Kontrollierbarkeit konsensualer Verfahrensweisen am Beispiel des US-amerikanischen Strafprozessrechts [1 ed.] 9783428508099, 9783428108091

Die Absprachen im Strafprozess bildeten einen wichtigen Schwerpunkt im strafprozessualen Schrifttum der letzten Jahre, d

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Kontrollierbarkeit konsensualer Verfahrensweisen am Beispiel des US-amerikanischen Strafprozessrechts [1 ed.]
 9783428508099, 9783428108091

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KYRA DREHER

Kontrollierbarkeit konsensualer Verfahrensweisen am Beispiel des US-amerikanischen Strafprozessrechts

Schriften zum Prozessrecht Band 175

Kontrollierbarkeit konsensualer Verfahrensweisen am Beispiel des US-amerikanischen Strafprozessrechts

Von Kyra Dreher

Duncker & Humblot . Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 200l/2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin

Printed in Germany

ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-10809-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Für meine Eltern und Andreas

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2001/2002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Die Druckfassung wurde im Frühjahr 2002 abgeschlossen. Mein ganz besonderer und herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Walter Perron. Er hat den Verlauf der Arbeit mit großem Interesse wie kritischem Rat begleitet und mich stets wohlwollend unterstützt sowie mir den für die Anfertigung einer Dissertation erforderlichen Freiraum gelassen. Meine jahrelange Tatigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft und später Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl wird mir für immer in bester Erinnerung bleiben. Herrn Professor Dr. Ernst-Walter Hanack danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Von den zahlreichen weiteren Personen und Institutionen, auf deren Hilfe die vorliegende Arbeit beruht, möchte ich namentlich danken: Herrn Professor Markus D. Dubber (State University of New York at Buffalo), der Columbia Law School (New York), der Lang-Hinrichsen-Stiftung, dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg im Breisgau. Meine Mutter hat das Manuskript dieser Arbeit mit größter Geduld und Ausdauer Korrektur gelesen. Hierfür sowie für vieles andere danke ich ihr. Wiesbaden, im Mai 2003

KyraDreher

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Teil

Absprachen im deutschen Strafverfahren

24

A. Begriffsklärung ....................................................................

24

B. Grundlagen und Entstehungsgründe ................................................

27

I. Rechtliche Grundlagen ......................................................

27

11. Rechtstatsächliche Grundlagen: Interessenlage der Prozessbeteiligten ........

30

1. Interessen und Motive des Gerichts.......................................

31

a) Arbeitsentlastung .....................................................

31

aa) Prozessflut und Verfahrensdauer im Allgemeinen .................

32

bb) Großverfahren im Speziellen .....................................

35

cc) Gesetzgebung ....................................................

36

dd) Beweisschwierigkeiten ................ . ..........................

37

ee) Beweisantragsrecht ...............................................

37

b) Revisionsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

c) Beschleunigung des Verfahrens .......................................

40

2. Interessen und Motive der Staatsanwaltschaft.............................

41

3. Interessen und Motive des Beschuldigten ........... . .....................

42

a) Beschleunigung des Verfahrens .......................................

42

b) Kosten................................................................

43

c) Hoffnung auf einen vorteilhaften Verfahrensausgang ..................

43

d) Interessen des Beschuldigten gegen Absprachen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

4. Interessen und Motive des Strafverteidigers ...............................

45

10

Inhaltsverzeichnis

C. Die Enttabuisierung von Absprachen ...............................................

46

1. Beginn der öffentlichen Diskussion................................... . ......

47

II. Absprachen als Thema des 58. Deutschen Juristentages ......................

48

III. Empirische Untersuchungen .................................................

49

D. Stellungnahme in der Literatur und Rechtsprechung zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen ...........................................................................

50

I. Die Absprache und das Fairnessprinzip ......................................

51

1. Nichteinhaltung von Absprachen und gerichtliche Hinweispflicht .........

54

2. Fehlgeschlagene Absprache als Strafmilderungsgrund ....................

55

3. Rechtsmittelverzicht ......................................................

57

4. Fehlende präjudizielle Wirkung von Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung ..............................................................

62

II. Erzwungener Konsens und Nemo tenetur-Grundsatz I § 136a StPO ...........

64

1. Standpunkte der Rechtsprechung .........................................

64

2. Stellungnahmen der Literatur .............................................

65

a) Tauschung ............................................................

66

b) Drohung mit einer verfahrensrechtlich unzulässigen Maßnahme .......

66

c) Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils..............

68

III. Anklagezwang und Amtsermittlungsgrundsatz ...............................

72

IV. Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Beweiserhebung .....................

77

V. Gefahr der Verdachtsstrafe und Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes .......

83

VI. Besorgnis richterlicher Befangenheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

VII. Vereinbarkeit mit Art. 103 I GG

88

E. Zusammenfassung ................................. . . . .............................

90

2. Teil

Das US-amerikanische Plea BargainIDg System

93

A. Entstehung und rechtliche Grundlagen des plea bargaining .........................

93

1. Der Verlauf eines Strafverfahrens ............................................

93

II. Entstehungsgeschichte und Etablierung des plea bargaining ..................

96

Inhaltsverzeichnis

11

III. Konfliktlösung als Verfahrensziel ............................................ 100 IV. Möglichkeiten, Fonnen und Folgen einer Stellungnahme zur Anklage . . . . . . . . 102 V. Dispositionsmaxime und Strafverfolgungsennessen der Staatsanwaltschaft ... 108 VI. Das System der Strafzumessung ............................................. 110

1. Strafzumessung ohne Richtlinien - Refonnbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Strafzumessung unter den (Federal) Sentencing Guidelines ............... 113 a) Richtlinieninteme Komponenten der Strafmaßermittlung .............. 116 b) Einflussnahme der Verfahrensbeteiligten auf das zu ermittelnde Strafmaß ................................................................... 118 VII. Die gesetzliche Regelung des plea bargaining - Federal Rules of Criminal Procedure ................................................................... 121 I. Voraussetzungen eines rechtmäßigen guilty plea, Rule 11 (c,d & f) ........ 122 a) Kenntnis und Verständnis der Anklage und Konsequenzen des guilty plea ................................................................... 122 b) Die Freiwilligkeit eines guilty plea, Rule l1(d) ........................ 124 c) Das Erfordernis der ..factual basis", Rule 11(f) ........................ 124 d) Offenlegung und Protokollierung, Rule l1(g) .......................... 125 2. Verfahrensweisen bei ..plea agreements", Rule l1(e) ...................... 126 3. Rücknehmbarkeit eines guilty plea, Rule 32(e) ............................ 128 4. Verwertungsverbote der Fed.R.Crim.P. 11(e)(6) und Fed.R.Evid. 410 ..... 130 VIII. Einzelstaatliche Einschränkungen am Beispiel New York .................... 131 B. Anspruch und Wirklichkeit der Federal Rule of Criminal Procedure 11 ............. 133 I. Grenzen gerichtlicher Aufklärung............................................ 133 11. Beurteilung im Kontext des plea bargaining ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 III. Aufweichung von Schutzvorschriften ........................................ 135 C. Funktionen und Motive der Verfahrensbeteiligten am plea bargaining . . . . . . . . . . . . . . . 138 I. Gemeinsame Interessen und Motive ......................................... 138

1. Interesse an einer ..einverständlichen" Erledigung der Fälle ............... 138 2. Arbeitsentlastung ......................................................... 139 3...Initial overcharging" durch Polizei und Staatsanwaltschaft............... 140 4. Umgehung exorbitant hoher Strafmaße ................................... 141

12

Inhaltsverzeichnis 11. Funktionen und Motive des Staatsanwaltes................................... 142 1. Der amerikanische Staatsanwalt als Vertreter unterschiedlicher Interessen 143

2. Verbindliche Verhaltensregeln im p1ea bargaining ......................... 146 a) Leitlinien des lustizministeriums - Das U.S. Attorney's Manual....... 147 b) Stellungnahme........................................................ 150 c) Leitlinien der American Bar Association .............................. 151 3. Die Staatsanwaltschaft als faktische Strafzumessungsinstanz .............. 151 a) Die Staatsanwaltschaft als faktische Strafzumessungsinstanz in Staaten ohne Sentencing Guidelines (U.S.S.G.) . .... .. .... . .... . .... . . .... . . .. . 152 b) Die Staatsanwaltschaft als faktische Strafzumessungsinstanz unter den Federal Sentencing Guidelines ........................................ 155 aa) Rechtspolitische Erwägungen und empirische Untersuchungen ... 155 bb) Einwirkung auf das Strafmaß mittels charge und fact bargaining .. 158 cc) Verschiebungen des Ausgangsstrafrahmens (base offense level) ... 163 dd) Antrag auf "substantial assistance", § 5Kl.l U.S.S.G. ............ 165 c) Zusammenfassung .................................................... 168 III. Funktionen und Motive des Verteidigers ..................................... 169 1. Der Verteidiger als Verhandlungs partner .................................. 171

2. Verteidigertätigkeit im plea bargaining . . . .. . . .... . . ... . . ... . . .. .. . ... . . ... 174 a) Ermittlungen .......................................................... 174 b) Verhandlungsstrategie ................................................. 176 c) Ineffektive Verteidigung .............................................. 179 d) Verhandlungen unter den U.S.S.G. .................................... 180 3. Anreize und Motive ...................... . ..................... . ......... 183 4. Zusammenfassung........................................................ 187 IV. Funktionen und Motive des Richters......................................... 188 1. Die Beteiligung des Richters an p1ea negotiations ......................... 188 2. Absicherung des ausgehandelten plea agreements ......................... 190 a) Annahme eines guilty p1ea ............................. ............... 191 b) Zurückweisung eines gui1y plea ... .. ............................. .. ... 194

Inhaltsverzeichnis

13

3. Die Verhängung der Strafe................................................ 194 a) Die Verhängung der Strafe unter den Federal Sentencing Guidelines ... 195 b) Die Verhängung der Strafe in Staaten ohne Strafzumessungsrichtlinien 198 4. Eigeninteressen an einem plea agreement ................................. 200 5. Zur rechtlichen und tatsächlichen Kontrollfunktion des Richters .... . ..... 201 V. Rolle und Motivation des Beschuldigten ..................................... 202 1. Die Beteiligung des Beschuldigten an plea Verhandlungen ................ 202 2. Rechtsverzicht und Rechtsverwirkung als Ausdruck von Eigenverantwortlichkeit? .................................................................. 203 a) Impliziter Rechtsverzicht ............................................. 204 b) Expliziter Rechtsmittelverzicht .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208 3. Enttäuschte Erwartungen ................................................. 209 a) Durchsetzbarkeit des plea agreements................................. 210 b) Widerruf des guilty plea .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . ... 213 4. Anreize für ein guilty plea ...... .. .................. .. .................... 215 D. Friktionen zwischen plea bargaining und verfahrensrechtlichen Prinzipien.......... 216 I. Verbot erzwungener Selbstbezichtigung und Unschuldsvermutung ........... 216 1. Das guilty plea als standardisierte Selbstbezichtigung ..................... 218

2. Verurteilte Unschuldige v. vermutete Unschuld ........................... 220 3. Übereinstimmungen und Unterschiede zum Nemo tenetur-Grundsatz in Deutschland .............................................................. 222 11. Recht auf Aburteilung durch Geschworene (right to jury trial) und faires Verfahren ....................................................................... 225 111. Recht auf Gleichheit bei der Rechtsanwendung, Amendment XIV . . . . . . . . . . .. 228 IV. Recht auf eine öffentliche Verhandlung, Amendment I & VI

230

E. Reformbestrebungen ............................................................... 233 I. Abschaffung des plea bargaining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 233 11. Restrukturierung des Verfahrens

237

F. Abschließende Stellungnahme ..................................................... 239

14

Inhaltsverzeichnis 3. Teil

Rechtsvergleichende Bewertung - Zur Übertragbarkeit amerikanischer Modelle auf das deutsche Strafverfahren

245

A. Notwendigkeit einer verbindlichen Regelung ....................................... 245 I. Defizite und Grenzen richerlicher Rechtsfortbildung ......................... 247

11. Klarheit über Verfahrensziele und Rechtslage ................................ 250 B. Anleihen US-amerikanischer Lösungsmodelle als Ausweg? ........................ 251 I. Normierung konsensualer Verfahrensweisen durch Modifikation einzelner strafprozessualer Vorschriften? ............................................... 252

1. Richterliche Absicherung, Offenlegung und Verbindlichkeit des Vereinbarten .................................................................... 253 2. Folgerungen im Hinblick auf eine Übertragbarkeit ........................ 255 a) Offenlegung des Vereinbarten ..... . ................... . .......... . .... 256 b) Richterliche Absicherung ............................................. 258 aa) Schutz durch ausdriickliche Prüfungserfordernisse und standardisierte Strafnachlässe? ........................................... " 258 bb) Stärkung der förmlichen Verteidigungsrechte ..................... 262 c) Verbindlichkeit des Vereinbarten......... . ....................... . .... 263 aa) Die fehlgeschlagene Absprache................................... 264 bb) Revisibilität ...................................................... 267 3. Zusammenfassung und Wertung .......................................... 271 11. Reform des Strafprozesses ................................................... 273 1. Kooperationsmodell der Hessischen Arbeitsgruppe ................ . ...... 273

2. Reformvorschlag von Weigend ........................................... 275 3. Reformüberlegungen der Regierungskoalition ............................ 277 C. Ergebnis der Untersuchung und Schlussfolgerungen ................................ 279

Anhang

283

A. US-amerikanische Gesetzestexte ................................................... 283

I. U.S. Constitution, Amendments .............................................. 283

Inhaltsverzeichnis

15

11. Federal Rules of Criminal Procedure . . .. . . .. . . .. .. . .. .. . . .. . . . .. .. . .. . .. . .. .. 284 III. Federal Rules of Evidence ................................................... 290 IV. Vnited States Federal Sentencing Guidelines, V.S.S.G. ....................... 290 V. 28 V.S. Code ................................................................ 291 VI. New York Criminal Procedure ............................................... 293 B. Verbindliche Regelungen ohne Gesetzeskraft....................................... 301 I. ABA-Standards for Criminal Justice Relating to Pleas of Guilty (1982) ...... 301

11. ABA-Standards for Criminal Justice - Prosecution Function and Defense Function (3d Edition 1993) .................................................. 306 III. Vnited States. Attorneys' Manual (1997) ..................................... 310 IV. National District Attorneys' Association: National Prosecution Standards .... 317 C. Fonnulare .......................................................................... 318 I. Plea Agreement.. .. .. . .. . .. . .. . .. . . .. .. .. .. . .. . . .. .. . .. . . .. . . . .. . . .. . . .. .. ... 318

11. Waiver of Rights by Pleading Guilty ......................................... 320

Literaturverzeichnis .................................................................. 322

Sacbwortverzeicbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 343

Abkürzungsverzeichnis a.A. a. a.O. ABA a.E. a.F. Ala.L.Rev. A.L.R. Am.Crim.L.Rev. Am.U.L.Rev. AnwBI. Art. B.C.Int'l & Comp.L.Rev. BGBI. BGHSt BRAGO bspw. BtMG BVerfG BverfGE bzgl. bzw. Cal.L.Rev. Cath. U .L.Rev. Colum.L.Rev. c.p.p. Crim.L.Bull. Crim.L.Q. ders. d.h. Dick.J.Int'l L. DJT DRiZ ed. E.D.N.Y.

anderer Ansicht am angegebenen Ort American Bar Association am Ende alte Fassung Alabama Law Review American Law Report (zit. nach Band und Seite) American Crirninal Law Review American University Law Review Anwaltsblatt Artikel Boston College International & Comparative Law Review Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung beispielsweise Betäubungsmittelgesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zitiert nach Band und Seite) bezüglich beziehungsweise California Law Review Catholic University Law Review Columbia Law Review Codice di Procedura Penale Crirninal Law Bulletin Crirninal Law Quarterly derselbe das heißt Dickinson Journal of International Law Deutscher Juristentag Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) edition United States Distriet Court for the Eastem Distriet of New York

Abkiirzungsverzeichnis EGGVG

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

17

Europ.J.Crime

European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice

f., ff.

folgende, fortfolgende

F.2d I F.3d

Federal Reporter Second/Third Series (zitiert nach Band und Seite)

PBI

Federal Bureau of Investigation

Fed.R.Crim.P.

Federal Rules of Criminal Procedure

Fed.R.Evid.

Federal Rules of Evidence

Fed. Sent. Rep.

Federal Sentencing Report

Fn.

Fußnote

FRCP

Federal Rules of Criminal Prodedure

FS

Festschrift

F.Supp.

Federal Supplement

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

Geo.J.Legal Ethics

Georgetown Journal of Legal Ethics

Geo.L.J.

Georgetown Law Journal

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GS GVG

Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz

Hamline J.Pub.L. & Pol'y Hamline Journal ofPublic Law and Policy Harv.Crim.L.Rev.

Harvard Criminal Law Review

Harv.L.Rev.

Harvard Law Review

h.M.

herrschende Meinung

i.e.S.

im engeren Sinne

i. S. d.

im Sinne der I des

i.V.m.

in Verbindung mit

i.w.S.

im weiteren Sinne

JR

Juristische Rundschau

J.Leg. Stud.

Journal of Legal Studies

JuS

Juristische Schulung (zitiert nach Jahr und Seite)

JZ

Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

krit.

kritisch Kritische Justiz (zitiert nach Jahr und Seite)

KJ KrirnJ

Kriminologisches Journal (zitiert nach Jahr und Seite)

KritV

Kritische Vierteljahrsschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

LR-Bearbeiter

Löwe Rosenberg, Kommentar zur Strafpozessordnung, 24. Auflage

L.Rev.

LawReview

L. & Soc'y Rev.

Law & Society Review

MDR

Monatszeitschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

2 Dreher

Abkürzungsverzeichnis

18 Mich.L.Rev. Minn.L.Rev. MschKrim m.w.N. N.E./N.E.2d NJ

Michigan Law Review Minnesota Law Review Monatsschrift für Kriminologie (zitiert nach Jahr und Seite) mit weiteren Nachweisen North Eastem Reporter Neue Justiz (zitiert nach Jahr und Seite)

NJW N.M.L.Rev.

Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

Nr. NStZ

Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht

NStZ-RR NW.U.L.Rev.

Neue Zeitschrift für Strafrecht - Rechtsprechungsreport Northwestem University Law Review

N.Y./N.Y. 2d

New York Court of Appeals Report New York Jurisprudence, Second Edition New York Supplement, Second Series

N.Y. Jur.2d N.Y.S.2d N.Y.U.L.Rev. Or.L.Rev.

New Mexico Law Review

New York University Law Review Oregon Law Review

Rdz. Rn. RiStBV

Randziffer

S.Ca1.L.Rev.

Southem Califomia Law Review

Randnummer Richtlinien für das Strafverfahren und Bussgeldverfahren Ld.F.v. I. 10. 1988 (BAnz. Nr. 176)

S.ct.

Supreme Court Reporter (zitiert nach Band und Seite)

sog.

sogenannte Stanford Law Review

Stan.L.Rev. StGB StPO str. Stra.F.o StRG StV

Strafgesetzbuch Strafprozessordnung strittig Strafverteidiger Forum Strafrechtsreformgesetz Strafverteidiger (zitiert nach Jahr und Seite) University of Chicago Law Review

U.Chi.L.Rev. U.Cin.L.Rev.

University of Cincinnati Law Review

U.CoI0.L.Rev. U.Pa.L.Rev.

University of Colorado Law Review University of Pennsylvania Law Review

U.S.

United States Reports

U.S.C.

United States Code

U.S.C.A.

United States Code Annotaded United States Sentencing Guidelines

U.S.S.G. usw. v. Vand.L.Rev.

und so weiter versus Vanderbilt Law Review

Abkürzungsverzeichnis W.D.N.C. wistra Yale L.J. z.B. ZPO ZRP ZStW

2*

19

United States District Court for the Wester District of North Carolina Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Yale Law Journal zum Beispiel Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Jahr und Seite)

Einleitung Konsensuale Verfahrensweisen beinhalten jede Art der Verständigung über das Verfahrensergebnis mit dem Ziel, den Prozess zu beschleunigen und zumindest eine teilweise Prozesserledigung frühzeitig herbeizuführen. Aus der Verfahrenspraxis, insbesondere vielschichtigen und komplexen Wirtschaftsstraf-, Steuerstrafund Betäubungsmittelverfahren sind sie ebenso wenig wegzudenken wie aus dem Schrifttum, das seit Jahren kontrovers und nachhaltig über die Vereinbarkeit mit gültigen Verfahrens garantien und Verfassungsrechten sowie der Kompetenzanmaßung einzelner Verfahrensbeteiligter diskutiert. Stellungnahmen zur Zulässigkeit von Absprachen im deutschen Strafverfahren sind dabei weitaus vielfältiger als Versuche, konsensuale Verfahrensweisen einzuschränken und zu kontrollieren. Obwohl eine Verbesserung der Rechte des Beschuldigten nachhaltig gefordert wird, zeichnet sich nunmehr eine nicht zuletzt von der Rechtsprechung geprägte Tendenz zu weitgehender Implementierung konsensualer Verfahrensweisen in das herkömmliche Strafverfahren deutlich ab. Eine Stellungnahme des Gesetzgebers ist bislang ausgeblieben. Auch sind kaum klare Konzepte einer Regelung konsensualer Verfahrensweisen wie einer rechtsstaatlichen und prozessökonomischen Reform in Sicht. Von der Unvermeidbarkeit konsensualer Verfahrensweisen ausgehend, ist Ziel dieser rechtsvergleichenden Arbeit, Tendenzen einer Umgehung gesetzlicher Schranken zu untersuchen, die bei einer etwaigen gesetzlichen Einschränkung zu berücksichtigen wären. Da der Versuch, konsensuale Verfahrensweisen am bestehenden Instrumentarium der Verfassung und Verfahrensstruktur zu messen, der Phänomenologie informeller Vorgehensweisen nicht gerecht wird und eine Einschränkung auf dieser Grundlage fehlzuschlagen droht, stehen entsprechende USamerikanische Erfahrungswerte im Mittelpunkt der Arbeit. Dabei geht es keineswegs um eine Übertragung des plea bargaining in das deutsche Strafverfahrenssystem, vielmehr gilt es zu untersuchen, ob und inwiefern die amerikanischen Erfahrungen im Umgang mit plea bargaining gerade auch im Hinblick auf Handhabungsvorschläge in Rules und Guidelines mit systembedingten Abstrichen für den Umgang mit dem deutschen Äquivalent der Absprache nutzbar gemacht werden können und sollen. Die Wahl des US-amerikanischen Verfahrensrechtes als Vergleichsgegenstand hat mehrere Gründe: In den USA begann die Debatte um die Verfassungsmäßigkeit kooperativer Verfahrensweisen (plea bargaining) lange bevor eine solche Praxis in Deutschland auch nur hinlänglich bekannt war. Schätzungsweise 93% der Fälle werden heute mittels plea bargaining bewältigt, so dass kaum mehr nur noch von einer Teilerscheinung des amerikanischen Strafverfah-

22

Einleitung

rens, sondern vielmehr vom amerikanischen Strafverfahren schlechthin gesprochen werden muss. Trotz dieser praktischen Verbreitung wie legitimierender Entscheidungen des US Supreme Court ist die dortige Diskussion um die Rechtmäßigkeit des plea bargaining bis heute nicht versiegt, was nicht zuletzt verschiedene Regelungen zur Kontrolle konsensualer Verfahrensweisen zur Folge hatte. Zudem sind hinsichtlich der rechtstatsächlichen Ursachen für kooperatives Verhalten im Strafprozess Ähnlichkeiten zwischen den beiden Verfahrenssystemen ebenso festzustellen wie ein scheinbar grundlegendes Bestreben nach Konsensfindung. Die deutsche Entwicklung und Diskussion um Akzeptanz von Absprachen weist somit einige Parallelen zum amerikanischen Entwicklungsverlauf auf. Was die konkrete Untersuchungsmethode anbelangt, so steht das US-amerikanische Bundesverfahren im Vordergrund, da hier erstmals einschlägige Regelungen ergangen sind. Da jedoch einzelstaatliche Prozessordnungen mitunter erheblich VOn derjenigen des Bundes abweichen und auch die Strafmaße weniger exorbitant hoch als im Bundesrecht sind, wird das Strafprozessrecht des Staates New York vergleichsweise und ergänzend herangezogen. Um zuverlässige Kenntnisse über die Vorgehens- und Sichtweise der Verfahrensbeteiligten zu erlangen, wurden fünf Verteidiger (Federal and State Defense Attorneys), sechs Staatsanwälte (Distriet Attorneys and US Attorneys) und zwei Richter in Western New York, Buffalo (Erie County) befragt. Die Dauer der Gespräche betrug durchweg etwa 90 Minuten. Um einen einheitlichen Gesprächsverlauf zu ermöglichen, waren die Fragen in wichtigen Teilen vorformuliert, wobei sie den unterschiedlichen Tätigkeiten der Gesprächspartner angepasst waren. Dies erleichterte zugleich eine wortgetreue Protokollierung der Gespräche, zumal VOn einer Aufzeichnung auf Tonbandgerät nicht zuletzt auf Bitte der Gesprächspartner abgesehen wurde, um die Unbefangenheit bei den Aussagen zu gewährleisten. Obwohl die Anzahl der durchgeführten Interviews allein eine Verallgemeinerung der Aussagen nicht zulässt, so konnten doch die in der Literatur gewonnenen Eindrücke und Vermutungen aufgrund der weitgehend übereinstimmenden Aussagen durch bloße Beobachtung und Praktikererfahrungen bestärkt werden. 1 Der erste Teil behandelt die rechtlichen und rechtstatsächlichen Grundlagen konsensualer Verfahrensweisen im deutschen Verfahren wie auch Entwicklung und Gegenstand der Diskussion und wesentlichen Rechtsprechung zu Verfahrensabsprachen. Da trotz eingehender jahrelanger Auseinandersetzung mit der Thematik und auch nach der sog. Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahre 19972 konsensuale Verfahrensweisen überwiegend noch immer außerhalb der StPO stattfinden und es nicht gelingen kann, sie mit den Grundsätzen der StPO zu domestizieren, werden im zweiten Teil die entsprechenden Grundlagen wie Regelungsansätze des US-amerikanischen plea bargaining und anband dessen die spezifischen Struk1 Schon an dieser Stelle sei auf das in Art, Ausmaß und insbesondere Ergebnis vergleichbare Projekt von Hollander-Blumhoffhingewiesen, 2 Harv. Negotiation L.Rev.(1977) 115. 2 BGHSt 43, 195 ff.

Einleitung

23

turmerkrnale des adversatorischen Strafverfahrens dargelegt. Die konkreten Regelungen zur Kontrolle des plea bargaining fördern dabei mögliche Überprüfungsstandards für das Zustandekommen einer Absprache ebenso zu Tage wie sie systembedingte strukturelle Veränderungen und insbesondere Folgeschwierigkeiten vor dem Hintergrund der spezifischen Ausgestaltung des US- amerikanischen Verfahrens verdeutlichen. Im dritten Teil werden die Erkenntnisse des US- amerikanischen Teils bilanziert, auf ihre mögliche Vorbildfunktion hinsichtlich einer Kontrollierbarkeit wie des Auslotens von Grenzen unter Berücksichtigung struktureller Eigenheiten hin kritisch untersucht und schließlich in mögliche Rejormperspektiven eingebracht.

1. Teil

Absprachen im deutschen Strafverfahren A. BegrifTsklärung Jeder für konsensuale Verfahrensweisen gewählte terminus kann letztlich nur als Oberbegriff für eine in der Rechtswirklichkeit äußerst vielfältige Erscheinung dienen. Dies zeigt sich am Terminologiengewirr von Absprache, Verständigung, Vergleich, Verhandlung, als dessen Ursache fehlende strafprozessuale Regelungen sowie unterschiedliches Identifizierungsverständnis der beteiligten Justizorgane genannt werden.! Um die Begrifflichkeit nicht von vornherein mit einer juristischen Bewertung zu besetzen,2 bedarf es einer kurzen inhaltlichen Klärung der neutraleren Termini "Verständigung", "Vergleich" und "Absprache".3 "Verständigung" und "Absprache" werden zuweilen synonym verwandt4 , teilweise aber auch scharf voneinander abgegrenzt. 5 Darin spiegelt sich die scheinbar willkürliche Verwendung der Begriffe durch die jeweiligen Bearbeiter, sowie die Problematik einer begrifflichen Kategorisierung wider. Ob Verständigung dabei als Oberbegriff für jegliche Formen der Vereinbarung 6 über die Verfahrensdurchführung und -vereinfachung oder nur für die eindeutig gesetzlichen Verfahrensweisen dienlich ist,7 soll nicht Gegenstand der Untersuchung sein, zumal eine derartige Einordnung der Begriffe die Thematik nicht eindringlicher zu klären vermag. Der Dencker, S. 14,36 ff. "Deal", "Schmieren-Theater", "Kuhhandel", "va-banque-Spiel" und dergleichen bieten zum einen keine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Thematik und stellen zum anderen das Vertrauen des Bürgers in die Justiz in Frage, Siolek, DRiZ 1989,321. 3 Eine ausführliche Darstellung sämtlicher verwendeter Begrifflichkeiten findet sich bei Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 17 ff, 196 ff. Vgl. ferner Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 26. 4 Gatzweiler, NJW 1989, 1903; Siolek, DRiZ 1989, 321 ff; Schmidt-Hieber, DRiZ 1990, 321 ff.; Schünemann nahm im Gutachten zum 58. DJT eine weitaus differenziertere Unterteilung vor, die allerdings die Diskussion um Absprachen nicht weniger problematisch macht. 5 Rönnau, S. 31 f. 6 Gutterer, S. 3. 7 Als "Verständigung" bezeichnet Dencker die sich im Rahmen der StPO haltenden Kooperationsmöglichkeiten, als "Vergleich" hingegen jene außerhalb des verfahrensrechtlich Zulässigen. Zwischen diesen beiden Polen siedelt er die "Absprachen" an, Dencker/Hamm, S. 37 f. 1

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A. Begriffserklärung

25

terminus der Verständigung wird von den meisten Autoren 8 als mindestens ebenso neutral verstanden wie deIjenige der Absprache und wohl auch aus diesem Grund von der Rechtsprechung bei ihrem zurückhaltenden Umgang mit dem Thema verwandt. 9 Der zivilrechtliehe Vergleichsbegrijf, der auch als Bezeichnung für die Kooperationspraxis der Prozessbeteiligten gebräuchlich ist, ist ein feststehender Rechtsbegriff im Gegensatz zu den Begriffen der Absprache, Verständigung und Vereinbarung. So ist nach der Legaldefinition in § 779 I S. 1 l.HS BGB ein Vergleich ein Vertrag, durch den der Streit oder die Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege des gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird. Dass diese Streitbeseitigung nicht einfach in den Strafprozess übertragen werden kann, liegt an den sich gänzlich unterscheidenden Verfahrensweisen und Zielsetzungen von Zivil- und Strafprozess. Während sich die Beteiligten im Parteienprozess ebenbürtig gegenüberstehen und den Streitgegenstand selbst festlegen, findet sich keine derartige Gleichordnung im Strafverfahren. 10 Dieses ist vielmehr durch das Prinzip der materiellen Wahrheit und zu dessen Durchsetzung vom Ermittlungsgrundsatz geprägt, § 15511,244 11 StPO. Zwar enthält auch die StPO mit den §§ 153 ff., 207 ff. Normen, bei denen auf den Verfahrensgegenstand Einfluss genommen werden kann, dabei handelt es sich jedoch um abschließende Sonderregelungen, die kein Einfallstor für den "strafprozessualen Vergleich" darstellen. Das in § 779 BGB genannte "Rechtsverhältnis" ist nicht mit dem viel weiter gefassten Begriff der Rechtsbeziehung zu verwechseln. Unter Rechtsverhältnis werden im bürgerlichen Recht Rechtsbeziehungen zwischen Personen als Rechtssubjekte verstanden, deren wesentliche Elemente Rechte und Pflichten sind. 11 Entscheidend ist, dass das Rechtsverhältnis zwischen den "Parteien" besteht und ihrer Dispositionsbefugnis unterliegt. 12 Schließen die Parteien im Zivilprozess einen Vergleich, so ist eine Entscheidung über das bis dahin strittige Verhältnis nicht mehr möglich. Sie setzen damit ihren Vergleich an die Stelle einer gerichtlichen Entscheidung. I3 Dagegen kann ein wie auch immer gearteter Vergleich im Strafverfahren nie einer Entscheidung den Boden entziehen. Dies wird wiederum an § 153 a StPO deutlich, der zwar eine Einflussnahme auf den Verfahrens gegen stand ermöglicht, diese aber un8 Bode, DRiZ 1988,281; Hanack, StV 1987,500; Kintzi, JR 1990, 309; Lüderssen, StV 1990,415; Schmidt-Hieber, Verständigung, 1986; Rex, DRiZ 1991,31; Siolek, DRiZ 1989, 321 ff. & 1993,422, ders., in Verständigung in der Hauptverhandlung, 1993, S. 44. 9 BGHSt 37, 99 (vgl. Böttcher, JR 1991, 119) im Gegensatz zur Verwendung des Absprachenbegriffs durch den 2.Senat im Urteil vom 7.6. 1989, BGHSt 36,210. 10 Insbesondere nicht zwischen Beschuldigtem und der Staatsanwaltschaft mit ihrer Verpflichtung zu objektiver Amtsführung, Roxin, § 10 A III; Amelung, Stra.F.o 2001, S. 185, 186; Handlungsmöglichkeiten der StA auch zugunsten des Beschuldigten als Ausfluss objektiver Amtsführungspflicht finden sich in den §§ 16011,29611, sowie in §§ 365 iVm 301 StPO. 11 Vgl. Larenz/Wolf, S. 253. 12 Palandt-Sprau, 59. Aufl. 2000, § 779, Rdz. 5 f. 13 Dencker / Hamm, S. 30.

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

ter die Prämisse einer staatsanwaltlichen (Absatz 1) oder gerichtlichen (Absatz 2) Entscheidung stellt. Der strafprozessuale Vergleich findet sich in der StPO im Privatklage-, sowie im Nebenklage- und Adhäsionsverfahren, 14 wobei der Begriff als solcher im Gesetzestext nicht auftaucht. In § 380 StPO sind lediglich die Bezeichnungen "Vergleichsbehörde" und "Sühneversuch" enthalten. In § 470 S. 2 StPO findet sich eine Vergleichungsmöglichkeit insofern, als bei Zurücknahme des Strafantrags und Einstellung des Verfahrens dem Angeklagten oder einem Beteiligten die Kosten auferlegt werden können, soweit er sich zur Übernahme bereit erklärt. Zwar setzen die genannten Normen eine Konsensbildung voraus, sie taugen jedoch nicht dazu, Rückschlüsse auf die hier in Frage stehenden Kooperationspraktiken zu ziehen, da sie nur für bestimmte Straftaten Anwendung finden, § 380 StPO oder sich lediglich auf Kosten- und Auslagenvergleiche beschränken, § 470 S. 2 StPO. Entscheidendes Argument gegen eine Verwendung des Vergleichsbegriffs ist die Tatsache, dass der Vergleich nach herkömmlichem Verständnis aus dem Zivilrecht dazu dient, an die Stelle einer Entscheidung zu treten. Da dies im deutschen Strafverfahren nicht möglich ist und der Vergleich falsche Assoziationen zum zivilrechtlichen Parteienprozess hervorruft, ist er als Arbeitsbegriff untauglich. Der Absprachenbegrijf wird mittlerweile überwiegend l5 wertneutral als Einigung zwischen Beteiligten des Strafverfahrens über die Vornahme künftiger Prozesshandlungen verstanden. 16 Diese offene Definition trägt dem spezifischen Gepräge jeder einzelnen Absprache Rechnung und umfasst Absprachen im Ermittlungsverfahren ebenso wie solche in der Hauptverhandlung. Durch die Verwendung des Absprachenbegriffs wird zudem deutlich, dass es nicht wie beim Vergleich darum geht, eine gerichtliche Entscheidung unmöglich zu machen, sondern aufgrund von Kooperation ein bestimmtes Verfahrensergebnis zu erreichen. Unter Einbeziehung einer bereits erfolgten oder einer zukünftigen Verfahrenshandlung, gibt das Gericht eine Prognose über den Verfahrensausgang ab, die allein auf der momentanen Verfahrenslage basiert. Der terminus der Absprache erscheint daher einerseits kritisch 17 , andererseits tendenzneutral und damit als Arbeitsbegriff am besten geeignet.

Kleinknecht/Meyer-Goßner; vor § 374 StPO, Rdz. 8 ff., vor § 395 Rdz. 13. Nach der abweichenden Auffassung von Rönnau, S. 26 und Schmidt-Hieber; StV 1986, 355 ff., unterfallen dem Begriff der Absprache eindeutig unzulässige oder zumindest problematische Kooperationspraktiken. 16 Gerlach, S. 33; loakimidis, S. 25; Siolek, DRiZ 1989,321 ff. Enger und gleichsam verbindlicher versteht den Begriff Niemöller, StV 1990, 35. 17 Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167. 14

IS

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

27

B. Grundlagen und Entstehungsgründe Ob Absprachen tatsächlich so alt wie das Strafverfahren selbst sind,18 lässt sich nicht feststellen. Erste Forderungen nach einer Kontrolle im Hinblick auf eine sich einschleichende Absprachenpraxis wurden 1960 gestellt. 19 Die Einführung des § 153 a StPO im Jahre 19742 sowie die Zunahme an Wirtschafts-, Umwelt-, Steuer- und Betäubungsmittelstrafsachen legen jedoch den Schluss nahe, dass Absprachen nach heutigem Verständnis und Ausmaß erst ab Mitte der siebziger Jahre zum Rechtsalltag gehörten. Es stellen sich insoweit Fragen nach rechtlichen Grundlagen einer Konsensorientierung 21 in der StPO, nach Motiven der Prozessbeteiligten sowie nach der unterschiedlichen Ausgestaltung von Absprachen.

°,

I. Rechtliche Grundlagen Die Strafprozessordnung enthält keinerlei Regelungen über Urteilsabsprachen 22, dafür aber zahlreiche Normen mit konsensorientierter Ausprägung?3 Außer Betracht sollen hierbei die Vergleichsmöglichkeiten des Privatklage- und Nebenklageverfahrens bleiben. Der in den §§ 391, 395 StPO enthaltene Charakter eines Parteiverfahrens 24, sowie die Dispositionsbefugnis des Privatklägers unterscheiden sich zu sehr von sonstigen strafprozessualen Verfahren, in denen üblicherweise Absprachen getroffen werden. 25 Darüber hinaus beinhaltet die StPO jedoch unterschiedliche Vorschriften zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, die eine Konsenserzielung der Verfahrensbeteiligten voraussetzen: 26 (1) Im Rahmen der §§ 153 I 1, 153 a, 153 b 11 StPO kann das Gericht nur mit Zustimmung des Beschuldigten von einer Strafe absehen. 27

Bussmann, KritV 1989,377. Grünwald, NJW 1960, 1941. 20 Einführungsgesetz zum StGB, (EGStGB), 2.3. 1974. 21 Zu Bedenken bei der Verwendung dieses Begriffs vgl. Hassemer; JuS 1989,890,892. s. hierzu auch Jung, 5 Europ.J.Crime (1997), 112, 119. 22 Zwar ist in § 13 11 StPO von einer "Vereinbarung" zwischen den Gerichten hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit die Rede, diese hat jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der herkömmlichen Urteilsabsprache. 23 Eine äußerst umfassende Darstellung hierzu gibt Sinner; S. 140 ff. Vgl. ferner die Übersichten bei Schmidt-Hieber; StV 86, 355 und Kintzi, JR 1990,309,310. 24 Roxin, § 61 A 11. 25 Vgl. zum Privatklageverfahren als Ausprägung des Vertragsgedankens im Strafprozess Sinner; S. 159 ff. 26 Vgl. Gerlach, S. 34; Gutterer; S. 4 ff.; Haas, NJW 1988, 1345 ff.; Ioakimidis, S. 33; Kintzi, JR 1990, 309; Rönnau, S. 25 ff; Schmidt-Hieber; Verständigung, S. 4, Rdz. 7; Tscherwinka, S. 45 ff. 18

19

28

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

(2) Erforderlich ist eine Zustimmung des Angeklagten ferner in den Fällen der Rücknahme eines Rechtsmittels durch die Staatsanwaltschaft nach Eröffnung der Hauptverhandlung, sowie einer Rücknahme der öffentlichen Klage im Strafbefehlsverfahren28 , §§ 303,411 III StPO. (3) Soll die Anklage in der Hauptverhandlung auf weitere Straftaten erstreckt werden, § 266 I StPO, so ist auch hierfür eine Zustimmung des Angeklagten erforderlich. (4) Gern. § 245 12 StPO kann von der Erhebung einzelner Beweismittel mit Einverständnis der Staatsanwaltschaft, des Verteidigers und des Angeklagten abgesehen werden. Gemeinsam ist dem § 245 12 StPO mit den Vorschriften §§ 249 11, 251 I Nr. 4, 11 StPO nicht nur eine Verkürzung der Rechte des Angeklagten, sondern auch eine Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten. (5) Die §§ 15411, 154 allStPO setzen einen Antrag zur vorläufigen Verfahrenseinstellung, bzw. eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft zur Beschränkung der Strafverfolgung voraus. (6) §§ 257 I und III StPO räumt den Verfahrensbeteiligten das Recht zu Äußerungen im Rahmen eines offenen Rechtsgespräches ein, die lediglich den Schlussvortrag nicht vorwegnehmen dürfen. 29 (7) § 265a StPO sieht eine Befragung und Einwilligung des Angeklagten hinsichtlich bestimmter Auflagen und Weisungen vor. 30 (8) Schließlich ist eine Bereiterklärung des Angeklagten zur Übernahme der Verfahrenskosten und sonstiger Auslagen bei einer Rücknahme des Strafantrags gern. § 470 S. 2 StPO erforderlich. 3l - In diesem Zusammenhang sei der Vollständigkeit halber auf den Täter-Opfer-Ausgleich, die Diversion im lGG und die Kronzeugenregelung hingewiesen. 32 Die §§ 153 a I Nr. 1, 380 und 403 ff. gelten als Bestandteile des Täter-OpferAusgleichs. 33 Die hierbei vom Gesetzgeber vorgesehene Wiedergutmachungsvereinbarung zwischen Verletzten und Beschuldigten hängt zwar funktionell mit herkömmlichen Verfahrens absprachen zusammen, ein eingehender Vergleich zwi27 Keine Zustimmung des Beschuldigten ist gern. § 153 11 2 StPO dagegen in den Fällen der §§ 231 11, 232 und 233 StPO notwendig und wenn die Hauptverhandlung aus den in § 205 genannten Gründen nicht durchgeführt werden kann. 28 s. hierzu auch Sinner, S. 164. 29 Vgl. LandaulEschelbach, NJW 1999, 321, 324. 30 Vgl. Schmidt-Hieber, StV 1986, 355, der eine Übertragung des Rechtsgedankens von § 265a StPO auf andere Fälle der Verfahrenserledigung anregt. 31 Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 470, Rdz. 5. 32 Vgl. insbesondere Sinner, S. 167 ff.; ferner DenckerlHamm, S. 28; Gerlach, S. 35; Kleinknecht I Meyer-Goßner, Vor. zu den §§ 395 ff.; Rönnau, S. 29; Tscherwinka, S. 66. Vgl. zu Kooperation und Kronzeugenregelung Jeßberger, Kooperation und Strafzumessung, 1999. 33 Rundverfügung des Generalstaatsanwalts beim OLG Schleswig, abgedruckt in StV 92, 42.

