysieren zu können, schlägt Sen eine komplexere Struktur der Präferenzen vor. Sein Vorschlag besteht darin, einer Person nicht nur eine, sondern mehrere Präferenzordnungen zuzusprechen. Speziell um ethische Überzeugungen auszudrücken, sei es sinnvoll, von Rangordnungen über Präferenzordnungen, kurz Metapräferenzen („meta-ranking“), auszugehen (Sen 1977b, S. 80ff). Insbesondere sei es dadurch möglich, die Beobachtung, dass Menschen ihren eigenen moralischen Ansprüchen nicht gerecht werden, nicht allein durch Willensschwäche zu erklären, sondern mehrere Präferenzordnungen hinsichtlich ihres ethischen Anspruchs zu ordnen, also Abstufungen in der ethischen Beurteilung von Verhalten zuzulassen (Sen 1974, S. 80). Metapräferenzen könnten auch dazu dienen, die Konflikte zu analysieren, die durch Süchte entstehen: „Given my current tastes, I am better off with heroin, but having heroin leads me to addiction, and I would have preferred not to have these tastes.“ (Sen 1977b, S. 101). Die Beobachtung, die Sen hier anspricht, hat auch Weisser gemacht. Er schildert einen Vater, der wegen seiner Alkoholsucht seinen eigenen Vorstellungen davon, wie ein guter Vater zu sein hat, nicht gerecht wird. Weisser (1957a, S. 7) trennt zwischen „Augenblicksneigungen“, in diesem Beispiel dem Wunsch nach Alkohol, und „Grundanliegen“, hier dem Interesse daran, ein guter Vater zu sein. Auf dieses Beispiel kommt er in allgemeinerer Form später zurück: Man müsse zwischen den jeweiligen tatsächlichen Interessen und denjenigen Interessen unterscheiden, „die Menschen bei ungehinderter, möglichst tiefer Selbstbesinnung haben würden“ (Weisser 1974b, S. 132). Daher müsse man bei Süchtigen nicht von den tatsächlichen Interessen ausgehen, sondern von jenen Interessen, „die sie haben würden, wenn sie von den Süchten befreit würden“ (Weisser 1974b, S. 132). Weisser löst das Problem also gerade in der Art, die Sen kritisiert: Er erkennt die Augenblicksneigungen bzw. die tatsächlichen Interessen nicht als relevant zur Beurteilung der Lebenslage eines Menschen an und blendet diese Informationen somit aus. Zudem erklärt er das Auseinanderfallen von tatsächlichen Interessen und Grundanliegen in seiner Definition der Lebenslage von 1972 durch Willensschwäche.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
251
Diese Argumentation bringt er bereits 1953, spricht dort jedoch von „Interessen minderen Ranges“ (Weisser 1953, S. 562), womit er der Vorstellung Sens von Metapräferenzen näher kommt. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Weissers Unterscheidung von „Grundanliegen“ und „tatsächlichen Interessen“ zu Sens Unterscheidung von Metapräferenzen und Präferenzen lässt sich daher feststellen. Die Ähnlichkeit ist jedoch begrenzt durch den ständigen Wechsel der Begriffe bei Weisser, der mit einem Wechsel der Struktur verbunden ist und Änderungen in der Einschätzung des Sachverhaltes widerspiegelt: Während er 1953 eine Rangordnung der Interessen andeutet, geht er 1957 dazu über, die „Augenblicksneigungen“ oder „tatsächlichen Interessen“ als irrelevant für die Bestimmung der Lebenslage anzusehen. Dies ist in Zusammenhang mit seiner nicht wirklich abgeschlossenen Auseinandersetzung mit der Interessentheorie Nelsons (vgl. Abschnitt 3.3.2) zu sehen, denn die Nichtanerkennung von „tatsächlichen Interessen“ lässt sich nur dann vertreten, wenn die „eigentlichen“ Interessen – die Grundanliegen – objektiv gegeben sind, also bspw. dem „wahren Interesse“ Nelsons entsprechen. Festzuhalten ist ferner, dass Sen mit seiner klaren Trennung zwischen Präferenzen und Bewertungsgrundlage die begriffliche Grundlage zur Analyse vieler Phänomene und zur Schaffung allgemeinerer Strukturen legt.
Lebenslage (Grelling/Weisser) – Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten (Sen) Wie oben ausgeführt, spielen „Interessen“ bei Grelling dieselbe Rolle, wie „Funktionen“ bei Sen. Demnach entspricht das, was Grelling „Lebenshaltung“ nennt, dann genau Sens (Vektor oder Bündel von) „achieved functionings“ und die „Lebenslage“ als „Gesamtheit der möglichen Lebenshaltungen“ bei Grelling ist wie die Menge der erreichbaren Bündel von Funktionen, also wie die „Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten“ bei Sen anzusehen. Insofern Weisser den Begriff „Lebenslage“ von Grelling übernommen hat, kann die Parallele auch für seinen Ansatz gezogen werden. Allerdings spricht Weisser nicht wie Grelling einfach von „Interessen“ sondern von „Grundanliegen“, die in seinem Ansatz zwar als Dimensionen des Bewertungsraums gelten können wie „Funktionen“ in Sens Ansatz, die aber auch die Präferenzen einer Person wiedergeben und deren Erfüllung durch die „tatsächliche Gestaltung des Lebens“ prinzipiell nicht gemessen werden soll, weil die Sozialpolitik nur den „Spielraum zur Erfüllung von Grundanliegen“ betrachten soll. Daher ist zu fragen, ob die Parallele zwischen der „Lebenslage“ bei Weisser und der „Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten“ bei Sen gezogen werden kann, wenn die
5. Vergleich der Ansätze
252
„Grundanliegen“ in Weissers Ansatz nicht den „Funktionen“ in Sens Ansatz entsprechen.
Objektiver Wert einer Lebenslage (Grelling) – elementweise Bewertung (Sen) Wenn man davon ausgeht, dass die „Interessen“ Grellings den „Funktionen“ Sens entsprechen, so heißt dies, dass beide dieselbe Bewertungsgrundlage verwenden. Grelling schlägt jedoch eine bestimmte Methode der Bewertung der Lebenslage vor, nämlich die Bewertung anhand des „objektiven Wertes“. Der „objektive Wert“ ist bestimmt „durch die maximale in ihr erreichbare objektive Zufriedenheit“ (Grelling 1921a, S. 2). „Objektiv“ ist diese Zufriedenheit insofern, als dass die Stärke der Interessen von einer „vollkommen gebildeten Person“ in einer bestimmten Situation gegeneinander abgewogen werden. Sozusagen unterstellt Grelling hiermit eine bestimmte Präferenzordnung, die sich als Nutzenfunktion in Abhängigkeit der befriedigten Interessen darstellen lässt, als allgemeingültig (objektiv). Sodann sucht Grelling nach dem Maximum dieser Nutzenfunktion für die möglichen Lebenshaltungen innerhalb einer Lebenslage und bewertet die gesamte Lebenslage mit diesem maximalen Wert der Nutzenfunktion. Dieses Vorgehen beschreibt Sen folgendermaßen: „It may be useful to begin with the tentative notion that the value of a set of functioning vectors – the person’s ,capability set‘ – is given by the value of the best element in that set: V ( S ) maxv( x) .“ (Sen 1985a, S. 61) xS
Sen (1985a, S. 61f) kritisiert an dieser Bewertungsmethode zunächst, dass die Menge nur anhand eines einzelnen Elementes bewertet wird und somit die Wahlfreiheit, die mit der Größe der Menge verbunden ist, nicht in die Bewertung einfließt. Es ist unerheblich für diese Form der Bewertung, ob die Menge neben dem besten Element noch andere enthält oder nicht. Zudem merkt Sen an, dass diese Art der Bewertung nur möglich ist, wenn die Elemente der Menge vollständig geordnet werden können, was er nicht unbedingt für gegeben hält.
Vergleich von Lebenslagesilhouetten (Neurath) – Dominanz (Sen) Sen plädiert für eine andere Bewertungsmethode, nämlich die Ermittlung von Dominanzrelationen. Dafür müsse zunächst festgelegt werden, welches die relevanten Dimensionen, also Funktionen sind. Bereits die Beschränkung auf wenige Funktionen bringe eine partielle Ordnung hervor, die nach und nach vollständiger gemacht werden könne, indem Aussagen zum Verhältnis der Funktionen untereinander getroffen werden, die jedoch nicht direkt die Form einer Gewichtung der Funktionen annehmen müsse:
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
253
„The problem of valuation is not, however, one of an all-or-nothing kind. Some judgements, with incomplete reach, follow immediately from the specification of a focal space. When some functionings are selected as significant, such a focal space is specified, and the relation of dominance itself leads to a ,partial ordering‘ over the alternative state of affairs. ... This partial ordering will be ,extended‘ by further specifying the possible weights. ... Given a ,range‘ of weights on which there is agreement, ... there will be a partial ordering based on the intersection of rankings. This partial ordering will get systematically extended as the range is made more and more narrow. Somewhere in the process of narrowing the range – possibly well before the weights are unique – the partial ordering will become complete.“ (Sen 1999a, S. 78)
Dieses Vorgehen in Bezug auf die erreichten Funktionen entspricht dem, was Neurath (z. B. 1937, S. 144ff) für sein Konzept der Lebenslage vorschlägt: zunächst sei es wichtig, ein „Lebenslagenkataster“, d. h. eine Beschreibung der individuellen Lebenslagen und ihrer Veränderungen zu erstellen, um darauf Vergleiche – im Sinne von Dominanzrelationen – aufbauen zu können. Die Theorie zu der von Sen beschriebenen „Vervollständigung“ der Ordnung war zu Neuraths Zeit noch nicht entwickelt.260 Als Bewertungsgrundlage kommt nach Sen (vgl. Abschnitt 4.2.3) neben den erreichten Funktionen auch die Menge der erreichbaren Funktionen – der Verwirklichungsmöglichkeiten – in Frage. Zur Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten führt Sen (1992a, S. 49ff) zweierlei aus: Erstens ist der Bewertungsraum derselbe wie bei den erreichten Funktionen, nämlich Funktionen, und zweitens ist diese Menge nicht beobachtbar und muss daher auf der Grundlage einiger Annahmen konstruiert werden. Die Methode der Herleitung partieller Ordnungen durch Dominanz diskutiert Sen nicht mit ausdrücklichem Bezug auf Verwirklichungsmöglichkeiten, sondern nur mit Bezug auf (erreichte) Funktionen.
Äußere Umstände (Weisser) – Budgetmenge und persönliche Technologien (Sen) Abgesehen von der Frage der Bewertung und der Bewertungsgrundlage stellt sich die Frage danach, was die Möglichkeitenmenge begrenzt. Bei Weisser sind es die „äußeren Umstände“, über die er leider nicht all zu viel aussagt (vgl. Abschnitt 3.3.2). Als ein Kriterium gibt Weisser an, dass es Umstände sind, auf die der einzelne keinen Einfluss hat. Aus seinen Schriften lässt sich ferner herauslesen, dass er mit den „äußeren“ unter anderem die „gesellschaftlichen Umstände“ meint, weshalb Nahnsen später diesen Begriff verwendet. ___________ 260
Das grundlegende Buch zur Theorie der stochastischen Dominanz „Inequalities: Theory of Majorization and Ist Applications“ von A. Marshall und I. Olkin ist (1979) erschienen.
254
5. Vergleich der Ansätze
Bei Sen ist die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten begrenzt durch die Budgetmenge einerseits und die Menge an persönlichen Technologien andererseits. Die Budgetmenge ist in der Mikroökonomie durch das Einkommen und die Preise bestimmt. Während das einzelne Individuum auf die Preise keinen Einfluss hat, ist das Einkommen zumindest mittelfristig durch die Arbeitszeitentscheidung beeinflussbar.261 Dennoch scheint die Budgetmenge etwas zu sein, was den „äußeren Umständen“ Weissers in der Frage der Beeinflussung durch das Individuum recht gut entspricht, zumal, wenn man die Rigiditäten auf dem Arbeitsmarkt in Betracht zieht. Allerdings spiegelt die Budgetmenge Marktverhältnisse wider, die allerhöchstens einen Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse ausmachen. Die „Menge an persönlichen Technologien“ („utilization functions“) beschreibt Sen (1985a) nur ein einziges Mal, wie er überhaupt seinen Ansatz nur dieses eine Mal seinen Ansatz formal darstellt. Später (z. B. 1992a, S. 40 und 47; 1999a, S. 75, Fn. 43) verweist er allerdings immer wieder auf diese Darstellung, so dass man sie als gültig erachten kann. Außerdem bringt er das Argument für die Einführung von persönlichen Technologien in späteren Beiträgen als Argument für die Betrachtung von Funktionen statt Gütern oder Reichtum vor: Je nachdem, welche Eigenschaften ein Individuum hat, kann es Güter verwenden; eine Person mit Stoffwechselproblemen262 braucht bspw. viel mehr Lebensmittel, um satt zu sein, als eine Person ohne diese Probleme; der Besitz eines Fahrrads263 macht nur denjenigen mobil, der zum einen nicht behindert ist und zum anderen Fahrrad fahren gelernt hat. Dieses Beispiel zeigt, dass auch die Menge an persönlichen Technologien vom Individuum beeinflussbar ist, weil sie auch Informationen über erlernte Fähigkeiten enthält. Daher kann die „Menge an persönlichen Technologien“ nicht als Äquivalent für die „äußeren Umstände“ bei Weisser angesehen werden: weder trifft das Kriterium zu, dass sie nicht beeinflussbar wäre, noch lassen sich persönliche Technologien als „äußere“ oder „gesellschaftliche“ Funktionen ansehen, beschreiben sie doch Eigenschaften des Individuums, also „innere Umstände“.
___________ 261
Vgl. hierzu die übliche Darstellung der Mikroökonomie, z. B. in Varian (1993, Abschnitt 2 und 9.8). 262 Dieses Beispiel führt Sen (1985a, S. 9, 1987a, S. 16, 1988, S. 278) und ähnlich auch Sen (1992a, S. 110) an. 263 Dieses Beispiel führt Sen (1985a, S. 10) an.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
255
Lebenslage (Weisser) – kombinierte Fähigkeiten (Nussbaum) Wie die „äußeren Umstände“ bei Weisser die Lebenslage, den „Spielraum zur Erfüllung von Grundanliegen“ begrenzen, so begrenzen „externe Bedingungen“ (external conditions) die Ausübung „interner Fähigkeiten“ und machen sie so zu „kombinierten Fähigkeiten“ bei Nussbaum. Die „äußeren Umstände“ bei Weisser zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht vom Individuum beeinflussbar sind; sie können als „gesellschaftliche Umstände“ interpretiert werden, wie Nahnsen dies tut, aber sie lassen sich, wie ich meine, auch weiter fassen als politische, wie auch geografische oder klimatische Umstände. Woran Nussbaum denkt, wenn sie von „externen Bedingungen“ spricht, wird anhand ihrer Beispiele (z. B. Nussbaum 2000, S. 85) deutlich: Sie denkt an gesellschaftliche Traditionen ebenso wie an die politische und wirtschaftliche Ordnung in einem Land. Wie bei Weisser sind diese Bedingungen nicht durch ein Individuum, wohl aber von der Gesellschaft zu beeinflussen. Es ist daher möglich, eine Parallele zwischen Weissers Begriff der „Lebenslage“ und Nussbaums Begriff der „kombinierten Fähigkeiten“ zu ziehen. Problematisch daran ist aber Nussbaums Festhalten an der Unvergleichbarkeit der Fähigkeiten, das dazu führt, dass die Fähigkeiten unabhängig voneinander betrachtet werden müssen. Ob dieses Vorgehen mit den Vorstellungen Weissers zu vereinbaren ist, kann mit Nahnsen und Andretta (1991, S. 82f) bezweifelt werden, die seinen Ansatz so verstehen, dass mehrere Dimensionen gleichzeitig betrachtet werden sollen. Außerdem kann Weissers „Lebenslage“ nicht gleichzeitig Nussbaums „kombinierten Fähigkeiten“ und Sens „Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten“ entsprechen, wenn zwischen diesen bedeutende Unterschiede gesehen werden, wie dies in dieser Arbeit geschieht.
Grundanliegen (Weisser) – persönliche Technologien (Sen) Sen macht mit der Einführung von Funktionen im allgemeinen und von persönlichen Technologien im besonderen auf die Unterschiede zwischen Menschen aufmerksam. Dies ist sein entscheidendes Argument, warum er sowohl die gängige Operationalisierung des Basic Needs Ansatzes in Form der Ermittlung der Verfügbarkeit bestimmter Gütermengen als auch den Rawlsschen Ansatz der Grundgüter ablehnt: Es reicht nicht aus, jedem Menschen gleiche Gütermengen zuzuweisen, sondern es geht um die – den Eigenschaften des jeweiligen Menschen angemessenen – Gütermengen (Sen 1992a, S. 109). Auch Weisser geht auf die Unterschiede zwischen den Menschen ein und fordert eine Verteilung von Gütern und Arbeit, die den Individuen angemessen ist:
256
5. Vergleich der Ansätze
„Wenn ein Industriearbeiter das beste Rundfunkgerät und nicht einen billigen Volksempfänger begehrt, so ist auch dies keineswegs nur Ausdruck eines sozialen Geltungsdranges. Das technisch Vollkommene in den Händen zu haben, ist diesen technisch empfindenden Menschen Bedürfnis, und zwar mehr als anderen sozialen Gruppen, die es vielleicht in den sie interessierenden kulturellen Bereichen zu einem höheren kulturellen Niveau bringen, was sich aber keineswegs von selbst versteht.“ (Weisser 1962, S. 35) „Wird z. B. ein Klaviervirtuose, um existieren zu können, zu harter manueller Arbeit genötigt, so kann ihn das in eine Lebenslage versetzen, die als unzumutbar angesehen wird.“ (Weisser 1957a, S. 4)
Letztendlich bürdet Weisser auch diese Bedeutung den Grundanliegen auf: Sie sind Ausdruck für die unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen. Der „technisch empfindende Mensch“ hat das Grundanliegen, das „technisch Vollkommene“ zu besitzen (wobei er auch ein mittelbares Interesse an der damit verbundenen Geltung haben mag); der Klaviervirtuose hat Grundanliegen, deren Erfüllung nicht mit „harter manueller Arbeit“ vereinbar ist. Hiermit vermengt Weisser individuelle Eigenschaften und individuelle Präferenzen und weist den Grundanliegen eine dritte Aufgabe zu: Sie sind Bewertungsgrundlage, Ausdruck der Präferenzen und Ausdruck der Unterschiedlichkeit der Menschen. Insofern ist es in Weissers Ansatz nicht möglich zwischen Präferenzen und Fähigkeiten zu trennen. Körperliche Eigenschaften der Menschen, wie bspw. Größe, Alter, Geschlecht und gesundheitliche Probleme, spricht Weisser (meines Wissens) nicht an. Festzuhalten ist daher, dass es in Weissers Lebenslage-Ansatz kein Äquivalent zu den persönlichen Technologien bei Sen gibt, auch wenn Weisser ähnliche Vorstellungen wie Sen zur Verteilung von Gütern, aber auch von Arbeit gemäß individueller Neigungen und Fähigkeiten formuliert. Zugleich ist zu fragen, ob die persönlichen Technologien bei Sen auch klimatische Bedingungen und unterschiedliche Arbeitsbelastungen und Anforderungen (z. B. durch Schwangerschaft und Stillen) umfassen. Diese Beispiele bringt er an vielen Stellen, ohne jedoch deutlich zu machen, in welcher Form er sie in seinem Ansatz berücksichtigt.
5.2.3 Zusammenfassender Vergleich von Struktur und Begrifflichkeit der Ansätze Der Vergleich von Begriffspaaren im vorigen Abschnitt hat einige Ähnlichkeiten gezeigt, aber auch etliche Unterschiede. Tabelle 6 fasst das Ergebnis dieses Vergleichs zusammen.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
257
Tabelle 6 Begriffe mit ähnlicher Bedeutung Lebenslage-Ansätze Lebensstimmung (Neurath) Lebenslage (Neurath) Vergleich von Lebenslagesilhouetten (Neurath)
Capability-Ansätze Nutzen (Sen) Bündel von Funktionen (Sen) Dominanz (Sen)
Interesse (Grelling)
Funktionen (Sen)
mittelbare und unmittelbare Interessen (Nelson, Weisser)
instrumenteller und intrinsischer Wert (Sen)
Grundanliegen (Weisser)
Präferenzen (Sen) Metapräferenzen (Sen) persönliche Technologie (Sen)
Äußere Umstände (Weisser)
Budgetmenge (Sen) „externe Bedingungen“ (Nussbaum)
Lebenslage (Grelling, Weisser)
Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten (Sen) oder kombinierte Fähigkeiten (Nussbaum)
objektiver Wert der Lebenslage (Grelling)
elementweise Bewertung (Sen)
Eigene Zusammenstellung. Stehen die Begriffe eng beieinander, ist die Ähnlichkeit groß, stehen sie weit auseinander, erreicht die Ähnlichkeit nur einen gewissen Grad
Um die Ergebnisse des Vergleichs in den beiden vorangegangenen Abschnitten zu ordnen, ist es sinnvoll, einen gemeinsamen Maßstab zu suchen. Dabei bietet sich Sens Ansatz insofern als Maßstab für den Vergleich der Ansätze an, als dass er zu jedem der Lebenslage-Ansätze Parallelen aufweist, wie der grobe Vergleich der Strukturen der Ansätze im vorletzten Abschnitt zeigt. In Anlehnung an die formale Struktur, die Sen seinem Ansatz gibt, lassen sich zwei Fragen voneinander unterscheiden: erstens die Frage nach der Definition des Bewertungsraumes und zweitens die Frage nach den Möglichkeiten des Vergleichs. Dabei kann der Vergleich auf zwei Ebenen stattfinden: auf der Ebene von Bündeln innerhalb des Bewertungsraums und auf der Ebene von Teilmengen, wobei der Vergleich von Teilmengen voraussetzt, dass sich die Elemente der Teilmengen – also die Bündel – vergleichen lassen. Die Fragen und Ebenen des Vergleichs lassen sich wie folgt zusammenfassen:
„Interessen“ Liste gemäß vollkommen gebildeter Person „Lebenshaltung“
Bestandteile der „Lebenslage“
keine feste Liste, unendliche Anzahl
„Lebenslage“
1. Bewertungsraum: Dimensionen
Anzahl an Dimensionen
„Lebenslage“ Vergleich durch vollkommen gebildete Person = „objektiver Wert“ Bewertung mit maximalem objektiven Wert
/
Dominanz, keine Gewichtung
/
2. b) Ordnung über Teilmengen
Eigene Zusammenstellung
2. Teilmenge
2. a) Ordnung über Bündel
Element: Bündel
Grelling
Lebenslage-Ansatz
Neurath
Vertreter
Ansatz
„capability-set“ Dominanz, Vollständigkeit als Fernziel Qualität und Quantität der Elemente wichtig
„Lebenslage“ /
„Spielraum“
„bundle of functionings“
/
Dimensionen sind unvergleichbar, komponentenweise Dominanz
/
„capabilities“
feste Liste mit zehn Dimensionen
unendliche Anzahl, keine feste Liste, beobachtbar
unendliche Anzahl, keine feste Liste, aber bekenntnismäßige Einführung “Erfüllung von Grundanliegen”
„central functional capabilities“
„functionings“
Nussbaum
Capability-Ansatz Sen
„Grundanliegen“
Weisser
Tabelle 7 Vergleich der Struktur der Ansätze
258 5. Vergleich der Ansätze
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
259
1. Definition des Bewertungsraumes Welches sind die geeigneten Dimensionen für die Beurteilung des Wohlergehens einer Person? Wie viele Dimensionen hat der Bewertungsraum maximal? Wie werden Dimensionen, Bündel und Teilmengen im Bewertungsraum benannt? 2. Möglichkeiten des Vergleichs a) Ordnungen über Bündel im Bewertungsraum Lassen sich die Dimensionen miteinander vergleichen? Wie kann man Bündel miteinander vergleichen? b) Ordnungen über Teilmengen im Bewertungsraum: Wie ist eine Menge im mehrdimensionalen Raum zu interpretieren? Wie lassen sich solche Mengen bewerten und miteinander vergleichen? Mit Hilfe des obigen Schemas lassen sich die Begriffe der einzelnen Ansätze in geordneter Weise einander gegenüberstellen und noch einmal die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen den Ansätzen herausarbeiten. In Tabelle 7 sind die Antworten auf die obigen Fragen zusammengefasst. Im Folgenden werden die Zusammenhänge etwas erläutert und zwischen den Ansätzen verglichen, um schließlich die Ansätze im Ergebnis kurz zu charakterisieren.
Bewertungsraum Die „Lebenslage“ in Neuraths Sinne und die „Funktionen“ von Sen haben, wie festgestellt, sehr viel gemeinsam: In beiden Fällen handelt es sich um eine Kategorie, mit der das Wohlergehen einer Person möglichst direkt zu beobachten sein soll und die anhand von Beispielen eingeführt wird. Wenn auch Neurath die „Lebenslage“ als das einführt, was die „Lebensstimmung“ – den Nutzen – bedingt, und somit die „Lebenslage“ bei ihm als Bewertungsgrundlage nur stellvertretend für die Lebensstimmung steht, während Sen behauptet, seine „Funktionen“ seien konstitutive Bestandteile des Wohlergehens und somit besser als „Nutzen“ geeignet, das Wohlergehen einer Person zu erfassen, teilen Neurath und Sen doch das Bestreben, eine Kategorie zu finden, die sich für interpersonelle Vergleiche des Wohlergehens eignet (s. u.). Im Umgang mit ihren Kategorien sind sie sehr pragmatisch: Beide gehen nicht von einer festen Liste aus, sondern führen Beispiele an und nennen als einen Grund, weshalb nicht immer dieselben Elemente der „Lebenslage“ bzw. dieselben „Funktionen“ bei Messung des Lebensstandards zugrunde gelegt werden können, die Datenverfügbarkeit. (Der wesentliche Grund für Sen ist freilich die Pluralität der Lebensentwürfe, s. u.).
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5. Vergleich der Ansätze
Anders gehen Grelling und Weisser, aber auch Nussbaum vor. Die Kategorie der „Interessen“ bei Grelling und der „Grundanliegen“ bei Weisser basiert auf der Interessentheorie Nelsons. Sie geben nicht direkt Beispiele an, um ihre Kategorien zu veranschaulichen, sondern lehnen sich an Nelsons Begriff der „Interessen“, die er auch als „Bedürfnisse“ bezeichnet, und seine Einteilung in „sinnliche, sittliche und ästhetische Interessen“ an. Die Relevanz der „Interessen“ scheint bei Grelling durch das Ideal der „vollkommen gebildeten Person“ gegeben zu sein, wodurch auch die Anzahl der „Interessen“ bestimmt sein dürfte. Ohne dass Grelling sein Modell formal beschrieben hat, benutzt er die Vorstellung eines multidimensionalen Raumes, der durch die verschiedenen Interessen aufgespannt wird. Die „Lebenshaltung“ ist als ein Bündel – oder Vektor – von bis zu einem gewissen Grad befriedigten Interessen zu verste hen, das aus einer Menge von Lebenshaltungen ausgewählt wird, der „Lebenslage“. Anders als Grelling, der etwas unbestimmt von „Interessen“ spricht, beschreibt Weisser genauer, was als „Grundanliegen“ zu gelten hat, nämlich „unmittelbare Interessen“. Das Kriterium der Unmittelbarkeit264 stellt einen Anhaltspunkt dar, wie die Dimensionen bei Ermittlung der „Lebenslage“ auszuwählen sind. Dennoch hält Weisser es nicht für möglich, eindeutig eine Liste mit „Grundanliegen“ herzuleiten, weil er meint, dass die „Grundanliegen“ von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind und sich auch im Laufe der Zeit wandeln. Weil er außerdem davon ausgeht, dass nicht jedermann sich seiner eigenen Grundanliegen bewusst ist, sieht er es als beste Möglichkeit bei der Erforschung der „Lebenslage“ an, dass der Forscher selbst „Grundanliegen“ „bekenntnismäßig“ einführt, sei es, weil der Forscher diese „Grundanliegen“ für seine eigenen oder für die der Mehrzahl von Menschen hält. So spielt bei Weisser der Forscher schließlich die Rolle der „vollkommen gebildeten Person“ von Nelson und Grelling. Auch wenn Nussbaum weder von „Interessen“ noch von „Bedürfnissen“ spricht, sondern in Anlehnung an Sen von „zentralen funktionalen Fähigkeiten“, birgt ihr Vorgehen einige Ähnlichkeit zu dem von Nelson, Grelling und Weisser. Sie benennt verschiedene Kriterien, welche die Elemente ihrer Liste zu erfüllen haben (vgl. Abschnitt 4.5.1). Das Ergebnis – ihre Liste – ist allerdings etwas konkreter als die Nelsons und seiner Schüler: Sie unterteilt nicht nur in drei Kategorien (sinnlich, sittlich und ästhetisch), sondern ordnet die verschiedenen Fähigkeiten und Zustände zehn Kategorien zu. Sie hält die Elemente ihrer Liste zwar nicht für „die wahren Interessen“ wie Nelson, aber sie leitet sie (erstens) durch Argumente der praktischen Vernunft her und ___________ 264
Dieses Kriterium ähnelt dem beharrlichen Nachfragen, warum man etwas getan habe, das Finnis – und mit ihm Alkire – vorschlägt, um zu einer Liste relevanter Dimensionen zu kommen. Siehe dazu Abschnitt 5.4.1.
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
261
behauptet ihre Allgemeingültigkeit. Obwohl sie die Möglichkeit einräumt, dass die Liste sich noch verändern könnte, weil sie die Elemente der Liste (zweitens) durch öffentliche Diskussionen hergeleitet wissen will, muss die Liste doch im Unterschied zu Weissers als „fest“ bezeichnet werden, denn sie soll für alle Menschen und alle Zeiten gültig sein, wie Nussbaum (drittens) durch empirische Beispiele zu belegen trachtet. Wie geschildert, hat es eine Auseinandersetzung zwischen Sen und Nussbaum bezüglich der Vollständigkeit der Liste gegeben. Sen lehnt diese ab, stört sich aber nicht daran, dass Nussbaum die Elemente der Liste „capabilities“ statt „functionings“ nennt. Im Umgang mit der Liste ist Weisser daher Sen viel näher als Nussbaum: Weisser hält die relevanten Dimensionen wie Sen nicht für feststehend und dies teilweise aus dem gleichen Grund wie Sen, nämlich der Vorstellung, dass verschiedene Lebensentwürfe nebeneinander existieren, denen eine Theorie Raum geben sollte durch eine pluralistische Ausrichtung. Dennoch sind die „Grundanliegen“ von Weisser nicht einfach mit den „Funktionen“ Sens gleichzusetzen: Sie sind nicht nur die Dimensionen des Bewertungsraumes, sondern entsprechen auch den Präferenzen sowie den individuellen Eigenschaften. Weissers „Grundanliegen“ haben somit viele Bedeutungen, die Sen von seiner Kategorie der „Funktionen“ begrifflich trennt, indem er von „Präferenzen über Funktionen“ und „individuellen Technologien“ spricht.
