Kontrolle und Repression: Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971-1989. Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History 9783666369070, 9783525369074, 9783647369075, 3525369077


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German Pages [496] Year 2006

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Kontrolle und Repression: Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971-1989. Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History
 9783666369070, 9783525369074, 9783647369075, 3525369077

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Gerhard Besier Band 30

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Babett Bauer

Kontrolle und Repression Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971–1989) Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-36907-7 ISBN 13: 978-3-525-36907-4 Umschlagabbildung: Überwachungseinrichtung der DDR-Staatssicherheit Bild: @ Punktum / Bertram Kober © 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Danksagung Der Versuch allen gerecht zu werden, endet notwendig in der Unversöhnlichkeit. (Heiner Müller)

Ohne die Schilderung individueller Erfahrung des Lebens in der ehemaligen DDR hätte diese Studie nicht entstehen können. In ihrem Mittelpunkt stehen deshalb die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die bereit waren, ihre erinnerten Lebensgeschichten zu erzählen. Ihnen gilt für ihr Vertrauen und ihre Offenheit mein erster Dank. Sie haben mir auf unvergleichliche Weise das Verständnis für ihr Leben in der DDR nahe gebracht. Für die offene und kritische Betreuung in Augsburg durch Herrn Prof. Dr. Wolfgang E. J. Weber möchte ich mich herzlich bedanken. Zahlreiche persönliche Gespräche und Zusammenkünfte innerhalb des wissenschaftlichen Kolloquiums konnten das Entstehen dieser Studie entscheidend voranbringen. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Prof. Dr. Andreas Wirsching verpflichtet. Seine stets konstruktive Kritik und sein kontinuierlicher Zuspruch, was die endgültige Realisierung des Projekts anbetraf, waren für mich Impuls und Ansporn auch unkonventionelle methodische Wege in der zeithistorischen Forschung zu begehen. Für sein über die Fertigstellung der Dissertation hinausgehendes Engagement, das mir den wissenschaftlichen Austausch mit dem Hannah-Arendt-Institut in Dresden ermöglichte, gebührt ihm ein zusätzlicher Dank. Ohne die Unterstützung zahlreicher Institutionen hätte das Projekt nicht realisiert werden können. Die Alfred Freiherr von Oppenheim-Stiftung förderte die Dissertation mit einem zweijährigen Stipendium. Weiterhin danke ich sowohl dem Leiter der Außenstelle Chemnitz der BStU Herrn Dr. Martin Böttger als auch seinem Vorgänger Herrn Andreas Steiner sowie Herrn Dr. Johannes Raschka im Auftrag des Hannah-Arendt-Instituts für die Vermittlung von ZeitzeugInnen. Bei der Suche nach entsprechenden Akten haben mir Frau Sabine Dintner, Herr Walter Hofmann und Herr Holger Horsch als Mitarbeiter der Außenstelle Chemnitz der BStU kompetente Hilfe geleistet. Bedanken möchte ich mich auch bei allen Mitarbeitern in den besuchten Archiven und Bibliotheken. Im Rahmen meiner Arbeiten an dieser Studie hatte ich zugleich Gelegenheit ein Praktikum in der Gedenkstätte Hohenschönhausen zu absolvieren. Diese herausragende berufliche wie persönliche Erfahrung verdanke ich Frau Mechthild Günther. Eine Vielzahl anderer Menschen hat zum Gelingen der vorliegenden Studie beigetragen. Zuerst Dr. Eberhard Rothfuß, der mich von Anbeginn auf den methodischen Seitenpfaden der Geschichtswissenschaft konstruktiv begleitet hat. Meinem langjährigen Freund Thomas Brand, der mit „studienrätlicher“ Gewissenhaftigkeit alle Mühen des Korrekturlesens auf sich nahm, danke ich ganz besonders. Für die ermutigenden Gespräche und nächtelangen, fruchtbringenden Diskussionen sei meinen beiden treuen Mitstreitern und Freunden Oliver Ernst © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Danksagung

und Stefan Paulus herzlichst gedankt. In der Endphase der Arbeit erfuhr ich zudem äußerst engagierte Korrekturhilfe von Sylvia Bauer-Rothfuß, Dr. Claudia Buhles, Oliver Ernst, Wolfgang Kolenda, Stefan Paulus, Dr. Eberhard Rothfuß und Michael Schewetzky. Meinem Lebenspartner Wolfgang gilt mein ganz persönlicher tiefer Dank. Er hat mich durch die Jahre wissenschaftlichen Arbeitens in jeglicher Hinsicht vorbehaltlos und trotz aller Entbehrungen stets begleitet und bestärkt. Schließlich richte ich den innigsten Dank an meine Schwester Sylvia sowie an meine Eltern, deren beständiger und unerschütterlicher Rückhalt die Fertigstellung der Dissertation erst ermöglichten. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. Der Herausgeber der Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herr Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier hat die Aufnahme der Dissertation in die Reihe ermöglicht. Seinem Einsatz für eine zügige Veröffentlichung sowie Herrn Dr. Clemens Vollnhals und Herrn Dipl.-Ing. Walter Heidenreich für die Drucklegung sei gedankt. Augsburg, im Frühjahr 2005

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Babett Bauer

Inhalt 1.

Einleitung

11

2.

Quellenkritik

23

3.

Methodologische Grundlegung und methodische Konzeption – Erhebung der Erinnerungsinterviews Wissenschaftstheoretischer Bezugsrahmen und handlungstheoretischer Ansatz Methodologische Folgerungen – Qualitatives Paradigma Empirische Quellenerhebung im Methodenspektrum der qualitativen Sozialforschung Narratives Erinnerungsinterview Auswahl der ZeitzeugInnen Erhebung der Interviews Transkription der Interviews Auswertung und Analyse – Typenbildung

3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 4. 4.1 4.2

5.

5.1 5.2

Gesellschaftlich-normative Aspekte und Wirklichkeiten des Realsozialismus Systemtheoretische Grundpfeiler der DDR-Gesellschaft Identität und subjektive Befindlichkeit der DDR-BürgerInnen im Kontext einer Organisationsgesellschaft Herrschaftssicherung und Durchsetzung gesellschaftlichnormativer Ansprüche – Entwicklungslinien des Instrumentariums Staatssicherheit Einblicke – Machtfaktoren und Funktionswandel von 1950 bis 1989 Innenansichten zur veränderten Arbeitsweise der 70er und 80er Jahre – „Methodenwechsel“ und „Operative Psychologie“

Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen und ihrer Bewältigung – Innenansichten der Wahrnehmung und Handlungsstrategien 6.1 Typus I – Konsequente Systemablehnung im Familienmodell „Flucht“ und Aussetzung der biographischen Selbstbestimmung durch Inhaftierung 6.1.1 Grundlegende Prägungen, Einstellungen und Wertigkeiten in Kindheit und Jugend 6.1.1.1 Erziehung in der Familie – Kindheit und frühe Jugend

33 33 38 39 39 41 42 44 49

53 53 58

65 65 83

6.

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8 6.1.1.2 6.1.2 6.1.2.1 6.1.2.2 6.1.2.3 6.1.3 6.1.3.1 6.1.3.2 6.1.4 6.1.4.1 6.1.4.2 6.1.5 6.1.5.1 6.1.5.2 6.1.5.3 6.1.6 6.1.6.1 6.1.6.2 6.2

6.2.1 6.2.1.1 6.2.1.2 6.2.2 6.2.2.1 6.2.2.2 6.2.2.3 6.2.3

Inhalt

Schulische Erziehung und berufliche Ausbildung im Jugendalter Wahrnehmung des Alltags im DDR-Staatssozialismus Identitätsstiftende Momente und Konfliktfelder Wahrnehmung überwachungsstaatlicher Strukturen Ausschlaggebende Motive für das Verlassen der DDR „Republikflucht“ Fluchtüberlegungen und ihre konkrete Planung Fluchtversuch – „Zuführung“ und Verhaftung Untersuchungshaftvollzug des MfS Haftbedingungen in den MfS-Untersuchungshaftanstalten und repressive Auswirkungen Verhöre – Situationsbeschreibungen, Wirkungsmechanismen und Strategien der Bewältigung Einflussnahme des MfS auf den politischen Strafprozess, Strafvollzug und Entlassung Ende der Ungewissheit – Strafprozess Einflussnahme des MfS auf den politischen Strafvollzug „Auf Transport“? – Haftentlassung durch das MfS Auswirkungen der Erfahrung staatsicherheitsdienstlicher Inhaftierung Gesundheitliche Folgeschäden und psychosoziale Belastungsmomente Existenzaufbau und konstruktive Verarbeitung – Lebensgestaltung in der Bundesrepublik bis 1989 Typus II – Individuelle Resistenz zur Erlangung persönlicher Selbstbehauptung und kollektive Systemopposition im Hinblick auf gesellschaftliche Reform Grundlegende Prägungen, Einstellungen und Wertigkeiten in Kindheit und Jugend Erziehung in der Familie – Kindheit Schule, Ausbildung und „Offene Arbeit“ – Entfaltung systemkritischen Bewusstseins im Jugendalter Loslösung aus verordneter Öffentlichkeit und Ausbildung einer Protesthaltung Individuelle Konfliktfelder und grundlegende Handlungsmotive Kollektive Orientierungen: Emanzipative Frauenfriedensgruppen und christlich motivierte Umweltarbeit Ausbildung alternativer Lebensweisen und Streben nach politischer Handlungsfähigkeit Disziplinierung innergesellschaftlichen Protests und politisch alternativer Reformbestrebungen – Formierung individueller Resistenz und kollektiver Opposition

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251 251 252 257 266 270 273 283

288

Inhalt

6.2.3.1 Bearbeitung systemkritischer, aus dem kirchlichen Umfeld kommender Einzelpersonen – Individuelle Ausbildung von Resistenz und Gegenwehr 6.2.3.2 Verfolgung oppositioneller Gruppen – Handlungsformen der kollektiven Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsarbeit und die Rolle der evangelischen Kirche 6.3 Typus III – Typus IV – Typus V 6.3.1 Typus III – Unpolitisches Dasein und erzwungene Kompromissbildung 6.3.1.1 Grundlegende politische Prägungen 6.3.1.2 Konfrontationsauslösende Momente: Politische Naivität und Sippenhaftung 6.3.1.3 Berufliche Degradierung und Erzeugung kontinuierlichen Misserfolgs – Zerstörung beruflicher Perspektiven sowie sozialer Beziehungsgeflechte 6.3.2 Typus IV – Kritisch-engagierte Identifikation und realsozialistischer Pragmatismus 6.3.2.1 Grundlegende politische Prägungen – Aufbaugeneration und Kinder des Realsozialismus 6.3.2.2 Momente staatssicherheitsdienstlicher Bearbeitung 6.3.3 Typus V – Kritische Distanz und politische Doppelexistenz 6.3.3.1 Prägungen – Wahrnehmung staatlich-autoritärer Mechanismen in Kindheit und Jugend 6.3.3.2 Konfliktverstärkende Alltagsmomente – Abkehr vom „Sozialismus zum Anstehen“ und imaginäre Flucht in medial-inszenierte Lebenswirklichkeiten des Westens 6.3.3.3 Konfrontationen – Versuche demonstrativen Protesthandelns und konsequentes Signalisieren von Nonkonformismus 7. 7.1

7.2

7.3 7.4

8.

9

290

302 347 348 348 353

359 372 372 381 394 394

402 404

Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale, kontrastiver Vergleich und zentrale Charakteristika der Typologie 425 Typus I – Konsequente Systemablehnung im Familienmodell „Flucht“ und Aussetzung der biographischen Selbstbestimmung durch Inhaftierung 425 Typus II – Individuelle Resistenz zur Erlangung persönlicher Selbstbehauptung und kollektive Systemopposition im Hinblick auf gesellschaftliche Reform 433 Typus III, Typus IV und Typus V 437 Kontrastiver Vergleich der Typen und zentrale Charakteristika der Typologie 441 Resümee und Ausblick

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10 9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6

Inhalt

Anhang Abbildungen InterviewpartnerInnen – Pseudonyme Transkriptionsnotation Unveröffentlichte Quellen Literatur Abkürzungen

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1.

Einleitung

„Hör zu“, sagt Aron diesmal. „Du behauptest, du hast meine Geschichte aufgeschrieben, und ich behaupte, dass du dich irrst, es ist nicht meine Geschichte. Im günstigsten Fall ist es etwas, was du für meine Geschichte hältst.“1

Am Beginn von Jurek Beckers Roman Der Boxer kommt es zu einem Disput zwischen seinem Protagonisten Aron Blank und dem Ich-Erzähler. Letzterer ist bemüht, aus den in zahllosen Gesprächen protokollierten Äußerungen Blanks dessen Lebensgeschichte niederzuschreiben. Blank jedoch steht diesem Vorhaben skeptisch gegenüber und äußert bedenkenswerte Einwände. Seine Argumentation weist dabei über ihre werkimmanente Bedeutung hinaus und gibt der hier im Zentrum stehenden zeithistorischen Erinnerungsforschung Anlass, sich in Selbstvergewisserung zu üben, das wissenschaftliche Tun auf der Grundlage seiner spezifischen methodischen Konzeptionen einmal mehr zu reflektieren.2 Übergeordnet formuliert Blank das Dilemma eben jener Teildisziplin zeithistorischer Forschung, welche das historische Subjekt zentriert und dezidiert mit ihm in Kommunikation tritt. Die Vertreter der Oral History wurden seitens der Sozialgeschichte noch Ende der achtziger Jahre als „Barfußhistoriker“3 gescholten, zuweilen werden ihre Arbeiten bis heute mit dem Etikett des Subjektivismus4 versehen und deshalb abgelehnt. Sie selbst jedoch fordern auf – insbesondere auch für die Erforschung der DDR-Geschichte –, Brücken zu schlagen „zwischen jenen, die über ‚Lebenswelten‘ und ‚Subjekte‘, ‚Verarbeitungsmechanismen‘ und ‚Erfahrungen‘ arbeiten wollen, und den Vertretern einer dominant politischen Historiographie.“5 Die in diesem Kontext anhaltende, an die Erfahrungsgeschichte herangetragene Kritik bildete deshalb einen entscheidenden Ausgangspunkt der grundsätzlichen Überlegungen für die Gestaltung der hier vorliegenden wissenschaftlichen Studie: Wie sollte man ihrem thematischen Feld, ihrem Gegenstand und ihrer Fragestellung aus einer alltagsgeschichtlichen Perspektive in Konzentrati1 2

3 4 5

Becker, Boxer, S. 10. Als Beispiel einer solchen kritischen Reflexion und Analyse ist die exzellente Arbeit von Jureit zu benennen. Sie stellt hierin erstmals narrative ZeitzeugInneninterviews als zentrale Quellen zeitgeschichtlicher Forschung in den Mittelpunkt und erarbeitet deren Komplexität im Zusammenspiel von Erfahrung, Erinnerung und Erzählung. Aus dieser methodischen Betrachtung entwickelt sie einen interdisziplinären Ansatz zur Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews. Vgl. Jureit, Erinnerungsmuster; in konkreter Auseinandersetzung mit der „historischen Zunft“ vgl. Plato, Zeitzeugen und historische Zunft, S. 5–29. Wehler, Alltagsgeschichte, S. 151. Dies gibt einer der profiliertesten deutschen Erfahrungshistoriker in seinen Veröffentlichungen stets zu bedenken. Vgl. Plato, Lebensgeschichte und Geschichte, S. 149. Plato, Oral History als Erfahrungswissenschaft, S. 439. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Einleitung

on auf die individualbiographische Dimension wissenschaftstheoretisch und methodologisch gerecht werden? Schon bald wurde einsichtig, dass das zur Verfügung stehende Methodenspektrum geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, das heißt im geisteswissenschaftlichen Sinne primär also hermeneutisches Textverstehen, in Verbindung mit der Methodik der Oral History nicht genügte, um die Facetten alltäglichen Lebens in der DDR unter der Prämisse staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle und Repression adäquat einzufangen. Sollten die jeweiligen Wandlungen und Krisen in den individuellen Wahrnehmungs- und Handlungsstrategien erkennbar und die dabei thematisierten Lebenswelten6 in Rückbindung zur Gesellschaft wie zum Staatswesen in der Ära Honecker nachvollziehbar und verständlich gemacht werden, musste man sich – speziell in methodischer Hinsicht – vielmehr im interdisziplinären Raum bewegen. Dies bedeutete insbesondere in der Soziologie und der Psychologie Anleihen zu tätigen. Letztlich gewann die Studie ihre endgültige Gestalt zum einen aus der Spannung zeithistorisch-inhaltlicher Fragestellungen und sozialwissenschaftlich-objektivierender Methoden, zum anderen aus der „Deutungskonkurrenz zwischen persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichtsschreibung“7. Ihre Form versuchte sich damit einer Konzeption zeithistorischer Erkenntnis und Forschung anzunähern, auf welche Bourdieu in einem seiner „ausdauerndsten Kämpfe“ zielte, nämlich „die Entstehung einer vereinigten Sozialwissenschaft zu fördern, wobei Geschichte historische Soziologie der Vergangenheit“8 repräsentieren sollte. Konzeptioneller Rahmen: Die folgende Studie, die sich im Kontext der Aufarbeitung von Repressionsgeschichte in der DDR bewegt, strebt nach einer differenzierten Analyse und Darstellung individueller Lebenswirklichkeiten und Entscheidungsprozessen in der Konfrontation mit staatlicher Kontrolle und Repression in der DDR. Getragen wird ihr konzeptioneller Rahmen dabei von den zentralen Komponenten Alltag und Diktatur9, von der Frage nach deren Ver6

7 8 9

Die Definition des Begriffs Lebenswelt folgt jener von Schütz/Luckmann: „Lebenswelt ist der Inbegriff einer Wirklichkeit, die erlebt erfahren und erlitten wird. Sie ist aber auch eine Wirklichkeit, die im Tun bewältigt wird, und die Wirklichkeit, in welcher – und an welcher – unser Tun scheitert. Der Alltag ist jener Bereich der Wirklichkeit, in dem uns natürliche und gesellschaftliche Gegebenheiten als Bedingungen unseres Lebens unmittelbar begegnen, als Vorgegebenheiten, mit denen wir fertig zu werden versuchen müssen.“ Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Band 2, S. 11. Kleßmann, Zeitgeschichte, S. 254. Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie, S. 68 f. Der moderne Diktaturbegriff beinhaltet unter anderem: 1. die ohne einen Rechtfertigungszwang, hier unter der Errichtung einer monolithischen Staatspartei staatlich ausgeübte Alleinherrschaft der Parteielite, 2. die Verletzung von Bürger- und Menschenrechten, 3. die Unterwerfung gleichsam des gesellschaftlichen und politischen Lebens unter die Strukturen der Diktatur, das heißt vor allem durch Einbindung in Massenorganisationen, 4. das Eindringen der Diktatur in private Sphären der Bevölkerung, 5. die Unmöglichkeit politische Alternativen in einer Öffentlichkeit zu diskutieren, 6. das Funktionieren eines Überwachungs- und Geheimpolizeiapparates. Vgl. bspw. Steinbach, Wahrnehmung von Diktaturen, S. 42 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Einleitung

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hältnis zueinander innerhalb einer realsozialistischen Gesellschaft, ihrer Entwicklungen und Umgestaltungen. Den Diktaturcharakter des SED-Regimes zentriert sie im Kontext alltäglicher Erfahrungsdimensionen. Gemeint ist damit Alltag im Sinne einer Definition, welche das Beständige, Wiederkehrende, „Repetitive des menschlichen Handelns und Denkens“, das durch Habiti10 gleichsam typisch Gewordene abbildet, welches aus „subjektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen“ als Konstrukt individueller Lebenswelten erschließbar wird.11 Innerhalb dieses Alltags offenbaren sich die Eingriffe der Diktatur, hier insbesondere durch die repressiven Mechanismen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), in private Lebenswelten. In welchem Ausmaß und mit welcher individualbiographischen Relevanz sich dieses Ineinandergreifen von System12 und Lebenswelt gestaltet, wie sich „die politische Unterwerfung [...] in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben“ haben, gilt es zu untersuchen. Die Interdependenz der ‚Akteure‘ untereinander, das heißt „die doppelsinnige Relation zwischen den objektiven Strukturen (den Strukturen der sozialen Felder) und den inkorporierten Strukturen (den Strukturen des Habitus)“13 werden fokussiert. Dieses über den traditionellen Herrschaftsbegriff14 hinausweisende und sich von einer objektivisti10 Habitus im Sinne Bourdieus meint ein durch Erfahrung erworbenes, zur zweiten Natur generiertes System von Dispositionen, welche in der Gegenwart überdauern und sich in der sozialen Alltagspraxis fortsetzen. Vgl. ausführlich in Kap. 3.1. Vgl. die Definition des Erfahrungsbegriffs im Kontext der Quellenkritik von Erinnerungsinterviews in Kap. 2. 11 Vgl. Borscheid, Alltagsgeschichte, S. 390. Vgl. zur Definition der Alltagswelt in diesem Sinne auch Berger/Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 26. 12 System wird im Folgenden als übergeordnete Begrifflichkeit für das realsozialistische Staatswesen der DDR, unter Führung der jeweils machtausübenden SED-Parteielite verwendet. Aufgabe dieses politischen Systems war es, die gesellschaftliche Wirklichkeit diktatorisch zu strukturieren. Politisch agierten darin alle diejenigen, die Kommunikationen in der Gesellschaft, die sich auf Macht für noch unbestimmte kollektiv bindende Entscheidungen (Handeln ist Entscheiden) beziehen. Politisch ist allgemein die Bildung von Formen im Medium der Macht. Macht ist das „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium“ des politischen Systems. Macht ist codiert als die Differenz von Macht besitzen oder keine Macht besitzen; durch den permanenten Gewinn oder Verlust von Macht wird das politische System erhalten. Als politisches System war die DDR organisatorisch ebenso nach Zentrum und Peripherie differenziert. Im Zentrum befand sich die Staatsorganisation, in der Peripherie die an der Konsensbeschaffung beteiligten Institutionen und Organisationen, aber auch die für die Betrachtung bedeutende Kirche in ihrer Zwischenstellung sowie die sich später kristallisierende politisch alternative Protestbewegung. Vgl. Becker/Reinhardt-Becker, Systemtheorie, S. 90–98. 13 Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 7. 14 Weber definiert unter der Entwicklung der drei bekannten Idealtypen politischer Herrschaft das grundlegende Verständnis von Herrschaft als ein asymmetrisches Machtverhältnis, das durch den Einsatz von entsprechenden Zwangsmitteln gesichert, in modernen Gesellschaften zusätzlich durch ein Minimum an ideologischem Legitimitätsglauben gefestigt wird. Vgl. Weber, Typen der legitimen Herrschaft, S. 475. Die DDR-Diktatur lässt sich jedoch innerhalb dieser Definition – auch wenn sie den folgenden Überlegungen zugrunde liegt – nur unzureichend einfangen. Das hier vorgetragene Verständnis geht im Sinne einer Definition von „Herrschaft als sozialer Praxis“ (Lüdtke; vgl. FN 23) über das Webersche hinaus und orientiert sich an dem zuletzt in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

14

Einleitung

schen Beschreibung der sozialen Welt abgrenzende Verständnis orientiert sich zum einen an einer „Phänomenologie der subjektiven Welterfahrung“, welche die „objektiven“ Strukturen und deren „subjektive“ Wahrnehmung in einer permanenten handelnden Interaktion betrachtet, zum anderen an einer „durch und durch historischen Auffassung des Sozialen. [...] Begründet – und verstehbar – ist die soziale Welt nur in Beziehung auf die Geschichte, als ‚Produkt zu Dingen gewordener früherer Entscheidungen‘.“15 Diese Wechselwirkungen gilt es zu analysieren und darzustellen. Denn im „Grenzfall [...] ist die soziale Welt das Produkt der individuellen Handlungen. Danach verhalten sich die Menschen nicht etwa respektvoll, weil es Hierarchien gibt; vielmehr erwächst die Hierarchie letztlich aus den unendlich vielen individuellen Respektshandlungen. Die politischen Implikationen sind auf Anhieb einsehbar. Auf der einen Seite die Sprache der objektiven Herrschaftsstrukturen, der objektiven Kräfteverhältnisse; auf der anderen Seite die Addition unendlich vieler Respektshandlungen, aus der sich die Objektivität der sozialen Bindungen ergibt. Auf der einen Seite der Determinismus, auf der anderen die Freiheit, die Spontaneität.“16 Es geht demnach um die Erfassung zentraler Wirklichkeitsdimensionen des DDR-Alltags, das heißt auch um die Erfahrungen relativer Normalität des alltäglichen Lebens, jedoch stets unter der Prämisse des Diktaturcharakters der DDR, seiner Möglichkeiten und Grenzen. Diese Perspektive impliziert für eine geschichtswissenschaftliche Studie eine alltagshistorische Herangehensweise, die sich insbesondere in der Wahl des methodischen Vorgehens und des infolge gewählten Quellenkorpus ausdrückt. Die maßgebliche Grundlage der Erkenntnis – um dies vorwegzunehmen – bildet sich damit aus der synchronen Interpretation selbstständig erhobener narrativer ZeitzeugInneninterviews und den individuell zuordenbaren personenbezogenen Akten des MfS. Die Studie ist insofern stark auf den Erkenntnishorizont der ZeitzeugInnen angelegt, der Ausgangspunkt der gesamten Analyse ist. So werden die geäußerten narrativen Erfahrungen in den lebensgeschichtlichen Interviews auf eine Rekonstruktion der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata hin kontextualisiert und in einen übergeordneten Sinnzusammenhang gestellt. Erst aus diesem Verständnis werden weiterführende Abstraktionen möglich. Deshalb ist bereits an dieser Stelle, das heißt für die Erhebung, Auswertung und Interpretation der Interviews, methodologisch auf einen handlungstheoretischen Zusammenhang hinzuweisen: die erkennbaren Möglichkeiten und Restriktionen individuellen Handelns deuten auf Identität und

der geschichtswissenschaftlichen DDR-Forschung von Lindenberger geäußerten Verständnis von Herrschaft, das „immer auch als Interaktion“ zu begreifen ist. Vgl. Lindenberger, Diktatur der Grenzen, S. 22 f. 15 Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 190 (Zitat innerhalb: Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden, S. 52). 16 Bourdieu, Soziologische Fragen, S. 86. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Einleitung

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Lebenswelt in der DDR, zugleich auf die ihnen zugrundeliegenden systemkonstituierenden staatlichen Machtstrukturen.17 Der alltagshistorische Zugriff birgt daher eine offensichtliche Begrenztheit der Erkenntnis für den zu analysierenden Gegenstand in sich. Die Untersuchung möchte demzufolge einzelne Lebensgeschichten aus der ehemaligen DDR in einer „dichten Beschreibung“18 nach allen für die Fragestellung biographisch relevanten Seiten ausleuchten. Sie kann zwar nicht alle Dimensionen des Alltags in der DDR erfassen, das heißt nicht zwingend kollektiv gültige Erfahrungen aufzeichnen, „wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen. So wie es immer überindividuelle Bedingungen und Voraussetzungen der je eigenen Erfahrungen gibt, so gibt es auch soziale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen – nationale natürlich – möglicher Erfahrungen. Sie wirken dann als Schleusen, durch die hindurch die persönlichen Erfahrungen gefiltert werden, sodass sich klar unterscheidbare Erinnerungen festsetzen.“19 Was die Studie daher leisten soll, ist die „Vielschichtigkeit und Komplexität der Informationen, gewissermaßen ihre Tiefendimension“20 der Wahrnehmungs- und Handlungsmuster erkennbar zu machen. So sollen die spezifischen Veränderungen der Wirklichkeitskonstruktionen in der Konfrontation mit Repressionsmechanismen durch das MfS interindividuell erschlossen werden, die sich – um terminologisch mit Bourdieu fortzufahren – habituell, in diesem Sinne als ein „Produkt der Geschichte“ äußern. Es gilt dieses Produkt, welches „individuelle und kollektive Praktiken nach den von der Geschichte erzeugten Schemata“ hervorbringt, greifbar zu machen und „die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen“21, zu gewährleisten. Fragestellung: Die vorliegende Dissertation versucht demzufolge innerhalb eines interdisziplinären Vorgehens eine neuartige Rekonstruktion der Dynamik von Biographien bzw. der Selbstwahrnehmung von Individuen auf die Beobachtung gesellschaftlichen Wandels im Hinblick auf politische Strukturen und Prozesse in der ehemaligen DDR. Die Fragestellung zielt dabei auf eine Analyse des Zusammenhangs von Diktaturerfahrung und individueller Identitätsstiftung ab, konkret aus der erinnerten Erfahrung von Konfrontationen mit dem Minis17 18