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

29

sehen Privatisierungstendenzen 34 durch den Tater-Opfer-Ausgleich und solchen durch Verfahrensabsprachen ist jedoch im Hinblick auf die rechtlichen Grundlagen von Absprachen nicht nur unergiebig, sondern bezüglich der Zielsetzung des Tater-Opfer-Ausgleichs, der (Wieder-)Herstellung des Rechtsfriedens auch fraglich. Klassische Absprachenverfahren wie Wirtschafts-, Steuer- und Betäubungsmittelverfahren lassen selten Raum für die Frage nach dem Geschädigten und sind folglich in ihrer Zielsetzung nicht darauf ausgerichtet, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. Im JGG sind die Vorschriften der §§ 45, 47 35 Grundlage für die sogenannte Diversion 36 , der Vermeidung eines öffentlichen Verfahrens?7 § 45 III JGG erfordert ein Geständnis des jugendlichen Taters zur Vermeidung einer Anklage. Die gegen eine derartige Auflockerung des formalisierten Verfahrens geäußerten verfahrensund verfassungsrechtlichen Bedenken38 sind auch aus der Diskussion um Absprachen bekannt. So wird sowohl bei der Diversion wie bei der Absprache ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung 39 und eine Beschneidung der Rechte des Angeklagten40 kritisiert. Dennoch bietet auch diese Form der Konsensorientierung keinen brauchbaren Erklärungsansatz einer möglichen Rechtsgrundlage für Absprachen. Gesetzgebungsmotiv und gleichsam Konsensgrundlage der §§ 45, 47 JGG sind der im Jugendstrafverfahren vorherrschende Erziehungsgedanke sowie die Verhinderung einer Stigmatisierung des jugendlichen Taters durch die Freiheitsstrafe, zwei für die gängige Absprachenpraxis bedeutungslose Faktoren. Auch die Debatte um die Kronzeugenregelung vom 09. 06. 198941 weist Ähnlichkeiten mit derjenigen um Absprachen auf. 42 Beispielhaft erwähnt seien in diesem Zusammenhang nur das Risiko des Angeklagten bzw. Kronzeugen bei einer im voraus geleisteten Aussage und mögliche Verletzungen von Prozessmaximen, Eser, ZStW 104 (1992), S. 361 ff., 362, 374. Gern. § 45 I JGG kann der Staatsanwalt ohne Zustimmung des Richters von einer Verfolgung absehen, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO vorliegen. Ist der Beschuldigte geständig und hält der Staatsanwalt die Erhebung der Anklage nicht für geboten, so regt er die Erteilung einer Ermahnung, von Weisungen nach § 10 I 3 Nr. 4, 7 & 9 oder Auflagen durch den Jugendrichter an, § 45 III JGG. § 47 sieht eine Einstellung des Verfahrens durch den Richter vor. 36 Heinz. Diversion im Jugendstrafverfahren, 1992, S. 1 ff. 37 Nach überwiegender Auffassung wird dadurch im Jugendstrafverfahren das Legalitätsprinzip nicht aufgehoben, sondern durch den Vorrang des Erziehungsgedankens eingeschränkt; Eisenberg. JGG § 45, Rdz. 9; § 153 alStPO ist dann anwendbar, wenn sowohl die Voraussetzungen des Abs. 2, als auch diejenigen des Abs. 3 des § 45 JGG nicht vorliegen. 38 Eisenberg. JGG § 45, Rdz. 24. 39 Kuhlen, S. 30 ff., 56. 40 Hassemer, Einführung, S. 304. 41 BGB!. I S. 1059 42 Dencker/Hamm, S. 28; Gerlach. S. 35; Gutterer, S. 6; Hassemer, Einführung, S. 171; Jeßberger, S. 140 ff., Rönnau. S. 29. 34

35

30

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

insbesondere des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Doch die für die Kronzeugenregelung geltenden Regelungen bei terroristischen Straftaten43 oder § 31 BtMG44 sind mit den ihnen inhärenten Problemen der Glaubwürdigkeit und des Einsatzes von V-Leuten zu spezifisch, um einem Vergleich mit Absprachen Stand zu halten. Zudem weisen die rechtspolitischen Hintergründe in Form der Kriminalitätsbekämpfung und Entlastung von Justizbehörden erhebliche Unterschiede für die Praxis auf. Auf eine weitere Bezugnahme mit dieser speziellen Form des Verhandelns vor Gericht wird deshalb verzichtet. Die vorliegenden Vorschriften verdeutlichen, dass das deutsche Strafverfahren etliche Möglichkeiten einer Verständigung vorsieht. Die aufgeführten Regelungen enthalten aber weder eine konkrete Rechtsgrundlage für die heutige Praxis, noch ein Verbot von Absprachen. Gerade weil die heutige Absprachenpraxis außerhalb der StPO entstanden ist und sich weiter fortentwickelt, erlauben vereinzelte Ausprägungen eines konsensorientierten Verfahrens unter Mitwirkung der Verfahrensbeteiligten keinerlei Rückschlüsse über die grundsätzliche Zulässigkeit45 oder Unzulässigkeit46 von Absprachen.

11. Rechtstatsächliche Grundlagen: Interessenlage der Prozessbeteiligten

Absprachen im Strafverfahren haben vielfältige Gründe. Die Überlastung der Justiz im Spannungsfeld zwischen Erledigungsdruck und Erledigungskapazität, die Vermeidung eines langen Verfahrens zugunsten von Angeklagten und Zeugen, die Kostenreduzierung, neue Verteidigungsstrategien 47 sowie ein grundsätzliches Bedürfnis nach Konsensfindung werden als Hauptursachen genannt. 48 Dies sind gleichsam Bedingungen, von denen anzunehmen ist, dass ihnen nicht allein die Hilger; NJW 1989,2377 ff.; Weigend, FS für Jescheck, S. 1333 ff. Jaeger; Kronzeuge, S. 82; loakimidis, S. 39. 45 Einen derartigen Schluss zieht Schmidt-Hieber; NJW 1982, 1021. 46 Niemöller; StV 1990,35; Schünemann, NJW 1989, 1897. 47 Vornehmlich verantwortlich für Verständigungen im Strafverfahren sind nach Ansicht von Schlüchter dysfunktionaIe Verteidigungsstrategien, SK-StPO vor § 213 Rn. 23. 48 Braun, S. 22; Gerlach, S. 21; Gutterer; S. 26; Hanack, StV 1987; 501; Hassemer; JuS 1989, 893; Hassemer / Hippler; StV 1986, 360; Janke, S. 22; Kintz;, JR 1990, 309 ff.; Kremer; S. 22; Lüdemann/Bussmann, Diversionschancen der Mächtigen? Erste Ergebnisse einer empirischen Studie über Absprachen im Strafprozess, in: Krim. Journal, 1989,54 ff.; NestlerTremel. in Modemes Strafrecht und ultirna-ratio-Prinzip, S. 159 ff.; Rönnau. S. 41; Rudolph; DRiZ 1992,240; Siolek. DRiZ 1993; 422, 426; Schünemann, ,,Mannheimer Untersuchung" Forschungsprojekt Strafverfahren an der Universität Mannheim, Ergebnisbericht der Befragung zum Thema "Informelle Verständigung im Strafverfahren", bearbeitet von Schünemann. Bandilla. Gerstner; Hassemer und Schreieck, Mannheim 1987 (zit. Mannheimer Untersuchung). S. hierzu Schünemann, Gutachten, B 14; Tscherwinka, S. 21.; Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011 ff. 43

44

B. Grundlagen und EntstehungsgTÜnde

31

deutsche Strafjustiz, sondern auch andere Strafjustizsysteme unabhängig von ihrer Verfahrensstruktur und Zielsetzung unterliegen können. So lässt sich auch die Frage einer Nutzbarmachung amerikanischer Erfahrungen im Umgang mit konsensualen Elementen im Strafverfahren ohne eine vergleichende Darstellung der unterschiedlichen rechtstatsächlichen Hintergründe nicht annähernd beantworten. 1. Interessen und Motive des Gerichts

a) Arbeitsentlastung

Hauptsächliches Motiv sich auf Verfahrensabsprachen einzulassen, ist, durch Verfahrensverkürzung eine Arbeitsentlastung zu erzielen. Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass die Strafgerichte die anstehende Prozessflut ohne Absprachen nicht mehr bewältigen könnten. Schünemann49 statuierte 1988 mit seinen Erhebungen in Anlehnung an Rieß 50 ein exponentielles Wachstum der Geschäftsbelastung in Strafsachen, welches nur durch eine Verbindung erhöhter Stellenbesetzung in der Justiz mit wachsender Bevorzugung summarischer Erledigungsformen aufgefangen werden könne. 51 Dabei ist die Klage einer überlasteten Strafjustiz alt: Bereits 1913 hatte der 3. Deutsche Richtertag angesichts der Überlastung der Gerichte und zu langer Verfahrensdauer gefordert, "vorbeugende Mittel zur Verhütung von Prozessen auszubauen" und den Richtern Entlastungsmöglichkeiten zu verschaffen. 52 Die Normierungen von 1921 53 , 192254 und 192455 sollten ebenso zu einer Problembewältigung führen wie das Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993 und der Entwurf eines 2. Rechtspflegeentlastungsgesetzes 56• Einer Belastungszunahme unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg folgten mit einiger Verzögerung etliche Auseinandersetzungen mit der Problematik ab Ende der siebziger Jahre. 57 Die in diesem Zusammenhang vor mehr als zehn Jahren geäußerten Feststellungen, "die Strafjustiz würde zusammenbrechen, wenn Richter, Staatsanwälte und Verteidiger 49 Schünemann, FS für Pfeiffer, S. 461, 464; eine Auswahl der Daten findet sich bei Janke, S. 23 ff. 50 Rieß, DRiZ 1982,201 ff., 464 ff. 51 Schünemann, Gutachten zum 58. DJT, B 17 ff. 52 DRiZ 1913,768 ff. 53 Gesetz zur Entlastung der Gerichte vorn 11. 3. 1921, RGB1229. 54 Gesetz zur weiteren Entlastung der Gerichte vorn 8.7. 1922, RGBI I 569. 55 Sog. Ernrninger-Reforrn, VO über die Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vorn 4. 1. 1924, RGBI. I 322. 56 BR-Drs.633/95. 57 Thema des Richtertages 1979 war die "überforderte Justiz im Alltag", DRiZ 1979, 335, 339; auf dem Richtertag des Schleswig-Holsteinischen Richterverbandes von 1981 wurden die "Grenzen der Rechtsgewährung" erörtert, DRiZ 1981, 410. Der Deutsche Anwaltstag des gleichen Jahres befasste sich mit "Bewirtschaftung der Rechtsgewährung", Koch, AnwBI. 1983,351.

32

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

sich nicht zu infonnellen Gesprächen träfen",s8 dass ferner "notstandsähnliche Umstände"s9 hinsichtlich des Erledigungsdruckes herrschten, treffen heute nach wie vor auf das Verhältnis von Erledigungsdruck und Erledigungskapazität zu. 60 In Anbetracht leerer Kassen der öffentlichen Haushalte und erhöhter Anforderungen an die Strafjustiz ist die Thematik so aktuell wie nie zuvor. So hatte es sich das Forum des Deutschen Anwaltvereins 1996 zur Aufgabe gemacht, die Ursachen für die zunehmende Verfahrensdauer zu analysieren. 61 Das Bundesministerium der Justiz hatte 1996 ein Forschungsvorhaben über die "Dauer des strafprozessualen Errnittlungs-, Zwischen- und Hauptverfahrens" in Auftrag gegeben und auch der vom nordrhein-westfälischen Justizminister durchgeführte "Workshop Strafverfahren" im Herbst 1997 hatte die Griinde für die Dauer des Strafverfahrens zum Untersuchungsgegenstand. 62

aa) Prozessflut und Verfahrensdauer im Allgemeinen Das Phänomen der Prozessflut hat unterschiedliche Ursachen. Am schwersten fällt hierbei die kontinuierlich ansteigende Anzahl von Strafverfahren im Verlauf der letzten 30 Jahren ins Gewicht. 63 Die mit der Verfahrenszunahme korrespondierende Vennehrung von Richter- und Staatsanwalts stellen allein vennochte jedoch wegen der ebenfalls zu verzeichnenden Zunahme der Hauptverhandlungstage pro Verfahren der Prozessflut nicht beizukommen. Dem für den Zeitraum von 1977 bis 1980 zu verzeichnenden Anstieg des Geschäftsanfalls bei der Staatsanwaltschaft um 14,33 % stand eine wesentlich geringere Zunahme der Eingangszahlen bei erstinstanzlichen Gerichten gegenüber. 64 Dieser disproportional verlaufende Anstieg des Geschäftsanfalls war auf die summarischen Erledigungsfonnen gern. §§ 153 ff. StPO zuriickzuführen. Für den besagten Zeitraum war ein Anstieg der Einstellungsquote von 43,4 % auf 46, 1 % zu verzeichnen. Was die Anzahl der Verhandlungstage als entscheidenden Belastungsfaktor der Justiz anbelangt, so hatte bereits im Zeitraum von 1971 bis 1981 die Anzahl der Hauptverhandlungstage vor dem LG als erster Instanz um 59,3% zugenommen, während die Zahl des Justizpersonals um knapp 27% von 13208 auf 16768 anstieg. Die durchschnittliche Hauptverhandlungsdauer pro Verfahren betrug 1981 2,87 Symposium, S. 81. Deutscher Richterbund, "Verständigung im Strafverfahren" - Beschlusspapier des DRB-Bundesvorstandes vom 4. Mai 1988, S. 2. 60 Rudolph. DRiZ 1992, 6 ff., 240. 61 Busse, DAV-Forum vom 6. Dezember 1996, Kurzer Prozess - Langes Verfahren. AnwBl. 1997,73. 62 Vgl. hierzu Kempf, AnwBl. 1997,75; DRiZ 1996,429. 63 Vgl. die Arbeitsunterlagen "Strafgerichte" des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden. 64 Schünemann., FS für Pfeiffer, S. 461, 465. 58 59

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

33

Tage. 65 Rund zehn Jahre später ist für die Dauer der Hauptverhandlungen bei den Amtsgerichten kein wesentlicher Anstieg zu verzeichnen. 66 An den Landgerichten haben die mehr als 11 Tage andauernden Hauptverhandlungen im Zeitraum 1990 bis 1994 nur um 0,45% zugenommen. 67 Wahrend die durchschnittliche Sitzungstagezahl um 5,1 % zunahm, stieg die durchschnittliche Dauer von landgerichtlichen Strafverfahren von 188 auf 198 Tage an. 68

Tabelle 1 Durch Hauptverhandlung erledigte Verfahren bei den Landgerichten der 1. Instanz

Erledigte Strafverfahren insgesamt

davon Verfahren mit Hauptverhandlung insgesamt

1990"

12715

9577

1991"

14260

10736

1992"

14477

10 957

1993

15105

11 736

1994

15369

11 963

1995

14295

11115

1996

14795

11 528

1997

15063

11637

1998

14425

11211

Quelle: Statistisches Bundesamt, Arbeitsunterlage "Strafgerichte". 1990-1998 biet einschl. Berlin-Ost.

* Früheres

Bundesge-

Rebmann, NStZ 1984,241,242; Rieß, DRiZ 1982, 201, 207. Meyer-Goßner/Ströber beklagten in "Refonn des Rechtsmittelsystems in Strafsachen", ZRP 1996, 354 ff. eine zunehmende Dauer von Strafverfahren, wobei sie ihre Erkenntnisse auf mehrere Datenquellen stützten. Eine Erwiderung darauf findet sich bei Barton, StV 1996,690, nach dessen Erkenntnissen es weder eine signifikante Erhöhung der Zahl der Sitzungstage, noch gesicherte erfahrungswissenschaftliche Belege für eine Zunahme von Konfliktverteidigungen gibt. 67 Kempf, DAV-Forum vom 6. Dezember 1996, Kurzer Prozess - Langes Verfahren, AnwBI. 1997,75. 68 Barton, StV 1996,690. 65

66

3 Dreher

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

34

Tabelle 2

Dauer der Hauptverhandlungen vor dem Landgericht 1. Instanz durchschnittliche Dauer der Hauptverhandlungen in Tagen 1990"

2,9

1991"

2,7

1992"

2,8

1993

2,9

1994

2,9

1995

3,2

1996

3,2

1997

3,3

1998

3,4

Quelle: Statistisches Bundesamt, Arbeitsunterlage "Strafgerichte" 1990-1998. - • Früheres Bundesgebiet einschl. Berlin-Ost.

Tabelle 3

Durchschnittliche Dauer der Strafverfahren 1. Instanz in Monaten Amtsgerichte

Landgerichte

Oberlandesgerichte

1992

3,9

6,3

9,6

1993

4,0

6,4

9,1

1994

4,3

6,4

9,2

1995

4,4

6,3

12,1

1996

4,4

6,1

10,9

1997

4,4

6,2

14,2

1998

4,3

6,1

18,6

Quelle: Statistisches Bundesamt, Arbeitsunterlage "Strafgerichte" 1992-1998.

Wenn auch die vorliegenden Zahlen eine drastische Zunahme an Anzahl und Dauer von Strafverfahren in neuester Zeit nicht zu belegen vermögen, so können sie dennoch nicht über die seit Jahrzehnten bestehende Überlastung der Strafgerichte hinwegtäuschen. 69 Diese stellt nicht nur die Gewährleistung der Funktions69 Es ist jedoch anzumerken, dass die Darstellung die Arbeitszeit des Justizpersonals sowie eine möglicherweise erhöhte Arbeitseffizienz durch die fortschreitende Computerisierung unberücksichtigt lässt.

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

35

fähigkeit der Strafrechtspflege in Frage, sondern ist das überragende Motiv für Absprachen im Strafverfahren. Da sich die justizielle Belastung mit statistischen Werten jedoch eher beschreiben als erklären lässt, vermögen qualitative Gründe für eine Überforderung der Strafjustiz mehr Aufschluss über die Problematik zu verschaffen. bb) Großverfahren im Speziellen Die Überlastung der Strafgerichte wird durch die enorme Verfahrensdauer bei Großverfahren wie Wirtschafts-, Steuer-, Betäubungsmittel- und Umweltstrafverfahren entscheidend mitverursacht. 70 Eine restlose Tataufklärung gern. § 24411 StPO lässt sich hier kaum noch realisieren, weil in derartigen Verfahren zahlreiche Tatkomplexe mit unklaren materiellrechtlichen Maßstäben gemessen werden, komplexe industrielle Betriebsabläufe zu entschlüsseln sind, Verantwortliche unter vielen Betriebszugehörigen ausfindig zu machen sind und auch der vielfältige Einsatz von Sachverständigen eine zeitgemäße gerichtliche Bewältigung verhindern. 7 ! Zudem fördern die hohen Strafrahmen dieser Delikte die Bereitschaft der Verfahrensbeteiligten, miteinander ins Gespräch zu kommen. 72 Hierfür ist das BtMG ein besonders anschauliches Beispiel: Wahrend § 11 BtMG in der Fassung von 1972 noch einen Strafrahmen von bis zu drei Jahren und für besonders schwere Fälle einen solchen von nicht unter einem Jahr vorsah, wurde die angedrohte Freiheitsstrafe durch das Änderungsgesetz von 1981 bereits auf vier Jahre erhöht. Ferner wurde durch dieselbe Gesetzesnovelle das Handeltreiben in nicht geringer Menge bereits den besonders schweren Fällen zugeordnet und § 30 BtMG wurde für besonders schwere Begehungsweisen mit einer Strafandrohung von nicht unter zwei Jahre hinzugefügt. Durch das OrgKG wurde die Strafdrohung des § 29 I BtMG auf bis zu fünf Jahre angehoben und § 30a BtMG eingeführt. 73 Bei § 29 BtMG führt die schwierige Auslegung der sich überschneidenden Tatbestände zu einer Verlagerung des Streites über Schuld oder Unschuld zu einem solchen über die Höhe der Strafe. Zudem enthält das BtMG seit Einführung der Kronzeugenregelung gern. § 31 Nr. 1 BtMG im Jahre 1982 eine partielle Legalisierung einer bestimmten Aushandlungs variante, wenn diese auch keinerlei Rückschlüsse auf anderweitige Absprachenkonstellationen zulässt. 70 Ein Beispiel eines überlangen BtMG -Verfahrens findet sich bei Endriß, AnwBl. 1997,88, ein solches eines politischen Großverfahrens bei Dölp, NStZ 1998,235; Schünemann, B 30 f.; vgl. ferner die Strukturanalyse strafrechtlicher Großverfahren in 1. Instanz des LG Hamburg von ter Veen, September 1996. 71 Vgl. Wehnert, StV 2002, S. 219, LandaulEschelbach, NJW 1999, 321, Hanack, StV 1987,500 f.; Nestler-Tremel, Modernes Strafrecht und ultima ratio Prinzip, S. 161; Widmaier, StV 1986,357,359. 72 Bussmann, S. 21 ff., 30 ff.; vgl. die Untersuchung von HassemerlHippler, StV 1986, 360,363. 73 Vgl. zum Ausmaß des Handeltreibens gern. § 30a II Nr. 2 BtMG, BGHSt 43,8.

3*

36

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

Im Wirtschaftsstrafrecht führten materiellrechtliche Reformen 74, wie bereits diejenige des 1. WiKG von 1976, zu erhöhter Verfolgungsintensität der Strafjustiz. Aufgrund dessen wird aus historischer Sicht der Ursprung der Absprachenpraxis auch bei den Wirtschaftsstrafverfahren vermutet. 75 Durch die dort vorgenommene Verlagerung von Tatbeständen des Nebenstrafrechts in das allgemeine Strafrecht sowie durch eine Erhebung von Ordnungswidrigkeiten zu Straftaten, trat das Legalitätsprinzip an die Stelle des Opportunitätsprinzips des Bußgeldverfahrens. 76 Seitdem gehören viele Wirtschaftsdelikte nicht mehr dem Zuständigkeitsbereich von Verwaltungsbehörden an, sondern werden in Strafverfahren abgeurteilt. Die Einstellungsmöglichkeiten durch Einführung der §§ 153 a ff. StPO bewirkten zwar eine Korrektur auf strafprozessualer Ebene, führten jedoch zu keiner umfassenden Veränderung der Problematik. Der Justiz blieb daher bei ihrer Bestrebung einer Anpassung an die neuen Entwicklungen nur der (Aus-)Weg in die informelle Praxis. 77 cc) Gesetzgebung Auch die sich stets ausweitende Gesetzgebung ist als Ursache der überlasteten Strafjustiz anzuführen. 78 Der Versuch der Anpassung des materiellen Strafrechts an die wachsende Komplexität der Lebensverhältnisse besteht dabei in verstärkter Poenalisierung von Verhaltensformen, wobei das ultima-ratio-Prinzip oftmals außer Acht gelassen zu werden scheint. 79 Dies gilt ganz besonders für den Bereich der Wirtschafts-, Umwelt- und Betäubungsmittelkriminalität als Domäne der Absprachenpraxis. 8o Nicht nur die Erweiterungen einzelner Tatbestände,81 insbeson74 p.A. Albrecht spricht in diesem Zusammenhang von einer "bizarren Normgenese", KritV 1988, 182. 75 Zu Versuchen einer zeitlichen Einordnung vgl. Bussmann. S. 32 f.; Schünemann. NJW 1989, 1895, 1898. Zu Wirtschaftsermittlungsverfahren im Besonderen vgl. Wehnert, StV 2002, S. 219. 76 Tiedemann, Wirtschafts strafrecht und Wirtschaftskriminalität, S. 42 ff. 77 Zu einem weiteren möglichen Begünstigungsfaktor könnte die Bereitschaft des Gerichts zählen, nur bei bestimmten Delikten mildere Urteile zu sprechen. Letztlich sind jedoch Sympathie zu nicht unangenehmen Angeklagten in Wirtschaftsstrafverfahren und Gleichgültigkeit gegenüber Angeklagten in Betäubungsmittelstrafverfahren bloße Spekulation, vgl. NestlerTremel, Modemes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, S. 162, sowie Bussmann. S. 27, zu Klassenjustiz und Aushandlungen. Vgl. ferner zur Absprachenpraxis in Wirtschaftsermittlungsverfahren Wehnert, StV 2002, S. 219. 78 Vgl. Gerlach, S. 23; Janke, S. 25; Kempf, DAV-Forum vom 6. Dezember 1996, Kurzer Prozess - Langes Verfahren, AnwBI. 1997, 75; Kremer; S. 29; Meyer-Goßner; DRiZ 1996,180; Rönnau. S. 44; Schünemann. Gutachten zum 58. DIT, B 28 ff. 79 V gl. nur BGHSt 43, 8. 80 Vgl. Nestler-Tremel, Modernes Strafrecht und ultima-ratio Prinzip, S. 161, nach dessen Auffassung in Wirtschaftsstrafsachen das Prinzip der materiellen Wahrheit nicht mehr realisierbar und die flächendeckende Kriminalisierung des Umgangs mit Drogen mit dem heutigen Strafprozess kaum noch zu bewältigen ist.

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

37

dere der abstrakten 82 und potentiellen 83 Gefährdungsdelikte,84 oder die Schaffung "verselbständigter Versuchsdelikte im Vorfeld des Betruges,,85 stellen die Strafjustiz vor hohe Anwendungsschwierigkeiten. Es sind dariiber hinaus die in den Tatbeständen schwer bestimmbaren Rechtsgüter und vielschichtigen Rechtsbegriffe. 86 Der Vertypung tatbestandlichen Unrechts in der Gesetzgebung stehen dabei oftmals komplexe Rekonstruktionen von unterschiedlichsten Tatbeiträgen und Tatbeteiligten im Verfahren gegenüber, deren strafprozessuale Bewältigung eine zeitlich und finanziell ausufernde Beweisaufnahme mit sich bringt. Das Verfahrensziel der Erforschung der materiellen Wahrheit tritt dabei zugunsten einer Verfahrenserledigung durch Konsens in den Hintergrund. 87 dd) Beweisschwierigkeiten In engem Zusammenhang mit komplexen Gesetzesvorschriften stehen die Probleme der Beweiserhebung zur Erforschung der materiellen Wahrheit. Hier sind es wiederum besonders die Betäubungsmittelverfahren sowie Wirtschafts-, Steuerund Umweltstrafverfahren, die durch bewusst undurchsichtige Geld- und Warentransaktionen ins Ausland, einer Verzahnung unterschiedlicher Tatbeiträge und einer Unmenge von Tatbeteiligten und Zeugen eine zeitgerechte Prozessbewältigung unmöglich machen. Bei Betäubungsmittelverfahren stellt der Einsatz von V-Leuten der Polizei ein zusätzliches Problem dar. Absprachen sind im Zusammenhang mit derart langwierigen Verfahren bei der Beweisführung, der Beseitigung unklarer Rechtslagen sowie bei der Verhinderung möglicher Verfolgungsverjährung ein Kompensationsinstrumentarium zur Wahrheitserforschung. ee) Beweisantragsrecht Auch das Beweisantragsrecht88 wird für die Überlastung der Gerichte durch überlange Verfahren verantwortlich gemacht. 89 Durch Überschüttung der Ge§§ 324 II, 326 III StGB. §§ 326 (mit Ausnahme von Abs. I Nr. 4) bis 329 I, II StGB. 83 §§ 311d, 325 StGB. 84 Vgl. Wehnert, StV 2002, S. 219, 220. 85 Tröndle/Fischer, § 264, Rdz. 4; §§ 264, 264a, 265b, Entwurf des § 264b StGB (BRDrs. 13/3353 v. 18. 12. 1995). 86 Vgl. "die Planungs- und Dispositionsfreiheit der öffentlichen Hand" in § 264 StGB, "das Vertrauen der Allgemeinheit in den Kapitalmarkt" in § 264a StGB oder "die Kreditwirtschaft als solche" in § 265b StGB. 87 Kohlmann, FS für Pfeiffer, S. 203, 206 ff.; Savelsberg, KrimJ 1987, 193,204. 88 Vgl. zum ganzen Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozess, 1995. 89 Gerlach, S. 25; Müller, AnwBl. 1997,89; Günter E., DRiZ 1994, 303 ff.; Kintzi, DRiZ 1994,325 ff.; Nestler-Tremel, Modemes Strafrecht und ultima-ratio Prinzip, S. 161; Rönnau, 81

82

38

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

richte mit Beweisanträgen, die nur schwierig revisionssicher ablehnbar sind, wird den Strafverteidigern ein Missbrauch des Beweisantragsrechts vorgeworfen. 90 Inwieweit eine restriktive höchstrichterliche Rechtsprechung 91 zum Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung92 , § 244 III 2 StPO, diese Praxis zu begünstigen vermag, soll hier dahingestellt bleiben. 93 Um einem Missbrauch des Beweisantragsrechts entgegenzutreten, werden seitens der Justiz regelmäßig Einschränkungen des Antrags-, Frage- und Erklärungsrechtes gern. §§ 238 I, 240, 241 und 257 StPO verlangt. 94 Derlei geforderte Limitierungen der Verteidigungsrechte dürften in Anbetracht der Zugehörigkeit des Beweisantragsrechts zum Kernbereich der prozessualen Subjektstellung des Beschuldigten95 sowie seiner verfassungsmäßigen Garantie in der Rechtsprechung des BVerfG96 äußerst konfliktträchtig sein. Die Erzielung des gewünschten Effektes durch derartige Maßnahmen ist zudem in Frage zu stellen. 97 Aufgrund des sich aus § 244 11 StPO ergebenden Beweisantizipationsverbotes hat der Tatrichter zu prüfen, ob eine entfernte Möglichkeit besteht, die durch bereits verwandte Beweismittel begründete Beurteilung eines Sachverhalts durch weitere Beweismittel verändern zu können98 (es sei denn, es liegt einer der Fälle des § 244 III bis IV StPO vor). S. 46. Zu Rücknahme oder Verzicht auf Beweisanträge infolge einer Absprache s. Schlüchter; SK-StPO vor § 213 Rn. 49. 90 Günter H., AnwBI. 1988,44. 91 BVerfGE NJW-RR 1995, 377; BGH StV 86, 418; NStZ 84, 230; NJW 82, 2201; 58, 1789, m. w. N. Kleinknecht/ Meyer-Goßner; § 244, Rdz. 67; vgl. aber BGH NStZ 92,140. 92 Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozess, S. 250 ff. 93 Es ist aHerdings anzunehmen, dass der BGH angesichts verschärfter Anforderungen an die Formulierungen von Beweisanträgen möglichen Reformen nicht mehr so ablehnend gegenübersteht, wie es noch vor wenigen Jahren der FaH gewesen wäre, vgl. BGH StV 1997, 77 f. zur Abgrenzung von Beweisantrag und Errnittlungsantrag; BGH StV 1995, I; BGHSt40, 3; 39, 251; 37,162. 94 Günter; DRiZ 1984, 326; krit. Meyer-GoßnerIStröber; ZRP 1996, 354, 357 m. w. N. Fn. 39 f.; Meyer-Goßner; NJW 1987, 1161, 1169, Müller DRiZ 1993, 381; der Entwurf des zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege sieht bzgl. der Einschränkung der Verfahrensrechte vor, § 26a I StPO um die Möglichkeit zu ergänzen, die Ablehnung eines Richters als unzulässig zu verwerfen, wenn das Gericht die "Ablehnung für offensichtlich unbegriindet erachtet" (BR-Drs. 633/95, Anlage S. 2, 18 f.). In § 244 III 2 StPO soHen vor den Wörtern "zum Zwecke der Prozessverschleppung" diejenigen "nach freier Beweiswürdigung des Gerichts" eingefügt werden (BR-Drs. 633/95, Anlage 6; S. 24). Meyer-GoßnerlStröber bezweifeln zu Recht, ob dies der richtige Weg einer Entlastung der Rechtspflege sei, ZRP 1996,354,357. 9S Müller; AnwBI. 1997,89. 96 BVerfGE 63, 45,68; 57, 250, 279 f.; 50, 32, 35 f., vgI. Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozess, S. 27 ff. 97 Frister; StV 1994,445; vgl. zu den zu erwartenden "Gegenstrategien" konfliktfreudiger Strafverteidiger: Bertram, ZRP 1996, 46, 48. Zur Tauglichkeit ausländischer Entlastungsmöglichkeiten für die deutsche Justiz vgl. Perron, Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, 1995.

B. Grundlagen und Entstehungsgrunde

39

Der Richter darf vor Erhebung des Beweises weder das Ergebnis negativ unterstellen noch die Beweiswürdigung vorwegnehmen. 99 Hält er die Aussichtslosigkeit neuer Beweismittel für gegeben, kann er von einer weiteren Beweiserhebung absehen. Durch das Verbot der Beweisantizipation aber versperrt der Beweisantrag den Rückgriff auf das bisherige Beweisergebnis. Empirische Arbeiten über den Gebrauch des Beweisantragsrechtes vermögen die Annahme eines inflationären Einsatzes dieses Rechtes nicht zu stützen. IOO Weniger das tatsächliche Ausmaß der Konfliktverteidigung als der auf Seiten der Justiz gefürchtete Vertrauensverlust der Öffentlichkeit mag dabei die stärkere Antriebsfeder für die Debatte um den Missbrauch des Beweisantragsrechtes sein,101 zumal eine ausgehandelte Rechtsfolge in ihrer spezialpräventiven Kraft einer verhängten Strafe nachsteht. 102 Unbestritten bleibt, dass das Beweisantragsrecht einen ebenso notwendigen wie konfliktträchtigen Widerpart zur richterlichen Aufklärungspflicht darstellt und sein inflationärer Einsatz eine Verfahrensverzögerung bewirken kann. Bereits diese kurz skizzierten Ursachen einer Überlastung der Strafjustiz durch untragbar lange Verfahren legen Anreiz und Notwendigkeit des Verfahrensverkürzungseffektes von Absprachen nahe und machen das Erfordernis einer wirksamen Entlastung der Strafjustiz durch aufeinander abgestimmte Regelungen oder ein gar grundlegend neues Prozessmodell deutlich. 103 Da eine derartige Reform in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, wird sich an Interesse und Handhabung der Absprachen zur Verfahrensbewältigung seitens der Gerichte nichts ändern. b) Revisionsverhinderung

Der mit Absprachen oftmals verbundene Rechtsmittelverzicht legt die Vermutung nahe, dass in der Verhinderung einer revisionsrechtlichen Überpriifung ein weiteres Motiv des Gerichts für Absprachen liegt. 104 Da ein weitreichender Zugriff auf tatrichterliche Feststellungen und Beweiswürdigungen durch den Rechtsmittel-

98

So BGHSt 23, 176, 188; 30, 131, 143; NStZ 83, 210; a.A. Kleinknechtl Meyer-Goßner;

§ 244, Rdz. 12, Widmaier; NStZ 1994, 248. 99 100

Engels, GA 1981, 21, 36. Vgl. Barton, StV 1984, 394 ff.; Perron; ZStW 108 (1996), S. 128 ff.; Vogtherr; Rechts-

wirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, 1991; diesbezüglich zurückhaltend die Äußerungen von ter Veen, S. 234. 101 Vgl. Meyer-GoßnerIStröber; ZRP 1996,354, 356; Perron, ZStW 108 (1996), S. 128, 152; Rieß, NStZ 1994,409,411. 102 Schlüchter; SK-StPO vor § 213 Rn. 24. 103 Vgl. nur Damaska, StV 1988,398; Perron, ZStW 108 (1996), S. 154; Schünemann, FS für Pfeiffer; S. 461 ff. 104 Hanack, StV 1987,500,502; Rönnau, S. 49, Fn. 7 m. w. N.; Siolek, DRiZ 1993,426.

40

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

verzicht versperrt wird,105 sind lange und ausführliche Urteilsbegründungen, wie sie die weiterentwickelte Revisionsrechtsprechung erfordert lO6 und wie sie in der Literatur kritisiert wurden,107 nunmehr weniger wichtig. Ein abgesprochener Rechtsmittelverzicht reduziert somit einerseits den Begründungsaufwand und bewirkt andererseits die sofortige Rechtskraft des Urteils. Zweifelhaft ist, ob diese Vorgehensweise durch das grundlegende Urteil des BGH I08 zur Absprachenpraxis beeinflusst wird, in dem der 4. Senat die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts mit dem Angeklagten vor Urteilsverkündung für unzulässig erklärte. 109 Die Erfahrung bisheriger Ausweichmanöver der Praxis legt die Vermutung nahe, dass der Rechtsmittelverzicht zwar ordnungsgemäß nach Urteilsverkündung erklärt wird, zuvor jedoch hinter vorgehaltener Hand zwischen den Verfahrensbeteiligten ausgehandelt wurdeYo c) Beschleunigung des Verfahrens

Mit dem bereits genannten Motiv der Arbeitsentlastung steht das Beschleunigungsgebot in unmittelbarem Zusammenhang. Es ist in der StPO nicht ausdrücklich normiert, durch das 1. StVRG von 1974 111 und der StVÄG von 1979 112 und 1987 113 wurden jedoch eine Reihe von Einzelvorschriften 1l4 zur Verfahrensbeschleunigung eingeführt und erweitert. Das BVerfG hat ferner das Beschleunigungsgebot zu einer Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips erklärt 1l5 und dem Beschuldigten einen Anspruch auf zügige Verfahrensdurchführung eingeräumt. 116 105 Vgl. zur "erweiterten Revision" Fezer, Die erweiterte Revision - Legitimierung der Rechtswirklichkeit?, 1974; vgl. ferner zu den Vorteilen des Zeugenverzichtes Tscherwinka, S.28. 106 LR-Hanack, vor § 333 StPO Rdz. 11, Hamm, Die revisionsgerichtliche Rechtsprechung, S. 19; Rönnau, S. 50 f. 107 Fezer, Die erweiterte Revision - Legitimierung der Rechtswirklichkeit?, 1974; Foth, DRiZ 1997, 201, 206; Hanack, FS für Dünnebier, S. 300, 305. 108 BGHSt 43, 195. 109 ,,( ••. ) es ist nicht zulässig, wenn sich das Gericht für das InaussichtsteIIen einer milderen Strafe durch den Angeklagten versprechen lässt, dass dieser auf Rechtsmittel verzichten werde. Dies bedeutet zum einen eine unzulässige Verknüpfung der Rechtsmittelbefugnis mit der Höhe der Strafe ( ... ), zum anderen kann der Angeklagte frühestens nach Verkündung des Urteils auf das Rechtsmittel verzichten." BGHSt 43, 195,204. 110 Vgl. hierzu den BeispielsfaIl von Amelung, Stra.F.o 2001, S. 185, 186, aus dem Jahre 2000; hierzu kritisch ferner Schmitt, GA 2001, S. 411, 424 f. 111 BT-Drs. 7/551, S. 32 f.; dazu Rieß, NJW 1975,81 ff. 112 BT-Drs. 8/976, S. 18,39. 113 BT-Drs. 10/1313. 114 §§ 115, 128 f.; 121; 154, 154 a, 161a, 163a III; 16311 I, 222a, 222b, 249 11 StPO; Art. 5 III 2, Art. 6 I I EMRK. 115 BVerfGE 46,17,28 f. 116 BVerfGE 49,24,57.

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

41

Das Gericht hat daher im Rahmen seiner allgemeinen Fürsorgepflicht l17 nicht nur im Interesse des Geschädigten 118, sondern auch im öffentlichen Interesse 119 für eine rasche Verfahrens durchführung zu sorgen. Diesen Erfordernissen unter Einhaltung strafprozessualer Grundsätze bei gegebener Arbeitsüberlastung gerecht zu werden, ist insbesondere bei Großverfahren unmöglich. Das am 1. März 1993 in Kraft getretene Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege hat trotz beabsichtigter Verfahrensstraffung und -vereinfachung l20 zumindest nicht genügend personelle Reserven freimachen können, um am bestehenden Verpflichtungskonflikt der Gerichte eine bemerkbare Änderung zu erzielen. l2l Dies obwohl die Erweiterung der §§ 153, 153a StPO den Anwendungsspielraum für Absprachen vergrößert hat. 122 Zu alledem kommt die Befürchtung eines Ansehensverlustes der Justiz als ein weiterer Faktor, der auf die Gerichte zunehmend Druck auszuüben scheint. 123 Die Zeiterspamis scheint dabei unverzichtbar, um eine allgemeine Befriedigung zu erzielen. 124 Wer zu lange auf einen Richterspruch zu warten hat, verliert das Vertrauen in die Justiz. Zumindest scheint eine Verfehlung des Befriedigungszweckes eher in jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen gesehen zu werden, als in durch Absprachen erzielten Verfahrensergebnissen. Ob die Gerichte dabei getreu der Annahme "gutes Recht gleich schnelles Recht" der Befriedigungsfunktion tatsächlich gerecht zu werden vermögen, ist sicherlich fragwürdig. Zumindest erwecken verfahrensverkürzende Absprachen den Eindruck, bei annehmbarer Dauer des Strafverfahrens die Befriedigungsfunktion nach eben geschildertem Verständnis annähernd zu wahren. 2. Interessen und Motive der Staatsanwaltschaft

Motive und Interessen der Staatsanwaltschaft an Absprachen sind mit denen des Gerichts weitgehend identisch. 125 Für die Staatsanwaltschaft besteht schon aufgrund des Ermessensspielraumes im Rahmen des Opportunitätsprinzips ein weitreichendes Feld für Absprachen im Strafprozess. 126 Die mit Art. 2 Nr. 2 und BGHSt 26, 1,4. So ist bei ausdrücklicher Verletzung des Beschleunigungsgebots die überlange Verfahrensdauer bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, BGH, NStZ 1992, 78; Schönke I Schröder-Stree, § 46 Rdz. 57; Tröndlel Fischer, § 46 Rdz. 61 e). 119 BGHSt 26,228,232; BGHSt 35, 137, 139; NStZ 92, 229. 120 BT-Drs. 12/3832 vom 25. 11. 1992. 121 Vgl. Meyer-Goßner, NJW 1993,498,501. 122 Eingehend hierzu Tscherwinka, S. 52 ff. Vgl. hierzu wie zu Motiven für eine Verzichtserklärung auf Strafverfolgungsentschädigung Friehe, S. 57 ff., 64, 446 ff. 123 Geiger, DRiZ 1996, 32; Glauben, DRiZ 1996,217; Flotho, DRiZ 1996,230 ff.; MeyerGoßnerlStröber, ZRP 1996, 354, 356; Schmidt-Hieber; NJW 1990, 1884, 1886. 124 Flotho, DRiZ 1996, 230, 232. 125 Schünemann, Gutachten, B 35; vgl. ferner Artkämper; Kriminalistik 1999, S. 784. 126 Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 23. 117

118

42

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

Nr. 3 Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993 eingeführten Erweiterungen der §§ 153, 153 a StP0 127 ermöglichten darüber hinaus eine Zunahme kooperativer Verhaltensweisen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung. 128 Dies gilt auch für die Fälle der §§ 154, 154 aStPO, bei denen eine Verständigung mit dem Beschuldigten zur Beschränkung des Prozessstoffes nicht erforderlich ist. 129 Sieht die Staatsanwaltschaft eine teilweise Einstellung gern. §§ 154 I, 154 a StPO vor, sind Absprachen für sie dennoch zweckmäßig, um zu verhindern, gerade denjenigen Verfahrensteil nicht einzustellen, bei dem am Ende der Hauptverhandlung eine Verurteilung mangels ausreichender Beweisgrundlage ausbleiben muss. I3O Hinsichtlich des nicht einzustellenden Teilbereiches wird die Staatsanwaltschaft nicht selten versuchen, den Angeklagten zu einem (Teil-)Geständnis zu bewegen. 3. Interessen und Motive des Beschuldigten

a) Beschleunigung des Verfahrens

Auch der Beschuldigte hat ein erhebliches Interesse an einer raschen Verfahrenserledigung, da ein Strafverfahren womöglich zu Unrecht in seinen Rechtskreis eingreift und die Durchführung einer öffentlichen Hauptverhandlung auf ihn anerkanntermaßen stigmatisierend wirkt. 131 Allein die Verpflichtung zur ständigen Teilnahme an der Hauptverhandlung 132 kann dabei ebenso existenzbedrohend sein wie strafpräventive Maßnahmen der Durchsuchung oder Beschlagnahme in Wirtschafts- oder Steuerstrafsachen. Absprachen vermögen diese Situation zu entschärfen, indem der Beschuldigte durch sie die für ihn günstigen Umstände dem Gericht nicht nur näher zu bringen vermag 133 , sondern weil sie durch ihre verfahrensverkürzende Wirkung einen entscheidenden psychischen Entlastungseffekt durch

127 Vgl. die Ausdehnung der Einstellung gern. § 153 I S. 2 StPO von Vermögensdelikten auf all jene Delikte, die als Vergehen nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht und bei denen die durch die Tat verursachten Folgen gering sind; ferner die modifizierte Umschreibung der Schuldkomponente in § 153 a StPO. 128 So kam bspw. die Verhandlungsvariante über Art und Höhe der zu leistenden Wiedergutmachungszahlungen gegen Einstellung jenseits der Fälle mit "geringer Schuld" hinzu, § 153 a StPO; vgl. zur Einordnung umfangreicher Wirtschafts- und Steuerstrafsachen bereits unter den Begriff der "geringen Schuld" gern. § 153 a StPO a.F.: Kaiser/Meinberg, NStZ 1984,343. 129 Vgl. Arrkiimper, Kriminalistik 1999, S. 784. 130 Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 34. l3l Dencker/Hamm, S. 124; Feeley, The process is the punishment, New York 1979; LRSchäjer/Wickem, vor § 169 GVG Rdz. 12. 132 Hassemer, JuS 1989,890,893. J33 Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884, 1886.