Ordnung von Bündeln Mit seinen „Lebenslagesilhouetten“ entwickelt Neurath ein eigenes Instrument zum Vergleich im multidimensionalen Fall: Die Dimensionen sind seines Erachtens unvergleichbar und ihre Anzahl übersteigt die Zahl der Dimensionen der üblichen räumlichen Darstellung, weshalb Neurath sie nebeneinander abträgt. Von einer „besseren Lebenslage“ zu sprechen ist folglich nur dann möglich, wenn eine Silhouette die andere in allen Dimensionen überragt (vorausgesetzt, dass bei allen Dimensionen ein höherer Wert auch eine Verbesserung bedeutet). In dieser Form schildert Neurath die Dominanz einer Lebenslage über eine andere. Weiter möchte er auch nicht gehen: Eine Gewichtung der einzelnen Dimensionen lehnt er ab, zumindest, solange es noch so wenig empirische Arbeiten zur Lebenslage gibt. Wiederum besteht eine große Ähnlichkeit zwischen Sen und Neurath: Auch Sen spricht sich für Dominanz als Methode für den Vergleich verschiedener „Bündel von Funktionen“ aus. Anders als Neurath schreckt er allerdings nicht davor zurück, die Dimensionen zu einem Vektor bzw. einem Bündel zusammenzufassen. Bei allen Problemen der Mess- und Vergleichbarkeit, die bei dieser Darstellung tatsächlich leichter vergessen werden können als bei Neuraths „Silhouetten“, hat die vektorielle Darstellung doch den Vorteil, einen
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5. Vergleich der Ansätze
multidimensionalen Raum aufzuspannen und somit auch die Betrachtung von Teilmengen in diesem Raum zu ermöglichen (s. u.). Was die Gewichtung der Dimensionen anbelangt, so wagt sich Sen auch in diesem Punkt weiter vor als Neurath: Sen ist optimistisch, dass man sich über Gewichte Schritt für Schritt werde einigen können und so der Vergleich der multidimensionalen Bündel immer vollständiger werde. Fragen der Mess- und Vergleichbarkeit beantwortet Grelling mit dem Rückgriff auf das Ideal einer „vollkommen gebildeten Person“. Sie könne verschiedenen „Lebenshaltungen“ – und dies sind multidimensionale Bündel von bis zu einem bestimmten Grade befriedigten Interessen – miteinander vergleichen und ihnen „objektive Werte“ zuordnen. Damit ist einerseits nicht wirklich geklärt, welche Eigenschaften eine „vollkommen gebildete Person“ auszeichnen und wie sie einen solchen „objektiven Wert“ ermittelt, andererseits wird deutlich, dass Grelling durchaus auf ein Modell hinaus will, dass sich auch empirisch umsetzen lässt, wenn er von der „Lebenshaltung in einer Periode“ spricht. Indirekt spricht Grelling den „ästhetischen Interessen“ einen größeren Wert zu, indem er die Bewertung einer Lebenshaltung durch eine „vollkommen gebildete Person“ als „objektiven Wert“ bezeichnet und bleibt insofern seinem Lehrer Nelson enger verbunden als Weisser. Grelling stellt die Möglichkeit, diesen „objektiven Wert“ zu ermitteln, nicht in Frage. Weisser entfernt sich stärker von Nelson als Grelling, indem er den „sinnlichen Interessen“ ein größeres Gewicht beimisst, auch wenn er die Gefahr sieht, dass sie in Form von „Augenblicksneigungen“ wichtigere „Grundanliegen“ überlagern. Zwar übernimmt Weisser (1951) zunächst den Begriff „Lebenshaltung“ von Grelling, aber er ersetzt ihn im Jahr darauf mit dem Ausdruck „tatsächliche Gestaltung des Lebens“. Für den Sozialpolitiker ist aber die „tatsächliche Gestaltung des Lebens“ nach Weisser nicht relevant, denn Aufgabe der Sozialpolitik ist es, die „Lebenslage“ als „Spielraum“ zu erweitern, nicht aber den einzelnen Menschen zu einer bestimmten „tatsächlichen Gestaltung des Lebens“ anzuhalten. Die Probleme der Mess- und der interpersonellen Vergleichbarkeit von Wohlergehen beschäftigen Weisser nicht im Detail, sondern es scheint fast, als sei für ihn das Streben nach Mess- und Vergleichbarkeit selbst der Fehler der Wohlfahrtsökonomie, wenn er an ihr kritisiert, sie abstrahiere von der „prinzipiellen Totalität der sozialen Interdependenzen“ (Weisser 1964, S. XV). Jedenfalls definiert Weisser keinen Begriff für die Elemente des Bewertungsraumes und schafft somit Multidimensionalität geradezu ab: Er meint, den „Spielraum zur Interessenbefriedigung“ ermessen zu können, ohne das Ausmaß der tatsächlich befriedigten Interessen zu kennzeichnen. Obwohl vordergründig Nussbaums These, die einzelnen Elemente ihrer Liste seien unvergleichbar und nicht gegeneinander abzuwägen, an Neuraths Standpunkt erinnert, sind es ganz andere Überlegungen als bei Neurath, welche
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
263
sie zu dieser These führen. Neurath sieht das Problem der Vergleichbarkeit zwar für die einzelnen Dimensionen als gelöst an, aber im Zusammenspiel der Dimensionen von neuem für gegeben. Für Nussbaum ist es hingegen eine normative Entscheidung, dass die Dimensionen nicht gegeneinander abgewogen werden dürfen. Darin kommt der Gedanke der Ganzheitlichkeit zum Tragen, den sie – anders als Weisser, der die Gesellschaft im Auge hat – auf das Individuum anwendet. Obwohl Nussbaum keine Dimension höher bewertet, hebt sie die Rolle zweier Fähigkeiten, nämlich der praktischen Vernunft (practical reason) und des Gemeinschaftsgefühls (affiliation), als „architektonische“ Fähigkeiten hervor. Ob und wie diese Sonderrolle bei der Schaffung einer Ordnung berücksichtig werden soll, darüber macht Nussbaum keine Angaben. Auch über die Messbarkeit von Fähigkeiten macht Nussbaum (meines Wissens) keine Aussage. Wie ich in den Abschnitten 5.3.2 und 5.5.4 ausführen werde, lässt sich Nussbaum ebenso wie Weisser dahingehend interpretieren, dass sie ein Maß in Bezug auf eine vollständige Erfüllung der internen Fähigkeiten bzw. der Grundanliegen definieren will.
Ordnung von Teilmengen im Bewertungsraum Weder Neurath noch Nussbaum sehen eine Möglichkeit, mehrdimensionale Bündel miteinander zu vergleichen. Dementsprechend machen sie erst recht keinen Vorschlag dazu, wie sich Teilmengen solcher Bündel ordnen lassen. In Grellings Konzept sind die „Interessen“, die bei ihm die Dimensionen darstellen, für alle Individuen dieselben, aber die Individuen können unterschiedliche „Lebenshaltungen“ annehmen, weil sie den Wert der einzelnen Interessen nicht ebenso einschätzen, wie die „vollkommen gebildete Person“, deren Einschätzung aber den „objektiven Wert“ einer „Lebenshaltung“ bestimmt. Es kann also passieren, dass ein Individuum aus der „Lebenslage“, welche als „Menge der möglichen Lebenshaltungen“ definiert ist, nicht das maximale Element, nämlich die Lebenshaltung mit dem maximalen objektiven Wert auswählt. Aus welchen Gründen auch immer ein Individuum eine Lebenshaltung mit minderem Wert gewählt hat, sei es aus schierem Unvermögen, sei es aus mangelnder Einsicht oder wegen einer anderen Weltsicht, als Wert seiner Lebenslage wird der maximal erreichbare objektive Wert der möglichen Lebenshaltungen angesehen. Grelling schlägt damit eine bestimmte Form der Mengenbewertung vor, die Sen „elementweise Bewertung“ nennt und kritisiert. Seines Erachtens muss in den Wert der Menge nicht nur die Qualität der einzelnen Element einfließen, sondern auch die Anzahl der Elemente selbst. Für derart komplexe Bewertungsmuster existieren bisher aber nur wenige Vorschläge, die meist nur Mengen ordnen können, bei denen die eine eine Teilmenge der anderen ist. Die
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5. Vergleich der Ansätze
Bewertung von Mengen mit völlig unterschiedlichen Elementen würde allerdings durch ein höheres Maß an Vergleichbarkeit der – multidimensionalen! – Elemente erleichtert. Auch wenn Weisser keine Ausführungen darüber macht, wie die Lebenslage eines Menschen gemessen werden soll und wie die Lebenslagen verschiedener Menschen miteinander verglichen werden können, deutet er doch mit dem Wort der Lebenslage als „Spielraum“ an, dass es nicht nur um die Qualität einzelner Element geht, sondern ebenso wie bei Sen um einen Entscheidungsspielraum, der erst dann gegeben ist, wenn man unter mehreren Elementen wählen kann. Damit unterscheidet sich Weisser deutlich von Grelling, der annimmt, man könne die Lebenshaltungen und die Lebenslagen eindeutig bewerten. Die Eindeutigkeit der Mengenbewertung bei Grelling ist teilweise auf das starke Ideal Nelsons von Bildung als dem einzig wahren Interesse des Menschen zurückzuführen, das in der Vorstellung der „vollkommen gebildeten Person“ auch bei Grelling seinen Ausdruck findet. Nelson (1924, S. 27) geht so weit, dass er jemandem, der die Chance zu einem menschenwürdigem Leben – d. h. bei ihm zum Streben nach Bildung – nicht nutzt, keine zweite Chance gewähren möchte. Im Unterschied dazu sieht Weisser die „tatsächliche Gestaltung des Lebens“ gewissermaßen als „Privatsache“ an, in die der Staat nicht einzugreifen habe. Aufgabe des Staates sei es vielmehr, für jedermann eine „Lebenslage“ sicherzustellen, welche die Erfüllung seiner Grundanliegen ermöglicht. Weissers Plädoyer für die Lebenslage als „Spielraum“ muss daher auch als ein Plädoyer für einen Pluralismus der Weltanschauungen gewertet werden.
Kurzcharakterisierung der Ansätze Neurath führt seine „Lebenslage“ anhand von Beispielen als Bewertungsgrundlage ein, die allerdings immer noch stellvertretend für die „Lebensstimmung“, d. h. den Nutzen gedacht ist. Neurath interessiert vor allem das Problem der Mess- und Vergleichbarkeit bei der Bewertungsgrundlage. Die Frage, welche Elemente der Lebenslage für die Messung des Lebensstandards relevant sind, beantwortet er eher pragmatisch mit dem Verweis auf die mangelnde Datenverfügbarkeit. Seine Überlegungen zur Mess- und Vergleichbarkeit münden darin, zunächst nur Dominanz als Kriterium für den Vergleich zuzulassen und sich zudem gegen die vektorielle Darstellung auszusprechen. Die „Lebenslage“ ist bei ihm eingebettet in eine umfassendere soziologische Theorie. Die Stärke von Grellings Ansatz besteht eindeutig in der klaren multidimensionalen Struktur, die er ihm gibt. Mit den „Interessen“ als Bewertungsgrundlage, (die er allerdings nicht näher definiert), der „Lebenshaltung“ als multidi-
5.2 Struktur und zentrale Begriffe im Vergleich
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mensionalem Bündel bis zu einem gewissen Grade befriedigter Interessen und der „Lebenslage“ als Menge der möglichen Lebenshaltungen und somit Menge im multidimensionalen Raum definiert er klar den Bewertungsraum seines Ansatzes und Ordnungen sowohl für die Ebene der „Lebenshaltungen“ wie für die „Lebenslagen“. Seine Orientierung auf eine empirische Überprüfung seines Ansatzes ist erkennbar, wenngleich das „Ideal der vollkommen gebildeten Person“ sich einer Nutzung für empirische Zwecke entzieht. Es ist als eine Schwäche von Weissers Ansatz zu sehen, dass er die Struktur von Grelling nicht beibehält, sondern sich zwar an dessen „Lebenslage“Begriff orientiert, aber die „Lebenshaltung“ als Privatsache deutet und daher aus seinem Ansatz verbannt. Eine starke Seite von Weissers Ansatz ist zweifelsohne in seiner ausführlichen Beschäftigung mit der Frage der „Grundanliegen“ zu sehen. Die führt ihn hin zu erkenntnistheoretischen Fragen nach der Gültigkeit von „Grundanliegen“ und nach ihrer Erkennbarkeit und somit weg von der Frage, wie sein Ansatz anzuwenden sei. Immerhin rät er dazu, der Forscher möge seine eigenen Grundanliegen „bekenntnismäßig“ einführen, wenn er die „Lebenslage“ ermitteln wolle. Um dies wirklich zu tun, wäre es jedoch zunächst wichtig, die verschiedenen Bedeutungen, die Weisser seinem Begriff der „Grundanliegen“ gibt, analytisch voneinander zu trennen. Eine sehr gute Formulierung ist Weisser mit der Kennzeichnung der Lebenslage als „Spielraum“ gelungen. Der Ansatz von Sen ist zum einen der wohl ehrgeizigste und zum anderen der umfassendste von den hier verglichenen Ansätzen. Er ist der ehrgeizigste, weil Sen sowohl die Kennzeichnung und Messung des Wohlergehens anstrebt als auch Freiheit in das Konzept von Wohlergehen integriert und modelliert. Er ist der umfassendste, weil er erstens (wie Grellings Ansatz) den Bewertungsraum mit allen Ebenen der Struktur definiert, weil zweitens (wie bei Neurath) die Probleme der Mess- und Vergleichbarkeit diskutiert werden und drittens die Dimensionen zwar nur mit Hilfe von Beispielen (wie bei Neurath) eingeführt werden, ihre Unbestimmtheit aber gleichzeitig (wie bei Weisser) mit dem Wunsch nach weltanschaulicher Offenheit, nach Pluralismus begründet wird. Obwohl es Sen gelingt, Messprobleme einerseits und philosophische Themen andererseits zu diskutieren und zu verbinden, bleibt doch eine Spannung bestehen zwischen einer empirischen Ausrichtung (vgl. Abschnitt 4.1.1) und dem Anspruch, einen theoretischen Rahmen für die Analyse des Wohlergehens und der Freiheit über weltanschauliche Grenzen hinweg zu schaffen. Als Schwächen seines Ansatzes sind zu nennen, dass er erstens nicht sauber zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten trennt, weder im Umgang mit den Begriffen noch im Verhältnis der Begriffe zueinander, dass er zweitens die Rolle der Zeit in seinem Ansatz nicht einmal andiskutiert, dass er drittens kein Vorgehen schildert, wie die relevanten Dimensionen zu ermitteln
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5. Vergleich der Ansätze
sind, und dass er viertens viele Fragen der Operationalisierung offen lässt (vgl. Abschnitte 5.3 bis 5.5). Eine Schwäche Sens ist als Stärke Nussbaums zu nennen: Sie konzentriert sich in ihrem Ansatz (wie Weisser) auf die Auswahl der Dimensionen und die Frage, welche Dimensionen relevant sind. Prinzipiell sieht sie die im Ergebnis entstandene Liste mit „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ (anders als Weisser) als eine feste, vollständige Liste an. Die große Schwäche ihres Ansatzes ist es, die Struktur nicht zu erkennen und damit einen wesentlichen Unterschied zwischen ihrem und Sens Ansatz zu verkennen. In ihrem Ansatz muss es nicht einmal einen multidimensionalen Raum geben, geschweige denn eine Menge im multidimensionalen Raum, weil sie sich aus ethischen Gründen gegen eine Abwägung der verschiedenen Dimensionen ausspricht. Den sich daraus ergebenden fundamentalen Unterschied zwischen ihrer Definition des Begriffs „capability“, der ins Deutsche treffend mit „Fähigkeit“ übersetzt werden kann, und Sens Definition von „Verwirklichungsmöglichkeiten“ sieht sie nicht.
5.3 Konzeption von Armut Die Ausführungen bei der Vorstellung der Ansätze (Abschnitt 3.1.4, 3.3.4 und 4.4) haben gezeigt, dass weder die Lebenslage-Ansätze noch der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten mit einer konkreten Konzeption von Armut aufwartet. Die Ansätze werden jedoch in diesem Zusammenhang diskutiert und enthalten zumindest einige Aussagen zu Armut, die sich einteilen lassen in solche, die allgemein nach der Natur von Armut fragen, und solche, die sich auf die Armutsmessung beziehen. Die Konzeption von Armut ist Gegenstand dieses Abschnitts, während die Anwendung der Ansätze auf Armutsmessung erst in Abschnitt 5.5 – nach der Erörterung von allgemeinen Problemen der Operationalisierung in Abschnitt 5.4 – erläutert wird. Zunächst zeichnet der Abschnitt die Diskussion über die Relativität des Armutsbegriffs nach und arbeitet die Standpunkte der Autoren der beiden Ansätze auch anhand der von ihnen vorgeschlagenen Armutsgrenzen heraus (Abschnitt 5.3.1). Der hierin bereits anklingende Dualismus wird in Abschnitt 5.3.2 genauer betrachtet. Entspricht der Unterscheidung absolut – relativ auch die Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv? Finden sich diese Gegensätze auch wieder im Unterschied zwischen der Betrachtung von Bündeln versus jener von Teilmengen im Bewertungsraum (Lebenshaltung – Lebenslage, Funktionen – Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten) oder aber im Vorschlag von zwei Armutsgrenzen bei Weisser und Nussbaum? Eine besondere Interpretation bietet sich in Bezug auf Grellings und Weissers sowie Nussbaums Ansatz an: Sie legen durch ihre Formulierungen nahe, Armut als Erfüllungslücke zu definieren (Abschnitt 5.3.3). Der Abschnitt 5.3.4 fasst zusammen, welchen Standpunkt die Ansätze in Bezug auf die angesprochenen Diskussionen einnehmen, welche
5.3 Konzeption von Armut
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Schwierigkeiten allen Ansätzen gemein sind und welche Fragen noch offen sind.
5.3.1 Absolute und relative Armut Die Diskussion darum, ob Armut absoluter oder relativer Natur sei, wird einerseits auf allgemeine Weise in den Lebenslage- und „Capability“-Ansätzen angesprochen, andererseits lässt sich insbesondere an der Art, wie die Armutsgrenzen definiert werden, die Position der Autoren ablesen.
Allgemeine Diskussion Die Haltung Neuraths im Spannungsfeld zwischen absoluter und relativer Auffassung von Armut ist nicht eindeutig: Einerseits wendet er sich im Zusammenhang mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ dagegen, „absolute“ Ausdrücke zu verwenden, und sieht das Problem der Armut vor allem vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Reichtums, andererseits ist er ein Anhänger von Popper-Lynkeus, der unter anderem daran glaubt, man könne die Menge aller lebensnotwendigen Dinge bestimmen. Leider greift er später seine Unterscheidung zwischen Lebenslage im engeren und Lebenslage im weiteren Sinne (Neurath 1917a) nicht wieder auf, die es erlaubt, zwischen dem Bedarf an Gütern und der erreichten Lebenslage zu unterscheiden. Interessant ist die Position Nelsons, der Armut und Reichtum immer in Relation zur Gesellschaft versteht und sie ausdrücklich als relative Begriffe bezeichnet, aber Wohlstand in Relation zu den Bedürfnissen der jeweiligen Person definiert: „Der Wohlstand wird gemessen nach dem Maße, in dem der Einzelne durch seinen Besitz seine Bedürfnisse befriedigen kann, also unabhängig von seinem Verhältnis zu anderen Personen.“ (Nelson 1924, S. 20)
Wie Nelson betont, betrifft Wohlstand nicht das absolute Maß des Besitzes, sondern das Maß der Bedürfnisbefriedigung. Man kann daher sagen, es gehe um die absolute Befriedigung von Bedürfnissen. Da Nelson an anderer Stelle Bedürfnisse und Interessen gleichsetzt, lässt sich folgern, dass er im Raum der Interessen Wohlstand absolut definiert, aber nicht im Güterraum. Dieses Verständnis von Wohlstand hat Weisser zunächst übernommen. Als eine absolute Form der Armut führt Weisser (1921a, S. 12) daher an, dass Arme nicht die Möglichkeit haben, „zwischen der Einschränkung der Ausgaben für Bedürfnisse höherer oder geringerer Dignität“ zu wählen, sondern gleich in ihrer „physischen Leistungsfähigkeit“ bedroht seien. Armut ist also verbunden mit einer Einschränkung der Ausgaben relativ zu anderen Gesell-
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5. Vergleich der Ansätze
schaftsmitgliedern und mit einer absoluten Einschränkung der Interessenbefriedigung vor allem von Interessen „höherer Dignität“. Später definiert Weisser Armut, bzw. „soziale Schwäche“ immer in Bezug auf die gesellschaftliche Meinung, zugleich betont er in einer Vorlesung (1964), er habe den Begriff der „sozialen Schwäche“ insofern nicht gern aufgenommen, als dass er den Eindruck erwecke, immer nur in Bezug auf einen sozialen Standard definiert zu sein, es gebe jedoch auch Veränderungen des Wohlergehens, welche die Betreffenden mit sich selbst auszumachen hätten. Hiermit bringt er die Frage der Verantwortung des Einzelnen für seine (Lebens-)Lage ins Spiel, die er schließlich als Kriterium für die Definition sozialer Schwäche einführt, die er dann gegeben sieht, wenn der Betreffende nicht aus eigener Initiative seine Lebenslage verbessern kann. Nun könnte man in Anlehnung an Nelson, der das wahre Interesse nicht nur inhaltlich bestimmt, sondern auch schreibt, es sei nur durch Selbsttätigkeit zu erlangen, die Entwicklung eigener Initiative selbst als Befriedigung eines Interesses höherer Dignität sehen. Dann wäre deutlich, dass nach wie vor ein „absoluter Kern“ in Weissers Auffassung von Armut steckt. Aber diese Argumentation fußt auf der Annahme einer Übereinstimmung Weissers mit Nelson in diesem Punkt. Die Aussagen Weissers sind zu begrenzt, um seine Position im Spannungsfeld zwischen absoluter und relativer Auffassung von Armut zu bestimmen. Sen (vgl. Abschnitt 4.4.1) hat seine Position in diesem Spannungsfeld eindeutig in der Auseinandersetzung mit Townsend festgelegt: Armut hat seines Erachtens einen „absoluten Kern“ und ist im Raum der Funktionen zu definieren. Die Güter, die zur Verwirklichung einer Funktion nötig sind, variieren aber von Gesellschaft zu Gesellschaft, so dass Armut im Güterraum oder in Bezug auf Einkommen und Ressourcen ein relativer Begriff sei. Sen konstruiert jedoch keinen Zusammenhang zwischen der Multidimensionalität eines Ansatzes und einer Neigung zur absoluten Auffassung. Aber er betont, dass Funktionen eine objektivere Größe seien als Nutzen, weil über die relevanten Funktionen eine größere Übereinstimmung erzielt werden könne als über die Bewertung mit Nutzen, und er fordert, absolute Minimalstandards festzulegen und alle, die mindestens einen dieser Standards nicht erreichen, zu den Armen zu zählen. Die Position Nussbaums (vgl. Abschnitt 4.4.2) steht insofern in Zusammenhang mit der Multidimensionalität des Ansatzes, als dass sie meint, die einzelnen Elemente ihrer Liste mit „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ seien unvergleichbar und somit nicht gegeneinander austauschbar. Was Nussbaum „grundlegende Fähigkeiten“ nennt, sind absolute Standards für die Elemente ihrer Liste. Gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass die Güter- oder Ressourcenanforderungen zur Erfüllung der „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ sich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden.
5.3 Konzeption von Armut
269
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in beiden Ansätzen Armut einerseits in Relation zur Gesellschaft gesehen wird, insbesondere was die Ressourcenanforderungen betrifft, und andererseits in Bezug auf die Bedürfnisse absolut verstanden wird, so dass die Ansätze eine absolute Armutsgrenze im Raum der Funktionen, der Lebenslage (Neurath) bzw. der Interessen (Nelson, Weisser) nahe legen.
Definition von Armutsgrenzen Trotz der mehr oder minder einheitlichen Vorstellung von absoluten Armutsgrenzen sehen sowohl Weisser und Nahnsen als auch Nussbaum die Notwendigkeit, verschiedene Grade von Armut zu unterscheiden. So lässt sich Weissers (1957a, S. 3) Definition von „sozialer Schwäche“ als Armutsgrenze verstehen: die Grenzlebenslage ist jene, die „von der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung als nicht zumutbar angesehen wird“. Zusätzlich definiert er eine Gruppe von „sozial Gefährdeten“, „deren Lebenslage durch bereits eingetretene oder vorausschaubare Ereignisse bedroht ist, unter das nach vorherrschender Meinung zumutbare Niveau abzusinken“. Hiermit nennt er ein Kriterium, woran der Beginn der Verarmung zu erkennen ist, nämlich „Ereignisse“. Um ein solches Kriterium umzusetzen, bedarf es einer genauen Analyse des Verarmungsprozesses und der Ereignisse, die zu Armut führen. Problematisch daran ist zudem, dass Weisser – vielleicht in Gedanken an Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt – neben den „eingetretenen“ auch „vorausschaubare Ereignisse“ als Indiz für „soziale Gefährdung“ heranziehen will. Das bringt ein Moment der Spekulation in seine Definition. Nahnsen definiert ihr „Grenzniveau der Lebenslage“ ganz ähnlich wie Weissers „soziale Gefährdung“. Ihr Kriterium ist wie bei Weisser an den Prozess gebunden. Sie spricht zwar nicht von Ereignissen, aber von dem Risiko einer Verschlechterung der „Ausgangslebenslage“ durch eine „alternative Lebensgestaltung“. Wenn dieses Risiko „überdurchschnittlich“ hoch sei, sei vom Grenzniveau der Lebenslage zu sprechen. Es ist dann zu vermuten, dass diejenigen, die sich unterhalb des „Grenzniveaus der Lebenslage“ befinden, bereits eine Verschlechterung ihrer Lebenslage erlebt haben und somit von Weisser als „sozial schwach“ bezeichnet werden würden. Obwohl der in diesen Definitionen angesprochene Aspekt, wie sich eine Lebenslage durch bestimmte Entscheidungen oder Ereignisse verändert, sehr interessant ist und verdient, weiterentwickelt zu werden (wie dies bspw. Voges 2002 tut), so ist doch festzuhalten, dass diese Definitionen mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten: Was versteht Weisser in diesem Zusammenhang unter „Lebenslage“ bzw. Nahnsen unter „Ausgangslebenslage“? Wie lässt sich das „zumutbare Niveau“ bei Weisser ermitteln? Hat Nahnsen überhaupt die
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5. Vergleich der Ansätze
Vorstellung eines solchen „zumutbaren Niveaus“, oder geht es ihr einzig um das Verhältnis von „Ausgangslebenslage“ zu schließlich erreichter Lebenslage? Ist es dieses Verhältnis, was als „Verschlechterungsrisiko“ aufgefasst werden kann? Wie lässt sich dann das „durchschnittliche Verschlechterungsrisiko“ ermitteln? Nussbaum geht anders vor bei ihrer Forderung nach zwei Armutsgrenzen: Sie fragt nicht nach dem Prozess, der zu einem Absinken des Lebensstandards unter eine Grenze führt, sondern nach dem Maß der Verwirklichung bestimmter Funktionen. Die beiden Armutsgrenzen definieren jeweils ein solches Maß: die untere das Maß, unterhalb dessen das Leben nicht als „menschlich“ bezeichnet werden kann, und die obere das Maß, unterhalb dessen das Leben eines Menschen nicht als menschenwürdig – „worthy of a human being“ (Nussbaum 2000, S. 73) – gelten kann. Wie und wo genau diese obere Grenze zu ziehen ist, darüber sagt Nussbaum nichts aus. Ihr ist es wichtiger zu betonen, dass jeder einzelne Mensch diese Grenze erreichen müsse, dass also die Betrachtung des Durchschnitts nicht ausreiche.
5.3.2 Dualismus in beiden Ansätzen Bereits die Definition mehrerer Armutsgrenzen bei Weisser, Nahnsen und Nussbaum spiegelt den Dualismus in beiden Ansätzen wider, liegt ihr doch die Vorstellung zu Grunde, es gäbe eine niedrige Armutsgrenze, die mehr oder minder leicht, eindeutig und übereinstimmend festgelegt werden könne, und eine höhere Armutsgrenze, die sich schwieriger bestimmen lasse, weil ihre Höhe von ethischen Vorstellungen, die stark variierten, abhängig sei. Die untere Armutsgrenze lässt sich verstehen als „objektive“ und „absolut festgesetzte“ Armutsgrenze, während die obere „relativ zu ethischen Vorstellungen“ und daher eher „subjektiv“ sei. In der Tat wird sowohl hinsichtlich des Ansatzes von Sen als auch bezüglich des Lebenslage-Ansatzes von Weisser diskutiert, ob der jeweilige Ansatz „subjektivistisch“ oder „objektivistisch“ sei. Teilweise lösen die Ansätze den Gegensatz durch die Einführung verschiedener Messebenen auf. Schließlich muss in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Vorstellung von Grelling und Weisser von einer „Erfüllung von Grundanliegen“ bzw. die Vorstellung Nussbaums von „internen Fähigkeiten“, die es zu verwirklichen gelte, eine ganz andere Perspektive eröffnen als die Ermittlung der Lebenslage nach Neurath und die Messung der erreichten Funktionen nach Sen.