19 20 21

Eine ausführliche Darstellung der empirischen Vorgehensweise (Erhebung und Interpretation der Interviews) sowie ihrer zugrundegelegten handlungstheoretischen Methodologie und Methodik erfolgt in Kap. 3. Geertz, Dichte Beschreibung. In Anlehnung an Geertz hat Medick das Verfahren der „dichten Beschreibung“ für die anthropologisch-ethnologisch verfahrende Alltagsgeschichte in Deutschland im folgenden Sinne rezipiert: „Dichte Beschreibung bedeutet [...] auch, den [...] erstellten möglichst kompletten Text mit seiner Vielheit und Hierarchie von Bedeutungsstrukturen für spätere Interpretationen offenzuhalten.“ Medick, „Missionare im Ruderboot“?, S. 308. Koselleck, Gebrochene Erinnerung?, S. 21. Clemenz, „Wir können nicht besser klagen“, S. 9. Alle vorausgehenden Zitate Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 101. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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terium für Staatssicherheit und dem Versuch einer Rekonstruktion der Auslöser für bestimmte Denk- und Handlungsmuster in individuellen Entscheidungsprozessen. Drei Untersuchungsschwerpunkte wurden in der Frage nach individuellen Strategien und deren Umsetzung grundlegend: 1. Rekonstruktion der Maßnahmen des MfS anhand des jeweiligen MfS-Aktenbestandes in Verbindung mit den Wahrnehmungen und Handlungen der betreffenden Personen; 2. Analyse der individuellen Einschätzung von Absicht und Wirkung der Maßnahmen des MfS und in diesem Zusammenhang Untersuchung des Erlebens persönlicher Handlungsstrategien der Bewältigung; 3. dieser Schwerpunkt wendet sich sogleich der Erforschung der Hauptfrage nach der „individuellen Befindlichkeit“ zu, welche jene nach den individuellen Verarbeitungstiefen und der Beurteilung der vollzogenen Strategien in Bezug auf vollzogene Repressionen des MfS beinhaltet. Die erkenntnisleitende Fragestellung bewegt sich insofern auf zwei unterschiedlichen Untersuchungsebenen, welche einerseits die interaktive Dependenz der „objektiven Strukturen“22 des Systems und der subjektiven Lebenswelt des Einzelnen in der sozialistischen Gesellschaft, auf diese Weise andererseits die ‚soziale Praxis der Herrschaft‘23 widerspiegeln. Zunächst richtet sich der Blick auf das diktatorische Herrschaftswissen, wobei dieses spezifisch um die Frage nach differenzierten Formen staatssicherheitsdienstlichen Agierens seit den 70er Jahren kreisen wird. Das heißt, es geht konkret um die für diese Zeit festzustellende Verfeinerung der Methoden repressiver Strategien des MfS; dieses Faktum konnten Knabe und Raschka belegen.24 Ziel der Ausführungen auf dieser Ebene soll es schließlich sein, die Maßnahmen und Methoden des MfS für die jeweiligen Einzelfälle genau zu rekonstruieren und zugleich die vorliegende Klassifizierung um erkennbar gewordene neue Phänomene zu ergänzen, auch was im allgemeineren Kontext ihren Einfluss auf die Verfasstheit bestimmter gesellschaftlicher Bereiche anbelangt. Auf dieser Ebene sucht die Studie nach Antworten auf folgende Fragen: Wie und unter welchen Umständen und Gegebenheiten wurde subjektiv sinnhaft zielgerichtetes, aber auch unbewusstes Handeln in der DDR eingeschränkt? Aus welchen Situationen und Gründen, mit welchen Methoden, innerhalb welcher gesellschaftlicher Strukturen wurde in einem diktatorischen System wie der DDR (Selbst-)Wahrnehmung (fremd-)gesteuert und manipuliert? 22 Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 7. 23 Die Formulierung Herrschaft als soziale Praxis „verweist auf ein ‚Kräftefeld‘, in dem Akteure in Beziehung treten und stehen, in dem sie miteinander umgehen, auch wenn sie einander abweichen oder sich zu ignorieren suchen. Dabei ist dieses ‚Feld‘ keine statische Größe; seine Ausdehnung wie seine Konturen verändern sich in dem Maße, in dem die Akteure tätig werden oder untätig bleiben.“ Vgl. Lüdtke, Einleitung: Herrschaft, S. 12 f. 24 Vgl. die Literaturangaben unter Forschungsstand. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Die zweite Ebene hebt auf folgende Fragestellung ab: Inwiefern ist in den einzelnen Lebensgeschichten erstens ein Spektrum der Konfrontationssituationen und zweitens des jeweiligen Umgangs damit erkennbar? Gibt es einen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Ausmaß der Konfrontation und den provozierten Handlungs- und Entscheidungsprozessen der Betroffenen? Wie veränderte sich dadurch deren individuelle Lebenswirklichkeit? Welche Handlungsspielräume und Strategien der Bewältigung waren im Kontext des Staatssozialismus möglich und sind individuell zu klassifizieren, schließlich interindividuell zu typologisieren und damit auf eine generelle Ebene als den Einzelfall zu heben? Im Mittelpunkt steht demnach der einzelne Mensch (im Kontext seiner biographischen Prägungen) in der Konfrontation mit den Mechanismen der Diktatur. Anders als in bisher vorliegenden Arbeiten versucht diese Fragestellung stärker aus der Perspektive des Alltags, der merklich oder unmerklich von den Mechanismen der Kontrolle, Überwachung und Repression durchsetzt war, einzugehen. Das auf die gesamtbiographische Dimension angelegte Erkenntnisinteresse und deren Einordnung in den historischen Prozess ermöglicht individuelle Erfahrungen in einer Diktatur in einen weiteren zeitlichen Kontext aufzunehmen, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten gleichsam der übergeordneten politischen System- und Gesellschaftsstrukturen erkennbar werden zu lassen. Quellen und Forschungsstand: Der auf beiden Untersuchungsebenen angelegte Perspektivwechsel vollzieht sich äquivalent zugleich innerhalb der synchronen Interpretation herrschaftlich erstellter, personenbezogener MfSAktenmaterialien und den komplementär dazu selbstständig erhobenen lebensgeschichtlichen Interviews mit den jeweiligen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen.25 Den äußeren Rahmen dieses Hauptquellenkorpus bilden zugleich ausgewählte, für die jeweiligen Einzelfälle relevante Richtlinien, Dienstanweisungen und Befehle des Ministers für Staatssicherheit bzw. der Leiter in den einzelnen Bezirksverwaltungen. Diese liegen größtenteils bereits veröffentlicht in den aufgeführten Quellensammlungen vor. Spezifischere Quellen, zum Beispiel Dienstanweisungen, die sich erst aus konkreten Einzelfällen filtern ließen, mussten in den Archiven der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) und ihrer Außenstellen erschlossen werden. Um entsprechende regionalspezifische Aspekte differenzierter zu beleuchten, konnten insbesondere bei der BStU, in der Außenstelle Chemnitz intern erstellte Stimmungsberichte und Einschätzungen der Abteilung XX zur „politischen Untergrundtätigkeit“ unter der Bevölkerung im Bezirk sowie Korrespondenzen des Leiters der MfS-Bezirksverwaltung mit dem Minister und den untergeordneten einzelnen Kreisdienststellen gesichtet werden. Zusätzlich ermöglichte die Erschließung entsprechender Quellen aus dem Archiv der Karl25 Eine differenzierte Erläuterung, welche die Erschließung des Hauptquellenkorpus darlegt, findet sich unter Kap. 3.3.3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Marx-Städter Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und zugleich von Dokumenten des Politbüros sowie des Zentralkomitees der SED im SAPMO-Bundesarchiv eine Einordnung lokaler Phänomene in übergeordnete politische Zusammenhänge auf oberster Parteiund Regierungsebene. Grundlegend für die Erfassung der Maßnahmen des MfS aus den personenbezogenen MfS-Aktenbeständen in Verbindung mit den erinnerten Konstruktionen der ZeitzeugInnen ist zugleich die bis dato vorliegende Forschungsliteratur. Zunächst sind für einen Zugang zum fokussierten Instrumentarium Staatssicherheit diejenigen Darstellungen von elementarer Bedeutung, welche über Struktur, Arbeitsweise und Methoden des MfS aufklären. Auf die noch immer gültigen ‚Standardwerke‘ von Fricke wird im jeweiligen Zusammenhang näher hingewiesen, zudem haben neueste Forschungen von Gieseke, die Aufsätze der Sammelbände, herausgegeben von Süß / Suckut bzw. Engelmann / Vollnhals26, die vor allem im Auftrag der Abteilung Forschung der BStU entstanden sind, anhand der Auswertung von MfS-Akten und vorliegender Diplomarbeiten und Dissertationen der Juristischen Hochschule des MfS Einblick in die spezifische Verfasstheit des Instrumentariums Staatssicherheit gegeben. Sie konnten differenzierter als zuvor das Zusammenwirken des MfS mit Partei und Staatsführung, Justiz und Institutionen darstellen. Zudem gelang es in den zitierten Arbeiten, auch in die Lebenswelten der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter vorzudringen, und dabei das ihnen und den inoffiziellen Mitarbeitern vermittelte anthropologische Verständnis des „feindlich-negativen“ Denkens, ihr Selbst- und Fremdkonzept sowie dessen Schulung in einer eigens entwickelten „Operativen Psychologie“ zu erschließen.27 Spezifische Untersuchungen zu den „feinen Waffen der Diktatur“ (Knabe), die im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen, haben in wissenschaftlicher Hinsicht zuerst Schuller, Knabe, und Süß28 analytisch erarbeitet. Pionierarbeit in Bezug auf den zu problematisierenden Repressionsbegriff, zur Bestimmung des spezifischen MfS-Terminus „Zersetzung“ und dessen destruktiver Wirkungsweise in der Realität staatssicherheitsdienstlichen Arbeitens haben jedoch der Schriftsteller Jürgen Fuchs und der Psychologe Klaus Behnke geleistet.29 Mehr als der zuletzt erschienenen Studie von Pingel-Schliemann, welche explizit die Repressionsmethode des „Zersetzens“ fokussiert und sich auf die Auswertung individueller personenbezogener MfS-Akten (anhand Operativer Vor26 Vgl. Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter; Suckut/Süß (Hg.), Staatspartei und Staatssicherheit; Engelmann/Vollnhals (Hg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. 27 Vgl. Richter, Operative Psychologie; Süß, Politisch missbraucht?; Wanitschke, Methoden und Menschenbild. Auf theoretischer Ebene tritt Fritze mit dem „guten Gewissen der Täter“ in einen moralischen Diskurs und stellt in seiner Untersuchung auf der Grundlage zeitgenössischer Ethiker das „menschliche Versagen“ im DDR-System dar. Fritze, Täter mit gutem Gewissen. 28 Vgl. Schuller, Repression und Alltag, S. 272–276; Knabe, Feine Waffen, S. 191–219; Süß, Repressive Strukturen, S. 193–250. 29 Vgl. Behnke/Fuchs (Hg.), Zersetzung der Seele; Fuchs, Nutzung der Angst. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gänge) konzentriert, gelingt es Raschka in seiner empirisch-quantitativen Analyse über die bereits bekannten Formen staatsicherheitsdienstlicher Kontrolle und Repression hinaus, Formen von Kontrolle und Überwachung aus den jeweiligen Akten greifbar zu machen, zudem kann er aber auch – dies ist im Kontext der hier vorliegenden Arbeit besonders hervorzuheben – Einblicke in die Wirkungsformen der MfS-Methoden geben, indem er neben einer schriftlich standardisierten Befragung auch themenzentrierte Interviews und deren spezifische Aussagen in die Darstellung der Arbeitsweise des MfS einflicht.30 Es ließ sich somit insgesamt, soweit dies aus der erfassten vorliegenden Forschungsliteratur bis dato möglich war, nur fragmentarisch und ansatzweise ein Bestreben erkennen, das synchron aus der Rekonstruktion vollzogener Repressionsmechanismen des MfS eine detaillierte Betrachtung ihrer Wirkungsweisen und deren jeweiliger Erfahrungsdimensionen bei den betroffenen Personen nachzuzeichnen und diese wissenschaftlich unter Rückbindung in die vorhandenen Machtstrukturen einzuordnen suchte. So ist in der historisch-wissenschaftlichen Aufarbeitung, welche die Notwendigkeit, die Entwicklungslinien und Bedingungen des alltäglichen (Er-)Lebens in der DDR unter der Prämisse staatssicherheitsdienstlichen Agierens darzustellen und im interdisziplinären methodischen Rahmen zu erschließen, zu analysieren und zu klassifizieren, auf ein Desiderat hinzuweisen. In den bereits vorliegenden, exemplarischen Studien findet sich aufgrund der fehlenden Einbettung der analysierten MfS-Konfrontationen in die gesamtbiographische Dimension keine Rückbindung an die jeweilige realsozialistische Wirklichkeit. So konnte bislang nur wenig spezifisch die individuelle Erfahrung von ‚Normalität‘ in der Diktatur vermittelt und insofern das Phänomen ‚Staatssicherheit und individuelle Konfrontation‘ als isoliertes, außerhalb der spezifischen Lebenswelt des einzelnen Menschen im DDR-Staatssozialismus ausgeführt werden.31 Aufbau und Darstellungsform: Für den Aufbau dieser Studie erschien letztlich eine dreiteilige Gliederung sinnvoll: Im Anschluss an dieses einleitende Kapitel ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit den zentralen Themen einschlägiger Methodologie und Methodik insbesondere im Kontext der Quellenkritik (Kapitel 2) und Quellengenerierung anhand des dargelegten Forschungsdesigns (Kapitel 3) notwendig. Im zweiten Teil zielt die Arbeit auf eine konkrete Einführung in den zeitgeschichtlichen Rahmen der Entwicklungen in der DDR seit 1971, der für die spezifische Fragestellung das Fundament legen soll. Zunächst werden die system30 Vgl. Pingel-Schliemann, Zersetzen; Raschka, Überwachung und Repression. 31 Um sich dem realen Verhältnis von DDR-Bevölkerung und SED-Staatsführung im diktatorisch von diesem geschaffenen Rahmen innerer Sicherheit und Kontrolle in der historischen Aufarbeitung zu nähern, können seine grundlegenden Parameter nicht als jeweils alleinstehende Größen betrachtet werden, sondern müssen – was sich vor allem auch in der Vielfalt der Quellenformen und Methoden – auf ‚symbiotische‘ Weise im Sinne einer historischen Soziologie analysiert werden. Vgl. Niethammer, SED und „ihre Menschen“, S. 307. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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theoretischen Grundpfeiler und normativen Aspekte der sich in der Ära Honecker gestaltenden „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ kurz dargelegt, um in diesen Rahmen die Bedingungen subjektiver Befindlichkeiten und Lebensweltschaffung im Alltag der politisch-ideologisch durchdrungenen Diktatur für die DDR-Bevölkerung im Allgemeinen nachzuzeichnen (Kapitel 4). Innerhalb dieses zweiten Abschnittes geht es schließlich um die Transferierung erkennbarer gesellschaftlich-normativer Ansprüche des Realsozialismus auf das im Zentrum dieser Studie stehende Instrumentarium der Herrschaftssicherung, das Ministerium für Staatssicherheit. Seine Entwicklungslinien zeichnet das zweiteilige Kapitel zunächst im Sinne einer institutionshistorischen Betrachtung chronologisch nach, im zweiten Schritt richtet sich der Blick auf die spezifischen Innenansichten zur Arbeitsweise des MfS seit Beginn der siebziger Jahre und fragt in der Einbindung der jeweilig aktuellen innen- und außenpolitischen Phänomene nach den Gründen für die Veränderung oder gleichsam erkennbaren Kontinuitäten der Methoden und Mittel staatssicherheitsdienstlichen Agierens seit dem Amtsantritt Erich Honeckers bis zum Ende der DDR (Kapitel 5). Für den Haupt- und damit dritten Teil der Arbeit (Kapitel 6), welcher sich konkret mit der Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen mit dem MfS und den sich in diesen äußernden Wahrnehmungs- und Handlungsschemata auseinandersetzt, wurde auf eine Integration des Forschungsprozesses innerhalb der Darstellung verzichtet. Eine detaillierter Nachvollzug der Analyse auf der Ebene der Einzelfälle, dann innerhalb eines jeden Typus, schließlich in ihrer kontrastiven Gegenüberstellung auf typologischer Ebene hätte eine nur schwer lesbare Darstellung zur Folge gehabt. Sein Erkenntnisgewinn hätte in der Bedeutung für die leitende Fragestellung und ihren Gegenstand eine eher untergeordnete Rolle eingenommen, obwohl er für die innere Logik des Forschungsvorgangs, welcher erst im induktiven und qualitativen Erkenntnisgewinn konkret am Gegenstand datenbasierte Thesen entwickelt und verifiziert, entscheidende Bedeutung trägt. So entwickelte sich aus diesen Überlegungen letztlich eine Darstellungsweise, die sich am Ergebnis orientiert innerhalb der vollzogenen Typenbildung als Typologie ausdrückt. Wie diese sich in ihrer Form nun in die Arbeit einbindet, verdeutlicht nochmals eine kurze Einführung am Beginn des zentralen Kapitels (vgl. Kapitel 6 – Vorbemerkung). Die dort gewonnenen Erkenntnisse werden in einem resümierenden Kapitel konzentriert und einander gegenübergestellt, insofern in ihrer Bedeutung für die Fragestellung weiter abstrahiert (Kapitel 7). Im Schlusskapitel stellt die Studie die Frage nach dem allgemeinen Geltungsanspruch der aus der Typologie gewonnnen Erkenntnisse. Sie wirft schließlich einen Blick in den Transformations- und zugleich Aufarbeitungsprozess und versucht hierbei die individuelle Persistenz und Bedeutung staatssicherheitsdienstlicher Erfahrungen abzubilden. Das heißt im Sinne der Frage, wie rezent „das [damalige] gesellschaftliche Sein, in die Dinge und auch die Körper eingeschrieben ist“32, be32 Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden, S. 51. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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leuchtet dieser Blickwinkel die gesamtbiographische Dimension erneut, nun zehn Jahre nach dem Ende der DDR. Im Hauptteil ergeben sich innerhalb der Anführung von personenbezogenen MfS-Aktenlagen und Aussagen direkte Verweise auf konkrete Personen und ihre Biographien. Auf den von den ZeitzeugInnen zu großen Teilen geäußerten Wunsch einer Anonymisierung ihrer Namen wurde dieses Verfahren für alle Personen verwirklicht; sie werden nun namentlich im Pseudonym geführt (vgl. Anhang – InterviewpartnerInnen). Die Anonymisierung betrifft zusätzlich auch die in den Transkriptausschnitten sich äußernden Verweise und Zusammenhänge ihrer Lebenswelt, also ebenso Daten, Ortsnamen, Eigennamen und Personennamen Dritter. In welcher Art und Weise sich diese Anonymisierung vollzieht, beschreibt zum einen das Kapitel „Transkription der Interviews“ (Kapitel 3.3.4), zum anderen verdeutlicht ein Blick auf die sich im Anhang befindliche Legende zur „Transkriptionsnotation“ deren Umsetzung. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass aufgrund der detaillierten Schilderungen biographischer Gesamtzusammenhänge die ZeitzeugInnen selbst auf ihre Identität verweisen, die eventuell eine Identifikation möglich machen könnte. In einem Fall wurden einzelne Stellen im Transkript, die nach Meinung der betreffenden Zeitzeugin in dieser Hinsicht zu starke Verweise gaben, von den unmittelbaren Textzitaten ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund einer Auffassung, welche Sprache als bewusstseinsbildendes Element begreift, steht diese Studie vor einem weiteren Problem. Dies betrifft die Wiedergabe des allgemeinen „operativ“ instrumentalisierten und spezifisch diskriminierenden staatssicherheitsdienstlichen Sprachduktus. Notwendigerweise sollten alle Benennungen, die für den Leser sicherlich oftmals auch doppeldeutige Sinnzuschreibungen enthalten, konstant in distanzierende Anführungszeichen gesetzt werden. Wegen des Umstands einer sicherlich erschwerenden Lesbarkeit des Textes musste jedoch ein Kompromiss gefunden werden: MfS-Termini sind nun stets infolge ihrer erstmaligen Nennung gekennzeichnet und an den entsprechenden Stellen in ihrer damaligen Bedeutung für das MfS, in Orientierung an den internen Definitionen des „Wörterbuchs der politisch-operativen Arbeit“33 erläutert.

33 Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit (GVS JHS 001–400/81). Dokumentiert in: Wörterbuch der Staatssicherheit. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Der alltagsgeschichtliche Ansatz, der die Dimension von Alltag in der Diktatur auf zwei Untersuchungsebenen zentriert, gestaltet eine doppelte Perspektive, die sich ebenso in der Quellenauswahl widerspiegeln muss: Einerseits die subjektive Dimension, welche einen veränderten Blick auf systemtheoretische Grundlegungen aus der individuellen Wirklichkeit der Alltagswelt zulässt und als Vergleichsmoment und gegebenenfalls Korrektiv zu den andererseits aus einer Diktatur hervorgegangenen „herrschaftlich“ erstellten Quellen fungiert. Erst im Verbund beider Quellenformen ist eine systematische Analyse der Verflechtung von Staatssicherheit mit SED-Regime, Gesellschaft sowie den individuellen Lebenswelten ihrer Bevölkerung möglich. Das Phänomen Staatssicherheit wird in der Betrachtung der jeweils personenbezogenen Aktenlagen im Kontext der äquivalenten biographischen und lebensweltlichen Erfahrungsmuster, die sich aus den Interviews klassifizieren, auf das spezifische Erkenntnisinteresse der Studie hin thematisiert. „Stasiakten“ – Mit den Augen der Staatssicherheit: Die in die Betrachtung gezogenen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit sind zunächst als Produkte eines politischen Systems diktatorischen Typs innerhalb seiner eigenen negativen verdinglichten Sprachwirklichkeit – einer langue du bois1 – unter Berücksichtigung des dem MfS innewohnendem spezifischen Menschenbilds2 zu betrachten. Die Akten eröffnen in ihrer Zuschreibung als „Herrschaftsquellen“ einen wichtigen Weg zu seiner Geschichte als Institution, zur DDR-Geschichte im Allgemeinen und zur Funktion eines Repressionsorgans in einer modernen Diktatur im konkreten Zusammenspiel mit individuellen Biographien. Stellt man am Beginn einer quellenkritischen Analyse die Frage nach dem Zweck der akribischen Informationssammlung und Auswertungstätigkeit des MfS, so bestand dieser offiziell darin, den „Schutz der gesellschaftlichen Entwicklung“ und die Gewährleistung „der staatlichen Ordnung“3 zu garantieren. 1

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Der französische Ausdruck langue du bois („Holzsprache“) bezeichnete ursprünglich die offizielle Sprache der PCF mit ihren hülsenartigen Begrifflichkeiten, die allein rituell einen unscharfen Sozialismus und eine Arbeiterklasse andeuteten, deren Physiognomie nicht mehr vorstellbar war. Das Menschenbild des MfS, das sich vornehmlich aus den Opferakten erschließt, bezeichnet Richter als ein paranoides: „Jede Veränderungsabsicht der Gesellschaft durch einen Menschen entspringt einem ‚feindlich-negativen‘ Vorhaben und selbstbestimmtes Denken wird als persönlichkeitsverankert gesehen, so dass aus ‚feindlichen‘ Gedanken mit Notwendigkeit ‚feindliche‘ Taten folgen werden. [...] Die Diskrepanz zwischen öffentlichem (SED-)Menschenbild (alle sagen, was sie denken: ‚Wir lieben unser sozialistisches Vaterland‘) und geheimdienstlicher Praxis und Real-Menschenbild (Menschen müssen überwacht werden, weil sie nicht alles sagen, was sie denken) ist heute evident und gehörte damals zur ‚Charakterspaltung des Systems‘“. Richter, Operative Psychologie, S. 160. Die Auswertungs- und Informationstätigkeit, S. 16, dokumentiert bei: Engelmann, Struktur, Charakter und Bedeutung, S. 7 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Dieser Anspruch impliziert für die Dokumentation des eigenen Wirkens in den Akten eine Orientierung auf all jene Personen in der eigenen Bevölkerung, die als potenzielle Störer dieser Ordnung, quasi als Systemfeinde erkannt, kontrolliert und schließlich überwacht werden sollten. Deshalb ist dem staatsicherheitsdienstlichen Sprachduktus zu eigen, dass er dem wörtlichen Sinn gemäß nicht etwa ein spezifisches Menschenbild vermittelt, sondern allein innerhalb der Begrifflichkeit des Feindbildes operiert. In den personenbezogenen Opferakten ist darum die Rede von „feindlich-negativen Kräften“ oder „feindlich-negativen Elementen“, allgemein also stets von „Feinden“ bzw. „Gegnern“. Die anthropologisch-negative Konnotation verstärkt und bestätigt den Eindruck, dass eine Auseinandersetzung des MfS mit Individuen oder Menschen im eigentlichen Sinne nicht stattfand.4 Die im Mittelpunkt stehenden Unterlagen des MfS repräsentieren in ihrer Vielfalt ein breites Spektrum quellentypischer Merkmale5 : Klassische Überrestquellen in der Gestalt dienstlicher Bestimmungen (Richtlinien, Dienstanweisungen und Befehle) gelangen ebenso in die Betrachtung wie personenbezogene Aktenlagen. Dieser Problematik unterliegen vor allem die Berichte der „inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM). In unserem Kontext stellen sie sich primär als „Berichtsquellen“6 über Sachverhalte, Personen und deren Handlungen dar. Die empirische Wirklichkeit, die eigentliche Information und deren ideologische und individuelle Manipulation müssen hierbei einem besonders quellenkritischen Umgang unterzogen werden. Es stellt sich stets die Frage nach der textverfassenden Person, nach den spezifischen Bedingungen des vorliegenden IM-Berichts, seiner situativen Umstände in Abgleichung mit den im „Maßnahmeplan“ oder gegebenenfalls vorliegenden „Operativen Vorgang“ benannten Maßnahmen und Zielen der Bearbeitung. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass der Berichtende seine Informationen den gestellten Bearbeitungszielen, das heißt dem Erwartungshorizont und den Interessen des MfS, anzunähern suchte und seine Arbeit deswegen, und möglicherweise den Fakten widersprechend – auch aus Eitelkeit und zum Gefallen des Führungsoffiziers –, zu beschönigen wusste. In die Untersuchung gelangen auch IM-Berichte, die über eine oder mehrere Vermittlungsinstanzen liefen. Oftmals berichteten die IM bereits aus zweiter Hand

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Zugespitzt formuliert Wanitschke dies so: „Das MfS betrachtete die Bürger entweder als potentielle Mitarbeiter oder als Feinde.“ Wanitschke, Methoden und Menschenbild, S. 29; Hervorhebung im Original. Zur Bestimmung der „Stasiakten“ als historische Quellen orientiert sich die Quellenkritik zunächst am gängigen Modell der Differenzierung in „Überreste“ und „Berichte“. Vgl. Hüttenberger, Überlegungen, S. 253–265. Als Überrestquelle stellt sich ein IM-Bericht dann dar, wenn er allein unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, dass ein inoffizieller Mitarbeiter im vorliegenden Dokument für das MfS Informationen erstellt hat. Berichtsquellen können insofern gleichzeitig auch eine Handlung implizieren und sich so als „Überrest“ darstellen, umgekehrt besitzen Überreste auch häufig berichtenden Charakter. Ebd., S. 255. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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und geben diese Informationen dann mündlich (meist telefonisch) oder handbzw. maschinenschriftlich weiter, bei den so genannten Treffberichten mit dem zuständigen „Führungsoffizier“ schob dieser sich „als zweite Vermittlungsinstanz zwischen den mündlichen IM-Bericht und die heute vorliegende Quelle. Es fand damit ein zweiter spezifischer Selektionsprozess statt, denn der Offizier schrieb in der Regel nur das nieder, was in seinen Augen ‚politisch-operativ‘ bedeutsam war.“ Dessen zusätzliche Vermerke zur Arbeit und persönliche Einschätzung des IM sind ebenfalls wichtige Elemente für die Beurteilung dieses Quellentyps.7 Eine weitere Besonderheit stellen unter den personenbezogenen Aktenlagen der Personen, die sich in MfS-Untersuchungshaft befanden, die Abschriften der Vernehmungsprotokolle dar. Die sich in der Ich-Form als Wortprotokolle darstellenden und von den „Beschuldigten“ unterschriebenen Protokolle wurden vom Vernehmer verfasst und geben nur einen – seine in der Vernehmungsführung gesetzten Relevanzen entsprechenden – selektiven Eindruck über das im Verhör tatsächlich Gesagte. Innerhalb der ZeitzeugInnenaussagen sind diese quellenspezifischen Probleme weitgehend zu lösen. So wird innerhalb einer alternativen zweiten Perspektive versucht, nachvollziehbar zu machen unter welchen spezifischen Umständen die protokollierten Aussagen entstanden sind. Es muss aber zugleich davon ausgegangen werden, dass das MfS seine Informationsgewinnung, auch gemäß seiner strengen militärisch-hierarchischen Organisation und Struktur, vor Verfälschungen zu schützen suchte, um die Effizienz der staatssicherheitsdienstlichen Arbeit zu gewährleisten.8 Operiert man – den elementaren Anforderungen historischer Forschung zufolge – im Umgang mit den Aktenlagen des MfS im Sinne der aufgezeigten quellenkritischen methodologischen und ethischen Vorsichtsmaßnahmen, erweisen sie sich als unerlässliche Quellen zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur, deshalb ebenso für die Beantwortung der erkenntnisleitenden Fragestellung dieser Studie. Die sich in diesem Zusammenhang eröffnende Frage nach der moralischen Berechtigung und den Grenzen auf der Suche nach der historischen Aufarbeitung des MfS im Spiegel personenbezogener Akten wurde aufgrund der öffentlichen Debatte in den letzten Jahren, welche – ausgelöst durch einen Rechtsstreit – letztlich auch die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes im September 2002 zur Folge hatte, erneut aufgeworfen. Infolge dieser Novellierung sind zum einen wieder wichtige, auch personenbezogene Unterlagen für die Forschung zugänglich geworden, zum anderen konnte die bestehende Ge-

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Vgl. Engelmann, Struktur, Charakter und Bedeutung, S. 13–15; vorausgehendes Zitat ebd., S. 14 f. Vgl. dazu die Aussage eines Zeitzeugen dieser Studie: „Aber ansonsten muss ich sagen, die Akte is’ wahr. ’ne Kleinigkeit stimmte nich’ [...] aber ansonsten kann ich sagen, die dreihundert Seiten oder wie viel das alles in allem sind, stimmt dann schon. Ich finde mich dort wieder.“ V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 22–23. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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fahr der Vernichtung von Daten abgewendet werden.9 Nichtsdestotrotz wird der 1991 fest verankerte Schutz der Menschenwürde weiterhin ausdrücklich betont und berücksichtigt. Im Sinne des Persönlichkeitsschutzes vollzieht sich deshalb insbesondere bei jenen Informationen ein restriktiveres Verfahren für Auskunftsersuchen, die aufgrund von schweren Menschenrechtsverletzungen gewonnen wurden. Diese werden in keinem Fall ausgehändigt; des Weiteren dürfen Daten, die auf rechtswidrige Weise zu Stande gekommen sind, allein unter Verständigung mit den Betroffenen für eine Herausgabe in Erwägung gezogen werden. Dennoch kann die alleinige Fixierung auf die Quellen des Staatssicherheitsdienstes nicht alle für die Fragestellung wichtigen Antworten liefern, denn „in einem System, in dem Kontrolle und Überwachung stark und vielgestaltig sind, vermeiden alle die, die im Verhältnis zur offiziellen Sprache und zu den Normen des Staates auf Distanz gehen, sich öffentlich zu äußern, sie hinterlassen keine schriftlichen Quellen [...] oder verschleiern ihre Differenzen hinter dem Schein von Konformität.“10 Um die Entwicklungen der DDR-Gesellschaft in ihrem Kern nachvollziehen zu können, wird mithin eine Konzentration auf die – wie Niethammer sie nannte – „kafkaesken Aktenberge“ nicht genügen. Um die „Erfahrungen der Menschen in der DDR [, die] fast systematisch gespaltene Erfahrungen waren, die immer ein Stück des Arrangements enthielten wie auch ein Stück Distanziertheit“11 nachzuvollziehen und um schließlich auch die – trotz des flächendeckend anmutenden Überwachungssystems – zuerst partielle heimliche Distanzierung nachzeichnen zu können, sowie die weite Bevölkerungskreise erfassende Abkehr von verordneten Realsozialismus, hat diese Studie deshalb obligatorisch „nicht nur auf geschriebene Quellen, sondern auch auf oral history zurückzugreifen“.12 Erinnerungsinterviews13 als zeithistorische Quellen: Erinnerung ist aus dem Kanon der zeithistorischen Forschung als zentrales strukturierendes Konzept 9

Mit den neuen Bestimmungen können Unterlagen mit personenbezogenen Informationen zu Personen der Zeitgeschichte, Inhabern politischer Funktionen und Amtsträgern unter bestimmten Voraussetzungen für die Forschung und Medien wieder zugänglich werden (§ 32). Zuvor war dies ausschließlich unter Einwilligung der betroffenen Personen möglich. Neben dieser Veränderung der Aktenherausgabe kam es zur Streichung des § 14. Damit wurde die ab 1.1. 2003 gültige Festschreibung, etwaige personenbezogene Unterlagen auf Wunsch der betreffenden Personen zu vernichten, rechtzeitig entkräftet. Vgl. 5. StUÄndG vom 2. 9. 2002, S. 3446–3447 bzw. die Ausführungen im Sechsten Tätigkeitsbericht der BStU, Drucksache 15/1530 vom 11. 9. 2003, S. 10, 46 f. Zur Reaktion in den Medien vgl. zunächst Robert Leicht, „Opfer, Täter, Akten.“ Das neue Stasi-Unterlagengesetz ist besser als das alte. In: Die Zeit, 29 (2002) und im konkreten Zusammenhang mit dem Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts im Herbst 2003 gegen Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl, „Ein Gesetz, das auch für Kohl gilt.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 18. 9. 2003. 10 François, Die „Schätze“ der Stasi, S. 103. 11 Niethammer, Oral History, S. 210. 12 François, Die „Schätze“ der Stasi, S. 103; Hervorhebung im Original. 13 Zum konkreten Erhebungsvorgang der Erinnerungsinterviews dieser Studie vgl. Kap. 3.3, dem ebenso eine Definition der Interviewform (Kap. 3.3.1) zugrunde liegt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nicht mehr wegzudenken.14 Ihre Aufnahme hat eine bedeutende Wandlung in der historischen Disziplin mit sich gebracht. Niethammer spricht von der postmodernen Herausforderung für die Zunft, Geschichte als Gedächtnis zu begreifen.15 Erinnerung spielt auch für die Erfahrungswissenschaft eine herausragende Rolle, insofern sie sich als zentrales Vermittlungsmedium mündlicher Geschichte darstellt, denn Erfahrungen werden hier, im lebensgeschichtlichen Interview, von der Gegenwart aus erinnert. Die geschichtswissenschaftliche Interpretation hat die Aufgabe, die so dargebotene Erzählung der spezifischen Fragestellung entsprechend zu deuten. Die in den letzten Jahren erkennbare stärkere Orientierung der Oral History am Erfahrungsbegriff löst sie aus der anfänglichen Einordnung als bloße Technik der ZeitzeugInnenbefragung und etabliert sie zu einer eigenständigen Erfahrungswissenschaft in der Historiographie.16 In der Zentrierung des Erfahrungsbegriffs – neben jenem der Subjektivität – löst sie sich auch weiter aus dem Umfeld der Alltagsgeschichte, indem sie „menschliche Erfahrungen als Ausgangspunkt für individuelle und kollektive Sinn- und Bedeutungskonstruktionen in den Mittelpunkt stellt.“17 Dies eröffnet eine Erweiterung ihrer Perspektive, sie fordert aber innerhalb dieser Abgrenzung ebenso eine spezifische Definition des Terminus Erfahrung. Niethammer hat bereits 1985 in den methodischen Erwägungen des letzten Bandes seines vielbeachteten LUSIR-Projekts18 eine erste Definition geleistet, indem er sich auf sozialhistorische Grundlegungen der sechziger Jahre besann und zugleich mit Bourdieu operierte. Er betonte insbesondere das dynamische Element des Begriffs, nämlich dass Erfahrung in diesem Sinne erstens „offen für weitere Interpretationen anhand neuer Wahrnehmungen [ist] und [...] individuelle und kollektive Wahrnehmungen und Deutungen, auch solche von fremder Seite“ verknüpft und zweitens „nicht auf die antiquarische Leere einer Mentalität, sondern auf die Wahrnehmung und Deutung künftiger Geschehnisse und Verhältnisse durch die Subjekte der Erfahrung“19 zielt. Dieser Orientierung folgend, beinhaltet der Erfahrungsbegriff eine Vorstrukturierung der zukünftigen sozialen Praxis in der Deutung zurückliegender Wahrnehmungen und in der Vergangenheit vollzogener Handlungen. In die von Niethammer proble14