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

43

deutliche Prognosen über Verfahrensdauer und -ergebnis darstellen. 134 Letzteres gilt insbesondere für die den Urteilsinhalt betreffenden Absprachen. Das Bedürfnis Gewissheit über den Verfahrensausgang zu erlangen, ist bei Häftlingen in Untersuchungshaft zweifellos am stärksten ausgeprägt. Ferner wird vermutet, dass durch Kooperation naturgemäß eine menschlichere Umgangs art im Strafverfahren gepflegt wird und die Partizipation des Beschuldigten zu dessen erhöhter Akzeptanz des Verfahrensergebnisses führt. 135

b) Kosten

Werden Absprachen bereits im Vorverfahren getroffen, bedeutet dies eine nicht unerhebliche Kostenersparnis, weil der Verdienstausfall und das Verteidigerentgelt reduziert werden. Zudem ist die Kostenreduzierung ein weiterer entscheidender Motivationsfaktor für die Bereitschaft des Beschuldigten, sich auf Absprachen einzulassen. Denn je länger die Hauptverhandlung andauert, um so mehr wachsen die Ausgaben. Zusätzlich zu den mit dem Prozess zusammenhängenden Verteidigerund Gerichtskosten entsteht finanzieller Aufwand aus organisatorischen Maßnahmen zur Teilnahme an der Verhandlung, wie durch Ersatzkräfte und Vertretungen im Berufsleben, Verdienstausfälle, Fahrtkosten und im Zusammenhang mit Großverfahren Zeugenentschädigungen und Kosten für technische und psychologische Gutachten. In manchen Fällen kann die finanzielle Belastung den Beschuldigten in seiner Existenz wesentlich stärker bedrohen, als dies durch eine Verurteilung in einem friihen Verfahrensstadium der Fall wäre. c) Hoffnung auf einen vorteilhaften Verfahrensausgang

Die Hoffnung auf ein günstiges Ergebnis ist weiterer Grund für den Beschuldigten, sich auf eine Absprache einzulassen. Dabei ist in Frage zu stellen, ob Absprachen durchweg zugunsten des Beschuldigten getroffen werden. 136 Das Verständnis eines günstigen Ergebnisses ist dabei relativ. So kann es in einer Verurteilung mit Bewährung statt Freispruch nach langer Verfahrensdauer ebenso gesehen werden, wie in einer milden Strafe oder (Teil-) Einstellung. Allein die Möglichkeit, eine milde Freiheitsstrafe statt einer höheren Strafe nach streitiger Verhandlung zu erhalten, erhöht die Bereitschaft des Beschuldigten, sich auf eine Absprache mit 134 Zur "Quasi-Strafwirkung" eines langen Strafverfahrens und ihm inhärenter Ungewissheit über den Verfahrensausgang, Kohlmann, FS für Pfeiffer, S. 203, 205; Lüdemann/Bussmann, MschrKrim 1988,84. 135 So Böttcher/Widmaier; JR 1991, 353, 354; Hassemer; JuS 1989, 890, 893; Rönnau, S. 53 f.; Schmidt-Hieber; Verständigung, S. 12, Rdz. 19. 136 Dencker/Hamm, S. 124; Nestler-Tremel, StV 1989, 109, 112; Rönnau, S. 55; Schünemann, NJW 1989, 1895, 1901.

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

nicht vorhersehbarem Erfolg einzulassen. 137 Auch wird in der nach wie vor geringen Freispruchquote an deutschen Strafgerichten 138 ein weiterer Anlass für Absprachen vermutet. 139 Zwar ist die Anzahl der Einstellungen gern. §§ 153 ff. StP0 140 beträchtlich, die §§ 153 ff. StPO greifen jedoch in vielen Fällen nicht und auch bei Absprachen, die bereits im Vorverfahren getroffen werden, besteht die Furcht, keinen Freispruch zu erzielen. Freilich sollte die bloße Spekulation auf ein günstiges Ergebnis nicht über die Gefahren hinwegtäuschen, in die sich der Beschuldigte begibt, wenn er zugunsten der Absprachenförderung ein Geständnis ablegt, obwohl eine umfängliche Beweislage ein für ihn vorteilhafteres Ergebnis zutage bringen könnte. d) Interessen des Beschuldigten gegen Absprachen

So vorteilhaft Absprachen für den Beschuldigten mitunter sein können, so können auch seine Verfahrensrechte gleichsam als Belange der Allgemeinheit in der Interessenkongruenz einer möglichst raschen Verfahrensbeendigung zerrinnen, unabhängig von des Beschuldigten eigener Initiierung oder Einwilligung in besagte Vorgehensweisen. So üben Absprachen häufig einen latenten Geständnisdruck 141 auf den Beschuldigten aus. Denkbar sind dabei schon "Empfehlungen" des Gerichts, das Verfahren in "vernünftiger Weise" abzukürzen. 142 Der Beschuldigte ist gerade in einer derartigen Situation auf einen vertrauenswürdigen Strafverteidiger angewiesen, wobei er das Risiko trägt, über Verfahrensverlauf und Gegenstand der Absprache durch seinen Verteidiger nicht hinreichend informiert zu werden und allein aufgrund mangelnder Kenntnis über den Verfahrensstand geständig zu werden. 143 Womöglich ist vorrangiges Interesse des Verteidigers nicht ein für seinen Mandanten günstiger Verfahrensausgang, sondern vielmehr die Erhaltung der Koalitionsfähigkeit l44 vor dem Gericht. Gerade wenn der Beschuldigte an einer Absprache nicht selbst teilnimmt, ist die Gefahr einer faktischen Beeinträchtigung seiner Rechte groß. 145 Neben all den durch Absprachen zumindest tangierten Verfassungs- und Verfahrensprinzipien, die eine Beeinträchtigung der Rechte des Beschuldigten bedeuten, ist von herausragender Bedeutung das Risiko des Angeklag137 Vgl. zum Wechselverhältnis zwischen Geständnis und Reaktion Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 45. 138 Sie liegt bei knapp 3%, Schünemann. FS für Pfeiffer, S. 461, 467. 139 Rönnau. S. 55. 140 Ca. 140.000 (davon knapp 135'500 an den Amtsgerichten, 4500 an den Landgerichten 1. Instanz; vgl. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunteriage "Strafgerichte 1998"). 141 Schmidt-Hieber, FS für Wassermann, S. 995. 142 Dencker/Hamm, S. 127.

143 144 145

Kremer, S. 186; Weigend. JZ 1990.774,780, der von einem hilflosen Mündel spricht. Tscherwinka. S. 37. Vgl. zum ganzen Nestler-Tremel. KJ 1989,448 ff.

B. Grundlagen und Entstehungsgründe

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ten, sich durch ein frühzeitig abgelegtes Geständnis die Chance auf einen Freispruch zu verbauen. Mag man auch die Auffassung einiger Verständigungsgegner nicht teilen, wonach Absprachen grundsätzlich eine Schuldvermutung zugrundeliegt, 146 so sind dennoch Verfahrens situationen denkbar, in denen sich ein Unschuldiger genötigt sieht, ein Geständnis abzulegen, um zumindest den vereinbarten Strafrabatt zu erlangen und daraufhin zu Unrecht bestraft wird. 147 Da Absprachen in der Regel keine Bindungswirkung zukommt und der Beschuldigte durch sein Geständnis eine irreversible "Vorleistung" erbringt, 148 trägt er das Risiko, dass ihm die in Aussicht gestellten Vergünstigungen versagt werden. 149 Er ist folglich in fast allen Fällen der Leidtragende gescheiterter Absprachen. 150 Es wird vermutet, der Beschuldigte habe nur dann Vorteile von einer Absprache, wenn er etwas "einzutauschen" hat, was dem Funktionieren der Strafrechtspflege im Sinne effektiver Verfahrenserledigung zuträglich ist. Habe er dagegen nichts als "Gegenleistung" zu bieten, so würden mögliche Verletzungen seiner (Mitwirkungs-)Rechte um so stärker zu Buche schlagen. l5l Diese Umstände dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Beschuldigte eine Absprache oftmals im Rahmen ihres eigenverantwortlichen Prozessverhaltens initiieren und das bestehende Risiko bewusst eingehen. 4. Interessen und Motive des Strafverteidigers

Während die Verfahrensbeschleunigung bei allen anderen Verfahrensbeteiligten als Motiv für Absprachen entscheidend ins Gewicht fällt, ist sie für den Verteidiger im Hinblick auf die Gebührenreduzierung zumindest nicht treibende Kraft, sich auf Verständigungen mit Gericht und Staatsanwaltschaft einzulassen. Mit einer frühzeitigen Verfahrensbeendigung durch verfahrensbeendigende Absprachen entfallen gern. § 83 11 I BRAGO Gebühren für jeden weiteren Verhandlungstag. 152 Es mag sich zwar anbieten, in diesem Zusammenhang einmal mehr auf das Postulat der Verteidigung hinzuweisen, welches unverändert in einem optimalen Ergebnis für die Mandantschaft und nicht im Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen liegt. 153 Angesichts der zunehmenden Anwaltsschwemme und wachsenden ExisVgl. nur Kremer; S. 188. Vgl. die Fallschilderung bei Dencker / Hamm, S. 125 f. 148 Zu anderen "Leistungen" des Angeklagten vgl. Janke, S. 49 f. 149 Zum Themenkreis der faktischen Bindungswirkung vgl. Dencker / Hamm, S. 32; Gerlach, S. 131 m. w. N.; Janke, S. 77; Kölbel, NStZ 2002, S. 74 ff.; Kremer; S. 177 ff.; Rönnau, S. 36; Tscherwinka, S. 76; Schlüchter; SK-StPO vor § 213 Rn. 37 ff. 150 V gl. hierzu Kuckein, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 63, 65 ff. 151 Nestler-Tremel, in Modernes Strafrecht und ultima ratio-Prinzip, S. 159, 163 f. 152 Wagner/Rönnau, GA 1990, 387, 391, forderten insofern durch Einführung eines § 86a BRAGO eine zusätzliche Gebühr als Anreiz, an einvernehmlichen Verfahren mitzuwirken. 153 Dahs, NStZ 1988, 153, 159; Janke, S. 34. 146 147

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

tenzprobleme gerade der jungen Anwaltschaft erscheint es jedoch allzu realitätsfremd, von der Verteidigung die Hinnahme wirtschaftlicher Nachteile als selbstverständlich zu fordern. Dies gilt besonders für den Teil der Anwaltschaft, der vorwiegend von Pflichtmandaten lebt. Ob Strafverteidiger eine Verringerung der Verhandlungstage und die damit zusammenhängende Verringerung der Gebühren durch Honorarvereinbarungen wirtschaftlich auszugleichen vermögen, ist in der Mehrzahl der Fälle wohl zu bezweifeln 154, zumal lukrative Honorarvereinbarungen nur mit wenigen finanzstarken Klienten in Wirtschaftsstrafsachen zu treffen sind. Gleichwohl bedeutet der Abschluss von Absprachen für manche Strafverteidiger eine Zeitersparnis bei gleichem Honorar und erleichtert dadurch die gleichzeitige Betreuung mehrerer Mandanten. 155 Zudem ermöglicht eine erfolgreiche Absprache dem Verteidiger, seinem Mandanten eine sichere Prognose über Dauer und Ausgang des Verfahrens zu geben. Der so beim Mandanten erweckte Eindruck, die mit Gericht und Staatsanwaltschaft ausgehandelten Absprachen durch gute Kontakte zur Justiz und persönlichem Verhandlungsgeschick erzielt zu haben, bedeutet für die Verteidigung einen Vertrauensgewinn und psychologischen Anreiz, Absprachen zu erzielen und nicht zuletzt ihren Ruf entscheidend zu verbessern. 156

c. Die Enttabuisierung von Absprachen Ähnlich wie Jahre zuvor in den USA wurden Absprachen in der deutschen Fachöffentlichkeit erst thematisiert, nachdem die Praxis faktische Spielräume innerhalb der gültigen Prozessordnung bereits lange und erfolgreich ausgelotet hatte. Als erste nahmen sich Schumann 157 , Schmidt-Hieber l58 und Weider 159 der gängigen Praxis konsensualer Verfahrenserledigung an, doch erst als diese bereits zum festen Bestandteil des Strafverfahrens gehörte, begann nicht zuletzt des geänderten § 153 a StPO wegen die breite Diskussion in Form offener und detaillierter Stellungnahmen zu Einzelheiten informeller Verfahrenspraxis.

A.A. Rönnau, S. 56; Schünemann, Gutachten, B 44 f., ders., NJW 1989, 1895, 1901. Gerlach, S. 28; Rönnau, S. 56. 156 Janke, S. 35; Rönnau, S. 56; Tscherwinka, S. 34. 157 Schumann, Karl F., Der Handel mit Gerechtigkeit - Funktionsprobleme der Strafjustiz und ihre Lösungen - am Beispiel des amerikanischen plea bargaining, 1977. 158 Schmidt-Hieber; Verständigung im Strafverfahren, 1986. 159 Alias Detiel Deal, Der strafprozessuale Vergleich, StV 1982, 545 ff. 154

155

C. Die Enttabuisierung von Absprachen

47

I. Beginn der öffentlichen Diskussion

In der ersten umfänglichen Monographie zum Themenkomplex aus dem Jahre 1977 untersuchte Schumann neben strukturellen Bedingungen für den Konsens im Strafverfahren die amerikanische Praxis des "Handels mit der Gerechtigkeit". Als wesentliche Auswirkungen des plea bargaining erkannte er die Umwandlung der Strafjustiz in Strafverwaltung, die Vermengung der Entscheidung über Schuld und Unschuld mit der Festsetzung des Strafmaßes sowie einer Schwächung richterlicher Kontrolle über das Verfahren. Im Ergebnis beschränkte sich Schumann dabei auf die Vermutung, mit ähnlichen Tendenzen sei gerade im Hinblick auf den damals noch neuen § 153 a StPO auch im deutschen Strafverfahren zu rechnen, wobei er bewusst davon absah, plea bargaining aus der rechts staatlichen Modellperspektive zu kritisieren und es dem US-amerikanischen Justizsystem als ideales oder abschreckendes exemplum zu entlehnen. 160 Fünf Jahre später, jedoch noch immer in einer Zeit, in welcher der Konsens im Strafverfahren allenfalls hinter vorgehaltener Hand thematisiert wurde, wies Weider alias "Deal" unter Beschränkung auf die deutsche Absprachenpraxis auf die Verfahrenswirklichkeit an deutschen Gerichten hin. Er kritisierte dabei den zur bloßen Formwahrung verkommenen Strafprozess. So würden außerhalb des Gerichtssaales getroffene Vereinbarungen lediglich noch vom Gericht in der Hauptverhandlung als Strafmaß verkündet werden. Allerdings ging auch er davon aus, dass die Strafjustiz unter Wahrung sämtlicher Rechte und Möglichkeiten des Angeklagten in jedem Verfahren wegen Überlastung zusammenbrechen würde. Schmidt-Hieber bemühte sich um eine rechtliche Begründung und Rechtfertigung der Absprachenpraxis und kam in Anbetracht der vereinzelten strafprozessualen Bestimmungen zu kooperativer Verfahrenserledigung zu dem Ergebnis, dass Verständigungen nicht als schlechthin unzulässig angesehen werden können. Allerdings forderte Schmidt-Hieber neben einer Offenlegung des Vereinbarten, 161 von bindenden Erklärungen des Gerichtes abzusehen, um eine Vorwegnahme des Ergebnisses der Beweisaufnahme und einen Verstoß gegen § 261 StPO zu verhindern. Im Gegensatz zu diesen vereinzelten ersten Stellungnahmen ist ein allgemeines Interesse an Absprachen erst anfangs der achtziger Jahre zu verzeichnen, was sich letztlich in den ab 1985 abgehaltenen Fachtagungen und Symposien dokumentiert. 162 Der Grund der verzögerten wissenschaftlichen Rezeption wurde in InterSchumann, S. 178. Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 91 Rdz. 194. 162 5. Alsberg-Tagung der Vereinigung der Deutschen Strafverteidiger 1985 mit dem Thema "Der strafprozessuale Vergleich"; Triberger-Symposium 1986 "Absprachen im Strafverfahren - Ein Handel mit der Gerechtigkeit?"; Sitzung der Strafverfahrensrechtskommission 1987 "Verständigung im Strafverfahren"; Fortbildungsseminar für Rechtsanwälte 1987 "Absprachen im Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren"; 11. Strafverteidigertag 1987 "Abspra160

161

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

pretationsproblemen und Interessenkonflikten justizieller Professionen vermutet, welche die öffentliche Diskussion eher behinderten als förderten. 163 Kennzeichnend sei insofern, dass zunächst die Mehrzahl öffentlicher Beiträge aus den Reihen der Rechtsanwaltschaft und Rechtswissenschaft hervorgingen. Die im Zusammenhang mit gesetzgeberischen Versuchen einer ökonomischen Gestaltung des Strafverfahrens l64 aufflammende Diskussion war anfangs mehr von der Befürchtung einer Angleichung an die amerikanische plea bargaining-Praxis, als von einer Analyse der deutschen Verfahrens wirklichkeit geprägt. Dies nicht zuletzt aus der Befürchtung, mittels öffentlicher Thematisierung den Gesetzgeber erst zu Einschränkungen oder gar einer Unterbindung von Absprachen zu veranlassen. 165 Erst ab Beginn der neunziger Jahre handeln die meisten Beiträge von der Legitimierung konsensualer Verfahrenspraktiken. 11. Absprachen als Thema des 58. Deutschen Juristentages Erstmalig wirklich breite Resonanz verlieh die strafrechtliche Abteilung des 58. Deutschen Juristentages im Jahre 1990 dem Thema "Absprachen im Strafverfahren? - Grundlagen, Gegenstände und Grenzen", nachdem die Vereinigung der Strafverteidiger sich schon öfter vergeblich darum bemüht hatte, den Deutschen Juristentag für das Thema zu gewinnen. 166 Schwerpunkte der gutachtlichen Einschätzung Schünemanns bildeten die Rechtmäßigkeit von Absprachen sowie empifische Befunde. Konsensuale Verfahrenspraktiken verstießen gegen geltendes Prozessrecht, namentlich gegen den Unmittelbarkeits-, Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsgrundsatz, ferner gegen die Aufklärungspflicht, die Unschuldsvermutung und gegen § 136a StPO. Schünemann forderte den Gesetzgeber auf, für eine vorläufige Verbesserung der Situation umfassende Belehrungspflichten zu schaffen und dem Problem längerfristig mit einem neuen Prozessmodell beizukommen. 167 Im Gegensatz zu dieser deutlichen Ablehnung der Absprachenpraxis, führten die Referenten u. a. eine effizientere Verfahrensabwicklung ins Feld und erklärten die Konsensfindung durch weniger Öffentlichkeit und mehr Gewissheit über den Verfahrensausgang als dem Schutz und Interesse des Angeklagten dienlich. 168 So sprach chen im Strafverfahren"; Konferenz der lustizminister 1987 "Absprachen im Strafverfahren"; Tagung der dt. Richterakademie 1987 "Der Vergleich im Strafprozess"; Hessischer Richterbund 1987 "Vergleich im Strafprozess - Kuhhandel mit der Gerechtigkeit oder zulässiger Weg der Verfahrensbewältigung"; zusammengestellt bei Bussmann, Informalität, S. 45 f. 163 Bussmann, Informalität, S. 47. 164 So etwa durch § 153 a StPO, sowie durch Reformvorschläge des Alternativentwurfes von 1980. 165 Dahs, NStZ 1988, 153, 154. 166 Bussmann, Informalität, S. 46; Böttcher, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 49 ff. 167 Eine Zusammenfassung Schünemanns Thesen findet sich am Ende seines Gutachtens, ItB 168. 168 Vgl. Böttcher, Widmaier und Schiifer in Verhandlungen des 58. DJT (1990) L 9-65.

C. Die Enttabuisierung von Absprachen

49

sich auch die Mehrheit in der Beschlussfassung für die grundsätzliche Legitimität von Absprachen aus, jedoch nicht, ohne auf die bedrohten Prozessprinzipien und die Gefahr einer ausufernden Praxis hinzuweisen. 169 Insbesondere ein Verstoß gegen § 136a StPO wurde fast einstimmig verneint und eine informelle Gesprächsführung außerhalb der Hauptverhandlung bejaht, allerdings unter der Empfehlung einer Offenlegung und Protokollierung des Vereinbarten wie auch Festlegung einer bestimmten Strafobergrenze durch die Absprache. 17o Abgelehnt wurden dagegen restringierende, nicht aber klarstellende Gesetzesänderungen, wie bspw. die einer gerichtlichen Hinweispflicht darüber, dass von Vereinbarungen abgewichen wird. Der 58. Deutsche Juristentag verdeutlichte letztlich nicht nur die feste Verankerung der Absprache im deutschen Strafverfahren und die Aussichtslosigkeit einer Umkehr von konsensualen Verfahrenspraktiken, sondern auch das fehlende Anliegen der Praktiker, die Verfahrensweisen über größere Transparenz und Verbindlichkeit des Vereinbarten hinaus gesetzlich einzuschränken. IH. Empirische Untersuchungen

Die Pilotumfrage von Hassemer / Hippler l7l zum Thema Absprachen, die Repräsentativumfrage von Schünemann l72 im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Mannheim, die Studien von Lüdemann / Bussmann 173 und diejenige von Stemmler l74 hatten den tatsächlichen Nachweis von Absprachen als Schwerpunkt und gewährten erste Einblicke in die Verständigungswirklichkeit an deutschen Gerichten. 175 Die Untersuchungen haben dabei offengelassen, welche konkreten Umstände Absprachen fördern, in welcher Form Absprachen vollzogen werden und inwieweit das Geständnis strafmildernd wirkt. 176 Gegenstand der emVgl. Perron, IZ 1991, 185. Vgl. Verhandlungen des 58. DIT, Beschlüsse, L 213 ff. 171 Hassemer/Hippler, StV 1986,360 ff. l72 ,,Mannheimer Untersuchung" Forschungsprojekt Strafverfahren an der Universität Mannheim, Ergebnisbericht der Befragung zum Thema "Informelle Verständigung im Strafverfahren", bearbeitet von Schünemann, Bandilla, Gerstner, Hassemer und Schreieck, Mannheim 1987 (zit. Mannheimer Untersuchung). s. hierzu Schünemann, Gutachten, B 14, Friehe, S.52f. 173 Lüdemann/Bussmann, MschrKrim 1988,81 ff., dies., KrimI 1989,54 ff. 174 Stemmler, Incentive structures and organizational equivalents of plea bargaining in German criminal courts, Pennsylvania State University, 1994. 175 Ein Überblick über die Studien findet sich bei Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, 1998, S. 9, wie auch bei Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, Baden-Baden 1993; ders., DRiZ 1993,422. 176 Vgl. Kintzi, IR 1990, 309, 312. Derartiges nachzuweisen hat Siolek durch schriftliche Befragungen an der Wirtschaftskarnmer eines Landgerichtes versucht, Verständigung, S. 23. Auch hinsichtlich der Häufigkeit von Absprachen kam er zu einem anderen Ergebnis als Schünemann. Während dieser eine verfahrensbeendigende Absprache in knapp 16% aller Urteilsfalle und 27 % aller Wirtschaftsstrafsachen ermittelt hatte (Schünemann, Gutachten, B 18), 169 170

4 Dreher

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

pirischen Studie von Lüdemann 177 aus dem Jahre 1992 war die Praxis informeller Absprachen über das Verfahrensergebnis unter Zugrundelegung des theoretischen Modells rationalen Handeins. Bussmann l78 untersuchte in seiner umfangreichen Studie von 1991 wie es zur fachöffentlichen Thematisierung von Absprachen kam und welche sprachlichen und juristischen Interpretationen von "Aushandlungen" in der Diskussion um Absprachen angeführt werden. Sämtliche Studien wurden in der bisherigen Diskussion um Absprachen dazu verwandt, den vermuteten Umfang der Absprachenpraxis zu belegen, ohne das Zahlenmaterial anzuzweifeln. 179 An der bereits vor über 10 Jahren getroffenen Unterscheidung in sektorale und regionale Bereiche der Absprachenpraxis dürfte sich zumindest hinsichtlich des sektoralen Bereiches nichts geändert haben. 180 Eine empirische Untersuchung hierzu wurde seit den genannten Studien allerdings nicht durchgeführt. Der sektorale Schwerpunkt von Absprachen liegt bei den Großverfahren, vornehmlich Wirtschafts-, Steuer-, Umwelt- und Betäubungsmiuelstrafsachen. Bei Schwurgerichten sollen Absprachen dagegen selten getroffen werden. l8l Wahrend Hübsch l82 in seiner "Deal-Geographie" noch regionale Unterschiede der Praxis von Absprachen feststellte, ist mittlerweile davon auszugehen, dass Absprachen überall zum festen Bestandteil des Justizalltages gehören.

D. Stellungnahme in der Literatur und Rechtsprechung zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen Seit Beginn der öffentlichen Diskussion hat sich die Literatur mit der Rechtrnäßigkeit von Absprachen in unzähligen kontroversen Erörterungen auseinandergesetzt, in deren Kontext die Grundsatzdiskussion um Prozessmaximen sowie der Streit um § 153 a StPO neu belebt wurden. Dabei unterscheiden sich die Praktiker mit ihrer positiven Sicht auf die prozessuale Konsensfindung l83 deutlich von der Lehre mit ihren prinzipiellen Bedenken und kritischen Einwänden. 184 ermittelte Siolek, dass durchschnittlich die Hälfte aller erstinstanzlichen Verfahren der Wirtschaftskammem durch Verständigungen beeinflusst worden sind. Ebenso Dahs, NStZ 1988, 153. 177 Lüderrumn, ZfRS 1992,88 ff. 178 Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, Baden-Baden 1991. 179 Vgl. Bussmann, Informalität, S. 49. 180 Dencker/Hamm, S. 61 f. 181 Dahs, NStZ 1988, 153, 159; Dencker/Hamm, S. 12; Hanack, StV 1988,501; Hassemer, JuS 1989,890, 894; Kintzi, JR 1990,309, 310; Schünemann, NJW 1989, 1895, 1896; Weigend, JZ 1990, 774. 182 Hübsch, Symposium, S. 77 f. 183 Böttcher, JR 1991, 118; Gatzweiler, NJW 1989, 1903; Landau, DRiZ 1995, 132; Niemöller, StV 1990, 34; Schellenberg, DRiZ 1996, 280; Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017; ders., Verständigung im Strafverfahren, 1986; NJW 1990, 1884; DRiZ 1990, 321; mit erheblichen Zweifeln Siolek, Kriminalistik, 1995,433.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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Während in der Literatur die Erörterung verletzter Prozessmaximen vorherrscht,185 ist die Rechtsprechung lange Zeit äußerst uneinheitlich mit dem Problem strafprozessualer Absprachen umgegangen, wie die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen. Dies liegt zum einen an den sehr unterschiedlichen Einzelfällen, über die der BGH zu entscheiden hatte, zum anderen aber daran, dass die Rechtsprechung auf ungesetzliches Prozessverhalten mit herkömmlichen Prozessgrundsätzen reagieren musste. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung in Zukunft zu einheitlicheren Entscheidungen gelangen wird, nachdem der 4. Senat des BGH mit einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1997 186 einen Katalog von Mindeststandards vorgegeben hat.

I. Die Absprache und das Fairnessprinzip

Das Recht auf ein faires Verfahren ist vom BVerfG als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips, Art. 20 III GG i.V.m. dem allgemeinen Freiheitsrecht, Art. 2 I GG anerkannt worden. 187 Der BGH und die h.M. entnehmen es Art. 6 I MRK. 188 Als in Herleitung und Rechtsfolgen unklare Generalklausel erklärt sich die herausragende Rolle des Fairnessgrundsatzes in der Diskussion um die Rechtmäßigkeit von Absprachen gerade aus seiner Natur als Auffangnorm für Fälle, in denen zwar Gesetze nicht formal verletzt, die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten im Ergebnis aber in rechts staatlich bedenklicher Weise eingeschränkt werden. Er entfaltet deshalb eine um so stärkere Wirkung, je strukturloser ein Verfahren ist. 189 Einigkeit besteht darüber, dass seine Ausprägungen der Waffen- oder Chancengieichheit l90 gerade bei solchen Verfahren relevant sind, in denen Abspra184 DenckerlHamm, Der Vergleich im Strafprozess; Hassemer, JuS 1989,890; Lüderssen, StV 1990,414; Nestler-Tremel, StV 1989, 109; ders., KJ 1989, 448; Rönnau, Absprachen im Strafprozess, 1990; Schünemann, Gutachten I1B zum 58. Deutschen Juristentag; ders., FS für Baumann, S. 361; NJW 1989, 1895; StV 1993, 657; a.A. eramer, FS für Rebmann, S. 145, 151 ff.; Wolfslast, NStZ 1990,409, kritisch zur Beschränkung der materiellen Wahrheit auch Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 40. 185 Fallgruppenorientierte Abgrenzungskriterien stellen die Ausnahme in der Literatur dar, vg!. insoweit aber die Monographie Tscherwinkas. 186 BGHSt 43, 195. Zur grundlegenden Kritik an diesem Urteil Weigend, NStZ 1999,57, ders., in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011, 1022 ff.; leßberger, S. 144 ff.; befürwortend hingegen Meyer-Goßner, Stra.F.o 2001, S. 73 ff.; Kintzi, JR 1998, 249; ders., in Festschrift für Ernst-Walter Hanack, S. 177 ff.; KuckeinlPfister in: Festg. BGH, 2000, S. 641, 648 ff.; vg!. ferner Herrmann, JuS 1999, 1162 ff. 187 BVerfGE 26, 66, 71; 38,105,111; 39, 238, 243; 40, 95, 99; 41, 246, 249; 46, 202, 210; 57,250,274. 188 BGHSt 24,125,131; 29,109,111; 36,210; Pfeiffer, Grundzüge, Rdz. 28; Rieß, FS für Rebmann, S. 381, 387; Roxin, § 11 V; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 6 Rdz.18; zur Herleitung und Ausgestaltung des Fairnessprinzips vg!. Dörr; Faires Verfahren, S. 141 ff.; Sinner, S. 127; Steiner, Fairnessprinzip, S. 33 ff.; Tettinger; Fairness, S. 5 ff. 189 Rieß, FS für Rebmann, S. 381, 395 f.; ebenso Rönnau, S. 210.

4*

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

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ehen nicht nur getroffen werden, der Beschuldigte also sein Geständnis "ins Blaue hinein" ablegt, sondern auch zum Scheitern kommen. 191 Kritiker erachten bereits die Durchführung von Absprachen als unvereinbar mit dem Recht auf ein faires Verfahren. Insbesondere sei die Gerechtigkeitsbasis des amerikanischen guilty plea-Modells mit gegebener Bindungswirkung und Revozierbarkeit des Geständnisses im Rahmen der StPO nicht durchsetzbar. 192 Allein die erhöhte Möglichkeit der Justizorgane, Absprachen nicht einzuhalten und damit die Verteidigungs strategie des Beschuldigten zu untergraben, gefährde den Fairnessgrundsatz. 193 Andere wiederum sehen eine Verletzung der Fairness nicht schon in der Durchführung von Absprachen oder den Zusagen selbst,194 vielmehr sei erst das enttäuschte Vertrauen bei nicht eingehaltener Zusage unter dem Fairnessgrundsatz zu prüfen. 195 Nach Ansicht der Befürworter stellen Absprachen keinen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz dar, solange sie nicht zu einer Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten führen 196 und das Gericht nicht schuldhaft falsche Erwartungen weckt. 197 Dabei wird die Pflicht des Gerichts betont, Absprachen unter den eindeutigen Vorbehalt ihrer Vorläufigkeit und Abänderbarkeit zu stellen. 198 Dadurch könne auch von einer ausreichenden Kenntnis des Beschuldigten hinsichtlich der Risiken seines Geständnisses ausgegangen werden. Im Bereich nicht eingehaltener Zusagen erachtet nicht nur die Literatur den Fairnessgrundsatz als geeignete Richtlinie, auch die Praxis zieht ihn zur Beurteilung gescheiterter Absprachen heran. 199 Signalwirkung hatte insoweit die Entscheidung des BGH, wonach ein Hinweis gern. § 265 StPO zu erteilen ist, wenn von einer Ab190

LR-Schäfer. Ein!. Kap. 6 Rdz. 15.

191 BGHSt 37, 10 (mit Anmerkung Gatzweiler. NStZ 1991,46,47), hier hatte der BGH in

der Nichteinhaltung von Zusagen kein Verfahrenshindernis, sondern lediglich eine Strafmilderungsmöglichkeit gesehen. Daraus lässt sich aber zumindest erkennen, dass dem Beschuldigten das zusätzliche Risiko gerichtsinterner Organisationsmängel nicht aufgebürdet werden darf. Gerlach, S. 182 ff.; Hassemer. JuS 1989,890 m. w. N.; Landau, DRiZ 1995, 132, 138. 192 Kremer. S. 149, mit weiteren Verletzungskonstellationen auf S. 150, ähnlich Braun, S. 75; Schünemann, Gutachten, IIB 115 f., eine bloß faktische Bindungswirkung stelle keinen ausreichenden Ersatz für eine rechtliche Bindung dar; a.A. Tscherwinka, S. 92. 193 Rönnau, S. 211 f. 194 Mit Ausnahme offensichtlich rechtswidriger Zusagen, s. hierzu Tscherwinka, S. 86. 195 Tscherwinka, S. 86; a.A. Janke, S. 206. Ferner sei der Fairnessgrundsatz zumindest dann bedroht, wenn bei gescheiterten Verständigungsbemühungen unzulässige Folgerungen abgeleitet würden, Kintzi, JR 1990,309,310, ebenso Landau, DRiZ 1995, 132, 138. 196 Gerlach, S. 89, Tscherwinka, S. 85 ff., führt als eindeutige Verstösse nicht eingehaltene Absprachen gegenüber dem Angeklagten, sowie Absprachen mit einzelnen Mitangeklagten, die jenseits der Kompetenz des Gerichtes oder jenseits des Schuldgrundsatzes liegen. 197 Schmidt-Hieber. DRiZ 1990,321,323. \98 Vg!. nur Janke, S. 82 m. w. N., 200. 199 Gerlach, S. 197; ähnlich Landau, DRiZ 1995, 132, 138. Vg!. ferner Kuckein, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 63, 67.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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sprache abgewichen werden soll200 oder eine Zusage nicht eingehalten wird, laut derer eine bestimmte Tat nicht verfolgt werde oder die Strafe zu mildem sei. 201 Auch das BVerfG nannte in seinem Kammerbeschluss vom 27. 1. 1987 202 als Priifungsrichtlinien für Absprachen in erster Linie das Recht des Angeklagten auf ein faires, rechts staatliches Verfahren, Art. 2 I i.Y.m. Art. 20 III GG, sowie den Amtsermittlungsgrundsatz, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann?03 Diese Grundsätze stünden einer Verständigung der Verfahrensbeteiligten über Stand und Aussichten des Verfahrens außerhalb der Hauptverhandlung nicht entgegen. Unzulässig sei vielmehr, die Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafbemessung in einer Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage abschließen solle,204 in das Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen. Dem Gericht und der Staatsanwaltschaft sei es deshalb untersagt, sich im Gewande des Urteils, auf einen "Handel mit der Gerechtigkeit" einzulassen. 205 Diese Entscheidung des BVerfG wird von Absprachegegnern 206 wie -befürwortern 207 in gleicher Weise für die eigene Position fruchtbar gemacht, aber auch von beiden Lagern kritisiert. 208 Entscheidend zu beriicksichtigen ist bei der Sachverhaltskonstellation des bislang einzigen Beschlusses des BVerfG zur Zulässigkeitsfrage, dass die Initiative zur Absprache vom Angeklagten selbst ausging, nicht die Strafkammer ihn zu einem Geständnis bewegt hatte und zudem die Beweisaufnahme nach langer Hauptverhandlung kurz vor ihrem Abschluss stand.

200 201

47.

BGH, Urteil v. 07. 06. 1989, BGHSt 36,210. BGH, Urteil v. 18.04. 1990, BGHSt 37, 10, Anmerkung v. Gatzweiler, NStZ 1991,46,

202 NJW 1987, 2662; Anmerkung von Bode, DRiZ 1988, 281; Bussmann, KritV 1989, 376; Gallandi, NStZ 1987,420; Günter H., DRiZ 1992, 230; Hassemer, JuS 1988,306; Siolek, DRiZ 1989,321; Zschockelt, NStZ 1991,305, Braun, S. 111, Friehe, S. 332 f. 203 BVerfGE 57,250,275. 204 Vgl. hierzu die Kritik von Schünemann, Gutachten, I1B 143 f. 205 BVerfGE NJW 1987,2662,2663. Für den konkreten Fall, in dem der im Ausgangsverfahren strafrechtlich verurteilte Beschwerdeführer rügte, zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung sei eine unzulässige Urteilsabsprache getroffen worden, hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde mit der Begründung abgewiesen, der Beschwerdeführer sei durch die auf seine Initiative erfolgte, jedoch gescheiterte Verständigung nicht in seinen Grundrechten und diesen gleichgestellten Rechten verletzt. 206 Günter H., DRiZ 1992, 230, ist der Auffassung, das BVerfG habe den Absprachen eine eindeutige Absage erteilt, vgl. ferner Schünemann, NJW 1989, 1895, 1898, der von sphinxhaften Ausführungen spricht; Siolek, DRiZ 1989,321,324; Weigend, JZ 1990,774,776, hält die Entscheidung für absprachenkritisch. 207 Vgl. nur Dahs, NStZ 1988, 153, 154; eramer, FS für Rebmann, S. 145; Gallandi, NStZ 1987,420; Krüger, DRiZ 1989, 150 f.; Niemöller, StV 1990,34,35; Zuck, MDR 1990, 18, 19. 208 So wird der von der Kammer gesteckte Zulässigkeitsrahmen als zu weit gesteckt angesehen, Seier, JZ 1988, 687, während andere einen hinreichenden Freiraum für die Ausgestaltung und Konsolidierung des "Verfahrensinstitutes Absprache" für gegeben halten, Dahs, NStZ 1988, 153, 159.

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

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In Anlehnung an die Entscheidung des BVerfG hat der BGH den Faimessgrundsatz in einer Reihe von Entscheidungen für die Absprachenpraxis nutzbar gemacht und ihm unterschiedliche Verpflichtungen bei der Konsensfindung und Konsequenzen im Umgang mit der Absprache entnommen: 1. Nichteinhaltung von Absprachen und gerichtliche Hinweispflicht

Aus dem Gebot des fairen Verfahrens 209 folgerte der 2. Senat des BGH eine Hinweis pflicht, um die durch Absprachen geweckten Erwartungen zu beseitigen und der Verteidigung Gelegenheit zu geben, sich auf die veränderte Verfahrenslage einzustellen. 210 In der Erwartung, die es selbst geweckt hat, so der Senat, dürfe das Gericht den Angeklagten und Verteidiger nicht enttäuschen. Da der Vorsitzende teils explizit, teils konkludent geäußert hatte, die Kammer werde den Strafantrag des Staatsanwalts nicht überschreiten,211 musste und durfte der Verteidiger im konkreten Fall auf diese Zusicherung vertrauen,212 zumal deren Erfüllung nicht außerhalb des tatgerichtlichen Kompetenzbereichs lag oder offensichtlich rechtswidrig war. 213 Zur Zulässigkeit der Absprache an sich hatte der 2. Senat in diesem Fall nicht Stellung genommen. 214

Art. 2 I, 20 III GG; Art. 6 I MRK, § 265 IV StPO. Urteil vom 7.6.1989, BGHSt 36,210; Anmerkung von Greeven, StV 1990,53; Hassemer, JuS 1989, 890, und Strate, NStZ 1989, 439; vgl. ferner Gerlach, S. 182 ff.; Sinner, S. 190 f.; Tscherwinka, S. 87; Wolfslast, NStZ 1990, 409, 411; Zuck, MDR 1990, 18, 19, Braun, S. 122. 2ll Dem Urteil lag der Fall zugrunde, in dem der Staatsanwalt in einer Verhandlungspause seinen Strafmaßantrag dem Verteidiger offengelegt hatte und dieser, nachdem der Vorsitzende ihm gegenüber geäußert hatte, er könne davon ausgehen, das Gericht werde den Antrag der Staatsanwaltschaft nicht überschreiten, zunächst von weiteren Beweisanträgen absehen wollte. Um sich dies zu überlegen erbat er eine Verhandlungspause, in welcher der Vorsitzende ihm zu verstehen gab, weitere Beweisanträge seien nicht nötig, da man sich doch mit dem Staatsanwalt geeinigt habe. Die Verteidigung verzichtete daher auf weitere Beweisanträge, der Staatsanwalt beantragte wie angekündigt, nur die Kammer verurteilte zu höheren Strafen. 212 Nach Strate, NStZ 1989, 439, 440, konnte durch die Zusicherung des Vorsitzenden kein schutzwürdiges Vertrauen geweckt werden. Auch sei das "Gebot des fairen Verfahrens" ungeeignet, die prozessuale Situation korrekt zu bewerten, in der sich die Verteidigung nach der Zusicherung des Vorsitzenden befand. In seiner Erwiderung auf Strate, stimmt Greeven, StV 1990,53 f., zwar insoweit zu, als vor der Schlussberatung ein Ergebnis nicht zugesichert werden dürfe, hält die Entscheidung des BGH jedoch nicht für eine Entscheidung zur "Verständigung im Strafprozess", da der Senat hier zu recht nur auf die Verletzung des Vertrauens abgestellt habe. 213 Dies sind Zusicherungen über eine bestimmte Gestaltung des Strafvollzuges oder die Unterschreitung einer für das Delikt zwingend vorgeschriebenen Mindeststrafe, 2 b) cc) der Urteilsgründe; vgl. auch Zschockelt, NStZ 1991, S. 305, 307. 214 Dies kritisierend, Hassemer, JuS 1989,890,891; Strate, NStZ 1989,439; Schünemann, JZ 1989,984,988; Weigend JZ 1990,774,776. 209

210

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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Der 4. Senat hat in seinem Urteil vom 28. 8. 1997 ebenfalls entschieden, dass die Gerichte eine beabsichtigte Abweichung von einer zuvor angegebenen Strafmaßobergrenze in der Hauptverhandlung mitzuteilen haben. 215 Dieser Auffassung hat sich nun auch der 1. Senat angeschlossen. 216 2. Fehlgeschlagene Absprache als Strafmilderungsgrund

Absprachen können aus den unterschiedlichsten Griinden scheitern. 217 Unabhängig von den Scheiterungsgründen wird dem Angeklagten stets daran gelegen sein, nachteilige Konsequenzen zu umgehen oder ganz zu beseitigen. Dabei ist einhellig anerkannt, dass Absprachen unverbindlich zu sein haben,z18 Der BGH hat in einem Urteil 219 von 1990 jedoch zum Schutz des (getäuschten) Angeklagten konstatiert, eine entgegen der getroffenen Absprache und unter Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens angeklagte Straftat stelle einen wesentlichen Strafmilderungsgrund dar. 22o Während der 2. Senat trotz gescheiterter Absprache dem Beschuldigten keine Strafmilderung gewährt und zu dem beanstandeten Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens keine Stellung genommen hatte,221 berief sich der 3. Senat222 215 BGHSt 43, 195. Vgl. zu Strafmaßobergrenze und Fairnessgrundsatz insbesondere Battke in: Gedächtnisschrift für Heinz Zipf, S. 451 ff. 216 Beschl. vom 26. 9. 2001, NStZ 2002, 219. 217 Vgl. hierzu die Darstellung der wichtigsten Fallgruppen bei Gerlach, S. 126 sowie die Erörterung Jankes, S. 218; Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 108, Rdz. 231. 218 Gerlach, S. 129; der BGH hat in seinem grundlegenden Urteil zu Absprachen 1997 festgestellt, das Gericht könne für den Fall eines Geständnisses eine Strafobergrenze angeben und erklären, diese nicht zu überschreiten. Hiervon dürfe nur dann abgewichen werden, wenn sich neue schwerwiegende Umstände zu Lasten des Angeklagten ergeben, BGHSt 43, 195. 219 BGHSt 37, 10. 220 Vgl. allgemein zur strafmildernden Berücksichtigung des Geständnisses bei fehlgeschlagener Absprache Bömeke, S. 125 ff. 221 Urteil des BGH vom 8.3. 1990, NJW 1990, 1921. Die Staatsanwaltschaft hatte signalisiert, sie werde bei Abgabe eines Geständnisses des wegen Betruges und Subventionsbetruges Angeklagten, statt viereinhalb nur dreieinhalb Jahre Freiheitsstrafe beantragen. Der Angeklagte räumte daraufhin Teile des Vorwurfs bereits vor der Hauptverhandlung ein und legte in derselben ein umfassendes Geständnis ab, nachdem der Vorsitzende dem Verteidiger nahegelegt hatte, sich noch einmal mit seinem Mandanten zu beraten. Der Senat konnte in diesem Fall den Äußerungen und Verhaltensweisen der Richter nicht die Zusage entnehmen, das Gericht werde den Strafmaßerwartungen des Angeklagten entsprechen. Die Äußerungen seien lediglich dazu geeignet gewesen, im Angeklagten die Erwartung zu wecken, dass das Erreichen seiner Verteidigungsziele nicht ausgeschlossen sei. Trotz gescheiterter Absprache hatte der Senat hier an dem vom LG verhängten und für den Angeklagten günstigen Strafmaß von 2 Jahren und 6 Monaten festgehalten und keine Strafmilderung gewährt. 222 Urteil vom 18. 4. 1990, BGHSt 37, 10, Anmerkung von Gatzweiler, NStZ 1991, 46; Anmerkung von Hassemer, JuS 1990,939; vgl. ferner Gerlach, S. 187 ff.; Tscherwinka, S. 87, Braun, S. 124.