5.3 Konzeption von Armut
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Subjektivistisch oder objektivistisch? Zu Beginn seiner Arbeit am Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten macht Sen (1985a, 1987a) deutlich, dass er eine Kategorie für Wohlergehen sucht, die „objektiver“ als Nutzen ist, aber dennoch den Eigenheiten der einzelnen Menschen besser gerecht wird – und somit „subjektiver“ ist – als die Verfügbarkeit von Ressourcen und Gütern. Seine Kategorie der Funktionen ist seines Erachtens „objektiv“ in dem Sinne, dass Funktionen beobachtbar sind und sich für interpersonelle Vergleich eignen. Jene Funktionen, die er „komplex“ nennt, wie die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, sind jedoch in hohem Maße abhängig von den Zielen und Wertvorstellungen des Individuums – seinen Präferenzen. Daher wurde diese Funktionen von Beitz (1986) als „relativistisch“ und von Sumner (1996) und Nussbaum (1988) als „subjektivistisch“ bezeichnet. Andretta (1991, S. 21) ordnet Weisser (und Nahnsen) einer „objektivistischen“ Position in der Sozialpolitik zu. Ihnen gehe es um die „empirisch zu beobachtenden Lebensbedingungen“ und ihrer objektiven Ausprägung. Eine „subjektivistische“ Position verträten hingegen jene, denen es hauptsächlich um die subjektive Bewertung einer Lebenslage gehe, wie dies z. B. bei der Verquickung von Lebenslage-Ansatz und Sozialindikatoren bzw. dem Begriff der Lebensqualität (s. S. 213) geschehe. Die Einordnung Andrettas ist sicher insofern richtig, als dass Weisser in eine objektivistische Richtung strebt und die Kategorie der Lebenslage als „objektiv messbar“ (Weisser 1957a, S. 10) beschreibt. In Treue zu Nahnsen kritisiert sie jedoch an Weissers Begriff der „Grundanliegen“, dass er sie an die Möglichkeit zu gründlicher Selbstbesinnung knüpft (Andretta 1991, S. 53). Stattdessen fragt sie mit Nahnsen „inwieweit die gegebene sozialgeschichtliche Situation Inhalt und Richtung der Grundanliegen“ bestimme (Andretta 1991, S. 81). Schwenk (1997, S. 46) urteilt darüber: „Die Operationalisierung Nahnsens baut ... darauf auf, den subjektiven Schwerpunkt zugunsten eines objektiven Schwerpunkts aufzugeben.“ Im Kern dreht sich die Diskussion bezüglich beider Ansätze darum, wie sie mit dem Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft umgehen. Sen ist sich der Möglichkeit „sozialer Konditionierung“ ebenso bewusst wie Weisser, der von „Manipulation und sei es durch gesellschaftliche Traditionen“ spricht. Mit dieser Erkenntnis verwischen aber die Grenzen zwischen „objektiv“ und „subjektiv“, die Bewertung der Funktionen bei Sen ist ebenso wie Weissers Grundanliegen immer ein Produkt aus individuellen Vorstellungen und dem, was Nahnsen „sozialgeschichtliche Situation“ nennt. Problematisch ist jedoch die Überfrachtung des Begriffs „Grundanliegen“ mit verschiedensten Bedeutungen bei Weisser (s. S. 247, 249 und 255). Sie bewirkt, dass selbst die Frage, was zu den Grundanliegen gehöre, scheinbar nur subjektiv zu beantworten sei.
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5. Vergleich der Ansätze
Armut als Unterschreiten eines Minimalstandards und Armut als Mangel an Möglichkeiten Bezüglich des Ansatzes von Sen wurde schon in Abschnitt 4.4.2 ausgeführt, dass er den Widerspruch zwischen subjektivistischer und objektivistischer Interpretation zum Teil dadurch auflöst, dass er zwischen Armut als Nichterreichen bestimmter Funktionen und Armut als Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten unterscheidet. Eine Messung anhand von Funktionen entspricht eher der absoluten Auffassung von Armut und interpretiert Funktionen als objektiv gegeben und beobachtbar, selbst wenn diese teilweise vom gesellschaftlichen Umfeld abhängig sind. Die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten entzieht sich jedoch der Beobachtung und muss nach Sen konstruiert werden. Hier stellt sich viel stärker die Frage danach, inwieweit die subjektive Wahrnehmung die Grenzen der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten bestimmt, welche Rolle die Präferenzen spielen und wie das alles zu messen ist. In ähnlicher Weise ist auch bei den Lebenslage-Ansätzen die Frage der Subjektivität an die Lebenslage im Sinne einer Auswahlmenge gebunden. Neurath lässt keinen Zweifel daran, dass er die Lebenslage (im Sinne konkreter Lebensumstände) als beobachtbar und in diesem Sinne „objektiv“ ansieht. Zwar sieht Weisser Lebenslage in seinem Sinne ebenfalls als „objektive“ Größe an, aber seine „Grundanliegen“ unterscheiden sich von Individuum zu Individuum, so dass der Bewertungsraum stark „subjektiv“ gefärbt ist. Zugleich ist er sich in hohem Maße darüber bewusst, dass die Lebenslage auch deshalb ungünstig sein kann, weil sie schon seit so langer Zeit besteht, dass sie von den Betroffenen als unveränderbar angesehen wird (Weisser 1972a, S. 278). Insbesondere im Zusammenhang mit Armut weist Weisser also darauf hin, dass der „Spielraum“, den ein Individuum hat, nur so groß ist, wie es ihn – subjektiv – wahrnimmt. Anders als bei Sens Ansatz betrachtet einzig Grelling mit seinem Lebenslage-Ansatz Bündel und Teilmengen im Bewertungsraum (ohne allerdings auf die Frage von Armut einzugehen). Neurath misst Armut als Unterschreiten einer Mindestlebenslage, während Weisser die tatsächliche Gestaltung des Lebens, also die konkreten Lebensumstände, die Neurath als Lebenslage und Grelling als Lebenshaltung bezeichnet, als irrelevant erachtet. Weissers Konzept ist entsprechend schlecht zu operationalisieren. Bevor seine Definition von „sozialer Schwäche“ umgesetzt werden kann, muss geklärt werden, ob er mit „unzureichender Lebenslage“ nicht doch eher eine „unzureichende Lebenshaltung“ meint, die dann vielleicht ihrerseits auf einen zu engen Spielraum, eine zu enge Lebenslage zurückzuführen ist.
5.3 Konzeption von Armut
273
5.3.3 Armut als „Erfüllungslücke“? Die Formulierungen von Grelling und Weisser bieten allerdings noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit an: Beide sprechen von der „Befriedigung von Interessen“ bzw. der „Erfüllung von Grundanliegen“. Einer solchen Formulierung liegt implizit die Vorstellung zu Grunde, es gäbe eine vollkommene Befriedigung von Interessen bzw. eine vollständige Erfüllung von Grundanliegen, welche dann als Maßstab dient. Zwar schreibt Grelling, ein Mensch könne niemals alle seine Interessen befriedigen, er müsse vielmehr eine Auswahl treffen, die Frage ist aber, ob es nicht das Ziel sein sollte, die Interessen möglichst vollständig zu befriedigen. Grelling kann eine solche Zielvorstellung insofern nachgesagt werden, als er ja die Maximierung des „objektiven Wertes“ einer Lebenslage befürwortet. Da Weisser davon ausgeht, dass ein Mensch sich nicht immer seiner eigenen Grundanliegen bewusst ist, kann die vollkommene Erfüllung der Grundanliegen nur ein Fernziel sein. Aber zumindest hat er die Vorstellung, dass es das erste Ziel sein sollte, sich seiner Grundanliegen bewusst zu werden, und sie im zweiten Schritt auch zu erfüllen. Die Erfüllung der Grundanliegen wird nach Weisser durch „äußere Umstände“ begünstigt oder behindert. Insofern sie behindert werden, kann von eine Lücke in der Erfüllung (und des Bewusstseins) der Grundanliegen gesprochen werden. Nussbaum entwickelt mit ihrer Unterscheidung zwischen internen und kombinierten Fähigkeiten eine ähnliche Vorstellung. Interne Fähigkeiten sind die Fähigkeiten und Talente, die in einer Person latent vorhanden sind (vgl. Abschnitt 4.3.3). Zu ihrer Verwirklichung ist es jedoch nötig, dass bestimmte äußere Umstände gegeben sind. Die tatsächlich verwirklichten Fähigkeiten, also jene, deren Verwirklichung die (äußeren) Umstände begünstigt haben, nennt sie „kombinierte Fähigkeiten“. Auch ihre Formulierungen legen nahe, die Verwirklichung der „internen Fähigkeiten“ als Ziel zu verstehen. Zwischen den „kombinierten“ und den „internen“ Fähigkeiten tut sich dann eine Lücke auf. Die Ähnlichkeit zwischen Nussbaums und Weissers Vorstellung bezieht sich nicht nur darauf, dass sie implizit eine „Lücke“ definieren, sondern auch darauf, dass diese Lücke auf eine maximale Erfüllung von Grundanliegen bzw. internen Fähigkeiten bezogen ist, die von Individuum zu Individuum unterschiedlich ist. Um diese Vorstellung zu operationalisieren wäre es also nötig, für jedes Individuum ein solches Maximum – sein Potential – zu definieren, in Relation zu welchem der tatsächliche Erfüllungsgrad zu ermitteln wäre, um dann die Lücke zu bestimmen. Die Definition eines Maximums birgt jedoch viele Schwierigkeiten. Verschiedene Konzepte sind denkbar: Das individuelle Potential kann als Kombination der individuell maximal erreichbaren Werte in den Dimensionen defi-
274
5. Vergleich der Ansätze
niert werden oder als „maximal“ erreichbares Bündel, wobei zu klären ist, wie die verschiedenen Dimensionen bei der „Maximierung“ behandelt werden. Es ist jedoch fraglich, ob ein Maximum in den einzelnen Dimensionen überhaupt existiert. Die Existenz eines Maximums ist nicht vereinbar mit der grundsätzlichen Annahme der Monotonie in den einzelnen Dimensionen.265 Außerdem fragt sich vor allem in Bezug auf ein „maximales“ Bündel, ob das Maximum eindeutig ist oder gar mehrere Maxima existieren. Kritisch ist weiter zu fragen, ob überhaupt das Maximum vom Individuum und seinen „internen Fähigkeiten“ abhängt. Zwar erleben wir die „äußeren Umstände“ (s. S. 255) oft als einschränkend, aber Sen macht auf die effektive Freiheit (vgl. Abschnitt 4.2.4, Exkurs) aufmerksam, die wir nicht aufgrund eigener Fähigkeiten genießen, sondern aufgrund „äußerer Umstände“, nämlich der Politik des Landes, in welchem wir leben. Könnte es nicht sein, dass die „kombinierten Fähigkeiten“ manchmal größer als die „internen“ sind? Probleme ergeben sich auch bei dem Versuch, eine „Erfüllungslücke“ zu definieren. Soll sie je Dimension ermittelt werden oder zwischen dem erreichten und dem „maximalen“ Bündel? Soll die Lücke relativ zum individuellen „Maximum“ ermittelt werden oder in „absoluten“ Werten? Um schließlich Armut als Erfüllungslücke zu definieren, ist es nötig, eine Armutsgrenze festzulegen, bei deren Unterschreiten eine Person als arm gilt. Wiederum lässt sich eine Definition der Armutsgrenze für jede einzelne Dimension oder für Bündel denken. Wiederum kann sie relativ zum „Maximum“ oder in „absoluten“ Werten festgelegt werden. Hier stellt sich zudem die Frage, ob das Konzept einer Armutsgrenze, die für alle Individuen gilt, vereinbar ist mit der extrem auf das Individuum zugeschnittenen Idee von Armut als Erfüllungslücke. Die Operationalisierung erstens des „Maximums“, zweitens der „Lücke“ und drittens der Armutsgrenze wirft also etliche Probleme auf. Doch abgesehen von Schwierigkeiten bei der Operationalisierung wohnt dieser Vorstellung – wie Sen (1992a, S. 89ff) zeigt – eine Gleichheitsidee inne, die in der allgemeinen Diskussion um die Bedeutung von Gerechtigkeit eine große Rolle spielt (und die auf Aristoteles zurückgeht), nämlich die Vorstellung, dass jeder an seinen Möglichkeiten gemessen werden solle. Dies entspricht der absoluten Auffassung von Armut, insofern Armut nicht relativ zur Gesellschaft gemessen wird, sondern relativ zum eigenen Potential. Bei seiner Diskussion dieser Gleichheitsidee räumt Sen ein, dass im Falle von schweren Behinderungen die Forderung, Gleichheit im Grad der Erfüllung ___________ 265
Mit einem ähnlichen Problem setzt sich Baliamoune (2003) auseinander, wenn sie versucht, alle Dimensionen so zu skalieren, dass sie sich prozentual ausdrücken lassen. Zu diesem Zweck setzt sie bspw. eine Obergrenze der Lebenserwartung fest.
5.3 Konzeption von Armut
275
des individuellen Potentials und nicht in der Höhe der tatsächlich erreichten Funktionen anzustreben, verlockend ist. Er spricht sich dennoch für die zweite Variante aus. Für Behinderte sei es zwar nicht möglich, bestimmte Funktionen im selben Maße zu verwirklichen, wie für Nicht-Behinderte, aber da ihr Potential geringer sei als das eines Nicht-Behinderten, sei Gleichheit bezüglich des Erfüllungsgrades unbefriedigend, weil dies dem Rawlsschen Differenzenprinzip widerspräche. Behinderten sollte seines Erachtens das Recht eingeräumt werden, Funktionen so weit als möglich zu erreichen, also auch eine kleinere Erfüllungslücke zu ihrem ohnehin niedrigeren Potential gegenüber NichtBehinderten zu verwirklichen (Sen 1992a, S. 91).
5.3.4 Zusammenfassung Wie bereits bei der Vorstellung der einzelnen Ansätze deutlich wurde, werden sie zwar im Zusammenhang mit Armut diskutiert und sind durch die Beobachtung von Armut motiviert worden, aber sie legen keine detaillierte Konzeption von Armut vor, sondern bestenfalls Stückwerk. Dennoch lassen sich einige gemeinsame Grundlinien erkennen: Die Ansätze sympathisieren mit der absoluten Auffassung von Armut und treten mehr oder minder für die absolute Setzung von Armutsgrenzen ein. Neurath, Sen und Nussbaum tun dies explizit, mit Weissers Ansatz sind absolute Armutsgrenzen zumindest vereinbar. Zugleich konzipieren die Ansätze Armut auch als gesellschaftlich bedingt und enthalten damit eine zwiespältige Note. Dreh- und Angelpunkt dieses Zwiespalts ist die Vorstellung vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen, zu dessen Wohlergehen es nötig ist, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich somit auch an ihr zu messen. Die Ansätze versuchen in unterschiedlicher Weise, diese soziale Konditionierung des Menschen zu modellieren: Neurath noch recht mechanistisch, indem er die Lebenslage als Produkt von Lebensboden und Lebensordnung beschreibt; Weisser, indem er „Grundanliegen“ möglichst genau zu definieren sucht; Sen, indem er zwischen der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten und der Wahl eines Bündels an Funktionen daraus unterscheidet; und Weisser und Sen, indem sie den Pluralismus ihrer Ansätze betonen. Dennoch kann die Frage, was ein Mensch aus eigenem Anlass tut und was er auf Veranlassung von gesellschaftlichen Kräften tut, nicht als beantwortet gelten. Sie steht aber im Mittelpunkt der Debatte um die „richtige“ Definition von Armut und sie ist eng mit der Frage um die individuelle versus gesellschaftliche Verantwortung (siehe Politikrelevante Kriterien, S. 279) für Armut verknüpft. Ob dieser sehr grundlegenden – und nicht endgültig abgeschlossenen – Thematik sind viele konkrete Fragen zur Armutsmessung noch zu beantworten. So
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5. Vergleich der Ansätze
ist erstens zu klären, welche Rolle das Einkommen bei einer multidimensionalen Messung spielen soll: Ist es eine von vielen Dimensionen oder die wichtigste Dimension, neben der andere aber zu beachten sind, oder gar jene Dimension, auf welche die anderen Dimensionen mittels Äquivalenzskalen zurückzuführen sind? Zweitens stellt sich die Frage, welche Dimensionen für die Armutsmessung relevant sind und ob die Dimensionen für die Armutsmessung nur eine Teilmenge der insgesamt relevanten Dimensionen sind. Drittens ist unklar, welche Anforderungen ein Indikator erfüllen muss: Ist jeder Indikator als Dimension zu verstehen oder ist die inhaltliche Bündelung zulässig? Viertens ist der Umgang mit den Armutsgrenzen bei der Identifikation der Armen zu klären: Sind alle arm, die unter eine Armutsgrenze fallen oder nur diejenigen, die unter alle Armutsgrenzen fallen? Fünftens gilt es, zwischen einem multidimensionalen Bündel und der Menge im multidimensionalen Raum zu unterscheiden: Wann ist mit „Lebenslage“ das eine, wann das andere gemeint und wie ist das Verhältnis von Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten? Sechstens müssen Entwürfe für die Konstruktion der Menge von Verwirklichungsmöglichkeiten bzw. der Lebenslage im Sinne einer Auswahlmenge entwickelt werden: Welche Eigenschaften hat diese Menge und wie ist sie herzuleiten? Siebtens fehlt eine formale Definition von Armut, sei es als Mangel im Bereich der Funktionen bzw. Lebenslage im Neurathschen Sinne, sei es als Erfüllungslücke oder sei es als Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten bzw. Lebenslage im Weisserschen Sinne.
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung Bei der Vorstellung der Ansätze und ihrer Operationalisierung (Abschnitte 3.1.5, 3.3.5 und 4.5) ist deutlich geworden, dass sich die Ansätze diesbezüglich sehr unterscheiden. Neurath strebte eine Anwendung seines Ansatzes gerade auch für die Erfassung von Daten an, wurde aber weitestgehend ignoriert (Uebel 2004), so dass seine eigenen Arbeiten die einzigen Operationalisierungen des Ansatzes darstellen. Bei Weisser hingegen ist unklar, inwieweit er die Operationalisierung seines Ansatzes im Sinne einer Erfassung und Aggregation von Daten überhaupt befürwortet hat. Dennoch berufen sich die verschiedensten Studien auf seinen Ansatz. Die Studien zum Ansatz von Sen sind sowohl zahlreicher als auch differenzierter als jene zu den Lebenslage-Ansätzen, so dass ein Vergleich schwer fällt. Zugleich liegen die Parallelen auf der Hand: Wie Neurath strebt Sen eine Operationalisierung an und unternimmt sie teilweise auch selbst, und wie Weissers Ansatz ruft sein Ansatz ein vielfältiges Echo hervor. Wie die Fragen am Ende des letzten Abschnitts zeigen, sind die Ansätze bei der Operationalisierung trotz aller Unterschiede mit denselben Problemen konfrontiert. Allgemein muss für eine Anwendung multidimensionaler Ansätze
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
277
zunächst geklärt werden, welche Dimensionen relevant sind (Abschnitt 5.4.1). Verschiedene Kriterien zur Auswahl von Dimensionen können unterschieden werden. An den vorgeschlagenen Listen kann man dennoch nicht unbedingt erkennen, nach welchen Kriterien sie zusammengestellt wurden. Hierbei wird eine erstes Mal die Frage nach der Rolle des Einkommens gestellt, ob es nämlich als Dimension in den Ansätzen betrachtet wird. Wenn geklärt ist, welche Dimensionen relevant sind, ist die nächste Frage, mit welchen und wie vielen Indikatoren die Dimensionen erfasst werden sollen (Abschnitt 5.4.2). Hierbei wird ein zweites Mal die Frage nach der Rolle des Einkommens gestellt, ob es nämlich als Indikator dient, wenn es denn nicht als Dimension zu betrachten ist. Die hier betrachteten Ansätze sind nicht nur multidimensional, sondern sie entwickeln insbesondere die Vorstellung einer Auswahlmenge. Dies stellt ein besonderes Problem bei der Operationalisierung dar, welches aber bisher kaum diskutiert worden ist. Wie lässt sich eine Teilmenge im Bewertungsraum erfassen? Einige Ideen zur Beantwortung der Frage werden vorgestellt und eine weitere mögliche Rolle des Einkommens als Maßzahl zur Bestimmung der Größe dieser Menge erläutert. Abschnitt 5.4.4 fasst die aufgeworfenen Fragen und die Antworten – soweit vorhanden – noch einmal zusammen. Obwohl dieser Abschnitt bezug nimmt auf die Abschnitt 3.1.5 und 3.3.5 geht er nicht weiter auf die allgemeinen Überlegungen Neuraths und Weissers, die sich auf die erkenntnistheoretische Stellung von empirischen Untersuchungen beziehen, ein. Hier wird weniger nach dem Sinn als vielmehr nach den Möglichkeiten der Operationalisierung gefragt und die entsprechenden Positionen verglichen. Das soll aber nicht heißen, dass ein Vergleich der erkenntnistheoretischen Positionen Neuraths, Weissers und Sens sinnlos oder unfruchtbar wäre. Insbesondere die enge Verquickung zwischen ethischen und erkenntnistheoretischen Positionen bei allen dreien erscheint mir eine Untersuchung wert zu sein.266
5.4.1 Auswahl der Dimensionen Bevor die Ansätze angewandt werden können, muss der Bewertungsraum für die anstehende Untersuchung definiert werden, d. h. es müssen die in diesem Falle relevanten Dimensionen ausgewählt werden. Hierbei lassen sich Kriterien für die Auswahl in mehrere Gruppen gliedern. Neben den theoretischen Auswahlkriterien werden teilweise noch politikrelevante und empirische Kriterien herangezogen sowie die Bündelung von Dimensionen vorgeschlagen. ___________ 266 Ein Vergleich der Positionen Neuraths und Sens liegt bereits vor: Nemeth (1999, Kap. 2.7.).
278
5. Vergleich der Ansätze
Im Ergebnis liegen einige Listen vor, die im Anschluss an die Erläuterung der Kriterien verglichen werden. Schließlich stellt sich insbesondere beim Einkommen die Frage, ob es in diesen Ansätzen als Dimension betrachtet wird.
Theoretische Auswahlkriterien Als „theoretische Auswahlkriterien“ werden hier jene Kriterien bezeichnet, mittels derer die relevanten Dimensionen des Bewertungsraumes ausgewählt werden. Mit solchen theoretischen Auswahlkriterien ist meist die Vorstellung einer – wenn auch vorläufigen – vollständigen Liste der relevanten Dimensionen verbunden. Da Sen die Idee einer vollständigen Liste ablehnt, sind bei ihm keine theoretischen Auswahlkriterien zu finden. Weisser stellt ein solches Kriterium zur Verfügung, wenn er von „unmittelbaren“ im Gegensatz zu „mittelbaren“ Interessen spricht. Als „Grundanliegen“ sind nur die unmittelbaren Interessen (vgl. Abschnitt 3.3.2) zu verstehen, also jene Interessen, die ein Mensch letztendlich verfolgt. Während sein Lehrer Nelson noch meinte, einen allgemeingültigen Katalog solcher unmittelbaren Interessen herleiten zu können (vgl. Abschnitt 3.2.2), hält Weisser dies nicht für möglich, weil sich die Grundanliegen von Mensch zu Mensch unterschieden. In gewissem Sinne behält er die Vorstellung einer vollständigen Liste bei, aber eben nur auf das Individuum bezogen und nicht auf die Gesellschaft. Daher ist für ihn die einzige Chance des Forschers, zu einer einheitlichen Liste von Grundanliegen zu kommen, eine solche Liste „bekenntnismäßig“ einzuführen. Anders hingegen bei Alkire, die sich für Finnis’ Kriterium zur Ermittlung „wertvoller Funktionen“267 ausspricht (vgl. Abschnitt 4.5.1). Bei ihr (und Finnis) dient die Frage: „Warum tue ich, was ich tue bzw. warum tun andere, was sie tun?“ nicht nur der Ermittlung persönlicher „Grundanliegen“, sondern der Ermittlung von „all the basic purposes of human action“ (Finnis nach Alkire 2002, S. 47). Die Liste, die sie im Ergebnis vorlegen, ist folglich als einheitliche Liste für die gesamte Menschheit zu verstehen, auch wenn sie die Vorläufigkeit der Liste betonen. Alkire (2002, S. 52) sieht die Liste als vollständig an, betont aber zugleich, dass Unvollständigkeit ein grundlegendes Merkmal des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten sei (Alkire 2000, S. 10f). Sie bezieht also den Begriff der Unvollständigkeit (vgl. Abschnitt 4.5.1) auf die Unvollständigkeit der Ordnung und die Möglichkeit aus der (vollständigen) Liste, einige Elemente auszuwählen und sie somit unvollstän___________ 267
Alkire spricht von „valuable capabilities“, verwendet aber den Begriff „capabilities“ ähnlich wie Nussbaum. Daher erscheint mir die Übersetzung mit „wertvollen Funktionen“ angemessen.
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
279
dig zu machen. Die Ähnlichkeit zwischen Alkires und Weissers Kriterium, das jeweils nach dem Ziel fragt, das letztendlich verfolgt wird, ist dennoch bemerkenswert. Schließlich ist auch Nussbaums Ansatz hier zu nennen. Für sie gehört zu den „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ all das, was den Mensch zum Menschen macht und ihn von anderen Lebewesen unterscheidet (vgl. Abschnitt 4.3.3). Mit diesem Kriterium ist – wie übrigens auch bei Weissers Kriterium – kein einheitliches Vorgehen zur Ermittlung einer Liste verbunden, wie Alkire kritisiert. Nussbaum leitet ihre Liste auf dreierlei Weise ab, nämlich durch Argumente der praktischen Vernunft, durch öffentliche Diskussionen und durch empirische Beobachtungen (vgl. Abschnitt 4.5.1). Nussbaum und Alkire teilen folglich sowohl die Herleitung über Argumente der praktischen Vernunft als auch die Konzentration auf „das Wesen des Menschen“. Ihre beiden Ansätze unterscheiden sich zum einen jedoch darin, dass Alkire sich in der Herleitung auf die praktische Vernunft beschränkt, und zum anderen im Umgang mit der Liste und der Frage der Vollständigkeit. Nussbaum sieht ihre Liste als vollständig an und meint, dass alle Elemente der Liste unverzichtbar für ein menschliches Leben seien. Alkire sieht die Liste zwar als vollständig an, aber sie sieht nicht alle Elemente als notwendig für ein menschliches Leben, sondern nur für ein erfülltes menschliches Leben an (vgl. Abschnitt 5.3.3). Die Position Sens unterscheidet sich von Alkires Position insofern, als dass er im Namen der „konstitutiven Pluralität“ (s. Abschnitt 4.5.1) die Idee einer vollständigen Liste ablehnt.
Politikrelevante Kriterien Mit „politikrelevanten Kriterien“ sind solche gemeint, die danach fragen, welche Dimensionen politisch beeinflussbar sind. Da Weisser den Begriff „Lebenslage“ als zentralen Begriff der Sozialpolitik einführt, schwingt bei ihm das Kriterium des politischen Einflusses auf die Lebenslage von vornherein mit. Er verwendet es allerdings weniger, um die relevanten Dimensionen auszuwählen, als vielmehr um sich für die Betrachtung der Möglichkeitenmenge und nicht der genutzten Möglichkeiten auszusprechen. Die Sozialpolitik hat für eine Lebenslage zu sorgen, die den Menschen einen „Spielraum zur Erfüllung ihrer Grundanliegen“ bietet, und sich nicht um die „tatsächliche Gestaltung“ ihres Lebens durch die Individuen zu sorgen. In ähnlicher Weise argumentiert auch Nussbaum, wenn sie betont, die Elemente ihrer Liste seien als „kombinierte Fähigkeiten“ und nicht als erreichte Funktionen zu verstehen und daher als Zielvorstellung für die Politik relevant. In Bezug auf Sens Ansatz führt Desai (1990) ein politisches Kriterium zur Auswahl der Dimensionen ein. Als relevant seien jene Dimensionen zu erach-
280
5. Vergleich der Ansätze
ten, die eine Gesellschaft versuchen sollte, ihren Mitgliedern zu garantieren (vgl. Abschnitt 4.5.1). Dies kommt nicht von ungefähr, sondern bezieht sich auf Sens Überlegungen zu positiven Rechten bzw. Freiheiten.268 Darin entwickelt Sen die Vorstellung von „goal-rights systems“, d. h. von Rechtssystemen, die Rechte nicht definieren als den Anspruch einer Person gegenüber einer anderen, sondern als das Recht, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen und zu erreichen. Als Beispiel führt er die Möglichkeit an, Verwirklichungsmöglichkeiten als solche Rechte aufzufassen. Die Aufgabe des Staates wäre es entsprechend, diese Rechte, also die Verwirklichungsmöglichkeiten zu schützen. In diesem Sinne interpretiert er (Sen 1999a, S. 230f) den Begriff der Menschenrechte269. Sie seien grundsätzlich schützenswert, ohne dass ihr Schutz einer besonderen Instanz obliegt. Vielmehr sei der Schutz die Aufgabe aller (d. h. auch aber nicht nur des Staates), die helfen könnten.
Empirische Kriterien Unter der Bezeichnung „empirische Kriterien“ werden hier alle Kriterien zusammengefasst, die sich auf die Auswahl von Dimensionen für und mit Hilfe von empirischen Studien beziehen. Ein solches Kriterium stellt bspw. das Vorgehen dar, das Schwenk (1999) in Anlehnung an Hradil schildert (vgl. Abschnitt 3.3.5). Als relevante Dimensionen sollen nach diesem Vorschlag solche „Lebensziele“ angesehen werden, die sich als Produkt der politischen Willensbildung interpretieren und an Texten wie z. B. Erklärungen von Parteien ablesen lassen. Diese Lebensziele ordnet Schwenk bzw. Hradil drei Bereichen, nämlich dem „ökonomischen“, dem „wohlfahrtsstaatlichen“ und dem „sozialen“ Bereich, zu und sucht nach passenden Indikatoren in der von ihm verwendeten Datenquelle. Diese „Lebensziele“ unterscheiden sich insofern von Weissers „Grundanliegen“ als sie sich nicht einzelnen Individuen zuordnen lassen, sondern eine Art heraus gefilterten Konsens in der Gesellschaft darstellen. Dem geschilderten Vorgehen ist Weisser dennoch nicht ganz abgeneigt, hält er es doch für möglich, „trotz der Pluralität der Gesinnungspositionen aus gemeinsamen Grundanliegen, der Zeitanalyse und den geltenden empirischen Gesetzmäßigkeiten gewisse sehr allgemeine Leitregeln ab>zu@leiten“ (Weisser 1963a, S. 71). Diese könne der Forscher dann „bekenntnismäßig“ als Grundanliegen einführen. Damit versucht Weisser ein erkenntnistheoretisches Problem zu lösen, das dieser Ansatz ___________ 268
Vgl. Sen (1982c, 1984a) sowie Dasgupta (1986) und Helm (1986). Darauf beziehen sich Balestrino/Sciclone (2000, S. 7), wenn sie die ausgewählten Dimensionen als „minimale Ausstattung mit Menschenrechten, die allen Menschen garantiert werden sollten“ bezeichnen. 269
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
281
birgt: Schon die Identifikation von „Lebenszielen“ in Texten setzt ein Konzept davon voraus, was „Lebensziele“ sind und welche als relevant zu erachten sind. Als empirisches Kriterium können auch die forschungspragmatischen Gründe für die Auswahl von Dimensionen – und Indikatoren – aufgefasst werden, welche schon Neurath und später Sen und Alkire anführen: Grundsätzlich ist nach dem Untersuchungszweck zu fragen, der verfolgt wird, und wie dieser Zweck mit den vorhandenen Mitteln zu erreichen ist. Welch großen Einfluss diese Überlegungen auf die Forschung haben, mag daran abgelesen werden, dass bisher (meines Wissens) keine Primärstudien zum „Capability“-Ansatz durchgeführt wurden, sondern meist auf vorhandene – und daher billigere – Daten zurückgegriffen wurde. Die Auswahl der Indikatoren – und damit die Bedeutung von Dimensionen – ist dann wesentlich durch die in den benutzten Daten vorhandenen Merkmale bestimmt. Es kann aber auch sein, dass eine Untersuchung nur ein grobes Bild ermitteln will, wie das z. B. beim HDI und beim HPI der Fall ist, und sich daher auf wenige Indikatoren und wenige Dimensionen beschränkt. Außerdem kann auch die vermutete Unzuverlässigkeit bestimmter Indikatoren oder die Verzerrung durch sie den Ausschlag geben, auf sie zu verzichten, weshalb bspw. Gesundheit besser durch Daten zur Mortalität als zur Morbidität abgebildet wird (Sen 1998a).