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Spätestens seit dem Erscheinen des Monumentalwerks der französischen Historiographie „Les lieux de mémoire“ unter der Herausgeberschaft von Pierre Nora haben die Begriffe Gedächtnis, kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur auch in Deutschland allgemeines Interesse gefunden. Vor allem die Vertreter der Oral History arbeiteten seit Beginn der achtziger Jahre daran, auch in der deutschen Historikerzunft den Boden für diese Termini zu ebnen. Vgl. zuerst Niethammer, (Hg.), Lebenserfahrung, und neuerlich bspw. das dreibändige Werk von Etienne/Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, das einen ambitionierten Versuch darstellt, ein deutsches Pendant zum französischen Großwerk zu schaffen. Niethammer, Postmoderne Herausforderung, S. 31–49. Vgl. Plato, Erfahrungsgeschichte, S. 60–74. Jureit, Erinnerungsmuster, S. 27. Vgl. Niethammer/Plato (Hg.), Lebensgeschichte und Sozialkultur. Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 429. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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matisierte Leerstelle zwischen den reflektierbaren und bewussten Erfahrungen des Subjekts und jenen, welche die unbewussten „Tiefenschichten seiner Prägung durch soziokulturelle Strukturen“ ausmachen, fügt sich schließlich Bourdieus Habitusbegriff ein. Dieser thematisiert auch die von der Sozialisation überwiegend unbewusst inkorporierten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die sich individuell und, sofern sie eben sozialisationsbedingt sind, kollektiv als beständige Dispositionen äußern.20 Auf die historische Bedeutung dieser Prägung wurde bereits einleitend hingewiesen.21 Die Konzentration auf den sozialphänomenologischen Begriff Erfahrung orientiert sich zugleich auch an den Erkenntnissen der aktuellen Gedächtnisforschung und ihrer geäußerten Kritik gegenüber Verfahren, die Erinnerungsberichte als bloße „Rekonstruktion“ der Vergangenheit oder gar als „Neukonstitution eines Erlebnisbereichs“ aufgrund vergangener Erlebnisse, aktueller individualpsychologischer Determinanten und gesellschaftlicher Vorlagen definieren.22 Diesen Orientierungen spricht sie einen historischen Erkenntniswert grundsätzlich ab. Erfahrung hingegen bildet sich aus dem Ereignis und dem Erlebnis, welche als zugleich objektiv fassbare und subjektiv gedeutete Wirklichkeiten der individuellen Sinnstiftung unterworfen werden, die sich aber ebenso aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat speist. Ein entscheidendes Moment der Erfahrung ist dabei ihr vorhandener Wirklichkeitsgehalt.23 Im Zuge einer solchen Definition des Terminus kann eine „erfahrungsgeschichtlich motivierte Geschichtsforschung die subjektive Dimension der Bedeutung des Vergangenen einholen, indem sie Quellen“ – in Form von lebensgeschichtlichen narrativen Interviews – „erhebt, die ein Reservoir menschlicher Erfahrungen widerspiegeln.“24 Die vorliegende Studie bezieht in das Korpus ihrer Hauptquellen dreißig Erinnerungsinterviews ein, die gemäß der Fragestellung zur Fokussierung spezifischer historischer Prozesse in der ehemaligen DDR neu geschaffen wurden. Betrachtet man diese nun quellenkritisch, trägt das zuvor angewandte Modell von Hüttenberger nur bedingt.25 Erinnerungsinterviews weisen gegenüber den üblichen Quellentypen spezifische Besonderheiten auf, die einen besonderen Umgang mit ihnen für die geschichtswissenschaftliche Analyse erforderlich machen. Die Quelle Erinnerungsinterview, welche unter dem Aspekt der spezifischen Fragestellung eigens erstellt wird, zeigt bereits insofern eine Besonderheit, als sie sich innerhalb dreier Erscheinungsformen konstituiert: als Tonbandaufzeichnung, Transkript und Gesprächsprotokoll. 20 Vgl. Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 429 f. 21 Vgl. die entsprechenden Literaturverweise zu Bourdieu unter Kap. 1 Konzeptioneller Rahmen. 22 Vgl. dazu Schmidt, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S. 384–386. 23 Vgl. Hilger, Deutsche Kriegsgefangene, S. 42 f. 24 Jureit, Erinnerungsmuster, S. 27. 25 Erinnerungsinterviews könnten noch im weitesten Sinne als „Berichte“ definiert werden, da sie Handlungszusammenhänge darlegen, die aus der individuellen Erinnerung in zeitlicher Distanz zum geschilderten Ereignis erzählt werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Jureit hat in diesem Kontext ein quellenkritisches Muster für die Interpretation von Erinnerungsinterviews im lebensgeschichtlichen Zusammenhang erstellt, dessen Hauptmerkmale sich wie folgt darlegen26 : Wenn es um die Überprüfung der Echtheit von Quellen geht, konzentriert sich diese zuerst auf die vorliegenden Transkripte, von denen jegliche Analyse ausgeht, und erhebt dann die Frage nach ihrer Zuverlässigkeit und Vollständigkeit.27 In einem zweiten Schritt müssen sich die Forschenden den Quellen stets im Bewusstsein ihrer Selbstbeteiligung am vollzogenen Erhebungsprozess nähern. Die Momente der ersten Kontaktaufnahme mit den ZeitzeugInnen, erste Vorgespräche, die spezifische Interviewsituation und Interviewumgebung sowie die Besonderheit der permanenten Interaktion wie Kommunikation im Dialog28 müssen ebenso in den Blick genommen werden wie übergeordnete Überlegungen, die beispielsweise den grundsätzlichen Artefaktcharakter des Interviews als „halböffentliches Arrangement“ einbeziehen und die Subtexte von sozialer Erwünschtheit und unterschwelliger Sym- bzw. Antipathie zwischen den Dialogpartnern beleuchten.29 Zugleich gilt es zu erkennen, dass aktuelle Kontexte, politische und gesellschaftliche Ereignisse ebenso wie spezifisch individuelle lebensweltliche Umstände in den Entstehungsrahmen des Interviews gehören. Diese an der Gegenwart orientierte Quellenkritik verweist schließlich auch auf die in der Vergangenheit liegenden, im Interview erinnerten Wirklichkeitszusammenhänge, die im Fokus der Betrachtung stehen und in der erinnernden Erzählung ihren thematisiert werden. Bevor man die Frage nach der Wahrheitsprüfung und Wahrheitseinschätzung diesbezüglich erhebt, sollte jedoch ein weiterer grundlegender Punkt geklärt sein: In welcher Beziehung stehen die ZeitzeugInnen zum erzählten Gegenstand? Es eröffnen sich in der Betrachtung drei Ebenen seiner Verortung: Wird erstens selbst Erlebtes aus den individuellen Handlungszusammenhängen, zweitens Beobachtetes ohne persönliche Involvierung oder drittens durch Dritte Erfahrenes erzählt? Die genaue Betrachtung dieser Bezugskomponenten erhellt die in den Interpretationsvorgang einzubeziehende 26 Folgendes in Anlehnung an Jureit, Erinnerungsmuster, S. 30–35. 27 Zur Problematik und Praxis der Transkription, d. h. der Umwandlung auditiver Quellen in schriftliche, vgl. für diese Studie die ausführlichen Darlegungen in Kap. 3.3.4. 28 Dies rekurriert auf die grundsätzlichen Annahmen der interaktionistischen Sozialpsychologie, auf das metakommunikative Axiom: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Dieses wiederum verweist auf das Folgende im Text, nämlich dass man sich stets so äußert, wie man erwartet, dass das Gegenüber erwartet, dass man sich äußern wird. Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 50–53, Zitat S. 53; Hervorhebung im Original. 29 Welzer weist in diesem Kontext insbesondere auf den grundsätzlichen Artefaktcharakter des Erinnerungsinterviews hin und fordert ein prinzipielles Bewusstsein im Interpretationsvorgang, der das Interview als gesellschaftlich standardisierten Mechanismus mit eigenen narrativen Regeln erkennt. Er fordert deswegen auch für die Oral History allein das Verfahren des lebensgeschichtlichen Erzählens im Interview, weil dieses allein den nötigen historischen Interpretationsfreiraum eröffne den vorstrukturierte Experteninterviews aufgrund bereits bestehender Hypothesen nicht mehr zuließen. Vgl. Welzer, Interview als Artefakt, S. 51–63. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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persönliche Betroffenheit der ZeitzeugInnen für das aktuell Erinnerte und dessen Wirkung auf die Konstruktion eigener Wahrnehmungen und Handlungszusammenhänge in der Vergangenheit. Die sich nun eröffnende Antwort auf die Frage nach der Einschätzung des ‚Wahrheitsgehalts‘ der Quelle Erinnerungsinterview gestaltet sich innerhalb der vorgestellten Spezifik ihrer Form folgendermaßen: Die Hinzuziehung von Quellen, die ebenso im historisch fokussierten politischen, gesellschaftlichen und individuellen Kontext entstanden sind, sichert die Einordnung des subjektiv Erzählten. Insbesondere in einer synchronen Betrachtung der vorliegenden personenbezogenen Aktenlagen des MfS ist im kontrastierenden Vergleich eine adäquate Quellenprüfung erst möglich. Der Aussagezuverlässigkeit der Erinnerungsinterviews30 wird die ‚Glaubwürdigkeit‘ von Quellen aus dem Bereich ausübender Herrschaft gegenübergestellt. In die quellenkritische Betrachtung beider Hauptquellentypen gehört auch der Umstand und die in der öffentlichen Diskussion offenbarte Problematik, dass die Hinterlassenschaften des MfS unmittelbar in den Alltag und die Entwicklung der Biographien während des Transformationsprozesses eingegriffen haben. Auch diese Studie muss ihre Erkenntnis in dem Bewusstsein bilden, dass die ZeitzeugInnen im Vorfeld der Interviews ihre personenbezogenen MfS-Akten bereits eingesehen haben. Die sich möglicherweise entwickelnde Problematik einer veränderten Bewertung der eigenen Biographie und insofern veränderte Darstellung der Wirklichkeitskonstruktionen im lebensgeschichtlichen Erzählen durch die Einsicht in die Aktenlagen musste reflektiert werden. Aus der Analyse der transkribierten Lebensgeschichten und den vorliegenden Aktenlagen sowie dem vom eigentlichen lebensgeschichtlichen Interview abgekoppelten gesonderten Gesprächsteil zur jeweiligen Akteneinsicht konnte für die hier beteiligten Personen – entgegen den Aussagen Wensierskis, der dieses Phänomen „für die Betroffenen (potentiell alle)“ annimmt – jedoch festgestellt werden, dass die „tatsächliche Differenz eigener Erfahrung und nachträglich per Stasiakte angesonnener Identität“31 sich als nicht existent oder äußerst gering darstellte und deswegen im quellenkritischen Verfahren konkret keine Rückschlüsse auf eine völlige oder auch nur teilweise Neubewertung der eigenen Erfahrung und veränderte Sinnzuschreibung vollzogener Wahrnehmungen und Handlungen in der Konfrontation mit dem MfS anzunehmen sind. Unter Berücksichtigung der dargestellten Kriterien in der vorausgehenden Quellenkritik erschließt sich, dass allein in der synchronen Betrachtung und Interpretation von Erinnerungsinterviews und personenbezogenen MfS-Akten die 30 Die Neuropsychologie hat zudem aufgezeigt, dass sich die Aussagequalität und -zuverlässigkeit von Erinnerungen weniger durch die zeitliche Nähe zum fokussierten vergangenen Ereignis bestimmt. Sie ist eher auf die Wahrnehmungsfähigkeit im Moment des Ereignisses, die sich im subjektiven Erleben darstellt, und auf dessen individuelle emotionale Relevanz zurückzuführen. Vgl. Niethammer, Diesseits des „Floating Gap“, S. 35 f. 31 Beide Zitate Wensierski, „Als die Stasi ...“, S. 166. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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erkenntnisleitende Fragestellung der Arbeit adäquat zu beantworten ist, wenn sie differenziert die Eingriffe des politischen Systems (hier durch das MfS) in die Lebenswelten seiner Menschen veranschaulichen möchte. Nur innerhalb dieses im Quellenkorpus angelegten Perspektivwechsels kann die Studie schließlich beleuchten, wie sich diese in deren Erfahrungen einschrieben und wie sie unmittelbar erlebt und bewältigt wurden.

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3.

Methodologische Grundlegung und methodische Konzeption – Erhebung der Erinnerungsinterviews

3.1

Wissenschaftstheoretischer Bezugsrahmen und handlungstheoretischer Ansatz

Die wissenschaftstheoretische Grundkonzeption der vorliegenden empirischen Studie verortet sich zum einen innerhalb des phänomenologischen Ansatzes, der sich im Sinne des ihm zugrundeliegenden lebensweltlichen Bezugsrahmens nach Schütz/Luckmann1 definiert, zum anderen ist sie einer interpretativen Hermeneutik verpflichtet, die als Lehre des Sinn-Verstehens aufzufassen ist, die den Vorgang des Verstehens an sich thematisiert und zugleich das Erfassen der Sinnhaftigkeit menschlicher Lebensäußerungen und Produkte in ihr Zentrum stellt. Im Folgenden stellt sich Handlung aus dem Verständnis einer praktischen Hermeneutik als grundlegendes Element menschlicher Lebensäußerung dar. Verstehen und Handeln werden insofern als innerlich miteinander verflochten erkennbar. Gesellschaftstheoretische Grundlegungen bestimmen – an die vorausgehenden Ausführungen nun anschließend – die Interdependenz von Individuum und Gesellschaft, insofern auch welche methodologische Konzeption und methodische Vorgehensweise eine Forschungsarbeit, die subjektive Wirklichkeiten in Form lebensgeschichtlich erinnerter Erfahrungen zentriert, berücksichtigen sollte. Demzufolge muss eine Darstellung, die zeitgeschichtliche Vorgänge in einer modernen Diktatur innerhalb der Betrachtung individueller Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster erfahren möchte, zunächst auf eine theoretische Orientierung zurückgreifen, die den Menschen als Lebenswelt gestaltendes und veränderndes Individuum sieht, dessen handelndes Moment sich zugleich als gesellschaftlichen Handeln, zur „Grundform des gesellschaftlichen Daseins des Menschen“2 darstellt.3 Ein in diesem Sinne ausgerichtetes anthropologisches Grundverständnis kommt nicht ohne einen handlungstheoretischen Ansatz aus, der versucht „das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ‚Atom‘“4 zu deuten, in diesem Sinne menschliches Handeln innerhalb eines 1

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In der Einleitung wurde bereits der Lebensweltbegiff nach Schütz/Luckmann definiert (vgl. Kap. 1 – Vorbemerkung). Die Studie bezieht sich insbesondere auf diese Definition, da sie – im Gegensatz zu den metatheoretischen Definitionen von Husserl und Habermas – die konkrete alltägliche Lebenswelt zentriert, die allen Menschen als schlicht gegeben erscheint, die unreflektiert und als solche gegeben verstanden wird. Luckmann, Theorie des sozialen Handelns, S. 4. „Schließlich hat die theoretische optimierte Geschichtswissenschaft auch deshalb Kreditverlust erlitten, weil sie sich [...] stärker mit anonymen, sich über die Köpfe der Menschen vollziehenden Prozessen und Strukturen als eben mit Menschen zu beschäftigen scheint“. Weber, Hayden White, S. 94. Weber, Kategorien, S. 415. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Methodologische Grundlegung

gesellschaftlichen Systems zuzuordnen, um dieses gleichzeitig in den historisierenden Blick zu nehmen. Erst in einer solch grundlegend wissenschaftstheoretischen Verortung kann das hier zu zentrierende Problem, nämlich welche Bedeutung eine erinnerte Lebensgeschichte für die im Mittelpunkt der Forschungsarbeit stehende Fragestellung haben wird, adäquat Lösung und Beantwortung finden. Was bei Weber handlungstheoretisch begründet wird und im Terminus der Verstehenden Soziologie eine erste Bestimmung findet5, erfährt durch Schütz eine phänomenologische Ausarbeitung in Bezug auf die bei Weber unzureichende Analyse der Sinnkonstitution im sozialen Handeln.6 Schütz liefert den Sozialwissenschaften damit gleichzeitig ein empirisches Erklärungsmodell des sozialen Handelns, dessen Begrifflichkeiten, von Luckmann im Schützschen Sinne grundgelegt, zugleich für die Interpretation typischer Handlungsmuster auf Basis individueller Aussagen Anwendung finden werden.7 5

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„Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seiner Wirkung ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ Weber, Methodische Grundlagen, S. 503. Vgl. seine Auseinandersetzung mit Weber in Bezug auf das sinnhafte Handeln: „Seine Analyse der sozialen Welt bricht in einer Schicht ab, die nur scheinbar die Elemente des sozialen Geschehens in nicht weiter reduzierbarer oder auch nur in nicht weiter reduktionsbedürftiger Gestalt sichtbar macht. Der Begriff der sinnhaften daher verstehenden Handlung des Einzelnen, der eigentliche Grundbegriff der verstehenden Soziologie, vermittelt aber keineswegs eindeutige Fixierung eines echten Elementes sozialen Geschehens [...]. Weber macht zwischen Handeln als Ablauf und vollzogener Handlung, zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des Erzeugnisses, zwischen dem Sinn eigenen und fremden Handelns, bzw. eigener und fremder Erlebnisse, zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen keinen Unterschied.“ Schütz, Sinnhafter Aufbau, S. 5; Hervorhebung im Original. Vgl. des Weiteren innerhalb der Grundlegung einer phänomenologisch abgestützten Handlungstheorie: Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Band 1 und 2. In der Analyse der Interviewaussagen des vorliegenden Projektes sollen die Definitionen folgender Begrifflichkeiten nach Luckmann tragend sein: Vorweggenommene Erfahrungen finden als Entwürfe Bezeichnung. Der zu einem Entwurf in Beziehung stehende aktuelle Erfahrungsverlauf ist Handeln, zum Abschluss gekommenes Handeln bezeichnen wir als Handlung; Handlungen an sich geschehen nicht wie Erlebnisse und Erfahrungen von sich aus, sondern gehen motiviert vom Handelnden aus, das Motiv ist die Erreichung des Ziels (Ziel als die im Entwurf vorweggenommene Erfahrung), gesteuert vom Sinn des Handelns (prospektiv/aktuell/reflexiv), der sich in der Beziehung zwischen Entwurf und aktuellem Verlauf konstituiert. Handlungen anderer Menschen werden vermittelt wahrnehmbar im Verhalten. Vgl. Luckmann, Theorie des sozialen Handelns, S. 28–33. Im Folgenden wird die Perspektive des allein intentionalen Handelns und seiner Definitionen erweitert, denn Handeln ist nicht immer zielgerichtet, es muss auch die Dimension des Handelns, das aus den verinnerlichten Strukturen des Habitus generiert © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Wissenschaftstheoretischer Bezugsrahmen

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Die Analyse der Lebenswirklichkeiten einer bereits vergangenen, nicht mehr existierenden Alltagswelt und der in dieser gründenden und aus ihr hervorgebrachten Einstellungen, Denkweisen und Handlungen der Menschen werden – dem handlungstheoretischen Ansatz verpflichtet – in einem interaktiven Prozess im gleichberechtigten Dialog erschließbar. Phänomene einer aus Handlungen konstitutiv geformten Lebenswelt, die äußerlich lediglich erkenn- und beschreibbar ist, werden auf diese Weise in einem, jedem Menschen zur Verfügung stehenden, subjektiven Wissensvorrat von entsprechenden Typisierungen eingeordnet und lassen aus der Interaktion entstandene Interpretationen des subjektiven Handlungs- und Bedeutungszusammenhangs zu. Die bereits zurückliegende Erfahrung des alltäglichen Handelns, „die im Lichte von theoretischen Begriffen und mit Hilfe von Messoperationen in wissenschaftliche Daten umgeformt werden kann, ist ihrerseits symbolisch strukturiert und bloßer Beobachtung unzugänglich.“8 Das Erschließen der von Menschen sinnhaft geschaffenen und interpretierten Strukturen der Lebenswelt und ihrer spezifischen Bedingungen wird nach Schütz/Luckmann möglich aufgrund einer theoretischen Reflexion über die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven, was bedeutet, dass typisches Verhalten anderer Menschen in einer festen Beziehung zur ihren typischen Entwürfen steht. Die zugrundeliegende Ceteris-paribus-Klausel sagt aus, dass unser soziales Erleben und Erfahren niemals dem der anderen gleich sein kann, aber in einem gewissen Ähnlichkeitszusammenhang steht, und die Intersubjektivität, der Grundgegebenheit des menschlichen Daseins im „Wir“ und das gesamte Erkennen, Denken und Handeln in der Lebenswelt sinnhaft-konstruktiv formt.9 Die sich daraus ableitende These, dass Lebenswelt von Anfang an intersubjektiv sei, macht Lebenswelt im Sinne von Alltagswelt empirisch erforschbar und befreit vom Subjektivismusproblem der traditionellen phänomenologischen Methodologie. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens können menschliche Lebensäußerungen verstanden und fremdes Handeln gedeutet werden, da sie eingebunden sind in einen „objektiven Sinn“10, der das Verstehen des Verhaltens anderer in erlernten Interpretationsmustern in einem selbsterfahrenen Gesamtzusammenhang möglich macht. Das individuelle Moment einer jeden Aussage wird folgwird und unbewusst abläuft, einbeziehen. Dieses Verständnis des Handlungsbegriffs hat eine hohe Relevanz für die ganzheitliche Erfassung der zu typisierenden Handlungsmuster der ZeitzeugInnen in dieser Studie. Vgl. dazu nun die Ausführungen zum dispositionellen Handeln (Bourdieu). 8 Habermas, Kommunikatives Handeln, S. 162; Hervorhebung im Original. 9 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, S. 35–39. 10 Schütz, Sinnhafter Aufbau, S. 5. Hier deutet sich der geistige Zusammenhang mit Diltheys Begriff vom „objektiven Geist“ an, der in diesem „etwas Gemeinsames, ein verbindendes Drittes“ versteht, „an dem die konkreten Einzelmenschen mehr oder weniger alle Anteil haben“ (Danner, Methoden, S. 82). Insofern eröffnen beide Ansätze offensichtliche Parallelen in ihren theoretischen Grundgedanken, die in gleicher Weise tragend für die Erkenntnisbildung dieser Studie sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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lich in einen Verweisungszusammenhang zum Ganzen gestellt, dieses wiederum aber lediglich greifbar in der Betrachtung der einzelnen subjektiven Momente. Die Erkenntnis, das heißt das Verstehen der lebensgeschichtlichen Äußerungen und der daraus gewonnenen Strukturen von Handlungstypiken im Kontext des individuellen Verstehenshorizontes und der raumzeitlichen Grundbedingungen verortet, kann nicht einem naturwissenschaftlichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, sondern muss zuvorderst auf den Erkenntnisgewinn eines objektiven Sinns, Objektivität dabei als „Wahrheit im Sinn der Angemessenheit einer Erkenntnis an ihrem Gegenstand“11, verweisen. Die hier dargelegten subjektzentriert-individualistischen Konzeptionen – insbesondere phänomenologischer – handlungstheoretischer Provenienz und selbst der Webersche Begriff der Lebensführung12 können dem angestrebten Erkenntnisinteresse nicht gänzlich Rechnung tragen. Sie bedürfen der Erweiterung, einer zweiten Perspektive, aus jenem Grunde nämlich, weil die bisher vorgetragenen Konzepte sich „im Banne einer Tradition“ bewegen, „die den Aufbau physischer Fähigkeiten hierarchisch arrangiert hatte und dabei der ‚Sinnlichkeit‘, das heißt dem Wahrnehmen, eine niedere Position zugewiesen hatte im Vergleich zu den höheren, reflektierenden Funktionen des Verstandes und der Vernunft.“13 Will die hier vorliegende Studie jedoch ebenso vollzogene Wahrnehmungsschemata und die nicht verbalisierbaren Dispositionen des Einzelnen in ihre Betrachtung integrieren, so muss sie eine dispositionelle Handlungstheorie im Sinne Bourdieus einbinden. Unter Dispositionen versteht er die verinnerlichten oder einverleibten Prägungen, auf bestimmte Weise wahrzunehmen, zu fühlen, zu denken und zu handeln, welche dem Individuum wegen seiner objektiven Existenzbedingungen und sozialen Biographie nur selten bewusst sind: „Da der Habitus ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen.“14 Der Habi11 Bollnow, Frage nach der Objektivität, S. 59. 12 Der auf Weber zurückgehende Begriff der Lebensführung, den er in den „Aufsätzen zur Religionssoziologie“ definiert, stellt sich dem Habitusbegriff als äußerst verwandt dar. Er erweist sich jedoch viel weniger präzise und im Detail weniger operational als Bourdieus Begriff. Beschreibt er doch allein die dem Menschen bewusste, sinnorientierte und planende Gestaltung des praktischen Verhaltens und Lebensablaufs. Mit der Abnahme traditionaler Bestimmungsgründe in der modernen Gesellschaft orientierte sich der Begriff mehr und mehr auf berufliche Laufbahn und Erfolg wie auf persönliche Sinnerfüllung. 13 Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 13. Wahrnehmung definiert sich diesem Grundverständnis entsprechend nach Luhmann als „ein nicht kommunikatives Ereignis des Bewusstseins“. Das Bewusstsein vermag in seiner äußeren Umwelt oder Außenwelt ereignisfreie Gegebenheiten und Ereignisse wahrzunehmen. Das Wahrgenommene erscheint dabei dem Bewusstsein als unmittelbar gegeben. Tatsächlich benutzt es aber die Eigenkomplexität des Gehirns, das seinerseits erst ein Bild von der Außenwelt konstruiert, zur Konstruktion seiner Wahrnehmung der Außenwelt. 14 Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 102. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Wissenschaftstheoretischer Bezugsrahmen

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tus ist insofern dadurch gekennzeichnet, dass aus ihm Handlungen, Wahrnehmungen und Beurteilungen entspringen. Er erzeugt sie und ist quasi ihr Generator. Das System der anhaltenden und umsetzbaren Dispositionen (des Habitus) steht konzentrisch im Handeln der Menschen.15 Daher bezeichnet Bourdieu seine Handlungstheorie auch als dispositionell. So erst erschließt sich die Grundlage des jeweiligen menschlichen Denkens und Handelns. Diese ist nämlich letztlich darauf zurückzuführen, dass „zunächst [...] ein Lebewesen mit Zentralnervensystem ja die Externalisierung und Konstruktion einer Außenwelt leisten [muss], und erst dann kann es auf Grund der Wahrnehmung des eigenen Leibes und auf Grund von Problemen mit der Außenwelt Selbstreferenz artikulieren.“16 Bourdieu bindet unter Integration des bereits Dargelegten und innerhalb der Grundlegungen seiner Theorie des Handelns17, welche die Grundlagen zum Verstehen und Begründen menschlichen Seins schafft, die historische Perspektive ein. Er fragt danach, wie sich historische Prozesse und Erlebnisse im Individuum auf dessen Habitus auswirken, diesen kontinuierlich konstituieren und so zu inneren Strukturen werden. Damit macht er auch deutlich, dass Erkenntnis, im Sinne von Verstehen18, immer als raum-zeit-gebundenes Phänomen zu erkennen ist, das sich jeweils auf den Einzelnen und dessen Verstehenshorizont bezieht. Das Verstehen der jeweils individuell konstruierten Wirklichkeit vollzieht sich als produktive Teilhabe aus den gemeinsam hergestellten Sinnbezügen von Vergangenheit und Gegenwart. „Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“19 Wie bereits im Vorausgehenden dargelegt, beruht der Habitus des Einzelnen auf gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, die individuell und kollektiv von ihm erfahren werden und als Dispositionen im Habitus zu seiner ‚zweiten Natur‘ werden.20 Insofern können analytisch drei Dimensionen von Dispo15 Vgl. Bohn, Habitus und Kontext, S. 31 f. 16 Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 13 f. In diesem Sinne auch Koselleck: Geschichte „vollzieht sich immer nur im Medium der Wahrnehmung. Die Vorstellungen der Handelnden von dem, was sie zu tun, und von dem was sie zu lassen haben, sind die Elemente, aus denen sich, perspektivisch gebrochen, die Geschichten zusammensetzen.“ Koselleck, Sinn und Unsinn der Geschichte, S. 85. 17 Vgl. Bourdieu, Praktische Vernunft, passim. 18 Verstehen muss sich stets am subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden orientieren. An seinem Handlungsentwurf (Ziel/Plan) und den beabsichtigten Einsatz bestimmter Mittel, wenn also das Motiv des Handelns erkennbar wird. Innerhalb dieses interaktiven Prozesses der Kommunikation erst kann es zur Konstituierung der subjektiven Wirklichkeit kommen. Vgl. Giesen/Schmid, Basale Soziologie, S. 165. 19 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 297–302, Zitat S. 310 f.; Hervorhebung im Original. 20 Auf die terminologischen Grundlagen von Bourdieus Habitustheorie wurde bereits in Kap. 1. verwiesen. In diesem Zusammenhang ist vor allem wichtig – in Abgrenzung zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Methodologische Grundlegung

sitionen des Habitus unterschieden werden, die für die erkenntnisleitende Fragestellung der Studie grundlegend geworden sind, und die sich im Vollzug der alltäglichen Praxis als eng miteinander verwoben darstellen: Wahrnehmungsschemata, welche die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren, Denkschemata, zu denen die ‚Alltagstheorien‘ und Klassifikationsmuster gehören, mit deren Hilfe das Individuum die soziale Welt interpretiert, einordnet und bewertet sowie Handlungsschemata, welche die individuellen und kollektiven Praktiken der Individuen hervorbringen.21

3.2

Methodologische Folgerungen – Qualitatives Paradigma

Oral History als historiographische Erfahrungswissenschaft bedient sich zur Beantwortung dieser spezifischen Fragestellung auch methodisch im interdisziplinären Raum. Vor allem in der Grundlegung des Ansatzes, der darauf abzielt, auf die Sichtweise eines Individuums aus dem lebensgeschichtlichem Erzählen einzugehen und diese gleichberechtigt neben jede in diesem Kontext entstandene lebensgeschichtliche Erzählung zu stellen, verpflichtet sich die Oral History der Tradition des qualitativen Paradigmas empirischer Sozialforschung. Die „subjekt-orientierte Wissenschaftskonzeption ist ein Grundzug qualitativer Sozialforschung“22, in deren Rahmen, innerhalb einer hohen Komplexität des Gegenstandszugangs, menschliches Handeln, Denken und Fühlen an einen konkreten Kontext gebunden und rekonstruierbar wird. Diese Phänomene sollen möglichst authentisch, das heißt innerhalb eines Bildes des zu erschließenden Wirklichkeitsausschnittes äußerst detailliert, vollständig und kontextgebunden, erfasst werden. Das empirische Material wird einer methodologischen Betrachtung unterzogen, die sich an die von Glaser/Strauss entwickelte Grounded Theory23 anlehnt und im Sinne handlungstheoretischer den subjektivistisch-individualistischen Konzeptionen –, dass er in die Konzeption des habituellen Dispositionssystems auch Gruppen einbezieht. Für unseren Kontext ist dies insofern bedeutend, weil er menschliches Sein als sozialisationsbedingt sieht, definiert er dieses auch immer als kollektiv bestimmt. 21 Vgl. Schwingel, Bourdieu, S. 60. 22 Mayring, Disziplinäre Perspektiven, S. 35; vgl. im Folgenden S. 35 f. 23 Vgl. zuerst Glaser/Strauss, Discovery of Grounded Theory; die erste deutschsprachige Darstellung des Ansatzes in: dies., Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie, S. 91– 111; als Gesamtdarstellung auf Deutsch nun vorliegend in: Glaser/Strauss, Grounded Theory. Zur Implikation dieser Theoriebildung im konkreten Forschungszusammenhang, für welchen sie in einzelnen Schritten tragend sein wird, sei Folgendes angemerkt: Die gegenstandsbezogene und datenbasierte Theorie nach Glaser/Strauss hat eine in der Empirie verankerte, formale Theorie zum Ziel. Diese wird im Prozess des Forschungsverlaufes stetig in der Abgleichung von erhobenen Daten und daraus entstandenen Verallgemeinerungen und Analysen kreativ gebildet. Zentraler Mittelpunkt des Theoriegenerierungsprozesses ist der Fall als eigenständige Untersuchungseinheit, der sich in seiner Eigenlogik (re-)konstruiert und nicht in der Theorie untergeht, sondern alle theoretischen Überlegungen stets auf sich bezieht. Die Fallrekonstruktion erfolgt in theoriebildender Absicht; aus dieser entstehen erste emergente Theorien. Im weiteren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Empirische Quellenerhebung