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

kurze Zeit später auf den Grundsatz des fairen Verfahrens und bejahte im Ergebnis eine Strafmilderung. Dabei ging es um die Nichteinhaltung einer Absprache durch die Staatsanwaltschaft und gleichsam um die Fragen nach der (faktischen) Bindungswirkung und den Vertrauenstatbestand von Absprachen. Der Staatsanwalt hatte dem Angeklagten zugesagt, eine der beiden Straftaten gern. § 154 I StPO einzustellen, woraufhin dieser seinen Einspruch gegen den Strafbefehl hinsichtlich einer anderen Tat fallen ließ und im Vertrauen auf die Zusage des Staatsanwaltes eine Geldstrafe zahlte. Der nachfolgende sachbearbeitende Staatsanwalt hielt sich nicht an die Zusage seines Vorgängers. Dies stelle eine Verletzung eines Vertrauenstatbestandes dar,223 der auf den zum Gebot des fairen Verfahrens gehörenden Vertrauens schutz gründe. Bleibe eine derartige "Vereinbarung" unberücksichtigt, so sei dies bei der Strafzumessung insoweit zu beachten, als hier das Vertrauen des Betroffenen auf die Einhaltung der "Zusage", seine Entscheidung zur Rücknahme des Rechtsmittels sowie sein Bedürfnis nach Rechtssicherheit vor dem weiteren Strafverfahren einzubeziehen seien. Das Urteil hob vor dem Hintergrund einer fehlenden rechtlichen Bindungswirkung die faktische Verlässlichkeit der Absprache (im konkreten Fall) hervor und verdeutlichte, dass das ohnehin bestehende Risiko einer Absprache nicht vollends auf den Angeklagten abgewälzt werden darf. 224 Doch nicht in allen Fällen teilte der BGH die Auffassung der Verteidigung, dass eine gescheiterte Absprache einen eigenständigen Strafmilderungsgrund darstelle oder gegen den Faimessgrundsatz verstoße: Wahrend eines außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gespräches zwischen Vorsitzendem, Staats anwältin und Verteidiger wurde für den Fall eines Geständnisses der Angeklagten u. a. eine Einstellung wegen weiterer Taten gern, § 154 StPO beschlossen. 225 Erst nach Ablegung der Geständnisse stellte sich heraus, dass ein Absehen der Strafverfolgung wegen anderer Taten aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht in Betracht kam. Die Strafkammer beschloss deshalb, die Geständnisse nicht zu verwerten. Das die Schöffen betreffende Ablehnungsgesuch der Angeklagten wurde von der Kammer als unzulässig verworfen. Der Senat merkte an, dass das von den Verfahrensbeteiligten für die Absprache gewählte Verfahren wegen seiner offensichtlichen Anfälligkeit für Missverständnisse zwar bedenklich sei,226 die Strafkammer durch die Nichtverwertung der Geständnisse den Grundsätzen des fairen Verfahrens jedoch entsprochen habe. 227 In einem anderen Fall 228 waren außergerichtliche Gespräche 223 Zur Entstehung eines schutzwürdigen Vertrauenstatbestandes vgl. eingehend Gerlach, S. 188 ff. 224 Gatzweiler; NStZ 1991,46,47; Landau, DRiZ 1995, 132, 138. 225 Dieser Sachverhalt lag dem Urteil des BGH, 5. Senat, vorn 17. 7. 1996 zugrunde, BGHSt 42, 191, Besprechung Beulke/Satzger; JuS 1997, 1072, ferner Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011, 1020. 226 Vgl. hierzu auch BGHSt 42, 46. 227 Auch der Antrag auf Ablehnung der Schöffen wegen Befangenheit hatte mit der Begründung keinen Erfolg, dass Laienrichtern in laufender Hauptverhandlung häufig Beweisergebnisse präsentiert würden, die sich zu einern späteren Zeitpunkt als unverwertbar heraus-

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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zwischen Verteidiger und Vorsitzendem über die Wirkung eines Geständnisses auf das Strafmaß geführt worden, wobei der Vorsitzende in der Hauptverhandlung darauf hingewiesen hatte, er habe sich in besagten Gesprächen auf kein Strafmaß festgelegt. Der Senat hatte hier keinerlei Bedenken gegen die Verwertung des Geständnisses, die der Beschuldigte als Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens gerügt hatte. Es sei zwischen den Erörterungen vor der Hauptverhandlung und den Erklärungen des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung zu unterscheiden. Selbst wenn der Angeklagte auf allfällige Äußerungen des Vorsitzenden vertraut hätte, so wäre dieser Vertrauenstatbestand jedenfalls nach dem entsprechenden Hinweis des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung wieder entfallen.

3. RechtsmiUelverzicht

Das Gesetz gewährt dem Rechtsmittelberechtigten vollumfängliche Disposition über die Entscheidung, von seiner Rechtsmittelmöglichkeit Gebrauch zu machen. Der Verzicht auf Rechtsmittel ist allzu häufig Gegenstand von Absprachen und bezweckt, das ausgehandelte Ergebnis endgültig und unwiederbringlich zu besiegeln. Die wechselseitigen Auswirkungen von Absprache und Rechtsmittelverzicht werfen dabei mehrere Fragen auf: Unter welchen Voraussetzungen führt eine gescheiterte Absprache zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts? Wie wirkt sich eine unwirksame Verzichtsvereinbarung auf eine sonst nicht zu beanstandende Absprache aus oder welche Folgen hat eine vorab vereinbarte Verzichtserklärung auf den tatsächlich erklärten Rechtsmittelverzicht?229 Bevor der 4. Senat in seinem Urteil aus dem Jahre 1997 grundlegend zu Absprache und Rechtsmittelverzicht Stellung nahm, lagen vier Urteile zur Frage der Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts vor. Der I. Senat bejahte die Unwiderruflichkeit eines Rechtsmittelverzichtes in einem Fall, in dem der Staatsanwalt getroffenen Vereinbarungen nach Auffassung des Beschuldigten zuwidergehandelt hatte. 23o Die Revision erklärte er dabei nicht nur wegen der versäumten Frist zur stellten. Ein Umstand, der ein Misstrauen gegen richterliche Unparteilichkeit jedenfalls nicht rechtfertige. Dagegen beanstandete der Senat den Strafausspruch, da die Tatrichter die abgelegten Geständnisse im Rahmen der Strafzumessung nicht ausdrücklich erwähnt hatten. Geständnisse aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht zu würdigen, schließe eine Verwertung der Geständnisse zugunsten des Angeklagten nicht aus, da jedenfalls Geständnisbereitschaft gegeben gewesen sei. Vgl. hierzu das Urteil des BGH vom 28. 8. 1997, BGHSt 43, 195, in dem der 4. Senat geäußert hatte, dass jedes Geständnis eines Angeklagten grundsätzlich geeignet sei, Bedeutung als strafmildernder Gesichtspunkt zu erlangen. Vgl. hierzu Meyer-Goßner, Stra.F.o 2001, S. 73, 75. Kritisch hierzu Weigend, NStZ 1999, 57, 60, Rönnau, wistra 1998,49,53, Herrmann, JuS 1999, 1162 ff. 228 Beschluss des BGH, 1. Senat, vom 13. 5.1997, NStZ 1997,561. 229 Vgl. Rieß, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 645, 649. 230 BGH, 1. Senat, Beschluss vom 4.6.1992, wistra 1992, 309. Gegenstand der Prozessabsprache zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft waren u. a. die Entlassung des Ange-

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

Einlegung für unzulässig, sondern sah insbesondere keinerlei Anhaltspunkte für eine Tauschung durch den Staatsanwalt, da dieser die in Frage stehenden Punkte nicht zum Inhalt der Absprache erklärt hatte. In seinem Beschluss vom 21. Januar 1997231 betonte der 1. Senat abermals die grundsätzliche Unanfechtbarkeit und Unwiderruflichkeit eines formgerechten Rechtsmittelverzichtes, es sei denn, schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmitte1verzichts führten ausnahmsweise zu einer Unwirksamkeit der Verzichtserklärung ex tunc?32 Ebenso hielt der 2. Senat einen Rechtsmittelverzicht auch dann für wirksam, wenn die Abgabe der Verzichtserklärung Gegenstand einer Absprache war. 233 Hingegen gewährte der 3. Senat eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei unwirksamem Rechtsmittelverzicht, weil der Vorsitzende dem Angeklagten unzuständigerweise eine (nicht eingehaltene) Zusage abgegeben hatte. 234 Sei mit dem Rechtsmittelverzicht des Angeklagten eine Erklärung des verurteilenden Tatgerichts verbunden, die vom Beschuldigten als Zusage verstanden werden könne und ihn bei der Abgabe einer Verzichtserklärung beeinflusse, die Zusage dann aber nicht eingehalten werde, falle das Hindernis, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Revisionseinlegung zu stellen, spätestens dann weg, wenn der auf die Erklärung zur Strafvollstreckung vertrauende Angeklagte von der Nichteinhaltung der Strafvollstreckungszusage Kenntnis erlange. In seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1997 stellte der 4. Senat fest, dass die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts mit dem Angeklagten vor Urteilsverkündung unzulässig sei. Das Gericht dürfe sich für das Inaussichtstellen einer milderen Strafe vom Angeklagten nicht versprechen lassen, dass dieser auf Rechtsmittel verzichten werde. Ein derartiges Versprechen stelle eine unzulässige Verknüpfung der Rechtsmittelbefugnis mit der Strafhöhe dar. 235 Demnach kann klagten nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe, kein Bewährungswiderruf aus Vorverurteilung und Ausgang/Urlaub. Da die einzelnen Punkte "nicht eingehalten" wurden, fühlte sich der A~geklagte durch die Staatsanwaltschaft vorsätzlich und arglistig getäuscht. In einer späteren Außerung dem Generalbundesanwalt gegenüber, hielt er das gesamte Verfahren aufgrund der getätigten Absprache für rechtswidrig und nichtig. 231 wistra 1997, 195. 232 BGH NJW 1995, 2568. Derartige WiIIensmängel lagen allerdings im zu entscheidenden Fall nicht vor: Der Angeklagte hatte den Widerruf seines Rechtsmittelverzichtes mit einer nicht eingehaltenen Zusage von Seiten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft begriindet. Einern Schriftwechsel konnte im nachhinein entnommen werden, dass die Herausgabe der corpora delicti weder vorn Gericht noch von der Staatsanwaltschaft zugesagt worden war. Der Senat stellte zudem fest, dass das vorn Angeklagten in Folge der vermeintlichen Zusage abgelegte Geständnis gleichfalls nicht zur Annahme der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zwinge. Da der Widerruf des Geständnisses eine neue Beweistatsache darstelle, § 359 Nr. 5 StPO, stünde der Angeklagte auch nicht rechtsschutzlos da. 233 BGH NStZ 1997,611. 234 Beschluss des BGH vorn 26. 4. 1995, NJW 1995,2568. 235 BGHSt 43, 195,204; ebenso Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 52. Kritisch zu diesem Problempunkt Rönnau. wistra 1998,49.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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ein Rechtsmittelverzicht vor Urteilsverkündung weder erklärt noch verbindlich vereinbart werden. 236 Zu den Rechtsfolgen dieses Verbotes hatte sich der 4. Senat zunächst nicht geäußert. Einer Unwirksamkeit des absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts steht der Grundsatz entgegen, dass der Verzicht auf Rechtsmittel als Prozesserklärung unwiderruflich und unanfechtbar ist. In der Umsetzung des vom 4. Senat aufgestellten Verbotes ist die Rechtsprechung uneinheitlich. Der 4. Senat hat durch eine Korrektur der Dogmatik zum Rechtsmittelverzicht237 sein Grundsatzurteil insoweit ergänzt, als ein Verstoß gegen das Verbot eines vorab erklärten Rechtsmittelverzichts zu dessen Unwirksamkeit führen soll und zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führen kann. 238 Dahinter steht die im obiter dictum formulierte Überlegung, dass ohne die generelle Folge der Unwirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts ein Verstoß des Gerichts gegen das Verbot seiner Vereinbarung ohne jegliche Sanktionen bliebe. Wenn auch die Begriindung des 4. Senats stark auf die Besonderheiten des Einzelfalles abstellte und genaue Kriterien zur Beurteilung eines Rechtsmittelverzichts als wirksam oder unwirksam nicht mitgeteilt wurden, so müsste im Umkehrschluss jedenfalls bei Beachtung der vom 4. Senat aufgestellten Absprachenordnung der Rechtsmittelverzicht anerkannt werden. 239 Diese Schlussfolgerung stünde nach Auffassung verschiedener Stimmen in der Literatur jedoch im Widerspruch zur Forderung des 4. Senates, dass jeglicher abgesprochene Rechtsmittelverzicht zu missbilligen sei. Zudem wird der Nutzen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als Instrument zur Überpriifung fehlgeschlagener Absprachen angezweifelt. Dies insbesondere hinsichtlich der Wochenfrist des § 45 StPO, die mit der Kenntnis des Angeklagten von der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zu laufen beginnen soll. Selbst wenn eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird, so ist die nächste entscheidende Frage, auf welche Weise der Angeklagte sein bereits abgelegtes Geständnis anfechten kann, zumal ein bloßer Widerruf bekanntlich kein Verwertungsverbot hinsichtlich des Geständnisses begriindet. Die Auffassung des 4. Senats zur Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts wird von anderen Senaten in dieser Konsequenz nicht geteilt. Der 1., 2. und 5. Senat240 haben - mit unterschiedlichen Ergebnissen in der Sache - über die WirksamLandaulEscheibach, NJW 1999, 321, 326; Bömeke, S. 130 f. Nach bisheriger Rechtsprechung reicht ein bloßer Irrtum oder ein Missverständnis des Angeklagten gerade nicht dazu aus, um einen Rechtsmittelverzicht für unwirksam zu erklären. 238 BGHSt 45, 227 mit Anmerkungen von Rieß NStZ 2000, 98; Weigend, StV 2000, 63; Satzger, JuS 2000,1175, Rönnau, JR 2001,31. 239 Weigend, StV 2000, 63, 65. Satzger unterstreicht insoweit den Unterschied zwischen der als unzulässig erachteten Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts und dessen bloßer Erklärung, JuS 2000 1157, 1158. 240 1. Strafsenat StV 2000, 542; 2. Strafsenat NJW 1997, 2691; 5. Strafsenat BGHSt 45,51 mit Anmerkung Vogi, NJ 1999,493; vgl. hierzu auch Artkämper, Kriminalistik 1999,784,786. 236

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

keit eines absprachegemäß erklärten Rechtsrnittelverzichts einheitlich entschieden, dass die Unzulässigkeit einer Absprache über das Verfahrensergebnis die Wirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsrnittelverzichts grundsätzlich nicht berührt. Insbesondere folge die Unzulässigkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsrnittelverzichts nicht allein aus der Unwirksamkeit der Absprache als solcher oder über die Verzichtsvereinbarung folge, sondern sei nur dann gegeben, wenn die Gründe, die einer Wirksamkeit der Absprache entgegenstehen, zugleich auch die rechtliche Missbilligung des Rechtsrnittelverzichts begründen?41 Dahinter verbirgt sich die grundlegende Auffassung, allein die freie Entscheidung des Angeklagten sei maßgeblich dafür, ob er ein gegen ihn bereits ergangenes Urteil anfechten, unangefochten lassen oder durch Erklärung eines Rechtsrnittelverzichts annehmen wolle. Diese Freiheit müsse ihm auch dann erhalten bleiben, wenn das Urteil auf einer unzulässigen Absprache beruhe und sich der Rechtsrnittelverzicht als deren Einlösung darstelle. Der 2. Senat führte seine Auffassung in weiteren Entscheidungen fort und erklärte, die Grundsätze, die vom 4. Senat für die Führung von Verhandlungsgesprächen aufgestellt worden sind,242 hätten nur dann die Unwirksamkeit eines abgesprochenen und tatsächlich erklärten Rechtsrnittelverzichts zur Folge, wenn der Verfahrensmangel zu einer unzulässigen Willensbeeinflussung bei Abgabe der Verziehtserklärung geführt hat. 243 Auch nach Auffassung des 1. Senates führt nur eine unzulässige Willensbeeinflussung ausnahmsweise zur Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts. 244 Dies sei insbesondere anzunehmen, wenn der Vorsitzende unzuständigerweise eine Zusage abgegeben hat, die nicht eingehalten worden ist, oder wenn aufgrund einer unzulässigerweise vor Erlass des Urteils im Rahmen einer verfahrensbeendenden Absprache getroffene Vereinbarung ein Rechtsrnittelverzicht erklärt wird. Aus enttäuschten Erwartungen könne hingegen ein Rechtsrnittelverzicht nicht hergeleitet werden. 245 Die Auffassung des 1. und 2. Senates grundsätzlich teilend, erklärte der 5. Senat im Ergebnis einen Rechtsrnittelverzicht wegen der vom Gericht zu verantwortenden Art und Weise des Zustandekommens für unwirksam. 246 Die Verständigungsgespräche wurden außerhalb der Hauptverhandlung sowohl mit der Pflicht- als Kritisch hierzu Rieß, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 645, 653. BGHSt 43, 195. 243 Entscheidungen vom 08. 03. 2000, NStZ 2000, 386 (fortgeführt ferner mit der Entscheidung vom 11. 06. 2001, StV 2001, 557); die Verletzung der vom 4. Senat aufgestellten Verfahrensgrundsätze (BGHSt 43, 195) lag hier darin, dass das Ergebnis der getroffenen Absprache nicht in der Hauptverhandlung erörtert wurde. 244 Entscheidung vom 24. 05. 2000, StV 2000, 542. 245 StV 2000, 542 sowie wiederholend in der Entscheidung vom 05. 12. 2001, NStZRR 2002, 114. 246 BGHSt45, 51 (NIW 1999,2449,2452). 241

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D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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auch der Wahlverteidigerin geführt, weshalb sich die Verfahrenssituation aufgrund eines fehlenden Infonnationsaustausches für den Beschuldigten als schwer durchschaubar darstellte. Ausschlaggebend für die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichtes war schließlich die Abwesenheit beider Verteidigerinnen im Haftprüfungstermin, 247 obwohl das Gericht den Beschuldigten über Risiken und Tragweite seiner Verzichtserklärung aufgeklärt hatte. Wie sich die Rechtsprechung in dieser Frage weiter entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Es ist die Aufgabe der künftigen Rechtsprechung mit weiteren Fallgestaltungen die Risikoverteilung zwischen Gerichten und Staatsanwaltschaften einerseits und dem Beschuldigten andererseits zu bestimmen und zu klären, ob der Beschuldigte auch bei Unklarheit über den Inhalt einer Absprache an seiner Verzichtserklärung festhalten muss?48 Derzeit dürfte dem Beschuldigten der Nachweis der Unwirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts schwerlich gelingen. Gerade aufgrund des vom 4. Senat aufgestellten Verbotes einer Verknüpfung von Absprache und Rechtsmittelverzicht wird in der Praxis von einer Protokollierung des Versprechens einer Verzichtserklärung abgesehen werden. Zudem gilt es nachzuweisen, dass der Rechtsmittelverzicht gewissennaßen als Erfüllung einer vorab getroffenen Vereinbarung erklärt wurde. Zweifel an einer derartigen Kausalität dürften zu Lasten des Rechtsmittelführers gehen. Zu Recht führt Rieß insoweit aus, in der unzulässigen Vorausvereinbarung ein gewichtiges Indiz für die Unzulässigkeit des Verzichts zu sehen, erscheine einerseits bei restriktiver Handhabung als zu eng und ungeeignet, die missbilligende Praxis zu sanktionieren. Andererseits laufe eine großzügige Handhabung im Ergebnis auf einen Widerruf oder eine Anfechtbarkeit der Verzichtserklärung hinaus, die von der Sache her nicht gerechtfertigt sei. 249 Rieß spricht sich ferner für eine qualifizierte Rechtsmittelbelehrung aus. Danach soll ein Rechtsmitte1verzicht nach einer entsprechenden Vereinbarung nur dann wirksam sein, wenn die nach § 35 a StPO vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung den Hinweis enthält, dass die Rechtsmittelberechtigten unabhängig von der getroffenen Absprache Rechtsmittel einlegen zu können. 25o Selbst wenn sich die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts feststellen lässt, so ist dem Angeklagten nur dann die Revision möglich, wenn er Kenntnis von den eine Unwirksamkeit begründenden Umständen noch vor dem Ablauf der Revisionseinlegungsfrist erlangt. In vielen Fällen dürfte es daher bedeutsam sein, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gern. § 44 StPO gewährt zu bekommen. Der 4. Senat hat im Jahre 1999 insoweit ausgeführt, dass bei einem Rechtsmittelverzicht aufgrund einer unzulässigen Absprache Wiedereinsetzung gewährt wer247 Zum Erfordernis, sich vor Erklärung des Rechtsmittelverzichtes mit der Verteidigung zu besprechen s. BGHSt 18, 257, 260; BGH NStZ 1999,364. 248 Vgl. Rönnau, IR 2001, 31, 33, der hinsichtlich der Risikoverteilung beim Scheitern einer Absprache auch auf die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten hinweist. 249 Rieß. Festschrift für Meyer-Goßner, S. 645, 655. 250 Zustimmend Bömeke, S. 134 f.

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den könne. 251 Die Literatur bezweifelt nicht die Lösung, sondern vielmehr die dogmatische Begründung dieser Lösung. Es besteht Uneinigkeit darüber, ob eine Fristversäumung im Falle vereinbarter Rechtsmittelverzichte als schuldlos i. S. d. § 44 StPO anzusehen ist. 252 Zudem wird in Frage gestellt, worin das Hindernis zu sehen ist, dessen Wegfall die Wiedereinsetzung ermöglichen soll. Der 4. Senat stellte insoweit auf die Nichterfüllung der mit der Absprache zusammenhängenden sonstigen Vereinbarungen ab?53 Diese Ansicht, so wird kritisiert, führe gewissermaßen zu einer Art "Irrtumsanfechtung" des Rechtsmittelverzichts, da sie nicht auf die Unkenntnis von der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts abstelle. 254 Rieß schlägt insoweit vor, die Wiedereinsetzungsproblematik auf der Grundlage von § 44 Satz 2 StPO in Verbindung mit der qualifizierten Rechtsmittelbelehrung zu lösen. 255 Unterbleibe der qualifizierte Hinweis, so solle der Rechtsmittelverzicht unwirksam sein. Die Versäumung der Rechtsmittelfrist sei in derartigen Fällen sowie bei einer Nichtanfechtungsvereinbarung nach dem Rechtsgedanken des § 44 Satz 2 StPO als unverschuldet anzusehen. Das Hindernis der unverschuldeten Unkenntnis falle dann weg, wenn der Rechtsmittelführer einer der qualifizierten Belehrung gleichwertige Kenntnis von der Rechtsmittelmöglichkeit erlange. 4. Fehlende präjudizielle Wirkung von Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung

Hinsichtlich der Frage, ob Absprachen über "Leistung" (Geständnis) und "Gegenleistung" (Strafmilderung) außerhalb der Hauptverhandlung das Urteil präjudizierten,256 führte der 1. Senat aus, eine außergerichtliche Absprache könne nicht Grundlage eines Urteils und schon gar nicht Basis einer erfolgreichen Revision sein?57 BGHSt 45,227; vgl. ferner OLG München, StV 2000, 188. So bejahend Bömeke, S. 136; zweifelnd hingegen wegen der Begründungslast Rieß, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 645, 659. 253 BGHSt45, 227. 254 Rieß, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 645, 660 sowie NStZ 2000, 98, 100. Zustimmend hingegen auch insoweit Bömeke, S. 137. 255 Rieß, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 645, 660 ff. 256 So im Ergebnis und in der Begründung zustimmend Krekeler, NStZ 1994, 196; Siolek, Kriminalistik, 1995,433,434. 257 Beschluss des BGH vom 19. 10. 1993, NJW 1994,1293, mit Anmerkung von Krekeler NStZ 1994, 196. Hier versagte der 1. Senat die revisionsrechtliche Erheblichkeit der Rüge einer nicht eingehaltenen Absprache. Das Gericht hatte trotz absprachebedingten Geständnisses des Angeklagten, die jugendgesetzliche Höchststrafe, § 18 I 2 Joo, verhängt. Während der Verteidiger erklärt hatte, die Verhängung einer Jugendstrafe von acht Jahren sei buchstäblich vereinbart worden, hatte der Vorsitzende in einer dienstlichen Stellungnahme bekräftigt, dass dieses Strafmaß keinesfalls zugesichert oder versprochen worden sei. Die Frage eines dem Angeklagten gegenüber versäumten Hinweises, ließ der Senat in der vorliegenden Entscheidung offen. 251

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Der 4. Senat forderte in seinem Urteil vom 28. 8. 1997, dass Absprachen in öffentlicher Hauptverhandlung stattzufinden hätten oder aber zumindest in der Hauptverhandlung offenzulegen seien. 258 Zudem sprach sich der 4. Senat für eine aus dem Gebot des fairen Verfahrens ableitbare Bindungswirkung für das Gericht aus,259 die ihm grundsätzlich ein Abweichen von friiheren Erklärungen verbiete, soweit die Absprache unter Einhaltung tragender Verfahrensgrundsätze260 und unter Einbeziehung aller Beteiligten zustande kommt. 261 Von der getroffenen Absprache könne nur dann abgewichen werden, wenn dem Gericht bislang unbekannte Umstände bekannt würden, die das Urteil beeinflussen könnten. 262 Zudem hätte das Gericht dem Angeklagten bei Abweichen von der in Aussicht gestellten Strafobergrenze einen entsprechenden Hinweis zu erteilen. Diese Hinweispflicht hat der 1. Senat auf eine gescheiterte Absprache übertragen?63 Er hob das erstinstanzliche Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit der Begriindung auf, das Gericht habe die Angeklagte nach der gescheiterten Absprache nicht auf die Möglichkeit der Verhängung einer höheren als zunächst in Aussicht gestellten Strafe hingewiesen. Es ist jedoch ungewiss, ob sich in Zukunft die Auffassung durchsetzen wird, dass ein gerichtliches Strafmaßangebot auch bei gescheiterter Absprachen einen Vertrauenstatbestand und entsprechende Bindungswirkung schafft. Denn der vom I. Senat zu entscheidende Fall weist insoweit Besonderheiten auf als die Angeklagte bereits vor jeglicher Kontaktaufnahme über eine Absprache geständig war und das Gericht nach dem Scheitern der Absprache keine weiteren Beweise erhob. Vor allem aber stand der Verdacht einer unzulässigen Strafschärfung wegen eines verweigerten Rechtsmittelverzichts im Raum. Da dies jedoch nicht zu beweisen war und der I. Senat das Urteil folglich nicht wegen rechtswidriger Strafzumessungsgesichtspunkte aufheben konnte, wurde auf die Hinweispflicht zuriickgegriffen. Es liegt die Annahme nahe, dass die an der Kontaktaufnahme außerhalb der Hauptverhandlung Beteiligten dariiber entscheiden, welche ErörterungsgegenstänBGHSt 43, 195,205 f. BGHSt 43, 195,210. 260 Der Senat nennt hier das Gebot der Wahrheitsfindung, § 136a StPO, den Öffentlichkeitsgrundsatz und die Grundsätze der Strafzumessung; vgl. die Ausführungen unter den entsprechenden Überschriften. 261 Im zugrundeliegenden Fall hatte sich die Strafkammer bereits vor der Urteilsberatung hinsichtlich der Strafzumessung gebunden, indem sie sich gegenüber allen Beteiligten auf eine konkrete Strafe festlegte. Die Revision des Angeklagten, mit der dieser die getroffene Absprache für rechtlich nicht haltbar erklärt hatte, war erfolgreich, weil sich die geschilderte Vorgehensweise nach Ansicht des Senates, zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben könnte. Artkiimper hebt in seiner Urteilsanmerkung insoweit das verringerte Absprachenrisiko der Verteidigung hervor, NJ 1998,409. 262 Genannt werden die Darstellung einer Tat als Vergehen oder Verbrechen oder das Erfahren bislang ungekannter Vorstrafen des Angeklagten. Kritisch hierzu Weigend, NStZ 1999,57, 60. 263 Beschl. vom 26.09.2001, NStZ 2002,219, vgl. hierzu WeideT, NStZ 2002,174 ff. 258

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de tatsächlich in die Hauptverhandlung eingeführt und protokolliert werden. So dürfte in derartigen Konstellationen insbesondere für den Beschuldigten unklar bleiben, worauf sich die vom 4. Senat geforderte grundsätzliche Bindungswirkung konkret bezieht und wie ein entsprechender Beweis zu erbringen ist, wenn eine Protokollierung aufgrund eigener Unkenntnis oder aber Nachlässigkeit der Verteidigung unterblieben ist. 264

11. Erzwungener Konsens

und Nemo tenetur-Grundsatz I § 136a StPO

Grundsätzlich kann der Beschuldigte eine Absprache rechtlich nicht erzwingen. 265 Dagegen versetzt ihn das einvernehmliche Interesse aller Verfahrensbeteiligten an einer Minimierung aufzuwendender Zeit und Kosten häufig in eine Drucksituation, in der er geständig ist. Dies erzeugt Friktionen sowohl mit dem Grundsatz "nemo tenetur se ipsum prodere,,266, der den Beschuldigten berechtigt, zu den erhobenen Vorwürfen zu schweigen, um sich nicht selbst zu belasten 267 , als auch mit § 136a StPO,268 der neben dem Schutz freier Willensentschließung und Willensbetätigung 269 verdeutlicht, dass die Wahrheit im Strafverfahren nicht um jeden Preis zu erforschen ist. 27o 1. Standpunkte der Rechtsprechung

Der 4. Senat hat in seiner Entscheidung vom 28.8. 1997271 ausgeführt, dass die freie Willensentschließung des Beschuldigten unter allen Umständen gewahrt blei264 Vgl. auch Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1O1l, 1031 ff.; ferner Meyer-Goßner, Stra.F.o 2001, S. 73, 76 mit Hinweis auf BGHSt 45,227; Weider, NStZ 2002, 174, 177, der die Dokumentation auch gescheiterter Absprachen fordert. Vgl. zu den Konsequenzen einer nicht erfolgten Protokollierung auch BGH NStZ 2001, 555. 265 Aus diesem Grund wies der 2. Senat die Rüge der Verletzung von § 244 III StPO zurück, nachdem der Verteidiger versucht hatte, eine Absprache mittels Hilfsbeweisantrag herbeizuführen, BGHSt 40,287; vgl. hierzu Sinner, S. 192 f. sowie Kaetzler, wistra 1999, 253. 266 Auch er stellt einen Ausfluss eines "allgemein, als selbstverständlich vorausgesetzten rechtsstaatIichen Grundsatzes" dar, der in der StPO durch die §§ 115 III 1, 136 I 2, 136a, 163a IV 2, 243 IV 1 gewährleistet ist. BVerfGE 38, 105, 113; BGHSt 31,304,308; "nemo tenetur" als notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens, BGH NStZ 1992, 294; BGH NStZ 1992, 344, 345. 267 Zur geschichtlichen Entwicklung s. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 67 ff. 268 Zum Verhältnis des Nemo tenetur-Grundsatzes zu § 136a StPO vgl. Rogall, S. 104; a.A. Schünemann, Gutachten, IIB 98. 269 Peters, S. 336 f.; Roxin, § 25 IV. 270 BVerfG, NStZ 1984,82; BGHSt 14,358,365; 31, 304, 309; LR-Hanack, § 136a Rdz.3; Rogall, ZStW 91 (1979), S. 1,21. 271 BGHSt 43, 195.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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ben müsse, er insbesondere nicht durch Drohung mit einer höheren Strafe oder durch Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils zu einem Geständnis gedrängt werden dürfe. Absolut unzulässig sei es, wenn sich das Gericht für das Inaussichtstellen einer milderen Strafe einen Rechtsmittelverzicht des Angeklagten versprechen lässt. Hingegen liege das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils nicht schon dann vor, wenn das Gericht dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Strafmilderung in Aussicht stelle. 272 Dieser Auffassung hat sich auch der 1. Strafsenat ein Jahr später mit der Begriindung angeschlossen, die Entschließungsfreiheit des Angeklagten sei durch einen Hinweis auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses nicht beeinträchtigt. 273 Bereits zehn Jahre zuvor hatte das BVerfG im Beschluss vom 27. 1. 1987 274 einen Verstoß gegen § 136a StPO für den Fall einer vom Angeklagten initiierten Absprache mit der Begriindung abgelehnt, eine Verletzung des Beeinflussungsverbotes sei nicht anzunehmen, solange der Beschuldigte zu jeder Zeit des Verfahrens uneingeschränkt "Herr seiner Entschlüsse "bleibe. 275 In einem anderen vom BGH entschiedenen Fall hatte der Beschuldigte diesen Punkt unter Benennung eines Verstoßes gegen § 136a StPO in Zweifel gezogen und sich darauf berufen, erst das Gericht habe in ihm die Vorstellung einer Bewährungsstrafe geweckt, was ihn zur Abgabe eines Geständnisses veranlasst habe. 276 Dass die Kammer am Ende doch eine Freiheitsstrafe verhängte, hielt der 2. Senat nicht für riigebegriindend. Die Äußerungen und Verhaltensweisen der Richter seien nicht geeignet gewesen, andere Vorstellungen als diejenige zu wecken, dass die Erreichung seines Verteidigungszieles nicht ausgeschlossen sei. Die Stellungnahme des Senates zu § 136a StPO erschöpft sich allerdings in der Feststellung, der Angeklagte sei im vorliegenden Fall keinerlei Pressionen seitens des Gerichts ausgesetzt gewesen. 277 2. Stellungnahmen der Literatur

Weitaus kritischer hat die Literatur zur Problematik des Nemo tenetur-Grundsatzes, insbesondere eines möglichen Verstoßes gegen § 136a StPO Stellung bezogen. Kritisch hierzu Schmiu, GA 2001, S. 411, 421 f. BGH StV 1999,407. 274 NJW 1987, 2662; Anmerkung von Bode, DRiZ 1988, 281; Bussmann, KritV 1989, 376; Gallandi, NStZ 1987, 420; Günter H., DRiZ 1992, 230; Hassemer, JuS 1988, 306; Siolek, DRiZ 1989,321, Friehe, S. 332 f. 275 Diese Argumentationsweise wurde zum Teil heftig kritisiert, vgl. Rönnau, S. 189, der allerdings einräumt, dass das BVerfG im konkreten Fall zu einem zutreffenden Ergebnis gekommen sei; Seier, JZ 1988,683,687. 276 BGH Urteil, 2. Senat, vom 8. 3. 1990 NJW 1990, 1921; Anmerkung Hassemer, JuS 1990, 939 ff. 277 Hassemer, JuS 1990,939, merkt an, dass der Beschuldigte dennoch den Eindruck zurückbehalten haben dürfte, er sei hereingelegt worden. Zu älteren Entscheidungen s. Braun, S.126. 272 273

5 Dreher

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Sie sieht in der Vereinbarkeit von konsensualer Verfahrenserledigung mit dem Verbot der Selbstbezichtigung einen wesentlichen - wie sich zeigen wird auch in den USA herausragenden - Kritikpunkt. 278 Besonders umstritten ist, ob das Inaussichtstellen einer Strafmilderung für den Fall eines Geständnisses nicht zwangsläufig der Androhung einer Strafschärfung für den Fall verweigerter Kooperation gleichkommt und der Beschuldigte sich als "Gegenleistung" für das Entgegenkommen des Gerichtes selbst bezichtige. 279 Im Zusammenhang mit der Zulässigkeit strafprozessualer Absprachen werden die Varianten der "Täuschung", § 136a I I StPO, der "Drohung mit verfahrensrechtlich unzulässigen Maßnahmen", § 136a 13 1.Alt. StPO, und das "Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils", § 136a I 3 2.Alt. StPO als relevant diskutiert: a) Tciuschung

Das Merkmal der "Täuschung", das nach überwiegender Ansicht eng auszulegen ist,280 spielt in der Absprachenpraxis eine nur untergeordnete Rolle und nimmt daher auch in der Diskussion um die Zulässigkeit von Absprachen einen nur geringen Raum ein. Die Grenze des Zulässigen wird regelmäßig dann überschritten, wenn der Beschuldigte zu Äußerungen veranlasst wird, die er zwar freiwillig, aber aufgrund falscher Vorstellungen abgibt. 281 Bewusstes Vorspiegeln oder Entstellen von Tatsachen werden als grundsätzlich unzulässig angesehen. Absprachentypische Beispiele einer Täuschung sind die Ankündigung eines Strafrabattes, den man von vornherein nicht zu gewähren bereit ist oder das Vorspiegeln vermeintlicher Aussichtslosigkeit der Situation des Beschuldigten. 282 Da eine entsprechende Beweisführung so gut wie unmöglich sein dürfte, führt auch die Diskussion in diesem Bereich zu keinem nennenswerten Ergebnis.

b) Drohung mit einer verfahrensrechtlich unzulässigen Maßnahme

Unter "Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme" wird das Inaussichtstellen einer nachteiligen Maßnahme verstanden, auf deren Anordnung der Drohende Einfluss zu haben vorgibt. 283 Ist die angekündigte Maßnahme ihrer Art und ihren Vor278 Vgl. hierzu Denckerl Hamm, S. 54; Friehe, S. 382 ff.; Hassemer, JuS 1989, 890, 892; Nestler-Tremel, KJ 1989,448,453; Pfeiffer, Grundzüge, Rdz. 29 f.; Siolek, DRiZ 1989,321, 327; ders., Kriminalistik, 1995,433,436. 279 Nestler-Tremel, KJ 1989, 448, 453; SchÜßemann, Gutachten, I/B 147 f.; differenzierend insoweit Seier, JZ 1988,683,687, der mit dem BVerfG, NJW 1987,2662 darauf abstellt, von wem die Initiative zur Absprache ausgeht. 280 LR-Hanack, § 136a RdZ.33. 281 LR-Hanack, § 136a Rdz.33. 282 Rönnau, S. 197.

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aussetzungen nach zulässig, so bleibt der Beschuldigte für seine Aussagen verantwortlich. Absprachenrelevant sind diejenigen Fälle, in denen die Grenze grundsätzlich zulässiger Hinweise, Vorhaltungen und Warnungen zur unzulässigen Drohung überschritten wird?84 Allerdings werden von einigen auch schon die grundsätzlich zulässigen Hinweise als Form der Willensbeeinflussung mit drohendem Element ausdrücklicher oder konkludenter Natur kategorisiert, die nach der überwiegenden Literaturmeinung bei der Subsumtion unter § 136a StPO nicht berücksichtigt werden?85 Entscheidend für einen Verstoß sei, dem Beschuldigten durch das Verhalten der Justizorgane den Eindruck des Rechtswidrigen zu vermitteln. 286 Andererseits wird vertreten, unter § l36a I 3 1.Alt. StPO sei besonders zu würdigen, dass die Wahlmöglichkeit zwischen streitigem Verfahren und Absprache eine erhöhte Drucksituation für den Beschuldigten darstelle. 287 Bei einem Großteil der Absprachen würden die Beteiligten und so auch der Beschuldigte in Positionen gezwungen, in denen sie Kompromisse zu machen hätten. Eine Drohungskomponente stellt nach Rönnau schon der gerichtliche Hinweis auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses dar, der häufig zu einem Verstoß gegen § 136a StPO führe?88 Auch Schünemann ist der Auffassung, das Gericht dürfe Gespräche über ein Geständnis immer erst dann initiieren, wenn es dieses gar nicht mehr strafmildernd berücksichtigen dürfe. Denn ein nur auf Beweisen beruhendes oder auf eindringlichen Vorhalt abgegebenes Geständnis stelle keinen Strafmilderungsgrund dar. 289 Nestler-Tremel hält diese Darstellung für überspitzt. Seiner Ansicht nach soll ein nur belehrender Hinweis auf die strafmildernden Folgen eines Geständnisses auch dann zulässig sein, wenn das Gericht noch nicht davon ausgeht, der Beschuldigte sei durch den Gang der Hauptverhandlung überführt. Sei das Gericht nach dem Gang der Hauptverhandlung ohnehin schon von der Schuld des Beschuldigten überzeugt, hätte es keine Gründe, sich auf Absprachen überhaupt noch einzulassen. 29o Im Ergebnis wird von den Absprachegegnern mit unterschiedlicher Begründung die Ansicht vertreten, mit einer nur vordergründig gewährten Vergünstigung sei implizit eine Drohung verbunden, den nicht Kooperationswilligen härter zu bestrafen. 291 283 284 285 286 287 288 289 290

LR-Hanack, § 136a Rdz.48; Kleinknecht / Meyer-Goßner, § 136a Rdz. 21. Seier, JZ 1988, 683, 688. Seier, JZ 1988, 683, 688. Gerlach, S. 74. Rönnau, S. 192. Rönnau, S. 193. Schüne/'TUlnn, Gutachten, I1B 97, unter Verweis auf BGHSt 1, 387; 14, 189; 20, 268. Nestler- Tremel, in Modemes Strafrecht und ultima ratio-Prinzip, S. 172 f., vertritt im

Ergebnis allerdings die Ansicht, es werde oftmals zumindest ein unberechtigter Vorteil in Aussicht gestellt, wenn der Hinweis auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses nach dem Stand des Verfahrens unzutreffend sei. 291 Dencker/Hamm, S. 44, 54; ähnlich Siolek, DRiZ 1989, 321, 327; so auch Weigend, JZ 1990, 774, 778, der das Argument, der Beschuldigte werde keiner Zwangs situation ausgesetzt, da das Geständnis lediglich eine Vergünstigung gegenüber der "Normalstrafe" darstelle, für nicht überzeugend hält. Die Strafmaßdifferenzierung in eine Strafe x für kooperierende 5*

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Hingegen wird mittlerweile überwiegend der gerichtliche Hinweis auf die strafmildernde Wirkung des Geständnisses als zulässig, wenn auch nicht unproblematisch erachtet. 292 So seien justizielle Drohungen mit verfahrensrechtlich zulässigen Maßnahmen nur statthaft, wenn dabei verdeutlicht werde, dass die zu treffenden Entscheidungen allein von sachlichen und nicht von willkürlichen Notwendigkeiten abhingen. 293 Auch hier wird mit der Willensfreiheit des Beschuldigten argumentiert; eine Verletzung von § 136a StPO sei auch dann nicht ohne weiteres gegeben, wenn die Initiative von Seiten der Staatsanwaltschaft ausgehe. 294 Eine verbotene Zwangslage durch den Hinweis auf die strafmildernde Wirkung des Geständnisses entstehe bspw. nur dann, wenn der Hinweis nicht mehr als bloße Rechtsbelehrung zu verstehen sei, sondern wenn das Gericht damit zum Ausdruck bringe, bereits fest und endgültig von der Schuld des Beschuldigten überzeugt zu sein. 295 Auch von dieser Ansicht wird somit die Möglichkeit eines Verstoßes gegen § 136a I 3 l.Alt. StPO eingeräumt. Die Grenzen für einen derartigen Verstoß werden jedoch wesentlich enger gezogen.

c) Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils

Das "Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils" ist in der Praxis die wohl bedeutendste Variante eines möglichen Verstoßes von Absprachen gegen § 136a StPO. Hier ist umstritten, ob die Zusage einer milden Strafe für den Fall eines Geständnisses ein unzulässiges Versprechen sei. Versieht der Richter seine Zusage nicht mit dem Vorbehalt des Vorläufigen, sondern legt sich verbindlich auf das Strafmaß fest, wird darin überwiegend ein unzulässiges Versprechen gesehen. 296 Unklar ist hingegen, ob das "Versprechen" eine bindende Zusage voraussetzt297 und ob das Inaussichtstellen einer bestimmten Strafe durch den Richter eine solche bindende Zusage ist. 298 Letzteres wird unter der Begründung bejaht, und eine Strafe x + n für nicht-kooperierende Beschuldigte sei der unverzichtbare Grundstein des Absprachensystems. 292 LR-Hanack, § 136a StPO Rdz. 49, 55. 293 LR-Hanack, § 136a StPO Rdz. 48. 294 Landau, DRiZ 1995, 132, 136. 295 Kremer, S. 136; Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 82, Rdz. 177; LR-Hanack, § 136a StPO Rdz. 49, hält die Möglichkeit einer konkludenten Androhung des Gerichts mit Hinweis auf strafmildernde Folgen im Falle geänderten Prozessverhaltens als auch dann für gegeben, wenn das Gericht sein Interesse an einer Verfahrensverkürzung kundtut. 296 Schmidt-Hieber, FS für Wassermann, S. 995, 1002; ders., NStZ 1988, 302, 303; Schünemann, Gutachten, IIB 98 Cf.; Seier, JZ 1988, 683, 687 f.; Siolek, DRiZ 1989, 321, 326, einen Verstoß gegen § 136a StPO generell bejahend. 297 Schünemann, Gutachten, IIB 99; a.A. eramer, FS für Rebmann, S. 145, 154. 298 Dencker/Hamm, S. 34; LR-Hanack, § 136a Rdz. 50; Niemöller, StV 1990, 34, 35; Schünemann, Gutachten, I1B 99; Siolek, DRiZ 1989, 321, 322; a.A. Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 75 ff.