Bündelung von Indikatoren zu Dimensionen Schokkaert und van Ootegem (1990) deuten die Forderung Basus nach Überschneidungsfreiheit als Kriterium zur Auswahl von Dimensionen. Dieses Kriterium sei erfüllt, wenn die Dimensionen unabhängig voneinander seien, wie dies bei den latenten Faktoren, die sie als Ergebnis ihrer Faktoranalyse ermitteln, der Fall sei (siehe Abschnitt 4.5.1). Sie benutzen somit die Technik der Faktoranalyse zur „Auswahl“ bzw. Bündelung von Dimensionen. Wie Lelli (2001) bemerkt, ist die Faktoranalyse vor allem eine Technik zur Datenreduktion, bei der die Ausprägungen mehrerer Variablen auf einen latenten, d. h. nicht beobachtbaren Faktor zurückgeführt werden. Mithin lässt sich mit dieser Technik zwar dem von Basu genannten Problem der Überschneidung von Dimensionen, nicht aber seiner Frage nach Vollständigkeit der zugrunde liegenden Liste von Dimensionen begegnen. Fraglich ist ferner, ob die Forderung nach Unabhängigkeit der Variablen bei multidimensionalen Ansätzen überhaupt sinnvoll ist. Wie in Abschnitt 2.5.5 erläutert, ist es natürlich sinnvoll, sich über die Korrelation der Dimensionen Gedanken zu machen, aber neben dem Fall der Unkorreliertheit betrachten Bourguignon und Chakravarty die Fälle einer steigenden bzw. sinkenden Korrelation zwischen den Variablen durch Umverteilung. Es ist dann nötig, Annahmen über das Verhältnis der Dimensionen zueinander, ihre Komplementarität bzw. Substituierbar-
5. Vergleich der Ansätze
282
keit zu machen, um die Auswirkungen der Veränderung der Korrelation auf das Wohlergehen interpretieren zu können.
Listen im Vergleich Wie die Erörterung der verschiedenen Kriterien deutlich macht, ist das Vorgehen bei der Auswahl der Dimensionen alles andere als einheitlich. Das muss aber nicht heißen, dass die Ergebnisse ein ebenso uneinheitliches Bild aufweisen. Umgekehrt ist die Ähnlichkeit der Auswahlkriterien kein Garant für die Ähnlichkeit der Ergebnisse. So wäre es bspw. wünschenswert, eine Liste relevanter Dimensionen von Weisser mit den Listen von Nussbaum und Alkire vergleichen zu können,270 weil sich die Auswahlkriterien auf den ersten Blick ähneln, aber es liegt keine entsprechende Liste von Weisser vor. Er unterteilt nur einerseits die unmittelbaren Interessen in geistige und sinnliche und legt andererseits eine Liste vor, die sowohl mittelbare als auch unmittelbare Interessen enthält (vgl. Abschnitt 3.3.5). Deshalb lässt sich auch kein Vergleich zwischen Weisser und Desai durchführen, der wegen Gemeinsamkeiten in der politischen Ausrichtung des Auswahlkriteriums interessant wäre. Tabelle 8 Vergleich der Beispiele für Dimensionen von Neurath und Sen Elemente der Lebenslage
Beispiele für Funktionen
bei Neurath
bei Sen
Nahrung
essen und trinken
Gesundheitspflege die Menge an Malariakeimen
gesund sein frei von Malaria sein
Krankheit, Morbidität, Erkrankungshäufigkeit Sterbewahrscheinlichkeit, Unfälle
Mortalität,
Wohnung
Krankheiten vermeiden Lange leben sich ohne Scham öffentlich zeigen
Kleidung freundliche menschliche Umgebung
Freunde empfangen können den Menschen nahe sein, die man gerne mag
Bildung
lesen können
Bildungsmöglichkeiten
___________ 270
Die Listen von Nussbaum, Alkire sowie Desai finden sich in Abschnitt 4.5.1.
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung Bücher
283
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen
Theater Vergnügungen sich selbst achten glücklich sein Mußezeit
Urlaub machen mobil sein verreisen
Arbeitszeit
Arbeit haben
Arbeit Arbeitslast Quelle: Neurath (1916, 1920, 1925, 1931) und Sen (1985a, 1987b, 1992a, 1999a), eigene Zusammenstellung
Vergleichen lassen sich jedoch die Beispiele, die Neurath und Sen für ihre Bewertungsgrundlage angeben (Tabelle 8). Im Abschnitt 5.2 wurde bereits auf die Ähnlichkeit zwischen Neuraths und Sens Herangehensweise hingewiesen und gefolgert, dass ihre Bewertungsgrundlage im Wesentlichen übereinstimme. Eine Gegenüberstellung der Beispiele aus Neuraths und Sens Arbeiten (siehe Tabelle 8) zeigt, dass nicht nur die Herangehensweise, sondern auch die Ergebnisse im Wesentlichen übereinstimmen. Ihre Dimensionen lassen sich den Bereichen Gesundheit, (Nahrung,) Bildung, soziale Interaktion, Regeneration und Arbeitsbedingungen zuordnen. Was die angesprochenen Bereiche oder Oberbegriffe angeht, ähneln sich die Listen in den meisten Fällen sehr, wie bereits in Abschnitt 4.5.1 beim Vergleich der Listen von Nussbaum, Alkire und Desai erläutert. Stellt man jedoch die Liste mit „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ Nussbaums den fünf Einzelspielräumen Nahnsens gegenüber (Tabelle 9), ist die Ähnlichkeit nicht so groß, obwohl auch hier einige Gemeinsamkeiten zu erkennen sind. Die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen den Listen von Nussbaum und Nahnsen zeigen sich deutlich, wenn man den Versuch unternimmt, die Beispiele von Neurath bzw. Sen den beiden Listen zuzuordnen. Z. B. hat die „freundliche menschliche Umgebung“ von Neurath sowohl etwas mit der Fähigkeit, Gefühle zu entwickeln („emotions“) als auch mit den zwischenmenschlichen Beziehungen („affiliation“) von Nussbaum zu tun und mit dem Kontakt- und Kooperationsspielraum Nahnsens ebenso wie mit ihrem Lernund Erfahrungsspielraum. Die von Sen genannte Funktion „sich ohne Scham öffentlich zu zeigen“ hat ebenfalls mit beiden Spielräumen etwas zu tun. „Theater“ und „Vergnügungen“ sind Elemente von Neuraths Lebenslage, die ebenso für die Fähigkeit, die eigenen Sinne, Vorstellungskraft und das eigene
5. Vergleich der Ansätze
284
Denkvermögen zu entwickeln („senses, imagination and thought“) bei Nussbaum stehen, wie für die Fähigkeit zu spielen („play“). Nahnsens Lern- und Erfahrungsspielraum umfasst diese beiden Elemente Nussbaums, aber man ist geneigt, „Theater“ und „Vergnügungen“ auch als Elemente des Muße- und Regenerationsspielraumes zu betrachten. Schwierig ist es hingegen, ein Beispiel Neuraths für Nussbaums praktische Vernunft („practical reason“) und Kontrolle über das eigene Umfeld („control over one’s environment“) zu finden: Sind die Stichworte „Bildung“ und „Arbeit“ hier zu nennen? Ähnliche Probleme ergeben sich bei Nahnsens Dispositionsspielraum, der die Möglichkeit der Einflussnahme eines Individuums zusammenfassen soll. Die Funktion „lesen können“ bei Sen scheint eine Rolle dabei zu spielen, aber ebenso im Lern- und Erfahrungsspielraum. Tabelle 9 Gegenüberstellung von Nussbaums und Nahnsens Dimensionen Nussbaum
Nahnsen
10. control over one’s environment
Dispositionsspielraum
1. life 3. bodily integrity
Einkommens- und Versorgungsspielraum
2. bodily health
Muße- und Regenerationsspielraum
9. play 4. senses, imagination and thought
Lern- und Erfahrungsspielraum
6. practical reason 5. emotions 7. affiliation
Kontakt- und Kooperationsspielraum
8. other species Quelle: Nussbaum 1990, vgl. Abschnitt 4.5.1, Nahnsen 1975, eigene Zusammenstellung
Beide Listen weisen also einige Überschneidungen auf, so dass es einerseits schwierig ist, die Beispiele Neuraths oder Sens eindeutig zuzuordnen, und sich andererseits gar keine passenden Beispiele finden lassen, weil die Elemente, die Sen und Neurath nennen, als Voraussetzungen und nicht als Beispiele für die Kategorie der Kontrolle bei Nussbaum und der Disposition bei Nahnsen erscheinen. Aus dem gleichen Grund ist es schwierig, dem „Versorgungs- und Einkommensspielraum“ von Nahnsen konkrete Funktionen oder Elemente von Neuraths Lebenslage zuzuweisen, außer vielleicht „Nahrung, Wohnung, Kleidung“. Bemerkenswert ist ferner, dass der Komplex „Gesundheit“ bei Nussbaum in zumindest drei Kategorien, nämlich „life“, „bodily health“ und „bodily integrity“ aufgeteilt ist, während Nahnsen ihn im Muße- und Regenerationsspielraum
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
285
zusammenfasst, aber die Versorgung davon trennt. Hier zeigt sich einmal mehr, wie schwierig es ist, Bereiche voneinander abzugrenzen.271 Insgesamt erscheint es daher fraglich, ob es einen „Königsweg“ bei der Zusammenstellung einer Liste mit relevanten Dimensionen gibt. Entscheidet man sich für eine eher abstrakte Liste, wie dies Nahnsen, Nussbaum, Alkire und Desai tun, so werden die Dimensionen in vielen Punkten überlappen. Dringend ist es dann nötig, sich über das Verhältnis von Dimensionen und Indikatoren dafür (siehe nächster Abschnitt) und über das Verhältnis der Dimensionen untereinander Gedanken zu machen. Entscheidet man sich für eine Ansammlung von konkreten Beispielen, wie dies Neurath und Sen tun, so stellt sich die Frage, warum gerade diese Elemente als relevant erachtet werden, ob sie ein vollständiges Bild zeichnen und inwiefern bestimmte Bereiche übermäßig repräsentiert sind.
Das Einkommen als Dimension? Das Einkommen spielt bei der Messung von Armut und Lebensstandard immer noch eine hervorragende Rolle, wie im Kapitel 2 erläutert. Das Einkommen wird entweder direkt als die relevante Dimension für die Messung erachtet oder als Metrik für die Messung der Dimension „Nutzen“ interpretiert. Beim Übergang von der ein- zur mehrdimensionalen Betrachtung spielt insbesondere das Argument eine Rolle, dass sich nicht alles in Einkommen ausdrücken oder umtauschen lässt. Kann man das Einkommen im multidimensionalen Ansatz überhaupt als Dimension betrachten? Diese Frage wird hier auf zweierlei Weise beantwortet: zum einen, indem untersucht wird, ob das Einkommen eine Dimension entsprechend der oben aufgeführten Auswahlkriterien ist, und zum anderen durch die Überprüfung der Listen mit Dimensionen auf die Erwähnung des Einkommens hin. Wendet man das Kriterium Weissers an, für den nur unmittelbare Interessen Grundanliegen darstellen, so ist die Antwort eindeutig: Das Interesse am Einkommen ist nach Weisser nur ein mittelbares Interesse (vgl. die Ausführungen im Abschnitt 3.3.2), gehört also nicht zu den relevanten Dimensionen der Lebenslage. Auch auf die Frage, die Alkire mit Finnis zu ihrem Kriterium erhebt: „Warum tue ich, was ich tue?“ bzw. „Warum tun andere, was sie tun?“, dürfte die Anwort: „Um des Einkommens willen.“, die nächste Frage provozieren, nämlich warum ich Einkommen haben will bzw. andere Einkommen haben wollen. Auch nach diesem Kriterium ist das Einkommen keine Dimension der Bewertungsgrundlage. Ebenso erscheint es schwierig, Einkommen als eine ___________ 271
Vgl. auch die Diskussion zum Bereich Gesundheit in Abschnitt 4.5.1.
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5. Vergleich der Ansätze
spezifisch menschliche Eigenschaft im Sinne des Kriteriums von Nussbaum aufzufassen, denn es existieren genug Gegenbeispiele von Menschen, die ohne Einkommen, und menschlichen Gesellschaften, die ohne Geldwirtschaft leben oder gelebt haben. Die Listen, die auf den theoretischen Auswahlkriterien basieren, weisen dementsprechend auch nicht das Einkommen als Dimension auf. Allerdings beginnen die Listen von Alkire und Nussbaum beide mit dem Punkt „Leben“, bei dem der Versorgungsgedanke im Vordergrund steht. Nussbaum nennt ferner als eine Seite der Kontrolle über das eigene Umfeld die Verfügungsgewalt über materielle Ressourcen, zu denen auch Einkommen zählt. Ein etwas differenzierteres Bild ergibt sich bei der Anwendung von politikrelevanten Kriterien. Ganz ohne Zweifel lässt sich das Einkommen, die Einkommensverteilung durch den Staat beeinflussen. Aber die Frage ist, ob der Staat jedem Menschen ein bestimmtes Einkommen garantieren solle. Desai beantwortet die Frage indirekt, indem er das Einkommen nicht in seiner Liste relevanter Dimensionen aufführt. Weisser (1954a) tritt einer Fixierung auf eine Einkommensumverteilung schon durch die Phrase entgegen: „Verteilt werden Lebenslagen!“. An anderer Stelle setzt er sich kritisch mit der Idee einer staatlich garantierten Mindestversorgung, die er mit „basic needs“ in Zusammenhang bringt, auseinandersetzt. Sein Fazit lautet: „Die Gewährung eines Rechtsanspruchs auf Mindestversorgung ohne eigene spezifische Beitragsleistung setzt also entweder einen hohen Volkswohlstand oder ein in allen Schichten des Volkes tief verwurzeltes soziales Gewissen voraus.“ (Weisser 1956b, S. 304)
Die Forderung Weissers, die Sozialpolitik möge jedem Menschen einen Spielraum zur Erfüllung von Grundanliegen gewährleisten, geht daher einerseits über die Forderung nach einer Mindestversorgung (oder einem Mindesteinkommen) hinaus, weil diese mit Sicherheit im Spielraum liegen sollte, andererseits bleibt sie insofern bewusst dahinter zurück, als dass sie nicht die Erfüllung einheitlicher Grundanliegen fordert. Die empirischen Kriterien zur Auswahl relevanter Dimensionen kommen der Betrachtung des Einkommens als Dimension am nächsten. So gehört zwar nicht das Einkommen, sondern „Wohlstand“ zu den von Schwenk ermittelten Lebenszielen, aber er verwendet das Einkommen als Indikator dafür. Die Methode der Faktoranalyse, bei der die Unabhängigkeit der zugrunde liegenden Variablen unterstellt wird und die Dimensionen so ermittelt werden, dass sie sich möglichst stark unterscheiden, vermittelt einen Einblick in die Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Einkommens. Die empirischen Studien, die mit dieser Methode arbeiten, verwenden das Einkommen zunächst als eine von vielen Variablen. Schokkaert und van Ootegem bezeichnen das Einkommen als ein „sozioökonomisches Merkmal“ der untersuchten Individu-
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
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en. Ähnlich gehen Sciclone und Balestrino (2000) mit der Variable Einkommen um. Etwas anders verhält es sich bei der Untersuchung von Lelli (2001), die Daten des ECHP nutzt, zu denen das Einkommen nicht gehört. Im Ergebnis ist jedoch immer eine Dimension oder ein Faktor stark mit dem Einkommen korreliert. Schokkaert und van Ootegem nennen sie „finanzielle Probleme“, bei Sciclone und Balestrino heißt sie „sozioökonomische Entwicklung“ und bei Lelli „ökonomische Bedingungen“. Wie bereits an diesen Beispielen deutlich geworden ist, wird das Einkommen gerne als Variable für empirische Untersuchungen genutzt. Dies hat viel mit der Datenverfügbarkeit zu tun, also dem dritten empirischen Auswahlkriterium. Obwohl es unter seinen Beispielen für Funktionen nicht zu finden ist, nutzt auch Sen das Einkommen als eine Dimension des HDI. Wichtig ist dabei, die Frage des Untersuchungszwecks nicht aus den Augen zu verlieren. Der HDI zielt darauf ab, zu zeigen, dass der Entwicklungsstand eines Landes nicht nur am Einkommen abgelesen werden kann, sondern niedriges Einkommen nicht unbedingt mit einem schlechten Gesundheitszustand oder Bildungsstand der Bevölkerung einher gehen muss. Dies heißt nicht, dass Sen das Einkommen als Dimension seiner Bewertungsgrundlage sieht, sondern ist im Gegenteil als Werbung für zumindest eine Ergänzung wenn nicht für einen Ersatz des Einkommens als Bewertungsgrundlage zu verstehen. In ähnlicher Weise beschäftigt sich auch Neurath (1939) mit dem Einkommen und der Einkommensverteilung, weil diese Daten verfügbar sind. Insgesamt ist aber seine Position zur Rolle des Einkommens am stärksten pointiert: Für Neurath ist eine Naturalwirtschaft denkbar und erstrebenswert, die vollkommen auf Geld als Tauschmittel, ja sogar als Recheneinheit verzichtet. Konsequenterweise ist das Einkommen nicht unter den Beispielen für Elemente der Lebenslage zu finden.
5.4.2 Zur Rolle von Indikatoren Im Abschnitt 5.2 (Tabelle 7, S. 258) wird zwischen drei strukturellen Ebenen unterschieden: 1. den Dimensionen des Bewertungsraumes, 2. Bündeln im Bewertungsraum und 3. Teilmengen im Bewertungsraum. Für die Operationalisierung der Ansätze wird indes mit Indikatoren gearbeitet, wobei aber nicht immer ein Indikator je Dimension gewählt wird. Es kommt sowohl vor, dass mehrere Indikatoren je Dimension verwendet werden, als auch, dass derselbe Indikator für verschiedene Dimensionen in Frage kommt, wie bereits in Abschnitt 4.5 und 5.4.1 angesprochen. In gewissem Sinne wird dadurch eine weitere strukturelle Ebene eingeführt, nämlich die Ebene der Indikatoren, die zunächst den Dimensionen zuzuordnen sind. Zugleich muss aber bereits in diesem Schritt das Problem der Überlappung von
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5. Vergleich der Ansätze
Dimensionen gelöst werden, denn wenn ein Indikator sich verschiedenen Dimensionen zuordnen lässt, überlappen sich diese offensichtlich in diesem Punkt, so dass sich die Unterscheidung der entsprechenden Dimensionen in Frage stellen lässt. Außerdem werden Indikatoren im Rahmen des Weisserschen Lebenslage-Ansatzes nicht nur für einzelne Dimensionen, sondern für die Lebenslage, d. h. für eine Menge im multidimensionalen Raum herangezogen. Daher ist die Rolle von Indikatoren und anderen Maßzahlen in (diesen) multidimensionalen Ansätzen zu klären. Im Anschluss wird untersucht, ob das Einkommen, wenn es nicht als Dimension in Frage kommt (s. o.), vielleicht als Indikator anzusehen ist. Sodann gehe ich kurz darauf ein, welche Datenquellen herangezogen werden und welchen Einfluss diese Entscheidung darauf hat, welche Indikatoren – und damit letztlich Dimensionen – betrachtet werden können.
Verwendung eines Indikators je Dimension Oben wurden drei Fälle unterschieden: 1. eindeutige Zuordnung je eines Indikators zu jeder Dimension, 2. eindeutige Zuordnung mehrerer Indikatoren zu je einer Dimension, 3. Zuordnung mehrerer Indikatoren zu je einer Dimension, wobei ein Indikator verschiedenen Dimensionen zugeordnet werden kann. Bei jedem dieser Fälle ist einerseits zu bedenken, in welchem Zusammenhang die Auswahl der Indikatoren mit der Auswahl der Dimensionen steht, und andererseits, welche Auswirkungen diese zusätzliche Struktur auf die Anwendung der multidimensionalen Ansätze hat. Generell werden die Probleme der Multidimensionalität durch die Einführung der weiteren Ebene der Indikatoren vermehrt, was bisher in den empirischen Studien kaum Beachtung gefunden hat.272 Der erste Fall erscheint fast trivial: Wenn immer je ein Indikator eindeutig einer Dimension zugeordnet ist, lassen sich Indikatoren und Dimensionen gleichsetzen und durch die Verwendung von Indikatoren entsteht keine zusätzliche Struktur. Dennoch bleibt die Frage, warum Indikatoren und Dimensionen gleichgesetzt werden. Als ein Grund lässt sich anführen, dass Neurath und Sen ihre Bewertungsgrundlage u. a. darüber definieren, dass sie beobachtbar, messbar ist. Mithin ist die Eigenschaft der Messbarkeit eine definitorische Eigenschaft ihrer Dimensionen. Diesem Gedankengang folgen Klasen (2000) und Phipps (2002), wenn sie ihre Variablen als Funktionen interpretieren, also nicht zwischen Indikatoren und Dimensionen unterscheiden. Anders argumen___________ 272 Eine Ausnahme stellt Kuklys (2004) dar, die sich explizit mit der Frage beschäftigt, wie die Indikatoren zu einer Dimension zusammenzufassen sind.
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
289
tieren hingegen Balestrino und Sciclone (2000), wenn sie begründen, warum sie für jede Dimension nur einen Indikator gewählt haben. Sie unterscheiden deutlich zwischen Dimensionen und Indikatoren und fangen mit den Dimensionen an, für die sie in einem zweiten Schritt Indikatoren suchen. Dabei haben sie erstens nach Indikatoren gesucht, welche die Dimensionen gut repräsentierten, zweitens nach Indikatoren, die bereits erhoben worden seien, und drittens haben sie sich entschlossen, die Liste von Indikatoren möglichst klein zu halten, weil sonst die Gefahr zu groß gewesen wäre, dass sich die Ergebnisse nicht hätten interpretieren lassen (Balestrino/Sciclone 2000, S. 7). Diese Überlegung weist auf eine Grenze für die Gleichsetzung von Indikator und Dimension hin, die insbesondere bei der von Neurath und Sen bevorzugten Methode der stochastischen Dominanz von Bedeutung ist: Je mehr Dimensionen einbezogen werden in einen Vergleich, desto unwahrscheinlicher ist es, eine vollständige Ordnung der betrachteten Situationen zu erreichen, und um so dringender ist es nötig, das Verhältnis der Dimensionen untereinander zu klären. Zugleich ist anzumerken, dass allein durch die Auswahl der Dimensionen (Indikatoren) bestimmte Lebensbereiche stark betont werden, andere aber gar keine Beachtung finden. Darum sind die Fragen Basus (vgl. Abschnitt 4.5.1) nach der Vollständigkeit der Liste von Dimensionen einerseits und nach der Überschneidung von Dimensionen andererseits zu stellen. Einen pragmatischen Weg bei der Auswahl von Indikatoren schlägt Atkinson (2003b) für die Armutsberichterstattung in der EU vor. Er wünscht ausdrücklich die alternative Verwendung ähnlicher Indikatoren: Für die Auswahl von Indikatoren hat Atkinson den Vorschlag unterbreitet, die Indikatoren drei Ebenen zuzuordnen. Ebene 1 dient der groben Erfassung von Armut mittels eines Armutsmaßes und solle daher nicht mehr als zehn – möglichst überschneidungsfreie – Indikatoren umfassen. Ebene 2 solle das Bild der Armut, wie es von den Indikatoren der Ebene 1 gezeichnet worden ist, ausdifferenzieren und ergänzen. Sie könne auch Indikatoren enthalten, die noch nicht gut erforscht sind. Ebene 2 dürfe daher mehr Indikatoren als Ebene 1 und auch Varianten von Indikatoren der Ebene 1 enthalten. Während die Indikatoren der Ebenen 1 und 2 einheitlich für die gesamte EU ausgewählt werden, erlaube Ebene 3 den einzelnen Mitgliedsstaaten, eigene Schwerpunkte bei der Armutsforschung zu setzen.
Verwendung mehrerer Indikatoren je Dimension Der zweite und der dritte Fall gleichen sich, insofern sie beide die Zuordnung mehrerer Indikatoren zu einer Dimension vorsehen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Eindeutigkeit dieser Zuordnung. In der Praxis kommt der dritte Fall – die Zuordnung eines Indikators zu mehreren Dimensionen – nicht
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5. Vergleich der Ansätze
vor. Doch womit wird die eindeutige Zuordnung der Indikatoren zu den Dimensionen begründet? Viele empirische Studien gehen von einer Liste mit relevanten Dimensionen, wie der von Nussbaum oder jener von Alkire, aus und suchen für diese Dimensionen Indikatoren. Entweder geschieht dies in Verbindung mit der Anregung einer Primärstudie, wie dies in der Arbeit von Segal (1998) der Fall ist, oder die Studien beschränken sich darauf, vorhandene Datenquellen auf geeignete Indikatoren zu untersuchen, um eine Sekundärstudie durchzuführen, wie dies Brandolini und d’Alessio (1998), Schwenk (1999), Voges u. a. (2004) oder Chiappero-Martinetti (2000) und Lelli (2001) tun. Dabei begründen die genannten Studien die eindeutige Zuordnung der Indikatoren nicht, so dass vermutet werden kann, dass sie stillschweigend der Forderung Basus nach Überschneidungsfreiheit der Dimensionen auf diese Weise nachgekommen sind. Explizit nehmen Schokkaert und van Ootegem (1990) (s. o.) auf die Forderung Basus Bezug und begründen so die Verwendung der Faktoranalyse sowie das Verfahren, mit dem sie die Faktoren ermitteln. Dabei vertreten sie die Auffassung, dass Überschneidungsfreiheit Unabhängigkeit der Dimensionen bedeutet. Generell geht die Methode der Faktoranalyse davon aus, dass sich die untersuchten Variablen (Indikatoren) nicht gegenseitig beeinflussen, sondern von einer dritte Größe, dem latenten Faktor oder der Hauptkomponente, beeinflusst werden (Backhaus u. a. 1996, S. 194f). Bei Verwendung der Faktor- oder der Hauptkomponentenanalyse273 wird also immer eine möglichst eindeutige Zuordnung angestrebt. Der dritte Fall scheint dennoch relevant zu sein, wenn man sich zum einen einige Beispiele für Indikatoren, deren Zuordnung nicht eindeutig erscheint, vor Augen hält und zum anderen die grundsätzliche Frage stellt, was Überschneidungsfreiheit im Rahmen eines multidimensionalen Ansatzes heißt. Ein Beispiel für Indikatoren, die nicht eindeutig zugeordnet werden können, ist in Abschnitt 4.5.1 schon diskutiert worden: die „sanitären Einrichtungen“. In der Studie von Klasen (2000) zu Armut in Südafrika werden sie in Verbindung mit Gesundheitsvorsorge gebracht, in Studien zu Industrieländern jedoch als Indikator für die Wohnverhältnisse verwandt. Ein weiteres Beispiel stellt „Morbidität“ dar (s. o.). Daten zur Morbidität sagen mindestens ebensoviel über das Bewusstsein für Krankheiten – also medizinische Bildung – aus wie ___________ 273
Als Beispiele für die Anwendung der Faktoranalyse in Studien sind zu nennen: Schokkaert/van Ootegem (1990), Balestrino/Sciclone (2000) und Lelli (2001), vgl. auch Abschnitt 4.5.4 und 5.4.1. Auch die Hauptkomponentenanalyse wird im Zusammenhang mit dem Sen-Ansatz angewendet z. B. von Klasen (2000) und Quadrado/Loman/Folmer (2001).
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
291
über den Krankheitszustand selbst. Schließlich haben die Gegenüberstellungen der Listen in Abschnitt 5.4.1 gezeigt, dass einige Indikatoren wie „lesen können“ nicht eindeutig den Listen von Nussbaum oder Nahnsen zugeordnet werden können, weil sie eine Art Schlüsselqualifikation darstellen. Die Beispiele zeigen, dass ein Indikator für verschiedene Dimensionen herangezogen werden kann. Inwieweit dies eine Überschneidung der Dimensionen widerspiegelt, ist eine weitere Frage. Die grundsätzliche Frage nach dem Sinn der Überschneidungsfreiheit in multidimensionalen Ansätzen führt jedoch weiter: Besteht nicht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Überschneidungsfreiheit einerseits und der Grundidee eines multidimensionalen Ansatzes andererseits? Multidimensionalität wird u. a. deshalb gefordert, weil es nicht immer möglich ist, den Einfluss der einen auf die andere Dimension zu bestimmen. Die Forderung nach Überschneidungsfreiheit der Dimensionen in einem multidimensionalen Modell muss daher – so plausibel sie auf den ersten Blick ist – hinterfragt werden. Ist „Überschneidungsfreiheit“ eine Anforderung an die Daten und daher als Unabhängigkeit oder Unkorreliertheit zu verstehen? Oder ist es eine Anforderung an die Methodenauswahl zur Aggregation und daher als Separabilität der Dimensionen zu verstehen? Oder ist es eine konzeptionelle Anforderung und wird durch die theoretischen Auswahlkriterien für Dimensionen von Weisser (Unmittelbarkeit des Interesses) oder Alkire (Letzbegründung) erfüllt?