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Grundlegungen versucht, aus den empirischen Daten heraus theoretische Aussagen „intersubjektiv überprüfbar und kontrollierbar“24 zu machen. Was hier als gegenstandsbezogene Theorie konzipiert wurde, ist in den von HoffmannRiem25 definierten Rahmen der Prinzipien qualitativer Sozialforschung – „die das Wechselspiel von Theorie und Empirie steuern: das Prinzip der Offenheit und das Prinzip der Kommunikation“26 – einzuordnen. Dem Prinzip der Offenheit folgend, ist der Forschungsprozess ein explorativer, das heißt er verzichtet auf eine Hypothesenbildung ex ante gegenüber Untersuchungspersonen, -situationen und den Untersuchungsmethoden. Stattdessen erfolgt eine Hypothesengenerierung aus der Gleichzeitigkeit und im ständigen Vergleich von bisheriger und neu erhobener Datensammlung in Verbindung mit einer an dieser fortschreitenden Analyse der Daten. Das Entwickeln von Theorien erfolgt demnach stets am Gegenstand orientiert und aus ihm selbst heraus. Das Prinzip der Offenheit beinhaltet zugleich die Erkenntnis, dass die Definition von Wirklichkeit niemals von allgemeingültiger Bestimmtheit, sondern stets perspektivenabhängig ist. Damit zentriert sich die Betrachtung des Prinzips der Kommunikation auf die kommunikative Interaktion zwischen forschendem und erforschtem Subjekt, die in einem konstruktiven Dialog, gleichberechtigt ihre Wirklichkeitsdefinitionen auszuhandeln suchen. Diese Interaktionsbeziehung schafft empirisch den Zugang zu bedeutungsstrukturierenden Daten der Lebenswelt und damit zu sozialer Realität des Gegenübers und ist gleichzeitig konstitutiver Bestandteil im qualitativen Forschungsprozess.27

3.3

Empirische Quellenerhebung im Methodenspektrum der qualitativen Sozialforschung

3.3.1 Narratives Erinnerungsinterview Als konsequenteste Methode des Erkenntnisgewinns, die sowohl den methodologischen Festlegungen, wie sie hier dargelegt wurden, als auch dem Untersuchungsgegenstand und der konkreten Fragestellung Genüge tut, erweist sich im entworfenen Forschungsdesign die Erhebung der subjektiven Quellen durch

24 25 26 27

Verlauf werden diese theoretischen Konzepte kategorisiert, auf Relevanzen hin geprüft und nach Gemeinsamkeiten in theoretischen und strukturellen Merkmalen analysiert. Es konstruieren sich substantive Theorien, die mit weiteren formalen Theorien in Beziehung gesetzt werden und in diesem Prozess, der so genannten fortschreitenden Formalisierung, zur gegenstandsbezogenen Theorie generieren. Vgl. Wiedemann, Gegenstandsnahe Theoriebildung, S. 440–445. Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, S. 15; Hervorhebung im Original. Hoffmann-Riem, Sozialforschung, S. 339–372. Ebd., S. 343. Vgl. ebd., S. 346 f.; Lamnek, Qualitative Sozialforschung, Band 1, S. 21–30. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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den Einsatz der in der Oral History als Erinnerungsinterview bezeichneten Befragungsmethode.28 Diese Interviewform orientiert sich im Wesentlichen an der Erhebungstechnik des von Schütze entwickelten narrativen Interviews29, verzichtet dabei zunächst auf das übliche meist vorstrukturierte und damit gesteuerte Interviewschema von Frage und Antwort und lässt breiten Raum für intrinsisch motivierte Erzählungen biographischer Erfahrungen. Das heißt es bietet ebenso Möglichkeiten der Setzung zunächst individueller Relevanzen und besonders lebensgeschichtlich prägender Episoden. Eine solche Interviewtechnik liefert damit Zugang zu Erzähldaten von Menschen, die „sehr viel mehr von ihrem Leben ‚wissen‘ und darstellen können, als sie in ihren Theorien über sich und ihr Leben aufgenommen haben. Dieses Wissen ist den Informanten auf der Ebene der erzählerischen Darstellung verfügbar, nicht aber auf der Ebene von Theorien.“30 Die Erzählung eigenerlebter Erfahrungen ermöglicht insofern vergangene Handlungszusammenhänge zu rekonstruieren und erst zu entdecken, der Erzählcharakter gibt Raum für damalige Perspektiven, weniger durch das „Jetzt“ der Erzählsituation bestimmt, sondern durch die Motivation des Biographen zu einer Erzählung in der linearen Abfolge der Erfahrungen, die von den Zugzwängen des Erzählens geleitet werden. „Dieser Zwang, die Implikate der seinerzeitigen Situation zu erläutern, um die schon begonnene Geschichte zu einem guten Ende zu führen, kann Einblicke ermitteln, die über spätere Sinnkonstruktionen hinausreichen und Anknüpfungspunkte für weitere Assoziationen der Gedächtnisarbeit bieten.“31 Auf die Problematik der Retrospektive im lebensgeschichtlichen Erzählen, die stets eine gegenwärtige Komponente beinhaltet, in welcher die Repräsentationen und Erfahrungsaufschichtungen von Ereignissen eigenerlebter Vergangenheit zu offerieren gesucht werden, wurde bereits im Rahmen der Quellenkritik von Erinnerungsinterviews in Kapitel 2 hingewiesen. Trotz anhaltender Kritik32 wurde dieses sozialwissenschaftliche Befragungsinstrument favorisiert: Die Aufforderung zum lebensgeschichtlichen Erzählen 28 Dieses definiert sich als Gespräch über besondere historische Ereignisse in der Form eines narrativen Interviews innerhalb dreier Phasen: 1. Lebensgeschichtliches Erzählen ausgelöst durch einen erzählgenerierenden Impuls, 2. Erzählgenerierendes Nachfragen und 3. Dialog innerhalb der vorbereiteten Leitfragen. Von Plato praktiziert zudem eine vierte Phase, die zur abschließend klärenden Auseinandersetzung über mögliche Differenzen zwischen Interviewpartner und Interviewenden bzw. zur Rückführung aus dem eventuell emotionalisierten Zustand in die Alltagswirklichkeit dienlich sein soll. Vgl. grundlegend Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 396–405 und Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft, S. 22 f. Nähere Erläuterungen zur Umsetzung in der vorliegenden Studie erfolgen in den Ausführungen zum konkreten Erhebungsverfahren der Interviews (vgl. Kap. 3.3.3). 29 Vgl. Schütze, Biographieforschung, S. 283–293. 30 Hermanns, Narratives Interview, S. 185. 31 Niethammer, Oral History, S. 205. 32 Das narrative Interview hat sich dennoch als Erhebungsverfahren in biographietheoretischen Studien als Standard etabliert und auch interdisziplinär durchgesetzt. Vgl. bspw. die politikwissenschaftliche Studie von: Miethe, Frauen in der DDR-Opposition. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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postuliert eine besondere Interviewsituation, in der die Befragten sich erzählend in den „dreifachen Zugzwang“33 des Stegreiferzählens eigenerlebter Ereigniszusammenhänge verfangen und Geschehnisse so darbieten, wie sie individuell erlebt wurden. Diese stellen sich wie folgt dar: 1. Gestalterschließung der Geschichte, 2. Kondensierung des dargebotenen Materials und 3. seiner Detaillierung im Hinblick auf Verständlichkeit und Plausibilität. Diese Zugzwänge führen den Erzähler gegebenenfalls dazu „über Ereignisse und Handlungsorientierungen zu sprechen, über die er aus Schuld- oder Schambewusstsein oder aufgrund seiner Interessensverflechtung in normalen Gesprächen und konventionellen Interviews vorzieht zu schweigen.“34 Diese „narrativen Moleküle, welche die Anekdoten darstellen“35, gilt es in ihrer Komplexität zu eruieren und zu entdecken, um sie sodann auf dem Wege einer Musterbildung von Erfahrungs- und Verlaufstypen zu abstrahieren und dem historiographischen Diskurs einzuverleiben. Die sich nun anschließenden Ausführungen sollen den – aus theoretischen Vorüberlegungen konstruierten – konkreten Forschungsprozess transparent und nachvollziehbar dokumentieren.

3.3.2 Auswahl der ZeitzeugInnen Die Befragung der ZeitzeugInnen hatte hypothesengenerierenden Charakter, deshalb musste die Auswahl der zu untersuchenden Einzelfälle systematisch im Sinne der Bildung eines theoretischen Samples nach Glaser/Strauss erfolgen.36 Eine solche Suchstrategie weist zunächst auf die stetige Wechselbeziehung von Datensammlung und Analyse als Ausgangspunkt des Auswahlverfahrens hin. Die Suche nach geeigneten Interviewpersonen ergab sich erst sukzessive im Vollzug der bereits begonnenen Analyse. Für die kriteriengesteuerte Samplingstrategie musste sichergestellt werden, das hier TrägerInnen relevanter Merkmalskombinationen im Sinne des Erkenntnisinteresses Berücksichtigung fanden. Beginnend mit einem entsprechend den Forschungsinteressen ersten Fall entwarfen sich nach vollzogener Fallinterpretation weitere hypothetische Kontrastfälle, die sich jeweils von den bis dahin gefundenen Fällen gravierend unterschieden. Statt der Befragung einer statistisch festgelegten Anzahl von ZeitzeugInnen wurde also so verfahren, dass die Auswahl weiterer InterviewpartnerInnen einer Gruppierung von der theoretischen Sättigung abhängig ist.

33 34 35 36

In der Debatte um die Problematik des narrativen Interviews vgl. bspw. Rosenthal, „... wenn alles in Scherben fällt ...“, S. 119–127 oder Koller, Biographie, S. 33–45. Die Fülle der Positionen bündelnd und ergänzend: Jureit, Erinnerungsmuster, S. 60–70. Vgl. Flick, Qualitative Forschung, S. 118. Schütze, Hervorlockung und Analyse, S. 225. Niethammer, Oral History, S. 205. Vgl. Glaser/Strauss, Grounded Theory, S. 53–55 und Wiedemann, Gegenstandsnahe Theoriebildung, S. 441–443. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Methodologische Grundlegung

Die Auswahl der Befragten orientierte sich damit am Prinzip der maximalen bzw. minimalen Kontrastierung. Im Hinblick auf die erkenntnisleitende Fragestellung der Arbeit wurde mit der Suche nach jeweils stark kontrastierenden Fällen des individuellen Konfrontationsgrades und der jeweiligen Erfahrungszusammenhänge mit dem MfS begonnen. Für die kriteriengesteuerte Samplingstrategie musste damit sichergestellt sein, dass hier Träger relevanter Merkmalskombinationen im Sinne des Erkenntnisgewinns berücksichtigt wurden. Vor diesem Hintergrund zeigte sich ein weiteres Kriterium als entscheidend, nämlich gleichzeitig sicherzustellen, dass ein Zugang zur entsprechenden Aktenlage des MfS im jeweiligen Einzelfall möglich sein würde. Nur so konnte dem quellenkritischen Anspruch der Studie, einer synchronen Bearbeitung von subjektiven und herrschaftlich erstellten Quellen, Rechnung getragen werden. Zudem wurde der Rahmen der damaligen Konfrontationssituation zeitlich eingegrenzt, so dass allein Personen, die während der Ära Honecker mit dem MfS in Berührung kamen, in das Sampling aufgenommen wurden. Die zeitliche Eingrenzung begründete sich in der grundlegenden Fragestellung der Arbeit, die auf differenzierte Methoden und Arbeitsweisen des MfS abzielt, deren Umsetzung ab Anfang der siebziger Jahre relevant und greifbar wird. Um dem Anliegen einer Erfassung ebenso lokalhistorischer Besonderheiten gerecht zu werden, wurde der Untersuchungsraum geographisch auf das Gebiet des heutigen Sachsen eingegrenzt. Aus diesem Grund konzentrierte sich die Suche vor allem auf einen Personenkreis, der in Konfrontation mit den damals dort zuständigen Bezirksverwaltungen des MfS geriet: Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt (heutiges Chemnitz). Zu einer Vermittlung von ZeitzeugInnen kam es daraufhin von Seiten des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden und durch die Hilfe der Außenstelle der BStU in Chemnitz. Die Kontaktaufnahme mit den ausgewählten ZeitzeugInnen erfolgte zugleich telefonisch und per Anschreiben, das zu Thematik und Anliegen des Projektes Auskunft gab und auf freiwillige Initiative der Adressierten hin eine Verbindung möglich machte. Während der ersten Vorgespräche wurden die jeweiligen Daten sondiert, im Anschluss Termine und Örtlichkeiten für die Interviews vereinbart. Letztendlich konnte auf ein Sample von 30 Personen zurückgegriffen werden. Die Interviews wurden innerhalb von drei Erhebungsphasen durchgeführt.

3.3.3 Erhebung der Interviews Im Vorfeld der Realisierung der ersten Erhebungen wurde eine Testphase anberaumt, die im süddeutschen Raum zur Durchführung von zwei Testinterviews führte. Innerhalb dieser beiden Termine sollte erstmals das technische Equipment im situationsbedingten Rahmen Erprobung finden. Es erwies sich hierbei die Nutzung eines unauffälligen Aufnahmegerätes mit internem Mikrofon als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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besonders dienlich. Der Versuch, ein externes Mikrofon zu verwenden, das qualitativ hochwertigere Aufnahmen ermöglicht hätte, beinhaltete jedoch die Problematik, dass bei einigen GesprächspartnerInnen das Mitlaufen eines Tonbandgerätes grundsätzliche Bedenken und negative Assoziationen in Bezug auf teilweise erlebte Verhöre mit dem MfS auslöste. In dieser Testphase wurde speziell für das Sample ein Sozialdatenbogen entworfen, der ebenso Komponenten, die Konfrontationserfahrung und -intensität erfassen können (Haftzeiten etc.), aufnimmt. Die Erhebung dieser Daten erfolgte im Allgemeinen informell, gleichzeitig mit den Notizen zur Erzählgenerierung im Verlauf des Interviews; sie wurden im Nachgespräch gegebenenfalls ergänzt. Für das zu erstellende Memo37, das ausführliche Aufzeichnungen zu Zeitpunkt, Dauer, Ort, Umgebung, Situation und Besonderheiten des Gesprächs enthält, wurde ein gesondertes Formular entwickelt. Auf der Grundlage aller Interview-Memos war jeweils dann ein Gesprächsprotokoll anzufertigen. In diesem standardisierten Rahmen konnten auf diese Weise tragende, für die Auswertung und Interpretation des Gesprächs wichtige außersprachliche Subtexte gesichert werden. Vor der eigentlichen Erhebungsphase wurde für die Phase des erzählgenerierenden Nachfragens im Erinnerungsinterviews ein Leitfragenkomplex entwickelt und in den Erhebungsphasen nochmals aus dem konkreten Wissen um die Kontrastivität der Auswahl des Samples thematisch vertieft. Zudem ergaben die Informationen aus den Vorgesprächen mit den InterviewpartnerInnen neue Aspekte in der Fragestellung zu geschlechts- und konfrontationsspezifischen sowie zeit- und lokalgeschichtlichen Besonderheiten der jeweiligen Lebenswirklichkeiten. Andererseits beinhaltete die Entscheidung für ein relativ stark ausdifferenziertes Leitfragenmuster im zweiten Gesprächsteil des Interviews die gleichzeitige Weitung des ersten narrativen Gesprächsteils. Für die praktische Umsetzung bedeutete dies eine offenere Fragestellung des Erzählimpulses, der zwar themenzentriert, aber dennoch im lebensgeschichtlichen Rahmen formuliert wurde: „Sie sind als ehemalige/r DDR-Bürger/in mit dem Ministerium für Staatssicherheit in Berührung gekommen. Mich interessieren Ihre Erlebnisse mit der Staatssicherheit. Am besten beginnen Sie damit, wann und wie es überhaupt erstmals zu einer Wahrnehmung, einem Kontakt oder einer Konfrontation mit der Staatssicherheit kam und erzählen Sie dann, wie sich alles im weiteren Verlauf für Sie entwickelt hat?“ Mit der Erhebung der Interviews wurde im September 2000 im gesamten Raum Sachsens begonnen, die beiden weiteren Erhebungsphasen vollzogen sich schließlich 2001 im süddeutschen Raum und in der Region Chemnitz. Das infolge der einzelnen Phasen neuerliche Auswahlprozedere der Interviewpersonen begründete sich dabei stets aus den im schon begonnenen Auswertungsprozess hervorgegangenen Unzulänglichkeiten und der Suche nach einer 37 Memos: „Schriftliche Analyseprotokolle, die sich auf das Ausarbeiten der Theorie beziehen.“ Strauss/Corbin, Grounded Theory, S. 169. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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adäquaten Verteilung, was insbesondere die Differenzierung des Konfrontationsgrades im minimalen Vergleich ähnlicher Fälle anbetraf. Die durchgeführten Interviews fanden nach Möglichkeit in einer den ZeitzeugInnen vertrauten Umgebung statt, in der Regel in den jeweiligen Privatwohnungen. Die Vorinformation der GesprächspartnerInnen war weitgehend standardisiert: Auf der Basis eines einheitlichen Textes wurden sie knapp über den Forschungskontext informiert. In einem weiteren, gleichlautend verfassten Anschreiben wurde vor Beginn des Gesprächs die Bereitschaft zum Interview sowie zur wissenschaftlichen Verwendung des Datenmaterials in einer schriftlichen Vereinbarung fixiert. Das Schreiben enthielt darüber hinaus eine Zusicherung über die Anonymisierung der persönlichen Daten. Für die jeweilige personenbezogene MfS-Aktenlage der betreffenden Person konnten bei Einverständnis gesonderte Forschungsanträge zur Einsichtnahme gestellt werden. Die stets auf Tonband aufgezeichneten Gespräche bewegten sich in einem zeitlichen Rahmen von 45 Minuten bis zu fünf Stunden. Die besprochenen Tonbänder wurden infolge des Gesprächs personenbezogen gekennzeichnet, mit den erforderlichen Daten archiviert und für die Transkription und Auswertung gesichert. Kopien der personenbezogenen MfS-Akten, Briefe, Urteile oder ähnlich ergänzendes Quellenmaterial konnten ebenfalls gesichtet und dem Materialbestand für die Auswertungsphase zugefügt werden. Im Anschluss an jedes Interview wurde ein ausführliches Memo angefertigt, das später in das Gesprächsprotokoll Eingang fand.

3.3.4 Transkription der Interviews Gesprochene Sprache stellt im vorliegenden Forschungszusammenhang die Quellengrundlage für eine Analyse der Lebenswirklichkeiten ehemaliger DDRBürgerInnen in der Konfrontation mit staatlichen Überwachungsmechanismen dar. Die Sprache des Einzelnen ist dabei das zentrale, verbale Vermittlungsmedium. Sie wird für uns zugänglich und einzigartig in dem, was Coseriu als ‚Rede‘ bezeichnet38, also als das individuell wahrnehmbare Sprechen. Diese allein erscheint, spricht man im linguistischen Sinne von der Dreiheit von System, Norm und Rede als unmittelbar transparent, während die Norm, die Gesamtheit der sozial gängigen Realisierungen, lediglich von den individuellen Redeakten abstrahiert werden kann und auf dieser Ebene das System, die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, von Sprache erkennbar macht. Was sich demnach im Interview in der mündlichen Rede darstellt, wird zunächst durch die erinnerte Erfahrung an das vormals Erlebte in spezifisch individuell geschaffenen Wirklichkeitskonstrukten aktualisiert. Das subjektiv Erlebte konstruiert sich schließlich im ‚Reden‘ als sprachliches Phänomen, das eine 38 Vgl. Coseriu, System, Norm und ‚Rede‘, S. 45–59. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gegenwärtige subjektive Variation der Wirklichkeit des Erlebten formt. Das individuelle Sprechen, die Sprache des Subjekts allein benennt und erschafft aufgrund ihrer eigenen sinnstiftenden Signifikaten39 die erfassbar erinnerten Realitäten und sucht unter Einbindung aktueller Diskurse eine Vorstellung dieser im lebensgeschichtlichen Erzählen zu vermitteln.40 Sprache definiert sich insofern als ein Wirklichkeit konstituierendes Element und findet folglich Einbindung in die nähere Betrachtung der Beziehung von Sozialstruktur und historischem Erleben des Individuums. So wird sprachlichkommunikatives Handeln als Element der alltäglichen individuellen Konstruktion von Lebenswirklichkeit in die übergeordnete Fragestellung eingereiht, wie nämlich der Einzelne als Teil von Gesellschaft die gemeinsam erschaffene Wirklichkeit erfährt. Tragend wird dieses Bewusstsein zunächst im Hinblick auf Verfahrensweisen der Transkription lebensgeschichtlicher Interviews an der Stelle, wo es um die Frage der Authentizität des Gesagten in der Niederschrift geht: Wie können die Inhalte der geäußerten erlebten Wirklichkeiten in ihrer sprachlichen Form mit den darin vermittelten Subtexten authentisch dargestellt werden? Eine solche Fragestellung muss aus dem Bewusstsein argumentieren, dass jegliche Transformation des Gesprochenen bereits eine Interpretationsleistung des erhobenen Quellenmaterials bedeutet. Aus dieser Überlegung erst ist es möglich, dem Gegenstand angemessene, spezifische Lösungen zu entwickeln, um daraus folgend die inhaltlichen und formalen Aspekte der auditiven Quelle in größtmöglicher Zuverlässigkeit in der Textgestalt sichtbar zu machen. Den Vertretern der Oral History wird in Bezug auf diese Frage nicht nur seitens der Germanistik „ein geradezu staunenswert sorgloser Umgang mit den Problemen der Transkription“41 vorgeworfen, welcher, so jene Kritiker, auf dem Verständnis zu gründen scheint, dass Sprache mehrheitlich auf den Informationsgehalt und reine Tatsachen zu reduzieren sei.42 39 Im Sinne der Definition von de Saussure: Signifikat (signifié) als Inhaltsseite, Signifikant (signifiant) als Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens (signé). Vgl. Saussure, Grundfragen, S. 78 f. 40 Vgl. die Vorstellung der Wirklichkeitsreferenz von Sprache besonders weitreichend bei Lacan, Der Sinn des Buchstabens, S. 19–34. 41 Schröder, Gestohlene Jahre, S. 80. 42 Vgl. entgegen dieser mehrheitlichen Tendenz bereits 1982 Peukert, der die Bedeutung von Form und Inhalt im lebensgeschichtlichen Erinnern ausdrücklich betont: „Deshalb habe ich an relativ vielen Stellen zur Veranschaulichung Zitate aus zeitgenössischen Quellen und Erinnerungen beigefügt. Damit soll nicht zuletzt ein Eindruck der Sprache und Argumentationsweise vermittelt werden, der für ein tieferes Verständnis einer solchen subjektiven Dimension wie: Erfahrung unerlässlich ist. Zudem zeigt oftmals die Sprachhaltung einer Quelle die eigentliche Tendenz deutlicher als der bloße Informationsgehalt.“ Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 10. Die neueste Veröffentlichung von Wierling erweist sich in diesem Kontext hingegen erneut als rückwärtsgewandtes Unternehmen. Die Notationsregeln des Transkriptionsverfahrens werden lapidar abgehandelt; ihre spezifische Bedeutung für den Textzusammenhang bleibt somit unerläutert im Raum stehen. Vgl. Wierling, Geboren im Jahr Eins, S. 25, FN 4. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Soll jedoch die Vielgestaltigkeit und Lebendigkeit der mündlichen Rede und somit ihre spezifische Aussagequalität im größtmöglichen Rahmen erhalten bleiben, gilt es entsprechende methodische Vorgaben zu schaffen. Dessen ungeachtet hat die Oral History aber bisher keinen eigenen Standard für die Formen des Transkribierens entwickelt, der sowohl dem Erkenntnisinteresse der Forschungen ihrer eigenen Disziplin als auch den quellenkritischen Vorgaben adäquat entspräche. HistorikerInnen sehen sich deshalb stets zu Anleihen im interdisziplinären Raum gezwungen, auch wenn sich vereinzelt Arbeiten mit hoher Sensibilität diesem Thema annehmen und ein quellenkritisch zuverlässiges und transparentes Transkriptionsverfahren im Bereich der Oral History fordern.43 Bislang scheint tatsächlich kein wirkliches Problembewusstsein für die im Vorausgehenden dargelegten Zusammenhänge in der fachwissenschaftlichen Diskussion zu existieren. Die Überlegungen im Folgenden wie deren Umsetzung im vorliegenden Quellenmaterial sollen deswegen einen Impuls für eine erneute Auseinandersetzung mit der Thematik in der Oral History geben. In der Linguistik hat die pragmatische Diskursanalyse verschiedene Transkriptionssysteme entwickelt, um die Konventionen für die Verschriftlichung sprachlichen Verhaltens explizit zu machen und zu vereinheitlichen.44 Die Transkription der Interviews dieses Projektes orientiert sich inhaltlich an der so genannten Halbinterpretativen Arbeitstranskription (HIAT) nach Ehlich und Rehbein45, berücksichtigt doch dieses Verschriftlichungssystem wichtige Aspekte für die Analyse des sprachlichen Verhaltens: verbale, prosodische und parasprachliche wie außersprachliche Phänomene. HIAT ist so konzipiert, dass die Transkribierenden zwar keines speziellen phonetischen Trainings bedürfen, aber eine linguistische Ausbildung benötigen, was der Tatsache geschuldet ist, dass die Verschriftlichung auditiven Materials hohe Anforderungen an die Wahrnehmungsgenauigkeit und Rezeptionsaufmerksamkeit stellt.46 Gleichzeitig sollte der Tradition der ethnomethodologischen Konversationsanalyse Rechnung getragen werden, der zufolge es das Bestreben der interviewenden ForscherInnen sein müsse, neben der Erhebung des Interviews auch das Transkript selbst anzufertigen. Diese beruht auf der Erkenntnis, „dass auch die wörtlichste Verschriftlichung bereits eine wirkliche Übersetzung [...] ist (allein schon die Zeichensetzung, beispielsweise die Stelle, an der ein Komma gesetzt wird, kann über den gesamten Sinn des Satzes entscheiden)“47 und einen „integrale[n] Bestandteil des Analyseverfahrens“48 darstellt. In der Darlegung der Charakteristika des Transkriptionsvorgangs ist schließlich zu konstatieren, dass jegliche Übertragung der ursprünglich auditiven Quelle in eine schriftliche Form eine Veränderung ihrer selbst bedeutet. Ihre Not43 44 45 46 47 48

Vgl. wiederum Jureit, Erinnerungsmuster, S. 30 f. Vgl. hierzu Ehlich/Switalla, Transkriptionssysteme, S. 78–105. Ehlich/Rehbein, Halbinterpretative Arbeitstranskription, S. 21–41. Vgl. Kowal/O’Connell, Psycholinguistische Aspekte, S. 355. Bourdieu, Verstehen, S. 797; Hervorhebung im Original. Kowal/O’Connell, Psycholinguistische Aspekte, S. 354. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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wendigkeit einer Verschriftlichung begründet sich aber dennoch, speziell im Hinblick auf den Auswertungsprozess, weil nur die schriftliche Umsetzung eine Strukturierung der enormen Anzahl heterogener Textbausteine, insbesondere jener des narrativen lebensgeschichtlichen Erzählens zulässt. Dadurch aber der Interpretationsvorgang subjektiver Erfahrungs- und Verarbeitungsmuster in der Gesamtheit der lebensgeschichtlichen Äußerung erst ermöglicht wird. Der visuelle Charakter der Quelle, welcher beim medialen Wechsel zu Ungunsten des auditiven in Erscheinung tritt, sollte aber in seiner Bedeutung für die Erfassung sinnzusammenhängender Komplexe in der Analyseleistung als unentbehrliches und obligatorisches Element anerkannt werden. Die Entscheidung für ein adäquates Transkriptionssystem zwingt – im Bewusstsein dieser Unwägbarkeiten – demzufolge stets in ein unausweichliches Dilemma der Ansprüche von Authentizität49 und Lesbarkeit50, die zugleich der Analyse und den Dispositionen des Rezipienten entsprechen muss.51 Die Verschriftlichung der Interviews vom Tonträger wurde allein von der Autorin durchgeführt. Insofern kann die Übertragung der Bedeutungsgehalte52 der Interviewaussagen als in hohem Maße gewährleistet betrachtet werden, da eine Vertrautheit mit der Quellenlage in beiden medialen Formen gegeben war. Das Transkriptionskonzept verfolgte eine detailgetreue Übertragung des Gesagten. Für die Transkription wurde in Orientierung an Rosenthal und Jureit53 ein Notationskonzept54 entwickelt, das im Verlauf der Transkriptionsarbeiten soweit vereinheitlicht wurde, dass die in allen Interviews auftretenden sprachlichen Differenzierungsbereiche gleichwertig repräsentiert werden konnten. Im Folgenden soll dieses katalogartig erläutert werden55 :

49 In diesem Sinne authentisch ist nur die Tonbandaufnahme. Lediglich die Entscheidung für eine phonetische Transkription könnte ihr nahe kommen, kann sie doch die Komplexität und Reichhaltigkeit des Gesprochenen wie Sprachrhythmus, Tempo und Tonfall wie auch alle nonverbalen Ausdrucksformen berücksichtigen. Vgl. Bourdieu, Verstehen, S. 798. 50 Vgl. die nähere Bestimmung des Begriffs der Lesbarkeit, bisher als Hauptkriterium in der Entscheidung für die Transkriptionsweise undefiniert ins Feld geführt, bei: Schröder, Interviewliteratur, S. 58, FN 177. 51 Vgl. hierzu die Position Niethammers, der innerhalb dieses Dilemmas eine Orientierung zugunsten der Originalquelle, d. h. der mündlichen Rede favorisiert, in: Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 438, Anm. 38. 52 In diesem Zusammenhang ist für die Einordnung und Übertragung von mündlich geäußerten Bedeutungsinhalten auf eine Differenzierung in die zu berücksichtigenden Funktionstypen (informationeller, sozialpsychologischer bzw. individualpsychologischer Typus) zwischenmenschlicher Kommunikation hinzuweisen. Vgl. Steinmüller, Kommunikationstheorie, S. 50–56. 53 Vgl. Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 239; Jureit, Erinnerungsmuster, S. 426. 54 Siehe Kap. 9 Anhang – Transkriptionsnotation. 55 Richtungsweisend auch für die Oral History und in Orientierung daran: Schröder, Gestohlene Jahre, S. 91–95. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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1) Die Transkription gestaltet sich in „literarischer Umschrift“. Das heißt es erfolgt eine Umsetzung des Gesprochenen mit Hilfe des gewohnten Alphabets (im Gegensatz zur phonetischen Transkription mit eigenen Zeichensätzen). Phonetisch berücksichtigt wird die umgangssprachlich und dialektal gefärbte ‚normale‘ (auch grammatische) Modifikation der Hochsprache, dabei in der Verwendung des Alphabets der Schriftsprache ohne Sonderzeichen. In diesen Fällen wird der phonetischen Darstellung im weitesten Sinne der Vorrang vor der orthographischen Richtigkeit gegeben. Erhebliche Probleme bereiten dabei vor allem umgangssprachliche Elemente mit Färbungen des sächsischen Dialekts. Die entsprechenden Darstellungsformen (siehe Kapitel 9 Anhang – Transkriptionsnotation, Punkt 2) gestalten sich dabei nach dem individuellen Ermessen der Transkribierenden und erheben insofern keinen Anspruch auf eine absolute Entsprechung.56 2) Die Interpunktion folgt dem Prinzip der gebräuchlichen Regeln. Ausnahmen erfolgen, wenn der akustische Eindruck des individuellen Sprechens und der entsprechenden Setzung von Sinneinheiten dadurch nicht oder nur mangelhaft wiedergegeben würde. 3) Eine Unterscheidung in jeweils vollständig (V) und thematisch (T) transformierte Interviews, das heißt bei letzteren nach inhaltlichen Präferenzen ausschnittartig transkribiert, gewährleistet die im Anmerkungsapparat angeführte Initialkürzung. Zudem enthalten die Belegstellen jeweils die Nummer des Interviews, eine anonymisierte Legende, die das Geschlecht der Person durch die Setzung von Herr oder Frau beinhaltet und das Datum, an welchen das Gespräch aufgezeichnet wurde, sowie die jeweilige Seitenzahl der zitierten Stelle im Transkript. Bibliographisch erschließbar wird dies wie beispielhaft folgt: V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 12. Zugleich wurden zwei Partnerinterviews durchgeführt, die einzelne und gemeinsame Sprechsequenzen innerhalb eines Interviewtranskripts abbilden; sie folgen einer Interviewnummerierung gemäß V-Transkript Nr. 12/1 bzw. 12/2, Herr/Frau Arndt, 11.10. 2000 und beziehen sich in den Seitenangaben auf Gesamtseitenzahl des Transkripts. 4) Personennamen Dritter, Eigen- und Ortsnamen sowie auf Personen hinweisende Informationen werden zum Zweck der Anonymisierung initialgekürzt verändert bzw. unter einem Hinweis (bspw.: [Ortsname]) ausgelassen. Die InterviewpartnerInnen werden auf ihren Wunsch hin namentlich im Pseudonym geführt. 56 Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass die von den InterviewpartnerInnen geäußerten Redeweisen sich an einem äußerst bereinigtem Niveau, welches der Schriftsprache sehr nahe kommt, orientieren, aber dennoch von umgangssprachlichen und dialektalen Phänomenen gefärbt sind. Diese gilt es ebenso in angemessener Form darzustellen. Um die spezifischen Varianten umgangsprachlichen oder gar dialektalen Sprechens zu transkribieren, hätte man auf weitaus spezifischere Systeme phonetischer Transkription zurückgreifen müssen, was aber im Rahmen dieser Arbeit und in der Orientierung ihres Erkenntnishorizonts nicht geleistet werden kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Empirische Quellenerhebung