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gerade durch das bloße Inaussichtstellen eines Vorteils könne auf die Willensfreiheit des Beschuldigten unlauterer Einfluss genommen werden?99 Besonders die Frage nach der strafmildernden Wirkung des Geständnisses 300 wirft im Zusammenhang mit § 136a StPO Probleme auf. Es wird davon ausgegangen, die Gesamtumstände der Absprachen ließen beim Beschuldigten schnell den Eindruck entstehen, das Gericht sei aus Griinden der Verfahrensbeschleunigung an einer Änderung seines Prozessverhaltens interessiert und werde daher ein Geständnis strafmildernd beriicksichtigen. 301 Ein Geständnis könne nur dann strafmildernde Wirkung entfalten, wenn es ausschließlich auf Reue- und Sühnebereitschaft des Täters beruhe,302 das Geständnis mithin auf seine Griinde untersucht werde. 303 Tatsächlicher Beweggrund eines in einem Absprachenverfahren abgelegten Geständnisses sei dagegen in der Regel der in Aussicht gestellte Strafrabatt. Diese Ansicht wird von anderer Seite als realitätsfern kritisiert?04 Das Motivbündel, auf dem die Geständnisbereitschaft in der Regel beruhe, lasse sich in den wenigsten Fällen eruieren. 305 Zudem liege auch im Fall eines späten Geständnisses bei erdriickender Beweislage das Motiv für das prozessuale Verhalten des Beschuldigten eher in der zu erlangenden Strafmilderung als in Reue und Schuldeinsicht. 306 Desweiteren könne auch ein ausgehandeltes Geständnis auf durch gerichtliche Prognose oder Belehrung gewonnener Einsicht und Reue beruhen und so Ausdruck sittlicher Leistung sein. 307 Auch die Zulässigkeit eines gerichtlichen Hinweises auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses 308 spreche gegen den Ausschluss strafmildernder Beriicksichtigung aufgrund unterstellter Reuefiktion. 309 Damit würden auch "abgesprochene" Geständnisse zumindest der Möglichkeit einer strafmildernden Beriicksichtigung unterliegen. 310 So wurde auch von der 299 LR-Hanack, § 136a Rdz. 50; vgl. Gerlach, S. 75 m. w. N.; Kremer, S. 138; Schlüchter, Strafverfahren, Rdz. 93, die den Hinweis auf die strafmildernden Folgen eines Geständnisses für zulässig hält. 300 Vgl. hierzu ausführlich Janke, S. 180 ff.; Gerlach, S. 104 ff.; Rönnau, S. 94 ff.; Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 78, Rdz. 169 ff.; BGH, NJW 1960, 1212; BGH, NJW 1965,2262. 301 Rönnau, S. 196. 302 Rönnau, S. 195, Fn. 5, Schünemann, Gutachten, I1B 39, 110 f. 303 Gerlach, S. 107; Rönnau, S. 97. 304 Landau, DRiZ 1995, 132, 137, Janke, S. 187 m. w. N .. 305 Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 81, Rdz. 174; ders., FS für Wassermann, S. 995, 999. 306 Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 81 Rdz. 174; ihm folgend Janke, S. 184. 307 eramer, FS für Rebmann, S. 145, 148; Gerlach, S. 109; Rex, DRiZ 1991, 31; SchmidtHieber, Verständigung, S. 81 Rdz. 175; Tscherwinka, S. 161; Widmaier, StV 1986,357,358. 308 BGHSt 1, 387, 388; BGHSt 14,189; BGHSt 20,268,269. 309 Gerlach, S. 108; Janke, S. 187. 310 Vgl. Hanack, StV 1987,500,503; Niemöller, StV 1990,34,36; Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 172 f.; ders., NJW 1982, 1020; Wolfslast, NStZ 1990,409,412.

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

Strafrechtlichen Abteilung des 58. Deutschen Juristentages mit Mehrheitsbeschluss entschieden, dass ein glaubhaft erscheinendes Geständnis für sich allein eine Strafmilderung rechtfertige. 311 Ebenfalls umstritten ist, ob ein "abgesprochenes" Geständnis auch unter den Strafzumessungsfaktor "Auswirkungen der Tat", § 46 11 StGB, subsumiert werden kann. Eine Reduzierung der Tatfolgen iSd § 46 11 StGB sieht Schmidt-Hieber auch in einer schnelleren Verfahrensbeendigung, da das Geständnis letztlich zur Aufklärung der Straftat beitrage?12 Damit spricht er sich für die Honorierung eines Verhaltens aus, das die Tataufklärung fördert. Es erstaunt nicht, dass diese Auffassung und insbesondere die Argumentation Schmidt-Hiebers auf heftige Kritik stieß. Ihre Anwendung, so Schünemann, würde umgekehrt bei jedem langwierigen Prozess eine strafschärfende Wirkung für den Angeklagten bedeuten, was aufgrund der ihm durch das GG und die StPO gewährten Rechte nicht sein könne. 313 Auch nach der überwiegenden Auffassung in der Literatur werden von "Auswirkungen der Tat" lediglich die von der Straftat ausgehenden Sozial schäden und nicht dadurch bewirkte Belastungen der Justiz umfasst. 314 Die von Schmidt-Hieber im Zusammenhang mit § 46 11 StGB erörterte Frage nach dem Beweiswert des Geständnisses gehöre dagegen dem Bereich der "gerichtlichen Aufklärungspflicht" an. 315 Bleibt festzuhalten, dass nach überwiegender Ansicht auch ein abgesprochenes Geständnis strafmildernd berücksichtigt werden kann. Soweit geständniserhebliche Motive nicht eruiert werden können, wird es für zulässig angesehen, das Geständnis dem In dubio pro reo-Grundsatz entsprechend zu würdigen. Abgesehen von der dargestellten Problematik der strafmildernden Wirkung eines Geständnisses hält die überwiegende Auffassung in der Literatur jedes Versprechen von Vorteilen für unstatthaft, wenn es eine Gegenleistung für eine Aussage darstellt,316 während andere darauf abstellen, ob der Vorteil gesetzlich gar nicht oder zumindest im konkreten Fall nicht gewährt werden darf. 317 Der ersten Auffassung entgegnet Schünemann, diejenigen Normen, die bereits einen Beurteilungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden vorsähen,318 könnten nur dann effizient angewandt werden, wenn die darin vorgesehenen Vorteile dem Beschuldigten NJW 1990, 2992, 2993. 312 Vgl. nur S. 80 Rdz. 172; FS für Wassermann, S. 995, 998; StV 1986,355,356; er begründet seine These mit einem Umkehrschluss aus den §§ 153 ff.; 258 StGB, die bereits den Versuch, die Tataufklärung zu verhindern, sanktionieren; zum anderen weist er auf die §§ 158, StGB, 371 III AO, 31 BtMG, 45, 47 JGG hin, die denjenigen Täter begünstigten, der einen Beitrag zur Tataufklärung leiste, unabhängig von den Motiven, die diesem Verhalten zugrundeliegen. 313 Schünemann, Gutachten, I/B 112 f. 314 Vgl. nur SchönkeISchröder-Stree, § 46 Rdz. 18 ff. 315 Janke, S. 189 f. Vgl. ferner Jeßberger, S. 65. 316 Erbs, NJW 1951,386,388 f. 317 SK-StPO-Rogall, § 136a Rdz.67. 318 §§ 153e I S. 2, 154c StPO, 31, 37 BtMG. 3ll

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zugesagt würden?19 Die Vereinbarkeit einer justiziellen Zusage mit § 136a StPO setzt seines Erachtens voraus, dass diese eine gesetzlich vorgeschriebene Reaktion auf die Aussagen des Beschuldigten ist oder dass dadurch die Konkretisierung eines Ermessensspielraumes, dem Normzweck entsprechend, auf bestimmte Art und Weise erfolgt. 320 Im Ergebnis mit Schünemann übereinstimmend, stellt eine mittlerweile im Vordringen befindliche Ansicht321 auf die rechtliche Zulässigkeit einer Zusage ab und untersucht mögliche verbotene Versprechen iSd § 136a I 3 2.Alt. StPO. 322 Entscheidend sei, dass der zugesagte Vorteil im Kompetenzbereich des Vernehmenden liege. Werde als Vorteil in Aussicht gestellt oder zugesagt, sich für eine bestimmte Vorgehensweise einzusetzen, obwohl der Versprechende nicht über alleinige Zuständigkeit verfüge, so habe ein deutlicher Hinweis auf die Entscheidungskompetenzen des Mitentscheidungsbefugten zu erfolgen. 323 Zudem wird auch in diesem Zusammenhang auf den notwendigen Vorbehalt der Vorläufigkeit abgestellt. 324 Nur so könne das Gericht der Skylla der Ablehnbarkeit wegen Befangenheitsbesorgnis und der Charybdis 325 der durch § 136a StPO verbotenen Vorgehensweisen entgehen. Im Übrigen könne auch bei dieser Tatbestandsvariante wie bei derjenigen einer "Drohung" iSd § 136a StPO die Art und Weise, auf eine an sich zulässige Maßnahme hinzuweisen, die Aussagefreiheit des Beschuldigten beeinträchtigen. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen der Beschuldigte den Eindruck gewinnen muss, die richterliche Strafzumessung sei mit der Berücksichtigung seiner Aussage erschöpft. 326 Würden diese Einschränkungen beachtet, so seien Absprachen durchaus auch mit § 136a StPO vereinbar?27

319 Schünemann, Gutachten, I/B 101, sieht insoweit in den genannten Normen eine notwendige Ergänzung zu § l36a StPO. LR-Hanack, § l36a Rdz. 53, weist mit Recht darauf hin, dass sich bei den genannten Normen der Vorteil auf einen Umstand beziehen müsse, der in der Kompetenz des Versprechenden liege. Landau, DRiZ 1995, l32, l37 320 Schünemann, Gutachten, I/B 104 f. 321 Gerlach, S. 77; Janke, S. 173 . 322 Vgl. hierzu ausführlich Janke, S. 173 ff. 323 Bspw. bei einer Zusage der Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft nach Anklageerhebung oder die Zusage des Gerichts hinsichtlich der Strafvollstreckung; Zschoekelt, NStZ 1991,305,309. 324 Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884; ders., FS für Wassermann, S. 995, 1004. 325 Schünemann, Gutachten, I I Bill. 326 Gerlach, S. 80; Seier, JZ 1988,683,688, Rönnau, S. 195. 327 Landau, DRiZ 1995, l32, l37.

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

III. Anklagezwang und Amtsennittlungsgrundsatz

Als Legalitätsprinzip wird der Ermittlungs- und Anklagezwang der Staatsanwaltschaft bei vorliegendem Tatverdacht bezeichnet, §§ 15211,160,170 I StPO. 328 So verbietet der Verfolgungszwang ein Unterlassen der Anklageerhebung aus Zweckmäßigkeitserwägungen. Dem steht das Opportunitätsprinzip gegenüber, wonach die Staatsanwaltschaft zwischen Anklageerhebung und Verfahrenseinstellung wählen kann, selbst wenn sich der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer Straftat schuldig gemacht hat. 329 Durch die gängige Absprachenpraxis werden ein Unterlaufen des Verfolgungsund Anklagezwanges, gar eine Umkehrung von Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, eine Überdeckung der Normanwendung der §§ 153 ff. StPO sowie deren ungleichmäßige Handhabung bezüglich einzelner Delikte befürchtet. 330 Der Ausdehnung des Opportunitätsprinzips entsprechend werde nicht mehr nach prinzipiellen Vorgaben, sondern einer für den Einzelfall gebildeten Maxime entschieden. 33l So deckt sich auch die dogmatische Kritik an § 153 a StPO und seiner praktischen Anwendung weitgehend mit derjenigen an der Praxis von Absprachen. 332 Als am schwersten wiegende Kritikpunkte seien hier die Preisgabe des öffentlichen Strafanspruchs, vornehmlich zugunsten sozial Bessergestellter, das Aussparen bestimmter Deliktsgruppen aus dem Anwendungsbereich der Absprachen 333 und der Verlust der Glaubwürdigkeit der Strafjustiz angeführt. Verfahren auch bei der Feststellung nicht geringer Schuld gemäss § 153 a StPO einzustellen, stelle einen empfind328 Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 152 Rdz. 2; Roxin, § 14 A I. Bedeutungswandel und bereits bestehende Einschränkungen des Legalitätsprinzips sollen in dieser Arbeit nicht eigens herausgearbeitet werden; vgl. hierzu nur Baumann, ZRP 1972, 273; Eser, ZStW 104 (1992), S. 361, 363; Kremer, S. 102; Naucke, Legalitätsprinzip, S. 149, 154; Marquardt, Die Entwicklung des Legalitätsprinzips, S. 60 ff.; Rieß, NStZ 1981,2; Rönnau, S. 109, 115 f.; Tscherwinka, S. 123. 329 Roxin, § 14 A 11. 330 DenckerlHamm, S. 52, davon ausgehend, es lohne sich nicht einmal über das Legalitätsprinzip zu diskutieren, da der Vergleich auf Konsens und eben gerade nicht auf Gesetz beruhe; Hassemer, JuS 1989, 890, 892; Kausch, Der Staatsanwalt - Ein Richter vor dem Richter ?, 1980, S. 36 ff.; Kintzi, JR 1990, 309, 314; KüpperlBode, Jura 1999, 351, 360; Landau, DRiZ 1995, 132, 135; Naucke, Legalitätsprinzip, S. 149, 154, meint, die §§ 152a154 StPO würden einen erheblichen Teil des Strafrechts dem Regime der Legalität entziehen; Nestler-Tremel, Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, S. 159; Rex, DRiZ 1991,31; Rieß, NStZ 1981,2, zur Legitimierungskrise des Legalitätsprinzips; ders., in FS für Schäfer, S. 159, 198; Rönnau, 108, 126; Siolek, DRiZ 1989, 321, 325 f.; ders., Kriminalistik 1995, 433,434; Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017, 1019. 331 Sinner, S. 120. 332 Auch in der Verfahrenserledigung nach § 153 a StPO steckt ein konsensuales Element, als er die Unterwerfung des Beschuldigten unter den staatlichen Strafanspruch voraussetzt und insoweit die Unterwerfung des Beschuldigten unter die Sanktion bis zu einem gewissen Grad erzwingbar macht, vgl. Weigend, NStZ 1999,57,58. 333 Rönnau, S. 119, sieht darin einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot.

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lichen Verstoß gegen das Legalitätsprinzip dar. 334 Von anderer Seite wird vertreten, das Legalitätsprinzip sei aufgrund seiner vielfältigen bereits bestehenden Einschränkungen durch die große Entscheidungsbefugnis der Staatsanwaltschaft von der Absprachenpraxis allenfalls marginal tangiert. 335 Schünemann hat betont, dass sich die §§ 152 ff. nicht mehr nach dem Gebot der ausnahmslosen Durchsetzung des materiellen Strafrechts richteten, sondern nach Maßgabe des konkreten Strafbedürfnisses den Gleichbehandlungsgrundsatz wahrten?36 Es wird zudem auf Interessen des Staates an einer Einschränkung seiner Verfolgungspflicht hingewiesen,33? die mit der Gerechtigkeit vereinbar und insbesondere für ein Verfahrensrecht von Bedeutung seien, das auf Rechtsgüterschutz und Rechtsfrieden ausgerichtet ist. 338 Nicht schlechthin unvereinbar mit dem Legalitätsprinzip sei die Absprachenpraxis in ihrer herrschenden Ausgestaltung als Konzession einer Strafmilderung gegen ein verfahrensverkürzendes Geständnis vor dem Hintergrund der begrenzten Erledigungskapazität, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sowie der Funktionstüchtigkeie 39 der Strafrechtspflege. 340 Da Absprachen in ihrer Grundstruktur den bereits bestehenden Ausnahmen des Legalitätsprinzips entsprechen, hält sie die wohl überwiegende Meinung in der Literatur für mit dem Legalitätsprinzip grundsätzlich vereinbar?41 Für schlechterdings unvereinbar mit dem Legalitätsprinzip hat der 1. Strafsenat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2000 eine Absprache erklärt, welche die Nichtverfolgung selbständiger prozessualer Taten zum Gegenstand hat, die noch gar nicht bekannt und daher nicht bestimmbar und auch in ihrem Gewicht und Schuldgehalt nicht beurteilt werden können. 342 Von noch größerer Bedeutung für die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist die Frage, inwieweit Absprachen dem Amtserrnittlungsgrundsatz zuwiderlaufen: Die Erforschung der materiellen Wahrheit ist das zentrale Prinzip des deutschen Strafverfahrens, §§ 155 11, 160 I, 202, 244 11 StPO,343 ohne das sich das Rönnau, S. 124; s. unter V. Kremer, S. 107; Schünemann, Gutachten, I1B 90 ff.; Weigend, JZ 1990,774,777. 336 Schünemann, Gutachten, I1B 91 f., ferner überwiege eine durch Geldbußenverhängung in angemessener Frist im Anschluss an die Tat zu verzeichnende Präventionswirkung einer Verfahrensfortsetzung bei ungewissem Ausgang und unter erheblichem justiziellen Ressourcenverzehr. 337 Wolfslast, NStZ 1990,409,413 unter Verweis auf Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rdz. 385. 338 Rieß, NStZ 1981, 5; Wolfslast, NStZ 1990,409,413. 339 BVerfGE 46,214,222 f.; 49, 24, 54; 51, 324, 343 f. 340 Vgl. Gerlach, S. 55, Braun, S. 40; Schünemann, Gutachten I1B 92; Tscherwinka, S.188. 341 Gerlach, S. 55; Kremer, S. 109; Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1019; Schünemann, Gutachten I1B 93; Tscherwinka, S. 188; Wolfslast, NStZ 1990, 409; 413; vgl. ferner zur gleichmäßigen Anwendung von Opportunitätsvorschriften Landau, DRiZ 1995, S. 132, 135. 342 BGH NStZ 2000, 495 = StV 2000, 539 mit Anmerkung von Weider. 343 Für die Polizei zusätzlich verankert in den §§ 163 I, 163a I StPO. 334

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I. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen ließe. 344 Das Gericht ist innerhalb der durch die Klage gezogenen Grenzen zur selbständigen Ermittlung berechtigt und verpflichtet und an die Beweisanträge der Prozessbeteiligten weitgehend, an das Geständnis des Angeklagten jedoch nicht gebunden. 345 Denn anders als im Zivilprozess ist es nicht Sache der Parteien, darüber zu befinden, welche Tatsachen dem Gericht als beweiswürdig zu unterbreiten sind. Anerkannte Einschränkung der Ermittlungspflicht im Strafprozess ist, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis zu erforschen ist. 346 Durch die herrschende Absprachenpraxis ist der Ermittlungsgrundsatz in eine Krise geraten, wobei über Ausmaß der Einschränkungen und Frage einer faktischen Auflösung der Instruktionsmaxime Uneinigkeit besteht. Grundlage der Kritik ist die Bedeutung des Geständnisses,347 das der Beschuldigte in Folge einer Absprache ablegt, was in der Regel einen Verzicht auf jede weitere Beweisaufnahme sowie auf weitere Beweisanträge nach sich ziehe. 348 Während das BVerfG in seiner Entscheidung vom 27. 1. 1987349 nur allgemein betonte, dass die Erforschung materieller Wahrheit - ohne die das Schuldprinzip nicht verwirklicht werden könne als das zentrale Anliegen des Strafprozesses Maßstab von Absprachen sei, wurde der 4. Strafsenat des BGH in seinem Urteil vom 28. 8. 1997350 etwas konkreter: Eine Absprache über den Schuldspruch sei aufgrund tragender Verfahrensprinzipien von vornherein ausgeschlossen. Grundlage des Schuldspruches dürfe immer nur der tatsächlich gegebene Sachverhalt sein. Ebensowenig dürfe ein Geständnis ohne weiteres dem Schuldspruch zugrunde gelegt werden, ohne dass sich das Gericht von dessen Richtigkeit überzeugt hat. Daher müsse ein Geständnis auf seine Glaubhaftigkeit hin überpriift werden. Gleichwohl fürchten Kritiker absprachenbedingte Verkürzungen der Sachverhaltsaufklärung und sehen in der ausbleibenden Überpriifung des Geständnisses auf seine Glaubhaftigkeit einen Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz. 351 344 BVerfGE 57, 250, 275; Beschluss v. 27. 01. 1987, NJW 1987, 2662; ferner zur Wahrheitserrnittlung als Auftrag rechtsstaatlichen Gemeinwesens, BVerfGE 33, 367, 383 345 Vgl. Wenner, Aufklärungspflicht, S. 23 ff. 346 BGHSt 14,358,365; 31, 304, 309. 347 Diese Kritik gilt insbesondere für das sog. "schlanke Geständnis", dass lediglich durch Gestik oder äußerst knappe Formulierung abgegeben wird; Dahs, NStZ 1988, 153, 155; Gutterer, zum Begriff des Geständnisses S. 77, 110 ff.; Kintzi, JR 1990, 309, 315; Janke, S. 103 ff.; Kremer, S. 112; Moos, Geständnis, S. 40 f.; Rönnau, S. 145 ff. Schmidt-Hieber, Verständigung, Rdz. 169 ff.; Schünemann, StV 1993,657,658. 348 Dencker/Hamm, S. 113; Gerlach, S. 61; Hassemer, JuS 1989, 890, 892; Rönnau, S. 145 ff.; Schünemann, FS für Pfeiffer, S. 461, 483; Weigend, JZ 1990,774,777. 349 NJW 1987, 2662. 350 BGHSt 43, 195, 204. 351 Hassemer, JuS 1989, 890, 892; Landau, DRiZ 1995, 132, 138; Kintzi, JR 1990, 309,315; Rönnau, S. 148, Tscherwinka, S. 117; Siolek, Kriminalistik 1995,433,436. Hierzu kritisch Schmitt, GA 2001, S. 411, 419 ff.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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Nach Rönnaus Auffassung ist das Geständnis im deutschen Strafverfahren nicht mehr nur ein Beweismittel neben anderen, sondern kommt einem die Beweisaufnahme ersetzenden Schuldbekenntnis des Angeklagten, einem "guilty plea" des US-amerikanischen Verfahrens gleich. 352 Dies fürchtet auch Weigend nach einem Urteil des 2. Senates vom 10. 6. 1998: 353 Hier hatte das LG dem Beschuldigten entgegen der Grundsatzentscheidung des 4. Senates354 nicht nur ein bestimmtes Strafmaß in Aussicht gestellt, sondern sich in seiner Beweisaufnahme darauf beschränkt, den Beschuldigten nach Verlesen des Anklagesatzes zu fragen, ob die Vorwürfe auch zuträfen. Der 2. Senat sah darin keinen Verstoß gegen §§ 261 oder 267 StPO und stellte fest, dass ein auf einer Absprache beruhendes Geständnis das Gericht nicht zu Ausführungen über die Glaubhaftigkeit des Geständnisses veranlasse; ein - wie Weigend zu Recht meint - äußerst bedenkliches Verständnis gerichtlicher Pflicht zur Wahrheitsermittlung. 355 Ein weiterer Grund einer nur beschränkten Beweisaufnahme wird in der Verbindung zwischen Geständnis und Verzicht auf Beweisanträge vermutet. 356 Der Wert jedes einzelnen Beweismittels könne aber erst nach Durchführung der Beweisaufnahme beurteilt werden. 357 Eine korrekte und umfassende Beweiswürdigung sei zudem hinsichtlich der freien Beweiswürdigung, § 261 StPO, des Grundsatzes in dubio pro reo, sowie der Regeln der Wahlfeststellung erforderlich. 358 Einige Befürworter von Absprachen stellen weniger strenge Anforderungen an die gerichtliche Aufklärungspflicht. So sollen Absprachen über Geständnis oder Beweisanträge dann zulässig sein, wenn Sachverhaltsfeststellung und Strafzumessung keine "weitergehende Aufklärung" erfordern?59 Anderenorts wird verlangt, das Geständnis habe zumindest mehr zu umfassen als lediglich ein Zugeständnis, am relevanten Sachverhalt beteiligt gewesen zu sein. 36o Insoweit schließen sich die Bearbeiter der allgemein anerkannten Meinung 361 an, dass das Geständnis im Rönnau, S. 148; ebenso Schünemann, Gutachten I1B 82; ders., StV 1993,657,658. BGH NStZ 1999,92. 354 BGHSt 43, 195. 355 Weigend, NStZ 1999,57,62., ders., in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011, 1020, 1034. Vgl. hierzu ferner Artkämper, Kriminalistik 1999, S. 784, 787. 356 Deal, StV 1982, 545, 546; Denckerl Hamm, S. 113, weisen auf eine Freistellung von der Sanktion der Urteilsaufhebung wegen eines Verfahrensfehlers hin; Rönnau, S. 150; Grundsätzlich darf das Gericht einen Beweisantrag des Angeklagten oder Staatsanwaltes nur dann ablehnen, wenn ein vorn Gesetz genannter Grund vorliegt, §§ 244 III-IV, 245 11 StPO. 357 Engels, GA 1981, 21, 35, der Aufklärungspflicht und Beweisantrag für übereinstimmend hält. 358 LR-Gollwitzer, § 261 Rdz. 125 f.; Rönnau, S. 151. 359 Gerlach, S. 62. 360 Gutterer, S. 78, der zudem darauf hinweist, der Angeklagte könne auf weiterführende gerichtliche Sachverhaltsaufklärungen auch angesichts des rechts staatlich begründeten öffentlichen Interesses an gerechter Strafverfolgung nicht verzichten, S. 85 ff. Vgl. ferner Braun, S. 53. 361 LR-Gollwitzer, § 244 Rdz. 33; KK-Herdegen, § 244 Rdz. 1; BGHSt 21,285,287 f. 352

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

Hinblick auf die erhöhte Selbstbezichtigungsgefahr auf seinen Beweiswert im Einzelfall kritisch zu überprüfen ist und sich nur dann eine weitere Beweisaufnahme erübrigt, wenn keinerlei Zweifel mehr am Wahrheitsgehalt bestehen?62 In jüngerer Zeiten haben sich aber auch Stimmen gemehrt, die das Prinzip materieller Wahrheit als solches in Frage stellen und Ausnahmen zur Vermeidung einer Verletzung höherwertiger Güter für zulässig halten. 363 Dies ist insbesondere im Hinblick auf das US-amerikanische Strafverfahren interessant, dessen Ziel in erster Linie nicht ein materiellrechtlich richtiges Ergebnis und schuldangemessenes Strafen, sondern eine faire Konfliktlösung auf dem Boden des Dispositionsgrundsatzes ist. Das Argument, dass auf materielle Wahrheit gestützte Strafen Verdachtsstrafen in abgeschwächter Form seien und sich die Gefahr eines Fehlurteils vergrößere, wenn die Entscheidung über die materielle Wahrheit allein beim Gericht und nicht auch bei den anderen Verfahrensbeteiligten liege, hat auch in der amerikanischen Diskussion um konsensuale Elemente im Strafverfahren einen festen Stellenwert. Auch Schünemann ist der Auffassung, das herkömmliche Verfahrensziel materieller Wahrheit sei unter der gegebenen Verfahrensstruktur praktisch nicht realisierbar. 364 Allerdings vermag seiner Ansicht nach ein ausgehandeltes Geständnis die weitere Beweisaufnahme nur dann zu erübrigen, wenn es den Tatvorgang so abschließend schildert, dass es aus sich heraus Gewissheit zu erzeugen vermag. 365 Da aber nicht derartige qualifizierte Geständnisse, sondern vielmehr solche in Form einer bloßen Anerkennung der Richtigkeit des Ermiulungsergebnisses die Regel seien,366 schlägt Schünemann eine Ergänzung des § 244 11 StPO vor, die eine weiterführende Beweisaufnahme in Fällen eines glaubhaften Geständnisses nach einer Beratung durch einen Verteidiger erübrigen soll.367 Im Gegensatz zu Schünemann, der im Ergebnis mit der herrschenden Lehre 368 eine Überprüfung des Geständnisses im Einzelfall für erforderlich hält, zieht Schmidt-Hieber aus dem abschließenden Katalog von Ablehnungsgründen für Beweisanträge den Schluss, die gerichtliche Aufklärungspflicht reiche nicht so weit 362 So fordert auch Tscherwinka. S. 117, dass eine weiterführende Sachaufklärung nur dann unterbleiben dürfe, wenn das Geständnis nicht vom Anklagevorwurf abweiche und aus sich selbst heraus überzeuge. 363 Vgl. hierzu Rönnau. S. 143, Schünemann. FS für Pfeiffer, S. 461, 474 ff.; Wolfslast. NStZ 1990,409,413; Bode. DRiZ 1988,281,285, der die materielle Wahrheit als nur prozessuale Wahrheit bezeichnet; Gallandi. NStZ 1987,420; Schäfer, DRiZ 1989,294,295; Wolter, GA 1989,397,400. 364 Auf eine Begründung dieser Auffassung soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu Schünemann, FS für Pfeiffer, S. 461, 475; ein kurzer Überblick findet sich bei Rönnau. S. 58 f. 365 Sog. "qualifiziertes Geständnis", Schünemann. Gutachten I/B 82. 366 Schünemann. Gutachten I1B 83. 367 Schünemann. Symposium, S. 142. 368 LR-Gollwitzer, § 244 StPO, Rdz. 33; KK-Herdegen. § 244 StPO, Rdz.1.

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wie die Pflicht, Beweisanträgen stattzugeben. 369 Das Gericht könne folglich eine Vereinbarung über die Rücknahme von Beweisanträgen dann akzeptieren, wenn nicht die Aufklärungspflicht die vorher beantragte Beweisaufnahme gebiete. Auch habe es ein Geständnis nicht zu überpriifen, wenn keine Anhaltspunkte zu dessen Wahrheitswidrigkeit vorliegen. 37o Im Ergebnis bedeutet dies in vielen Fällen eine Verfahrensbeendigung ohne Geständnisüberpriifung und ohne Eintritt in die Beweisaufnahme. Auf das Spannungsverhältnis zwischen Ermittlung materieller Wahrheit und dem Geständnis als Verurteilungsgrundlage in der Hauptverhandlung, sowie auf dessen schleichende Umfunktionierung zum bloßen Schuldbekenntnis, ähnlich dem amerikanischem guilty plea, wird in einer konkreten Gegenüberstellung der US-amerikanischen und deutschen Absprachenpraxis einzugehen sein.

IV. Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Beweiserhebung Durch die Unmittelbarkeit der Beweiserhebung und des Beweismittels soll eine unvoreingenommene Beurteilung der gesamten Beweisaufnahme durch das Gericht garantiert werden, §§ 250 S. 2, 261 StPO. 371 So hat die Beweisaufnahme durch das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung zu erfolgen (formelle Unmittelbarkeit). Eine Urteilsfindung unter Rückgriff auf die Ermittlungsakten oder durch Beweiserhebungen außerhalb der Hauptverhandlung ist unzulässig (materielle Unmittelbarkeit).372 Ein Verzicht durch die Verfahrensbeteiligten ist nicht möglich. Ob das Gericht seine Überzeugungen aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schöpft, wenn es außerhalb der Hauptverhandlung mit Staatsanwaltschaft und Verteidiger Art, Gegenstand und Umfang der Beweisaufnahme erörtert, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. So wird vertreten, das Gericht fasse den Inbegriff der Hauptverhandlung dann nur formell und nicht auch materiell auf,373 wenn es durch außerhalb der Hauptverhandlung getroffene Absprachen das beschließe, was per Beweisaufnahmen Verhandlungsgegenstand werden 369 Schmidt-Hieber; Verständigung, S. 69, Rdz. 152, wobei er an gleicher Stelle die Unzulässigkeit einer Mitwirkung des Gerichts an Absprachen über eine Beschränkung der Sachverhaltserforschung oder den Charakter einer Straftat aufgrund der Aufklärungspflicht betont. 370 Schmidt-Hieber; FS für Wassermann, S. 995, 1004. 371 LR-Schäfer; Ein!. Kap. 13 Rdz. 65; Roxin, §§ 15 B, 44 A 11. 372 LR-Gollwitzer; § 261 Rdz. 3. 373 Auch "subjektive" und "objektive" Komponente genannt, vg!. Rönnau, S. 153 m. w. N.; zur unterschiedlichen Bewertung von Absprachen im Ennittlungs- und im Hauptverfahren hinsichtlich der Geltung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit, vg!. Tscherwinka, S. 144 f.

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solle. 374 Auch der Aspekt einer formellen Bindungswirkung des Gerichtes vor Verkündung des Urteils wird in diesem Zusammenhang als problematisch erachtet. 375 Da Absprachen den Ursprung entscheidender Gesichtspunkte für das Urteil darstellten,376 sei ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz zumindest dann zu bejahen, wenn sich das Gericht an den Absprachen beteilige. 377 Selbst eine unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit stehende Absprache ändere nichts an der die Beweisaufnahme ersetzenden Kommunikation, die aufgrund dieser Funktion zum "Inbegriff der Hauptverhandlung" zu zählen habe. 378 Andere ziehen die Grenzen des Zulässigen wesentlich weiter. Solange außerhalb der Hauptverhandlung nur eine Art "erweiterte Meinungsbildung", ein Ausloten der Position und Erwägung der anderen Verfahrensbeteiligten stattfände, seien derartige Absprachen weder unter dem Aspekt des Unmittelbarkeitsprinzips, noch unter dem des Öffentlichkeitsgrundsatzes problematisch. 379 eramer vertritt die Ansicht, die zum Urteil führende Überzeugungsbildung des Gerichts beruhe nicht auf der tatsächlich getroffenen Vereinbarung sondern auf der Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme, unter Einbeziehung des in der Hauptverhandlung abgelegten Geständnisses?80 Die Forderung des BGH,381 die im Urteil zu verkündende Strafe nicht unter Umgehung der Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten, der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit zu finden, wird als Untermauerung der Annahme gesehen, nicht die Absprache an sich, sondern das Geständnis als unmittelbares Beweismittel sei trotz getroffener Vereinbarungen die Grundlage der Urteilsfindung. 382 Würden Vorläufigkeit und mögliche Abänderung der getroffenen Absprachen von Seiten des Gerichts unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, so könne von einem Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht die Rede sein. 383 374 Dencker/Hamm, S. 53; Hassemer, JuS 1989, 890, 895, sieht die Gefahr darin, dass Fortgang und Ausgang des Verfahrens sich nach dem entschieden, was nach Angebotslage und Verhandlungsgeschick machbar sei und nicht aus direkter Wahrnehmung des Beweisverfahrens; vgl. auch Wolfslast, NStZ 1990,409,415, Braun, S. 55 f. 375 Schmidt-Hieber, StV 1986,355; Wolfslast, NStZ 1990,409,415. 376 Rönnau, S. 156. 377 Nach Schünemann, Gutachten IIB 87, können nur prozessuale Fragen ohne Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit auch außerhalb der Hauptverhandlung erörtert werden. Die Initiierung eines Geständnisses durch das Gericht habe dagegen immer in der Hauptverhandlung zu erfolgen. 378 Kremer, S. 128; Weigend, JZ 1990,774,777; von einer "Aufblähung" des Unmittelbarkeitsgrundsatzes spricht dagegen Tscherwinka, S. 146 f. 379 Schmidt-Hieber, StV 1986,356; Wolfslast, NStZ 1990,409,415. 380 eramer, FS für Rebmann, S. 145, 149; ihm folgend Janke, S. 125 f. 381 BGH Urteil vom 23. 1. 1991, BGHSt 37, 298; ferner BGH StV 1999, 407 unter Verweisung auf BGHSt 37, 298. 382 Gerlach, S. 82, der sich allerdings dafür ausspricht, die Beweggründe für das Geständnis in die Hauptverhandlung einzuführen, um so einer Aufklärungsrüge zu entgehen. 383 Gerlach, S. 82 f.; Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 77 Rdz. 167.

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Von der Öffentlichkeitsmaxime, die dem Informationsinteresse der Allgemeinheit dient, § 169 S. 1 GVG, sind nur in gesetzlich beschriebenen Fällen Ausnahmen erlaubt. 384 Der Grundsatz soll eine Kontrolle des Verfahrensganges der Hauptverhandlung durch die Allgemeinheit ermöglichen 385 und dem Beschuldigten die Durchführung eines justizförmigen Verfahrens garantieren. 386 Was in der Hauptverhandlung zu erörtern ist, folgt u. a. aus § 261 StPO. Insoweit weisen Öffentlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz weitreichende Parallelen auf. Die Ansichten zum Verhältnis von Absprachen und Öffentlichkeitsgrundsatz reichen von einer Verlegung des gesamten Absprachenvorganges in die Hauptverhandlung, da sich der Prozess in seiner Gesamtheit vor der Öffentlichkeit abwickeln müsse,387 über eine bloße Mitteilungspflicht,388 bis hin zur Ansicht, auch nur die Erwähnung der Tatsache einer Absprache in der Öffentlichkeit erübrige sich, da eine Absprache kein Verfahrens gegenstand sei. 389 Gegen die Auffassung, Absprachen seien in der Hauptverhandlung allenfalls anzudeuten oder gar unerwähnt zu lassen, wird vorgebracht, dies sei mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz nur unter Zugrundelegung eines rein formalen Verständnisses möglich. 39o Zähle zur "Verhandlung vor dem erkennenden Gericht" all das, was tatsächlich Entscheidungsgrundlage werden solle, so werde gegen das Öffentlichkeitsgebot verstoßen. 391 Nur wenn der Aushandlungsvorgang selbst in der Hauptverhandlung stattfinde, könne das ohnehin eingeschränkte Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz gewahrt werden?92 Schünemann vertritt gar die Auffassung, alles in der Hauptverhandlung wegen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu VerhanZ. B. §§ 171a ff. GVG. BGHSt 27, 13, 15. 386 Sinner spricht insoweit von einem Tater-, Opfer- und Gesellschaftsbezug, S. 102. 387 Hassemer, JuS 1989,890,892, der Heimlichkeit und Verschwiegenheit als typische Begleiterscheinungen gelingender Absprachen erachtet und davon ausgeht, der Öffentlichkeit werde lediglich das Theater eines offenen Verfahrensausgangs vorgespielt. Siolek, Kriminalistik 1995,433,438; Rönnau, S. 167 ff. 388 Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017, 1021, ist der Auffassung, außerhalb der Hauptverhandlung getroffene Absprachen verstießen zwar nicht schlechterdings gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz, eine Offenlegung erfolgter Hinweise des Vorsitzenden an den Verteidiger in der Hauptverhandlung seien jedoch erforderlich. Für eine Erörterung des Absprachenergebnisses in der Hauptverhandlung Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361. Eine Darstellung mit zahlreichen Nachweisen findet sich bei Rönnau, S. 165. 389 Cramer, FS für Rebmann, S. 145, 149, ähnlich Hanack, StV 1987,500,503. 390 Cramer, FS für Rebmann, S. 145, 149; BVerfG, NJW 1987,2662. 391 Kremer, S. 122; Nestler-Tremel, KJ 1989, 448, 451; Rönnau, S. 167; einschränkend Schmidt-Hieber, NStZ 1988, 302, 303; ders., Verständigung, S. 91; wonach die Absprache zumindest in ihren "wesentlichen Zügen" in der Hauptverhandlung nachvollziehbar zu sein hat; Weigend, JZ 1990,774,777. 392 Kintzi, JR 1990,309,315, weist insoweit auf die am Urteil des BGH, StV 1984,449, geäußerte Kritik der Vernachlässigung einer Kontrolle der Verhandlung durch die Allgemeinheit hin. Siolek, Kriminalistik 1995,433,438; Schünemann, Gutachten I1B 89. 384 385

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delnde müsse öffentlicher Kontrolle unterliegen, so dass die §§ 261 StPO und 169 GVG den gleichen Anwendungsbereich hätten. 393 Der Aushandlungsvorgang sei für die Öffentlichkeit letztlich auch wegen des Beweiswertes des Geständnisses und seiner Bedeutung für die Strafzumessung mindestens ebenso wichtig wie das Aushandlungsergebnis. Von anderer Seite wird unter Berufung auf den Wortlaut des § 153 StP0394 angeführt, es sei eine Fehlvorstellung anzunehmen, jede Absprache müsse ab Beginn der Hauptverhandlung öffentlich getätigt werden, da nicht alles, was in der Hauptverhandlung erörtert werden könne, auch dort erörtert werden müsse. 395 Soweit Absprachen Inhalte regelten, die zwingend in der Hauptverhandlung zu erörtern seien, unterlägen sie dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Die Rechtsprechung hat zu diesem Problemkreis bereits mehrfach Stellung genommen. Im Jahre 1997 hat der 4. Strafsenat betont, der Öffentlichkeitsgrundsatz sei so wesentlich, dass es einer Offenlegung der Absprache in der Hauptverhandlung bedürfe,396 damit diese nicht zur bloßen Fassade verkomme. 397 Außergerichtliche Vorgespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten schließt der 4. Senat jedoch nicht aus. 398 Das Gericht müsse dann aber den wesentlichen Inhalt und das Ergebnis der Gespräche in der Hauptverhandlung offenlegen. 399 Damit hänge auch das Erfordernis zusammen, alle Verfahrensbeteiligten einzubeziehen. Um spätere Streitigkeiten über den Inhalt der Absprache zu vermeiden, müsse ihr Ergebnis, da es sich um einen wesentlichen Verfahrensvorgang handele, im Protokoll über die Hauptverhandlung festgehalten werden. 4oo Weil diese durch den 4. Senat aufgeSchüneTlUlnn. Gutachten IIB 88. Wonach das Verfahren in jeder Lage und somit auch während einer Unterbrechung der Hauptverhandlung eingestellt werden dürfe, so Schellenberg. DRiZ 1996, 280, 282, der sich im Ergebnis allerdings für einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz ausspricht. 395 Schellenberg. DRiZ 1996,280,281. Vgl. ferner Braun. der eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes als durch die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege und Verfahrensökonomie gerechtfertigt ansieht, S. 63. 396 BGHSt 43, 195,205. Unter Verweisung auf diese Entscheidung so auch der 3. Senat, StV 1999,407. 397 So hatte auch der 1. Senat in seinem Beschluss vom 4. 6. 1992, wistra 1992, 309, in dem es in der Sache um die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts bei fehlgeschlagenen Absprachen ging, zumindest eingeräumt. dass im Falle einer außerhalb der Hauptverhandlung getroffene Absprache je nach den Umständen des Einzelfalles eine Revision möglicherweise Erfolg haben könne. 398 Ebenso Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 31, die jedoch betont, dass das Urteil von dem mündlich verhandelten Prozessstoff getragen werden müsse. Kritisch aber Weigend. NStZ 1999,57,60; ders .• in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011, 1031; ferner Rönnau. wistra 1998,49,50; Hernnann, JuS 1999, 1162, 1164. 399 Vgl. zur Problematik einer Rüge der Verletzung des § 169 GVG LandaulEschelbach, NJW 1999,321,324. 400 Schmitt spricht diesem Erfordernis lediglich symbolischen Charakter zu, da es der 4. Senat gleichzeitig für zulässig erachtete, dass sich die Verfahrensbeteiligten außerhalb der Hauptverhandlung verständigen, GA 2001, S. 411, 423. 393

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stellten Verfahrensanforderungen nicht eingehalten wurden, hat der 3. Senat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2001 ausgeführt, der Angeklagte könne aus der Tatsache, dass entgegen einer getroffenen Absprache eine höhere Freiheitsstrafe verhängt wurde, für sich nichts ableiten. 401 Die Absprache wurde im zugrundeliegenden Fall ohne den Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung getroffen und nicht protokolliert. In einem anderen Fall hat der 2. Senat402 wegen des fehlenden Nachweises einer Absprache die Revision des Angeklagten verworfen, mit der dieser eine Verletzung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit sowie des fairen Verfahrens vorgetragen hatte. Abgesehen vom neuen Erfordernis der Protokollierung hatte sich der BGH etliche Jahre zuvor bereits dafür ausgesprochen, dass es einem Richter nicht verwehrt ist, auch außerhalb der Hauptverhandlung mit den Parteien Fühlung aufzunehmen, um den Verfahrensgang zu fördern. 403 In einem Fall, in dem der Vorsitzende nach gerichtlicher Beweiserhebung eine Zusicherung außerhalb der Hauptverhandlung gegeben hatte, wandte der 2. Senat404 nichts gegen die außerhalb der Hauptverhandlung getroffene Absprache ein,405 da die Äußerungen des Vorsitzenden in engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zur Verhandlung gestanden hatten. Der Beschluss des 3. Strafsenates vom 4. 7. 1990406 bezog sich ebenfalls auf außerhalb der Hauptverhandlung geführte Gespräche, mit denen eine Verfahrensbeendigung durch Geständnisablegung erzielt werden sollte. Unter Berufung auf das BVerfG, das eine kurz vor Abschluss der Beweisaufnahme und außerhalb der Hauptverhandlung erfolgte Verständigung über den Rechtsfolgenausspruch nicht beanstandet hatte407 , hielt der Senat eine derartige Verständigung im Rahmen ihrer rechtlichen Zulässigkeit nicht für ausgeschlossen. Im Gegenteil betonte er das Erfordernis rechtzeitiger Offenlegung der Interessenlage in der Hauptverhandlung, wenn das Gericht schon einzelne Verfahren mittels eingehender, außerhalb der Hauptverhandlung geführter Verständigungsgespräche erledige. Diese Begriindung 401 BGH NStZ 2001, 555 (mit Anmerkung Eisenberg). Der Senat stellte darüber hinaus fest, dass die Vereinbarung über eine Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht unzulässig sei, da es sich insoweit um zwingend vogeschriebene Rechtsfolgen handele, die einer Vereinbarung nicht zugänglich seien. 402 Urteil vom 23.03.2001, BGH StV 2001, 554 403 BGH StV 1984,449; BGH, StV 1988,418; BGH, NStZ 1991, 347. 404 Urteil vom 7.6. 1989, BGHSt 36, 210; Anmerkung von Hassemer; JuS 1989,890, und Strate, NStZ 1989,439. 405 Vgl. Gerlach, S. 86; Janke, S. 116; Schünemann, JZ 1989,984,989. 406 BGHSt 37, 99, JR 1991, 118, mit Anmerkung von Böttcher; Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011, 1027. 407 NJW 1987, 2662. Entscheidend war dabei für den zugrundeliegenden Fall, dass sich kein Anhalt "für eine, die Sachverhaltsaufklärung in unvertretbarer Weise vernachlässigende oder den Schuldgrundsatz verletzende Absprache" bot (Zschockelt, NStZ 1991, S. 305, 306). Insbesondere sah das BVerfG keinen Anlass, dass das Gericht seine Überzeugung von der Täterschaft des Beschwerdeführers "nicht aus dem Inbegriff der - nach dem Grundsatz der Öffentlichkeit geführten - Hauptverhandlung geschöpft" hatte.