Indexbildung Die Diskussion um die Forderung nach Überschneidungsfreiheit und die These, dass dadurch eine weitere strukturelle Ebene in die Ansätze eingeführt wird, lässt sich anhand der Bewertung von Bündeln mit Hilfe eines Indexes verdeutlichen. Die Indexbildung kann in zwei Schritten oder in einem Schritt erfolgen: Entweder werden im ersten Schritt jeweils die Indikatoren zum Index für eine Dimension zusammengefasst und dann im zweiten Schritt diese Indizes zu einem Index zur Bewertung des Bündels (Indikatoren – Dimensionen – Bündel, z. B. HDI). Oder die Indikatoren werden direkt zu einem Index für das Bündel zusammengefasst – ohne im Zwischenschritt Indizes für jede Dimension zu bilden (Indikatoren – Bündel). Ob sich das zweistufige vom einstufigen Verfahren unterscheidet, hängt bei additiven Indizes einzig von der Gewichtung der Indikatoren und Dimensionen ab, auch wenn ein Indikator für verschiedene Dimensionen herangezogen wird. Die Indikatoren und Dimensionen werden als separabel und in diesem Sinne „überschneidungsfrei“ betrachtet. Wird „Überschneidungsfreiheit“ hingegen so verstanden, dass jeder Indikator höchstens einer Dimension zugeordnet werden darf, um mögliche „Doppelzählungen“ zu vermeiden, kann genau dies dazu
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5. Vergleich der Ansätze
führen, dass dem Indikator ein „falsches“ – zu geringes – Gewicht beigemessen wird. 274
Das Einkommen als Indikator? Wie bereits im vorigen Abschnitt erläutert, wird das Einkommen nicht unbedingt als Dimension der Lebenslage oder des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten betrachtet. Bei der empirischen Umsetzung der Ansätze spielt es gleichwohl eine bedeutende Rolle. In vielen Studien wird das Einkommen als Variable genutzt, ohne dass seine Rolle näher erörtert wird, wie bspw. in der Studie von Schokkaert und van Ootegem (1990), in der das Einkommen als „sozioökonomisches Merkmal“ erfasst wird. Wenn das Einkommen keine Dimension ist, lässt es sich dann als Indikator für eine oder mehrere Dimensionen auffassen oder zur Bestimmung der Größe der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten bzw. des Spielraums nutzen? In der Theorie zu den Ansätzen wird von allen Autoren betont, dass das Einkommen ein Mittel zur Erreichung verschiedener Zwecke sei, aber durch vielseitige Nutzbarkeit eine hervorragende Rolle spiele. In den Worten Sens hat das Einkommen (vor allem?) einen instrumentellen Wert und nicht einen intrinsischen oder in Weissers Ausdrücken: Das Interesse am Einkommen ist (in erster Linie?) ein mittelbares und kein unmittelbares. In der Konsequenz sollte das Einkommen vor allem als Indikator und nicht als Dimension behandelt werden. Die Frage, wofür das Einkommen als Indikator steht, kann jedoch nicht eindeutig beantwortet werden, weil es ebenso als Indikator für bestimmte Dimensionen (Sicherheit, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen etc.) als auch als Maßzahl zur Bestimmung der Größe der Möglichkeitenmenge (s. u.) dient und dienen kann. Daher wird man die Aussagekraft des Einkommens als Indikator oder Maßzahl durch die Nutzung anderer Größen überprüfen müssen.
Datenquellen Wenn hier von Indikatoren die Rede ist, sind Daten gemeint, mit deren Hilfe sich die Dimensionen erfassen lassen. Sen (1985a) teilt Daten in drei Kategorien ein (vgl. Abschnitt 4.5.2): Marktdaten, Antworten auf Fragebögen und Beobachtungen zum Zustand von Personen. Als in besonderem Maße für die Analyse von Wohlergehen im Sinne von Funktionen geeignet sieht Sen die ___________ 274 Brandolini/d’Alessio (1998) vergleichen einen Index, der direkt auf Indikatoren beruht (einstufiges Verfahren), mit mehreren Indizes, welche die Indikatoren zunächst zu Indizes für Dimensionen zusammenfassen (zweistufiges Verfahren), und überprüfen somit empirisch, welche Unterschiede sich ergeben.
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
293
Kategorie der Beobachtungen zum Zustand von Personen an. Solche Daten werden aber nur selten benutzt, am häufigsten noch, um den Gesundheitszustand zu erfassen. Meist dienen die Ergebnisse einer Befragung als Datengrundlage. Dies hat zum einen mit der Verfügbarkeit dieser Daten zu tun. Zum anderen hat dies auch inhaltliche Gründe, die kurz erläutert werden sollen. Sen führt diese Kategorie ein, weil er den Antworten auf Fragebögen Subjektivität unterstellt und eben dieser Subjektivität auch des Nutzenbegriffs die objektivere Kategorie der Funktionen entgegen stellt. Man muss aber fragen, ob es überhaupt möglich ist, den Zustand von Personen zu beobachten, ohne diese Personen zu befragen. Wie sollte man bspw. von chronischen Krankheiten einer Person erfahren, wenn nicht durch eine Frage? Auch die Befragung von Experten, die ihrerseits die Person beobachten, ist eine Befragung und daher nicht eindeutig der Kategorie „Beobachtungen zum Zustand von Personen“ zuzuordnen. Schließlich stellt auch ein qualitatives Interview eine Befragung dar, gibt dem Interviewer jedoch zugleich die Möglichkeit, Personen zu beobachten. Zudem liegen die meisten „Beobachtungen zum Zustand von Personen“ nur in aggregierter Form als Alphabetisierungsquote, Mortalitätsrate oder Arbeitslosenquote vor und stehen somit in einem Spannungsverhältnis zur Mikrofundierung der Ansätze (vgl. Abschnitt 4.5.2). Die klare Unterscheidung, die Sen hier einführt, ist für die Klassifizierung von Daten daher nicht brauchbar. In der Klassifizierung von Sen ist außerdem eine „Datenquelle“ nicht enthalten, auf die sowohl Nussbaum als auch Schwenk zurückgreifen, um die relevanten Dimensionen des jeweiligen Ansatzes zu bestimmen, nämlich Texte wie Mythen und Science-Fiction (Nussbaum, vgl. Abschnitt 4.3.3) oder politische Programme, Diskussionsbeiträge in Zeitungen und Zeitschriften und Gesetzen (Schwenk, vgl. Abschnitt 3.3.5). Die meisten Studien sowohl zum Lebenslage-Ansatz (seien sie vom OttoBlume Institut, von Lompe oder von Schwenk, vgl. Abschnitt 3.3.5) als auch zum „Capability“-Ansatz (vgl. Tabellen 3 und 4, S. 202) beruhen auf einer Befragung. Bemerkenswert ist ferner, dass die meisten Studien Sekundärstudien sind, d. h. eine Datenquelle nutzen, die nicht für diese Studie erhoben wurde. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil die Auswahl der Dimensionen teilweise dadurch bestimmt ist, für welche Dimensionen Indikatoren in der Datenquelle vorhanden sind. Ausnahmen stellen – naturgemäß – Studien dar, die qualitative Interviews auswerten, wie die von Lompe (1988) oder von Hanesch u. a. (1993) oder die narrativen Studien von Nussbaum (2000) und Alkire (2002).
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5. Vergleich der Ansätze
5.4.3 Zur Auswahlmenge Eine besondere Herausforderung bei der Operationalisierung der hier behandelten Konzepte stellt die Erfassung der Auswahlmenge dar. Bei der Erfassung eines Bündels an Funktionen oder der Lebenslage im Neurathschen Sinne geht es darum, für die verschiedenen Dimensionen geeignete Indikatoren zu finden und die Frage der „Überschneidungsfreiheit“ zu klären. Bei der Erfassung der Auswahlmenge sind geeignete Maßzahlen für verschiedene Aspekte der Menge zu finden. Ein wichtiger Aspekt ist die Anzahl der Elemente der Menge, ein anderer die Qualität der Elemente der Menge und ein dritter die Eigenschaften der Menge selbst. Im Folgenden greife ich zunächst die Frage nach den Eigenschaften der Auswahlmenge auf. Für die empirische Schätzung ist es wünschenswert, dass sich die Menge „wohl verhält“, also möglichst zusammenhängend, kompakt und konvex ist. Der erste Unterabschnitt hinterfragt insbesondere die letzte Eigenschaft. Die Argumentation, die auch auf die Eigenheiten einzelner Funktionen bzw. Bestandteile der Lebenslage eingeht, eröffnet dann die Möglichkeit, die Auswahlmenge zu begrenzen. Ausgangspunkt ist die Lebenslage im Neurathschen Sinne bzw. das Bündel erreichter Funktionen. Für einzelne Dimensionen stellt der erreichte Wert eine Ober- oder Untergrenze für zukünftige Möglichkeiten dar. Die vorhandenen empirischen Arbeiten zur Erfassung der Auswahlmenge verwenden hingegen Schätzkonzepte, die darauf beruhen, „Typen“ zu bilden bzw. Individuen nach bestimmten Kriterien zu Referenzgruppen zusammenzufassen. Nach der systematischen Vorstellung dieser Schätzkonzepte geht der Abschnitt nochmals kurz auf das Thema des vorangegangenen Abschnitts ein, nämlich die Rolle von Indikatoren und anderen Maßzahlen bei der Erfassung der Auswahlmenge.
Zu den Eigenschaften der Auswahlmenge Es ist erstaunlich, wie wenig bisher über die Eigenschaften der Auswahlmenge nachgedacht und geschrieben wurde. Sen hat zwar die Frage erörtert, wie eine Menge zu bewerten sei (vgl. Abschnitt 4.2.3), dabei aber nichts über die Eigenschaften der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ausgesagt. Herrero (1996) nimmt in ihrer Arbeit die „Standardeigenschaften“ für die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten an, nämlich Abgeschlossenheit und Konvexität. Allerdings ist ihr Ziel nicht die Erfassung der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, sondern das Verhältnis von ihr zum Nutzen. Ist die Annahme plausibel, dass die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten konvex ist, d. h. dass sie zusammenhängend ist und alle Bündel, die zwischen zwei Elementen der Menge liegen auch zur Menge gehören?
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
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Laut der formalen Darstellung von Sen entsteht die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten aus der Kombination von Budgetmenge – also erreichbaren Güterbündeln – und den persönlichen Eigenschaften, der Menge an persönlichen Technologien. Was die Budgetmenge anbelangt, so wird zwar meist die beliebige Teilbarkeit der Güter unterstellt, sie ist aber bei vielen Gütern, wie z. B. einem Computer, einer Winterreise u. ä. nicht gegeben. Wenn das Individuum die Entscheidung zwischen Computer und Winterreise fällen muss, sind mit diesen unterschiedlichen Gütern im Güterbündel auch sehr unterschiedliche Verwirklichungsmöglichkeiten verbunden. Die Annahme der Konvexität der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ist dann nicht plausibel. Zwei weitere Überlegungen bestärken die Zweifel an der Annahme der Konvexität der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten. Zum einen beschränkt nicht nur das finanzielle Budget die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, sondern auch das Zeitbudget, auch wenn dieses in der formalen Darstellung des Ansatzes bei Sen bisher keine Rolle gespielt hat. Wir stehen jedoch häufig vor der Frage, ob wir unsere Zeit in die Entwicklung der einen oder anderen Fähigkeit „investieren“ wollen oder bei der Ausübung anderer Funktionen „konsumieren“. Die „Investition“ bspw. in den Erwerb des Abiturs in Deutschland eröffnet zu einem späteren Zeitpunkt den Zugang zu einer anderen (größeren?) Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten als jene in eine Ausbildung oder als die Ausübung von Gelegenheitsjobs. Diese Überlegung ist also eng verbunden mit der Forderung (vgl. Abschnitt 4.3.5), das Verhältnis von Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten klar zu stellen. Die Entscheidung über die Verwendung unserer Zeit ist eine Entscheidung zwischen sehr unterschiedlichen und deshalb nicht notwendigerweise verbundenen Bündeln von Funktionen. Zum anderen sind Situationen denkbar, in der aufgrund einer körperlichen Eigenschaft eine Entscheidung getroffen werden muss, die wiederum sehr unterschiedliche Verwirklichungsmöglichkeiten betrifft wie bspw. die zwischen verschiedenen Therapieformen bei Krebs. Dabei spielt die zeitliche und örtliche Bindung durch eine Therapie eine Rolle, aber auch die Hoffnung auf einen Erfolg. Diese drei Überlegungen zeigen, dass die Annahme der Konvexität der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten nicht unbedingt plausibel ist. Die Erfassung bzw. die Konstruktion der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten wird erschwert, wenn man ihre Konvexität nicht unterstellen kann. Welche anderen Eigenschaften lassen sich der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten zuschreiben? Eine Eigenschaft drängt sich auf, wenn man die Parallele, die Sen (z. B. 1992a, S. 36) zwischen der Budgetmenge und der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten zieht, weiter spinnt. Eine Budgetmenge enthält nämlich immer
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5. Vergleich der Ansätze
die Schlechtermenge eines gewählten Güterbündels, also alle jene Güterbündel, die „links“ oder „unterhalb“ des gewählten Bündels liegen oder genauer: die näher am Ursprung liegen als das gewählte Bündel. Insbesondere liegt auch die Möglichkeit, kein Gut zu erwerben und das Einkommen nicht auszugeben, in der Budgetmenge. Kann man analog davon ausgehen, dass jedes Bündel von Funktionen, das die erreichten Funktionen in einem geringeren Grade enthält, ebenfalls erreichbar sind? Im Falle der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ist diese Eigenschaft nicht so sehr eine Eigenschaft der Menge als vielmehr eine Eigenschaft der einzelnen Funktionen. Während bei bestimmten Funktionen gut vorstellbar ist, dass man sich auch gegen sie oder für ein geringeren Grad dieser Funktion entscheiden kann, wie z. B. bei der Funktion „mobil sein“, ist dies bei anderen Funktionen undenkbar. Wiederum spielt Zeit in diesem Zusammenhang eine Rolle. Viele Funktionen hängen in ihren Ausprägungen vom Lebensalter einer Person ab. Besonders deutlich ist das bei Funktionen, die direkt an körperliche Prozesse gekoppelt sind, wie bspw. der Fruchtbarkeit. Aber auch Funktionen, die nur bedingt mit körperlichen Prozessen zu tun haben, sondern eher an Erfahrungen gekoppelt sind, wie Bildung, sind Beispiele dafür, dass es nicht bei allen Funktionen selbstverständlich ist, dass ein geringerer Grad der jeweiligen Funktion erreichbar ist. Diese Überlegungen verfolgt der folgende Abschnitt weiter, um daraus Informationen über die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten abzuleiten.
Plausibilitätsannahmen zur Begrenzung der Menge Die geschilderten Überlegungen lassen sich nutzen, um zumindest den Bereich zu begrenzen, in dem die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten liegt, wenn es schon nicht möglich ist, sie selbst zu erfassen. Ausgangspunkt ist dabei wiederum das erreichte Bündel von Funktionen. Bei der Funktion „Bildung“ ist es z. B. so, dass der einmal erreichte Grad nicht wieder unterschritten werden kann. Dies gilt vor allem für „Bildung“ im Sinne formaler Bildungsabschlüsse.275 Bei „Bildung“ im Sinne erworbener Fähigkeiten spielt ein weiteres Mal der Faktor Zeit eine große Rolle: kurzfristig lässt sich „Bildung“ nicht ungeschehen machen, langfristig können Fähigkeiten jedoch verlernt werden. Bei der Funktion „Bildung“ (f1 in Abbildung 8) ist es daher plausibel anzunehmen, dass der erworbene Bildungsgrad die Untergrenze bezüglich dieser Funktion für die Zukunft darstellt. ___________ 275 Bildungsabschlüsse können jedoch an Wert verlieren, wenn sich das Bildungssystem ändert. Z. B. sind Stenografie-Kenntnisse heute kaum noch gefragt. Zudem kann die Gültigkeit von formalen Abschlüssen zeitlich begrenzt werden, wie bspw. in Finnland das Abitur nur drei Jahre gültig ist (FAZ, 19.04.04, Politik).
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
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f2
f2i
Bereich, in dem Qi zukünftig liegen kann
Qi
f1
Eigene Darstellung
Abbildung 8: Begrenzung des Bereichs der Auswahlmenge
Hingegen lässt sich bei der Funktion „Gesundheit“ (f2 in Abbildung 8) argumentieren, der erreichte Grad von „gesund sein“ sei eine Obergrenze für diese Funktion in der Zukunft oder lasse zumindest Rückschlüsse auf die maximal erreichbare „Gesundheit“ zu. Dahinter steckt die Vorstellung, dass ein Mensch zwar „gesünder leben“ z. B. durch veränderte Ernährung, mehr Bewegung etc., aber nur begrenzt „gesünder werden“ kann im Sinne einer aktuellen Verbesserung seines Gesundheitszustands. Zumindest als grobe Annäherung an die Funktion „Gesundheit“ ist diese Sicht plausibel, auch wenn sie ein wenig zynisch erscheinen mag und bestimmten Situationen – wie der Kindheit und gewissen Krankheiten – nicht angemessen.276 Zu einer Begrenzung des Raumes, in dem die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten liegen kann, können auch Informationen über Rechte und ___________ 276 Jedenfalls übernehmen Voges u. a. (2004) diese Sicht und verweisen dabei auf Arbeiten von Gary Becker und Michael Grossman.
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5. Vergleich der Ansätze
Freiheiten in der Gesellschaft, in der die betrachtete Person lebt, herangezogen werden, wie dies Nahnsen (1992) tut. So war bspw. die Reisefreiheit in der DDR begrenzt und die Bedingungen, unter denen Ausnahmen zugelassen wurden, klar definiert. Wie in den vorigen Beispielen bezieht sich die Argumentation auf einzelne Funktionen und zielt auf eine Begrenzung des Raumes ab, indem die individuelle Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten liegen kann, aber weder wird auf das erreichte Bündel von Funktionen Bezug genommen noch spielt die Zeit eine Rolle. Insgesamt zeigt sich bei diesen Beispielen aber auch, wie wichtig die in Abschnitt 5.4.2 angesprochene Definition von Dimensionen und Indikatoren und deren Verhältnis zueinander ist.
Typenbildung zur Skizzierung der Menge Die Begrenzung des Raumes, in dem eine individuelle Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten liegen kann, basiert auf Informationen bezüglich einzelner Dimensionen und Regelmäßigkeiten, die sich für diese Dimensionen zeigen lassen oder die zumindest plausibel sind. Es ist jedoch mühsam, für jede in Frage kommende Funktion solche Überlegungen anzustellen, und wird auch nicht immer zu einem Ergebnis im Sinne einer Beschränkung des Bereichs führen. Eine andere Möglichkeit, den Bereich für die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten einzugrenzen besteht darin, statt allgemeiner Überlegungen empirisches Material zu nutzen und nach Mustern zu suchen, die eine Verbindung zwischen bestimmten persönlichen Merkmalen und dem Erreichen gewisser Funktionen herstellen. Sen hat in seiner formalen Darstellung (Abschnitt 4.2.2) die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten als Ergebnis des Zusammenspiels von Budgetmenge und Menge an persönlichen Technologien also von persönlichen Ressourcen und Fähigkeiten dargestellt. Während es möglich ist, die Budgetmenge mit Hilfe des Einkommens zu schätzen, ist es sehr schwierig, Aussagen über die persönlichen d. h. die individuell verschiedenen Technologien zu treffen. Drei Möglichkeiten zur Herleitung von Typen können unterschieden werden und sind bisher genutzt worden: Erstens kann die Information über das Bündel erreichter Funktionen mit Informationen über vorhandene Ressourcen kombiniert werden. Hierbei wird unterstellt, dass alle Individuen dieselben Technologien zur Verfügung haben. Als Beispiele für dieses Vorgehen sind Ruggeri Laderchi (1997) und Lovell u. a. (1990) zu nennen. Ruggeri Laderchi berechnet mit Hilfe einer Probit-Analyse, wie das Einkommen die Wahrscheinlichkeit von Funktionsarmut beeinflusst. Sie untersucht damit die These, dass das Einkommen ein guter Indikator für Armut auch im Sinne von Funktionsarmut ist. Lovell u. a. stellen ein Input-Output Modell auf, bei dem sie Ressourcen als „Input“ und Funktionen als „Output“ sehen.
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
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Zweitens kann die Information über das Bündel erreichter Funktionen mit Informationen zu anderen Merkmalen wie Geschlecht, Berufsstatus etc. kombiniert werden. Die Individuen werden anhand der persönlichen Merkmale Referenzgruppen zugeordnet. Für jede Referenzgruppe wird dann eine Menge an persönlichen Technologien mit Hilfe von Daten über ihre Ressourcen und die erreichten Funktionen geschätzt. Diese Möglichkeit nutzt Hossein (1990, S. 45), wenn er eine Wahrscheinlichkeit dafür berechnet, dass eine Person mit einem bestimmten Berufsstatus (Landpächter, Tagarbeiter, Arbeitsloser) gut genährt ist.277 Das Vorgehen hat jedoch einen ad hoc Charakter, solange man nicht zwischen Indikatoren für persönliche Technologien und für Dimensionen des Bewertungsraums unterscheiden kann. Außerdem muss die Eignung von persönlichen Merkmalen als Indikatoren für persönliche Fähigkeiten begründet werden. Drittens ist die Typenbildung mittels Clusteranalyse zu nennen. Bei der Clusteranalyse werden die Referenzgruppen nicht anhand von persönlichen Merkmalen gebildet, sondern anhand der erreichten Funktionen. Eine Gruppe soll sich dabei einerseits ähneln und sich andererseits von den anderen Gruppen möglichst gut unterscheiden lassen. Schwenk (1999) wendet z. B. die Clusternanalyse an, um Lebenslagetypen herzuleiten. Er bezieht persönliche Merkmale dabei nur als „passive Variablen“ ein, um die Lebenslagetypen zu beschreiben. Die maximal bzw. minimal erreichten Funktionen lassen sich als Grenzen der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten für einen Lebenslagetyp verstehen. Wie Harrison (2001, S. 14f) argumentiert, ist das Problem an jeglicher Typenbildung, dass implizit oder explizit Bezug genommen wird auf „normale“ Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall auf den Durchschnitt von Bevölkerungen mit bestimmten Merkmalen, sei es das Einkommen wie im ersten Fall, seien es persönliche Merkmale wie Geschlecht und Berufsstatus wie im zweiten Fall oder seien es ähnliche Verhaltensmuster wie im dritten Fall. Dieses Vorgehen steht nach Harrison in einem Spannungsverhältnis zum Ansatz von Sen, der gerade das Zusammenspiel von individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten mit Güterbündeln in das Zentrum der Betrachtung rückt. Allerdings ist zu fragen, wie der Ansatz angewandt werden kann, ohne in irgendeiner Form auf einen „Normalfall“ Bezug zu nehmen.
Indikatoren und Maßzahlen Der vorangegangene Abschnitt 5.4.2 befasst sich mit der Rolle von Indikatoren im multidimensionalen Modell. Dabei beschränkt er sich auf die Betrach___________ 277
Ähnlich geht auch Kuklys (2004) vor.
300
5. Vergleich der Ansätze
tung einzelner Dimensionen oder von Bündeln. Bei der (empirischen) Erfassung der Auswahlmenge spielen neben Indikatoren andere Maßzahlen eine Rolle. Man kann zwischen zwei Aspekten einer Auswahlmenge unterscheiden: den Aspekt der Quantität und den der Qualität ihrer Elemente. Zur Erfassung der Quantität der Elemente einer Menge müssen Maßzahlen gefunden werden. Zur Erfassung der Qualität der Elemente lassen sich Indikatoren für die verschiedenen Dimensionen heranziehen. Indikatoren werden bspw. genutzt bei der Begrenzung der Auswahlmenge anhand von Plausibilitätsannahmen (s. o.). Sie dienen dazu, das erreichte Bündel empirisch zu bestimmen. Dieselbe Rolle spielen sie bei den verschiedenen Methoden der Typenbildung (s. o.). Die erreichten Bündel werden dabei in Beziehung zu den vorhandenen Ressourcen oder persönlichen Merkmalen gebracht, um die Menge an persönlichen Technologien empirisch zu schätzen. Bei dieser Methode ist zugleich das Einkommen eine Maßzahl für die Größe der Auswahlmenge. Folgt man Sens formaler Darstellung seines Ansatzes (vgl. Abschnitt 4.2.2), so bestimmt das Einkommen zusammen mit den Preisverhältnissen die Budgetmenge, also die Menge der erreichbaren Güterbündel. Je größer diese Menge ist, d. h. je mehr Güterbündel erreichbar sind, desto größer ist in der Regel die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten. Nach dieser Logik vermehrt eine Steigerung des Einkommens sowohl die Anzahl an Elementen der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten als auch die Streuung in der Qualität der Elemente. Die bisher genannten Methoden zur Erfassung der Auswahlmenge nehmen Bezug auf ein oder mehrere erreichte Bündel im Bewertungsraum und verwenden hierbei Indikatoren zur Erfassung der Bündel. Zusätzlich beziehen sie andere Informationen wie die Plausibilitätsannahmen oder Annahmen zum Zusammenhang zwischen Budgetmenge und Auswahlmenge heran. Einen Sonderfall stellen die Überlegungen von Nahnsen (1992a) und Volkert (2004) zur Erfassung der Auswahlmenge dar. Sie heben auf Rechte und Freiheiten ab. Unklar ist bei beiden, ob sie die erfassten Rechte und Freiheiten als Dimensionen des Bewertungsraumes, als Indikatoren dafür oder als Maßzahlen für die Größe und Qualität der Auswahlmenge sehen. Nahnsen (1992a) greift die These von den fünf Einzelspielräumen auf. Für jeden dieser Spielräume bildet sie einen Satz, der folgendermaßen beginnt: „Die Möglichkeit, Grundanliegen zu entfalten und zu realisieren, hängt ab von dem Maß ...“ (Nahnsen 1992a, S. 117f) Eine Verbesserung der „Möglichkeit“ kann sowohl eine Vermehrung der Anzahl der Elemente der Menge oder eine Anhebung der Qualität der Elemente bedeuten. Nahnsen stellt z. B. fest, dass in der DDR „die Möglichkeit zur legalen Kooperation“ weitgehend gefehlt habe, diese Möglichkeit aber eine „ganz entscheidende Vorbedingung >...@ für die
5.4 Allgemeine Probleme der Operationalisierung
301
Veränderung von Lebenslagen“ darstelle (Nahnsen 1992a, S. 127).278 Das Recht auf Kontakte und Kooperation – das Versammlungsrecht – deutet sie damit als Maßzahl für die Lebenslage im Sinne eines Gestaltungsspielraums. Deutlich ist daran zu erkennen, dass sie Maßzahlen für die Menge an erreichbaren Möglichkeiten – die Auswahlmenge – sucht und nicht bloß die erreichten und realisierten Möglichkeiten beschreiben will. Volkert (2004) bezieht sich auf Sen (1999a). Er sucht Indikatoren für die von Sen benannten fünf „instrumentellen Freiheiten“. Sen zählt folgende „instrumentelle Freiheiten“ auf: „(1) political freedoms, (2) economic facilities, (3) social opportunities, (4) transparency guarantees and (5) protective security“, und führt darüber aus: „... instrumental freedoms ... contribute, directly or indirectly, to the overall freedom people have to live the way they would like to live.“ (Sen 1999a, S. 38) Diese „instrumentellen Freiheiten“ beschreiben, wie eine Gesellschaft organisiert ist, und sind in der Regel politisch beeinflussbar und aus diesem Grunde für empirische Studien von Interesse (vgl. Politikrelevante Kriterien, S. 279). In welchem Zusammenhang die „instrumentellen Freiheiten“ zu den Verwirklichungsmöglichkeiten, die Sen (1999a) auch „substantielle Freiheiten“ (vgl. Abschnitt 4.2.4, Exkurs) nennt, stehen, ist nicht klar. Das Versammlungsrecht, das Nahnsen anspricht, steht sowohl in Verbindung mit (1) politischen Freiheiten als auch mit (4) der Garantie von Transparenz. Daher lässt sich das Versammlungsrecht als Indikator für die „Dimensionen“ politische Freiheit und Transparenz begreifen. Man kann aber auch argumentieren, dass die „instrumentellen Freiheiten“ die Größe der Auswahlmenge beeinflussen und daher entsprechende Variablen als Maßzahlen für den Umfang der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ansehen.
5.4.4 Zusammenfassung Um die in dieser Arbeit behandelten Ansätze anzuwenden, muss zuerst der theoretisch beschriebene Bewertungsraum in einen empirischen Bewertungsraum umgewandelt werden, indem die relevanten Dimensionen ausgewählt werden. Zwar lassen sich einige Kriterien zur Auswahl von Dimensionen in den Ansätzen finden, und weitere sind vorgeschlagen worden, doch zeigt sich bei einem Vergleich der Listen, die entsprechend der Kriterien zusammengestellt worden sind, dass das Ergebnis alles andere als eindeutig ist. Die Unterschiede in den Listen sind dabei nicht nur damit zu erklären, dass einige als vollständige Listen und andere als unvollständige Listen zu verstehen sind. Vielmehr geht mit dem Streben nach einer vollständigen Liste typischer___________ 278
Spiel.
Damit bringt Nahnsen den Aspekt der Flexibilität (siehe vorige Fußnote) ins
302
5. Vergleich der Ansätze
weise eine eher abstrakte Formulierung der Dimensionen einher, während die Beispiele für Dimensionen aus prinzipiell unvollständigen Listen eher konkret formuliert sind. Auch wenn die Listen mit abstrakt formulierten Dimensionen einige Ähnlichkeiten aufweisen, sind sie weiter als die Beispiele für konkret formulierte Dimensionen davon entfernt, den Bewertungsraum für empirische Studien abzubilden, denn der Zusammenhang mit Indikatoren ist loser. Generell müssen in Bezug auf die Auswahl der Indikatoren weitere Fragen beantwortet werden: Inwieweit bedingt die Vollständigkeit der Liste mit Dimensionen auch Vollständigkeit der Liste mit Indikatoren? Darf die Anzahl der Indikatoren die Anzahl der Dimensionen übersteigen? Darf derselbe Indikator für verschiedene Dimensionen herangezogen werden? Was ist eine Dimension, was ein Indikator? Die Frage nach der Anzahl von Indikatoren für eine Dimension deutet auf ein wichtiges Problem bei der Operationalisierung mehrdimensionaler Ansätze hin: Die teilweise erhobene Forderung nach „Überschneidungsfreiheit“ der Dimensionen kann ganz unterschiedlich interpretiert werden. Werden mehrere Indikatoren für eine Dimension verwendet, so stellt sich bereits auf dieser Ebene die Frage danach, ob und wie die Indikatoren für jede Dimension zu aggregieren sind. Die Verwendung von Indikatoren strukturiert den Ansatz also zusätzlich. Das Einkommen wird weder von den Lebenslage-Ansätzen noch vom „Capability“-Ansatz als Dimension des Bewertungsraumes benannt und entspricht auch nicht den vorgestellten Kriterien zur Auswahl von Dimensionen. Denkbar ist eher die Betrachtung des Einkommens als Indikator, wobei es sich nicht eindeutig einer Dimension als Indikator zuordnen lässt. Zudem ist das Einkommen auch eine mögliche Maßzahl für Eigenschaften der Auswahlmenge. Wie sich eine Auswahlmenge, d. h. die Lebenslage im Sinne eines „Spielraums“ bzw. die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten, erfassen lässt, ist eine Frage, die bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Für die Auswahlmenge sind die „Standardeigenschaften“ Konvexität und Kompaktheit nicht unbedingt plausibel. Hingegen lassen sich mit Bezug auf einzelne Dimensionen Begrenzungen des Bereichs, in dem die Menge liegt, plausibel herleiten. Dennoch wird die Möglichkeitenmenge meist mit Hilfe von Annahmen zu „typischem Verhalten“ bestimmter Referenzgruppen geschätzt. Hierbei werden Indikatoren herangezogen, um die Eigenschaften der Elemente der Möglichkeitenmenge zu erfassen. Daneben haben Maßzahlen die Aufgabe, die Größe der Menge einzuschätzen.