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5) Sich häufig wiederholende Äußerungen seitens der Interviewerin (bspw. „mmh“, „ja“, „aha“), die lediglich der Erhaltung des Erzählflusses oder der Signalisierung von Aufmerksamkeit dienten, finden keine schriftliche Übertragung, solange sie nicht inhaltlich sinngebenden Charakter tragen. Von dieser Einschränkung abgesehen, bleibt der Dialogcharakter der Interviewsituation in der Transkription durchweg erhalten. 6) Sich überlappende Redesituationen, in denen sich zwei bzw. mehrere Sprecher gleichzeitig artikulieren, werden in ein sinnorientiertes Nacheinander geordnet. 7) Kommentare der Transkribierenden zur nonverbalen Kommunikation, zu Sprechverhalten und situationsgebundenen Geräuschen werden durch doppelte, runde Klammern gekennzeichnet und lediglich dort berücksichtigt, wo sie auffallend, in sinnverändernder Form auftreten. 8) Apostrophe werden zur Darstellung ausgefallener Laute besonders im umgangssprachlichen Sprechen konsequent eingesetzt. 3.3.5 Auswertung und Analyse – Typenbildung57 Mit Hilfe eines Interpretationsverfahrens, dass sich an einer empirisch begründeten Typenbildung orientiert, konnte diese Studie dem von Niethammer für viele Arbeiten, welche im Umfeld der Oral History entstehen, prophezeiten „Enttypisierungsschock“58 ‚entgehen‘ und in der Orientierung am zugrundegelegten handlungstheoretischen Ansatz einen adäquaten Auswertungs- und Interpretationsansatz finden. Der Grundgedanke typologischer Analysen beinhaltet, dass nach einem bereits vorbestimmten Kriterium (Fragestellung in einem festgelegten Merkmalsraum) das Datenmaterial in einem Gruppierungsprozess zunächst anschaulich repräsentiert wird, indem dessen spezifische Merkmale fokussiert und detailliert analysiert werden. Sind die Typen gegenstandsorientiert gebildet, können in Beschreibungen, die sich spezifisch auf Einzelfallanalysen einlassen, Aussagen gemacht werden, die in einen allgemeineren Deutungsrahmen einzuordnen sind.59 Der allgemeine Ansatz einer so – gemäß dem oben geschilderten Grundgedanken – gebildeten Typologie besteht nun darin, Charakteristika von einzelnen Typen zueinander deutlich werden zu lassen. Ihr Ansatz definiert sich zugleich dadurch, dass hier die Unschärferelationen des einzelnen Typen in der gegenseitigen Abgrenzung sowie im Bestehen fließender Übergänge aufgezeigt werden. Auf der Ebene der Typologie können durch den Vergleich der gebilde57 Die aus der Studie hervorgegangene Typologie gründet auf das von Kluge favorisierte Verfahren einer „empirisch begründeten Typenbildung.“ Vgl. Kluge, Empirisch begründete Typenbildung, v. a. S. 257–283. 58 Niethammer, Oral History, S. 207. 59 Vgl. Mayring, Einführung in die qualitative Sozialforschung, S. 130–133. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Methodologische Grundlegung

ten Gruppen Unterschiede zwischen den Typen und die Vielfalt und Breite des Themengebiets erarbeitet werden. Je höher die externe Heterogenität zwischen den Typen, desto klarer können Differenzen erkannt werden. Außerdem vermittelt die Ebene der Typologie ebenso das Gemeinsame zwischen den Typen, die sich alle auf eine gemeinsame Untersuchungsebene und Untersuchungsgruppe sowie den gleichen Merkmalsraum beziehen müssen, um zueinander in Bezug gesetzt werden zu können. Auf der Ebene des Typus wird der Blick zuvorderst auf das Gemeinsame desselben Typus gelenkt und auf seine möglichst hohe interne Homogenität.60 Für den konkreten Auswertungsvorgang der vorliegenden Erinnerungsinterviews wurde als Interpretationshilfe zuerst ein Auswertungsmuster entwickelt, das sich an den im Forschungsprozess fortschreitenden Interpretationsleistungen der narrativen Erzählteile (Erfassung der erfahrenen individuellen Wirklichkeiten) und an den Einzelaspekten des Leitfragenkomplexes (Abfolge der Themenfelder) orientierte. In diese „fallbezogene Dimensionalisierung“ von Kategorien wurden parallel die aus den MfS-Akten erschließbaren komplementären thematischen Aspekte synchron eingebunden. Mit deren Hilfe konnte schließlich auch eine erste Strukturierung des Gesagten aus der „Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen“ aller Fälle ermöglicht werden. Daraus ergaben sich relevante Merkmale, welche die „Varianz und Heterogenität der gesamten Untersuchungsgruppe“61 abbildeten, die einer Typologie zugrunde gelegt werden konnten. Das Auswertungsmuster war damit auch die Grundlage der Darstellungsweise der einzelnen Typen. Es folgte eine fallvergleichende Kontrastierung, die eine Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten und ‚Korrelationen‘ im typologischen Sinne (Kausaladäquanz) zum Ziel hatte.62 Eine erneute Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge (Sinnadäquanz) der Typenbildung machte schließlich in einem letzten Schritt eine Deutung typischen Handelns im Sinne einer Charakterisierung der gebildeten Typen möglich.63 Aus dem hier im Zentrum stehenden Hauptquellenkorpus bildete sich folglich eine Typologie von fünf Typen, welche sich nicht als typisch im numerischen Sinne darstellen, sondern als das Typische des Einzelfalls repräsentieren: „Gegen die Frage, wie häufig ein Typus in einer bestimmten Population auftritt, ist zwar nichts einzuwenden, doch die numerische Häufigkeit kann nur auf der Basis von rekonstruktiven Analysen aller dazu erforderlichen Fälle bestimmt werden – und dies ist wohl ein selten zu leistendes, weil zu aufwendiges Unterfangen. Dagegen kann eine rekonstruktive Analyse von wenigen Fällen – repräsentieren sie distinkte Typen – und eine darauf aufbauende Modellbildung über 60 Vgl. Kluge, Empirisch begründete Typenbildung, S. 26–31. 61 Kelle/Kluge, Vom Einzelfall zum Typus, S. 73. 62 Die Bildung von „empirisch begründeten Typen“ grenzt sich hier insbesondere vom „Idealtypenbegriff“ Webers ab, da hier der Wert ihres empirischen Konstruktcharakters, der abhängig ist von bestimmten festgelegten Merkmalen, im Mittelpunkt steht. 63 Vgl. Kluge, Empirisch begründete Typenbildung, S. 260 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Empirische Quellenerhebung

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die Wechselwirkung zwischen den Typen durchaus Aussagen über die soziale Wirksamkeit eines Typus machen, die sich aber keineswegs aus der Häufigkeit seines Auftretens ableiten lässt.“64 Auch der nun vorliegende Typisierungsvorgang war auf die Sättigung der einzelnen Typen angewiesen, deren Zahl aufgrund des dargelegten Samplingverfahrens schließlich zwischen fünf und sieben Interviews variierte. Der Erkenntnisgewinn dieser Studie spiegelt sich damit in der zugrundegelegten Typologie (Kapitel 6 und 7)65 wider, mit der sich „keine Repräsentativität erzielen, wohl aber eine Situierung von typischen Verläufen in der Gesellschaft“66 der DDR darstellen ließ.

64 Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 211. 65 Zu ihrer spezifischen Darstellungsform vgl. die Vorbemerkung zu Kap. 6. 66 Niethammer, Oral History, S. 208. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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4.

Gesellschaftlich-normative Aspekte und Wirklichkeiten des Realsozialismus

Innerhalb der Bandbreite möglicher Positionen zur theoretischen Einordnung und Beurteilung des politischen Systems der DDR und ihrer Gesellschaft werden jene historischen sowie soziologischen Perspektiven als wegweisend gelten, welche im Hinblick auf die DDR-Gesellschaft die grundlegend systemtheoretischen Vorklärungen ermöglichen und zugleich die für diese Untersuchung tragende Beziehung von Individuum und Gesellschaft vereinen.1 Im Rückgriff auf diese Konzepte orientiert sich die Darstellung an der grundsätzlichen Annahme von der DDR als „moderne Diktatur“ und ihrem damit verbundenen dogmatischen Gestaltungsanspruch der gesellschaftlichen Strukturen. Zugleich geht es aber auch um die Einbindung von Modellen, die eine differenzierte Beschreibung gesellschaftlicher Realitäten in den „Grenzen der Diktatur“2 ermöglichen und Formen individueller Handlungsautonomie und alternativer Lebensgestaltung berücksichtigen können.3

4.1

Systemtheoretische Grundpfeiler der DDR-Gesellschaft

Die unterschiedlichen Tendenzen in der wissenschaftlichen Diskussion, welche die System- und Strukturcharakteristika der DDR-Gesellschaft thematisieren4, 1

2 3

4

Die nun folgende Darstellung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen muss aufgrund des begrenzten Raums als Einführung betrachtet werden. Sie hat dennoch die Funktion zu erfüllen, den grundlegenden Rahmen für die im Hauptteil der Studie (Kap. 6) thematisierten Lebensgeschichten abzustecken. Im Gegensatz zu den hier nun folgenden eher abstrakten und skizzenhaften Zügen der Gesellschaft wird in Kap. 6 detailliert und facettenreich auf spezifische Bedingungen in der DDR-Gesellschaft am Beispiel eingegangen. Das betrifft v. a. die Darstellung der staatlich stark beeinflussten Sozialisation in Kindheit und Jugend, die für alle Phasen der ehemaligen DDR ausführlich aufgezeigt wird. Vgl. Bessel/Jessen (Hg.), Grenzen der Diktatur. Vgl. hierzu insbesondere die in Kap. 1 bereits angeführte Orientierung an Lindenberger, der sich insbesondere auf Lüdtkes Konzept von „Herrschaft als sozialer Praxis“ stützt: Lindenberger, Diktatur der Grenzen, S. 22 f. In diesem Sinne bspw. auch Jessen, Gesellschaft im Staatssozialismus, S. 96–110. Nach 1989 sind in der historischen Forschung zur Bestimmung der Charakteristika der DDR und ihrer Gesellschaft zunächst zwei Orientierungen erkennbar geworden. Erstens jene, welche die DDR teleologisch denkt, als einen „von Anfang an zum Scheitern verurteilten Unrechtsstaat“ und dies v.a. aus einem totalitarismustheoretischen normativen Blickwinkel, zweitens solche, die sie genetisch erkennt und demnach als „ein bei allen Einschränkungen legitimes und doch historisch plausibles sozialistisches Experiment“ einordnet (hier v.a. stark kontextbezogene Perspektiven; industriegesellschaftliche pragmatische Ansätze). In der heutigen Debatte muss vor allem die totalitarismustheoretische Betrachtungsweise ihre Unzulänglichkeiten in der Einzelforschung erkennen. Sabrow schlägt für eine Einordnung der gegenwärtigen Forschungsrichtungen drei Paradigmen vor: das nationalgeschichtliche, das blockgeschichtliche und das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gesellschaftlich-normative Aspekte

vereinen trotz aller erkennbarer Differenz zentrale Elemente: Die DDR-Gesellschaft stellte sich demnach als ein in jeglicher Ausprägung politisch konstituiertes, manipuliertes und reguliertes System dar. Das Modell einer „Organisationsgesellschaft“5 kann diese Charakteristika bündeln und jenes durch „von oben gesetzten Zielen“6 geprägtes politisches System, das sich als funktional wie auch sozial entdifferenziert zeigte und innerhalb seiner homogen gestalteten Gesellschaft eine kleine, politisch und sozioökonomisch privilegierte Gruppe als Herrschaftselite anerkannte, definitorisch umreißen.7 Dem organisationsgesellschaftlichen Modell Pollacks folgend8 war die DDRGesellschaft in ihrer Gesamtheit einer organisationsspezifischen Logik verpflichtet, welche sich durch ein bestimmtes Programm, ein bestimmtes Personal und eine bestimmte Struktur kennzeichnete, die ihre Mitglieder und deren Handlungen daran maß, ob sich in ihnen Zustimmung oder Ablehnung zum Sozialismus und seiner gesellschaftlichen Realität und Struktur ausdrückte.9 Die Partei der SED stand als eine Überorganisation an der Spitze der DDR-Gesellschaft, die von oben über Ziele und Programm entschied. Die Möglichkeit eines Austritts aus dem System aber war – im Gegensatz zum Wesen einer Organisation im eigentlichen Sinne10 – aus dem Grunde der herrschenden Gesellschaftslogik nahezu nicht oder nur unter hohen persönlichen Risiken gegeben. Für die Entwicklung der Gesellschaft im Allgemeinen bedeutete dies, dass die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Transformation und individueller Selbstentfaltung, das heißt die Möglichkeiten der gesellschaftlichen und individuellen Differenzierung, nahezu vollständig von der herrschenden SED-Parteielite und ihrem Machtapparat bestimmt wurden. Eine potenzielle Differenzierung der Gesellschaft konnte das politische Ideal mit seinem wissenschaftlichen, kulturellen und insbesondere ökonomischen Leistungs- und Wirksamkeitsstreben in Disbalance bringen. Diese Ausgangslage musste die realsozialistische Gesellschaft aufgrund der fehlenden Modernisierungsmaßnahmen zu Beginn der achtziger Jahre nicht nur auf ökonomischem Gebiet in ‚Wettbewerbsverzug‘ bringen. Die führende Elite, allein um die Erhaltung ihrer systemspezifischen Machtrefugien bemüht, isolierte sich daraufhin auch im internationalen Kontext und provozierte bzw. nahm vorsätzlich sowohl wirtschaftliche und wissenschaftliche Stagnation als auch politische Uniformität und Rigorosität als

5 6 7 8 9 10

systemgeschichtliche. Alltags-, mentalitäts- und erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen, die auf eine ineinandergreifende Darstellung von Herrschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Erfahrungsdimensionen abzielen, stehen immer mehr im Vordergrund der zeithistorischen DDR-Forschung und versuchen die vollzogene Trennung der Paradigmen in sich zu vereinigen. Vgl. Sabrow, DDR im nationalen Gedächtnis, S. 91–111. Pollack, Ende einer Organisationsgesellschaft, S. 292–307. Mayer/Diewald, Kollektiv und Eigensinn, S. 9. Ebd. Vgl. die folgenden Ausführungen in Anlehnung an: Pollack, Ende einer Organisationsgesellschaft, S. 292–297. Im Sinne des organisationssoziologischen Ansatzes der Systemtheorie vgl. dazu übergeordnet Luhmann, Allgemeine Theorie, S. 41 f. Vgl. die Definition von Organisation bei: Luhmann, Funktion der Religion, S. 284–287. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Systemtheoretische Grundpfeiler der DDR-Gesellschaft

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systemimmanente Faktoren in Kauf. Lediglich die umfassend durchgesetzte Abriegelung nach außen und ein nahezu flächendeckender Überwachungs- und Unterdrückungsapparat konnten, so schien es, jegliche Infragestellung der zentralistischen Einheitsgesellschaft im Inneren unterbinden und der SED-Führung freie Verfügungsgewalt, unabhängig von der Einflussnahme der Bevölkerung, gewähren. Verstärkt wurde dieses Bild einer ohnmächtigen, von oben dirigierten Gesellschaft aufgrund der Tatsache, dass es in der Bevölkerung zu einer Art ‚Wohlverhalten‘ gekommen war, das einerseits einen Teil an persönlicher Freiheit, das heißt konkret die Hingabe von Arbeitskraft, forderte, andererseits den Lohn oder Ertrag an sozialer Sicherheit einbrachte. Das pragmatische Denken, aus systemloyaler Arbeit persönlichen Profit schlagen zu können, wurde zum Programm und zu einem wichtigen systemstabilisierenden Faktor des restriktiven Staatssystems. Das „Verhältnis zwischen Volk und Führung [kann insofern] als ‚Partialkonsens‘ beschrieben werden“; dieser jedoch war „bedingt“ dadurch, dass er wie bereits angedeutet „in erster Linie über den repressiven Herrschaftsapparat integriert“ wurde.11 Der „wechselseitige Austausch von Anpassung und Versorgung“12 unter Einwirkung repressiven staatlichen Handelns funktionierte aber nur so lange, wie die wirtschaftliche Effizienz den gesellschaftlichen Ansprüchen genügte. Da aber aufgrund der fehlenden Innovationen schon bald ein hohes Defizit erreicht war, das letztlich die Versorgung in fast allen öffentlichen Bereichen inkonsistent machte, verringerte sich auch der Anpassungsgrad der Bevölkerung. Solange aber das beschriebene System funktionierte, nutzte die führende Parteispitze ihre Entscheidungs- und Führungsgewalt. Jene „Dialektik von obrigkeitlicher Willkür“ einerseits und „mehrheitlichem Schweigen“, Anpassen, Wohlverhalten und Ertragen der Bevölkerung andererseits, kombiniert mit einer alle Wirklichkeitsbereiche ausgrenzenden sozialistischen Ideologie, die über den „dualen Code sozialistisch / antisozialistisch“13 funktionierte, und einem alle Lebensbereiche ausleuchtenden Sicherheitsapparat, erlaubte dennoch das hierarchische Staatsgebilde über vier Dekaden zu stabilisieren. Die vorausgehenden Ausführungen schilderten in aller gebotenen Kürze diejenige Facette der DDR-Gesellschaft, die der systemtheoretischen Grundlage genüge trug. Zugleich existierte auf einer anderen Ebene eine alternative DDRRealität, die sich der verordneten Entdifferenzierung, Nivellierung und Geschlossenheit innerhalb des sozialistischen Systems kontinuierlich zu verweigern suchte. Die realsozialistische Wirklichkeit evozierte ebendiese Entwicklungen, die aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur gleichsam hervortraten. Teils wurden sie in die zentralistische Einheitsstruktur integriert und angepasst, teils aber konnten sie im institutionell ‚freien Raum‘ arbeiten und alternative Konzepte auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebe11

Alle vorausgeh. Zitate Fritze, Täter mit gutem Gewissen, S. 29; Hervorhebung im Original. 12 Pollack, Ende einer Organisationsgesellschaft, S. 296. 13 Alle vorausgeh. Zitate ebd. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gesellschaftlich-normative Aspekte

ne entwickeln und stetig etablieren. Vom Machtapparat des politischen Systems wurden sie disziplinierenden Praktiken unterworfen, vom MfS kontrolliert, diskriminiert und repressiven Maßnahmen unterzogen. Deren Ausformung richtete sich nach der etwaigen Möglichkeit diese alternativen Entwicklungen in das realsozialistische Gerüst der Gesellschaft einzubinden. Jedoch erfuhren nur wenige kritische Formierungen eine Integration, eine sanktionelle Auseinandersetzung wurde zur allgemeinen Regel. Da die DDR aber innerhalb ihres organisationsgesellschaftlichen Systems gleichzeitig eine moderne Industriegesellschaft darstellen wollte, diese Kombination sich aber aufgrund der verordneten Entdifferenzierung und verhinderten Progression ausschloss, verschärfte sich das gesellschaftliche Spannungsverhältnis in immer kürzerer zeitlicher Differenz. Dass diese widersprüchliche Konstellation nicht länger Bestand haben konnte, lag an der mit allen Mitteln angestrengten Aufrechterhaltung des geschlossenen politischen Systems und seiner Abschottung nach außen hin. In einer multikausalen Betrachtungsweise einzelner Faktoren, nämlich erstens der Aufweichung institutionalisierter Widersprüche, dies bedeutet vor allem in der Spannung zwischen zentralisierenden und differenzierenden Entwicklungsbestrebungen, zweitens dem Einwirken externer Faktoren, die drittens erst im Zusammenwirken mit internen gesellschaftlichen und politischen Diskontinuitäten ihre Dynamik entfalten konnten, wird der Zusammenbruch einer realsozialistischen Organisationsgesellschaft, wie jener der DDR im Jahre 1989, erklärbar. Das Modell von Pollack bietet, wie es ein Modell der sozialen Organisation fordert, neben der Darlegung formaler Strukturen auch eine Einsicht in diejenigen, die als ‚informell‘ zu bezeichnen sind. Lediglich in einer Analyse des Bereichs der gesellschaftlichen Konstruktion, der sich kontinuierlich als „Gegenöffentlichkeit“14 neben den offiziellen Strukturen und Institutionen entwickelte, kann auch eine Darstellung des Individuums und seiner Befindlichkeiten innerhalb des übergeordneten Systems gelingen (vgl. Kap. 4.2). Adler wertet diese Entwicklungsstrukturen residual, insofern eher als zusätzliche Katalysatoren einer immanenten Innovationsschwäche, welche sich als Konsequenzen innerhalb der Unterdrückung eines öffentlichen Pluralismus darstellten, aber in ihrer fehlenden Dynamik als systemstabilisierend zu betrachten waren und nicht aktiv an einer Korrektur oder Umwandlung des gesellschaftlichen Konsens aufgrund ihres inoffiziellen Daseins teilhaben konnten.15 Pollack betrachtet jene Sphären einerseits ebenfalls als Stabilitätsfaktoren des Systems, da sie nur intraimmanent defizitäre Zustände verbesserten, nicht aber über den Bereich der 14

Der Begriff wurde zuerst von den bundesrepublikanischen Printmedien geprägt, wo er im Zuge des Konstitutionsprozesses der neuen sozialen Bewegungen auftauchte. Er wurde aber später synonym neben Begriffen wie „kritische Öffentlichkeit“ oder „zweite Öffentlichkeit“ für die Beschreibung informeller alternativer Strukturen in der DDR benutzt. Vgl. Probst, Ostdeutsche Bürgerbewegungen, S. 37 f. In diesem Sinne wird der Begriff insbesondere in der Beschreibung des Typus II – Kap. 6.2.2/6.2.3 häufige Verwendung finden. 15 Vgl. Adler, Rekonstruktion, S. 36–49. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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‚Subgesellschaft‘ hinaus wirken konnten, andererseits aber spricht er ihnen im Gegensatz zu Adler ebenso emanzipativ-kritische Funktionen zu, da er von bestimmten Machtkompetenzen der agierenden Personen und Sozialisationsinstanzen innerhalb dieser Strukturen ausgeht.16 Schließlich schienen sie teilweise in der Lage eine „Entwertung des offiziellen Bereichs“17 anzustrengen. Diese Argumentation aufnehmend und ausbauend gesteht Lemke den inoffiziellen Strukturen eine größere gesellschaftliche Wirkung zu.18 Neben zumeist im privaten, unpolitischen Raum angesiedelten Gruppierungen, die sich beispielsweise auf Sozialisationsinstanzen wie Familie und eigenständig gebildete Jugendgruppen stützten, die „sich den Ansprüchen der politischen Erziehung zu verweigern “19 suchten, erkennt sie zusätzlich eine Form der „informellen Gruppen [...], die sich deutlich von der Abschottung gegenüber der beständigen Mobilisierung und Organisierung und von Tendenzen des Rückzugs ins Private unterscheiden.“20 Vor allem entgegen der Meinung Adlers erachtet sie das Erscheinen dieser Formierungen keinesfalls als systemstützend, sondern im Gegenteil als Manifestation einer „zweiten Öffentlichkeit“, die als gesellschaftskritische Umwelt-, Frauen-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen wie beispielsweise die „Frauen für den Frieden – Ost“ oder die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ den Diskurs in der DDR stark anregten und die Bruchlinien des Systems offen legten. Auch wenn deren Protestformen stets in Opposition und damit in Divergenz zu den staatlichen politischen Strukturen und ihrem Überwachungs- und Kontrollapparat standen und von diesen diszipliniert wurden, so dass ihre Arbeit nicht immer die erhoffte kollektive Wirksamkeit und gesellschaftliche Breitenwirkung erreichte, wird deren Bedeutung als politisch alternative Protestgruppen, die grundlegendes oppositionelles Gedankengut und Engagement für einen gesellschaftlichen Umbruch leisteten, dadurch keineswegs gemindert. Die Reaktion auf derartige Strukturen aus einer Gegenöffentlichkeit waren – wie im Hauptteil der Studie detailliert dargelegt wird – allein restriktiv, in Form von der Ausweitung eines flächendeckend erscheinenden Überwachungs- und Unterdrückungsapparates, der die Herrschaft der politischen Elite nach außen wie nach innen unter allen Umständen zu sichern hatte. Die ausgewählten Beiträge hinsichtlich einer Deutung der Gesellschaft der DDR veranschaulichen auch in unterschiedlicher Weise die Wertung der realsozialistischen Wirklichkeit. Welche Auslegung dabei der individuell erlebten Wirklichkeit am nächsten kommt, zeigt die hier vorliegende Studie innerhalb der geschilderten Lebenszusammenhänge der ZeitzeugInnen, die Antworten auf allgemeine Fragen äußern können, die sich aus den sich eröffnenden Grundfragen an die Verfasstheit der DDR-Gesellschaft in ihrer Gesamtheit entwickel16 17 18 19 20

Vgl. im Folgenden Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft, S. 73–75. Ebd., S. 75. Vgl. Lemke, Politische Doppelkultur, S. 174–178. Lemke, Ursachen des Umbruchs 1989, S. 164. Lemke, Politische Doppelkultur, S. 178; das folgende Zitat ebd. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gesellschaftlich-normative Aspekte

ten: Wie waren die DDR-BürgerInnen in die Gesellschaft integriert, das heißt aus Zustimmung und Überzeugung, aus Zwang und Repression oder auf dem Wege der Gewohnheit und Anpassung? Inwieweit sind individuelle Handlungsmuster in Form von Opposition und Widerstand, Widerspruch und Nonkonformismus, aber auch Äußerungen von Anpassung und Pragmatismus, von aktiver Mitwirkung und Resignation zu erkennen und in das favorisierte Gesellschaftsmodell zu integrieren? Aus welchen Gründen hat die DDR als Staatsgebilde das Vertrauen und die (partielle) Zustimmung ihrer Bevölkerung verloren? Der nun folgende Teil versucht den aufgeworfenen Fragen innerhalb der Darstellung von Befindlichkeiten des Individuums in einer zentralisierten Organisationsgesellschaft zu begegnen, zunächst auf grundlegend abstrakter Ebene, bevor der Hauptteil – unter dem Aspekt seiner spezifischen Fragestellung – diese Ausführungen im jeweiligen spezifischen Kontext empirisch untermauern und gegebenenfalls korrigieren wird.

4.2

Identität und subjektive Befindlichkeit der DDR-BürgerInnen im Kontext einer Organisationsgesellschaft

Im Vordergrund steht die Frage, wie angesichts der angenommenen Allgegenwärtigkeit von Kontrolle und Lenkung die Rolle des Individuums und seiner individuellen Lebensgestaltung im Staatssystem der DDR einzuordnen ist. Wie konnte die individuelle Handlungsautonomie bewahrt und entwickelt werden, wie funktionierte in den verschiedenen Bereichen des Alltags die Lebensgestaltung in der Verbindung von informellen und politisch institutionalisierten Strukturen? Die DDR proklamierte seit Anfang der siebziger Jahre ein modernes Verständnis von der Beziehung von Individuum und Gesellschaft, welchem zugleich eine Wertschätzung und Bedeutung von Individualität innewohnte21 : „Die sozialistische Gesellschaft wird selbst um so reicher, je reicher sich die Individualität ihrer Mitglieder entfaltet, und sie schafft dafür mit ihrem Fortschreiten immer günstigere Bedingungen.“22 Eine moderne Respektierung des Individuums als verantwortliches Mitglied der Gesellschaft und seiner Individualrechte wurde somit nicht nur im Parteiprogramm der SED festgeschrieben, sondern auch nach der Verfassungsänderung von 1974.23 Die zugestandenen 21 Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 249–256. 22 Bericht des ZK der SED an den XI. Parteitag der SED. In: Protokoll des XI. Parteitages der SED, S. 75. 23 Art. 4 der DDR-Verfassung von 1974 proklamiert: „Alle Macht dient dem Wohle des Volkes. Sie sichert sein friedliches Leben, schützt die sozialistische Gesellschaft und gewährleistet die sozialistische Lebensweise der Bürger, die freie Entwicklung des Menschen, wahrt seine Würde und garantiert die in dieser Verfassung verbürgten Rechte.“ Erstmals werden hier die Begriffe von Würde und Freiheit des Individuums in der Verfassung festgeschrieben. Mit der Nennung des Begriffs der sozialistischen Lebensweise wird jedoch nunmehr der kulturell-erzieherischen Staatsfunktion Rechnung getragen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Intensität und subjektive Befindlichkeit der DDR-BürgerInnen

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Grundrechte wurden insofern prinzipiell einklagbar und im Selbstverständnis der DDR-Bürger verankert24 : „Die Beziehungen zwischen den Menschen in der Gesellschaft [...] sind Beziehungen wahrer Gleichberechtigung, Freiheit und sozialer Sicherheit. Damit werden zunehmend günstigere Bedingungen für die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft geschaffen.“25 Die DDR gestand ihren BürgerInnen zwar offiziell individuelle Entfaltung zu, erkannte sie jedoch als verantwortlich handelnde Subjekte allein dann an, wenn ihr Handeln im gesamtgesellschaftlichen Kontext des real existierenden Sozialismus stand.26 Das Individuum hatte damit die „Interessen der Gesellschaft“ zum Maßstab seines Handelns zu erheben.27 Die individuelle Persönlichkeit wurde folglich als „Verkörperung gesellschaftlicher Verhältnisse begriffen“28 und in diesem Sinne gestaltete sich der „politische Erziehungsauftrag zur Bildung der ‚sozialistischen Persönlichkeit‘“: „Reichere Individualitäten müssen so erzogen werden, dass sie zu Subjekten der gesellschaftlichen Beziehungen, zu verantwortlichen Trägern und Mitgestaltern des sich breiter und vielfältiger entwickelnden Lebens werden.“29 Eine solche „bedeutsame Erziehungsaufgabe“ ermöglichte eine individuelle Persönlichkeitsentfaltung allein unter dem Primat der staatssozialistischen Gesellschaftsformation, sie richtete sich gegen die „Verabsolutierung von Individualisierungs- und Differenzierungsmaßnahmen“ bereits in der Primär- und Sekundärsozialisation, „die einem bürgerlichen Bildungsverständnis entspricht“30. Diese Programmatik wurde in der gesellschaftlichen Neuorientierung nach dem VIII. Parteitag der SED, wo das Konzept der „entwickelte[n] sozialistische[n] Gesellschaft“31 etablierte wurde, in die gesellschaftliche Realität zu transferieren gesucht. Das moderne Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft spiegelte sich demnach – zumindest deklatorisch – sowohl in der Verfassung von 1974 als auch in den von der DDR 1973 ratifizierten Menschenrechtspakten der UNO und in der 1975 unterzeichneten KSZE-Schlussakte von

24 25 26

27 28 29 30 31

welche in der Verfassung von 1968 noch unberücksichtigt blieb. Vgl. Verfassung der DDR. Vgl. Ludz, DDR zwischen Ost und West, S. 48. Programm der SED. In: Protokoll des IX. Parteitages der SED, S. 248. „Individualitätsentwicklung darf nicht mit der Erziehung von Individualisten verwechselt werden, für die kollektive Beziehungen und gesellschaftliche Verantwortung ein Hindernis für das freie Ausleben ihrer Individualität darstellen.“ Neuner, Allgemeinbildung, S. 99. Vgl. Dölling, Individuum und Kultur, S. 254. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 254. Neuner, Allgemeinbildung, S. 99; das folgende Zitat ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 101. „Entsprechend dieser objektiven Lage verhalten wir uns. Unbeirrt und unwiderruflich gestalten wir die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Dazu brauchen wir von imperialistischer Seite keine Lizenz. Unsere konsequente Position in dieser Frage stimmt voll überein mit unserer aktiven und konstruktiven Politik der friedlichen Koexistenz.“ Honecker, Erich, Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der SED am 15. 6. 1971. In: Protokoll des VIII. Parteitages der SED, Band 1, S. 50. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gesellschaftlich-normative Aspekte