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erging allerdings weniger aus Besorgnis der Verletzung des Öffentlichkeits grundsatzes, als vielmehr aus Besorgnis der Befangenheit. Ohne zur Frage einer Umgehung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ausdrücklich Stellung zu nehmen, beanstandete der 2. Senat408 nicht, dass die StrK außerhalb der Hauptverhandlung eine Zwischenberatung ohne vorherige Unterrichtung der Staatsanwaltschaft abgehalten hatte. 409 Vielmehr könne ein derartiges Vorgehen unter Umständen zweckmäßig und notwendig sein. Als rechtsfehlerhaft sah der Senat dagegen an, dass die Staatsanwaltschaft keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu dem gerichtlich getroffenen Zwischenergebnis zu äußern, bevor dieses dem Angeklagten mitgeteilt worden war. Betont hat der Senat in diesem Zusammenhang, dass auch eine derartige Mitteilung an die Verfahrensbeteiligten keine bindende Wirkung der Zusage begründen könne. Gleichwohl schaffe eine solche Mitteilung bei dem Adressaten einen Vertrauenstatbestand, der das Gericht verpflichte, den Angeklagten im Falle eines Abweichens von der in Aussicht gestellten Entscheidung auf dieses Vorhaben hinzuweisen. 4IO Anders hatte zuvor der 3. Senat entschieden,411 als er als Befangenheitsgrund hatte ausreichen lassen, dass der Vorsitzende und der Berichterstatter in Abwesenheit anderer Verfahrensbeteiligter dem Verteidiger konkrete, wenn auch unverbindliche Erklärungen zum Strafmaß bei Geständnis gemacht hatten. 412 Darüber hinaus wurde abermals 413 erwähnt, dass der Richter zur Förderung des Verfahrens mit den Prozess beteiligten auch außerhalb der Hauptverhandlung in gebotener Zurückhaltung Fühlung aufnehmen und eine sachgerechte Antragstellung anregen könne. Solche Fühlungnahmen dürften sich auf alle denkbaren Fragen des Verfahrensverlaufes einschließlich einer Anregung zu §§ 154, 154 a StPO erstrecken, nicht aber eine Festlegung der Strafe, deren Aussetzung zur Bewährung oder Strafvollzugsmodalitäten einbeziehen. Auch dem Urteil des 3. Senates kann daher keine grundsätzliche Absage von Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung entnommen werden. 414

408 Urteil vom 30. 10. 1991, BGHSt 38, 102. Vgl. hierzu auch die Sachverhaltsschilderungen bei Hassemer, JuS 1991,527 und Kintzi, DRiZ 1992, 245, 250; ders., in Festschrift für Ernst-Walter Hanack, S. 177, 185; Weigend, in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. lOH, 1018; Sinner, S. 189 und ferner Braun, S. 125. 409 Der zugrundeliegende Sachverhalt beinhaltete eine außerhalb der Hauptverhandlung erfolgte Strafmaßzusage. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrer Revision einen Verstoß gegen die §§ 33,261 StPO gerügt. Sie trug vor, der Angeklagte habe erst im Hinblick auf die vom Gericht erteilte Strafmaßzusage eines der Delikte gestanden und zudem habe die Staatsanwaltschaft von der Absprache erst durch die mündliche Urteilsbegründung des Vorsitzenden Kenntnis erlangt. 410 Mit Verweis auf BGHSt 36, 210. 411 Entscheidung vom 23. 1. 1991, BGHSt 37, 298. 412 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der 2. Senat im vorliegenden Fall zur Frage der Befangenheit nicht Stellung beziehen konnte, da die Revision der Staatsanwaltschaft eine vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts nicht gerügt hatte. 413 BGH Beschl. v. 4. 5.1977, NStZ 1991,348; vgl. auch NStZ 1985, 36, 37.

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V. Gefahr der Verdachtsstrafe und Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes

Gern. Art. 6 11 MRK wird bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig iSt,41S Dieser in deutschen Gesetzen nicht ausdrücklich normierte Grundsatz ist nach der Rechtsprechung des BVerfG416 Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und gilt als Teil des Rechtes aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG. Er dient dem Schutz des lediglich Verdächtigten gegenüber der Staatsgewalt und endet erst mit Rechtskraft der Verurteilung. 417 Verfahrensrechtliche Konsequenz der Unschuldsvermutung ist die In dubio pro reo_Rege1. 418 Nach überwiegender Ansicht in der Literatur sind Absprachen mit der Unschuldsvermutung unvereinbar. Insbesondere sei es unzulässig, auf ein Geständnis bereits vor Schuldspruchreife hinzuwirken. 419 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung dürfe durch Absprachen nicht in eine Schuldvermutung dergestalt verkehrt werden, dass der Angeklagte vorleistungspflichtig sei. 42o Trete der Richter, um eine Absprache zu treffen, den Prozess beteiligten mit einer vorgefassten Meinung offen gegenüber, so verstoße er gegen die Unschuldsvermutung421 und lege ein 414 BöttcherlWidlrUlier, JR 1991, 353, 356; Gerlach, S. 86; Janke, S. 117, Kintzi, DRiZ 1992,245,247; a.A. Zschockelt, NStZ 1991,305,309. 415 Innerstaatliche Geltung als Bundesgesetz hat diese Regelung seit dem 07. 08. 1952; vg!. BVerfGE 10, 271, 274 = NJW 1960, 1243; BGHSt 21, 81, 84; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 153, 155; Roxin, § 11 11; Meyer-Goßner, MRK, Vor Art. 1, Rdz. 3 f. 416 BVerfG NJW 1990, 2741; BVerfGE 19, 342, 347; 22; 254, 265; BVerfG, Besch!. v. 26.3. 1987, NJW 1987, 2427. 417 Zur Unschuldsvermutung als Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes, vg!. Haberstroh, NStZ 1984, 289, 290; Frister, Schuldprinzip, S. 84 ff.; Krauß, Unschuldsvermutung, S. 153, 173. 418 LR-Gollwitzer, § 261 StPO, Rdz. 103; Roxin, § 11 11. 419 Gutterer, S. 150; Hassemer, JuS 1989, 890, 892, hält übereinstimmend mit Denckerl Hamm, S. 53, jedes gerichtliche Angebot relativer Schonung des Beschuldigten für eine "schlechthin sittenwidrige Zumutung" gegenüber einer für unschuldig zu geltenden Person; Kremer, S. 142; Schünemann, NJW 1989, 1895, 1898; ders., Gutachten, I/B 95 f.; Zuck, MDR 1990, S. 18, 19. 420 Damaska, StV 1988,398,400; DenckerlHamm, S. 53, 56; Hassemer; JuS 1989,890, 892; Kremer, S. 142; Siolek, DRiZ 1989,321,327; ders., Kriminalistik, 1995,433,436; vg!. zur Frage, ob die Schuld in Absprachefallen seitens der Justiz vorausgesetzt werde, die Erhebungen SchünelrUlnns, NJW 1989, 1895, 1900, wonach Richter und Staatsanwälte überwiegend der Auffassung waren, dass die Verteidigung vor allem in Fällen eindeutiger Beweislage kooperativ sei; ders., Gutachten, I/B 96; ferner das Bsp. bei Rönnau, S. 175 ff.; Weigend, JZ 1990,774,777. 421 Siolek, Kriminalistik 1995, 433, 437, ist der Ansicht, durch Mitwirkung des Gerichts an Absprachen gebe es seine Schuldvermutung gleichsam zu erkennen. Anderenfalls wäre ein gerichtliches Angebot auf Strafmilderung sinnlos, da ein derartiges Angebot einem Unschuldigen gegenüber den Weg zur Rechtsbeugung bahnen würde. SchünelrUlnn, Gutachten, I/ B 97 f., differenziert nach Verfahrensstadien und bejaht eine gerichtliche Initiierung von

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Verhalten an den Tag, das einen anerkannten Ablehnungsgrund darstelle. 422 Ein weiterer gewichtiger Verstoß gegen die Unschuldsvermutung wird in der absprachebedingten mangelnden Sachaufklärung gesehen, da diese dem In dubio pro reoGrundsatz den Boden entziehe. 423 Die Schuld des Angeklagten werde nicht hinreichend festgestellt. 424 Nach anderer Ansicht wird die Auffassung, die Unschuldsvermutung werde in ihr Gegenteil verkehrt, als überzogen dargestellt. 425 Ob das Geständnis mit oder ohne vorherige Absprache erfolge, spiele insoweit keine Rolle. 426 In beiden Fällen habe das Gericht durch Beweisaufnahme den wahren Sachverhalt gern. § 244 11 StPO zu erforschen. Hierzu dürfe es Vernehmungen und Aussagen des Angeklagten zur Beweisaufnahme im weiteren Sinne für das Urteil verwenden. 427 So könne das Geständnis als Entscheidungsgrundlage dienen, auch wenn es im verfahrenstechnischen Sinn nicht zur Beweisaufnahme gehöre. 428 Von einer Verletzung der Unschulds vermutung könne nur dann gesprochen werden, wenn der Angeklagte zu einem Schuldgeständnis gedrängt werde. Letztlich sei jedoch auf die Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten abzustellen, der es selbst in der Hand habe, sich auf Absprachen einzulassen und über das Ob und Wie eines Geständnisses zu entscheiden. 429 Bei verlässlicher Verfahrensprognose und keinerlei Zweifeln an der Schuld des Angeklagten, sei ein gerichtliches Hinwirken auf eine Absprache dann als zulässig anzusehen, wenn das Gericht den vorläufigen Charakter seiner Auffassung der Sach- und Rechtslage deutlich zum Ausdruck bringe. 43o Neben einer Verkehrung der Unschulds vermutung hängt der Absprachenpraxis auch der Vorwurf etablierter Klassenjustiz durch ihre Ausweitung gerade in Wirtschafts-, Steuer-, Umwelt- und Betäubungsmittelstrafsachen an,431 weshalb eine Absprachen nach Schuldspruchreife; ders., NJW 1989, 1895, 1898 unter Berufung auf BVerfG, NJW 1987,2662. 422 Meyer-Goßner, § 24 Rdz. 16; Rönnau, S. 176 m. w. N.. 423 Rönnau, S. 177. 424 Rönnau, S. 177 räumt allerdings auch die Möglichkeit einer Überprüfung des Geständnisses nach dessen Angebot durch die Verteidigung ein, hält sie jedoch, gestützt auf Schünemanns Erhebungen, NJW 1989, 1895, 1900, gleichzeitig für "absprachenuntypisch" und der GrundhaItung der Absprachebeteiligten widersprechend. 425 Gerlach, S. 65; Janke, S. 152 ff.; Tscherwinka, S. 107. 426 Gerlach, S. 66. 427 LR-Gollwitzer, § 244 StPO Rdz.lO; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 244 StPO Rdz. 2; Gerlach, S. 66. 428 LR-Gollwitzer, § 244 StPO Rdz.9 f.; Gerlach, S. 66, hält diese Unterscheidung für sinnvoll, da sich eine Beweisaufnahme auch in den Fällen eines glaubhaften Geständnisses während der Vernehmung erübrige. 429 Gerlach, S. 65, weist zudem darauf hin, dass mit Ausnahme des § 136a m StPO die Entscheidungen des Beschuldigten zu respektieren seien. 430 Janke, S. 153, Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 358. 431 Zur Ausnahme in Form von Großverfahren mit politischem Hintergrund (PICK-Prozesse), vgl. Dölp, Abschied von der Hauptverhandlung, NStZ 1998, 235.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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Verletzung der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz befürchtet wird, Art. § 3 I GG. 432 Aufgrund fehlender rechtlicher Regelungen der Absprache und ihrer vielfältigen Motive wird angenommen, sie gefährde den Gleichheitsgrundsatz mehr als der weite Ermessensspielraum des Gerichtes bei der Strafzumessung und die naturgemäße Ungleichheit der zu verhandelnden Fälle. 433 Andere führen an, dass ein Beschuldigter ohne Verteidiger deshalb im Hintertreffen sei, weil Staatsanwälte und Richter überwiegend nur mit dem Verteidiger, nicht aber mit dem Beschuldigten selbst verhandelten. 434 So sei eine relative Schlechterstellung des zur Kooperation nicht flihigen oder nicht bereiten Beschuldigten anzunehmen, die sich in der Strafzumessung niederschlage. 435 Dem wird entgegnet, Absprachen fänden schon aufgrund der eingeschränkten Anwendbarkeit der §§ 153 ff. StP0436 im Bereich der Schwerkriminalität keine Anwendung. Die Rechtsprechung hatte bislang keinen Anlass, sich zu diesem Problemkreis zu äußern. VI. Besorgnis richterlicher Befangenheit Nicht zuletzt der Sorge um die richterliche Befangenheit wegen, wird eine bindende Zusage des Gerichtes, für den Fall eines Geständnisses eine bestimmte Strafe zu verhängen, für unzulässig gehalten. 437 Anderenfalls begebe sich das Gericht der Möglichkeit, ein künftiges Geständnis bei der Beweiswürdigung und Strafzumessung differenziert zu beriicksichtigen. 438 Der 4. Senat schlug hier - gefolgt vom 2. Senat439 - einen Mittelweg ein: Im Gegensatz zu einer Bindung des Gerichtes an ein bestimmtes Verfahrensergebnis440 hält er die Angabe einer Strafobergrenze des Gerichts für unbedenklich. 441 Auf diese Weise könne sich der Ange432 Rönnau, S. 206; zum Vorwurf der Klassenjustiz vgl. Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884; ders., DRiZ 1990,321,323; vgl. ferner Braun, S. 77. 433 Rönnau, S. 206. 434 So die Untersuchungen von Hassemer I Hippier, StV 1986, 360, 362; Schünemann, NJW 1989, 1895. 435 Hassemer, JuS 1989,890,892. 436 Die Anwendung dieser Institute setzt ein Vergehen voraus, § 1211 1 StGB. 437 Vgl. Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 43, Tscherwinka, S. 76. 438 LandaulEschelbach, NJW 1999, 321, 325 mit entsprechenden Nachweisen. 439 Entscheidung vom 23. 03. 2000, BGH StV 2001, 554. Im Anschluss an das Grundsatzurteil des 4. Senates entschied der 2. Senat mit seinem Urteil vom 17. November 1999 (BGHSt 45, 312):"Erweckt das Gericht nach Vorberatung über die Strafobergrenze, die es im Fall eines Geständnisses nicht überschreiten wolle, den Eindruck, sich insoweit ohne Rücksicht auf den Umfang des Geständnisses und den weiteren Verlaufs der Hauptverhandlung vorbehaltlos und endgültig festgelegt zu haben, so kann dies für einen Verfahrensbeteiligten die Besorgnis der Befangenheit begründen." 440 Eine solche Bindung verletze materiellrechtliche Prinzipien der Strafzumessung, § 46 I 1,11 1 StGB. 441 BGHSt 43, 195,207; Meyer-Goßner, Stra.F.o 2001, S. 73, 75.; a.A. Kintzi in Festschrift für Ernst-Walter Hanack, S. 177, 182; Rönnau, wistra 1998,49, 51; Herrmann, JuS 1999,

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

klagte vor Ablegung eines Geständnisses ein Bild von der Wirkung seines Geständnisses auf die Strafzumessung machen. Die Absprache werde nicht an die Stelle des Urteils gesetzt, denn das Gericht könne nach dem Beratungsergebnis noch eine unter dieser Grenze liegende Strafe verhängen. Zudem sei es dem Gericht nicht verwehrt, dem Geständnis des Angeklagten auch dann strafmildernde Wirkung zuzumessen, wenn dieser das Geständnis nicht in erster Linie aus Schuldeinsicht und Reue, sondern aus verfahrenstaktischen Gründen im Rahmen einer Verständigung abgab. Ob diese Auffassung im Ergebnis dem Einwand richterlicher Voreingenommenheit standhalten kann, ist noch nicht erwiesen. Wegbereiter dieser vermittelnden Auffassung waren verschiedene Urteile unterschiedlicher Strafsenate. 442 Konkret hatte der 3. Senat in einem Fall Befangenheitsanträge gern. § 338 Nr. 3 StPO des Beschuldigten für unrechtmäßig abgelehnt erklärt, da seine Verteidigungsinteressen nicht berücksichtigt worden seien. 443 Auch sei die Befürchtung des Angeklagten berechtigt gewesen, man habe seine Sache hinter verschlossenen Türen ohne seine Einflussnahme verhandelt. Diese Entscheidung stellt insoweit eine Konkretisierung der Zulässigkeitsgrenzen von Absprachen dar,444 als eine Verständigung nicht etwa dadurch ausgeschlossen sein soll, dass bei mehreren Angeklagten nicht alle an den verständigenden Gesprächen teilnehmen. In derartigen Fällen sei jedoch auf die Verteidigungsinteressen der an den Gesprächen nicht beteiligten Angeklagten besondere Rücksicht zu nehmen. Ausschlaggebend für den BGH war, dass das LG in der Hauptverhandlung auf Befragen zu den geführten Gesprächen keine Auskünfte gab, die geeignet waren, den nicht beteiligten Angeklagten die Sorge zu nehmen, das Gericht habe sich zu ihren Lasten in den Gesprächen bereits festgelegt. 445 1162, 1165 ("Unterschied zwischen einer konkret festgelegten Strafe und einer zugesagten Strafobergrenze im wesentlichen sprachliches Problem"); Schmitt, GA 2001, S. 411, 422 f. Zum Anspruchscharakter der Bindung an die Strafobergrenze s. Kölbel, NStZ 2002, S. 74, 75; für eine abstrakte Belehrung über die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 29 und 46. 442 Neben den genannten hätte auch die dem Urteil des BGH, 2. Senat, vom 30. 10. 1991 zugrunde1iegende Fallkonstellation Anlass gegeben, sich zur Besorgnis der Befangenheit zu äußern. Der 2. Senat sah hier den Rechtsfehler aber nicht in der Beratung zwischen Vorsitzendem und Verteidiger über den Verfahrens gegenstand, sondern in der unterbliebenen Mitteilung des Ergebnisses, BGHSt 38, 102. Anmerkung von Hassemer, JuS 1992, 527; Anmerkung von Kintzi, DRiZ 1992,245; Böttcher/Dahs/Widmaier, NStZ 1993,375, mit einer Erweiterung von Schünemann, StV 1993,657, ferner Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011 , 1018. 443 Beschluss vom 4.7. 1990, BGHSt 37,99, mit Anmerkung von Böttcher, JR 1991, 118. Die Richter hatten im zugrundeliegenden Sachverhalt nicht mit allen Mitangeklagten Absprachen getroffen und den an den Vereinbarungen nicht beteiligten Mitangeklagten Informationen über den Gesprächsinhalt verweigert. 444 Zur grundsätzlichen Zulässigkeit von Absprachen äußerte sich der BGH auch in diesem Fall nicht, sondern wies vielmehr auf die Karnmerentscheidung des BVerfG vom 27.1. 1987 hin, NJW 1987,2662. 445 Böttcher, JR 1991, 118, 119.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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Kurze Zeit später hatte der 3. Senat erneut über die richterliche Befangenheit bei Absprachen zu entscheiden. 446 Er erachtete die Besorgnis der Staatsanwaltschaft über die Befangenheit von Vorsitzendem und Berichterstatter für begriindet, da dem Verteidiger vor der Hauptverhandlung und in Abwesenheit anderer Verfahrensbeteiligter konkret, nach außen allerdings unverbindlich, mitgeteilt wurde, welches Strafmaß der Angeklagte bei einem Geständnis zu erwarten habe. 447 Nach Auffassung des 3. Senates kommt es für die Besorgnis der Befangenheit "nicht auf eine verbindliche Absprache, eine endgültige Festlegung an, sondern auf den nach außen deutlich gewordenen Eindruck der inneren Haltung des Richters". Entscheidend sei, ob der Eindruck vermittelt werde, der Richter wirke mit einer "vorgebildeten Meinung" an der Hauptverhandlung mit. Außerdem widerspreche eine vertrauliche, d. h. ohne Mitwirkung aller Prozessbeteiligten, einschließlich des Angeklagten und der Schöffen, getroffene Absprache wie alle anderen Zusagen hinsichtlich der Strafbemessung den geltenden Verfahrensvorschriften. Ohne wie der 4. Senat eine Offenlegung des Absprachenergebnisses in der Hauptverhandlung zu fordern, sah der 3. Senat die Besorgnis der Befangenheit bereits für begriindet an, wenn konkrete Erklärungen über die Strafe abgegeben würden und eine Absprache außerhalb der Hauptverhandlung und unter Ausschluss anderer Verfahrensbeteiligter vorgenommen werde. 448 Diesen grundsätzlichen Bedenken des 3. Senates hatte sich der 5. Senat in seiner Entscheidung vom 20.2. 1996449 nicht angeschlossen. Der Auffassung des 5. Senates nach kann ein Rechtsgespräch als solches die Besorgnis der Befangenheit grundsätzlich nicht begriinden. Rechtsgespräche, welche die gebotene Form wahrten und das damit verbundene Bemühen um Verfahrensförderung seien innerhalb des gesetzlich unabdingbaren Rahmens prinzipiell sachgerecht. 446 Urteil vom 23. 1. 1991, BGHSt 37, 298; Anmerkung von BöttcherlDahslWidmaier, NStZ 1993, 375, mit einer Erwiderung von Schünemann. StV 1993, 657; Bömeke. S. 121; Kintzi. DRiZ 1992, 245; Weider, StV 1991, 241; Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011, 1027 f.; Zschockelt. NStZ 1991,305,307; Erwiderung von BöttcherlWidmaier, JR 1991,353. Vgl. hierzu auch Braun. S. 119. 447 Der Vorsitzende hatte im Einvernehmen mit dem Berichterstatter "namens der Kammer" dem Verteidiger in Abwesenheit anderer Verfahrensbeteiligter erklärt, wie sich ein Geständnis "nach Kenntnis der Akten und demgemäß vorläufiger Bewertung" in der Strafzumessung auswirken könne. Sollte die Hauptverhandlung etwas anderes ergeben, werde dem Angeklagten ein entsprechender Hinweis erteilt. 448 Um eine Besorgnis der Befangenheit auszuschließen, sollten Richter eine in Betracht kommende Strafe vor dem Urteil nur in Anwesenheit aller Prozessbeteiligten erörtern Zustimmend BöttcherlWidmaier, JR 1991, 353, 356; wohl auch Kintzi. DRiZ 1992, 245, 246; Kremer, S. 162 f.; mit Vorbehalten, Weider, StV 1991,241,242, der eine Differenzierung zwischen tatsächlich erfolgter, bindender Zusage und vorläufiger Äußerung über das Strafmaß vermisst; Zschockelt. NStZ 1991, S. 305, 308; vgl. zur Aufnahme des Urteils in der Literatur auch BöttcherlDahslWidmaier, NStZ 1993, 375 ff., sowie die Erwiderung von Schünemann. StV 1993,657 ff. 449 BGHSt 42,46; mit Anmerkung von Kintzi. JR 1997,78 und Zschockelt, NStZ 1996, 449. Vgl. auch Sinner, S. 200 f., Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. 1011, 1020 f.

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

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VII. Vereinbarkeit mit Art. 103 I GG

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verfassungsrechtlich in Art. 103 I GG und einfachgesetzlich in Art. 6 I EMRK gewährleistet. Er knüpft an eine der Ausprägungen menschlicher Würde an, Art. I I GG, nach welcher der Beschuldigte nicht vom Verfahrenssubjekt zum Verfahrensobjekt degradiert werden darf. 45o Gern. Art. 103 I GG erhalten die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. 451 Diese prozessualen Rechte kann der Verteidiger für den Beschuldigten wahrnehmen, wobei letzterer alleiniger Träger des Anspruches auf rechtliches Gehör bleibt. 452 Kritisiert wird, dass der Beschuldigte um die Möglichkeit einer Einflussnahme gebracht werde, indem ein Teil der Beweisaufnahme vor der Hauptverhandlung stattfinde und nur etwa die Hälfte der Verteidiger ihre Mandanten über das Absprachenergebnis informierten. 453 Dem Beschuldigten bleibe lediglich die Bestätigung des Absprachenergebnisses. 454 Da er ohnehin meist nur an einem für ihn günstigen Verfahrensverlauf interessiert sei, würde er in die Statistenrolle des bloßen, auf seine Rechte verzichtenden Informationsempfängers gedrängt. 455 Die Gegenmeinung sieht in der Rolle des Verteidigers bei Absprachen noch keinen Verstoß gegen Art. 103 I GG. Im Gegenteil geht sie davon aus, gerade durch Absprachen könnten Verteidiger und Beschuldigter verstärkt Einfluss auf das Verfahren nehmen. 456 Das Vorliegen einer Absprache, auch unter maßgebender Mitwirkung des Verteidigers, ändere nichts an der Möglichkeit des Beschuldigten, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör durchzusetzen. 457 Ein konkretes Geständnisangebot des Verteidigers hinter dem Rücken seines Mandanten stellt dagegen auch nach dieser Meinung einen klaren Verstoß gegen Art. 103 I GG dar. 458 Eine vermittelnde Ansicht will Gespräche unter Abwesenheit des Beschuldigten zulassen, die sich mit der Tatsache eines von ihm abzuleistenden Geständnisses befassen, sieht jedoch eine Hinzuziehung des Beschuldigten für zwingend an, sobald es um den Inhalt seines Geständnisses geht. 459 Zudem könne von einem Verzicht des Beschuldigten nicht die Rede sein; obwohl der Anspruch auf rechtliches Gehör unverzichtbar sei,460 unterliege BVerfGE 7,275,281; 9, 89, 95. BVerfGE 60,175,210; 64,135,143 f. 452 Dahs, Rechtliches Gehör, S. 55. 453 Schünemann, NJW 1989, 1895, 1901. 454 Rönnau, S. 209; ähnlich Weigend, JZ 1990, 774, 780 . . 455 Rönnau, S. 201 f. 450 451

456 457 458 459

460

Gerlach, S. 98; Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 12 Rdz. 19. Tscherwinka, S. 110. Gerlach, S. 98; Hamm, ZRP 1990,337,340. Schlüchter, SK-StPO vor § 213 Rn. 30. BVerfGE 55, 1,6.

D. Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit von Absprachen

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die konkrete Ausübung der Rechte aus Art. 103 I GG der Dispositionsbefugnis des Beschuldigten und stelle keinen Verzicht im Rechtssinne dar. 461 Die Beteiligung der Staatsanwaltschaft an einer Absprache war Gegenstand der Entscheidung des 5. Senats vom 20. 2. 1996.462 Da die Staatsanwaltschaft keine Grundrechtsträgerin i. S. d. Art. 103 I GG ist und deshalb keine Ansprüche daraus ableiten kann, hatte sie einen Verstoß gegen die §§ 33, 261 StPO und 169 GVG geltend gemacht. Der Vorsitzende habe mit den Verteidigern eine Absprache über das Strafmaß außerhalb der Hauptverhandlung getroffen, in deren Folge den Verteidigern gegen Geständnis der Angeklagten die schließlich verhängten Strafmaße in Aussicht gestellt worden seien. Dies sei ohne Wissen oder Beteiligung der Staatsanwaltschaft beschlossen worden. Der 5. Senat hielt zwar die von der Staatsanwaltschaft behauptete Vorgehensweise nicht für unbedenklich, die Formalrüge dagegen aber für nicht durchgreifend. Er nahm dabei auf die bereits bestehende Rechtsprechung Bezug, wonach ein Richter zwecks Verfahrensförderung durchaus auch außerhalb der Hauptverhandlung Kontakt zu den Verfahrensbeteiligten aufnehmen kann. 463 So stelle eine Erklärung des Richters über die von ihm gehegte Straferwartung im Falle eines Geständnisses eine Wissensäußerung dar, der nichts grundsätzlich Problematisches anhafte. Selbst Absprachen, die bei den Beteiligten einen Vertrauenstatbestand schafften, seien, trotz hiergegen geltend zu machender Bedenken, nicht ohne weiteres prozessordnungswidrig. 464 Der Grundsatz rechtlichen Gehörs gebiete zudem nicht allgemein, prozessrelevante Gespräche des Gerichts mit einzelnen Verfahrens beteiligten nur unter der Bedingung der Einbeziehung aller Betroffenen zuzulassen. Im konkreten Fall hatte der Vorsitzende nach Ansicht des Senates den Rahmen des gesetzlich Zulässigen nicht verlassen. In vielen Fällen seien "Rechtsgespräche" im Hinblick auf eine Verfahrens vereinfachung sogar wünschenswert. 465 Zu dem nicht erfolgten Hinweis über die Existenz der Absprache an den Staatsanwalt führt der BGH aus, aufgrund eines nicht geschaffenen besonderen Vertrauenstatbestandes habe kein Mitteilungsbedürfnis bestanden. Andererseits räumt er ein, dass eine offene Erörterung derartiger Vorgespräche den Idealen fairer Verfahrensgestaltung eher entspreche. 466

Dahs, Rechtliches Gehör, S. 45; Gerlach, S. 98. BGHSt 42,46; mit Anmerkung von Zschockelt, NStZ 1996,448 und Kintzi, IR 1997, 78. Vgl. auch Sinner, S. 200 f. 463 BGH, StV 1988,417. 464 Der Senat verweist an dieser Stelle auf die Kammerentscheidung des BVerfG vom 27. 1. 1987, NJW 1987, 2662. 465 Zu den Ausführungen über dies Besorgnis der Befangenheit, s. dort, unter III. 466 Auch dieses Urteil ist in der Literatur auf heftige Kritik gestoßen. So stimmt Zschoekelt, NStZ 1996, 449, ihm weder im Ergebnis, noch in der Begründung zu. Die Hinnahme eines Ausschlusses der Staatsanwaltschaft bei Gesprächen über ein kurzes Geständnis sei mehr als bedenklich. Auch lasse dieses Geständnis eine hinreichende Sachaufklärung, § 244 II StPO, fraglich erscheinen. Ähnlich Kintzi, IR 1997,78,79. 461

462

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1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

Durch die Entscheidung des 4. Senates,467 wonach eine Verständigung im Strafverfahren unter Mitwirkung aller Verfahrens beteiligten in öffentlicher Hauptverhandlung stattfinden muss, ist das Problem nunmehr noch für die außerhalb der Hauptverhandlung geführten "Vorgespräche" relevant.

E. Zusammenfassung Das Streben nach Verfahrensbeendigung ist seit jeher und unabhängig von der jeweiligen Verfahrensstruktur Ausdruck des Spannungsverhältnisses zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Erst in den vergangenen Jahrzehnten ist hingegen das Bedürfnis nach einer frühzeitigen Verfahrenserledigung stark gewachsen. Durch die vorhandenen Regelungen in der StPO wird es nicht gedeckt. Zwar finden sich Parallelen zu den gesetzlichen Einstellungsmöglichkeiten gern. §§ 153 ff., die in der Praxis gängigen vereinfachten Verfahrensweisen gehen jedoch über die gesetzlichen Regelungen hinaus und umfassen Bereiche, die nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten stehen. Begünstigt wird die Verbreitung konsensualer Verfahrens weisen insbesondere durch die Interessenkongruenz der Verfahrensbeteiligten. So suchen alle Verfahrensbeteiligten im Wege einer Konsensfindung das Verfahren zu verkürzen. Wahrend hierfür auf Seiten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft die Arbeitsentlastung und Kostenersparnis vornehmliche Triebfedern sind, ist für den Beschuldigten ausschlaggebend, sich der Belastung einer Hauptverhandlung möglichst schnell zu entziehen und einen für ihn vorteilhaften Verfahrensausgang zu begünstigen. Dieses zielgerichtete Einvernehmen führt schließlich dazu, dass die Parteien stets neue Mittel und Wege finden, ihre Interessen über bestehende Verfahrensgrundsätze hinweg durchzusetzen. 468 Verdeutlichen wird dies auch die Darstellung der US-amerikanischen Verfahrens wirklichkeit, in der ein formelles Gerechtigkeitsverständnis durch die ausgeprägte Aufwertung strafprozessualer in verfassungsrechtliche Garantien bereits traditionell geprägt ist. Obwohl die Praxis Absprachen zum festen Bestandteil der deutschen Strafverfahrenswirklichkeit hat werden lassen, kann von einer allgemeinen Akzeptanz und damit gewohnheitsrechtlichen Legitimierung nicht die Rede sein. Wie die zusammenfassend dargelegten Stellungnahmen in der Literatur zeigen, stieß eine Loslösung von Schuld und Strafe zugunsten eines ausgehandelten Surrogates von Anfang an auf vehemente Kritik. Gerade weil den konsensualen Verfahrens weisen ein anderes Verfahrens verständnis als dasjenige der StPO zugrundeliegt, werden Friktionen mit nahezu allen tragenden Prinzipien des deutschen Verfahrensrechtes diskutiert. So setze sich die Praxis in Widerspruch zu Anklagezwang und Amtserrnittlungsgrundsatz, zur Unschuldsvermutung, zu den Grundsätzen der UnrnittelbarBGHSt43, 195. Vgl. insoweit auch Weigend in: Festg. BGH, Bd. IV, 2000, S. lOll ff., der die Umgehung zeitraubender Prozessgrundsätze für einen der Zwecke von Urteilsabsprachen hält. 467

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E. Zusammenfassung

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keit, Öffentlichkeit, Gleichheit, Fairness und des rechtlichen Gehörs, ferner zum Schweigerecht und dem Verbot der Drohung gern. § 136a StPO. Herausgestrichen wird in der Diskussion um die Rechtmäßigkeit konsensualer Verfahrensweisen neben einer befürchteten Verdachtsstrafe besonders die Drucksituation,469 in der sich der Beschuldigte durch das allseitige Interesse an einer zeit- und kosten sparenden Verfahrensführung befindet. Die Freiwilligkeit des Beschuldigten zu kooperieren wird daher als zentraler Aspekt auf der Suche nach einer rechtlichen Kontrolle konsensualer Verfahrensweisen angesehen. 47o In der deutschen Rechtsprechung ist das Problem der Rechtmäßigkeit konsensualer Verfahrensweisen auch nach der sogenannten Grundsatzentscheidung des 4. Senats471 noch durch Uneinheitlichkeit in der Beurteilung geprägt. Dies liegt zum einen daran, dass die Rechtsprechung sich meist nur zu gescheiterten Absprachen äußern konnte und sie zum anderen mit einer Festlegung zulässiger Grenzen konsensualer Verfahrensweisen Gefahr lief, den Bedürfnissen der Praxis, insbesondere des Erledigungsdruckes und der Erledigungskapazität der Strafrechtspflege entgegenzuwirken. Da der Dynamik konsensualer Prozessführung mit den überkommenen Verfahrensprinzipien zudem immer weniger beizukommen ist, behilft sich die Rechtsprechung vornehmlich mit einem Rückgriff auf das verfassungsrechtliche Fairnessprinzip. Ihm wird als vage GeneralklauseI immer mehr die Funktion zugeschrieben, Einzelprobleme, die im Zusammenhang mit einer Absprache aufgetreten sind, im Nachhinein zu lösen. Dies geschieht im Bereich einer gescheiterten Absprache mitunter durch eine Korrektur über die Strafzumessung. Die fortführende Darstellung wird zeigen, dass auch an US- amerikanischen Gerichten die Strafzumessung dazu genutzt wird, Absprachen im Nachhinein zu korrigieren. Im Gegensatz zum US-amerikanischen Verfahren erstaunt bei der Untersuchung der deutschen Praxis allerdings, dass der Fairnessgrundsatz vornehmlich dann zur Begriindung herangezogen wird, wenn eine Absprache bereits getroffen wurde. Dagegen wird er selten präventiv als Grundlage dafür genannt, die Rechte des Beschuldigten bereits im Vorfeld oder im Verlauf einer Absprache zu stärken, indem etwa der Richter den Beschuldigten über die Bedeutung und Folgen seines Geständnisses und der Absprache aufklärt. Die Rechtsprechung zu Absprachen im Strafverfahren verdeutlicht, dass sich die Praxis schwer damit tut, die wandlungsfähigen konsensualen Verfahrensweisen an den Regeln des geltenden Verfahrensrechts auszurichten, sei es durch Schaffung einer von Regeln und Ausnahmen geprägten "Absprachenordnung,,472 oder durch Vgl. nur Wehnert, StV 2002, S. 219, 221. Inwieweit eine Kooperation des Beschuldigten als freiwillig bezeichnet werden kann zieht sich auch in den USA wie ein roter Faden durch die jahrzehntelange Diskussion um die Rechtmäßigkeit verschiedener Kooperationsformen. Darüber hinaus ist das Freiwilligkeitskriterium ein wichtiger Bestandteil der US-amerikanischen Regelung über konsensuale Verfahrensweisen. 471 BGHSt43, 195. 472 BGHSt 43, 195. 469 470

1. Teil: Absprachen im deutschen Strafverfahren

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Änderung der Dogmatik zum Rechtsmittelverzicht und zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. 473 Dies ist weniger ein Vorwurf als vielmehr die Einsicht, dass das Instrumentarium, das die StPO bereithält, nur äußert begrenzt dazu geeignet ist, Verfahrensweisen zu reglementieren, die sich weder in Zielsetzung noch Struktur an den Grundsätzen der StPO orientieren.

473

BGHSt 45,227.

2. Teil

Das US-amerikanische Plea Bargaining System Beim plea bargaining verhandeln Staatsanwalt und Verteidiger über Anklage und Strafe. Als Gegenleistung für eine leichtere Bestrafung durch das Fallenlassen bestimmter Anklagepunkte oder einer entsprechenden Strafmaßempfehlung bekennt sich der Beschuldigte dabei einer Straftat schuldig (guilty plea). An die 90% der Strafverfahren in den USA werden auf diese Weise erledigt. 1 Bedeutung und Ausmaß des plea bargaining als Form der Verfahrenserledigung sind Anlass der in den USA bis heute kontrovers geführten Diskussion um dessen Rechtmäßigkeit und Kontrollierbarkeit. Obwohl die Natur des amerikanischen Schuldbekenntnisses und seine Konsequenzen für den weiteren Verfahrens verlauf sich gänzlich von Absprachen im deutschen Strafverfahren unterscheiden und auf amerikanischer Seite mittlerweile verschiedene Regelungen für das plea bargaining vorliegen, weisen beide Formen konsensualer Verfahrens verkürzung bzw. -erledigung Ähnlichkeiten in der Diskussion und den Entstehungsgründen auf.

A. Entstehung und rechtliche Grundlagen des plea bargaining I. Der Verlauf eines Strafverfahrens In den USA hat der Angeklagte im Vorverfahren Gelegenheit, zum Schuldvorwurf Stellung zu nehmen. In diesem Verfahrensstadium findet plea bargaining statt, weshalb die Hauptverhandlung - das klassische jury-Verfahren - im Rahmen dieser Untersuchung nur am Rande Erwähnung findet. Aufgrund der vielfältigen einzelstaatlichen Verfahrensrechte und - verläufe, insbesondere hinsichtlich mindergewichtiger Delikte, beschränkt sich der Überblick vornehmlich auf Grundzüge des Bundesverfahrens bei Anklage schwerer Delikte (felonies). Die Berechtigung einer Anklage wird im amerikanischen Strafverfahren zunächst in einem außergerichtlichen Vorprüfungsverfahren sowie anschließend vor Gericht überprüft. Zwar befindet der Ankläger darüber, welche Anklagepunkte er1 Im Jahre 1995 basierten 92% aller Verurteilungen in bundesgerichtlichen Verfahren auf einem Schuldbekenntnis oder Bekenntnis in Form des "nolo contendere", United States Department of Justice, Bureau of Justice Statistics, Sourcebook of Criminal Justice Statistics, 1994,462,476 (1995); Herman, S. 1 Fn. 3.