5.5 Armutsmessung
303
5.5 Armutsmessung Nachdem im Abschnitt 5.3 herausgearbeitet wurde, wie Armut in den hier betrachteten Ansätzen konzipiert wird, und im Abschnitt 5.4 allgemeine Fragen der Operationalisierung behandelt wurden, geht dieser Abschnitt darauf ein, wie Armut entsprechend der Konzepte gemessen werden kann und wie dabei die allgemeinen Fragen im Spezialfall Armutsmessung beantwortet werden. Zunächst wird im Abschnitt 5.5.1 kurz diskutiert, ob die Menge an Dimensionen, die für die Armutsmessung relevant ist, eine Teilmenge der möglichen Dimensionen ist, und es werden einige Listen mit Dimensionen, die sich ausdrücklich auf Armutsmessung beziehen, analysiert. Zudem wird wiederum nach der Rolle des Einkommens gefragt, diesmal in Bezug auf die Ermittlung von Armut. Der Abschnitt 5.5.2 geht auf die Struktur der Ansätze ein. Generell kann eine Messung erst dann als abgeschlossen gelten, wenn eine eindeutige und vollständige Ordnung erzielt wird. Ein multidimensionales Armutsmaß, wie es in Abschnitt 2.5.3 definiert worden ist, erzeugt eine solche Ordnung, aber ist die damit verbundene Struktur mit der Struktur der behandelten Ansätze (wie sie im Abschnitt 5.2.3 herausgearbeitet wurde) vereinbar? In Bezug auf die Definition multidimensionaler Armutsmaße werden sodann die Methoden gesetzt, die in verschiedenen Studien für die Armutsmessung gemäß der behandelten Ansätze verwandt wurden. Schließlich stellt sich noch einmal die Frage, welche Rolle das Einkommen spielt, wenn man Sens Einteilung in direkte versus ergänzende Anwendung seines Ansatzes folgt. In Abschnitt 5.5.3 stelle ich schließlich einige eigene Ideen zur Operationalisierung vor, die sich zum einen auf die Frage konzentrieren, wie sich Armut formal entsprechend der Ansätze definieren lässt, und zum anderen auf die Frage, wie sich eine Möglichkeitenmenge empirisch erfassen lässt. Abschnitt 5.5.4 fasst zusammen.
5.5.1 Dimensionen für die Armutsmessung Natürlich stellt sich die Frage, welche Dimensionen die Lebenslage-Ansätze und der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten für die Armutsmessung als relevant erachten. Nach der allgemeinen Frage, welche Dimensionen für das Wohlergehen als relevant erachtet werden und anhand welcher Kriterien sie auszuwählen sind, sowie ein Vergleich der auf diese Weise entstandenen Listen, ist die Frage hier spezieller, nämlich ob die für die Armutsmessung relevanten Dimensionen eine Teilmenge der als insgesamt relevant erachteten Dimensionen sind oder nicht. Zudem soll kurz auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einigen Listen mit Dimensionen für die Armutsmes-
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5. Vergleich der Ansätze
sung eingegangen werden. Die Frage, welche Rolle das Einkommen bei der Armutsmessung spielt, ob es als Dimension oder als Indikator und wenn ja, als Indikator wofür gesehen werden soll, wird am Schluss aufgegriffen.
Beschränkung der Anzahl der Dimensionen für die Armutsmessung? Ob die Anzahl der Dimensionen in bestimmten Fällen eingeschränkt werden darf oder nicht, hängt von der Vorstellung ab, die der jeweilige Ansatz über die Vollständigkeit der zu Grunde liegenden Liste mit Dimensionen hat. Während Nussbaum der Auffassung ist, ihre Liste sei vollständig, und folglich meint, in jeder der enthaltenen Dimensionen müsste ein Minimalstandard erreicht werden, um nicht arm zu sein, lehnt Sen diese Vorstellung ab (vgl. Abschnitte 4.3.4 und 4.5.1). Sowohl aus theoretischen Gründen als auch aus pragmatischen Überlegungen heraus regt er an, Armut anhand einiger weniger Dimensionen zu messen (Sen 1992a, S. 108). Interessanterweise übernimmt Alkire diese Idee, obwohl sie zunächst wie Nussbaum eine Liste herzuleiten versucht. Aber sie meint: „... it may still be possible to identify a subset of basic needs that constitute absolute poverty. One is looking for those capabilities which are indispensable to human flourishing but not sufficient for it.“ (Alkire 2002, S. 166)
Im Gegensatz zu Nussbaum, die alle Elemente ihrer Liste als notwendig für ein menschliches Leben erachtet, unterscheidet Alkire Elemente, die dafür notwendig sind, von solchen, die zusätzlich gegeben sein müssen, um von einem erfüllten menschlichen Leben zu sprechen. Implizit vertritt sie hiermit ebenfalls die Vorstellung von zwei Armutsgrenzen, nämlich einer, bei der alle notwendigen Elemente gegeben sind, und einer, bei der auch die hinreichenden Elemente gegeben sein müssen. Eine besondere Variante der Idee, dass zur Armutsmessung nur eine Teilmenge von Dimensionen nötig ist, entwickelt Robeyns (2000, S. 7ff). Sie unterscheidet grundlegende von „fundamentalen“ Verwirklichungsmöglichkeiten. Ihre „fundamentalen Verwirklichungsmöglichkeiten“ stellen eine den „grundlegenden Verwirklichungsmöglichkeiten“ übergeordnete Kategorie dar. So spricht sie von einer „fundamentalen Verwirklichungsmöglichkeit der Gesundheit und körperlichen Wohlbefindens“, die aus einigen „grundlegenden Verwirklichungsmöglichkeiten“ wie der Vermeidung eines vorzeitigen Todes, ausreichender Ernährung usw. bestünde und einigen nicht grundlegenden wie der Freiheit von Kopfschmerzen, dem Zugang zu kosmetischer Chirurgie und ähnlichem. Im Prinzip entsprechen somit ihre „fundamentalen Verwirklichungsmöglichkeiten“ den Elementen der Liste von Nussbaum, und ihre „grundlegenden Verwirklichungsmöglichkeiten“ sind ebenso wie bei Nussbaum als Minimalstandards zu verstehen. Man kann ihre „grundlegenden
5.5 Armutsmessung
305
Verwirklichungsmöglichkeiten“ auch als Indikatoren für die Erfüllung der „fundamentalen Verwirklichungsmöglichkeiten“ – ihrer Dimensionen – interpretieren. Somit stellt sich die Frage, ob die Positionen so unvereinbar sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung des Ansatzes spielt die Definition von Funktionen, Verwirklichungsmöglichkeiten und die Verwendung von Indikatoren. Bezüglich der Lebenslage-Ansätze lässt sich festhalten, dass weder Neurath noch Weisser von einer vollständigen Liste ausgehen und somit denkbar ist, dass sie einer Beschränkung der Anzahl der Dimensionen für die Armutsmessung zustimmen würden. Doch wird in den Schriften zu diesen Ansätzen dieses Problem nicht ausdrücklich diskutiert.
Vorgeschlagene Dimensionen für die Armutsmessung Schaut man sich nun die Vorschläge an, welche Dimensionen zur Armutsmessung herangezogen werden sollen, so fällt auf, dass die entsprechenden Listen meist nur wenige Punkte enthalten: Im HPI werden drei Dimensionen (Gesundheit, Bildung und Einkommen) abgefragt, Nahnsen unterscheidet fünf279 Einzelspielräume (siehe Abschnitt 3.3.2), Desai schlägt fünf grundlegende Funktionen vor (siehe Abschnitt 4.5.1), Robeyns (2000, S. 9) benennt sechs „fundamentale Verwirklichungsmöglichkeiten“ (Wohnen, Gesundheit, Bildung, soziale Beziehungen, psychisches Wohlergehen und Sicherheit), selbst die Liste von Finnis, die Alkire favorisiert, enthält nur sechs Punkte, und Nussbaum führt zehn Punkte an (siehe Abschnitt 4.5.1). All diesen Vorschlägen gemeinsam ist die Betrachtung von Gesundheit und Bildung – in variierender Ausführlichkeit – und in irgendeiner Form die Einbettung des Individuums in die Gesellschaft. Dahinter steckt die Überzeugung, dass ein Leben in Isolation für einen Menschen unwürdig ist, dass ein isolierter Mensch etwas sehr grundlegendes, nämlich den Kontakt zu anderen Menschen entbehrt. In der Konsequenz führt die Betrachtung des Menschen als soziales Wesen erstens zu einem relativen Moment in der Auffassung von Armut und zweitens zu den Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Konzepten, weil sich kein „objektiv notwendiges“ Maß an sozialen Kontakten bestimmen lässt. ___________ 279 Hier ist außerdem das „Pentagon der Armut“ zu nenne, das z. B. Iben (1989, 1991) als Modell für den Lebenslage-Ansatz anführt. Auch wenn der Bezug auf den Lebenslage-Ansatz hier verneint wird (siehe Fußnote in Abschnitt 3.3.2), so muss man doch feststellen, dass die Darstellung als „Pentagon“ attraktiv ist.
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5. Vergleich der Ansätze
Die Rolle des Einkommens Einigkeit herrscht zwischen den Ansätzen, dass Einkommen in erster Linie ein Mittel zum Zweck ist und nicht der Zweck selbst. Bei allen Autoren finden sich Textstellen, die belegen, dass unter anderem die Unzufriedenheit mit der Messung des Wohlergehens anhand des Einkommens sie zur Entwicklung eines alternativen Ansatzes veranlasst hat. Neurath nimmt hierbei als Befürworter einer Naturalwirtschaft die radikalste Position ein, reicht doch seine Vorstellung soweit, Geld sogar als Recheneinheit abzuschaffen (siehe Abschnitt 3.1.2). Hingegen nutzt Sen die Frage nach der richtigen Maßeinheit zur Verortung seines Ansatzes zwischen Theorien, die Ressourcen, Güter und somit auch Einkommen als geeignetes Maß für Wohlergehen ansehen, einerseits und andererseits der Nutzentheorie (vgl. Abschnitt 4.1.2). Weisser fasst die Rolle des Geldes in folgenden Sätzen zusammen: „In jeder Gesellschaftswirtschaft mit Geldeinkommen und in Geld ausgedrückten Vermögenswerten, bestimmt sich die Lebenslage der Gesellschaftsmitglieder in gewissem Maße durch die Verfügung über Geldeinkünfte und Vermögen. ... Trotzdem gibt es bei der Bestimmung des Wertes von Lebenslagen sehr viel zu beachten, was nicht einfach durch Geldgrößen ausgedrückt werden kann.“ (Weisser 1962, S. 20)
Wiederum ist es vor allem Sen, der sich bemüht, die Beziehung zwischen Einkommen auf der einen Seite und Wohlergehen auf der anderen Seite zu klären. Insbesondere macht er darauf aufmerksam, dass erstens das Einkommen innerhalb eines Haushaltes ungleich verteilt sein kann (wie auch Weisser 1957a, S. 12f bemerkt), dass zweitens eine Benachteiligung bei der Einkommenserzielung mit einer Benachteiligung bei der Einkommensverwendung gekoppelt sein kann und dass drittens relative Einkommensarmut zu absolut geringeren Teilhabemöglichkeiten in einer Gesellschaft führen kann (vgl. Abschnitt 4.4.4). All diese Überlegungen klären jedoch nicht, ob das Einkommen bei der Ermittlung von multidimensionaler Armut überhaupt eine Rolle spielen soll und wenn ja, welche (vgl. dazu auch S. 312). Diesbezüglich schreibt Sen: „In the income space, the relevant concept of poverty has to be inadequacy (for generating minimally acceptable capabilities), rather than lowness (independently of personal characteristics).“ (Sen 1992a, S. 111)
Diese Idee, dass das Einkommen den Bedürfnissen der jeweiligen Person angemessen sein sollte, findet sich auch in Neuraths Überlegungen zum Mindesteinkommen und Weissers Ausführungen „Über die Unbestimmtheit des Postulats der Maximierung des Sozialprodukts“ (1953). Eine konsequente Umsetzung dieser Idee in der Armutsmessung besteht darin, Äquivalenzskalen zu entwickeln, welche das Einkommen bestimmten Bedürfnissen anpassen. Dies ist ein Weg, den Sen ausdrücklich erwähnt, der jedoch bisher noch kaum beschritten wurde (vgl. Abschnitt 4.5.3).
5.5 Armutsmessung
307
In den empirischen Arbeiten gehen Neurath, das von Weisser geförderte Otto-Blume-Institut und auch Sen den Weg, das Einkommen als eine von mehreren Dimensionen anzusehen. Dies lässt sich entweder verstehen als Versuch, das Verhältnis zwischen dem Einkommen und anderen Dimensionen zunächst empirisch zu untersuchen, um später die Angemessenheit des Einkommens genauer fassen zu können. Oder man deutet dies als Indiz für die Ansicht, dass das Einkommen auch einen intrinsischen Wert neben seiner Rolle als Mittel zum Zweck hat. Oder das Einkommen wird als eine Art Indikator für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse gesehen, die sich nicht isoliert erfassen lassen. So oder so bleibt die Feststellung, dass die Ausführungen zur Rolle des Einkommens bei der Armutsmessung in den Ansätzen zu wünschen übrig lassen.
5.5.2 Struktur der Ansätze und Armutsmessung Im Abschnitt 5.4 wurde darauf hingewiesen, dass sich die Struktur der Ansätze bei der Operationalisierung der Ansätze durch die Verwendung von Indikatoren verändert. Dies gilt generell auch für die Anwendung der Ansätze auf die Armutsmessung. Hier wird die Struktur der Ansätze zunächst daraufhin untersucht, inwieweit sie vereinbar mit einer vollständigen Ordnung sind. Dann wird sie der Struktur gegenübergestellt, die Bourguignon und Chakravarty bei ihrer Definition multidimensionaler Armutsmaße entwickelt haben. Die Rolle der Methoden, die bei der Anwendung der Ansätze auf die Armutsmessung verwandt worden sind, wird im Hinblick auf die Struktur erörtert und schließlich die Frage gestellt, ob sich direkte und ergänzende Anwendung der Ansätze, wie Sen sie nennt, überhaupt unterscheiden.
Vollständigkeit der Ordnung Armutsmessung im engeren Sinne ist nur mit einem Armutsmaß möglich. Ein Armutsmaß ordnet jeder Situation eine Zahl zu, die das Ausmaß an Armut, welche in der Situation herrscht, erfassen soll. Anhand eines Armutsmaßes ist es möglich, verschiedene Situation auf das Ausmaß von Armut in ihnen zu vergleichen und vollständig zu ordnen. Neurath kritisiert an diesem Vorgehen (vgl. Abschnitt 3.1.2) erstens, dass in einem multidimensionalen Armutsmaß Größen miteinander kombiniert werden, die in unterschiedlichen Einheiten gemessen werden. Dies ist in der Tat ein großes Problem bei der Indexbildung, und es lohnt sich, darüber nachzudenken, welche Auswirkungen dies auf die Aussagekraft von Indizes hat (Ebert/ Welsch 2004). Zweitens kritisiert Neurath, dass die daraus resultierende Ordnung von Referenzgrößen, wie bspw. der Struktur der Referenzgesellschaft,
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5. Vergleich der Ansätze
abhängen kann. Er fordert, dass die Ordnung auch bei der Wahl einer anderen Referenzgröße erhalten bleiben soll. Doch bei aller Kritik an der Indexbildung und bei allen Warnungen vor der Vorläufigkeit ihrer Ergebnisse orientiert sich auch Neurath an der Bildung eines Indexes, wenn er hartnäckig nach einer Möglichkeit sucht, Lebenslagen zu vergleichen. Nussbaum (z. B. 1992, S. 222), die es prinzipiell ablehnt, die Dimensionen miteinander zu vergleichen, gesteht ein, dass dadurch die Anwendbarkeit des Ansatzes begrenzt sei. Sie erkennt damit an, dass die Vollständigkeit der Ordnung bei der Anwendung des Ansatzes wünschenswert ist. Sen kritisiert nicht die Bildung eines Indexes als solche, sondern ihre Eigenschaft der Vollständigkeit, weil er – wie Neurath – meint, sie sei dem Thema Lebensstandard und insbesondere Armut nicht angemessen. Unserer mehrdeutigen, vagen und eben unvollständigen Vorstellung von Armut müsse sich in dem Vorgehen widerspiegeln, mit dem wir sie messen (vgl. Abschnitt 4.3.4 und 4.5.4). Die Kritik von Sen richtet sich nicht prinzipiell gegen die Bildung eines Armutsmaßes, wie daran zu erkennen ist, dass er selbst mit Anand (Anand/Sen 1997) zusammen den HPI entwickelt. Das Plädoyer für Unvollständigkeit der von einem Armutsmaß generierten Ordnung steht in Zusammenhang mit Sens Eintreten für Pluralität der Auffassungen von Armut. Führt die Vollständigkeit der durch ein Armutsmaß generierten Ordnung dazu, dass sie exakt so verstanden wird – als eindeutig und entscheidend, so widerspricht dies der Vorstellung Sens, dass mehrere Ansichten über Armut nebeneinander existieren können. Partielle Armutsordnungen, für die Sen eintritt, setzen diese Vorstellung direkt um, weil sie auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner von Auffassungen über Armut aufbauen. Daneben mahnt die Vorstellung von verschiedensten Auffassungen über Armut dazu, die Ergebnisse von Armutsmessungen sorgsam und vorsichtig zu interpretieren.
Struktur der Ansätze und Struktur multidimensionaler Armutsmaße In drei Punkten sind sich die Vertreter sowohl der Lebenslage-Ansätze als auch des „Capability“-Ansatzes weitgehend einig: Erstens sehen sie die Lebenslage bzw. die Funktionen als objektive, beobachtbare und zumindest ordinal messbare Größe an. Zweitens ist ihnen die Multidimensionalität der Ansätze wichtig und drittens tendieren sie alle zu einer „absoluten“ Armutsgrenze. Inwiefern fügen sich diese Überlegungen in das Schema multidimensionaler Armutsmessung, das Bourguignon und Chakravarty (1998, 2003, vgl. Abschnitt 2.5.3) entwickeln? Nach Bourguignon und Chakravarty lässt sich die Armutsmessung in drei Schritte unterteilen: Im ersten Schritt muss die Gruppe der Armen identifiziert
5.5 Armutsmessung
309
werden, im zweiten wird die Armut über die Dimensionen und im dritten über die Individuen aggregiert. Erfolgt zuerst der Schritt der Identifikation mit Hilfe von Armutsgrenzen für alle Dimensionen, so entspricht das Vorgehen der Definition multidimensionaler Armutsmaße aus Abschnitt 2.5.3. Die drei Schritte multidimensionaler Armutsmessung sind von Bourguignon und Chakravarty für die Betrachtung multidimensionaler Bündel entwickelt worden. Hier unterscheiden sie beim Schritt der Identifikation zwischen der Schnittmengendefinition – nur diejenigen sind arm, die unter alle Armutsgrenzen fallen – und der Vereinigungsmengendefinition – alle, die unter mindestens eine Armutsgrenze fallen, sind arm (vgl. Abschnitt 2.5.4). Das allgemeine Plädoyer von Neurath und Sen für Dominanz als Konzept für Vergleiche im multidimensionalen Raum wie auch Nussbaums Konzept der Armutsgrenze legt die Vereinigungsmengendefinition nahe, aber keiner der drei beschäftigt sich explizit mit diesem Problem. Der zweite Schritt von Bourguignon und Chakravarty – die Aggregation über die Dimensionen – bringt die Frage mit sich, wie die Dimensionen sich zueinander verhalten. Für einige Aggregationsverfahren, bei denen die Dimensionen als separable Größen einfließen wie bspw. die Addition, beinhaltet dies die Frage, wie die Dimensionen zu gewichten sind und ob sich die Gewichte womöglich mit dem Erreichen bestimmter Niveaus ändern. Das von Neurath und Sen vorgeschlagene Verfahren der Dominanz geht zumindest davon aus, dass in jeder Dimension mehr besser ist (Monotonie), vermeidet aber weitere Festlegungen zum Verhältnis der Dimensionen zueinander.280 Der dritte Schritt bei Bourguignon und Chakravarty – die Aggregation über die Individuen – stellt die Frage nach der Verteilung in den Vordergrund. Verschiedene Verteilungsmaße sind dabei denkbar. Wiederum kann eine Dominanzordnung die Verteilungen zumindest partiell ordnen. Inwieweit Neurath und Sen Dominanz auch für diesen Schritt propagieren, ist nicht klar. Dennoch lässt sich feststellen, dass es möglich ist, für die Lebenslage im Sinne Neuraths oder für Sens Funktionen multidimensionale Armutsmaße entsprechend der Definition in Abschnitt 2.5.3 zu definieren. Bezüglich der Ansätze von Grelling, Weisser und Sen, die eine Auswahlmenge vorsehen, stellt sich ferner die Frage, wie eine „Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten“ oder eine Lebenslage im Sinne einer Auswahlmenge zu konstruieren ist, wie ihr Wert zu bestimmen ist, und welche Rolle sie genau bei der Ermittlung von Armut spielen soll. All diese Fragen werden von Grelling und Sen zwar gestreift, aber nicht beantwortet. ___________ 280
Auch Nussbaum tritt für eine Dominanzordnung ein, indem sie von der Unvergleichbarkeit der „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ (ihrer Dimensionen) spricht und fordert, jede (Dimension) für sich zu betrachten.
5. Vergleich der Ansätze
310
Eine Definition von Armut als „Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten“ oder als „sozial schwache Lebenslage“ kann nicht auf denselben Überlegungen fußen, wie die Armutsmessung mithilfe eines multidimensionalen Armutsmaßes im obigen Sinne. Die Einteilung in die drei Schritte: Identifikation, Aggregation über Dimensionen und Aggregation über Individuen ist nicht auf die Betrachtung von Teilmengen des Bewertungsraumes zu übertragen. An Stelle der Dimensionen des Bewertungsraumes sind es die Eigenschaften der Teilmenge – ihre Größe sowie die Qualität ihrer Elemente (s. o.) – die für die Bewertung entscheidend sind, so dass den Armutsgrenzen bestenfalls die Rolle zukommt, die Qualität einiger Elemente der Teilmenge zu kennzeichnen. Sen (1985a, S. 51ff, 1990, S. 468ff, 1991) diskutiert verschiedene Methoden der Mengenbewertung, bei denen die Existenz gemeinsamer Elemente als Ausgangspunkt dient.281 Eventuell lässt sich bei Weissers Definition von „sozialer Schwäche“ anknüpfen, die den Eintritt von „Ereignissen“ zum Kriterium erhebt und so die Zeit ins Spiel bringt. Auf jeden Fall sollte aber der Zusammenhang zwischen einem multidimensionalen Armutsmaß für Funktionen und Armut als Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten, zwischen einer Definition von „armer Lebenslage“ im Sinne Neuraths und „sozial schwacher Lebenslage“ im Sinne Weissers nicht aus den Augen verloren werden.
Methoden – und ihre Rolle bei der Armutsmessung Welche Methoden werden nun in der Armutsmessung gemäß der Ansätze an welcher Stelle eingesetzt? Von den multivariaten Methoden werden die Faktor- und die Hauptkomponentenanalyse eingesetzt, um erstens die relevanten Dimensionen zu bestimmen (siehe Abschnitt 5.3.3 und 5.4.1) und zweitens das Verhältnis der Dimensionen zueinander zu bestimmen. Die erste Aufgabe – Auswahl der Dimensionen – setzen Bourguignon und Chakravarty bereits voraus. Die zweite Aufgabe bereitet die Aggregation über Dimensionen oder über Indikatoren für eine Dimension (Schwenk 1999) vor. Nur eine der von mir betrachteten Studien, welche die Faktor- oder Hauptkomponentenanalyse verwenden, hat die Messung der Armut (und nicht des Wohlergehens) zum Ziel, nämlich die Studie von Klasen (2000). Der Schritt der Identifikation der Armen ist bei ihm allerdings nicht der erste Schritt, sondern erfolgt als Letzter nach der Bildung eines Deprivationsindexes (vgl. Abschnitt 4.5.4), so dass seine Art der Armutsmessung nicht in Einklang mit der hier angenommenen Definition eines multidimensionalen Armutsmaßes (Abschnitt 2.5.3) steht. ___________ 281
Vgl. die Diskussion zu Problemen der Mengenbewertung in Abschnitt 4.2.3.
5.5 Armutsmessung
311
Ein weiteres multivariates Verfahren, die Clusteranalyse, wird von Schwenk (1999) eingesetzt, um Lebenslage-Typen (im Sinne Weissers) zu bilden, von denen er einige als Lebenslagen mit „eindeutig nachteiligen Lebensbedingungen“ kennzeichnet. Die Clusteranalyse stellt sozusagen eine Alternative dar zur Identifikation der Armen durch die Festlegung von Armutsgrenzen. Nicht das Unterschreiten einer oder mehrerer Armutsgrenzen, sondern die Ähnlichkeit des gesamten Erscheinungsbildes führt zur Zugehörigkeit zur Gruppe der Armen. Die Clusteranalyse leistet zugleich eine partielle Aggregation über Individuen und Dimensionen.282 Neben multivariaten Methoden werden die Fuzzy-set Theorie und die Methode der stochastischen Dominanz angewandt, um die als nachteilig angesehenen Eigenschaften von Armutsmaßen abzumildern. Die Fuzzy-set Theorie wird hauptsächlich angewandt, um dem Schritt der Identifikation der Armen seine Schärfe zu nehmen (Chiappero Martinetti 1994, 1996, 2000, Baliamoune 2003, siehe Abschnitt 4.5.4), aber auch der Schritt der Aggregation über die Individuen wird dadurch verändert. Die Fuzzy-set Theorie wurde jedoch bisher nicht angewandt, um das Verhältnis der Dimensionen zueinander „unscharf“ zu definieren. Mit Hilfe der Methode der stochastischen Dominanz lässt sich der Schritt der Identifikation umgehen. Hierbei werden immer zwei Situationen daraufhin verglichen, in welcher die Armut geringer ist, bzw. in welcher die Gruppe der Armen kleiner ist. Für die Armutsgrenze wird dabei ein Schwankungsbereich definiert (siehe Abschnitt 2.4.1 und 2.5.5). Eine Aggregation über die Dimensionen kann mit Hilfe von Dominanzüberlegungen ebenfalls umgangen werden. Das Ergebnis ist aber eine unvollständige Ordnung von Situationen, die erst durch Annahmen über das Verhältnis der Dimensionen zueinander und eine entsprechende Form der Aggregation vollständiger gemacht werden kann. Auch bezüglich der Aggregation über Individuen besteht dieser Trade-off zwischen Festlegung einer Form für die Aggregation und Unvollständigkeit. Generell ist festzuhalten, dass die Methode der Dominanz zu jedem der Schritte zur Bildung eines Armutsmaßes ein Konzept liefert, um die Robustheit der Ergebnisse bezüglich dieses Schrittes zu überprüfen. Die qualitative Lebenslage-Forschung, die sich auf Nahnsen beruft, wie auch der narrative Ansatz von Nussbaum (2000) steht mit der Bildung eines Armutsmaßes nur in losem Zusammenhang. Beide, Nahnsen (1990) wie Nussbaum (2000), machen Vorschläge für die Definition einer Armutsgrenze und setzen sich insofern mit der Frage der Identifikation auseinander. Aber eine (quantitative) Aggregation streben beide nicht an. Nahnsen handelt jeden ___________ 282 Vgl. zur Rolle von multivariaten Methoden bei der Erstellung eines Armutsmaßes auch Brandolini und D’Alessio (1998, S. 18, Fußnote).
312
5. Vergleich der Ansätze
ihrer „Einzelspielräume“ ab und versucht, die Lebenslage der gesamten ostbzw. westdeutschen Bevölkerung einzuschätzen; während Nussbaum an einzelnen Fällen das Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen des Lebens zu verdeutlichen sucht. Die qualitativen Methoden bereiten die quantitative Erfassung multidimensionaler Armut vor und ergänzen sie. Der Forderung Schwenks (1999), bei der Beschreibung und Erfassung von Lebenslagen einen Methodenmix anzuwenden, ist insofern zuzustimmen. In ähnlicher Weise plädiert auch Robeyns (2000) dafür, die Methodenvielfalt, die bei der Umsetzung des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten entstanden ist, beizubehalten. Zur Ermittlung und Interpretation von Armut verstanden als eingeschränkter Handlungsspielraum (Weisser) oder Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten (Sen) liegen bislang wenig Vorschläge vor (vgl. Abschnitt 4.4.2 und 5.4.3).