Helsinki32 wider, wo unter den zehn Prinzipien auch die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- bzw. Überzeugungsfreiheit ausdrücklich postuliert wurde. Nach dem IX. Parteitag der SED von 1976 kam es zu einer verstärkten Reideologisierung der Gesellschaft, großangelegte Massenpropaganda und Parteiarbeit versuchten den Legitimationsdruck auf die Regierungselite, der sich infolge der sich immer stärker andeutenden wirtschaftlichen Destabilisierung der Volkswirtschaft und des harten kulturpolitisch-ideologisierten Kurses erhöhte, auszugleichen. Das neue Parteiprogramm von 1976 beseitigte schließlich die spezifischen ideologischen Akzentsetzungen: Der Sozialismus wurde als ein im Prozess befindliches Großprojekt charakterisiert und mit seinen gegenwärtigen Unzulänglichkeiten und Defiziten legitimiert. Das Parteiprogramm orientierte sich von nun an der perspektivischen „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, wobei sich die SED als „die führende Kraft“ darstellte und damit ihren Führungsanspruch weiter unterstrich: „Die weitere Ausprägung ihrer führenden Rolle in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist eine wesentliche Voraussetzung des Heranreifens der Bedingungen für den allmählichen Übergang zum Aufbau der kommunistischen Gesellschaft.“33 In der realsozialistischen Wirklichkeit erfuhr dieses gesellschaftliche Konzept spätestens seit Anfang der achtziger Jahre seine Grenzen, was sich vor allem durch die ökonomische Krisensituation verstärkte. Zugleich wurde das offizielle Zugeständnis der Wahrung von Menschenrechten und weitreichender Entfaltungsmöglichkeiten von Individualität permanent verletzt. Trotz aller ‚apokalyptischen‘ Vorzeichen beharrte die SED-Führungselite auf ihrem Machtanspruch, ohne wirklichen Handlungsbedarf zu erkennen. Allein mit ritualisierten und ideologischen Leerformeln suchte man dem ökonomischen Zusammenbruch zu begegnen. Eine solche Form politischen Handelns führte letztlich zu einer „Veralltäglichung“34 der Herrschaft, denn „in der Zwischenzeit war die ökonomische Heilserwartung enttäuscht worden, und man hatte sich in der real existierenden Welt einrichten müssen.“35 All diese „Faktoren setzten seit Mitte der achtziger Jahre einen zunehmenden Delegitimationsprozess der DDR in 32 Die 1973 in Helsinki eröffnete europäische Sicherheitskonferenz von 35 Außenministern europäischer Staaten und der USA und Kanada erarbeitete auf Vorschlag der Staaten des Warschauer Vertrages ein Abkommen, nach dessen zehn Prinzipien die Beziehungen der teilnehmenden Staaten geleitet werden sollten. Das Problem der ausgearbeiteten Schlussakte ist die Tatsache, dass hier kein verbindliches Abkommen verabschiedet wurde, sondern lediglich eine Absichtserklärung der einzelnen Staaten. Vgl. zu den inhaltlichen Festlegungen ausführlicher Kap. 5.1. 33 Programm der SED. In: Protokoll des IX. Parteitages der SED, Band 2, S. 257; beide vorausgeh. Zitate ebd. 34 Niethammer bezieht sich in der Verwendung diese Begriffs auf Max Weber, der Veralltäglichung im Sinne von Gewöhnung als „das Grundproblem des Andauerns einer charismatisch begründeten Herrschaft“ bezeichnet. Vgl. Niethammer, SED und „ihre Menschen“, S. 314. 35 Ebd., S. 310. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Intensität und subjektive Befindlichkeit der DDR-BürgerInnen

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Gang.“36 Von nun an verlagerte sich das innenpolitische Handeln ihrer Regierung mehr und mehr auf die disziplinierende und repressive Komponente. Dennoch versuchten große Teile der DDR-Bevölkerung aus dem Selbstverständnis des eigenverantwortlichen Menschseins, ihr Leben an jenen selbstverständlichen Werten und proklamierten Zugeständnissen zu orientieren. Schließlich ließen sich historische Begebenheiten und Errungenschaften einer bürgerlich demokratischen Verfassung und entwickelte Strukturen einer modernen Industriegesellschaft auch nach dem Aufbau des Staatssozialismus in der DDR nicht aus dem Erfahrungshorizont der Bevölkerung verbannen.37 Dies bedeutete – trotz staatlicher Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche und teilweiser Durchdringung der privaten auf der Grundlage einer alles koordinieren wollenden Ideologie – letztlich die konfrontative Auseinandersetzung mit Individuen, die ihre zugestandenen Grundrechte in die sozialistische Wirklichkeit einzubringen gesucht hatten. Die Inkonsequenz des politischen Systems, nämlich zugesicherte Selbstverantwortlichkeit und eigenständiges Denken letztendlich allein mit Unterordnung und Repression zu beantworten, war ein kennzeichnendes Merkmal des Verhältnisses von Individuum und SED-System.38 Innerhalb dieses Verhältnisses kam es immer stärker zu einer ideologischen Distanzierung seitens der Bevölkerung vom Staat. Es bestand oftmals lediglich nur noch eine Beziehung, die in Opportunitäten und Hoffnung auf wohlfahrtsstaatliche Garantien begründet war. Der verstärkte Ausbau der sozialen Leistungen in der DDR seit Mitte der sechziger Jahre ermöglichte eine allgemein angelegte Sicherung der individuellen Lebensbedingungen. Man kann in diesem Zusammenhang von einem Prozess der individuellen Steigerung der Gestaltung des sekundären privaten Bereichs innerhalb der „entlastenden Wirkung der sozialstaatlichen Sicherungs-, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen“39 sprechen. Die Folge dieser sozialen Obhut war ein von staatlicher Seite ungewollter Rückzug der Bevölkerung in den informellen Bereich40, wo sie sich „in der politischen Unmündigkeit eingerichtet hatte“41. Huinink spricht in diesem Zusammenhang von einer „gemeinschaftlichen Trittbrettfahrer-Strategie“42. Er bezeichnet damit die Taktik „große[r] Teile der Bevölkerung die Vorteile der Herrschaftsordnung bzw. die Leistungen der Herrschenden zu nutzen, so lange es möglich war und es sich lohnte, ohne daraus für sich eine moralische Verpflichtung etwa zu einem positiven Engagement in der Gesellschaft abzuleiten“43. Der Rückzug in diesen informellen Bereich trug jedoch auch positive Züge, die beispielsweise Tendenzen einer bewussten und zielgerichteten Individualisie36 37 38 39 40 41 42 43

Wirsching, Deutsche Geschichte, S. 118. Vgl. Kocka, Durchherrschte Gesellschaft, S. 550. Vgl. Huinink, Individuum und Gesellschaft, S. 35. Hüning, Individualisierung und Gesellschaftsentwicklung, S. 41. Vgl. Huinink, Individuum und Gesellschaft, S. 41. Meuschel, Revolution in der DDR, S. 5. Huinink, Individuum und Gesellschaft, S. 41. Ebd. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gesellschaftlich-normative Aspekte

rung ermöglichte.44 Widerspruch erfahren solche Deutungen vor allem bei Thomas. Die These von der Möglichkeit einer Individualisierung im SED-System sieht er nicht bestätigt, da diese seiner Meinung nach stets „gegen das System verlaufen [musste], weil das System in erster Linie Gehorsam, Folgebereitschaft und Dankbarkeit verlangt[e]. Partielles Abwandern in Nischen oder Lethargie“45 beschreibt er als obligatorische Konsequenzen, die aber nicht im Sinne einer freiwilligen Individualitätsbildung, sondern als Fremdbestimmung der zentralistischen Machtstrukturen zu sehen sind. Die staatlich verhinderten „positiven, auf Individualitätsentwicklung gerichteten Effekte der Individualisierung“ und die in deren Folge weithin kollektiv vollzogene „Entsubjektivierung ist total und letztlich auch der Grund für die [...] Implosion des Systems“46 gewesen.47 Diese gesellschaftlichen Gegebenheiten führten somit zu interindividuell unterschiedlichen Reaktionsformen, die – wollte man sie kategorisieren – versuchen eine Ahnung des Handelns der DDR-Bevölkerung zwischen den Extremen von Bejahung, lethargischer Anpassung und Widerstand anzudeuten. Huininks Vorstellung von einer kollektiven „Trittbrettfahrer-Strategie“ erfasst – seinen empirischen Studien folgend – begrifflich treffend das Handeln und Verhalten eines Großteils der DDR-BürgerInnen. In diesem Kontext erscheint eine weitere Kategorisierung auf empirischer Grundlage, wie sie in der Studie von Schröder erfolgt, als ebenso relevant. Sie lässt eine differenziertere begriffliche Einordnung auf psychologischer Ebene zu.48 Schröder unterscheidet dabei für die Handlungsstrategien der DDR-BürgerInnen zwischen den „normativen Konformisten“, die als wirklich mit dem System Identifizierte auftraten, befriedigt durch materielle Privilegien und ihr bisher eingebrachtes Engagement bis zum Umbruch 1989 das System zu rechtfertigen wussten, den „Non- bzw. Gegenkonformisten“, die in ihrer Zahl gering waren und vor allem durch kritische Aktionen auffielen, und den „opportunen Konformisten“. Dies waren jene, wie Huinink sie beschreibt, die sich an die gegebenen Machstrukturen anpassten, die bestehenden Verhältnisse für ihre eigenen Vorteile nutzten und somit „elastischen Widerstand“ nach außen leisteten, innerhalb auch Kritik übten, aber lediglich in den privaten informellen Bereichen.49 Vielfach – so lässt sich resümierend bereits an dieser Stelle anhand der eingebundenen empirisch vorliegenden Studien erkennen – hat die erzwungene Politisierung und Ideologisierung der Bevölkerung einen Gegeneffekt erreicht. Sie manifestierte sich eher in einer Entpolitisierung der Gesellschaft, das heißt in einem passiven politischen Konsens, der lediglich innerhalb der Sicherung 44 Diese Position vertreten bspw. Hüning und Beck. Vgl. Hüning, Individualisierung und Gesellschaftsentwicklung, S. 41; Beck, Eigenes Leben, S. 110–115. 45 Thomas, Wenn es konkret wird, S. 399; Hervorhebung im Original. 46 Ebd. 47 Vgl. auch Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 256. 48 Schröder, Identität, S. 163–176. 49 Alle vorausgeh. Zitate ebd., S. 167. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Intensität und subjektive Befindlichkeit der DDR-BürgerInnen

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materieller und sozialer Garantien motiviert war.50 Diese Form der Einpassung hat Ludz bereits Mitte der siebziger Jahre als „doppeltes Bewusstsein vieler Menschen in der DDR“51 diagnostiziert. Neubert spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „die Kommunisten [je näher sie] dem Ziel der Liquidierung der Gesellschaft kamen, desto mehr [...] darauf achten [mussten], jede soziale Selbstorganisation oder geistige Unabhängigkeit zu verhindern. Sie mussten in der gleichgeschalteten Gesellschaft jedes Individuum kontrollieren, um Individualität in die Vorgaben der Parteigesellschaft zu zwingen. Die flächendeckende konspirative Überwachung und Beeinflussung war damit vorgegeben.“52 Es galt demnach mit allen erdenklichen Mitteln das sozialistische Bewusstsein in die Köpfe der Bevölkerung zu pressen und diese diktatorisch in Schach zu halten. In erster Linie war dies die Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei, genauer ihrer Führungsspitze. Als „ein zuverlässiges Machtinstrument der Diktatur des Proletariats“53 aber hatte das Ministerium für Staatssicherheit den wichtigsten Anteil daran. Grundlage für die Durchdringung der Gesellschaft und damit für die Kontrolle der DDR-Bevölkerung in fast allen Lebensbereichen war sein perfekt organisierter Kontroll- und Überwachungsapparat. Um dessen beinahe flächendeckenden Einflussbereich koordinieren zu können, bedurfte es festgelegter Strukturen, Kompetenzen, Aufgabengebiete und Methoden. In diese näheren Einblick zu geben, soll Ziel der Ausführungen von Kapitel 5 sein.

50 51 52 53

Vgl. Neubert, Politische Verbrechen, S. 849. Ludz, DDR zwischen Ost und West, S. 48. Neubert, Politische Verbrechen, S. 845. Mit hoher Einsatzbereitschaft und Wachsamkeit Klassenauftrag erfüllt. Grußschreiben des ZK der SED. In: Neues Deutschland vom 6. 2.1985, zitiert in Fricke, DDR-Staatssicherheit, S. 16. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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5.

Herrschaftssicherung und Durchsetzung gesellschaftlich-normativer Ansprüche – Entwicklungslinien des Instrumentariums Staatssicherheit

„Es ist unmöglich, eine Institution ohne den historischen Prozess, der sie heraufgebracht hat, zu begreifen. Durch die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle.“1 Gemäß dieser grundlegenden Prämisse und seiner Bedeutung für die erkenntnisleitende Fragestellung dieser Studie soll das einleitende Rahmenkapitel 5.1 in knapper Form die Geschichte des MfS im Hinblick auf Veränderungen seines Funktionswandels von der Gründung 1950 bis 1989 skizzieren. Die Aspekte der politischen Ereignisgeschichte und deren Wirkungen können in diesem einführenden Zusammenhang lediglich als Orientierungspunkte Benennung finden; die Momente des zu betrachtenden Zeitraumes – die Phase der Amtszeit Honecker – wird dabei aber stärkere Berücksichtigung erfahren müssen. Detaillierter, bezüglich der Fragestellung nach den „feinen Waffen der Diktatur“2, sucht Kapitel 5.2 schließlich für den im Fokus stehenden Zeitraum der Ära Honecker den Entwicklungsprozess der Methoden politischer Verfolgung und Repression des MfS zu kennzeichnen, der – im Kontext innen- und außenpolitischer Entscheidungsmomente – vor dem Hintergrund der veränderten Herrschaftspraxis des „real existierenden Sozialismus“ geltend gemacht werden kann. Auf dieser Folie erst werden die konkreten Auswirkungen auf Gesellschaft und Individuum im Fortschreiten der Gestaltungsphasen einer „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ bis zu ihrem Scheitern darstellbar sein.

5.1

Einblicke – Machtfaktoren und Funktionswandel von 1950 bis 19893

Anfänge und Entwicklung bis 1971: Am 8. Februar 1950 beschloss die Provisorische Volkskammer der DDR einstimmig ein „Gesetz über die Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit“4. Das zur Abstimmung vorgelegte Gesetz 1 2 3

4

Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 58. Titel des Aufsatzes von Knabe, Feine Waffen. Vgl. dazu ausführlich 1. für einen Gesamtüberblick die Veröffentlichung von Gieseke, Mielke-Konzern; 2. für die detaillierte Darstellung des Verhältnisses von MfS und SED den Aufsatzband von Suckut/Süß (Hg.), Staatspartei und Staatssicherheit; 3. zu Struktur, Arbeitsweise und Zerfall sowohl Gill/Schröter, Ministerium für Staatssicherheit, als auch – noch immer grundlegend – Fricke, DDR-Staatssicherheit., und ders., MfS intern. Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 8. Februar 1950; GBl. Nr. 15 vom 21. Februar 1950. Dokumentiert in: Materialien der Enquete-Kommission 1995, Band VIII, S. 118. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Herrschaftssischerung und Durchsetzung

stellte sich allein innerhalb zweier Paragraphen dar, die eine Umbildung des Ministeriums des Innern anzeigten, das heißt eine Umstrukturierung der Hauptverwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft in ein Ministerium für Staatssicherheit, sowie zugleich das Inkrafttreten des Gesetzes festlegten. Diese Formulierung eröffnete keine nähere Spezifizierung über die Aufgaben und Zuständigkeiten, die Struktur und die Befugnisse des MfS. Einverständnis herrschte lediglich über die Tatsache, dass die primären Aufgaben des neuen Ministeriums in der Herrschaftssicherung der SED lagen. Ähnlich der Geheimdienstorganisation in der Sowjetunion war auch in der DDR eine konkrete Einordnung des MfS in die von stalinistischen Machtstrukturen geprägte Staats- und Rechtsverfassung an gesetzlichen Bestimmungen nicht möglich. Es ist daher grundlegend, die Entstehung und Tätigkeit des MfS innerhalb der Entwicklung der sowjetischen Sicherheitsorgane zu betrachten. Das MfS entstand mit deren Unterstützung, innerhalb eines tschekistischen5 Strukturaufbaus; sowjetische Instrukteure und Berater steuerten und kontrollierten den Aufbau der staatlichen Geheimpolizei.6 „Als polizeibürokratische Institution unter den spezifischen Bedingungen einer Parteidiktatur war der Staatssicherheitsdienst von Anbeginn in das Korsett einer spätstalinistischen Interpretation der Weltgeschichte gepresst, die ihm einen festen Platz im Herrschaftsgefüge zuwies: an geheimer Front die vorgeblich historisch überlegene sozialistische Staat- und Gesellschaftsordnung gegen subversive Machenschaften des äußeren Feindes und dessen Handlanger im eigenen Land zu verteidigen.“7 Die erste Phase der Existenz des MfS, vom Beginn seines Bestehens bis zum wesentlichen, für die im sozialistischen Aufbau befindlichen Staaten Wendepunkt der ungarischen Erhebung 1956, ist hauptsächlich als eine der vorrangigen Sicherung der sich konsolidierenden Machtverhältnisse zu benennen. Das Ministerium bediente im Hinblick auf die permanente Auseinandersetzung mit der so genannten imperialistischen Bedrohung innerer und äußerer Kräfte damit die beiden klassischen Elemente von Geheimpolizei und Spionagetätigkeit. Mitte der fünfziger Jahre, nach Überwindung der Ereignisse vom 17. Juni 1953, einer Zeit, die durch die massive, oft brutalst mögliche Ausformung der 5

6

7

TscheKa: Allrussische Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution, Sabotage und Spekulantentum. Erste sowjetrussische Geheimpolizei (1917– 22), Vorläufer der OGPU (Vereinigte staatliche politische Kontrolle) und später des 1954, aus dem MGB (Ministerium für Staatssicherheit) hervorgegangenem KGB (Komitee für Staatssicherheit). Erst im Jahre 1979 wandelte sich das deutsch-sowjetische Subordinationsverhältnis innerhalb des MfS zu einem der Kooperation. Die Basis waren mehrere vertragliche Grundsatzvereinbarungen mit der Sowjetunion, z. B. offizieller Einbezug in das „System der vereinigten Speicherung von Daten über den Gegner“ zu dessen Rechenzentrum in Moskau auch alle anderen Staaten des Warschauer Vertrages nun Zugang erhielten. Vgl. Fricke, DDR-Staatssicherheit, S. 37–46. Allg. zur Entwicklung des MfS unter Einfluss des KGB und ihrer Zusammenarbeit vgl. Fricke/Marquardt, DDR-Staatssicherheit; Engelmann, »Schild und Schwert«. Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 68. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Einblicke – Machtfaktoren und Funktionswandel

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politischen Verfolgung gekennzeichnet war, visierte Walter Ulbricht, Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, in Reaktion auf die Entstalinisierung in der Sowjetunion, den Aufstand in Ungarn 1956 und den Abfall der Volksrepublik China vom sozialistischen Lager 1958 – Ereignisse, die in der DDR einen merklich innergesellschaftlichen Systemkonflikt ausgelöst hatten – eine neue Strategie für die Arbeitsweise des MfS an. Den offenbar gewordenen Krisenelementen musste alsbald ein geeignetes Konzept entgegengestellt werden, denn die seit 1953 stark unterdrückte, politisch-organisierte und intellektuelle Opposition wagte sich neu zu formieren und äußerte öffentlich Zweifel an Stabilität, Autorität und ökonomischer Effizienz des bestehenden Systems. Daneben bedeutete die drastische Massenabwanderung von Millionen DDR-BürgerInnen8 in die Bundesrepublik, die damit für die gesellschaftliche Alternative der Bundesrepublik votierten und zugleich dem sozialistischen Experiment eine augenfällige Absage erteilten, vor allem im Hinblick auf die wirtschaftliche Konsolidierung des gesamten Systems ein nicht zu unterschätzendes destabilisierendes Moment. Ulbricht reagierte im sicherheitspolitischen Zusammenhang zunächst personell, indem er 1957 Erich Mielke zum neuen Minister für Staatssicherheit ernannte.9 Zugleich drängte er strukturell und taktisch auf eine Verschärfung der politischen Repression und inneren Überwachung, aber mit weicheren, subtileren Methoden und Mitteln10, was aufgrund des wahrgenommenen, verdeckt ideologischen Agierens der „imperialistischen“ Kräfte nötig geworden war. Bereits die Richtlinie 1/58 macht kenntlich, wie sich das Spektrum der Aufgabengebiete des MfS insbesondere durch den verstärkten Einsatz inoffizieller Mitarbeiter (IM) konkret zu verändern und gleichzeitig zu erweitern begann: „Die staatsfeindliche Tätigkeit mit Hilfe von Agenten unter Anwendung raffiniert getarnter, hinterhältiger Methoden fordert von den Organen für Staatssicherheit, die Abwehr durch Ausschöpfung aller operativer Möglichkeiten zu organisieren. [...] Von den dem Ministerium für Staatssicherheit zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten im Kampf gegen die konspirative Tätigkeit des Klassenfeindes nehmen die inoffiziellen Mitarbeiter den wichtigsten Platz ein. [...] Der besondere Wert der inoffiziellen Mitarbeiter besteht in deren Anpassung, Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit. Die inoffiziellen Mitarbeiter sind in der Lage, sich Personen, ohne Verdacht zu nähern und anzupassen, Verbin-

8 Der Anstieg der Zahlen von 1953 bis 1960 lässt sich auf jährlich bis zu 330 000 Menschen beziffern; insgesamt verließen ca. drei Millionen Ostdeutsche in der Zeit von 1946 bis 1961 die SBZ/DDR. Vgl. diese Daten bei Hertle, Fall der Mauer, S. 18. 9 „Auf eigenen Wunsch“ pensioniert, legte Ernst Wollweber, der seit Juli 1953 Minister für Staatssicherheit war (Nachfolger von Wilhelm Zaisser, der infolge des 17. Juni 1953 entlassen wurde) und wegen des Vorgehens der DDR-Sicherheitskräfte gegen die oppositionelle Bewegung im Herbst 1956 in Widerspruch zu Ulbricht und Honecker gerät, sein Amt nieder. 10 Stenographisches Protokoll des 29. ZK-Plenums, 12.–14.11.1956. Dokumentiert in: Engelmann/Schumann, Kurs auf die entwickelte Diktatur, S. 29 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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dungen und Vertrauensverhältnisse herzustellen und das Wesen der Personen zu studieren.“11 Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen hin zu einer intensiveren Aufklärungsarbeit innerhalb und einer Erweiterung des Vorgehens im „Operationsgebiet“ außerhalb stand der Schlüsselbegriff der „Politisch-ideologischen Diversion (PID)“12, der von Ulbricht selbst angestrengt, erstmals 1961 offizielle Nennung erfuhr.13 Er geht allgemein von der Wirklichkeit einer immanenten, ideologischen Aushöhlung des sozialistischen Bewusstseins der DDR-Bevölkerung, vor allem aber der politischen und intellektuellen Eliten14 durch den „Klassenfeind“15 aus. Dem Phänomen wurde von nun an, zunächst präventiv, später in erstaunlicher Konsequenz, der allmähliche Ausbau des so genannten Überwachungsstaates, wie er uns in den achtziger Jahren immer wieder begegnet, entgegengesetzt. Dennoch, die durchschlagende Kraft der neuen Methoden vollzog sich erst einmal wenig kongruent zur schleichenden Destabilisierung des Systems. Die international eskalierenden Momente des „Kalten Krieges“ begünstigten bzw. forderten eine Entscheidung zur Machtkonsolidierung. In einer Phase der so genannten „konzentrierten Schläge“ trug Ulbricht einmal mehr und in ihrer Konsequenz so weitreichend wie keine zweite zu einer Verschärfung des „Klassenkampfes“ bei. Was folgte, waren die Maßnahmen des 13. August 1961, welche die DDR-Gesellschaft nun auf doppelte Weise bezahlte: mit einer vollständigen, nach außen vollzogenen Abriegelung, sowie mit einer lediglich auf die innerstaatlichen Strukturen und Zustände zurückgeworfenen, gesellschaftlich lähmenden Quarantänesituation. Die Abschottung durch den „antifaschistischen Schutzwall“ wurde von einem großflächig angelegten Ausbau der Verfolgungs- und Überwachungsorgane begleitet. Diese versuchten nun mit aller Konsequenz jegliche Form sich noch regenden, in seinen Fundamenten aber nun zutiefst erschütterten „abweichenden Denkens und Handelns“ über den einsetzenden Schockzustand hinaus prophylaktisch zu verhindern, um die Grundfesten der aus diesen Ereignissen hervorgegange11

Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik vom 1.10.1958. Dokumentiert in: Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter, S. 197 f. 12 „Politisch-ideologische Diversion – Bestandteil der gegen den realen Sozialismus gerichteten Subversion des Feindes, der die subversiven Angriffe auf ideologischem Gebiet umfasst.“ Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, S. 323. 13 Vgl. Mampel, Ministerium für Staatssicherheit, S. 37; gleichzeitig unverzichtbar die gesamte Darstellung für den Zugang zu Begriff, Funktion und Wirken des MfS als „Ideologiepolizei“. 14 Ausdruck der beginnenden Verschärfung des Klassenkampfes ist bspw. der Schauprozess im Juli 1957 u. a. gegen Walter Janka und Wolfgang Harich, die wegen „Bildung einer konterrevolutionären Gruppe“ politisch verfolgt und zu langjährigen Haftstrafen, teilweise unter verschärften Bedingungen verurteilt werden. 15 Laut Definition des MfS leitet sich das tschekistische Feindbild aus der marxistisch fundierten Gesellschaftstheorie ab; als „Klassenfeinde“ werden die „der Arbeiterklasse und dem Sozialismus antagonistisch gegenüberstehenden feindlichen Klassenkräfte“ definiert, vgl. Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, S. 111. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nen Diktatur, die so genannte „innere Staatsgründung“ langfristig zu stabilisieren. Die konspirative und zugleich offensive Gesinnungskontrolle der Bevölkerung verbunden mit justizrechtlicher Verfolgung arrivierte ab 1961 zu einer der zentralen Aufgaben des MfS. Um ihr adäquat gerecht zu werden, vergrößerte sich das Ministerium in Bezug auf die Zahl seiner Mitarbeiter erheblich, so dass es bis 1982 pro Jahrzehnt ungefähr zu einer Verdoppelung derselben kam.16 Gleichzeitig erweiterte sich innerhalb der Schaffung neuer Zuständigkeitsbereiche und abteilungstechnischer Feingliederungen auf allen Ebenen der Machtapparat überdimensional. Das MfS erlebte im Zuge dieser strategischen und personellen Veränderungen, gepaart mit einer zeitgleich fortschreitenden Etablierung des Konzepts des Sozialismus, eine immense Erweiterung seiner Machtfülle. Unter den neuen Bedingungen gelang es mehr und mehr, den Kompetenzbereich des Ministeriums über die klassischen Elemente hin zu einem „offizielle[n] Untersuchungsorgan“ auszudehnen, das wiederum „in politischen sowie anderen sicherheitsrelevanten Strafsachen – verbunden mit allen entsprechenden exekutiven und strafprozessualen Befugnissen“17 aktiv werden konnte. Anlass dafür gab beispielsweise die sich nach dem Bau der Berliner Mauer neu bildende, systemimmanent argumentierende Opposition, deren populärster Wortführer, der Physochemiker Robert Havemann, über einen naturwissenschaftlichen Ansatz zur systemkritischen Analyse des Marxismus gelangte.18 „An seinem Fall wird deutlich, dass die 1960er Jahre eine Phase der Umorientierung, der Herausbildung neuer Formen widerständigen Verhaltens und veränderter Artikulationsformen waren. Zugleich kann der Umgang des MfS mit Havemann als Vorform des Prototyp der später flächendeckend eingesetzten ‚weichen‘ Repressionsmethoden der Stasi gelten.“19 Ihm wie anderen politisch aktiven Intellektuellen der Zeit, u. a. Wolf Biermann, Stefan Heym oder Heiner Müller, sollte bald aufgrund ihrer geäußerten Kritik am real existierenden Sozialismus die öffentliche Plattform einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung entzogen werden20. 16 Zu den Zahlen der hauptamtlichen Mitarbeiter: 1957 – ca. 17 000 Personen; 1961 – ca. 20 000 Personen; 1971 – ca. 45 000 Personen; 1982 – ca. 81500 Personen; 1989 – 91 015 Personen; vgl. hierzu differenziert dargestellte Statistik zur Personalentwicklung des MfS bei Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 551–557. 17 Engelmann, Funktionswandel, S. 89. 18 Vgl. Havemann, Berliner Schriften. 19 Vgl. Eckert, Opposition und Repression, S. 374. 20 Als richtungsweisend für den Abbruch des kulturellen Reformprogramms ist das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 zu werten. Das so genannte „Kahlschlag“Plenum, das den Schriftstellern verdeutlichte, dass es letztendlich nicht um Literatur, sondern um den Kampf zwischen den politischen Gegnern ginge, stellte mehrere kritische DDR-Autoren (s. o.) unter Auftritts- und Publikationsverbot. Als eklatanter Endpunkt dieser Entwicklung ist die 1976 erfolgte Ausbürgerung Wolf Biermanns zu werten, die den fortschreitenden Exodus der intellektuellen Elite der DDR ins westliche Ausland bzw. in die innere Emigration einleitete. Einen pointierten Einblick ex post bie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Der vorerst im kulturellen Bereich unter starkem Einfluss des aufstrebenden Politbüromitglieds Erich Honecker eingeleitete, nun auf andere Gebiete ausstrahlende, neue innenpolitisch harte Kurs in poststalinistischer Manier, erhielt Bestätigung und weiterführende Argumente infolge der Entwicklungen in der Tschechoslowakei im Jahre 1968. Auch in der DDR hatten die Ereignisse des „Prager Frühlings“ eine subversive und hoffnungsvolle Stimmung ausgelöst und zugleich eine öffentlich wahrzunehmende Protesthaltung gegen das brutale Eingreifen der Sowjetunion offenbart. Die SED jedoch – und dies war im Zuge ihres militärischen Beistandes zur Niederschlagung der Regierung Dubček augenfällig geworden – signalisierte, dass das Experiment eines demokratischen Sozialismus, wie ihn Havemann schon seit 1963 theoretisch gebildet und gefordert hatte, für die DDR nicht zu denken war. Dementsprechend gestaltete sich nun auch das weitere Vorgehen auf Regierungsebene. Nach dem Scheitern der „tschechischen Alternative“ wurden alle noch zuvor erwogenen Liberalisierungstendenzen sowohl gesellschaftlicher als auch ökonomischer Natur zum Stillstand gebracht.21 Die Sicherheitspolitik der DDR tendierte unvermeidlich – aufgrund der sich seit 1968 neu formierenden Oppositionstendenzen – zu einer weiteren Verschärfung22. Entsprechend detailliert zeigt sich das zuletzt gültige Statut des MfS vom 30. Juli 1969, von Erich Honecker als Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates unterzeichnet und zur „Geheimen Kommandosache“ deklariert, in Bezug auf den neuen Aufgabenbereich: „Die Tätigkeit des MfS konzentriert sich auf die Aufklärung und Abwehr zur Entlarvung und Verhinderung feindlicher Pläne und Absichten der aggressiven imperialistischen Kräfte und ihrer Helfer.“23 Als Fundament und Handlungsgrundlage der Arbeit des MfS benannte das Statut an erster Stelle das Parteiprogramm der SED, sowie die Beschlüsse des Zentralkomitees und des Politbüros, die beiden Institutionen, denen das MfS einzig auch rechenschaftspflichtig war. Erst nach Nennung dieser Organe er-