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2. Teil: Das US-amerikanische Plea Bargaining System

hoben werden sollen, die Überprüfung der Anklageberechtigung wird in den USA jedoch von einer von der Anklagebehörde unabhängigen Instanz durchgeführt. So beginnt das Vorprüfungsverfahren nach erfolgter Strafanzeige (complaint)2 mit der Prüfung hinreichenden Tatverdachtes durch einen Richter3 , nachdem ihm der Verhaftete vorgeführt wurde (preliminary / initial / first appearance), wobei der Verdacht eines Verbrechens (felony) grundsätzlich eine Verhaftung erfordert. Bei der Vorführung infonniert der Richter den Verhafteten über den Anklagevorwurf wie über seine Verfahrensrechte und entscheidet über die Untersuchungshaft (preventive detention) oder Freilassung gegen Kaution (on bail).4 Verzichtet der Beschuldigte nicht infolge eines umfassenden Schuldbekenntnisses auf die Durchführung eines Vorprüfungsverfahrens, so überprüfen ein oder zwei von der Anklagebehörde unabhängige Spruchkörper die Beschuldigung vor der förmlichen Erhebung der Anklage. Dabei muss ein Richter nach Anhörung des Beschuldigten und Vortrag der jeweiligen Argumente von Anklage und Verteidigung zunächst bestätigen, dass hinreichender Tatverdacht besteht (preliminary hearing). Nach Bundesrecht sowie in einigen Staaten muss die Anklage zusätzlich durch eine grand jury bestätigt werden. 5 Diese entscheidet unter Hinzuziehung allein der vom Staatsanwalt vorgelegten Beweise darüber, ob sie den Fall an das urteilende Gericht weiterleitet. Sie befindet dabei nicht über Schuld oder Unschuld des Verdächtigen und hat mit der trial jury nichts gemeinsam. Die Entscheidung, ob die Beweislage für eine Anklageeröffnung genügt, ergeht mit Hilfe der vom Ankläger dargebrachten Beweise und vorgeführten Zeugen. Entscheidet sich die grand jury für einen Überweisungsbeschluss (indictment), hat der Beschuldigte aus Amendment VI ein Recht darauf, Kenntnis von dessen Inhalt oder, sofern kein Verfahren vor der grand jury stattfand, der direkt vom Ankläger verfassten und dem Gericht eingereichten Anklageschrift (information) zu erlangen. 6 Bereits vor dem preliminary hearing wird der Beschuldigte jedoch meist schon in Verhandlungen mit seinem Verteidiger stehen, über die Anklagepunkte aufgeklärt sein und über ein Schuldbekenntnis gesprochen haben. Fed.R.Crim.P. 3. Bei Vergehen kann diese Funktion durch sog. "magistrates" wahrgenommen werden, die neben derartigen richterlichen auch anderweitige justizielle Befugnisse haben, vgl. 28 U.S.c. §§ 631 ff. Vgl. Dressler, § 1.03 S. 7, Schmid, S. 53. 4 Zur Vorprüfung (preliminary exarnination) vgl. Schmid, S. 54. 5 Die grand jury wird für einen bestimmten Zeitraum einberufen und entscheidet innerhalb dieses Zeitraums über alle anstehenden Anklagevorwürfe. Sie besteht aus mindestens 16 Mitgliedern und tagt grundsätzlich ohne die Anwesenheit des Beschuldigten. Vgl. LaFavel Israel, Ch. 8, S. 376 ff. Sinn und Zweck der Konstituierung dieses Laiengremiums war es, den einzelnen davor zu schützen, ohne hinreichenden Tatverdacht unter Anklage gestellt zu werden, Weigend, Landesbericht, S. 265. Vgl. zu Unterschieden in der Zusarnrnensetzung Dressler, § 1.03. 6 Paulsen, ZStW 77 (1965), S. 141, 158. Amendment VI ist ein Grundrecht der US-arnerikanischen Bundesverfassung und gewährt dem Beschuldigten u. a. das Recht auf ein zügiges und öffentliches Verfahren, das Recht auf ein unvoreingenommenes Laiengremium sowie das Recht, über Art und Umfang der Anklage in Kenntnis gesetzt zu werden, s. Abdruck unter A. I. im Anhang. 2

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Spätestens zum Zeitpunkt des preliminary hearing, jedenfalls aber vor dem indictment müssen die wesentlichen Verhandlungen zwischen Staatsanwalt und Verteidiger abgeschlossen sein, da Zugeständnisse im Zusammenhang mit einem Schuldbekenntnis nach dem offiziellen Überweisungsbeschluss gesetzlich begrenzt sind. Liegt ein Überweisungsbeschluss der grand jury oder eine "information" des Anklägers vor, schließt sich an das nunmehr beendete Vorprüfungsverfahren ein gerichtliches Vorverfahren an (arraignment). Der Beschuldigte wird dem urteilenden Gericht vorgeführt und über den Inhalt der Anklageschrift in Kenntnis gesetzt. Im Anschluss hat er die Möglichkeit, zum Anklagevorwurf Stellung zu nehmen, indem er sich schuldig bekennt (guilty plea) oder den Schuldvorwurf bestreitet (plea of not guilty).7 Da das US-amerikanische Strafverfahren nicht primär der Ermittlung materieller Wahrheit, sondern letztlich einer fairen Konfliktlösung dient, ist die Durchführung einer Hauptverhandlung nur dann von Bedeutung, wenn ein Konflikt besteht. Wird er dagegen von dem Angeklagten in einem frühzeitigen Verfahrens stadium durch ein Schuldbekenntnis (guilty plea) beigelegt, so entfällt der eigentliche Verfahrenszweck der Hauptverhandlung, über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu befinden. Indem sich der Beschuldigte im arraignment schuldig im Sinne der Anklage bekennt, entscheidet er über den weiteren Verfahrensverlauf: Bestreitet er den Anklagevorwurf (plea of not guilty), hält er also die Konfliktsituation aufrecht, so führt er damit die Klärung des Vorwurfs durch ein Geschworenengericht (trial court) herbei. Anerkennt er dagegen den Schuldvorwurf (plea of guilty), so lenkt er den Prozess unverzüglich ins Stadium der Strafzumessung über. Der Richter hat dann nur noch das Schuldbekenntnis zu überprüfen und - sofern er es annimmt - das Strafmaß festzusetzen. Bekennt sich der Beschuldigte zum Anklagevorwurf nicht schuldig oder weist der Richter sein Schuldbekenntnis zurück, so mündet das Verfahren in die Hauptverhandlung (trial).8 An deren Ende entscheidet die jury über die Schuldfrage. 9 s. unten A.I. Nach einem komplizierten Auswahlverfahren der jury und deren Unterweisung (vgl. hierzu Schmid, S. 66 ff.), beginnt die eigentliche Hauptverhandlung mit einer an die jury gerichteten Eröffnungserklärung des Anklägers (opening statement). Anschließend werden sämtliche Beweise von den Parteien dargelegt. Während der Ankläger die Schuld des Angeklagten beyond a reasonable doubt beweisen muss, ist Aufgabe des Verteidigers, alles erdenklich Mögliche zu unternehmen, um diese Beweise zu erschüttern (zum Beweisverfahren in der amerikanischen Hauptverhandlung vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S. 394 ff.; zur Stellung des Verteidigers im amerikanischen Strafprozess vgl. Damaska, ZStW 90 [1978], S. 829 ff.). Hält die Verteidigung die vom Ankläger dargebrachten Beweise für nicht ausreichend, die Schuld des Angeklagten zu belegen und ist das Gericht wiederum von der Richtigkeit eines entsprechenden Antrages (motion to dismiss) überzeugt, so hat - zumindest im Bundesstrafverfahren - ein Freispruch zu erfolgen (judgment of acquittal, Fed.R.Crim.P. 29 [al). Dies ist jedoch die Ausnahme. Vgl. zur Hauptverhandlung im einzelnen LaFave/ Israel, Ch. 24, S. 1008 ff. 9 Das Urteil der Geschworenen (verdict) lautet entweder auf schuldig im Sinne der Anklage (guilty on all charges), teilweise schuldig (guilty of some of the charges), schuldig eines 7

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Während grundsätzlich die jury allein über den Schuldspruch befindet, ist das Gericht mit der Aufgabe der Strafzumessung betraut. 10 Freilich finden sich auch von diesem Grundsatz verschiedenste Ausnahmen auf der Ebene der einzelstaatlichen Strafgerichtsbarkeit. Nach Bundesrecht erfolgt die Strafzumessung gemäß der durch den Sentencing Reform Act von 1984 ergangenen Vorschriften, 11 die nicht zuletzt einer Einschränkung richterlichen Strafzumessungsermessens dienten.

11. Entstehungsgeschichte und Etablierung des plea bargaining Plea bargaining in seiner grundlegenden Erscheinung als staatliche Anerkennung für den Akt der Selbstbelastung des Beschuldigten kann vereinzelt bereits vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) nachgewiesen werden. 12 Gehäuft trat es nach dessen Beendigung auf,13 da veränderte Gerichts- und Verfahrensstrukturen, vornehmlich detaillierte Beweisrechte und medizinische Erkenntnisse, die Ermittlungen zeitaufwendiger machten und das gesamte Verfahren verkomplizierten, womit auch der Bedarf nach rechtlichem Beistand wuchs. 14 Dies erforderte ein genaues Vorgehen vOn Polizei und Staatsanwaltschaft im Vorverfahren, was der Klärung einer Reihe von Fragen im Vorfeld der eigentlichen Verhandlung bedurfte, die ursprünglich einer Beurteilung durch die jury oblagen. Neben diesen wurden konsensual erzielte Verfahrensverkürzungen von einer Reihe anderer Faktoren wie wachsender Urbanisierung, zunehmender Bürokratisierung des Justizapparates und Professionalisierung auf der Verteidigerseite sowie Ausweitung des materiellen Strafrechts und Stärkung der Verfassungsgarantie des due process of law für den Angeklagten begünstigt. 15 In den zwanziger Jahren durchgeführte Untersuchungen der Strafjustiz belegten, dass das Schuldbekenntnis zur dominanten Form der Verfahrenserledigung mutiert war. 16 Eine weitere, in den sechziger Jahren, unter anderem durch die Betäubungsmitteldelikte verursachte, erhebliche Zunahme der zu erledigenden Fälle 17 führte 1967 zu eiweniger schweren Delikts (guilty of a lesser offense), auf unschuldig infolge Zurechnungsunfahigkeit (not guilty by reason of insanity) oder auf Freispruch (acquittal). IO Vgl. zum ganzen LaFave/Israel, Chapter 26, S. 1087 ff., 1092, 1096 ff. 11 18 U.S.c. §§ 3551 ff. 12 Alschuler; 13 L. & Soc'y Rev. (1979) 221 mwN; eine umfassende historische Analyse findet sich bei Feeley, Legal Complexity and the Transformation of the Crirninal Process: The Origins ofPlea Bargaining, 31 Israel L.Rev. 183 (1997). Vgl. ferner Friedman, 13 L. & Soc'y Rev. (1979) 249, Nasheri, Betrayal of Due Process, Kapitel 4, S. 79 ff. und 6, S. 99 ff. I3 LaFave/Israel. § 21.1, S. 898. 14 Haller; 13 L. & Soc'y Rev. (1979) 273; Langbein, 13 L. & Soc'y Rev. (1979) 261; Mather; 13 L. & Soc'y Rev. (1979) 283. 15 LaFave/Israel. § 21.1., S. 899. 16 Moley. 2 S.Cal.L.Rev. (1928) 105. 17 Alschuler; 13 L. & Soc'y Rev. (1979) 236.

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ner ersten öffentlichen Erklärung über die Erledigungspraxis des plea bargaining. 18 Gleichwohl schien der US Supreme Court der Klärung um die Verfassungsmäßigkeit des plea bargaining zunächst ausweichen zu wOllen,19 bevor er es in einer Reihe von Entscheidungen Anfang der siebziger Jahre als Institution 20 anerkannte, die dem Strafverfahren bereits inhärent21 und für dieses begrüßenswert sei. Während die Zulässigkeit von Absprachen in Deutschland bis heute umstritten ist und unter Aufzählung verschiedener Verstöße gegen elementare Grundsätze des Strafverfahrens um ihre Legitimation gerungen wird, hat der US Supreme Court das plea bargaining aus schlicht ökonomischen Erwägungen zugunsten der Strafrechtspflege für gerechtfertigt erklärt. 22 So hielt er in der Grundsatzentscheidung Brady v. U.S. aus dem Jahre 197023 guilty pleas fördernde Vorgehensweisen mit der Begründung für verfassungs gemäß, es seien strafjustizielle Ressourcen zu wahren. 24 Dabei betonte der US Supreme Court die Vorteilhaftigkeit des bargaining für beide Seiten, obwohl der Staatsanwalt dem Beschuldigten nichts zugestanden hatte, das Schuldbekenntnis folglich nicht ausgehandelt worden war. Dieser wie auch den beiden anderen Entscheidungen der sog. Brady- Trilogie25 lag die Frage zugrunde, inwieweit der Verzicht auf einzelne Rechte auch nach Abgabe eines Schuldbekenntnisses überprütbar bleibt26 und ob das guilty plea mit dem Verbot erzwungener Selbstbezichtigung (Amendment V)27, das ein Grundrecht der USamerikanischen Bundesverfassung ist, vereinbar sei. Der US Supreme Court bejahte die Vereinbarkeit, weil sich der Beschuldigte im konkreten Fall für eine von zwei rechtlich einwandfreien Alternativen entschieden hatte. 28 Die Unfreiwilligkeit eines Schuldbekenntnisses sei nur dann zu besorgen, wenn Anzeichen unzulässiger Einwirkung auf den Beschuldigten vorlägen und dieser keine Möglichkeit 18 American Bar Association, Project on minimum standards for criminal justice. Standards re1ating to pleas of guilty (1967); President's commission on law enforcement and administration ofjustice, The challenge of crime in a free society (1967). 19 Alschuler; 13 L. & Soc'y Rev. (1979) 238 Fn. 28. 20 Santobello v. United States, 404 U.S. 257, 261 (1971). 21 Brady v. United States, 397 U.S. 742, 751 (1970). 22 So ausdrücklich in der Entscheidung Corbitt v. New Jersey, 439 U.S. 212, 223 (1978), in welcher die gegenseitige Vorteilhaftigkeit für Beschuldigte und Staatsbehörden betont wurde. 23 397 U.S. 742 (1970); hierzu ausführlich Branhaml Krantz, S. 38. 24 397 U.S. 742, 752 (1970). 25 McMann v. Richardson, 397 U.S. 759 (1970), Parker v. North Carolina, 397 U.S. 790 (1970). 26 Dabei argumentierten die Beschuldigten in allen drei Fällen, dass der verfassungswidrige Charakter der Hauptverhandlung, die sie jeweils zu konfrontieren gehabt hätten, für die Unfreiwilligkeit ihres Schuldbekenntnisses ausschlaggebend war. 27 s. Anhang A. I. 28 Brady hatte ein Schuldbekenntnis mit der Folge lebenslanger Freiheitsstrafe abgelegt, da bei Durchführung einer streitigen Verhandlung mit einer Todesstrafe zu rechnen war.

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habe, Vor- und Nachteile seiner Entscheidung für oder gegen eine Hauptverhandlung - mit Hilfe seines Verteidigers - rational abzuwägen?9 Sieht sich der Beschuldigte folglich allein dem einem guilty plea anhaftenden Druck ausgesetzt, ist dieses als gültig anzusehen und kann nicht weiter überprüft werden. Ein Jahr nach Brady wurde plea bargaining in der Entscheidung Santobello v. New Yorl2o bereits als essentielle und erstrebenswerte Komponente der Strafrechtspflege bezeichnet, da es zu einer Verfahrensverkürzung und Einsparung weiterer Richterstellen führe. 31 Aus Gerechtigkeitserwägungen wurde erstmals das staatsanwaltliche Angebot für verbindlich erklärt, sofern dieses für den Beschuldigten ein Anreiz zur Abgabe seines Schuldbekenntnisses war?2 Wie wenig ein guilty plea mit tatsächlicher Schuld zu tun hat, offenbart die Entscheidung North Carolina v. Alford. 33 Obwohl der Angeklagte Alford seine Schuld dem Richter gegenüber bestritt, riet ihm sein Verteidiger zur Abgabe eines guilty plea für einen Mord zweiten Grades, weil die Beweislage äußerst ungünstig und die Verhängung der Todesstrafe nach Durchführung einer Hauptverhandlung zu befürchten war. Die Berufungsinstanz hielt dieses Schuldbekenntnis für unfreiwillig, da Alford es allein zum Zweck einer Vermeidung der Todesstrafe abgegeben hatte. 34 Gleichwohl erachtete der US Supreme Court das Schuldbekenntnis für wirksam und nicht für unfreiwillig und erzwungen, da Alford es im eigenen Interesse und im Bewusstsein aller Folgen erklärt hatte. Diese Entscheidung des US Supreme Court ermöglicht den Gerichten, ein guilty plea trotz entgegenstehender Unschuldsbekräftigung anzuerkennen, ohne gegen den Grundsatz des due process zu verstoßen?5 Andererseits sind die Gerichte keinesfalls zur Annahme eines AIford-plea 36 gezwungen; so blieb es auch den Bundesstaaten vorbehalten, diese Regelung zu übernehmen. 37 Trotz Alford ist eine gleichzeitige Unschuldsbeteuerung 397 U.S. 742, 750 (1970). 404 U.S. 257 (1971); s. hierzu Branhaml Krantz, S. 48. 31 404 U.S. 257, 260 f. (1971). 32 Im konkreten Fall hatte der Beschuldigte seine Schuld in der Annahme bekannt, der Staatsanwalt werde keine Strafmaßempfehlung abgeben, wohingegen dieser später die Höchststrafe forderte. Zur Bindungswirkung der Vereinbarung führt der US Supreme Court aus: " ... a constant factor (of fairness) is that when a plea rests in any significant degree on a promise or agreement of the prosecutor, so that it can be said to be part of the inducement or consideration, such promise must be fulfilled." 404 U.S. 257, 262 (1971). 33 400 U.S. 25 (1970); s. hierzu Branhaml Krantz, S. 33. 34 Alford zum Gericht" I pleaded guilty on second degree murder because they said there is too much evidence, but I ain't shot no man, but I take the fault for the other man. ( ... ) I just pleaded guilty because they said if I didn't they would gas me for it, that is all." 400 U.S. 25, 28 (1970). 35 Amendment V, XN. 36 So die Bezeichnung in Anlehnung an die Grundsatzentscheidung. Ein Alford plea wird nur dann abgegeben, wenn die Beweislage gegen den Beschuldigten unerschütterlich belastend ist, so dass die Durchführung einer Hauptverhandlung für den Beschuldigten mit großen Risiken einer harschen Verurteilung verbunden ist. 29

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unter Abgabe eines guilty plea ein relativ seltenes Phänomen?8 Diese Entscheidung verdeutlicht jedoch wie kaum eine andere den bloß fiktiven Charakter des guilty plea sowie die Betonung prozeduraler gegenüber materieller Fairness im amerikanischen Strafprozess. 39 In Bordenkireher v. Hayes 40 schließlich war zu entscheiden, ob der Staatsanwalt eine höhere Strafe androhen dürfe, um den Beschuldigten zur Abgabe eines Schuldbekenntnisses zu bewegen. 41 Der US Supreme Court erkannte das Interesse des Staatsanwalts als rechtmäßig an, den Beschuldigten durch Zugeständnisse von einer Hauptverhandlung abzubringen. 42 Allein wenn es keinen triftigen Grund zur Annahme tatsächlicher Schuld des Beschuldigten gäbe,43 der Staatsanwalt nicht im Rahmen des rechtlich Zulässigen verbleibe und den Beschuldigten nicht wahrheitsgemäß über die gegebenen Alternativen unterrichte, habe eine derartige Vorgehensweise drohenden Charakter. Diese Entscheidung überlagerte das nur kurze Zeit vorher in Blackledge v. Perry44 gefällte Urteil, bei dem das Gericht noch von einem Verstoß des due process-Grundsatzes ausgegangen war, wenn der Staatsanwalt nach Einlegung eines Rechtsmittels des Beschuldigten gegen die erste Verurteilung die Anklage erweiterte. 45 Der mit diesen Entscheidungen einhergehenden Legitimierung lagen weniger norrnative46 als pragmatische Erwägungen zugrunde. Sie bereiteten den Weg für 37 So hatte der New York Court of Appeals mit der Entscheidung People v. Serrano (15 NY2d 304) bereits im Jahre 1965 die Wirksamkeit eines guilty plea unter gleichzeitiger Unschuldsbekundung für zulässig erklärt. 38 Alschuler, TheDefenseAttomey'sRolein PleaBargaining, 84 YaleL.J. (1975) 1179, 1300. 39 Vgl. auch Weigend, Absprachen, S. 70. 40 434 U.S. 357 (1978); s. hierzu Branhaml Krantz, S. 52; s. zum gleichen Themenkomplex, die nach Inkraftreten der U.S.S.G. gefällte Entscheidung United States v. Jones, 114 S.o. 741 (1994). 41 Dem Beschuldigten war unterbreitet worden, er würde als Rückfalltäter mit der Folge einer sehr schweren Strafe verurteilt werden, bekenne er sich nicht zur Urkundenfälschung. Der Beschuldigte bekannte sich nicht schuldig, worauf gegen ihn eine schwerere Strafe verhängt wurde. 42 "In the gi ve-and-take of plea bargaining, there is no ( ... ) element of punishment or retaliation so long as the accused is free to accept or reject the prosecution's offer ( ... ). By hypothesis, the plea may have been induced by promises of a recommendation of a lenient sentence or a reduction of charges, and thus by fear of the possibility of a greater penalty upon conviction after a trial ( ... ). (By) tolerating and encouraging the negotiation of pleas, this Court has necessarily accepted as constitutionally legitimate the simple reality that the prosecutor's interest at the bargaining table is to persuade the defendant to forego his right to plead not guilty." 434 U.S. 357, 364 (1978). 43 "Probable cause to believe that the accused committed an offen se defined by statute". 44 417 U.S. 21 (1974); s. auch North Carolina v. Pearce, 395 U.S. 711 (1969). 45 Zu einer Gegenüberstellung beider Urteile s. Rossman, Chapter 2, 2 - 34 ff. 46 Vgl. nur zur Frage, ob das Verbot erzwungener Selbstbelastung der Praxis des plea bargaining entgegensteht, die Begründung in Brady v. United States, 397 U.S. 742 (1970): "The fifth amendment does not reach so far."

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eine Reihe weiterer grundlegender Urteile,47 in denen Konditionen und Verlauf des plea bargaining näher festgelegt wurden.

111. Konfliktlösung als Verfahrensziel Das amerikanische Verfahren dient, wie soeben bemerkt, nicht der Wahrheitsfindung um ihrer selbst willen,48 sondern der Lösung eines zwischen den Prozessparteien bestehenden Konfliktes. 49 Der beste Lösungsweg wird dabei nicht in einer möglichst objektiven und vollständigen Sachverhaltsaufklärung durch den Richter, sondern im Wettstreit um die überzeugendere Alternative der Sachverhaltsdarste1lung durch die Parteien gesehen. 50 Dabei liegt auch im adversatorischen System5l die Entscheidungsfindung in neutraler Hand und zwar einerseits in deIjenigen der jury, sofern über die Schuld zu entscheiden ist, andererseits in derjenigen des Richters, soweit es um die Wahrung prozessualer Gerechtigkeit und Strafzumessung geht. Der amerikanische Richter hat zu beurteilen, ob der Ankläger ausreichenden Beweis für die Schuld des Beschuldigten im Sinne der Anklage erbracht hat. Dabei ist es ihm nicht verwehrt, die Sachverhaltsaufklärung durch Fragen an die Zeugen selber voranzutreiben. Der Konflikt selbst wird durch die staatsanwaltliche Definition des Streitgegenstandes konkretisiert. Der Streitgegenstand ist zweigliedrig, da die Anklage sowohl den zu beurteilenden Sachverhalt, als auch die Tatbestände festlegt. Von dieser Festlegung kann das Gericht nicht abweichen, es gilt insoweit der Ne ultra petita-Grundsatz. Der Streitgegenstand dient den Parteien folglich als Grundlage bei Art und Umfang der ihnen obliegenden Verantwortung zur Beweis sammlung und -darbietung einschließlich der Entscheidung über das der Ge47 U.S. v. Bell, 506 F.2d 207 (D.C.Cir. 1974); U.S. v. Brown, 500 F.2d 375 (4th Cir. 1974); Blackledge v. Allison, 431 U.S. 63 (1977); Corbitt v. New Jersey, 439 U.S. 212 (1978); Cooper v. U.S., 594 F.2d 12 (4th Cir. 1979); Mabry v. Johnson, 467 U.S. 504 (1984); U.S. v. Benchimol, 471 U.S. 453 (1985); Ricketts v. Adamson, 483 V.S. 1 (1987); U.S. v. Robison, 924 F.2d 612 (1991); U.S. v. Mezzanatto, 513 U.S. 196 (1995). 48 Vgl. Weigend, Absprachen, S. 34; Herrmann, S. 157 ff., nach dessen Auffassung die Wahrheitserforschung zugunsten der Dispositionsbefugnis des Beschuldigten zurücktritt; LaFave !Israel, § 1.6, S. 33; Lüderssen, der den anglo-amerikanischen Rechtskreis von einem optimistischen Umgang mit einem disponiblen Wahrheitsbegriff beherrscht sieht, StV 1990,416; ferner das bei Paulsen, ZStW 77 (1965), S. 146, angeführte Zitat eines amerikanischen Bundesrichters: "In einem Strafverfahren vor einem Bundesgericht spielt die Frage, ob die Staatsanwaltschaft den Beweis in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften führt und ob das Verfahren der Beweisaufnahme den Anforderungen des Rechts entspricht, tatsächlich eine ebenso große Rolle wie die Frage, ob der Beschuldigte im Sinne der Anklage schuldig ist." 49 Damaska, ZStW 87 (1975), S. 713, 715. 50 Kritisch Frank, Courts on Trial. Myth and Reality in American Justice, S. 80 ff. Zum Begriff des sportlichen Wettkampfes, vgl. Herrmann, S. 152 ff. 51 Zu dessen Entwicklung s. LaFave!Israel, § 1,6(b), S. 35 ff.

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gen partei zu Offenbarende. Dabei wacht jede Partei mit Argusaugen über Vorgehensweise und Darbietung des Sachverhaltes durch ihr Gegenüber, während Richter und jury als Unbeteiligte an diesem Wettstreit über die konfliktbezogene Präsentation urteilen. Erkennt der Beschuldigte den staatlichen Strafanspruch durch Abgabe eines guilty plea dem Grunde nach an,52 womit er dem Konflikt die Grundlage entzieht, wird jede weitere Beweisaufnahme und damit auch die Durchführung einer streitigen Hauptverhandlung über die Schuldfrage hinfällig. Was verbleibt, ist die Festsetzung des Strafmaßes durch den Richter. Zwar führt so die Abgabe eines Schuldbekenntnisses zur unmittelbaren Lösung des Konfliktes, allerdings nicht in der an sich vorgesehenen kontradiktorischen Weise. 53 Unbedenklich erscheint dies in Routinefällen und solchen eindeutiger Beweislage. 54 Dariiber hinaus wird plea bargaining aber auch für komplexe Fälle favorisiert, da hier der Ausgang des Wettstreits nicht von der zufälligen Entscheidung eines Laiengremiums, sondern einer fachgerecht geführten Auseinandersetzung abhinge. 55 Gerade dadurch würden adversatorische Verfahrensstrukturen ausgeweitet und zur Einzelfallgerechtigkeit beigetragen. 56 Mag diese Ansicht auch überzogen sein, sie spiegelt das amerikanische Verfahrensverständnis in zweierlei Weise wider: Zum einen hinsichtlich der Akzeptanz des Beschuldigten als Partei, die eine reale Konkurrenzsituation zum Ankläger schafft, 57 zum anderen bezüglich der nur bedingt durchzusetzenden Wahrheit; zwei Eigenheiten, die den staatlichen Strafanspruch zugunsten einer Konfliktlösung in den Hintergrund treten und kontradiktorische in konsensuale Vorgehensweisen münden lassen. Trotz erheblicher Friktionen mit einer Reihe von Verfahrensrechten sind guilty plea und plea bargaining durchaus systemkonform, da es im Selbstverständnis des amerikanischen Strafverfahrens liegt, das Konfliktfeld durch die Parteien nicht nur bestimmen, sondern die einzelnen Konfliktpunkte unter sehr beschränkter gerichtlicher Kontrolle beseitigen zu lassen.

Einschließlich der in der Anklage vorgebrachten Tatsachen. Vgl. Schulhofer, Is Plea Bargaining inevitable?, 97 Harv.L.Rev. (1984) 1104, der die Praxis des plea bargaining nicht nur insoweit scharf kritisiert; Weigend, Absprachen, S. 49. 54 Vgl. auch Schumann, S. 64 in Anlehnung an Aubert, The Hidden Society, Totowa 1965. 55 Feeley, 7 Justice System Journal (1982) 340. 56 Damaska, ZStW 90 (1978), S. 829, 844 Rn. 9; vgl. auch Maynard, Inside plea bargaining, S. 167 57 Wobei freilich das Risiko des Beschuldigten und dasjenige des Anklägers alles andere als gleichwertig sind. Vielmehr ist die Situation durch eine Unterwerfung des Beschuldigten unter die Angebotslage des Anklägers geprägt. 52

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IV. Möglichkeiten, Formen und Folgen einer Stellungnahme zur Anklage

Im amerikanischen Strafverfahren hat der Beschuldigte drei Möglichkeiten, zum friihzeitig formulierten und bis zu Beginn der Hauptverhandlung abänderbaren Anklagevorwurf Stellung zu nehmen. 58 Erklärt er sich für unschuldig (to plead not guilty), so wird eine Hauptverhandlung anberaumt, in der eine jury über die Schuldfrage entscheidet. Von der Unschuld des Beschuldigten ist gleichermaßen dann auszugehen, wenn dieser keinerlei Aussagen zum Anklagevorwurf macht59 oder das Gericht das abgelegte Schuldbekenntnis nicht akzeptiert. 6o Des verfassungsmäßig verbürgten Rechts auf Durchführung einer Hauptverhandlung 61 begibt sich der Beschuldigte bei Abgabe eines Schuldbekenntnisses (guilty plea) oder eines Verzichtes, sich gegen die Anklage juristisch zu wehren (nolo contendere).62 Im letzteren Fall wird zur Schuld ausdriicklich keine Stellung genommen, und anders als bei der Abgabe eines Schuldbekenntnisses darf eine mögliche strafrechtliche Verurteilung in einem auf der gleichen Tat griindenden Zivilprozess nicht gegen die beschuldigte Person verwandt werden. 63 Von diesen Unterschieden abgesehen entfaltet ein "nolo contendere" jedoch gleiche Wirkungen wie das Schuldbekenntnis,64 weshalb auf Bundesebene für beide die gleichen Priifungsmaßstäbe für Annahme 65 , Freiwilligkeitsanforderungen 66 und Zuriickweisung67 gelten. Keine eigenständige Möglichkeit, zur Anklage Stellung zu nehmen, aber mit dem Schuldbekenntnis zusammenhängend, ist die Abgabe eines bedingten Schuldbekenntnisses (conditional plea) zum Zweck, bestimmte Vorgehensweisen der Vorverhandlung mittels Beschwerde einer späteren Überpriifung zu unterzie58 Die Verfahrensverläufe variieren je nach Einzelstaat. Im bundesrechtlichen Vorverfahren wird der Beschuldigte über die ihm zur Last gelegten Anklagepunkte in Kenntnis gesetzt, es wird ihm eine Kopie der Anklageschrift augehändigt und er wird hinsichtlich jedes Anklagepunktes über die Ablegung eines Schuldbekenntnisses befragt, LaFave/Israel, § 21.4, S. 932. Vgl. zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen der pleas Bickel, S. 52 ff. 59 Corbitt v. New Jersey, 439 U.S. 212 (1978). 60 Fed.R.Crim.P. 11 (a). 61 Amendment VI, ebenfalls einschlägig ist das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen (Amendment V) sowie dasjenige auf Konfrontation mit den Zeugen (Amendment VI). Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter D. 62 Diese Form existiert in etwa der Hälfte der Bundesstaaten sowie auf Bundesebene, wobei hier eine beschuldigte Person nur mit gerichtlicher Zustimmung auf nolo contendere plädieren darf (Fed.R.Crim.P. 11 [b)); LaFave/Israel, § 21.4, S. 932. 63 Ranke v. United States, 873 F.2d 1033, 1037 n. 7 (7 th Cir. 1989). 64 Vgl. Dressler, S. 559 Fn. 3, Herman, S. 125. 65 Fed.R.Crim.P. 11 (c). 66 Fed.R.Crim.P. 11 (d). 67 Fed.R.Crim.P. 11(e)(4).

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hen. 68 Zwar ist ein Schuldbekenntnis keinem Rechtsmittelverzicht gleichzusetzen,69 da es dem Beschuldigten unbenommen bleibt, die staatliche Machtausübung bei Erhebung der Anklage zu beanstanden,70 aufgrund des ihm inhärenten Verzichts auf essentielle Rechte versperrt es dem Beschuldigten allerdings die Möglichkeit, sich im Nachhinein gegen solche, vor allem verfahrensrechtliche, Vorgehensweisen zu wehren, die mit der Abgabe seines Schuldbekenntnisses zusammenhängen. 71 Mit seinem conditional plea nun bekennt sich der Beschuldigte einerseits zwar ebenfalls für schuldig, behält sich aber andererseits die Möglichkeit gerichtlicher Klärung von Rechtsfragen vor. 72 Stellt sich bei einer nachträglichen Überpriifung ein Rechtsverstoß heraus, kann der Beschuldigte sein bedingtes Schuldbekenntnis zuriickziehen und den Weg der Hauptverhandlung beschreiten. 73 Wahrend conditional pleas auf Bundesebene grundsätzlich möglich sind, wobei Annahme und Zuriickweisung wiederum im unüberpriifbaren Ermessen des Gerichts liegen,74 beschränken einige Staaten die rechtliche Überpriifung auf Ausnahmefälle,75 andere verbieten sie gänzlich. 76 Welche der genannten Möglichkeiten der Beschuldigte als Erwiderung auf die Anklage wählt, bestimmt sich nach der Art der zu erwartenden Zugeständnisse von Seiten des Staatsanwalts, die wesentlich vielfältiger und weitreichender als solche im Rahmen einer deutschen Absprache sind. 77 Sie beziehen sich im amerikanischen Verfahren auf den Anklagevorwurf (charge) und das Strafmaß (sentence). So kann der Staatsanwalt zusagen, eine weniger schwere Straftat anzuklagen, indem er bspw. nur das Grunddelikt und nicht die Qualifikation anklagt, oder er kann von 68 Fed.R.Crim.P. 11(a)(2); LaFavellsrael, § 21.6 (b), S. 951 f.; Bickel, S. 79 ff. Das conditional plea kommt selten zur Anwendung, da es dem Interesse der Finalität entgegensteht. Die Strafprozessordnung des Staates New York bspw. sieht die Möglichkeit eines conditional plea nicht einmal vor. Auch sind Versuche einer Einführung vom New York Court of Appeals immer wieder unterbunden worden, vgl. People v. Campbell, 73 NY2d 481, 486 (1989), People v. Di Raffaele, 55 NY2d 2324 (1982), People v. Thomas, 53 NY2d 338 (1981). 69 So aber wohl Damaska, StV 1988, 398. 70 Dies umschließt eine mögliche Behauptung, die Anklageschrift habe keine konkrete Straftat genannt, vgl. United States v. Cooper, 956 F.2d 960 (10th Cir. 1992) oder eine solche eines Verfassungsverstoßes des angeklagten Straftatbestands, vgl. Herman, S. 123. 71 So kann der Beschuldigte keine Formverstöße der Anklageschrift, unzulässige Beweismittel, unrechtmäßige Festnahme oder Verweigerung eines zügigen Verfahrens beanstanden. Begründet wird diese Konsequenz eines guilty plea mit der anderenfalls beeinträchtigten Rechtssicherheit und einer zu erwartenden Flut sich lange hinauszögernder Verfahren. Vgl. Herman, S. 122 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. 72 Lefkowitz v. Newsome, 420 U.S. 283 (1975). 73 Fed.R.Crim.P. 11 (a)(2). 74 Ein Anspruch auf Abgabe eines conditional plea besteht somit nicht, United States v. Davis, 900 F.2d 1524 (10th Cir. 1990). 75 Vornehmlich auf Verstöße bei der Beweissicherung wie in Conneticut oder New Jersey. 76 So bspw. Minnesota und Texas. 77 Vgl. die Ausführungen zum Opportunitätsprinzip im US-amerikanischen Verfahren unter V.S. 97 ff.

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der Anklage weiterer Delikte ganz absehen (sog. count bargaining)78. Allerdings kann die Bandbreite solcher Zugeständnisse wie im Staat New York nach Erhebung der Anklage (post-indictment) gesetzlich eingeschränkt sein. 79 Vor der endgültigen Formulierung der Anklageschrift (pre-indictment) ist jedoch eine Rücknahme einiger Anklagepunkte für den Beschuldigten aus zweierlei Gründen erstrebenswert: Zum einen wird das amerikanische Strafverfahren vom Ne ultra petitaGrundsatz geprägt, bereits fallengelassene Anklagepunkte können daher zu einem späteren Zeitpunkt nicht wieder Eingang in das Verfahren finden, zum anderen weisen die einzelnen Delikte in vielen Einzelstaaten differenzierte Tatbestandsabstufungen und entsprechend divergierende Strafdrohungen auf. Zwar kann der Beschuldigte bei der Verhandlungsform des sog. charge bargaining eigenverantwortlich über die Abgabe eines Schuldbekenntnisses entscheiden und das Risiko einer sehr hohen Freiheitsstrafe reduzieren, Gewissheit erlangt er dadurch aber nur über den konkreten Anklagevorwurf, nicht aber über das tatsächliche Strafmaß, da dieses im Gegensatz zu den vorgebrachten Anklagepunkten nicht im Ermessen des Staatsanwalts liegt. Allerdings kann durch das Fallenlassen einzelner Anklagepunkte zumindest eine Strafobergrenze festgelegt werden. 8o Um seine Verhandlungsposition zu verbessern versucht der Staatsanwalt jedoch meist, den Beschuldigten durch eine aufgeblähte Anklage (overcharging) zur Abgabe eines Schuldbekenntnisses zu bewegen. 81 Gefördert wird die staatsanwaltliche Taktik des overcharging dadurch, dass nicht nur über den Anklagevorwurf und die Strafe, sondern auch über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung, die Gestaltung von Bewährungs- und Strafvollzugsbedingungen oder das Absehen einer Verfolgung nahestehender Personen verhandelt werden kann. Dass Vereinbarungen um ein Schuldbekenntnis sich mithin auf den Strafvorwurf, das Strafmaß und letztlich auch den Strafvollzug beziehen können, verdeutlicht die durch das plea bargaining gebotenen Möglichkeiten, die den einzelnen Verfahrens beteiligten rechtlich zugedachten Rollen zu manipulieren. Ist Bezugspunkt der Verhandlungen um ein Schuldbekenntnis das Strafmaß selbst (sentence bargaining), kann das staatsanwaltliche Zugeständnis eine Zusage sein, keine Höchststrafe, sondern eine für den Beschuldigten günstigere Strafe zu beantragen. 82 Dies wird der Staatsanwalt vornehmlich dann anstreben, wenn die 78 79

VII.

Neubauer, S. 218. NY CPL § 220.10.5. und zu diesen gesetzlichen Einschränkungen ausführlich unter

80 Dies ist allerdings bei einer stärkeren richtlinienbedingten Bindung richterlichen Strafzumessungsermessens wie auf der Ebene des Bundes und mancher Einzelstaaten nur bedingt möglich. Vgl. ausführlich zum System der Strafzumessung nachstehend unter V. 81 Massaro, StV 1989,454,457, vgl. auch ABA Standards for Criminal Justice - Prosecution and Defense Function (1993), 3 - 3.9, S. 76. 82 Vgl. die Ausführungen zum System der Strafzumessung unten v., insbesondere zur Beeinflussung des Strafmaßes durch den Staatsanwalt unter C.I.2. und dem verbleibenden Strafzumessungsermessen des Richters unter C III.

A. Entstehung und rechtliche Grundlagen des plea bargaining

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Beweislage bezüglich einzelner Delikte oder strafschärfender Umstände dürftig ist und er im Fall gescheiterter Verhandlungen besagte Delikte dem Beschuldigten nur mit Mühe wird nachweisen können. Meist folgt der Richter der ausgehandelten Strafmaßempfehlung des Staatsanwalts. Hält ein Richter die Empfehlung für nicht angemessen und leistet er ihr nicht Folge, so hat der Beschuldigte in der Bundesgerichtsbarkeit die Möglichkeit, sein guilty plea zurückzuziehen. 83 Unterschiedlich gehandhabt wird die richterliche Beteiligung beim sentence bargaining. Je nach Jurisdiktion ist entweder eine Beteiligung des Richters an den Verhandlungen oder dessen Verzicht auf sein Strafzumessungsermessen vorgesehen, wobei Vor- und Nachteile richterlicher Mitwirkung am plea bargaining umstritten sind. 84 Während in manchen Bundesstaaten eine richterliche Beeinflussung des plea bargaining stillschweigend akzeptiert wird, nimmt der Richter auf der Ebene der Bundesgerichtsbarkeit wie auch in einigen Bundesstaaten am plea bargaining nicht teil, entscheidet aber über die Annehmbarkeit des ihm von den Parteien in einer öffentlichen Sitzung unterbreiteten Verhandlungsergebnisses. Wird dieses nicht gebilligt, kann der Beschuldigte sein guilty plea zurückziehen und den Weg der Hauptverhandlung beschreiten. 85 Zum Verständnis der weitreichenden Folgen eines guilty plea ist an dieser Stelle auf die Unterschiede zwischen dem amerikanischen formellen Schuldbekenntnis und dem deutschen Geständnis hinzuweisen. 86 Im deutschen Strafverfahren ist ein im Rahmen einer Absprache abgelegtes Geständnis wie auch sein Widerruf nur Beweismittel, das neben anderen der freien Beweiswürdigung unterliegt, § 261 StPO, und aufgrund des Ermittlungsgrundsatzes ein Beweisverfahren nicht hinflillig macht,87 wie dies beim amerikanischen Schuldbekenntnis für eine weitere Beweisaufnahme der Fall ist, sondern es allenfalls erheblich verkürzt. 88 Einem absprachebedingt abgelegten Geständnis kommt daher hier keine so herausragende Bedeutung zu wie einem Schuldbekenntnis im amerikanischen Verfahren, das eine Verpflichtung zur Wahrheitsfindung in gleichem Ausmaß nicht kennt. Dies kommt u. a. durch Fed.R.Crim.P. l1(e). Vgl. hierzu in diesem Teil unter C. IV 1., ferner Anderson, Judicial Participation in the Plea Negotiation Process, 10 Hamline Journal of Public Law and Policy, (1989) 39 ff.; Alschuler, The Trial Judge's Role in Plea Bargaining, 76 Colum.L.Rev. (1976) 1059 ff.; Damas/W, StV 1988,399, der aus amerikanischer Sicht Bedenken an der herausragenden Rolle des deutschen Richters äußert, Massaro, StV 1989,454,455. Begriindet wird das Verbot richterlicher Teilnahme mit Befangenheitsbefürchtungen und der Gefahr, durch die Anwesenheit des über die Strafe entscheidenden Richters unzulässigen Druck auf den Beschuldigten auszuüben. Für eine richterliche Teilnahme wird die damit verbundene Reduzierung des für den Beschuldigten bestehenden Risikos auf einen ungewissen Prozessausgang angeführt, Alschuler, 76 Colum.L.Rev. (1976) 1129, Weigend, Strafzumessung, ZStW 94 (1982), S. 212 ff. 85 Fed.R.Crim.P. l1(e). 86 Vgl. zu den Geständnisbegriffem im adversatorischen Strafprozess Bickel, S. 38 ff. 87 § 244 11 StPO. 88 Vgl. Herrmann, 53 U.Piusburgh L.Rev. (1992) 763, unter Verweis auf die vor fast 30 Jahren durchgeführte Studie von Casper & Zeisel, 1 J.Legal Stud. (1972) 135, 150. 83 84

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die Abgabe eines sog. Alford-plea zum Ausdruck, wonach ein Schuldbekenntnis des Beschuldigten selbst unter gleichzeitiger Versicherung seiner Unschuld zulässig ist. 89 Auch ist das Schuldbekenntnis im amerikanischen Parteienprozess kein Beweismittel. Hier wird lediglich der Anklagevorwurf nicht bestritten, der Strafanspruch des Staates anerkannt, was das grundlegende Anliegen einer Konfliktlösung90 im amerikanischen Strafverfahren und damit die Weiterführung des Verfahrens zur Feststellung der Schuld hinfällig macht. Die Abgabe eines guilty plea hat daher unmittelbar erledigende Wirkung und leitet das Verfahren in die Phase der Strafzumessung über, es sei denn der Richter weist das Schuldbekenntnis ausnahmsweise zurück. 91 Dann aber kann der Beschuldigte sein Schuldbekenntnis zurückziehen, womit jeder Rückgriff auf das einmal abgelegte Bekenntnis verwehrt ist. 92 Aufgrund der weitreichenden Folgen dürfen Geständnis bzw. Schuldbekenntnis in beiden Verfahrenssystemen dem Schuldspruch nicht ohne weiteres zugrunde gelegt werden. Die Überprüfung durch den amerikanischen Richter beschränkt sich dabei auf Bedeutungskenntnis und Freiwilligkeit des abgelegten Schuldbekenntnisses,93 wogegen sein deutscher Kollege ein Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen hat. In den USA liegen seit 1975 zumindest auf Bundesebene gesetzlich geregelte Prüfungskriterien vor, Fed.R.Crim.P. l1(c)& (d), anhand derer sich der Richter Gewissheit darüber verschaffen soll, dass keinerlei Zwang auf den Beschuldigten ausgeübt wurde, er den gegen ihn vorgebrachten konkreten Anklagevorwurf kennt und sich der Folgen seines Bekenntnisses bewusst ist.94 Da89 North Carolina v. Alford, 400 U.S. 25 (1970). s. hierzu die obigen Ausführungen unter 11. 90 Vgl. hierzu ausführlicher die Ausführungen unter III.; ferner Alschuler, 50 U.Chi.L.Rev. (1983) 950, grundlegend Damaska, The Faces of Iustice and State Authority, S. 71 ff. und 109 ff., ders. ZStW 90 (1978), S. 829,842, Neubauer, S. 221. 91 Fed.R.Crim.P. 11 (e)(4). Auf Bundesebene bestehen detaillierte Regelungen zur richterlichen Überpriifung der Freiwilligkeit eines abgelegten Schuldbekentnisses, vgl. auch United States v. Rios-Ortiz, 830 F.2d 1067, 1070 (9th Cir. 1987). Die nicht an Fed.R.Crim.P. 11 gebundenen einzelstaatlichen Gerichte haben ein abgelegtes Schuldbekenntnis dahingehend zu überpriifen, ob es wissentlich, in Kenntnis seiner Folgen und vor allem freiwillig erfolgte (knowingly, intelligently, voluntarily), Boykin v. Alabama, 395 U.S. 238 (1969). 92 Fed.R.Evid. 411, vgl. aber United States v. Mezzanatto, 513 U.S. 196 (1995). 93 In Boykin v. Alabama, 395 U.S. 238 (1969), war das Freiwilligkeitskriterium erstmals zum unablässigen Erfordernis einer Annahme des Schuldbekenntnisses durch den Richter erklärt worden. Eingeschränkt wurde diese Entscheidung durch Brady v. United States, 397 U.S. 742 (1970), wonach ein bloß zur Vermeidung der Todesstrafe, mithin aus prozesstaktischen Erwägungen abgelegtes Schuldbekenntnis für zulässig erklärt wurde. Schließlich entschied der US Supreme Court in Bordenkireher v. Hayes, 434 U.S. 357 (1978), dass die Rechte des Beschuldigten auf ein ordnungsgemäßes Verfahren (due process) selbst dann nicht verletzt seien, wenn ihm der Staatsanwalt mit einer abermaligen Anklage schwerwiegenderer Delikte droht, sollte sich der Beschuldigte nicht zum ursprünglichen Anklagevorwurf schuldig bekennen wollen. 94 Vgl. hierzu die Ausführungen unter VII. Grundlegend zum rein formellen Verständnis der Freiwilligkeit schon Brady v. U.S., 397 U.S. 742 (1970), vgl. Herman, S. 128 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung.