Direkte versus ergänzende Anwendung multidimensionaler Ansätze in der Armutsmessung Sen (1999a, S. 82, vgl. Abschnitt 4.5.3) unterscheidet die direkte von der ergänzenden (und von der indirekten) Anwendung seines Ansatzes. Die ergänzende Anwendung besteht darin, traditionelle Methoden des interpersonellen Einkommensvergleichs um Informationen zu Verwirklichungsmöglichkeiten zu ergänzen. Die Ergänzung sei oft eher informell und konzentriere sich auf Variablen, die Einfluss auf die Verwertbarkeit des Einkommens zur Erreichung von Verwirklichungsmöglichkeiten haben wie bspw. die Verfügbarkeit von Gesundheitsdiensten, das Ausmaß von Arbeitslosigkeit usw.. Das Problem an dieser Einteilung Sens ist, dass das Einkommen auch von ihm selbst nicht als „Funktion“ betrachtet wird. Eine Untersuchung, die das Einkommen als eine Dimension – und somit als eine Funktion – behandelt, ist nicht eindeutig einer von Sens Kategorien zuzuordnen. Einerseits tut eine solche Untersuchung so, als sei sie eine direkte Anwendung des Ansatzes mit dem Einkommen als einer von vielen Dimensionen, andererseits lässt sich eine solche Untersuchung als ergänzende Anwendung interpretieren, weil das Einkommen in Sens Ansatz (und den Lebenslage-Ansätzen) nicht als relevante Dimension gesehen wird, sondern eher als Indikator (siehe Abschnitt 5.4.2). Deshalb wird, wenn das Einkommen als eine von mehreren Dimensionen erhoben wird, gewissermaßen eine traditionelle Ungleichheitsmessung anhand des Einkommens lediglich ergänzt um die Betrachtung anderer Variablen. Was ist nun unter ergänzender Betrachtung im Falle der Armutsmessung zu verstehen? Im Unterschied zur Ungleichheitsmessung identifiziert die Armutsmessung zunächst die Gruppe der Armen über Armutsgrenzen. Unter
5.5 Armutsmessung
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ergänzender Anwendung lässt sich folglich eine Untersuchung verstehen, welche die Gruppe der Armen nur über das Einkommen identifiziert oder zumindest der Einkommensarmut Priorität einräumt, aber auch nach Funktionsarmut und ihrem Zusammenhang mit Einkommensarmut fragt, wie bspw. die Studie von Balestrino (1996). Die Einteilung scheint sich also für die Armutsmessung klarer fassen zu lassen als für die Messung des Lebensstandards. Dennoch bleibt die Frage bestehen, welche Rolle das Einkommen spielt: Mit welcher Begründung lässt es sich als eine von mehreren Dimensionen betrachten (Abschnitt 5.4.1)? Wenn es als Indikator betrachtet wird, was indiziert es – eine Dimension oder Eigenschaften der Auswahlmenge (Abschnitt 5.4.2)? Lässt sich der Zusammenhang zwischen Budgetmenge, die sich aus dem Einkommen und den Preisverhältnisse ergibt, und der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten näher bestimmen?
5.5.3 Zusammenfassung Insgesamt kann weder beim Lebenslage-Ansatz noch beim „Capability“Ansatz von einem durchgängigen Konzept für die Armutsmessung gesprochen werden. Es finden sich aber viele einzelne bruchstückhafte Überlegungen. Was die Auswahl der für die Armutsmessung relevanten Dimensionen anbelangt, haben die meisten Vertreter der Ansätze keine Bedenken, die Anzahl der Dimensionen zu beschränken und somit eine „unvollständige“ Liste zugrunde zu legen. Einzig Nussbaum lehnt dies ab. Allerdings ist auch ihre Liste mit zehn „zentralen funktionalen Fähigkeiten“ nicht allzu lang, wenn auch länger als die anderen Listen aus der Literatur. Betrachtet man nicht nur die Liste mit Dimensionen, sondern auch die Liste der Indikatoren, wird deutlich, dass Nussbaums Position nicht so unvereinbar mit anderen ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Insbesondere Robeyns Vorschlag, zwischen „fundamentalen“ und „grundlegenden Verwirklichungsmöglichkeiten“ zu unterscheiden, lässt sich als Ausführung von Nussbaums Position interpretieren. Die Bemerkungen zu dieser Problematik aus dem Abschnitt 5.4 können nur unterstrichen werden: Es ist wichtig, zwischen Dimensionen und Indikatoren klar zu unterscheiden und zu verdeutlichen, ob sich der Begriff „Unvollständigkeit“ auf die Liste an Dimensionen oder die Liste an Indikatoren bezieht oder aber auf die Ordnung durch die Armutsmessung. Soll die Armut auf Grundlage der Betrachtung mehrdimensionaler Bündel wie Sens Funktionen oder Neuraths Lebenslage gemessen werden, so steht mit den Arbeiten von Bourguignon und Chakravarty ein gutes konzeptionelles Gerüst zur Verfügung. Freilich stellen sich innerhalb dieses Rahmens etliche Probleme, für deren Lösung verschiedene Methoden zur Verfügung stehen: Multivariate Methoden bspw. werden zur Auswahl der Dimensionen bzw.
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5. Vergleich der Ansätze
Indikatoren ebenso benutzt wie zur Identifikation der Armen oder zur Aggregation der Armut. Generell ist denjenigen Autoren – wie Schwenk und Robeyns – zuzustimmen, die fordern, verschiedenste Methoden zu nutzen und zu kombinieren, weil es zu jedem Problem mehrere Lösungen gibt und immer wieder neu nach den für die jeweilige Untersuchung besten Methoden gesucht werden muss.
6. Ergebnisse und Perspektiven Der erste Abschnitt dieses Kapitels ist den Ergebnissen der Arbeit, insbesondere den Ergebnissen des Vergleichs aus Kapitel 5 gewidmet. Zusammenfassend werden noch einmal die Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Ansätzen genannt, ihre Besonderheiten hervorgehoben und ihre Stärken und Schwächen abgeleitet, um eine abschließende Einschätzung der Ansätze im Vergleich vorzunehmen. Der zweite Abschnitt des Kapitels zieht Schlussfolgerungen aus der Arbeit und skizziert Ideen für weitere Forschung die sich aus der Arbeit ergeben.
6.1 Ergebnisse des Vergleichs Die Ansätze Bei der Vorstellung der Ansätze wurde deutlich, dass weder der LebenslageAnsatz noch der „Capability“-Ansatz so einheitlich ist, wie oft der Anschein erweckt wird. Die Arbeit stellt die Entwicklung des Lebenslage-Ansatzes von Neurath über Grelling zu Weisser vor und weist dabei erstmals darauf hin, dass Grelling eine Umdeutung des Begriffs der „Lebenslage“ vorgenommen hat, ohne die der Lebenslage-Ansatz Weissers schwer verständlich ist. Der Beitrag von Grelling – den sonst nur Hillen (1975) erwähnt – stellt die Schnittstelle zwischen Neuraths und Weissers Ansatz dar. Einerseits lässt sich erst mit der Kenntnis von Grellings Definition von Lebenslage als Auswahlmenge Weissers Beschreibung der Lebenslage als „Spielraum“ wirklich begreifen, andererseits ist Grellings Definition der Lebenslage als Bündel befriedigter Interessen auch Neuraths Beschreibung der Lebenslage als Bezeichnung jener Umstände, die auf die Lebensstimmung einwirken, nahe. So erweist sich Grellings Beitrag zugleich als Trennscheibe und Bindeglied zwischen Neuraths und Weissers Ansatz. Obwohl der Schwerpunkt der Arbeit von Beginn an auf dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten von Sen und nicht dem „Capability“-Ansatz im Ganzen liegt, setzt sie sich doch auch mit Nussbaums Variante des „Capability“-Ansatzes auseinander. Einige empirische Arbeiten beziehen sich auf Nussbaums Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten und sehen sie als integra-
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6. Ergebnisse und Perspektiven
len Bestandteil des „Capability“-Ansatzes an, ohne zwischen Sens und Nussbaums Variante davon zu differenzieren. Gerade für die Anwendung des Ansatzes besteht aber m. E. ein großer Unterschied zwischen den beiden Varianten. Prinzipiell lehnt Nussbaum eine Abwägung der verschiedenen Dimensionen gegeneinander ab. Sie orientiert sich bei der Bewertung von Fähigkeiten sowohl an den grundlegenden Fähigkeiten (basic capabilities), die ihre Minimalforderung darstellen, als auch am Potential eines Menschen (internal capabilities), dessen Realisierung als Maximalziel dient. Auch Sen strebt nicht die Abwägung der verschiedenen Dimensionen gegeneinander an, sondern den Vergleich verschiedener Bündel von Funktionen miteinander. Er betrachtet daher die Dimensionen nicht einzeln, sondern immer die Kombination von erreichten Niveaus der Funktionen. Seine Forderung, gewisse grundlegende Verwirklichungsmöglichkeiten sollten für alle gegeben sein, ähnelt zwar der Minimalforderung Nussbaums, aber Sen geht es in erster Linie um mehr „Freiheit zu Wohlergehen“, also eine Vergrößerung und qualitative Aufwertung der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten. Diese sind in Nussbaums Modell m. E. nicht abzubilden.
Gemeinsamkeiten Allen in dieser Arbeit behandelten Ansätzen gemeinsam ist die Vorstellung, dass das Einkommen ein unvollständiges Bild vom Lebensstandard eines Menschen zeichnet, sich aber auch die Kategorie des Nutzens nicht zur Erfassung desselben eignet. Das Grundproblem beider Kategorien – Einkommen wie Nutzen – ist, dass sie das Wohlergehen in einer Dimension messen. Demgegenüber wird von allen hier behandelten Ansätzen die Auffassung vertreten, das Wohlergehen sei nur multidimensional zu erfassen. Sie suchen nach einer Kategorie zur Erfassung des Lebensstandards, die ihn direkter und objektiver als der Nutzen erfasst, aber dennoch der individuellen, subjektiven Prägung des Lebensstandards gerecht wird. Obwohl alle hier behandelten Ansätze insbesondere im Zusammenhang mit der Konzeption und Erfassung von Armut diskutiert werden, treffen sie erstaunlich wenig Aussagen zu Armut. Stattdessen konzipieren die Ansätze Wohlergehen im Allgemeinen, legen dann aber einen Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf das eingeschränkte Wohlergehen der Armen (Sen) bzw. der sozial Schwachen (Weisser). Neurath und Sen stellen beide zu Beginn ihrer Beschäftigung mit dem Lebensstandard fest, dass die ordinale Messbarkeit des Nutzens nicht ausreicht, um interpersonelle Vergleiche durchzuführen. Dann gehen beide dazu über, die Lebensumstände der Individuen detailliert und in ihrer Mehrdimensionalität zu beschreiben, um den Lebensstandard zu erfassen. Ein Vergleich des Lebens-
6.1 Ergebnisse des Vergleichs
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standards sollte sich ihrer Meinung nach zunächst auf die Feststellung von Dominanzrelationen beschränken. Neurath steht dabei der Bildung eines Indexes, die verbunden wäre mit einer Gewichtung der verschiedenen Dimensionen, kritischer gegenüber als Sen und fordert gemeinsam mit Nussbaum, die Dimensionen als unvergleichbar anzusehen. Grelling führt in den Lebenslage-Ansatz die Vorstellung ein, die konkreten Lebensumstände entsprängen einer Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten. Damit ähnelt die Struktur seines Ansatzes der Struktur von Sens Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten, der ebenfalls davon ausgeht, dass die Individuen aus der Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ein Bündel von Funktionen auswählen. Bei Weisser und Nussbaum steht die Auswahl der Dimensionen im Vordergrund und die Suche nach Kriterien dafür. Während Nussbaum eine Liste zusammenstellt, die für Menschen aus verschiedenen Ländern und Zeiten gelten soll, geht Weisser davon aus, dass für jeden Menschen andere Dimensionen relevant sind. Er richtet dadurch seinen Ansatz pluralistisch aus und räumt Platz für Fragen der Freiheit ein, worin wiederum eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Sen besteht. Insgesamt sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen meines Erachtens groß genug, um über eine Verbindung zwischen den Ansätzen nachzudenken. Dabei sind aber gerade die Unterschiede wichtig, welche die einzelnen Ansätze kennzeichnen und ihre Stärke darstellen.
Besonderheiten Der Lebenslage-Ansatz Neuraths ist eingebettet in eine – wenn auch rudimentäre – Gesellschaftstheorie: Eine Lebenslage entsteht durch das Zusammenspiel von Lebensboden und Lebensordnung. Prinzipiell sind verschiedene Lebensordnungen denkbar, die unterschiedliche Lebenslagen hervorbringen und anhand dieser beurteilt werden sollten. Ähnliche Lebenslagen mehrerer Personen lassen sich zu Lebenslage-Typen zusammenfassen und so die Gesellschaftsstruktur abbilden. Obwohl deutlich wird, dass Neurath die Entwicklung einer Gesellschaft nicht deterministisch sieht, modelliert er weder auf individueller Ebene die Entscheidung über die Lebenslage noch auf gesellschaftlicher Ebene die Wahl einer Lebensordnung. Zudem enthält Neuraths Skizze des Zustandekommens einer Lebenslage eine klare zeitliche Struktur: Die Lebenslage ist Bestandteil des zu einem Zeitpunkt gegebenen Lebensbodens, der die Grundlage für die Lebenslage zum
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6. Ergebnisse und Perspektiven
nächsten Zeitpunkt bildet. Keine Aussage macht Neurath dazu, wie weit die Zeitpunkte auseinander liegen. Von Grelling liegt (leider) nur der Entwurf eines Lebenslage-Ansatzes vor. Darin skizziert er eine Entscheidungssituation und nimmt damit zum einen eine Umdeutung des Begriffs „Lebenslage“ als Bezeichnung für eine Auswahlmenge vor und stellt zum anderen einen zeitlichen Bezug auf. Mit seinem „Verteilungsprinzip“ nimmt er einige Gedanken von Rawls vorweg. Grellings Beitrag ist jedoch zu kurz, um von mehr als einem Entwurf zu sprechen. Die treffende Charakterisierung der Lebenslage als „Handlungsspielraum“ ist Weisser zu verdanken ebenso wie die Einführung des Begriffs „Lebenslage“ nicht nur in die Theorie sondern auch in die Praxis der Sozialpolitik. Sein Lebenslage-Ansatz kreist indes um den Begriff der „Grundanliegen“ und lässt sich als Auseinandersetzung mit der Interessentheorie Nelsons verstehen. Sowohl die Möglichkeit sozialer Konditionierung als auch ein allgemeines Interesse an Pluralismus in einer Gesellschaft führt Weisser gegen Nelsons Fixierung auf „das wahre Interesse“ an. Die Ausführungen Weissers zu Grundanliegen sind jedoch nicht abgeschlossen. Sen entwickelt den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten nicht nur, sondern positioniert ihn gleich zwischen anderen wohlfahrtstheoretischen Ansätzen. Einige Teile seines Ansatzes stellt er auch formal dar, vor allem den Zusammenhang zwischen Funktionen, Verwirklichungsmöglichkeiten, individuellen Eigenschaften und Budgetmenge, die Möglichkeiten der Mengenbewertung und Situationen „effektiver Freiheit“. In seinen zahlreichen Beiträgen entwickelt Sen eine differenzierte Begrifflichkeit, die er allerdings nicht konsequent anwendet. Nussbaum weist auf die philosophischen Vorläufer von Sens Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten hin, insbesondere auf die Theorien von Aristoteles, aber auch von Marx. Ihre eigenen Beiträge konzentrieren sich auf die Herleitung einer Liste „zentraler Fähigkeiten“. Das Erreichen eines gewissen Niveaus in allen diesen Fähigkeiten sieht sie als grundlegend an und deutet so eine Armutsgrenze an.
Stärken und Schwächen Der Lebenslage-Ansatz wurde sowohl von Neurath als auch von Weisser aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive heraus entwickelt, wird aber stärker von der Soziologie wahrgenommen als von den Wirtschaftswissenschaften. Insofern ist die Verortung des Lebenslage-Ansatzes im Grenzbereich zwischen Volkswirtschaftslehre und Soziologie als Stärke und Schwäche zugleich anzusehen: Prinzipiell bietet der Lebenslage-Ansatz Bezüge zu beiden Fächern
6.1 Ergebnisse des Vergleichs
319
an, indem er einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Verteilungstheorie und soziologischen Ungleichheitstheorien herstellt. Die Überlegungen des Lebenslage-Ansatzes zur Verteilungstheorie sind jedoch in der Volkswirtschaftslehre weitgehend in Vergessenheit geraten. Dagegen sind die Ausführungen des Lebenslage-Ansatzes zur Gesellschaftsstruktur in der Soziologie durchaus beachtet worden. Der Beitrag des Lebenslage-Ansatzes zur Sozialstrukturanalyse (vgl. Schwenk 1999, Reichenwallner 2000) ist zweifellos eine starke Seite des Ansatzes. Eine weitere Stärke des Lebenslage-Ansatzes besteht darin, die Entwicklung einer Lebenslage im Zeitverlauf anzusprechen. Besonders Neurath und Grelling aber auch Weisser (und in dessen Folge Wendt) sehen die Lebenslage sowohl als Produkt voriger Ereignisse als auch als Ausgangssituation für weitere Entwicklungen an. Zwar fehlt es dem Lebenslage-Ansatz auch in diesem Bereich an formaler Präzision, doch sind die Überlegungen zur zeitlichen Struktur deutlich zu erkennen. Des Weiteren ist die Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Fragen im Rahmen des Lebenslage-Ansatzes zunächst als Stärke anzusehen. Gerade bei der Konzeption von Armut und Wohlergehen ist es nötig zu klären, welchen Stellenwert Beobachtungen haben und wie „objektiv“ diese Beobachtungen in Anbetracht sozialer Konditionierung überhaupt sein können. Doch während Neuraths Lebenslage-Ansatz weitgehend im Einklang mit seinen erkenntnistheoretischen Positionen ist (vgl. dazu Nemeth 1999, Uebel 2004), sind Weissers Arbeiten diesbezüglich unvollendet geblieben. Insbesondere bleibt unklar, was Grundanliegen sind, ob sie und wenn ja, wie sie zu ermitteln sind. Die größte Schwäche des Lebenslage-Ansatzes besteht offensichtlich darin, dass es „den“ Lebenslage-Ansatz nicht gibt, sondern zwischen dem Neuraths und jenem Weissers unterschieden werden müsste, aber nicht unterschieden wird. Beide Ansätze decken indes nur eine Ebene ab: Neuraths Lebenslage ist ein Bündel von dem, was ein Mensch in verschiedenen Dimensionen erreicht hat, und sein Ansatz strebt eine Ordnung über diese Bündel an, geht aber nicht darüber hinaus. Weissers Lebenslage geht über Neuraths hinaus, insofern sie als Teilmenge solcher Bündel aufgefasst werden kann und sein Ansatz eine Ordnung über Teilmengen anstrebt. Allerdings definiert Weisser keine Bündel, so dass seinem Ansatz gewissermaßen das Fundament fehlt. Beiden Lebenslage-Ansätzen fehlt ferner eine Formalisierung. Und schließlich ist eine Schwäche darin zu sehen, dass sie für eine gewisse Zeit in den Wissenschaften kaum wahrgenommen und diskutiert wurden, so dass ihre Ursprünge und der Gehalt ihrer Konzepte in Vergessenheit geraten sind. Der Ansatz von Sen ist sehr umfassend und gut ausgearbeitet, allerdings verteilt er sich über viele Schriften sowohl mit volkswirtschaftlichem als auch
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6. Ergebnisse und Perspektiven
mit philosophischem Bezug. Insofern ist der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten im Grenzbereich zwischen Volkswirtschaftslehre und Philosophie anzusiedeln. Wie beim Lebenslage-Ansatz ist dies Stärke und Schwäche zugleich: Die Stärke liegt darin, dass Sen den Bezug zu anderen Gerechtigkeitstheorien, wie jenen von Rawls und Nozick, herstellt und dass er sich explizit mit dem Stellenwert von Rechten und Freiheiten beschäftigt. Die Schwäche liegt darin, dass es keine einheitliche Darstellung des Ansatzes gibt, sondern Sen an vielen Stellen viele Aspekte anspricht, ohne dass klar ist, wo der Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten anfängt und wo er aufhört. Dies führt zu vielerlei Missverständnissen wie jenem, dass sich Sens Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten nur unwesentlich von Nussbaums FähigkeitenAnsatz unterscheide. Auch wenn die Diskussion, wie Freiheit das Wohlergehen beeinflusst, bzw. in welchem Verhältnis Freiheit und Wohlergehen zueinander stehen, noch nicht als abgeschlossen gelten kann, ist sie von großer Bedeutung für die Konzeption und Erfassung von Armut. Es ist das große Verdienst von Sen, diese Diskussion angeregt zu haben.283 Seine Vorstellungen beinhalten zudem einige Vorschläge dazu, wie Freiheit nicht nur konzipiert sondern auch gemessen werden kann. Die größte Schwäche des Ansatzes von Sen besteht m. E. darin, dass er nicht immer klar zwischen Funktionen und Verwirklichungsmöglichkeiten trennt. Die von ihm richtig festgestellte Zirkularität der beiden Begriffe droht, den Ansatz ad absurdum zu führen. Eventuell lässt sich die Zirkularität auflösen, indem man eine zeitliche Abfolge zwischen der Auswahl eines Bündels von Funktionen aus einer Menge von Verwirklichungsmöglichkeiten und dem Entstehen einer neuen Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten annimmt (s. u.). Das Fehlen einer Aussage zur zeitlichen Abfolge stellt ohnehin eine weitere Schwäche des Ansatzes von Sen dar. Qizilbash sieht es als „Achillesferse“ an, dass Sen seinen Ansatz im Namen des Pluralismus offen hält, und darin ist ihm m. E. zuzustimmen. So wünschenswert ein pluralistischer Ansatz ist, so wenig überzeugend ist Sens Ansatz, wenn er die Bedeutung von Freiheit für das Wohlergehen eines Menschen als Prämisse setzt, ohne sie mit einer Skizze seines Menschenbildes zu begründen. Dies ist auch der Grund dafür, dass Sen das Thema „soziale Konditionierung“ zwar aufgreift, aber nicht überzeugend aufzeigen kann, wo die eigene Entscheidung aufhört und die soziale Konditionierung anfängt. Weisser löst dieses Problem, indem er fordert, die eigenen Ansichten „bekenntnismäßig“ einzuführen, wobei er implizit vom Nebeneinander verschiedener Ansichten ___________ 283
Weisser hat zwar ebenfalls diesen Zusammenhang diskutiert, konnte jedoch keine allgemeine Diskussion darüber anregen und hat keine Vorschläge zur Erfassung desselben gemacht.
6.1 Ergebnisse des Vergleichs
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ausgeht; Nussbaum hingegen legt sich auf ihre Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten fest, sieht sie jedoch gleichwohl als für Veränderungen offen an. Leicht ist dieses Problem nicht zu lösen und deutliche Aussagen zur Rolle der Freiheit für das Wohlergehen eines Menschen sowie zur Existenz und Reichweite sozialer Konditionierung stehen zweifellos einer pluralistischen Ausrichtung entgegen. Daher scheint mir der Pluralismus eher eine Schwäche denn eine Stärke des Senschen Ansatzes zu sein. Schließlich bemängelt Sen an anderen Theorien, insbesondere am Utilitarismus und der darauf aufbauenden Wohlfahrtstheorie, dass sie das Problem der interpersonellen Vergleichbarkeit nicht lösen. Dieses löst indes auch er nicht. Wegen der Multidimensionalität des Ansatzes ist es erforderlich, Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Dimensionen herzustellen, um interpersonelle Vergleichbarkeit zu erreichen. Sen schlägt vor, zunächst eine partielle Dominanzordnung einzuführen und diese dann nach und nach zu vervollständigen. Er ist optimistisch, dass es möglich ist, zunächst eine Rangordnung zwischen den Dimensionen und schließlich eine Gewichtung der Dimensionen per Konsensentscheidung festzulegen. Dabei unterstellt er, dass die Dimensionen in einem additiven Verhältnis zueinander stehen. Schwieriger noch ist es, interpersonelle Vergleichbarkeit zwischen den Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten herzustellen, weil hierbei Mengen multidimensionaler Bündel miteinander vergleichen werden müssen. Die Überlegungen Sens zu diesem Thema sind zwar wichtig und haben auf die Literatur zu den „opportunity sets“ Einfluss genommen, aber sie können kaum als Lösung des Problems angesehen werden.
Fazit Die Arbeit hat gezeigt, dass wirklich viele Ähnlichkeiten zwischen den Lebenslage-Ansätzen und dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten existieren. Die Ansätze konnten daher miteinander verglichen und ihre Stärken und Schwächen aufgezeigt werden. Bei der intensiven Betrachtung zeigten sich nicht nur zwischen Lebenslage- und Sen-Ansatz Unterschiede, sondern auch zwischen den verschiedenen Strängen des Lebenslage-Ansatzes und denen des „Capability“-Ansatzes. Im Kontrast der Ansätze zueinander sind die Probleme multidimensionaler Ansätze und die unterschiedlichen Lösungsansätze dazu deutlich hervorgetreten. Das in Abschnitt 5.2.3 der Arbeit entwickelte Schema zum Vergleich der Ansätze verdeutlicht im einzelnen, wo sie ergänzende, konkurrierende oder gegensätzliche Ideen entwickeln. So arbeiten alle betrachteten Ansätze mit einem multidimensionalen Bewertungsraum. Sie verwenden unterschiedliche
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6. Ergebnisse und Perspektiven
Methoden zur Auswahl der Dimensionen. Doch selbst, wenn ähnliche Methoden verwandt werden, muss dies nicht zum selben Ergebnis führen, denn neben den Dimensionen müssen für eine Anwendung der Ansätze Indikatoren ausgewählt werden. Im Ergebnis sind daher die konzeptionellen Unterschiede bei der Auswahl der Dimensionen nicht mehr zu erkennen. Das Problem der Auswahl von Indikatoren wird jedoch in keinem der Ansätze diskutiert. Wie durch das Vergleichsschema aus Abschnitt 5.2.3 ferner deutlich wird, lässt sich zwar für alle Ansätze der Entwurf eines multidimensionalen Bewertungsraumes zeigen, aber die Bewertung erfolgt entweder auf der Ebene des Vergleichs von Bündeln oder auf der Ebene des Vergleichs von Teilmengen. Grelling und Sen sehen den Vergleich auf beiden Ebenen vor, Neurath und Nussbaum nur den Vergleich von Bündeln, während Weisser diese Ebene gewissermaßen auslässt und sofort zur Ebene des Vergleichs von Teilmengen im multidimensionalen Raum übergeht. Soll eine Ordnung über Bündel im Bewertungsraum geschaffen werden, so stellt sich die prinzipielle Frage, ob die Dimensionen miteinander vergleichbar sind oder zumindest gegeneinander abgewogen werden dürfen oder nicht. Nussbaum wie auch Neurath sehen die Dimensionen als unvergleichbar an. Dann können aber die Bündel nur komponentenweise verglichen werden, so dass eine unvollständige Dominanzordnung entsteht. Sen hingegen sieht diese Dominanzordnung als Ausgangspunkt für eine vollständige oder zumindest vollständigere Ordnung der Bündel im Bewertungsraum an. Auf welche Weise allerdings das Verhältnis der Dimensionen zueinander bestimmt werden soll, deutet Sen nur an, indem er von der Möglichkeit einer breiten Übereinkunft dazu spricht. Auch Grellings Vorstellung, die „vollkommen gebildete Person“ könne zwischen den Dimensionen abwägen, ist wenig hilfreich für eine empirische Untersuchung zur Beurteilung des Lebensstandards. Wird eine Ordnung über Teilmengen von Bündeln im Bewertungsraum angestrebt, so fließt die Ordnung über die Bündel als eine der Bedingungen für die Ordnung der Teilmengen ein. Der Vorschlag Grellings, den Sen unter der Bezeichnung „elementweise Bewertung“ diskutiert, läuft daraus hinaus, die Menge anhand des besten Elements in ihr zu bewerten. Die Ordnung der Teilmengen beruht dann auf der Ordnung der Bündel. Abgesehen davon, dass weder die Existenz noch die Eindeutigkeit eines besten Elementes gesichert ist, kritisiert Sen an diesem Vorgehen, dass die Eigenschaften der Menge auf jene eines Elementes reduziert werden. Neben der Qualität des besten Elementes möchte Sen auch die Qualität der anderen Elemente sowie die Anzahl der Elemente in die Bewertung der Menge einfließen lassen. Die Beschreibung der Lebenslage als „Spielraum“ lässt darauf schließen, dass Weisser wie Sen nicht nur die Qualität einzelner Elemente, sondern auch die Anzahl der Elemente bei der Bewertung einer Lebenslage berücksichtigen möchte. Die Methoden zur Bewertung von Auswahlmengen, wie sie im Rahmen der Literatur zu „oppor-
6.2 Ausblick
323
tunity sets“ entwickelt werden, sind daher grundsätzlich sowohl auf die Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten im Sinne Sens als auch auf die Lebenslage im Sinne Weissers anzuwenden. Allerdings fehlt Weissers Ansatz wie oben angemerkt die Beschreibung der einzelnen Bündel und damit die Unterscheidung zwischen einzelnen Bündeln und einer Teilmenge von Bündeln.
6.2 Ausblick Welche Schlüsse lassen sich nun aus der Arbeit ziehen? Welche Ideen für weitere Forschung ergeben sich aus der Arbeit?
Abgrenzung tut Not „Den“ Lebenslage-Ansatz gibt es nicht. Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich zumindest zwei unterschiedliche Ansätze, nämlich der von Neurath und jener von Weisser. Sie sollten deutlich voneinander unterschieden werden. Die Forderung, „den“ Lebenslage-Ansatz zur Grundlage einer Armutsberichterstattung zu machen, ist schon wegen der fehlenden Differenzierung zwischen Neuraths und Weissers Ansatz mit Vorsicht zu genießen. Hinzu kommt die Vermischung des Ansatzes mit weiteren Ideen z. B. aus der Literatur zur Erforschung der Lebensqualität. M. E. kann man erst dann davon sprechen, dass „der“ Lebenslage-Ansatz der Armutsberichterstattung zugrunde gelegt wird, wenn klargestellt wird, auf welchen Lebenslage-Ansatz man sich bezieht, wie er verändert und erweitert wird. Generell stellt sich bezüglich der Lebenslage-Ansätze ob der Verwirrung um den Begriff Lebenslage und die mannigfaltigen Bedeutungen, die ihm zugesprochen werden, ganz allgemein die Frage, ob es sinnvoll ist, an diesem Begriff festzuhalten. Eine Abgrenzung zwischen den verschiedenen Konzepten ist nicht nur beim Lebenslage-Ansatz nötig, sondern ebenso beim „Capability“-Ansatz. Die Auseinandersetzung zwischen Sen und Nussbaum (siehe Abschnitt 4.3.4) hat zwar einige Unterschiede offen gelegt, aber auch Missverständnisse hervorgebracht. Die Diskussion der Unterschiede zwischen Sens Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten und Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz bei Crocker (1992, 1995), Sumner (1996) und Gasper (1997) ist nicht erschöpfend. Wie in der vorliegenden Arbeit angedeutet, ist es sinnvoll, Nussbaums und Sens Variante des „Capability“-Ansatzes im Hinblick auf eine mögliche Operationalisierung zu vergleichen. Freilich wurde eine erschöpfende Diskussion der Unterschiede hier nicht angestrebt und steht daher noch aus.