ten Klaus Hartung und Max Thomas in ihrem Artikel „Die staatstreuen Rebellen. Zwanzig Jahre danach – ein Besuch bei den wiedervereinigten Ost-Intellektuellen.“ In: Die Zeit, 47 (1996). Vgl. in diesem Zusammenhang zusätzlich das konkrete Einwirken des MfS auf den Umgang der SED mit kritisch orientierten Intellektuellen und SchriftstellerInnen (insb. zu Biermann) bei Walther, Sicherungsbereich Literatur. 21 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 261–263. 22 Signifikant ist hier bspw. die Entstehung der im April 1969, aus mehreren Einzelabteilungen, neu formierten „Operativen Dienststelle“, die in Reaktion auf die Proteste gegen das Eingreifen der SU in der ČSSR „zur Unterstützung des Kampfes gegen die subversiven Anschläge auf die Einheit und Geschlossenheit der Staaten der sozialistischen Lager“ geschaffen wurde. MfS-Befehl Nr. 11/69, BStU, Zentrale Dokumentensammlung, GVS 172/69, Bl. 581–582, zitiert in Eckert, Opposition und Repression, S. 378 FN 126. 23 Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969. Dokumentiert in: Materialien der Enquete-Kommission 1995, Band VIII, S. 119–125, hier 120 (§ 1 Abs. 3). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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folgte ein Bezug auf die Verfassung, die Gesetze und andere staatliche Normen der DDR.24 Entwicklung des Funktionsgefüges seit Beginn der Ära Honecker: Gemäß dem Statut von 1969 wurde das MfS als ein Organ des Ministerrats definiert, blieb aber als Teil der Landesverteidigung dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates unterstellt25, dessen Amt in Personalunion mit dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees ab 1971 von Erich Honecker bekleidet wurde. Insbesondere seit der engeren personellen Verzahnung übte dieser starken Einfluss auf Organisation und Vorgehen des Ministeriums aus; denn Mielke bezog in diesem Jahr als Kandidat seinen Sitz im Politbüro, hatte damit im obersten Leitungsgremium – offiziell als vollwertiges Mitglied ab 1976 – Sitz und Stimme, wurde zugleich aber der unmittelbaren und ständigen Kontrolle durch die SED, in persona durch Honecker, ausgesetzt. „Mit dieser formellen Aufwertung der Spitze der Staatssicherheit kombinierte Honecker ein informelles Verhältnis [...]. Entscheidungen, die das MfS betrafen, wurden [...] jeglichen Restbeständen ‚kollektiver Führung‘ entzogen und in den so genannten Dienstagsgesprächen unter Vier-Augen geregelt.“26 Unbedingte Loyalität und Ergebenheit zu Partei- und Staatsführung ließen Mielke zur Personifikation des MfS avancieren und prägten dessen Selbstverständnis im tschekistischen Stil als „zuverlässigen Schild und scharfes Schwert“ der Partei. Diese personelle wie strukturelle Verzahnung zwischen Partei und Staatssicherheit war die entscheidende Voraussetzung für eine Instrumentalisierung des MfS zu politischen Zwecken. Personell verflochten waren Staatspartei und Staatssicherheit infolge der Einbindung führender MfS-Kader auf allen Ebenen der SED. Nicht nur der Minister für Staatssicherheit war stets Mitglied im ZK der SED, sondern auch drei weitere Generäle des MfS. Strukturell ermöglichte zusätzlich die Position des Sekretärs für Sicherheitsfragen im ZK in besonderer Weise Einfluss und Kontrolle auf den Apparat des MfS; dieses Amt wurde in der Ära Honecker zunächst von Paul Verner, ab 1984 von Egon Krenz bekleidet.27 24 Vgl. ebd., S. 119 (§ 1 Abs. 2). 25 Die Tatsache, dass eine Bindung des MfS an den Nationalen Verteidigungsrat bestand, war zudem auf personeller Ebene von hoher Bedeutung, insbesondere was die grundsätzlich konspirative Tätigkeit des MfS anbelangte. Lediglich fünf Prozent (Angabe von 1972, siehe Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 321) der hauptamtlichen Mitarbeiter war zivilbeschäftigt, der Rest des Personalbestandes durch den militärischen Dienst im MfS verpflichtet. Aus dieser Verbindung bezog dieser eine offizielle, gesellschaftlich tragfähige „biographische Legende“ und konnte sich insofern auch einer öffentlichen Positionierung bzw. möglichen Demaskierung der zumeist geheimen Tätigkeiten gekonnt entziehen. 26 Süß, Verhältnis von SED und Staatssicherheit, S. 218 f. 27 Über die tatsächliche Machtkompetenz dieses Amts existieren aufgrund der öffentlichen Auseinandersetzung von 1990 durch die involvierten Funktionäre Honecker und Krenz unterschiedlichste Nuancen. Letztendlich versuchten diese in ihren Statements ex post die Verantwortlichkeiten des jeweils anderen zu stärken und die eigenen zu mindern. Kein Zweifel jedoch besteht an der politischen Führungsrolle der SED und dem darin © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Schließlich bestand auf der Ebene der Einsatzleitungen, die dem Nationalen Verteidigungsrat subordiniert waren, eine weitere strukturelle Verbindung von führender Staatspartei und MfS in Verbindung mit Administration, Volkspolizei sowie der Nationalen Volksarmee. Die gemeinsamen Aktivitäten in diesem Rahmen beschränkten sich nicht auf Ausnahmesituationen, vielmehr traten die jeweiligen Einsatzleitungen regelmäßig beratend zusammen, um alle Fragen der inneren und äußeren Sicherheit zu klären.28 Innerhalb der Formulierungen des Statuts von 1969 verstand das MfS auch nach 1971 seine Tätigkeit als Kampfansage gegen die „Politisch-ideologische Diversion“. Dienstanweisungen, Befehle und Richtlinien des Ministers für Staatssicherheit ergänzten den feststehenden Kanon der formulierten Aufgaben; sie blieben ab dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bis zum 1. Oktober 1989 in Kraft. Der Komplexität der Zuständigkeiten entsprechend, zeigte sich der kontinuierlich ansteigende Personalbestand an hauptamtlichen Mitarbeitern.29 Wesentliche Kaderstandserhöhungen lassen sich aber vor allem seit 1971 verzeichnen. Schließlich gelang Mielke, was ihm unter Ulbrichts Regierungszeit aufgrund dessen stark zentrierter Autoritätsgewalt nicht geglückt war, nämlich der Aufbau eines flächendeckenden, vermeintlich lückenlosen Systems der Überwachung.30 Geschickt nutzte Mielke seine Präsenz als Mitglied des Politbüros und avancierte zu einem der mächtigsten Funktionäre im Staat nach Erich Honecker. Entsprechend dieser Stellung erlangte sein Ministerium innerhalb der Verflechtung der gesetzlich nicht präzise definierten und parlamentarisch unkontrollierten Kompetenzen als politische Geheimpolizei, als Untersuchungsorgan in politischen Strafsachen – besonders bei den so genannten Staatsverbrechen – und als geheimer Nachrichtendienst immense Machtkompetenz.31

angelegten Subordinationsverhältnis von SED und MfS. Dennoch ist nach dem Eigenleben des Ministeriums zu fragen, nämlich ob und inwieweit es sich in seinem Agieren der direkten Kontrolle der übergeordneten Instanz entziehen konnte. Vgl. die illustrativen Aussagen zu dieser Thematik von Erich Honecker, in: Andert/Herzberg, Sturz, S. 366–368; Egon Krenz, in: Thaysen, Zentraler Runder Tisch, S. 502–503. Die aktuelle wissenschaftliche Debatte folgt in Bezug auf dieses Amt den Ausführungen von Krenz: „Unter Verletzung jeglichen demokratischen Prinzips wurden Fragen der staatlichen Sicherheit, der konkreten operativen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit [...] zwischen dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates und dem Minister für Staatssicherheit beraten und entschieden.“ Thaysen, Zentraler Runder Tisch, S. 502. Vgl. Süß, Verhältnis von SED und Staatssicherheit, S. 219 (v. a. FN 18). 28 Vgl. Vollnhals, Ministerium für Staatssicherheit, S. 499. 29 Vgl. zusammenfassenden Überblick bei Gieseke, Mielke-Konzern, S. 70. 30 Schon 1966 war mit der Dienstanweisung Nr. 4/66 „Zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR“ das Konzept eines lückenlosen Systems der Überwachung formuliert worden. Vgl. Eckert/Günther/Wolle, „Klassengegner ...“, S. 200 f. und 209 f. 31 Zusätzlich agierte MfS-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“, dem spezifische Aufgaben im Personen- und Objektschutz als Verfügungstruppe übertragen waren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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An sich unterstellte man das MfS, insofern es als Untersuchungsorgan tätig war, pro forma den Bestimmungen der Strafprozessordnung und der Aufsicht des Staatsanwalts, in der Realität aber reglementierte die Staatssicherheit Ablauf und Ergebnis der politischen Strafverfahren; erschwerend kommt hinzu, dass sie sogar Einfluss auf die Entwicklung des Strafrechts auszuüben vermochte.32 Das Volkspolizeigesetz erlaubte unter Paragraph 20 den Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes zwar pauschal die Befugnisse der Volkspolizei wahrzunehmen, ansonsten aber existierten zu keiner Zeit gesetzliche Richtlinien, die Aufgaben und Obliegenheiten des MfS genauer charakterisierten, lediglich interne Dienstvorschriften und direkte Befehle des Ministers oder seiner Stellvertreter regelten die Zuständigkeiten der Mitarbeiter des MfS.33 Die seit dem VIII. Parteitag der SED verordnete politische wie nationale Abgrenzung von der Bundesrepublik wurde Teil einer sich in den nun folgenden Jahren verwirklichenden Programmatik der staatlichen Führung der DDR im Streben nach internationaler Anerkennung und gleichzeitiger Stabilisierung des eigenstaatlichen Konzepts.34 Politische Verständigung sollte lediglich im Sinne einer Annäherung auf der Ebene gleichberechtigter, souveräner Staaten realisiert werden. Der für diese Zeit wahrgenommene Wandel in der Frühzeit von Honeckers Amtsinhaberschaft führte in die so genannte Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Die erste Hälfte der siebziger Jahre wurde für die Stabilisierung des Realsozialismus in der DDR auf internationaler Ebene sehr entscheidend. Die DDR präsentierte sich als ein gesellschaftliches System, das sich – von außen betrachtet – nur wenig mit diktatorischen Prinzipien und politischer Verfolgung in Zusammenhang bringen ließ. Und dieses Konzept war zunächst erfolgversprechend: Dem Vier-Mächte-Abkommen und dem Transitabkommen über Berlin folgte der Abschluss des Grundlagenvertrages 1972 mit der Bundesrepublik. Zudem nahm die DDR eine Reihe diplomatischer Beziehungen mit ausländischen Staaten auf und wurde 1973 Mitglied der UNO. Die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 sollte sich zwar als

32 Bspw. zeigte sich MfS bei der Verwirklichung der Strafrechtsänderungsgesetze 1974/1977/1979 wie der Novellierung der Strafprozessordnung von 1979 als treibende und einflussnehmende Kraft; nötig geworden aus der sich verschärfenden innenpolitischen Situation im Zuge der internationalen Entspannungsphase. Insbesondere das 3. StÄG von 1979 machte durch seine Änderungen im politischen Strafrecht deutlich, wie der kontinuierliche Ausbau der repressiven Administration den Boden für eine neue Dimension der politischen Justiz geebnet hatte. Vgl. Heuer, Rechtsordnung der DDR, S. 321–328 und Vollnhals, „Die Macht ist das Allererste“, S. 227 und 230–232. 33 Vgl. Fricke, MfS intern, S. 11–21. 34 „Wenn man über die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der BRD spricht, so kann sich eine solche Entwicklung lediglich auf die Prinzipien der friedlichen Koexistenz zwischen souveränen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung stützen.“ Rede Erich Honeckers: Für das Wohl des arbeitenden Menschen all unsere Kraft. Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 15. Juni 1971. In: Honecker, Reden und Aufsätze, Band 1, S. 134–229, hier 150. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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außenpolitischer Höhepunkt, gleichzeitig aber als mittelbarer Auslöser einer Destabilisierungskrise im Innern erweisen.35 Das anfängliche Ziel nämlich, durch internationale Einbindung die eigene staatliche Verfasstheit zu festigen, konnte mit der wirtschaftlichen Situation im Innern nicht in Einklang gebracht werden. Infolge ökonomisch existenzieller Zwänge musste sich die DDR nun mehr und mehr in die internationale Staatengemeinschaft integrieren, um finanzielle Hilfen zu erhalten, und dafür auf dem Gebiet der völkerrechtlichen Vereinbarungen ungewollte Zugeständnisse machen. Vor allem die volkswirtschaftliche Abhängigkeit vom so genannten Swing-Kredit36, welchen die Bundesrepublik gewährte, forderte verstärkte Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung in der BRD und dahin gehend Kompromisse auf der internationalen Vertragsebene. Die DDR verlor das anfängliche Privileg des gleichberechtigt Agierenden im erweiterten internationalen Rahmen.37 Die Ratifizierung der Menschenrechtspakte der UNO und der KSZESchlussakte und die daraus folgende Einbindung in die internationalen Bestimmungen insbesondere auch auf humanitärem Gebiet wurden in der DDR von einer hoffnungsvollen Grundstimmung getragen, dahin gehend, dass beispielsweise die Lockerungen im Reiseverkehr von weitreichenderer Natur, nämlich allgemein als ein Signal für eine Öffnung nach Westen zu deuten seien und gleichzeitig innenpolitisch progressive Liberalisierungstendenzen freilegen könnten. Die politische Gegnerschaft der SED-Regierung hoffte durch die Bindung der DDR an die völkerrechtlichen Bestimmungen auf eine veränderte Legitimationsgrundlage öffentlicher Kritik in einem rechtlich neu definiertem Freiraum.38 Zunächst aber leitete Honecker stattdessen – nach innen wie nach außen – eine gegenläufige, systemsichernde Abgrenzungspolitik ein. Die Novelle zur Änderung der Verfassung zum 25. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1974 stellte dafür grundlegende Weichen, insbesondere was die Bestimmung einer Identität der DDR-BürgerInnen betraf: Entfernung vom Verständnis eines sozialistischen, deutschen Nationalstaates hin zur Definition eines von nationaler Identität losgelösten, sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates39. Die Titulierung vervollkommnete zusätzlich den Anbeginn der Beto35 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 287 f. 36 Die „Interne Information an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen“ illustriert die Situation der Abhängigkeit durch Honecker in euphemistischer Weise: „Unsere feste Haltung hat die Regierung der BRD veranlasst vorzuschlagen, die Ende 1975 auslaufende Swing-Vereinbarung (zinsloser Kredit) um weitere 6 Jahre zu verlängern. Wir haben das Angebot des Kanzlers Schmidt, den Swing in den ersten 3 Jahren auf 750 Mio DM Verrechnungseinheiten festzulegen und in den folgenden 3 Jahren schrittweise bis auf 200 Mio DM Verrechnungseinheiten auszubauen, zur Kenntnis genommen und werden darüber konkret verhandeln.“ Interne Information Honeckers an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen vom 13. 9.1974 (SAPMO-BArch, DY 30/2195, Bl. 10–13, hier 11). 37 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 304–311. 38 Vgl. Neubert, KSZE-Prozess, S. 295–308. 39 Vgl. Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (GBl. I, S. 199): „Artikel 1 – Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation“ mit der Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nung des Trennenden gegenüber den in der Bundesrepublik lebenden Deutschen, die schon 1967 in der Schaffung einer eigenen Staatsbürgerschaft40 ihren Ausgangspunkt genommen hatte. Im Zuge einer neuen künstlichen Sprachregelung, die das Bewusstsein für den nationalen Status der DDR-BürgerInnen grundlegend verändern sollte und deren Ausläufer heute in einer noch immer festzustellenden, schwer verortbaren so genannten DDR-Identität zu finden sind, vollzog sich ein weiterer Schritt in der Spaltung der beiden deutschen Staaten: Nationalität – deutsch, Staatsbürgerschaft – DDR. Des Weiteren sollten die Errungenschaften der internationalen Vereinbarungen nur im Rahmen der DDR-Gesetze Geltung finden, insofern erhielten sie keinen alltäglichen Bezug, besonders hinsichtlich humanitärer Erleichterungen und Belange des „Korbes 3“ der KSZE-Schlussakte. Grundlegendes Moment war stets die Programmatik des VIII. Parteitags der SED, in der Verwirklichung des Konzepts der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Ihre Gestaltung erhielt ebenfalls in der Präambel der Verfassung von 1974 explizit Festschreibung. Dieses Konzept verfolgte letztendlich die Umgestaltung der DDR in „eine Art ‚aufgeklärte‘ Diktatur“41, die in einem vordergründig wirkenden Demokratisierungsprozess zu stehen schien42 und somit auch die Formen der Herrschaftssicherung hinterfragen musste, um ein anderes, in seiner Wirkung nicht wenifassung der DDR in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1974 (GBl. I, S. 429): „Artikel 1 – Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“. Das Parteiprogramm des IX. Parteitages 1976 hingegen bindet den Begriff der „deutschen Nation“ wiederum in die „Entwicklung der sozialistischen Nation“ ein. Das identitätsstiftende Element der deutschen Nationalität der DDR-BürgerInnen wird in seiner Bedeutung als solche erkannt, aber in seiner offiziellen Benennung nur unter der Prämisse einer sozialistischen Nationalitätsbildung zugelassen: „In der Deutschen Demokratischen Republik entwickelt sich die sozialistische deutsche Nation. Ihre Wesenszüge prägt die Arbeiterklasse. [...] Sie umfasst das Volk der Deutschen Demokratischen Republik und ist gekennzeichnet durch den souveränen sozialistischen Staat und deren Territorium.“ Programm der SED. In: Protokoll des IX. Parteitages der SED, Band 2, S. 251. 40 Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik (GBl. I, Nr. 2/1967, S. 3). Ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz sollte „die Eigenstaatlichkeit der DDR noch einmal unterstreichen und den Willen der Führung bekräftigen keine Wiedervereinigung zu dulden“. Vgl. Weber, Geschichte der DDR, S. 253. 41 Knabe, Feine Waffen, S. 193. Vgl. dazu das Zehn-Punkte-Programm des IX. Parteitags 1976 unter II. zur „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik“, das auf eine Breitenwirkung in der Bevölkerung für die Losung von der Erfüllung der „Hauptaufgabe“ hoffte und die Integration gesellschaftlicher Großgruppen auf der Grundlage einer zumindest teilweisen Zustimmung anstrebte. Programm der SED. In: Protokoll des IX. Parteitages der SED, Band 2, S. 218–252. 42 „Die angespannte wirtschaftliche Situation der DDR zwang die SED insbesondere zur verstärkten Rücksichtnahme auf die Bundesrepublik und die dortige öffentliche Meinung. [...] Wie stark der externe Zwang zur ‚Mäßigung‘ am Ende war, wird beispielhaft deutlich in den wiederholten Verhandlungen im Politbüro Ende der achtziger Jahre über die Wiener KSZE-Konferenz zum Thema Menschenrechte und über die Implementierung ihrer Ergebnisse in der DDR.“ Knabe, Feine Waffen, S. 193. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ger erfolgreiches, aber differenzierteres und feineres Vorgehen, insbesondere mit Rücksichtnahme auf den internationalen Kontext, zu entwickeln. Infolge all dieser weitreichenden innen- wie außenpolitischen Veränderungen wie Zwängen sah sich das MfS aufgrund der Intensivierung der Ost-WestKontakte, insbesondere durch die vereinbarten Erleichterungen im Reiseverkehr, zu präventiven Sicherungsstrategien genötigt. Es hatte nun dafür Sorge zu tragen, dass die Durchsetzung der Beschlüsse und Abkommen erfolgte, ohne dass die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ins Hintertreffen geriet und zugleich das veränderte strategische Vorgehen der internationalen Kontrolle standhalten konnte. Von einer „außerordentlichen Bewährungsprobe“43 sprach Mielke bereits 1972 angesichts der sich wandelnden außenpolitischen Bedingungen und forderte demzufolge eine flexiblere und subtilere Arbeitsweise des MfS sowie eine stärkere Ausweitung seiner Personalbestände. Tatsächlich wurde das MfS durch die Unterzeichnung der KSZESchlussakte in Helsinki 1975 sicherheitstechnisch in quantitativ neuen Dimensionen gefordert; 1976 erhielt das Vertragswerk völkerrechtliche Wirksamkeit und löste eine ungeahnte Welle von Reisegesuchen ins nichtsozialistische Ausland und längerfristigen Ausreisebegehren aus. Das Dilemma, welches sich für die SED-Führung bereits angedeutet hatte, erhielt konkrete Konturen: Die in „Korb 1“ errungenen, für die DDR primär im Vordergrund stehenden Souveränitätsprinzipien waren obligatorisch an die Akzeptanz der „Körbe 2 und 3“ gebunden, die wiederum in ihrer Auslegung eine eigene ungeahnte Dynamik in der Bevölkerung entfaltete44. Besonders die Gruppe der so genannten „Antrag43 Referat Mielkes auf der Dienstkonferenz bereits am 10. 3.1972, zitiert in Engelmann, Funktionswandel, S. 95. 44 Vgl. die von Erich Mielke am 6. 8.1975 verfassten „Schlussfolgerungen aus der Unterzeichnung des Schlussdokumentes der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki“, die insbesondere Bezug auf die sich andeutenden Forderungen der Bevölkerung im humanitären Bereich und deren wirksame Unterbindung nimmt: „[...] 2. Die Leiter der operativen Diensteinheiten haben in ihren Verantwortungsbereichen zu gewährleisten, dass durch eine verstärkte vorbeugende politisch-operative Arbeit geplante feindlich-negative Handlungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen der KSZE rechtzeitig festgestellt, aufgeklärt und wirksam unterbunden werden, insbesondere – Versuche der Ausnutzung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs und des Transitverkehrs für feindliche Handlungen, insbesondere für den Missbrauch zur Organisierung und Durchführung von Schleusungen seitens krimineller Menschenhändlerbanden, für Handlungen der staatsfeindlichen Hetze, der politischideologischen Diversion und anderen [...]; – Versuche der Einschleusung von Druckerzeugnissen, in denen die Ergebnisse der KSZE nach westlicher Terminologie interpretiert bzw. verfälscht werden und die geeignet sind, bestimmte Personenkreise in der DDR zu feindlich-negativen Handlungen zu aktivieren; [...] – verstärkte Versuche, unter Berufung auf die Ergebnisse der KSZE Anträge auf Übersiedlung in nichtsozialistische Staaten und nach Westberlin (unter anderem zum Zwecke der Familienzusammenführung), auf Eheschließung mit Bürgern nichtsozialistischer Staaten und Westberlins, auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, auf Ausreise aus der DDR mit verschiedensten Begründungen [...] zu stellen“. Dokumentiert in: Knabe, West-Arbeit, S. 373–378, Zitat S. 375 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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steller auf ständige Ausreise“ berief sich auf das in „Korb 3“ verbriefte Recht der Freizügigkeit der freien Wahl des Wohnsitzes und der zwischenmenschlichen Kontakte, insbesondere in Bezug auf die so genannte Familienzusammenführung auch nach nichtsozialistischen Staaten.45 Zur Unterbindung dieser Entwicklung46 und um zugleich auch eine verbesserte Kontrolle der neu eröffneten Reisemöglichkeiten zu gewährleisten, schuf das MfS 1975 die „Zentrale Koordinierungsgruppe“ (ZKG) mit nachgeordneten „Bezirkskoordinierungsgruppen“ (BKG) zur Bekämpfung von „Republikflucht“ und der ansteigenden Zahl von Übersiedlungsbegehren. Dennoch nahm die Schar derer, welche die DDR verlassen wollten, nicht ab, sondern sie verzehnfachte sich jährlich seit 1978 auf 57 600 Personen im Jahre 1984.47 Infolge dieser Entwicklungen konzentrierte sich die Arbeit des MfS zunächst auf die Repression und Diskriminierung der Ausreisewilligen, auch in Form zunehmender Strafverfolgung.48 Der „Abstimmung mit den Füßen“, wie sie in gleicher Form vor 1961 schon einmal ausgelöst worden war, wurde das MfS weder durch verfeinerte Methoden noch durch wohlwollendes Bewilligen der Ausreisebegehren Herr. Ein kontinuierlich fortschreitender Niedergang der Volkswirtschaft und die einem Affront der Massen gleichende, offizielle Bagatellisierung derselben als kurzzeitiger „Störungen des Rhythmus“49, überstieg die Frustrationstoleranz vieler DDR-BürgerInnen auch in Bezug auf ihre grundlegenden Bedürfnisse. Neben der Erstarrung jeglicher gesellschaftlicher Reformen vor allem auf humanitärem Gebiet wurden wegen der sich abzeichnenden ökonomischen Perspektivlosigkeit zunehmend wirtschaftliche Motive für ein Verlassen der DDR tragend. Jene, die den sicherlich nicht leichtfertig beschlossenen Ausweg im Verlassen ihrer Heimat suchten, „lehnten die DDR also tendenziell radikaler ab als die innere Opposition, stellten aber durch ihren individuellen Schritt eine geringere Herausforderung für das System dar. Zum Teil nutzte die DDR-Füh45 „b) Familienzusammenführung: Die Teilnehmerstaaten werden in positivem und humanitärem Geist Gesuche von Personen behandeln, die mit Angehörigen ihrer Familie zusammengeführt werden möchten, unter besonderer Beachtung von Gesuchen dringenden Charakters [...]. Sie werden Gesuche in diesem Bereich so zügig wie möglich behandeln. [...] Sie [die Teilnehmerstaaten] bestätigen, dass die Einreichung eines Gesuchs betreffend Familienzusammenführung zu keiner Veränderung der Rechte und Pflichten des Gesuchstellers oder seiner Familienmitglieder führen wird.“, Schlussakte von Helsinki vom 1. 8.1975. In: Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, S. 51–126, Zitat unter Punkt „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen“, S. 97 f. Auf die Bedeutung jener Bestimmungen der Schlussakte von Helsinki wird noch detaillierter in den individualbiographischen Zusammenhängen einzugehen sein. 46 Vgl. die Ausführungen Mielkes mit den Bestimmungen der KSZE-Konferenz zur „Familienzusammenführung“ in den beiden vorausgehenden Anmerkungen. 47 Vgl. die Daten bei Eisenfeld, Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 50. 48 Anschaulich dokumentiert dies der Band von Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen. 49 Mit Tatkraft und Zuversicht die vor uns liegenden Aufgaben zum Wohl des Volkes meistern. Aus dem Schlusswort auf der 5. Tagung des ZK der SED, 26.11.1982. In: Honecker, Reden und Aufsätze, Band 9, S. 112–135, hier 126. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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rung die Ausreise beziehungsweise die Ausbürgerung geradezu als Ventil, um die innere Opposition zu schwächen“50. In der Auseinandersetzung mit einer zweiten, dem System innerhalb kritisch gegenüber stehenden Gruppierung war das MfS seit Beginn der achtziger Jahre in einem verstärktem Maße gefordert. Betrachtet man jedoch die Entwicklungen aus der Warte des Novembers 1989, blieben auch hier die veränderten Methoden der Operativen Arbeit gegen die sich formierende – insbesondere unter dem Schutz der evangelischen Kirche stehende – innere Opposition letztendlich ebenso erfolglos51 wie die bereits benannte, von der SED erwartete Ventilwirkung der Ausreise- und Ausweisungsstrategie.52 Diese Bewegung, die unter dem Eindruck der weltweit solidarisierten Friedensbewegung und der Ereignisse in Polen 1980 bzw. später durch Gorbatschows Kursänderungen53 in der sowjetischen Politik nach 1985 immer mehr an Zulauf gewann, wagte bald auf dem Wege einer halböffentlichen Plattform, vor allem im Bereich der kirchlichen Arbeit, das System des real existierenden Sozialismus unter humanitären, demokratischen und ökonomischen wie auch ökologischen Gesichtspunkten in Frage zu stellen. Gestützt auf das geistige Potential der systemkritischen Dissidenten54, die bis Ende der siebziger Jahre das Antlitz der Opposition geprägt und „immer stärker auf die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie, auf Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit“ Bezug genommen hatten, griff die neue Opposition diese Themen erneut auf und forderte eine öffentliche Auseinandersetzung und Par50 Gieseke, Mielke-Konzern, S. 173. 51 Diese Aussage erhält lediglich Gültigkeit im Hinblick auf den gesamthistorischen Zusammenhang. Die Auswirkungen der am jeweils Einzelnen durchgeführten Maßnahmen des MfS hingegen müssen in ihrer individuellen Dimension sicherlich nicht als verfehlt bzw. folgenlos, sondern als zumeist biographisch äußerst relevant bzw. einschneidend gewertet werden, wie dies in Kap. 6 zu zeigen sein wird. 52 Deren andere Seite, nämlich ihre Signalwirkung für eine sich immer stärker gegen die gesamtstaatlichen Missstände aufbegehrende, in ihrer Zahl möglicherweise herrschaftsbedrohende Masse lange Zeit ungedeutet zu bleiben schien. 53 Gorbatschows Kursänderungen des „Neuen Denkens“ werden von der führenden Machtelite abgelehnt, scharfe Angriffe gegen seinen Kurs und eine noch härtere Linie in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden zeugen von der unübersehbaren Stagnation des Systems in den achtziger Jahren. Symptomatisch für diese Haltung gegenüber „Glasnost und Perestroika“ sind die Äußerungen des ZK-Sekretärs Kurt Hager zu den gesellschaftlichen Veränderung im Neuen Deutschland vom 10. 4.1987: „Würden sie [sic], nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar eine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Dokumentiert in: Stephan, Geschichte der SED, S. 86. 54 Vgl. bspw. das zuerst im Spiegel in Auszügen veröffentlichte Buch „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ des SED-Mitglieds und Sozialökologen Rudolf Bahro, in welchem er die DDR als „asiatische“ Entwicklungsdiktatur schilderte, deren Wirklichkeit und die stetige Entfernung von den Grundfesten Marx’ und Engels’ längerfristig ein Scheitern seiner selbst generiere. Bahro wurde daraufhin wegen „staatfeindlicher Hetze“ und „Geheimnisverrats“ zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt, 1979 konnte er nach Interventionen aus der Bundesrepublik in dieselbe übersiedeln. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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tizipation an politischen Prozessen, ohne jedoch ausschließlich den Traditionen westlicher demokratischer Modelle nacheifern zu wollen. Das Konzept einer reformierbaren DDR stand im Vordergrund. Eine klare Abgrenzung erfolgte damit auch von der bereits beschriebenen Ausreisebewegung, die „zwar ein Signal der Verweigerung und Absage an das System, aber letztlich kein Akt des Widerstands oder der Opposition, sondern eine ‚stille‘ Ausweichhandlung“55 war.56 In der „Bearbeitung“ und „Zurückdrängung“ dieser neuen politischen Gegnerschaft erprobte und perfektionierte sich neben der strafrechtlichen Verfolgung57 die „leise Form des Terrors“58, die seit den siebziger Jahren verstärkt zum Einsatz kam und deren pervertierte Ausmaße sich in der so genannten „Zersetzung“ der politischen Gegnerschaft manifestierten. Tragend für diese neue konspirative Form der staatssicherheitsdienstlichen Arbeit ist die verstärkte Zusammenarbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern, die das Netz von Überwachung und Bespitzelung nahezu flächendeckend im Zusammenwirken mit den Partnern des „politisch-operativen Zusammenwirkens“ (POZW)59 auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Alltags ausweiten konnten. Einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die entsprechende Vernetzung dieser Strukturen bildete seit Beginn der siebziger Jahre der Einsatz neuester Technologien, insbesondere auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung. Die Entwicklung der verfeinerten Methoden zur Informationsbeschaffung unter Zuhilfenahme elektronischer Geräte und Medien bildet aber kein Spezifikum des Staatssicherheitsdienstes der DDR, sondern muss allgemein im Kontext der beginnenden Technologisierung und Computerisierung der siebziger Jahre gesehen werden.60