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gegen liegt es im Ennessen des deutschen Richters, wie die Überprüfung eines Geständnisses auf seine Glaubwürdigkeit erfolgt. Sehr umstritten ist, ob ein Geständnis auch dann strafmildernd berücksichtigt werden darf, wenn es ersichtlich nicht aus echtem Reue- und Schuldgefühl heraus abgelegt wurde. 95 Da derlei subjektive Empfindungen des Angeklagten für den Richter aber objektiv schwer festzustellen sind, hat der BGH unlängst betont, dass auch ein absprachebedingt abgelegtes Geständnis einer Strafmilderung grundsätzlich nicht entgegensteht. 96 Ob ein Schuldbekenntnis als freiwillig abgegeben zur alleinigen Grundlage des Schuldspruchs gemacht wird oder ob dies durch richterliche Würdigung eines Geständnisses als so glaubwürdig und umfassend geschieht, dass sich weitere Beweiserhebungen erübrigen: Beide Verfahrenssysteme ennöglichen dem Gericht, das Schuldbekenntnis bzw. Geständnis nur pro fonna zu überprüfen. 97 Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass dies im deutschen Verfahren dem Untersuchungsgrundsatz zuwiderläuft, während in den USA dadurch nicht gegen Verfahrensprinzipien verstoßen wird. Ein weiterer grundlegender Unterschied betrifft den Weg in die Rechtsmittelinstanz. Aus bereits genannten Gründen versperrt sich der amerikanische Beschuldigte durch ein ordnungsgemäß abgelegtes Schuldbekenntnis zwar den Weg einer Überprüfung verfahrensrechtlicher Verstöße in der Rechtsmittelinstanz. Es wäre jedoch in doppelter Hinsicht irreführend, das amerikanische Schuldbekenntnis einem Rechtsmittelverzicht gleichzusetzen, da eine Ausfüllung beider Begriffe vor dem Hintergrund des deutschen Verfahrensrechts zu falschen Rückschlüssen führt: Während es einem Beschuldigten in den USA auch nach Abgabe eines Schuldbekenntnisses möglich bleibt, bestimmte verfassungsrechtliche Verstöße einer Überprüfung zu unterziehen,98 schneidet sich ein nach deutschem Recht Beschuldigter nach Erklärung eines Rechtsmittelverzichtes diesen Rechtsweg selbst ab. Das Geständnis im deutschen Strafverfahren ist im Gegensatz zum amerikanischen Schuldbekenntnis von einer Erklärung auf den Verzicht von Rechtsmitteln vollkommen getrennt. Auch wenn auf Rechtsmittel im deutschen Verfahren nicht selten aufgrund einer Absprache verzichtet wird,99 berührt die Unzulässigkeit einer Absprache über das Verfahrensergebnis die Wirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts in der Regel nicht. 100

V gl. I.Teil D. 11. 2. c). BGHSt 43, 195. So im Ergebnis auch Tscherwinka, S. 161. 97 Gemäß Fed.R.Crim.P. 11 (h) bleiben sogar geringfügige Verstöße gegen die Überprüfungspflicht ohne Folgen, solange sie keine substantiellen Rechte des Beschuldigten verletzen. s. auch Marshall v. Lonberger, 459 U.S. 422 (1983). 98 Blackledge v. Perry, 417 U.S. 21 (1974). 99 Absolut unzulässig ist es aber, Rechtsmittelbefugnis und Strafhöhe im Rahmen einer Absprache zu verknüpfen, BGH St 43, 195. 100 Vgl. BGH Beschl.v. 20.6. 1997, NStZ 1997,611 sowie die Ausführungen im I. Teil, D I 3. 95

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V. Dispositionsmaxime und Strafverfolgungsermessen der Staatsanwaltschaft

Die medienwirksame Charakterisierung des amerikanischen Staatsanwalts 101 als unbeirrbaren, eloquenten Verfechter der Rechtsordnung ist allenfalls auf seine Rolle in der Hauptverhandlung zugeschnitten,102 ein Verfahrensstadium, das in den USA aufgrund der plea bargaining-Praxis seit Jahren eine Ausnahme darstellt und im Gegensatz zum Vorverfahren für diese Darstellung von untergeordnetem Interesse ist. 103 Wie eingangs erwähnt, dient das amerikanische Vorverfahren der Klärung der Anklageberechtigung. 104 Infolge der Aushandlungen sind die Rollen der Verfahrensbeteiligten dort zunächst nicht so eindeutig verteilt, wie dies im deutschen Verfahren der Fall ist. Denn da das Interesse an einer problemlosen Konfliktlösung Staatsanwalt, Richter und Verteidiger gleichermaßen verbindet, haben Staatsanwalt und Verteidiger auf der gemeinsamen Suche nach einer angemessenen Lösung des Falles gewissermaßen an der Richterrolle teil. Dieser quasi-richterlichen Rolle im Vorverfahren entsprechend kann der Staatsanwalt eine friihzeitige Verfahrens beendigung durch Schuldspruch herbeiführen lassen oder von einer Anklageerhebung ganz absehen. 105 Bestehen erhebliche Zweifel an der Schuld des Beschuldigten oder ist die Beweislage dürftig, so sind die Ermessensspielräume der Ankläger, von einer Anklage abzusehen, in Deutschland und den USA noch weitgehend vergleichbar. Da aber der amerikanische Staatsanwalt nicht wie sein deutscher Kollege an ein Legalitätsprinzip gebunden ist,I06 verfügt er auch sonst über einen enorm weiten Er101 Die Bezeichnungen variieren: Distriet Attorney, County Attorney, State's Attorney, Prosecuting Attorney etc. 102 Bereits vor gut zwanzig Jahren hat Weigend auf die Unmöglichkeit hingewiesen, das amerikanische Anklagewesen generalisierend zu beschreiben, Anklagebehörde, S. 590. Zu den Pflichten des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung ,vgl. Herrmann, S. 208 ff.; als wichtigste Fähigkeiten eines Staatsanwalts (und auch eines Verteidigers) führt Neubauer "fighting, negotiating, drafting, counseling and administering" an, S. 82 f. Bereits vor gut zwanzig Jahren hat Weigend auf die Unmöglichkeit hingewiesen, das amerikanische Anklagewesen generalisierend zu beschreiben, Staatsanwaltschaft, S. 590. 103 Legt der Beschuldigte erwartungsgemäß ein Schuldbekenntnis ab, so wird das Stadium der Hauptverhandlung nicht erreicht. Das Verfahren endet vielmehr in einer Art Anerkenntnisurteil ohne vorheriges Beweisverfahren, vgl. Weigend, Strafzumessung, ZStW 94 (1982), S. 200, 201. 104 Es sei abermals darauf hingewiesen, dass die grand jury in der Praxis weniger eigenständige Kontrolle ausübt, als ihr formell zustünde, sondern sich auch nach den Empfehlungen des Anklägers richtet, vgl. Paulsen, ZStW 77 (1965), S. 141, 156, Geisler, S. 24 ff.; Shannon, Grand jury: True Tribunal of the People or Administrative Agency of the Prosecutor?, 2 N.M.L.Rev. (1972) 141. 105 Vgl. zum ganzen ausführlich Weigend, Anklagebehörde, S. 610 ff. Nach Neubauer, S. 79, zeichnet sich ein amerikanischer Staatsanwalt durch Ermessen, Dezentralisierung, örtliche Autonomie und Wahlen aus. 106 Wenn dies in Deutschland auch in weniger weitreichendem Umfang der Fall ist, als nach Auffassung Langbeins, 78 Mich. L.Rev. (1979) 204, 211. Das amerikanische Verfah-

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messensspielraum, innerhalb dessen er über die Anklage, spätere Verfahrenseinstellung und im Rahmen des plea bargaining letztlich auch über das Strafmaß disponieren kann. Besteht kein Interesse an einer Strafverfolgung, wofür häufig pragmatische Gründe entscheidend sind, \07 so wird der Richter sein Einverständnis zur Einstellung des Verfahrens selten verweigern. Besteht nach Auffassung des Staatsanwalts hingegen ausreichender Anlass zur Anklageerhebung, \08 was zumeist nur Ergebnis einer summarischen Prüfung ist, bezeichnet er in seiner Anklageschrift den in Frage stehenden Lebenssachverhalt\09 sowie die Tatbestände, gemäß derer der Beschuldigte verurteilt werden soll, und steckt dadurch sowohl den tatsächlichen wie rechtlichen Rahmen des Verfahrens ab. Bereits vor Bestimmung des Anklage inhalts, aber vor allem nach dem preliminary hearing und der Entscheidung der grand jury, I \0 kann der Staatsanwalt die Anklage verbindlich abmildern 111 oder den Sachverhalt zugunsten des Beschuldigten abändern, um diesem die Abgabe eines guilty plea zu erleichtern. 112 Diese außerordentlich machtvolle Stellung des amerikanischen Staatsanwalts, die Bedingung für den Erfolg des plea bargaining ist, erklärt sich u. a. wie folgt: Fehlende Regelungen und Beschränkungen des Opportunitätsprinzips im amerikanischen Verfahrenssystem, 113 das uneingeschränkt auch für schwerste Delikte gilt, sind auf die politische Natur des Amtes eines renssystem kennt das Legalitätsprinzip weder als tlteoretischen Grundsatz noch als praktisches Ziel, Damaska, ZStW 87 (1975), S. 713, 730. 107 Amerikanische Staatsanwälte verfügen weder über genügend finanzielle noch persönliche Mittel für eine gleichmäßige Verfolgung aller bekanntgewordenen Straftaten. Derartige Sachzwänge sind für Auswahl und Schwerpunktbildung bei der Strafverfolgung entscheidend. Weigend spricht hier von einer Kosten-Nutzen-Analyse, Anklagebehörde, S.630. 108 Vorausgesetzt, die Anklageerhebung erfolgt durch ihn selbst. Doch selbst unter einer grand jury vermag der Staatsanwalt durch eigens dargebrachte Beweismittel die Entscheidung zu beeinflussen. Ob Anklage erhoben wird, bestimmt sich anhand der Chancen für eine Verurteilung des Beschuldigten. Werden diese als gering eingestuft, so ist dies nicht das Ergebnis bloßer Kalkulation, ob genügend Anlass zur Anklageerhebung besteht (vgl. § 170 I StPO), der amerikanische Staatsanwalt hat vielmehr die potentiellen Entscheidungen sämtlicher am Prozess mitwirkender Instanzen abzuschätzen. Nur in extremen Fällen diskriminierender Behandlung ist eine Entscheidung zur Strafverfolgung rechtlich angreifbar, vgl. fick Wo v. Hopkins, 118 D.S. 356 (1886), ferner LaFavelIsrael, § 13.4(a), S. 632, ferner ABA Standards for Criminal lustice - Prosecution and Defense Function (1993), 3 - 3.4 "Decision to charge" und 3 - 3.9 "Discretion in the Charging Decision". 109 Vgl. § 264 StPO. lIO Vgl. Weigend, Anklagebehörde, S. 604. 111 Indem er bspw. einzelne Anklagepunkte fallen lässt. 112 Die oftmals dem plea bargaining folgende Herabsetzung einer schwereren Straftat (felony) zu einem leichteren Delikt (misdemeanor) ist dabei als Kompromiss zwischen Absehen von Strafverfolgung und gesetzlich angedrohter langer Freiheitsstrafe anzusehen; vgl. hier zu den negotiating skills des Staatsanwalts Neubauer, S. 82. 113 Zur Vielzahl von Möglichkeiten des amerikanischen Anklägers, von einer Anklage abzusehen, vgl. Kamisar/LaFavelIsrael, S. 824 ff.; zur Abhängigkeit staatsanwaltlicher Ermittlungen von der Tätigkeit der Polizei, vgl. Weigend, Anklagebehörde, S. 596 ff., 607 ff.

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2. Teil: Das US-amerikanische Plea Bargaining System

Staatsanwalts und dessen Abhängigkeit vom Wählerwillen zurückzuführen, zumal er als Vertreter der Öffentlichkeit für das öffentliche Wohl einzustehen und sein Ermessen entsprechend auszuüben hat. Nicht selten ist das Amt des gewählten Staatsanwalts die erste Sprosse seiner politischen Karriereleiter, weshalb viele Staatsanwälte ihre Verfolgungsstrategie am Willen ihrer Wähler, ihr Ermessen zugunsten ihres politischen Rufes und einer Festigung ihrer Position ausrichten. 114 Dabei wirken sich effektive Strategien bei der Verbrechens bekämpfung, eine hohe Verurteilungsrate und gute Kontakte zu einflussreichen Verteidigern äußerst begünstigend auf die Stabilisierung seiner Stellung im Gefüge der Strafrechtspflege ausYs Weiterer Grund für die Etablierung des plea bargaining sind neben der in Form des charge bargaining schon festgelegten Tatsachenbasis für die spätere Strafzumessung die expliziten Strafmaßempfehlungen des Staatsanwalts. Trotz fehlender Bindungswirkung folgen Richter erfahrungsgemäß solchen Empfehlungen, weshalb das Erfolgspotential dieser Methode nicht allein staatsanwaltlichem Ermessen über das Vorbringen stafzumessungsrelevanter Tatsachen, sondern ebenso dem des Richters bei der Überprüfung derselben zuzuschreiben iSt. 116 Für den Erfolg des plea bargaining äußerst entscheidend sind somit die funktionale Einseitigkeit des amerikanischen Staatsanwalts 117 und sein sich auf sämtliche Stufen des Vorverfahrens auswirkendes, einer nennenswerten gerichtlichen Überprüfung entzogenes Ermessen. H8

VI. Das System der Strafzumessung Seit den achtziger Jahren wird plea bargaining auch durch Reformen der Strafzumessung entscheidend geprägt. Zwar ist den spezifischen Regelungen und deren Auswirkungen ein eigener Abschnitt gewidmet. H9 Eine gezwungenermaßen verallgemeinernde Skizzierung von Systemen und Interaktionen der Strafzumessung ist jedoch bereits an dieser Stelle zur Verdeutlichung der wichtigsten Beeinflussungsfaktoren des plea bargaining unumgänglich. Herman, S. 7; Herrmann, Der amerikanische Strafprozess, S. 133, 136. Schulhofer, Plea Bargaining as Disaster, 101 Yale L.J. (1992) 1987. 116 Vgl. hierzu eingehend Weigend, Strafzumessung, ZStW 94 (1982), S. 208 f. 117 Damaska, ZStW 90 (1978), S. 829, 832 ff. 11S Beide Faktoren haben deutliche Kritiker auf den Plan gerufen, die eine ungleichmäßige Anwendung des Strafrechts befürchten. Als vehementester Kritiker des weiten staatsanwaltlichen Ermessens kann wohl Albert Alschuler bezeichnet werden. V gl. nur seinen Beitrag "The Prosecutor's Role in Plea Bargaining", U.ChLL.Rev. (1968) 50 ff., in dem er als pragmatischen Entscheidungsgesichtspunkt für eine Anklage u. a. die Einstellungen der Polizei, die persönliche Beziehung zum Verteidiger, die Rasse des Beschuldigten oder die Wünsche des Opfers anführt. Anders. dagegen Herrmann, Der amerikanische Strafprozess, S. 133, 139. 119 V gl. unten VII. 114

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Die Strafzumessung ist im amerikanischen Strafverfahren von der Schuldfeststellung vollkommen getrennt. Den Schuldspruch fällt grundsätzlich die jury, worauf das Gericht den Schuldiggesprochenen verurteilt. 120 Erfolgt die Sanktionsfindung nach Durchführung einer Hauptverhandlung, so werden weitere Informationen über den Schuldiggesprochenen eingeholt und er wird zur Verhinderung einer bloß summarischen Sanktionsfindung nebst Verteidiger im sentence hearing nochmals zum Tathergang und seinen Motiven befragt. 121 1. Strafzumessung ohne Richtlinien - Reformbestrebungen

Urspriinglich verfügte der Richter über weites Strafzumessungsermessen und war keiner nennenswerten Kontrolle unterworfen. Eine fehlende Begriindungspflicht 122 ermöglichte ihm, das Strafmaß nicht strikt an denjenigen Anklagepunkten auszurichten, derer der Täter schließlich tatsächlich für schuldig befunden wurde. 123 Diese weitreichenden richterlichen Befugnisse setzten der monopolistischen Stellung des Staatsanwalts im plea bargaining einiges entgegen, zumal der Staatsanwalt seine während der Verhandlungen um das Schuldbekenntnis unterbreiteten Vorschläge auf die mögliche richterliche Entscheidung zur Strafzumessung zuschneiden musste. 124 Richterliches Ermessen zur Strafzumessung stellte gewissermaßen die Parameter für die Reichweite des plea bargaining auf, an denen sich der Staatsanwalt unter Beriicksichtigung der Wahrscheinlichkeit und des Preises des von ihm erstrebten Ziels zu orientieren hatte. Obwohl das Strafmaß im Einzelfall nicht vorhersehbar war, vermochten Staatsanwälte auch unter diesen Bedingungen die richterliche Gewichtung von Vergeltung, Abschreckung und Resozialisierung um so besser abzuschätzen, je länger sie mit den Strafzumessungsgewohnheiten des jeweiligen Richters vertraut waren. 125

Zur Rolle der jury bei der Strafzumessung vgl. LaFavellsrael, § 26.2(b), S. 1093. Bestrebungen, die Strafe weitestgehend auf die Persönlichkeit des Taters abzustellen, wurde in unterschiedlichen Regeln Rechnung getragen: 18 U.S.C. §§ 3552 ff.; Fed.R.Crim.P. 32(c). Dennoch liegen der amerikanischen Strafzumessung weniger der Grundgedanke des Behandlungsbedürfnisses des Taters, sondern die Vergeltungsidee und die aufrechtzuerhaltende Rechtsordnung zugrunde (vgl. nur Andrew von Hirsch, Doing Justice, 1976; Frankel, Criminal Sentences, 1973). Aber auch andere Straftheorien werden ernsthaft diskutiert: So bspw. die Verhinderungs strategien (incapacitation theories), wonach eine Verhängung längerer Freiheitsstrafen insbesondere gegen Gewalttäter die Gesellschaft vor Wiederholungstätern schützen soll. Teiltheorie dieser Verhinderungsstrategien ist die These der selective incapacitation, wonach besonders hohe Freiheitsstrafen über all diejenigen Tatern verhängt werden sollen, die aufgrund bestimmter Merkmale weitere Verbrechensbegehungen erwarten lassen. Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Strafzumessung in den USA findet sich bei Weigend, Köln-FS, S. 584 ff. 122 SchulhoferlNagel, 27 Am.Crim.L.Rev. (1989) 231,236. 123 Vgl. hierzu das Beispiel bei Standen, 81 Cal.L.Rev. (1993) 1471, 1506 f. 124 Standen, 81 Cal.L.Rev. (1993) 1471, 1474, 1502. 120 121

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Kritisiert wurde das weite richterliche Ennessen bei der Strafzumessung vor allem deshalb, weil es eine ganz unterschiedliche Behandlungen von Delikten vergleichbaren Unrechtsgehaltes mehr als wahrscheinlich machte. 126 Um Rechtssicherheit, -gleichheit und Verhältnismäßigkeit bei der Strafzumessung zu erzielen, wurde deshalb in den siebziger Jahren zunehmend deren Verrechtlichung und Systematisierung gefordert. 127 Als vorrangiges Ziel hatte man dabei die Reduzierung richterlichen Ennessens durch die Vorgabe von kombinierbaren Delikts- und Tätermerkmalen sowie Strafgrößen vor Augen. 128 Die Abschaffung der unbestimmten Freiheitsstrafe in vielen Einzelstaaten war ein erster Versuch, richterliches Ennessen bei der Strafzumessung einzuschränken. 129 Die neugeschaffenen Strafrahmen waren jedoch - für kontinentaleuropäisches Verständnis - so exorbitant weit gefasst, dass auch sie einer Eingrenzung richterlichen Ennessens nicht dienlich waren. Die auf Bundesebene in Folge des Sentencing Refonn Act von 1984 130 drei Jahre später durch eine unabhängige Strafzumessungskommission (U.S. Sentencing Commission)131 erlassenen Richtlinien zur Strafzumessung (Federal Sentencing Guidelines, U.S.S.G.)132 stellten einen weiteren Versuch dar, den Ennessens125 Dies gilt auch für die Beriicksichtigung mildernder Faktoren, begriindet durch die Umstände der Tat oder die Persönlichkeit des Täters, sowie für diejenigen durch die gewählte Strafe anfallenden Kosten. 126 Schulhofer/Nagel, 27 Am.Crim.L.Rev. (1989) 237. 127 Vgl. Uphojf, S. 122 mwN.; Schulhofer/Nagel, 27 Am.Crim.L.Rev. (1989) 237. 128 Albrecht, Strafzumessung, S. 141. 129 LaFave/lsrael, § 26.1, S. 1088. 130 Titel 11 des Comprehensive Crime Control Acts von 1984, Pub.L.No. 98-473, § 236, 98 Stat. 1837, 2033 (1984). Der Reform Act fand sowohl bei den Republikanern Anklang, die sich von ihm ein Ende zu großer richterlicher Nachsicht erhofften als auch bei den Demokraten Zustimmung, die weites richterliches Ermessen oftmals zu Lasten ethnischer Minderheiten oder minderbemittelter Angeklagten angewandt sahen; Taha, S. 16, Fn. 66. 131 Bei Weigend, Köln-FS, S. 592 finden sich eine kurze Darstellung der Sentencing Commission des Staates Minnesota sowie weitere diesbezügliche Nachweise. Die Frage der verfassungsmäßigen Zugehörigkeit ist strittig, so dass im Zusammenhang mit sentencing commissions häufig von einer durch die Legislative geschaffenen Kommission die Rede ist, die verbindliche Richtlinien aufstellt, vgl. die Bezeichnung bei Tonry in von Hirsch/Knapp /Tonry, S. 16. Taha bezeichnet die U.S. Sentencing Commission als "independent agency in the judiciary", S. 16. Ihre Verfassungsmäßigkeit erklärte der US Supreme Court mit der Entscheidung Mistretta v. United States, 488 US 361 (1989). Die Kommission kann dem Kongress jährlich Richtlinien und Amendments bekanntgeben, die 180 Tage nach der Bekanntgabe automatisch in Kraft treten, sofern in dieser Zeit kein entgegenstehendes Gesetz erlassen wird. Vgl. 28 U.S.c. § 991(b). 132 In Kraft getreten am 1. 11. 1987. Die Klärung verfassungsrechtlicher Fragen verhinderte jedoch eine lückenlose Anwendung bis Januar 1989. In der Entscheidung United States v. Mistretta, 488 U.S. 361 (1989) vom 19. Januar 1989 erklärte der United States Supreme Court die Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien, so dass sie für alle Gerichtsbarkeiten Bindungs wirkung entfalteten. Eine verfassungswidrige Übertragung gesetzgeberischer Gewalt auf die Strafzumessungskommission wurde nicht festgestellt. Mittlerweile finden die Richtlinien auf die meisten nach Bundesrecht strafbaren Delikte Anwendung (d. h. auf über neunzig Prozent aller Bundesverbrechen und Vergehen der Kategorie A, Gyurci, 78 Minn.L.Rev.

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spielraum des Richters durch quasi-gesetzgeberische Kontrolle einzuengen,133 um Ungleichmäßigkeiten in der Strafzumessung zu verringern, wobei die Refonn auf pragmatischen Erwägungen gründete, ohne eine Umorientierung der Strafzumessungsdogmatik zu bewirken. 134 Neben dem Bund haben auch viele EinzeIstaaten Strafzumessungsrichtlinien aufgestellt. 135 Die den U.S.S.G. zeitlich vorausgehenden Richtlinien Minnesotas 136 erfuhren bei weitem größere Akzeptanz als die U.S.S.G. und dienten vielen Staaten als Modell, weil sie eine bessere Wirkung im Hinblick auf eine einheitliche, vorhersehbare Strafzumessung zeigten. 137 Sie basieren auf der Idee einer gerechten und fairen, an der Tatschwere orientierten Strafe, verbunden mit utilitaristischen und präventiven Argumenten. 138 Richtlinien mit präzisen Strafmaßen wie in Kalifornien,139 bei denen jedem Tatbestand ein verbindliches Strafmaß zuzuordnen ist,14O schränken das richterliche Ennessen schließlich am stärksten ein.

2. Strafzumessung unter den (Federal) Sentencing Guidelines

Da die Strafzumessung ein interaktives Verfahren der am Strafverfahren Beteiligten ist, wird beim Eingriff in diesen Prozess durch Sentencing Guidelines von systembedingten Gegenreaktionen gesprochen. 141 Unstrittige Auswirkung der bislang erlassenen Richtlinien auf die Strafzumessung ist eine Verlagerung des Strafzumessungsennessens vom Richter auf den Staatsanwalt und Bewährungsbeamten (probation officer) und als Konsequenz eine veränderte Vorgehensweise beim plea bargaining, weshalb weitere Richtlinien zur Regelung der staatsanwaltschaftlichen [1994], 1253, 1256, Fn. 21). In einigen Staaten besteht nunmehr ein Strafzumessungssystem aus Richtlinien in Verbindung mit festgesetzten Strafmaßen (determinate sentences), in anderen mit unbestimmten Strafmaßen (indeterminate sentences), LaFave/lsrael, § 26.I(k), S. 1089, § 26.3(c), S. 1097. 133 Weigend, Köln-FS, S. 583; Purdy/Lawrence, Plea Agreements Under the Federal Sentencing Guidelines, 26 Crim.Law Bulletin (1990) 483 ff. 134 Einen Überblick über Straftheorie und -methodik in den USA verschafft Uphojf, S. 80 ff., 141. 135 Alaska, Minnesota, Pennsylvania, Florida, Michigan, Washington, Utah, Wisconsin, Delaware, Oregon, Tennessee, Virginia, Lousiana, Kansas, Arkansas, North Carolina und Ohio. 136 In Kraft getreten im Mai 1980; Parent, Structuring Criminal Sentences. The Evaluation of Minnesota's Sentencing Guidelines, 1988. 137 Taha, S. 27 sowie Uphojf, S. 151 mit jeweils weiteren Nachweisen. 138 Albrecht, Strafzumessung, S. 139 f. 139 Hier allerdings verfügt der Richter über relativ weites Ermessen, ob überhaupt freiheitsentziehende Sanktionen zu verhängen sind. 140 Wobei Abweichungen aufgrund ebenfalls bestimmter straferschwerender oder -mildernder Umstände möglich sind. 141 Alschuler, 126 U.Pa.L.Rev. (1978) 574. 8 Dreher

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2. Teil: Das US-amerikanische Plea Bargaining System

Absprachenpraxis gefordert werden. 142 Kritisiert wird darüber hinaus, dass die richtlinienbedingten Kategorisierungen nach Tat- und Tätermerkmalen der Vielschichtigkeit des Einzelfalles nicht gerecht werden könnten 143 und eine neue Quelle für Ungleichheiten bei der Strafzumessung darstellten, während die erstrebte Rechtssicherheit ausbleibe. l44 Ferner bedingten die von den Richtlinien vorgegebenen Strafrahmen eine durchschnittlich ansteigende Dauer des Strafzumessungsverfahrens sowie der Strafdauer selbst,145 da das Ermessen bei der Verhängung einer individualisierten Strafe eingeschränkt und eine Abweichung vom vorgegebenen Strafmaß begriindungsbedürftig ist. 146 Ins Kreuzfeuer der Kritik sind besonders die Federal Sentencing Guidelines (U.S.S.G.) geraten. 147 Auch sie haben das bis 1987 tatbezogene in ein anklagenbezogenes Strafzumessungssystem umgewandelt, wobei zur Ermittlung des Strafmaßes tatbezogene Kriterien mit Vorstrafenbelastungen verbunden werden. 148 Erbeutet bspw. ein Ersttäter bei einem Banküberfall $ 15.000, verwendet dabei eine Waffe und verletzt eine Person leicht, so wird er unter einem tatbezogenen System (realoffense) unabhängig von der konkreten Anklageschrift wegen aller nachweisbaren Tatelemente verurteilt werden,149 während sich die Strafe unter einem rein anklagebezogenem System (charge offense) nur an den tatsächlich zur Anklage gebrachten Taten ausrichtet, was bei schwerer Nachweisbarkeit des Waffengebrauchs zu einer erheblichen Strafabsenkung führen kann. Da die realen Tatelemente unter den U.S.S.G. jedoch auf anderem Weg als über die Anklage in die Strafe einfließen und hierin ein real offense-Ansatz liegt, werden kritische Beweispunkte in informelle Verfahrensphasen verlagert 150 und die Bedeutung des Verfahrens an sich geVgl. Uphoff, S. 148. Alschuler, U. Colo.L.Rev. (1993) 723 f., Schulhofer/Nagel. 27 Am.Crim.L.Rev. (1989) 238. 144 Alschuler, U. Chi. L.Rev. (1991) 916. 145 Vgl. schon Coffee, 66 Geo.L.J. (1978) 1078. 146 Umfassend hierzu Gelacak/NagellJohnson, 81 Minn.L.Rev. (1996) 299. Vgl. ferner Schulhofer, 29 Am.Crim.L.Rev. (1992) 861. 147 Zu den wichtigsten Kritipunkten vgl. Fischer, S. 155 ff. 148 An dem vor Inkraftreten der U.S.S.G. bestehnden ,,real offense" System wollte die Kommission zunächst festhalten. Dies hätte sie jedoch vor die unlösbare Aufgabe einer Kodifizierung sämtlicher strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen gestellt, weshalb das jetzige Richtlinienkonstrukt an der Anklage ausgerichtet ist und insoweit einern "charge offense" System näherkornrnt. Ein aufschlussreicher Überblick über Entstehungsgeschichte und Inhalt der U.S.S.G. findet sich bei Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing Guidelines - eine Chance [tir das deutsche (Steuer-)Strafrecht?, 1999, S. 119 ff. 149 Der Ausgangsstrafrahmen für einen derartigen Fall könnte 20 sein, zusätzlich einer zweistufigen Anhebung für die Tatsache, dass die Institution Bank überfallen wurde, einer einstufigen Anhebung für die Geldmenge, einer siebenstufigen Anhebung für die Waffe und einer zwei stufigen Anhebung für die Körperverletzungen. Die Strafe für eine derartige Tat rangiert zwischen 121-151 Monaten. 150 "Cooperation gets you out ofthe guidelines and the courts don't want to deny pleas ... The commission should look at plea bargaining and U.S.S.G. § 5K1.1. Everything else is 142

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schmälert. Zudem gelten die U.S.S.G. nicht nur als unpraktikabe1, unflexibel und technokratisch in der Anwendung, sondern auch als zu harsch hinsichtlich der Strafuöhen l51 und deshalb für einen Strafanstieg und eine Zunahme der Gefangnispopulation verantwortlich. So haben Untersuchungen ergeben, dass die unter den U.S.S.G. durchschnittlich zu verbüßende Freiheitsstrafe mehr als doppelt so lange wie eine solche vor Inkrafttreten der U.S.S.G. ist. 152 Anzuzweifeln ist auch, ob die von der Sentencing Commission beabsichtigten Ziele in Bezug auf G1eichheit I53 , Sicherheit im Sinne von Vorhersehbarkeit l54 und Verhältnismäßigkeit der Strafzumessung erreicht wurden. Die United States Sentencing Commission erkannte zwar insbesondere die Umgehung der Strafzwecke im plea bargaining, wertet jedoch die geringe Anzahl von Abweichungen der von den U.S.S.G. vorgegebenen Strafrahmen als Nachweis gleichmäßiger Strafzumessung. 155 Auch hinsichtlich einer durch die V.S.S.G. zu gewährleistenden gleichförmigen Strafzumessung sind wegen der Beeinflussungsmöglichkeiten der Verfahrensbeteiligten Bedenken angebracht. Die United States Sentencing Commission beschränkt sich jedoch auf vereinzelt Appelle zu richtlinienkonformem Verhalten und sieht bis dato von weitergehenden Eingriffen ab.

under close scrutiny, but these are the greatest sources of disparity." - Aussage eines Bewährungsbeamten, United States Sentencing Commission, The Federal Sentencing Guidelines 1991, S. 109. 151 Hier sind die Meinungen unter den Praktikern allerdings gespalten: In einer Studie von 1991 waren 65% der Richter und 83% der Staatsanwälte der Auffassung, die Richtlinien führten zu angemessenen Strafen. Etwas weniger, aber immer noch überwiegende Zustimmung zu den U.S.S.G. bekräftigen Bewährungsbearnte, während bezeichnenderweise Verteidiger in überwiegender Anzahl die Richtlinien für viel zu harsch halten, auch wenn von dieser Seite die Reduzierung richterlichen Ermessens bei der Strafzumessung begriisst wird. In der Literatur herrscht die Auffassung zu harscher Strafen ebenfalls vor, vgl. nur Tonry, U.Colo.L.Rev. (1993) 715. 152 So ist seit Inkrafttreten der U.S.S.G. die Anzahl der zur Bewährung ausgesetzten Bundesdelikte stark zuriickgegangen, die durchschnittliche Dauer der verhängten Freiheitsstrafen, insbesondere aber diejenige bei Drogendelikten hat sich stark erhöht. Vgl. hierzu nur die Untersuchung von Heaney, The ReaIity of Guidelines Sentencing, 28 Am.Crim.L.Rev. (1991) 176 ff. und deren Besprechung bei Schulhofer, 29 Am.Crim.L.Rev. (1992) 833 ff. 153 Als angestrebt, aber unerreicht sieht Heaney, 28 Am.Crim.L.Rev. (1991) 185 ff., diese Gleichförmigkeit der Strafzumessung (proportionality) an, während Schulhofer nicht eine extrem ungleichmäßige Strafzumessung (excessive disparity), sondern eine übermäsige Einheitlichkeit derselben für problematisch erachtet, 29 Am. Crim.L.Rev. (1992) 851 ff.; vgl. ferner Uphoff, S. 138. 154 Sicherheit bei der Verhängung einer Strafe soll durch das sog. ,,real-time sentencing" erreicht werden. Das vom Richter verhängte Strafmaß soll dabei mit der tatsächlich verbüßten Strafe identisch sein. 155 3 Fed. Sent. Rep. 152, 153 (1990). 8*

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2. Teil: Das US-amerikanische Plea Bargaining System

a) Richtlinieninteme Komponenten der Strafmaßermittlung

Sämtliche Delikte sind auf einer vertikalen Achse in eine Skala von Schweregraden eingeteilt (offense levels),156 innerhalb derer sich weitere tatspezifische Abstufungsmöglichkeiten befinden,157 die zusammen mit der auf der horizontalen Achse abzulesenden insgesamt sechs Vorstrafenkategorien (criminal history category) eine Strafzumessungstabelle (sentencing guidelines grid) bilden, aus der sich die Strafmaße sämtlicher Delikts- und Vortatkonstellationen ablesen lassen. 15S Innerhalb des so ermittelten Feldes liegt es im Ermessen des Gerichtes, das Strafmaß zu wählen. 159 Durch Berücksichtigung tatspezifischer Anpassungen, wie Tatverhalten und -folgen, ist es dem Richter auch unter der technokratischen Ermittlung des Ausgangsstrafrahmens möglich, die Strafe ansatzweise zu individualisieren. 16o Eine nicht unerhebliche Rolle spielt dabei der vom probation office angefertigte unverbindliche presentence report,161 der einen im Anschluss an zahlreiche Gespräche mit dem Angeklagten, Staatsanwalt und Zeugen erarbeiteten Vorschlag über den anzuwendenden Strafzumessungsspielraum enthält. Hält der Richter sich nicht an den Bericht und hält er eine Abweichung vom Regelstrafmaß für geboten, so hat er seine Auffassung zu begründen. 162 156 Bei den Richtlinien des Bundes lässt sich jedes Delikt in eines von insgesamt 19 Verbrechenskategorien einfügen. Für jedes Verbrechen ist ein Grundstrafmaß festgesetzt, das je nach Beschaffenheit des Verbrechens um weitere Stufen (levels) erhöht werden kann. 157 Dadurch kann eine Tat einer der 43 offen se levels zugeordnet werden. Abstufungen erfolgen durch opferbezogene Kriterien, Beurteilungen über die Beziehung des Taters zur Tat, solche über das Maß der Beeinträchtigung der lustizbehörden, vorstrafenbezogene Kriterien und schließlich Anhaltspunkte zur Verantwortungsbereitschaft des Taters. (Der strafschärfende Charakter der Vorstrafen sowie die faktische Beriicksichtigung des Prozessverhaltens des Täters durch plea bargaining scheinen nach amerikanischem Modell mit dem an sich an der Tatschuld ausgerichteten Sanktionierung nicht unvereinbar zu sein). ISS s. hierzu auch Fischer; S. 137,leßberger; S. 195 ff. In den Staaten ohne Sentencing Guidelines sind die Merkmale der Tat und der Taterpersönlichkeit die entscheidenden Kriterien zur Strafzumessung; vgl. hierzu Weigend, Strafzumessung, ZStW 94 (1982), S. 200, 217. LaFave/lsrael, § 26.3(c), S. 1097 f. 159 Ein Angeklagter, dessen Tat sich bspw. in den V.S.S.G. auf die Verbrechensstufe 22 einordnen lässt und dessen kriminelle Vorgeschichte Stufe I erreicht, erwartet ein Strafmaß von 41 - 51 Monaten. Muss sein Vortatverhalten unter Stufe VI eingeordnet werden, so bewegt sich das richterliche Strafzumessungsermessen zwischen 84 und maximal 105 Monaten. 160 Derartige Faktoren sind Spätfolgen der Tat für das Opfer, das Opferverhalten, die (eingeschränkte) Schuldfähigkeit des Taters etc., Federal Sentencing Guidelines, 41 The Criminal Law Reporter (1987) 3140-3142; vgl. auch Herman, S. 79 f. 161 Einige Staaten fordern einen presentence report für bestimmte Delikte (so vor allem für Verbrechen, nicht aber für Vergehen), andere Staaten erlauben sogar mit der Zustimmung des Angeklagten einen presentence report noch vor der Abgabe eines guilty pleas oder der Verhandlung zu erstellen. 162 18 U.S.c. § 3553 (c); LaFave/lsrael, § 26.3(c), S. 1098; in der überwiegenden Anzahl der Fälle wird jedoch den Vorschlägen des Presentence Report gefolgt, vgl. Heaney, 28 Am. Crim. L. Rev. (1991) 164 Fn. 14.

A. Entstehung und rechtliche Grundlagen des plea bargaining

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Seine Entscheidung ist durch ein Appellationsgericht überprüfbar. 163 Abweichungen erfolgen in rund 30% der Fälle, wobei in knapp 20% der Fälle allein aufgrund sogenannter substantial assistance strafmaß senkend abgewichen wird. l64 Diese erhebliche Unterstützung (substantial assistance motion) stellt eine der wichtigsten Ausnahmen bei der Strafzumessung mittels Tabelle dar, da sie in Fällen einer Kooperation des Schuldiggesprochenen mit den lustizbehörden eine Abweichung vom Regelstrafmaß erlaubt. 165 Grundsätzlich hat nur der Staatsanwalt die Entscheidungsbefugnis über einen Antrag auf Abweichung vom Regelstrafmaß wegen erheblicher Unterstützung,166 das Gericht kann diese folglich nicht alleine gewähren. Es hat jedoch alleinige Entscheidungsbefugnis über Annahme oder Ablehnung des vom Staatsanwalt gestellten Antrages sowie über das zu verhängende Strafmaß. 167 Gibt das Gericht dem Antrag statt, so entscheiden u. a. die Nützlichkeit der vom Schuldiggesprochenen angebotenen Hilfe, die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit seiner Informationen und mögliche ihm drohende Gefahren über das Ausmaß der Strafmilderung. Staatsanwälte, die einen Antrag nur bei entsprechender Tauglichkeit der Hilfe des Schuldiggesprochenen stellen sollten, gingen dazu über, dieses Mittel der Strafmaßreduzierung auch in solchen Fällen zu initiieren, in denen es der Sache nach nicht passt. 168 Es liegt auf der Hand, dass substantial assistance motions nunmehr wichtiger Bezugspunkt im plea bargaining sind 169 und dem Staatsanwalt, der allein darüber entscheidet wann eine Information substantiell i.S.v. § 5Kl.1 U.S.S.G. ist, damit ein starkes Repressionsmittel an die Hand gegeben wurde.

163 18 U.S.c. § 3742 (a), (d); auf strafmaßrelevante Fragen gestützte Berufungen haben nicht selten Erfolg, Heaney, 28 Am. Crim. L. Rev. (1991) 163. 164 1994 verblieben 71,7% der Strafmaße innerhalb des Richtlinienbereichs, 1,2% der Fälle wurde zugunsten einer Erhöhung, in 7,6% zugunsten einer Absenkung entschieden, The Fifth Annual National Seminar on the Federal Sentencing Guide1ines, S. 13. 165 § 5Kl.1 U.S.S.G. ,,[u]pon motion of the government stating that the defendant has provided substantial assistance in the investigation or prosecution of another person who has committed an offense, the court may depart from the Guidelines." Eine vergleichbare Regelung findet sich in 18 U.S.C. § 3553(e), wonach das Gericht vom anwendbaren Mindeststrafmaß aufgrund entsprechenden Antrags des Staatsanwalts abweichen darf. Auch Fed.R.Crim.P. 35(b) sieht eine antragsabhängige Reduzierung eines bereits verhängten Strafmaßes vor. Vgl. hierzu Jeßberger, S. 216 ff., 239 ff. 166 Bestätigt durch Wade v. U.S., 504 U.S. 181 (1992); zu Möglichkeiten, diese staatsanwaltliche Ermessenfrage zu überprüfen, vgl. Gyurci, 78 Minn.L.Rev. (1994) 1253, 1257. 167 U.S. v. Mariano, 983 F.2d 1150, 1155 f. (1 sI Cir. 1993). 168 Vgl. zur Frage objektiver Beurteilungsstandards Jeßberger, S. 233 ff. 169 Typischerweise erklärt sich der Angeklagte bereit, staatliche Untersuchungen zur Verbrechensaufklärung zu unterstützen und alle ihm vom Staatsanwalt gestellten Fragen aufrichtig und vollständig zu beantworten, sofern dieser im Gegenzug die Kooperation des Angeklagten als "substantial assistance" wertet. Eine derartige Vereinbarung kann schriftlich oder mündlich erfolgen, United States v. Martin, 25 F.3d 211, 217 (4th Cir. 1994).

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2. Teil: Das US-amerikanische Plea Bargaining System

b) Einflussnahme der Veifahrensbeteiligten auf das zu ermittelnde Strafmaß

Trotz erfolgter Einschränkungen des richterlichen Strafzumessungsermessens finden sich keine Regelungen zur Gewichtung von Informationen, die für die Kategorisierung der Tat und des Taters und damit für das konkrete Strafmaß ausschlaggebend sind. Neben herkömmlichen Informationen über Tat und T