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6. Ergebnisse und Perspektiven
Zur Armutsmessung mit Hilfe der Ansätze Die betrachteten Ansätze konzipieren Armut nicht direkt, sondern legen eine multidimensionale Konzeption von Wohlergehen vor. Zwar gehen sie auf Armut gesondert ein, die Aussagen dazu bleiben aber vage und eine explizite Definition von Armut bleibt aus. Selbst die Überlegungen dazu, wie Armut mit Hilfe einer Armutsgrenze abzugrenzen sei, können nicht direkt empirisch angewandt werden. Die Arbeit schlägt eine Definition von Armut im Sinne des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten im Abschnitt 4.4.2 vor. Deren Anwendbarkeit hängt allerdings davon ab, Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten zu erfassen. Die Messbarkeit der Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten ist jedoch – ebenso wie viele andere Probleme der Operationalisierung – noch nicht gelöst. Für die Operationalisierung der Ansätze ist eine klare Struktur, wie Sen sie entwickelt, hilfreich. So lassen sich die zwei Ebenen des Vergleichs besser unterscheiden. Birgt schon der Vergleich von Bündeln viele Probleme, (insbesondere jenes, in welchem Verhältnis die Dimensionen zueinander stehen), so ist der Vergleich von Teilmengen solcher Bündel nochmals komplexer. Für die Anwendung der Ansätze ist jedoch zunächst zu klären, welche Dimensionen betrachtet werden sollen und welche empirischen Variablen als Indikatoren für die zu betrachtenden Dimensionen in Frage kommen und zur Verfügung stehen. Das Zusammenspiel der Entscheidungen über die Dimensionen und Indikatoren dafür ist bislang nicht ausreichend erörtert worden. Der Schlüssel zum Verständnis von Wohlergehen im Allgemeinen und Armut im Besonderen liegt in der Frage sozialer Konditionierung. Es ist äußerst schwierig zu ermessen, wo die freie Entscheidung eines Individuums aufhört und der Einfluss von gesellschaftlichen Kräften anfängt. Daher ist es weder möglich, eine vollkommen objektive, noch, eine vollkommen subjektive Definition von Armut vorzulegen. Die Tatsache der sozialen Konditionierung hat dafür gesorgt, dass selbst die ersten „absoluten“ Armutsgrenzen allgemein anerkannte Gewohnheiten wie jene, Tee zu trinken in England, berücksichtigt haben. Armut „relativ“ zur jeweiligen Gesellschaft zu definieren scheint daher die logische Konsequenz zu sein. Die Thematisierung von Armut lebt indessen von der Vorstellung, dass es möglich sei, bestimmte Einschränkungen des Lebensstandards über alle Grenzen hinweg als unerträglich zu brandmarken. Armut hat einen absoluten Kern, so formuliert es Sen (1983a). Sie ist dann gegeben, wenn ein Mensch zu schlechte (und das impliziert auch zu wenige) Verwirklichungsmöglichkeiten hat oder wie Weisser sagen würde, der Spielraum für die Erfüllung von Grundanliegen zu klein ist. Sen wie Weisser erkennen in sozialer Konditionierung eine Ursache für die Einschränkung der Menge an Möglichkeiten – für Armut. Ob diese Erkenntnis für die Erfassung von Armut im Sinne Weissers oder Sens nützlich ist, solange die Konzeption nicht
6.2 Ausblick
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in eine Gesellschaftstheorie eingebettet wird (wie dies bspw. Neurath andeutet), ist fraglich. Generell ist für die Erfassung von Armut zu klären, welche Rolle das Einkommen spielt. In empirischen Studien zum Ausmaß von Armut wird dem Einkommen nach wie vor eine hervorragende Bedeutung eingeräumt, selbst wenn sie sich auf einen der hier betrachteten Ansätze beziehen. In der Konzeption wird jedoch sowohl von den Lebenslage-Ansätzen als auch vom „Capability“-Ansatz dem Einkommen eine Bedeutung nur als vielseitig verwendbare Ressource zugesprochen. Als solche könnte das Einkommen als Indikator dienen, aber als Indikator wofür? Indikator für das maximal erreichbare Niveau in bestimmten Dimensionen? In welchen? Oder Indikator für die Größe der Auswahlmenge?
Weissers Lebenslage-Ansatz im Lichte des Senschen Ansatzes Bezüglich Weissers Lebenslage-Ansatz besteht m. E. großer Klärungsbedarf. So ist seine wissenschaftstheoretische Position zu untersuchen, die eine Mitte zwischen Positionen des logischen Empirismus und der Kantianischen Transzendentalphilosophie sucht. Im Zusammenhang mit der Konzeption von Armut ist bemerkenswert, dass Weisser nicht die Priorität beibehält, die Nelson auf die „ästhetischen“ Interessen legt. Im Gegensatz zu dieser hierarchischen Ordnung der Bedürfnisse, die bereits bei Kant anklingt, hält Weisser auch körperliche Bedürfnisse für dringlich. Eine philosophische Begründung für das Nebeneinander – die zwingende Multidimensionalität – der Bedürfnisse findet sich bei Weisser jedoch ebenso wenig wie bei Neurath. Wie in Abschnitt 5.2.2 bereits in Ansätzen geschehen, lässt sich mit Hilfe von Sens Ausführungen analysieren, welch viele und verschiedene Funktionen die „Grundanliegen“ in Weissers Lebenslage-Ansatz erfüllen müssen. Auf Grundlage dieser Analyse könnte der Ansatz von Weisser neu interpretiert werden mit einer genaueren Definition des Begriffs „Grundanliegen“. Wichtig wäre hierbei auch, die Gültigkeit von der Bewertung und Ordnung der „Grundanliegen“ zu trennen. Ferner fragt sich, inwiefern die Ähnlichkeit zwischen den LebenslageAnsätzen und dem Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten zu einer Ausrichtung des Lebenslage-Ansatzes an Sens Ansatz führen soll. Um diese Frage zu beantworten, wäre es hilfreich, den Freiheitsbegriff von Sen jenem Weissers gegenüberzustellen. Dies ist in der vorliegenden Arbeit unterlassen worden, weil die Bedeutung des Themas Freiheit für den Lebenslage-Ansatz Weissers nicht so groß ist wie für Sens Ansatz. Weissers Auffassung von Freiheit wurde daher nicht genauer untersucht und heraus gearbeitet. Eventuell zeigen sich auf
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6. Ergebnisse und Perspektiven
diesem Gebiet weitere Ähnlichkeiten in den Überlegungen Sens und Weissers oder tun sich Gegensätze zwischen ihnen auf.
Anregungen für den „Capability“-Ansatz durch den Lebenslage-Ansatz Im Laufe der Arbeit hat sich gezeigt, dass die Lebenslage-Ansätze zumindest in zwei Punkten über den Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten hinausgehen: der Modellierung des zeitlichen Ablaufs und dem Bezug zur Sozialstruktur. Die Frage ist nun, inwiefern sich diese Ideen aus den Lebenslage-Ansätzen für eine Weiterentwicklung des Senschen Ansatzes nutzen lassen. Was den zeitlichen Ablauf anbelangt, so geht Grelling davon aus, dass das Individuum immer wieder vor der Aufgabe steht, sich für ein Element der Auswahlmenge entscheiden zu müssen. Bei Neurath, aber auch bei Weisser findet sich ferner die Idee, dass diese Entscheidung Einfluss hat auf die Menge der Möglichkeiten, aus denen das Individuum das nächste Mal eine auswählen muss. Anhand dieser Linien ließe sich mit Hilfe der formalen Darstellungsweisen aus der Entscheidungstheorie ein Modell des Ansatzes der Verwirklichungsmöglichkeiten entwickeln, das einen Zusammenhang herstellt zwischen der getroffenen Entscheidung für ein Bündel von Funktionen und der nachfolgenden Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten. Wie in der Arbeit erwähnt, gehen auch einige Überlegungen Nussbaums in diese Richtung. Zweifelsohne sollte an der dynamischen Modellierung des „Capability“-Ansatzes weiter gearbeitet werden und das Verhältnis von Funktionen zu Verwirklichungsmöglichkeiten dabei geklärt werden. Der Lebenslage-Ansatz bildet Lebenslage-Typen und leitet so eine Gesellschaftsstruktur ab (siehe Abschnitt 5.2.1). In Analogie dazu könnte man diejenigen, die über eine ähnliche Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten verfügen, zu Gruppen zusammenfassen. Die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ist jedoch nicht beobachtbar. Eine Methode, die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten abzuschätzen, beruht auf der Annahme, dass bestimmte Gruppen – Referenzgruppen – über etwa dieselbe Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten verfügen. Die Frage ist also, ob man mit Hilfe einer Gesellschaftsstruktur Aussagen über die Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ableitet oder umgekehrt eine Gesellschaftsstruktur herleitet aus einer Gruppierung der Gesellschaftsmitglieder nach ihren Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten. Ein ähnliches Problem haftet auch dem Vorschlag Sugdens (1998) an, der zur Identifikation von „potentiellen Präferenzen“ auf Referenzgruppen zurückgreift. Sein Vorschlag ist, die Referenzgruppe nicht über ihre aktuelle Präferenzen, sondern über andere Merkmale zu definieren, wie z. B. Geschlecht und Einkommen. Die „potentiellen Präferenzen“ fließen dann in die Bewertung der
6.2 Ausblick
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Menge an Verwirklichungsmöglichkeiten ein. Die Frage ist, ob man Präferenzen anhand von Referenzgruppen identifizieren kann oder umgekehrt die Referenzgruppen anhand ihrer Präferenzen bilden müsste. Der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur, Mengen an Verwirklichungsmöglichkeiten und Bewertung derselben mit Hilfe von Präferenzen weist einmal mehr auf ein Problem hin, das weitere konzeptionelle und empirische Forschungsarbeit erfordert, nämlich das Problem der sozialen Konditionierung. Inwiefern kann ein Individuum Präferenzen unabhängig vom gesellschaftlichen Druck entwickeln? Lässt sich heute noch von einem gesamtgesellschaftlichen Einfluss auf die Individuen sprechen oder ist es nicht vielmehr so, dass sich jede Person an einer Referenzgruppe orientiert, der sie auf diese Weise großen Einfluss auf ihre Ansichten und Präferenzen einräumt? Ist in dieser Orientierung auf eine Referenzgruppe hin eine Präferenz zu sehen? In diesem Punkt berühren sich verschiedene Disziplinen und Forschungsstränge: die soziologische Ungleichheitsforschung, Sozialstrukturanalyse und Lebensstilfoschung, die wirtschaftswissenschaftliche Verteilungstheorie und Wohlfahrtstheorie und philosophische Theorien zur Gerechtigkeit. Wobei die Verbindung zwischen Sens Ansatz der Verwirklichungsmöglichkeiten und der Soziologie meiner Ansicht nach gestärkt werden sollte.
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Personen- und Sachregister Aberg 123, 181, 183, 184, 214, 220, 333 Adorno 65, 211, 328 Alkire 164, 178–183, 223, 260, 278, 279, 281–283, 285, 286, 290, 291, 293, 304, 305, 328 Allardt 181, 214, 328 Amann 61, 103, 106, 118, 123, 217, 328 Amiel 42, 328 Anand 38, 40, 170, 200, 203, 225, 308, 328 Andreß 214, 328 Andretta 61, 98, 103–105, 118, 121, 123, 212, 216, 228, 255, 271, 329 Äquivalenzskala 22, 51–53, 192 Arbeitslosigkeit 117, 187, 191, 212, 312, 337, 338 Arcelis 203, 329 Aristoteles 155, 274, 318 Armutsmessung – Armutsgrenze 23, 26–30, 42–47, 52, 53, 55–57, 80, 110, 166, 171– 173, 198–200, 224, 269, 270, 274, 276, 304, 308, 311, 312, 318, 324 – Armutsmaß 21, 23, 31–41, 47–49, 52–55, 57–58, 197, 199, 289, 303, 307–310 – Armutsordnung 41–49, 51–52, 58– 59, 199, 308 – Axiome zur 17, 25, 32–39, 45–47, 50, 52, 57–59, 92, 200, 224 siehe auch Einkommen, Transferaxiom Arneson 222, 329 Arrow 128, 223, 329, 330, 349 Atkinson 38, 47, 48, 52, 57–59, 191, 199, 200, 219, 223, 289, 329, 331, 350
Auswahlmenge siehe Capability-Ansatz nach Sen, Verwirklichungsmöglichkeiten, siehe auch Lebenslage-Ansatz nach Grelling, Lebenslage siehe auch Lebenslage-Ansatz nach Weisser, Spielraum Backhaus 198, 290, 329 Balestrino 183–185, 187–189, 191, 194, 197, 201, 202, 224, 280, 287, 289, 290, 313, 329 Baliamoune 188, 203, 274, 311, 329 Bamberg 91, 329 Barbera 141, 329 Basu 149, 177, 178, 180, 184, 189, 190, 192, 193, 196, 203, 223, 281, 329, 330 Bauer 91, 329 Beitz 165, 168–170, 223, 224, 271, 330 Berger 15, 213, 214, 330, 336, 338, 344 Berlin 135, 154, 155, 330 Bernholz 143, 222, 330 Bildung 67, 75, 86–89, 113, 116, 119, 122, 156, 157, 188, 200, 201, 209, 264, 283, 290, 296, 305 Black 181, 328 Blackorby 25, 38, 39, 40, 330 Blackwood 21, 22, 26, 330 Blume 103, 112, 116, 117, 122, 217, 293, 307, 330, 331, 339 BMA 14, 94, 213, 330, 351 Bossert 141, 329 Bourdieu 215–217, 330 Bourguignon 23–25, 34, 35, 52, 55– 59, 194, 199, 202, 224, 281, 307– 310, 313, 329–331
Personen- und Sachregister Brandolini 183, 184, 190–192, 197, 199–202, 290, 292, 311, 331 Breuer 116, 331 Buhmann 51, 331 Callan 26–28, 331 Capability-Ansatz nach Nussbaum 146, 155–164 – interne Fähigkeit 157, 159, 273 – kombinierte Fähigkeit 157, 159, 160, 236, 255, 273, 279 – Liste zentraler funktionaler Fähigkeiten 155, 156, 159, 161, 166, 178, 181, 235 Capability-Ansatz nach Sen – Funktionen 15, 137–139, 141, 142, 146–149, 151, 162, 164, 165, 168– 179, 184, 189–192, 195, 197, 200, 219, 223, 227, 232, 234, 236, 238, 239, 241, 244, 249, 251, 252, 254, 255, 259, 265, 268, 271, 272, 275, 279, 287, 288, 293–295, 298, 308, 313, 316, 318, 326 – Verwirklichungsmöglichkeiten 15, 137–142, 146–153, 159, 164, 165, 169–173, 176, 192–195, 220, 223, 224, 227, 232, 234, 237, 239, 245, 251, 253, 254, 255, 265, 272, 275, 280, 292, 294–302, 309, 312, 317, 318, 324 Carter 143, 222, 331 Cartwright 65, 82, 210, 331 Cat 331 Chakravarty 34, 38–40, 48, 52, 55–59, 194, 199, 202, 203, 224, 281, 307– 310, 313, 330, 331 Chambaz 52, 331 Cheli 53, 186, 196, 331 Chiappero Martinetti 202, 311, 332 Clark 38–40, 48, 332 Cohen 143, 145, 150, 151, 169, 222, 226, 332, 350 Coleman 229, 332 Comim 188, 189, 193, 332 Cowell 42, 328 Crocker 159, 160, 167, 221, 225, 323, 332, 342, 345
355
Culyer 221, 332 D’Alessio 183, 184, 191, 192, 197, 199, 200–202, 290, 331 Daniels 134, 222, 332 Dasgupta 143, 223, 280, 332 De Leonardo 221, 332 Deaton 51, 332 Delbono 223, 332 Desai 29, 179–181, 183, 188, 279, 282, 283, 285, 286, 305, 332 Dieck 117, 217, 330, 332 Dominanz 73, 163, 191, 195, 196, 199, 224, 231, 252, 261, 289, 309, 311, 317, 321 siehe auch Armutsmessung, Armutsordnung siehe auch Vergleichbarkeit Donaldson 25, 33, 35, 38–40, 194, 330, 333, 353 Döring 213, 214, 333, 335 Drèze 227, 333 Duclos 52, 53, 59, 194, 199, 224, 333 Dworkin, G. 141, 333 Dworkin, R. 133, 219, 222, 333 Ebert 7, 307, 333 Ehlers 52, 333 Einkommen 21–23, 26–30, 49, 51, 53, 76–78, 105, 116–119, 125, 134, 138, 167, 175, 188, 190, 191, 193, 194, 200, 201, 207, 224, 228, 254, 268, 276, 278, 284–287, 292, 296, 298, 300, 302, 305–307, 312, 316, 325, 326 – Transferaxiom 31, 35, 42 Elster 130, 153, 333 Erikson 181, 183, 184, 214, 220, 333 Esser 107, 212, 334 Fields 23–25, 34, 35, 331 Fleck 331 Folmer 203, 290, 343 Foster 25, 27, 31, 35, 36, 38–42, 44, 45, 47–49, 127, 188, 190, 195, 196, 203, 220, 224, 330, 334, 348
356
Personen- und Sachregister
Franke 61, 88, 210, 334 Freiheit 87, 96, 110, 132–136, 140, 142–147, 149–155, 159–161, 164, 165, 172, 195, 199, 201, 210, 220– 222, 227, 229, 233, 235, 244, 246, 249, 252, 265, 274, 280, 298, 300, 316–318, 320, 325 Fuchs 30, 334 Gaertner 334 Garcia Diaz 53, 56–58, 194, 199, 334 Gärdenfors 143, 222, 334 Gasper 159, 179, 225, 323, 328, 334, 343 Gehrke 212, 334 Gesundheit 50, 53, 66, 75, 106, 113, 116, 138, 152, 154, 174, 183–185, 197, 200, 209, 221, 228, 241, 256, 281, 283, 290, 293, 297, 304, 305, 312 Gibbard 143, 222, 335 Glatzer 97, 118, 120, 212, 213, 335, 353 Glewwe 335 Gös 31, 335 Greer 36, 39, 41, 44–46, 48, 334 Grelling 9, 15, 18, 19, 60, 61, 85, 86, 90–93, 95, 107, 108, 111, 124, 209, 227, 230–233, 236–238, 242–246, 251, 252, 260, 262–265, 270, 272, 273, 309, 315, 317–319, 322, 326, 335, 342, 352 Griffin 225, 335, 347 Hagenaars 28, 39, 40, 335 Haller 210, 335, 336, 341, 342, 344, 349 Hamada 38, 40, 45, 335 Hanesch 57, 118, 213, 214, 293, 333, 335, 336, 338 Harrison 180, 186, 192, 299, 336, 342 Hauser 329 Hegselmann 65, 206–208, 210, 336, 340 Helm 280, 336 Hemming 38–40, 48, 332
Hempel 65, 210, 336 Henkel 103, 333, 334, 339, 343 Herrero 193, 294, 336 Hillen 61, 86, 103, 106, 119, 120, 123, 212, 213, 315, 336 Höffe 129, 130, 243, 336 Hossain 159, 336 Hossein 203 Howes 48, 336 Hradil 15, 121, 213, 214, 280, 330, 336, 338, 344 Hübinger 118, 120, 212, 213, 335, 336 Huster 213, 214, 333, 335 Iben 105, 214, 305, 337 Indikator 30, 118, 123, 174, 176, 180, 183–186, 188, 191, 197, 200, 204, 221, 276, 277, 280, 281, 285–294, 298, 299–302, 304, 305, 307, 310, 312, 313, 322, 324 Jahoda 84, 212, 337 Jenkins 49, 52, 334, 337, 349 Jin 49, 334 Jolink 84, 211, 337 Jorgenson 22, 337 Jürgens 351 Kakwani 36, 38, 40, 337 Kautsky 84, 337 Klamer 127, 337 Klasen 183–185, 191, 198, 202, 288, 290, 310, 337 Kleinhenz 103, 106, 123, 337 Klocke 214, 215, 337 Knight 225, 335, 347 Köhler 63, 211, 337 Kolm 38, 53, 58, 337, 350 Krämer 224, 337 Krause 119, 120, 213, 338 Krieger 103, 118, 212, 338 Kumar 203, 338 Lambert 49, 52, 337
Personen- und Sachregister Lazarsfeld 84, 212, 337 Lebenslage-Ansatz nach Grelling – Lebenshaltung 90, 95, 107, 108, 124, 232, 251, 260, 262–264, 272 – Lebenslage 90–93, 95, 107, 124, 231, 233, 237, 238, 243, 245, 251, 252, 263, 273, 309, 315 Lebenslage-Ansatz nach Neurath – Lebensboden 65, 67, 68, 76, 78, 124, 212, 216, 236, 237, 275, 317 – Lebensordnung 62, 65, 67, 76, 78, 124, 212, 216, 227, 236, 275, 317 Lebenslage-Ansatz nach Weisser – Grundanliegen 94, 96, 98, 101, 102, 107, 110–122, 124, 207, 208, 210, 212–216, 233, 235, 247, 248, 251, 255, 256, 260, 262, 271–273, 275, 278–280, 285, 318, 319, 325 – Spielraum 15, 95, 98, 107, 110, 123, 124, 216, 217, 234, 235, 238, 251, 262, 264, 265, 272, 279, 302, 315, 322 Lebensstil 15, 29, 213, 215–217, 228, 327 Leibfried 13, 117, 204, 224, 338 Lelli 53, 183–185, 192, 197, 202, 281, 287, 290, 338 Lemmi 53, 186, 196, 331 Lipsmeier 214, 328 Loman 203, 290, 343 Lompe 103, 117, 118, 212, 293, 338 Lopez-Calva 203, 334 Lovell 191, 193, 202, 224, 298, 338 Lüdtke 214, 338 Lüthi 38, 338 Lynch 21, 22, 26, 330
Maasoumi 53, 338 Majumder 203, 331 Makdissi 52, 194, 333 Marggraf 31, 335 Maurie 221, 332 Maurin 52, 331 Meyer, E. 351 Meyer, T. 88, 339
357
Mill 79, 129, 130, 243, 339 Mittelhammar 201, 202, 343 Möller 207, 339 Muellbauer 51, 332 Mukherjee 52, 57, 58, 331, 339 Müller, H.-P. 213–215, 217, 339 Müller, K. 79, 339 Multidimensionalität 22, 49–60, 65, 73, 78, 83, 108, 109, 126, 166, 171, 194, 196, 198–201, 212, 223, 224, 228, 231, 243, 260–264, 268, 276, 281, 285, 288, 290, 303, 306–312, 316, 321, 325 Münnich 53, 55, 196, 198, 345 Nahnsen 19, 61, 96–99, 103–105, 109, 110, 111, 117, 118, 121, 123, 209, 216, 253, 255, 269–271, 283–285, 291, 298, 300, 301, 305, 311, 339 Nelson 9, 18, 60–62, 85–90, 92, 93, 95, 96, 99–103, 208, 210, 217, 232, 242–247, 260, 262, 264, 267–269, 278, 325, 334, 335, 339, 342 Nemeth 13, 204, 277, 319, 339 Neumann 61, 93, 111, 116, 209–211, 331, 333, 334, 339, 343, 345 Neurath, O. 9, 14, 15, 18, 19, 60–86, 90, 91, 93, 111, 123–125, 205–212, 214, 216, 226–228, 230, 231, 236– 242, 252, 253, 259, 261–265, 267, 269, 270, 272, 275, 276, 281–285, 287, 288, 305–309, 315–319, 322, 323, 325, 326, 331, 335–337, 339– 341, 344, 345, 349, 350 Neurath, P. 84, 212, 341 Nolan 26–28, 224, 331, 341 Noll 118, 213, 214, 225, 335, 341 Nozick 15, 126, 128, 135, 136, 143, 144, 155, 220, 222, 227, 320, 341 Nussbaum 10, 19, 25, 126, 130, 137, 138, 143, 146, 148, 155–166, 168, 169, 173, 175–183, 191, 218, 221, 223, 225, 229, 230, 235–237, 247, 255, 260, 261, 263, 266, 268–271, 273, 275, 278, 279, 282–286, 290, 291, 293, 304, 305, 308, 309, 311, 313, 316–318, 321–323, 328, 332– 334, 342, 345, 347, 348, 351
358
Personen- und Sachregister
Pattanaik 141, 143, 222, 329, 334, 342 Peckhaus 7, 61, 86, 208, 342 Pettit 143, 145, 150, 151, 154, 342 Phipps 183–185, 188, 203, 288, 343 Pogge 225, 344 Präferenz 90, 129–134, 136, 142–145, 150–55, 166, 173, 215, 233–235, 240, 248–252, 256, 261, 271, 272, 326 Pressman 223, 343 Prim 116, 209, 210, 211, 216, 343 Puppe 141, 343 Pyatt 38, 343 Qizilbash 162, 198, 223, 320, 343 Quadrado 201, 203, 290, 343 Quibria 21, 22, 26, 343 Rahman 201, 202, 343 Rainwater 331 Ranade 52, 57, 58, 331 Rauscher 84 Ravallion 21, 32, 42, 43, 45, 225, 328, 343 Rawls 15, 93, 111, 126, 128, 130, 132–135, 140, 155, 159, 164, 168, 209, 219, 222, 227, 242, 318, 320, 344 Reddy 225, 344 Rendtel 123, 214, 228, 344 Rerrich 51, 344 Richardson 338, 342 Rieden 210, 344 Robeyns 148, 165, 169, 180, 183, 185, 187, 189, 201, 304, 305, 312–314, 344 Roemer 222, 344 Romahn 333, 334, 343 Rosner 13, 66, 204, 211, 344 Rotelli 221, 332 Royal Swedish Academy of Sciences 223, 344 Ruggels 22, 25, 27, 28, 344 Ruggeri Laderchi 183, 184, 191, 201, 298, 344
Ruggeri Laderchi 202 Rutte 65, 210, 344 Sahn 53, 59, 194, 199, 224, 333 Samuelson 90, 131, 344 Santibanez 141, 180, 344 Sautter 21, 345 Savaglio 53, 194, 199, 224, 345 Scanlon 132, 222, 243, 345 Schaich 53, 55, 196, 198, 345 Schäuble 105, 119, 120, 213, 338, 345 Scheurle 31, 345 Schiller 31, 335 Schmaus 331 Schokkaert 180, 183, 184, 190, 195, 203, 281, 286, 290, 292, 345 Schumann 60, 66, 74, 79–81, 209, 341 Schwenk 120, 121, 122, 271, 280, 286, 290, 293, 299, 310–312, 319, 345 Sciclone 183–185, 187–189, 191, 194, 197, 201, 202, 224, 280, 287, 289, 290, 329 Seabright 143, 144, 222, 345 Segal 189, 191, 290, 345 Seidl 21, 31, 36, 40, 41, 143, 222, 329, 345 Sen 7, 10, 15–17, 19, 21, 23, 24, 26, 30–33, 35, 37–39, 48, 51, 53, 59, 63, 126–196, 199–201, 203–205, 211, 218–246, 248–257, 259–261, 263–265, 268, 270–272, 274–276, 278, 280–285, 287, 288, 290, 292– 295, 298, 299, 301, 304, 306–310, 312, 315–325, 328–334, 336–338, 342–351 Serries 21, 345 Shah 29, 332 Sharma 203, 329 Shorrocks 25, 36, 38, 40, 42, 45, 47– 49, 334, 348, 350 Smeeding 331 Solow 128, 349 Sommer 351 Srinivasan 188, 203, 225, 329, 349
Personen- und Sachregister Stadler 65, 84, 206, 210, 337, 339, 341, 342, 344, 345, 349 Statistisches Amt der Stadt Trier (Hrsg.) 349 Steiner 222, 349 Stelzig 101, 103, 211, 349 Streeten 167, 223, 225, 349 Sugden 141, 223, 224, 349 Summerfield 223, 343 Sumner 159, 162, 166, 169, 222, 271, 323, 349 Suzumura 143, 222, 329, 330, 334 Szekely 203, 334 Takayama 38, 40, 45, 335, 349 Thiemeyer 211, 345, 349 Thon 35, 38, 40, 350 Thorbecke 36, 39, 41, 44–46, 48, 334 Tinbergen 84, 211, 337, 350 Townsend 24, 27, 29, 31, 54, 105, 166–168, 196, 221, 268, 347, 350 Travers 338 Tsui 52, 57, 58, 194, 350, 353 Uebel 7, 13, 65, 83, 204, 210, 226, 276, 319, 331, 341, 350 Ulph 38–40, 48, 332 UNDP 170, 221, 350 Utilitarismus 62–64, 66, 77, 90, 124, 126, 129–133, 140, 144, 153, 155, 169, 207, 211, 219, 220, 226, 232, 234, 240–244, 268, 271, 306, 316, 321 Van Ootegem 183, 184, 195, 203, 345 Van Parijs 351 Van Praag 28, 334, 335, 349, 351 Varian 56, 77, 248, 254, 351 Vaughan 38, 351
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Vergleichbarkeit 24, 49, 61, 63, 66, 70, 71, 78, 90, 104, 110, 111, 131, 188, 211, 219, 220, 230, 240, 242, 243, 261–265, 321 Villar 194, 224, 351 Voges 7, 13, 61, 103, 107, 117, 118, 204, 212, 224, 269, 290, 297, 338, 348, 351 Wagner 123, 214, 228, 344 Wandschneider 201, 202, 343 Watts 39, 40, 48, 351 Weikard 7, 143, 351 Weisser 9, 15, 18, 19, 60–62, 85, 86, 93–104, 107–114, 116–119, 121– 125, 205–214, 216, 217, 226–228, 230, 233–238, 244–251, 253–256, 260–267, 269–273, 275, 276, 278– 280, 282, 285, 286, 291, 305–307, 309, 312, 315–320, 322–326, 333, 335, 343, 349, 351–353 Wendt 61, 103, 106, 107, 123, 212, 214, 217, 319, 353 Weymark 25, 33, 35, 194, 333, 353 Whelan 224, 341 WHO 24, 353 Wiener Arbeiterkammer 84, 337 Williams 141, 172, 192, 223, 333, 342, 353 Wood 338 Xu 141, 342 Yaqub 193 Younger 53, 59, 194, 199, 224, 333 Zani 53, 195 Zapf 97, 120, 213, 214, 335, 353 Zeisel 84, 212, 337 Zheng 25, 31, 33, 35–41, 47–49, 57, 194, 353