55 Gieseke, Mielke-Konzern, S. 173. 56 Vgl. ebd., S. 168–174. 57 Vgl. konkret zur politischen Verfolgung und Justiz in der Ära Honecker: Raschka, Entwicklung, S. 273–302 und Vollnhals, „Die Macht ist das Allererste“, S. 227–271. 58 Untertitel des Buches von Fuchs, Nutzung der Angst. 59 Im Bund der Partner des „politisch-operativen Zusammenwirkens“ existierten Vernetzungslinien zum Staatsapparat, in die Volkswirtschaft, zu allen öffentlichen Institutionen und Einrichtungen, zu Parteien und Massenorganisationen, zu den inoffiziellen Mitarbeiten der Nomenklaturkader und zum Nationalen Verteidigungsrat und dessen Einsatzleitungen; vgl. Schlagwort „Zusammenwirken, politisch-operatives“ in: Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, S. 470. 60 Vgl. zeitlich parallel, aber lediglich unter dem Aspekt der Technologisierung von Informationsverarbeitung, die Entwicklungen des BKA (unter Präsident Horst Herold) in der Bekämpfung des bundesrepublikanischen Terrorismus Mitte der 70er Jahre. Herold schaffte 1974 innerhalb weniger Monate ein bis dahin einzigartiges, elektronisches, polizeiliches Informationssystem („INPOL“). Die zentrale Sammlung, Elektronisierung und Datenverarbeitung von Fingerabdrücken im so genannten Daktyloskopie-Projekt und dessen spätere Erweiterung zur „Personifikationszentrale“ (PIZ) ist dabei nur eine weitreichende Neuerung in der Schaffung und Vernetzung gewaltiger Datenbestände für die erkennungsdienstliche Arbeit. Vgl. bspw. Aust, Baader-Meinhof-Komplex, S. 211–218; Klink, Hat die „RAF“ die Republik verändert?, S. 65–99. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Der Einsatz des technischen Fortschritts für die geheimdienstliche Aufklärungsarbeit war zu einem Großteil sowohl der Spionagearbeit der Hauptabteilung II sowie dem Sektor „Wissenschaft und Technik“ der HVA als auch der Verzahnung des MfS durch Verbindungsoffiziere und IM mit dem Militärspionagedienst des Ministeriums für Nationale Verteidigung geschuldet. Diese erfolgreiche Verbindung aus geheimdienstlicher und militärischer Spionage hatte die Perfektion der Überwachungsmethoden progressiv unterstützt; die illegal aus dem westlichen Ausland organisierte, elektronische Spitzentechnik konnte auch für die Arbeit des MfS analysiert und den Bedürfnissen der eigenen Überwachungstaktiken angepasst werden.61 Jene neuartigen Formen der technischen Informationsgewinnung, die eine Auswertung nahezu aller relevanten Hinweise erlaubte, das heißt beispielsweise eine gleichzeitige Analyse auditiver, elektronischer und visueller Daten innerhalb einer Operativen Personenkontrolle, ermöglichten primär im Bereich der Überwachungsoptimierung eine verfeinerte Strategie; sie erforderte aber zugleich für die adäquate Erhebung und effiziente Nutzbarmachung der gewonnenen Informationen eine kontinuierliche Erhöhung des Personals. Aufgrund dieses Tatbestands und im Hinblick auf das großangelegte Ziel einer lückenlosen, konspirativen ‚Gesinnungskontrolle‘ der eigenen Bevölkerung, hypertrophierte der Staatssicherheitsapparat bis zum Stichtag am 1. Oktober 1989 – wie schon dargestellt – auf 91 01562 hauptamtliche Mitarbeiter, wobei die Zahl der zuletzt 174 000 inoffiziellen Mitarbeiter63 den Personalstand auf fast Dreihunderttausend zusätzlich erhöhte, so dass erst in seiner gemeinsamen Betrachtung ein realistisches Bild des personalen Ausmaßes des MfS zu zeichnen ist.64 Auf diese Weise suchte die regierende Führungselite unter einem Die in der Bundesrepublik in Reaktion auf den Terrorismus vollzogenen (gesetzlichen) Änderungen zur Verschärfung der Inneren Sicherheit riefen aber gleichzeitig, im Bewusstsein eines möglichen „Abbaus demokratischer Rechte“, ihre entschiedensten Gegner auf den Plan: „Es ist sicher, dass die Bevölkerung Westdeutschlands heute einem Grad von Überwachung unterliegt, der historisch präzedenzlos ist; die Gestapo konnte von technischen Mitteln dieser Reichweite nur träumen.“ Trotz der nachdrücklichen Kritik an den in der BRD ausgemachten Zuständen erliegt Enzensberger nicht der Neigung vieler Linksintellektueller die ‚genuinen‘ Grundgegebenheiten des DDR-Systems weniger dezidiert in den Blick zu nehmen: „Sie [die DDR] hat ihren Einwohnern die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, die hier zur Debatte stehen, von Anfang an konsequent versagt. [...] Die Gesellschaft der DDR zeichnet sich durch ein Höchstmaß sorgfältiger Regulierung aus. Ein feinverzweigtes Netz von Maßregeln, Vorschriften und Bestimmungen schützt die Bevölkerung vor sozialen und ökonomischen Risiken, zugleich und vor allem sorgt es dafür, dass fundamental demokratische Rechte, wie das der Freizügigkeit [...] mit minutiöser Gründlichkeit aus der Welt geschafft sind und bleiben.“ Enzensberger, Unentwegter Versuch, S. 1–14, Zitate S. 11 und 3–4. 61 Vgl. Knabe, Unterwanderte Republik, S. 423–439. 62 Vgl. Statistik zur Personalentwicklung des MfS bei Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 551–557. 63 Vgl. die Zahl bei Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter, S. 7. 64 Der Jahresetat des MfS für 1989 belief sich auf 3,6 Milliarden Mark, davon entfielen 2,4 Milliarden auf Personalkosten, Vgl. Daten bei Gill/Schröter, MfS, S. 91. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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stetig steigenden Legitimationsdruck, welchem sie sich in immer stärkerem Maße Ende der achtziger Jahre ausgesetzt sah, den Erosionserscheinungen ihrer Machtkompetenz entschieden, letztendlich aber ohne Erfolg beizukommen. Die Entwicklung des Funktionswandels des MfS und seiner Arbeitsweise während der Ära Honecker vollzieht sich damit innerhalb eines „Übergang[s] offen repressiver Methoden der Herrschaftssicherung zu neuen Strategien flächendeckender vorbeugender Kontrolle und konspirativer Steuerung“65. Struktur und Aufbau des Ministeriums für Staatssicherheit66 : Das MfS repräsentierte sich bis zu seinem Ende im Oktober 1989 in horizontaler Organisationsstruktur in seiner Zentrale, mit dem Hauptsitz in Berlin, Normannenstraße, durch den Minister für Staatssicherheit Armeegeneral Erich Mielke und dessen vier Stellvertreter: Generaloberst Rudolf Mittig, Generalleutnant Dr. Wolfgang Schwanitz, Generalleutnant Dr. Gerhard Neiber und Generalleutnant Werner Großmann, der seit 1987 in Nachfolge von Markus Wolf, Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, stand. Dieser fünfköpfigen Führungsspitze waren 13 Hauptabteilungen untergeordnet, zudem 20 selbstständige Abteilungen und des Weiteren mehrere zentrale Arbeitsgruppen, Stäbe und Verwaltungen. Die Hauptabteilungen Spionageabwehr in den Streitkräften (HA I), Allgemeine Spionageabwehr (HA II), Sicherung der Volkspolizei (HA VII), Beobachtung/ Ermittlung (HA VIII), Untersuchung (HA IX), Sicherung der Wirtschaft (HA XVIII), Sicherung des Verkehrsund Nachrichtenwesens (HA XIX) und Bekämpfung von ideologischer Diversion, Subversion und konterrevolutionärer Aktivitäten (HA XX) wurden nach Honeckers Amtsantritt 1971 infolge des VIII. Parteitages der SED um fast ein Drittel erweitert und unter den Vorsitz Erich Mielkes gestellt, darunter befanden sich die Abteilungen Passkontrolle, Tourismus, Interhotel (HA VI), Funkaufklärung (HA III), Terrorabwehr (HA XXII). Hinzu kam die Einrichtung der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), der die so genannte aktive Aufklärung, die Spionagetätigkeit aufgegeben war, der Zentralen Koordinierungsgruppe und der Arbeitsgemeinschaft Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), der die Koordinierung und Kontrolle des gesamten DDR-Außenhandels, zugleich auch des Waffenhandels übertragen war, als die Devisenbeschaffung für die DDR-Wirtschaft zur primären Überlebensfrage wurde.67 Unmittelbar dem Minister für Staatssicherheit bzw. seinen Stellvertretern untergeordnet, waren in der vertikalen Struktur 15 Bezirksverwaltungen, 211 Kreisdienststellen und sieben Objektdienststellen (z. B. industrielle VEB-Großkombinate, Hochschulen und Universitäten und Dynamo-Sportvereine). Die operative Basis innerhalb der Staatssicherheit aber bildeten die inoffiziellen Mitarbeiter. Sie waren eingesetzt, um dem MfS das intendierte Netz der flächendeckenden Überwachung über die gesamte DDR-Bevölkerung zu spinnen. Erste Richtlinien für dieses Konzept existierten schon seit September 1950. Im 65 Engelmann, Funktionswandel, S. 97. 66 Vgl. Abb. 1 (Anhang): Organigramm des MfS. 67 Vgl. Materialien der Enquete-Kommission 1995, Band I, S. 625. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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November des Jahres 1952 erschien erstmals in Richtlinie 2168 eine wissenschaftliche Analyse über die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern. Das bis in die achtziger Jahre perfektionierte, ausgeklügelte System der Informationsbeschaffung und des Informationsaustausches funktionierte vor allem aufgrund des nun nahezu flächendeckenden Einsatzes von inoffiziellen Mitarbeitern, die konspirativ mit den hauptamtlich tätigen Mitarbeitern kooperierten, bzw. im Verbund mit den Partnern des „poltisch-operativen Zusammenwirkens“.69 Faktoren der Macht: Das MfS mutierte im Verlauf einer fast vierzigjährigen Geschichte und innerhalb seines funktionellen Wandels zu einem „Instrument totalitärer Herrschaftsausübung“70, deren Inhaber sich seines Machteinflusses bedienten, um die Entwicklung der DDR in ihrem Sinne voranzutreiben, dabei aber stets den Überwachungs- und Unterdrückungsapparat des MfS unter politischer Kontrolle hielten. Um das Sicherheitsbedürfnis der SED-Parteiführung zu garantieren, vereinte das MfS gegenüber anderen staatlichen oder gesellschaftlichen Institutionen äußerst weitreichende Machtkompetenzen: „Das MfS hat das Recht, zu allen Problemen der staatlichen Leitung, durch die Fragen der staatlichen Sicherheit berührt zu werden, Stellung zu nehmen und Vorschläge zu machen. Im Rahmen der allgemeinverbindlichen Rechtsvorschriften und Beschlüsse ist es befugt, Forderungen gegenüber den zuständigen Stellen zu erheben“71. Trotz dieser umfangreichen Befugnisse ist das Ministerium für Staatssicherheit zu keiner Zeit ein „Staat im Staate“72 gewesen bzw. hat als ein „Überministerium [...], das außerhalb der Regierung steht“73 und von aller Verantwortung gegenüber der SED losgelöst, eigenmächtig Handlungskompeten68 Vgl. MfS-Richtlinie 21 vom 20.11.1952: Über die Suche, Anwerbung und Arbeit mit Informatoren, geheimen Mitarbeitern und Personen, die konspirative Wohnungen unterhalten. Dokumentiert in: Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter, S. 164–191. 69 Gill/Schröter, MfS, S. 31–66. 70 Vollnhals, Ministerium für Staatssicherheit, S. 498. 71 Statut des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. Juli 1969. Dokumentiert in: Materialien der Enquete-Kommission 1995, Band VIII, S. 119–125, hier 122 (§ 5 Abs. 2). 72 Die Prägung dieses Begriffs geht sowohl auf bereits verwiesene Äußerungen Honeckers und Krenz’ (siehe FN 26) als auch auf die Veröffentlichung von Wilkening (Staat im Staate: Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, Berlin 1990) zurück. Besonders auf die zuerst von Fricke geäußerte Kritik hin – „MfS war kein ‚Staat im Staate‘. Wer das Gegenteil behauptet, mindert die historische Verantwortung der SED für die Schuld der Staatssicherheit. ‚Schild und Schwert der Partei‘ sollte und wollte die Staatssicherheit sein.“ (Fricke, Ministerium für Staatssicherheit, S. 7) – falsifizieren auch neueste Forschungen die Aussage vom „Staat im Staate“. Vgl. bspw. Suckut/Süß, Staatspartei und Staatssicherheit, passim. Nichtsdestotrotz darf die allgemein anerkannte Forschungsmeinung nicht Anlass sein, zur Klärung von Verantwortlichkeiten und v. a. ihrer Folgen den Blick für MfS unscharf werden zu lassen. Wie folgende Veröffentlichung beweist, nutzen ehemalige Stasioffiziere den ihnen heute gegebenen Freiraum aus, sich jeglicher Verantwortung und Schuldfrage zu entziehen: Grimmer/Irmler/Schwanitz, Abwehrarbeit des MfS. Vgl. dazu die Rezension von Joachim Walther „Nicht wir sind’s, Erich ist’s gewesen.“ Über die Opfer kein einziges Wort: Zwanzig hochrangige ehemalige Stasi-Offiziere versuchen sich zu entlasten. In: Die Zeit, 19 (2002). 73 Erich Honecker, in: Andert/Herzberg, Sturz, S. 367. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zen festlegt, agiert. Schließlich war es stets – auch aufgrund der strukturellen und personellen Verzahnung – der jeweiligen SED-Führungsspitze subordiniert, die das MfS unter ständige Kontrolle stellte und ihren eigenen Führungsanspruch behauptete. Der georderte Einsatz der SED-Führungsspitze von geheimpolizeilichen Strukturen zur Durchdringung und möglichst vollständigen Überwachung der Gesellschaft offeriert ein Kennzeichen moderner Diktaturen, die „mangelnde demokratische Legitimation mit Repression im Innern kompensieren“ und durch den Zugriff auf nahezu alle Bereiche des Lebens ihrer Gesellschaften einen absoluten Herrschaftsanspruch formulieren.74

5.2

Innenansichten zur veränderten Arbeitsweise der 70er und 80er Jahre – „Methodenwechsel“ und „Operative Psychologie“

Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, die sich innerhalb einer sozial-ökonomischen, staatlichen und nationalen Selbstbestimmung formieren sollte, forderte auch vom herrschaftsabsichernden Machtapparat interne progressive Prozesse, die der Erneuerung und Stabilisierung des gesellschaftlichen Konzepts gerecht wurden. Das Funktionsgefüge des Staatsicherheitsdienstes hatte sich – wie im Überblick 5.1 dargestellt – sowohl aufgrund veränderter gesellschaftlicher und systembedingter Realitäten als auch äußerer Zwänge und Gegebenheiten grundlegend verschoben und dabei zu einer Vermehrung der Machtfülle des Ministeriums geführt. Ausgehend von dieser anatomisch-funktionellen Gesamteinordnung des Ministeriums für Staatssicherheit soll die fortschreitende Betrachtung zur Verifizierung diktatorischer Erklärungsmodelle weniger auf einer vordergründig strukturellen Ebene erfolgen, sondern der Versuch unternommen werden, die Faktoren von Repression in ihrem Wirkungszusammenhang auf Individuum und Gesellschaft zur Realisierung des Machterhaltungsanspruchs darzustellen. Diejenigen innen- wie außenpolitischen Komponenten, welche ausschlaggebend für die starken Veränderungen der Arbeitsweise des MfS seit den siebziger Jahren waren, werden jeweils exemplarisch, für den Einzelfall in spezifischen Zusammenhang gestellt und in der Darstellung der individuellen Erfahrungswelten der ZeitzeugInnen im Spiegel ihrer personenbezogenen MfS-Akten noch differenziertere Verknüpfung und Problematisierung finden.75 Bevor auf das erhobene und zur Verfügung stehende individuelle Quellenmaterial zurückgegriffen werden kann, suchen zunächst die nun folgenden Aus-

74 Vgl. Vollnhals, Ministerium für Staatssicherheit, S 498; vorausgeh. Zitat ebd. 75 Vgl. Kap. 6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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führungen, die aus bisher vorliegenden Arbeiten76 hervorgegangene Spezifizierung verschiedenster Ausformungen der Repressionsstrategien des MfS seit den siebziger Jahren kurz darzulegen, mit zusätzlich erkennbar gewordenen Phänomenen in Einklang zu bringen bzw. diese durch im jeweiligen Kontext entstandene Richtlinien des Ministers in Beziehung zu setzen. Die daran anschließende, individualbiographische Untersuchung MfS-spezifischer Verfolgungsformen (Kapitel 6) möchte die Übergänge und das Zusammenspiel durch Offenlegung der Methoden im gesamtbiographischen Zusammenhang aufzeigen, unmittelbare und mittelbare Formen politisch motivierter Verfolgung77, nicht-strafrechtliche und strafrechtliche Vorgehensweisen des MfS erfassen, aber auch die Ebene der allgemein staatssozialistischen Rahmenbedingungen und ihrer strukturellen Zwangslagen (vgl. Kapitel 5.1) übergeordnet in einen ganzheitlichen Blick nehmen.78 Das heißt sie möchte sich nicht mit der Benennung und Klassifizierung einzelner Verfolgungsmechanismen begnügen, ohne sie im konkreten personenbezogenen Wirkungs- und Handlungszusammenhang aufzulösen und zugleich in den historischen Längsschnitt einzuordnen. Dennoch bleibt es zunächst unerlässlich, jenes für die Auswertung der individuellen Erfahrungen relevante Spektrum staatssicherheitsdienstlicher, repressiver Strategien definitorisch zu fassen und kategorisch einzuordnen, um die begrifflichen Voraussetzungen für den im Hauptteil zu vollziehenden Perspektivwechsel zu schaffen. „Methodenwechsel“: „Die lautlose Durchherrschung der Gesellschaft, in die alle Teile des Systems miteinbezogen waren und politischen Widerspruch bereits im Keim oder – wie Erich Mielke in seinen Reden immer wieder beschwor – schon ‚vorbeugend‘ erstickten, war die Antwort auf die neuen Bedingungen und erscheint heute als das eigentliche Spezifikum der SED-Diktatur“79. Dieses anschaulich zu gestalten, die Vielfalt der sich äußernden Phänomene politisch motivierter Verfolgung in eine differenzierte Begrifflichkeit zu fassen, soll Inhalt und Aufgabe der nun folgenden Darlegungen sein. Die besonders seit den siebziger Jahren zu beobachtende Verfeinerung der repressiven Methoden setzte neue Signale für die aufklärungsdienstliche Arbeitsweise des MfS. Es bediente sich, innerhalb einer spezifischen Vernetzung, 76 Pionierarbeit in Bezug auf den zu problematisierenden Repressionsbegriff haben v. a. Behnke/Fuchs, (Zersetzung der Seele), Knabe (Feine Waffen) und Raschka (Überwachung und Repression, S. 272–276) geleistet. 77 In diesem Zusammenhang sollte auf die – von Knabe bereits thematisierte – zu reflektierende Dimension einer „Abgrenzung politisch-motivierter Verfolgung von ‚normalen‘ Benachteiligungen und Schikanen“ in gesellschaftlichen Systemen im Allgemeinen hingewiesen werden. Grundlage dieser differenzierenden Überlegungen ist jedoch, die DDR als ein nicht-demokratisch agierendes, repressives System zu begreifen. Vgl. Knabe, „Weiche“ Formen, S. 712 f. 78 Die Erfassung der Formen repressiver Verfolgung innerhalb dieser Begrifflichkeiten entspricht weitestgehend den Ausführungen Schullers im zuvor zitierten Aufsatz: Repression und Alltag in der DDR, passim. 79 Knabe, Feine Waffen, S. 193. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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grundlegend dreier charakteristischer Formen geheimdienstlicher Aufklärungsarbeit: 1. Einsatz von technischen Mitteln, das heißt Durchführung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen mit Hilfe von Funk-, Brief- und Telefonüberwachung oder unter Einsatz elektronischer Abhöranlagen; 2. Operativ-taktische Maßnahmen, das heißt Vorgehensweisen zur aktiven, vorbeugenden Verhinderung feindlich-negativer Tätigkeiten; 3. Systematisierung der Informationsbeschaffung und des -austausches, das heißt flächendeckender Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern und zugleich Vernetzung mit „Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens“ unter Einsatz neuester Erkenntnisse der technologischen und mikroelektronischen Forschung. Die Kooperation mit den POZW hat insofern eine sehr hohe Relevanz für die Betrachtung der Verfolgungsstrategien des MfS, weil sie in großflächig angelegter, alle Strukturen des öffentlichen Lebens abdeckender Weise agieren und insofern den „systematische[n] Ausbau der Vorfeldmechanismen“80 im diffus wirkenden Rahmen perfektionieren konnten. Für die Gewinnung relevanter Informationen und Stimmungslagen in der Bevölkerung zeigte sich zusätzlich die „Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe“ (ZAIG) im MfS verantwortlich; eine Diensteinheit mit zuletzt 844 Hauptamtlichen Mitarbeitern, die regelmäßig die erarbeiteten Erkenntnisse in Lageberichten zusammenstellte. Sie sollten einerseits als Operationshilfen dienen und andererseits stets den Spitzenfunktionären der SED als aktuelle Situationsberichte zur Verfügung stehen.81 Die unterste Stufe individueller Überwachung stellte die Durchführung von „Sicherheitsprüfungen“ dar. Festgelegt waren die betreffenden Bestimmungen in Richtlinie Nr. 1/8282, sie dienten der Ermittlung der politischen Einstellung und des Gesamtverhaltens einer bestimmten Person, um sie kategorisch einordnen zu können. Für eine solche Untersuchung waren Personen interessant, die leitende Funktionen in staatlichen Einrichtungen oder gesellschaftlichen Organisationen übernehmen sollten, die eine Erlaubnis bzw. Genehmigung einer „Nicht-Rentnerreise“ ins westliche Ausland beantragten oder in einem speziellen Verantwortungsbereich negativ aufgefallen waren.83 Der unverbesserliche Ehrgeiz des MfS, ein lückenloses System der Kontrolle und Aufsicht des eigenen Volkes zu etablieren, schien vor allem in der Ausweitung und Perfektionierung der „Sicherheitsüberprüfungen“ auf fruchtbaren Boden zu stoßen. Für dieses großangelegte Unterfangen – die Erfassung der Lebenswelten immer größerer Personenkreise – scheute das MfS auch nicht den Einsatz instrumentalisierter Wissenschaften wie beispielsweise der Psychologie. Hier „wurde Ende 80 Knabe, „Weiche“ Formen, S. 713. 81 Vgl. Gill/Schröter, MfS, S. 123–146. 82 MfS-Richtlinie 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsprüfungen. Dokumentiert in: ebd., S. 295–321. 83 Vgl. ebd., S. 123–126. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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der achtziger Jahre am Fachbereich ‚Operative Psychologie‘ der MfS-Hochschule ein Forschungsprojekt ‚zur Erfassung der sicherheitspolitischen Eignung von Personen‘ in Angriff genommen [...].“84 Die gesteigerte Form der individuellen Aufklärungsarbeit begleitete die Bezeichnung „Operative Personenkontrolle“ (OPK). Sie richtete sich gegen jene Personenkreise, die in Verdacht geraten waren, von offiziell vorgegebenen, ideologischen Denkmustern abzuweichen und ihre nicht staatskonformen Ansichten eventuell im privaten Umfeld kund zu tun oder im öffentlichen Raum zu manifestieren. Richtlinie Nr. 1/8185, die Grundlage für die Gestaltung Operativer Personenkontrollen war, forderte deshalb in den zuständigen Verantwortungsbereichen die „Klärung der Frage »Wer ist wer?«, weiter zu erhöhen“86, um feindlich-negative Handlungen prophylaktisch zu verhindern. Das anzulegende „Material“ – die Ausleuchtung möglichst aller lebensweltlichen Bereiche der zu bearbeitenden Person zur Feststellung seiner politischen Haltung – wurde in der Post- und Telefonüberwachung, bei (konspirativen) Hausdurchsuchungen, innerhalb von Aussprachen am Arbeitsplatz sowie im privaten Umfeld unter aktivem Einsatz inoffizieller Mitarbeiter realisiert. Die infolge der Richtlinie 1/81 verstärkt angestrebte höchste Effektivität der OPK-Arbeit sollte den reibungslosen Übergang im zielgerichteten und planmäßigen Vorgehen gegen betroffene Personenkreise – falls sich der Verdacht eines strafrechtlichen Handelns erhärtete oder dieser aktiv provoziert wurde – in der Realisierung eines möglichen „Operativen Vorgangs“ (OV) ebnen.87 Die höchste Stufe der konspirativen Überwachung und Verfolgung einer Person lag in der Einleitung eines solchen.88 Die „Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge“ regelte das grundlegende Vorgehen und dessen Wirksamkeiten. Die Funktion eines OV gestaltete sich demzufolge darin, „ein Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte zu unterbinden, das Eintreten möglicher Schäden, Gefahren oder anderer schwerwiegender Folgen feindlich-negativer Handlungen zu verhindern und damit einen wesentlichen Beitrag zur kontinuierlichen Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung zu leisten“89. Ziel und Gegenstand dieser Form der Operativen 84 Süß, Politisch missbraucht?, S. 685 f. Nähere Ausführungen zur so genannten „Operativen Psychologie“ vgl. Kap. 5.2.2. 85 MfS-Richtlinie 1/81 über die Operative Personenkontrolle (OPK). Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 322–345. 86 Ebd., S. 323. 87 Vgl. ebd., S. 127–131. 88 „Operativer Vorgang – Bezeichnung für 1. den einzelnen Prozess der Vorgangsbearbeitung, in dem der Verdacht strafbarer Handlungen [...] geklärt wird. [...] 2. die durch die Abt(eilung) XII ausgegebene(n) Akte(n), in der (denen) vor allem enthalten sind: Formblätter zur Erfassung von Personen, Objekten usw., Eröffnungsbericht, Sachstandbericht, Operativpläne und andere Dokumente, Nachweis der in der Bearbeitung erreichte Ergebnisse, insbesondere der erarbeiteten Beweise, Art und Weise des Vorgehens zur Klärung der Verdachtsgründe.“ Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, S. 287 f. 89 MfS-Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV). Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 349. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Arbeit war die Eröffnung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens – Formen einer fingierten Kriminalisierung waren eingeschlossen – vorwiegend im Rahmen der politischen Justiz. Entsprechende „Delikte“, die aufgrund der Operativen Arbeit verdächtigen Personen zur Last gelegt oder provoziert wurden und bisweilen zu einer strafrechtlichen Verfolgung führten, waren häufig „Landes- und Geheimnisverrat“, „Ungesetzlicher Grenzübertritt“, „Staatsfeindlicher Menschenhandel“, „Staatsfeindliche Hetze“ sowie „Zusammenrottung“, „Öffentliche Herabwürdigung“ oder „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“. Die seit 1974 vollzogene Änderung des politischen Strafrechtskatalogs konnte aufgrund seines unprätentiösen Ermessensspielraums für die Zielstellung der Operativen Vorgänge in unterschiedlicher Weise zu Ungunsten der Betroffenen benutzt werden.90 Auf die sich immer stärker vollziehende Vernetzung von Justiz und Staatssicherheit in der Ermittlungs- und Strafverfolgungstätigkeit wird in den konkreten Einzelfällen näher einzugehen sein, insbesondere auf die sich fortschreitend entwickelnde Instrumentalisierung des politischen Strafrechts durch die Novellierungen des StGB in den drei Strafrechtsänderungsgesetzen der siebziger Jahre.91 Das Hauptaugenmerk in der Durchsetzung „feiner“ Formen der Verfolgung gegen einzelne Personen bzw. politisch in Widerspruch zur offiziellen Linie agierende Gruppen lag spätestens seit Beginn der siebziger Jahre auf der Ausbildung und Entwicklung eines potenzierten Konglomerats der bisherig vollzogenen Repressionsstrategien. Methodisches Ergebnis dieses Strebens war die so genannte „Operative Zersetzung“92, die in der bereits benannten MfS-Richtlinie Nr. 1/76 erstmals als Verwaltungsvorschrift offizielle Nennung erlangte und durch eine Auflistung möglicher „Formen, Mittel und Methoden“ differenzierte Konkretisierung erfuhr.93 Der „Zersetzungsbegriff“ als solcher findet schließlich erst in der zweiten Auflage des MfS-Wörterbuches von 1985 Doku90 Vgl. ebd., S. 131–140. 91 Vgl. zu diesem Problemfeld erneut Raschka, Entwicklung, S. 273–327. 92 „Zersetzung, operative – operative Methode zur wirksamen Bekämpfung subversiver Tätigkeit, insbesondere in der Vorgangsbearbeitung. Mit der Z. wird durch verschiedene politisch-operative Aktivitäten Einfluss auf feindlich-negative Personen, insbesondere auf ihre feindlich-negativen Einstellungen und Überzeugungen in der Weise genommen, dass diese erschüttert oder allmählich verändert werden bzw. Widersprüche sowie Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften hervorgerufen, ausgenutzt oder verstärkt werden. Ziel der Z. ist die Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte, um dadurch feindlich-negative Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend zu verhindern, wesentlich einzuschränken oder gänzlich zu unterbinden bzw. eine differenzierte politisch-ideologische Rückgewinnung zu ermöglichen. [...] Hauptkräfte der Durchführung der Z. sind die IM.“ Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, S. 464. Zur näheren Begriffsbestimmung, seiner Wertung und Typologisierung der Strategien in Bezug auf Zielgruppen, Wirkung und Ausmaß ihres Einsatzes vgl. detailliert Süß, Repressive Strukturen, S. 193–250. 93 Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung, MfS-Richtlinie 1/76. Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 390–391. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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mentation, in seiner ersten Auflage aus dem Jahre 1970 tritt dieser offiziell noch nicht in Erscheinung. Diese Tatsache bildet ein Indiz dafür und bestätigt gleichzeitig die Annahme, dass die Methode der „Zersetzung“ „zur Bekämpfung bestimmter Personenkreise erst in den siebziger Jahren im Einzelnen definiert und so ausgestaltet wurde, wie man das in der Richtlinie Nr. 1/76 nachlesen kann“94 und infolgedessen als spezifische, nicht-strafrechtliche Vorgehensweise des MfS in der Ära Honecker gelten kann. Dabei schloss diese Form des repressiven Agierens eine gleichzeitig oder nachfolgend stattfindende strafrechtliche Verfolgung keineswegs aus. Sie konnte ebenso bewusst angestrengte Grundlage und Auslöser für eine solche sein. Schon an dieser Stelle wirft sich die Frage auf, inwieweit überhaupt von einer „Verfeinerung“ der Mechanismen zu sprechen ist, betrachtet man insbesondere die Folgen und Schädigungen einer solch angelegten „psychosozialen“ Strategie.95 Die Formulierungen der entsprechenden Richtlinien weisen zunächst eine Potenzierung im Zusammenspiel der bewusst erfahrbar, verhängten Repression – ergo „harten“ – mit jenen, zerstreut wirkenden „weichen“ Formen auf, die vordergründig für die Betroffenen meist nicht unmittelbar greifbar war. Erst aus der Gesamtheit der vollzogenen Repressionen werden die Absichten und Wirkungsmechanismen erkennbar. Die „leisen Formen“ der Repression konnten nachhaltig aber umso „erfolgreicher“ sein, je weniger sich die Betroffenen ihrer gewahr wurden. Die Erklärungsmuster für eine allmählich fortschreitende Destruktion ihrer Persönlichkeit, ihrer zwischenmenschlichen und beruflichen Kontakte oder ihrer materiellen Notlagen entbehrte jeglicher, nachvollziehbarer Grundlage. Dass sich hinter all diesen Maßnahmen das planvolle Handeln des MfS verbarg, wurde im Moment der „Zersetzungsmaßnahmen“ nur für wenige Betroffene konkret erfassbar. Für eine sinnfällige Demonstration dieser Strategien werden die individualbiographischen Beschreibungen im Hauptteil Zeugnis ablegen, der kennzeichnende Blickwinkel wird dabei weniger auf der einzelnen Methode der ausgeübten Repression als auf der sichtbaren Äußerung der Gesamtheit der Methoden, die das „Lernziel: Zersetzung“ bildeten, liegen. Die Schwierigkeit, welche die Darstellung „diffus wirkendende[r] Disziplinierungsformen“96 in sich birgt, ist vor allem durch ihre wenig offenkundige Benennung und Erfassung im jeweils vorliegenden Aktenmaterial begründet. Die in diesem Kontext entscheidende Kooperation des MfS mit den „Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens“ gestaltete sich beispielsweise häufig in mündlichen Absprachen, im informellen Rahmen und kann dahingehend lediglich in der Rekonstruktion der erfahrenen Sanktionen und ihrer Deutung in den individuellen Erinnerungsleistungen aus dem gegenwärtigen Wissensstand heraus erfolgen. Dieses Problem – die vollzogenen Maßnahmen des MfS nachzu94 Süß, Repressive Strukturen, S. 202. 95 Vgl. ebd., S. 228–240. 96 Knabe, „Weiche“ Formen, S. 714. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zeichnen – ergibt sich auch aus der Arbeit der inoffiziellen Mitarbeiter. Anders als im eben geschilderten Fall aber werden beispielsweise in regelmäßigen Monatsberichten des jeweiligen IM zu einem Großteil die Wirkungen der Maßnahmen und zugleich diese selbst deutlich erkennbar und lassen somit Vermutungen für das weitere Agieren des MfS zu. „Operative Psychologie“: Für eine weitreichende Perfektionierung der „Zersetzungsmaßnahmen“ in Anlage und Wirkung hatte das MfS auch die wissenschaftliche Psychologie in den Dienst genommen und eine eigene so genannte „Operative Psychologie“97 begründet. „Der Einsatz von Sozialtechniken und psychologischem Wissen gegen politische Gegner ist“ – wie bereits Behnke und Fuchs konstatieren – „ein weltweites Diktatur- und Geheimdienstphänomen.“98 Die „Operative Psychologie“ des MfS diente neben der Anwerbung von Mitarbeitern und deren Stabilisierung innerhalb des Systems der Staatssicherheit vorwiegend der oppositionellen Bekämpfung, reichend von Formen der bloßen Verunsicherung und Einschüchterung bis hin zur Zerstörung ganzer Biographien und Identitäten. „Methodologisch war 1980 in der ‚Wissenschaftskonzeption zur weiteren Profilierung der operativen Psychologie an der Hochschule des MfS‘ angeregt worden, die jeweils neuesten Erkenntnisse der verschiedenen Wissenschaftszweige in Ost und West für den spezifischen Bedarf des MfS“99 auszuwerten und entsprechend seiner pragmatischen Orientierung für den Einsatz zur „Bekämpfung feindlich-negativer Personen“ nutzbar zu machen. Das Verständnis einer Psychologie im „operativen“ Sinne definierte das MfS folgendermaßen: „Eine der vielen Wissenschaften, die sich mit der menschlichen Leistungen und Verhaltensweisen befasst, ist die marxistisch-leninistische Psychologie. Der für einen längeren Zeitraum gültige gesellschaftliche Auftrag der Psychologie der DDR besteht darin, verstärkt solche psychologischen Erkenntnisse zu erarbeiten und in die Praxis umzusetzen, die der Steigerung der Effektivität der Arbeit bei gleichzeitiger Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen dienen.“100 Es ging demnach um das Einschätzen psychischer Zusammenhänge über „die persönlichen Erfahrungen hinaus um den ‚Faktor Mensch‘ noch bewusster bei der Realisierung operativer Prozesse berücksichtigen und nutzen“101 zu können. Die „Operative Psychologie“ unterschied in ihrem Lehrplan, der an der Juristischen Hochschule (JHS) in Potsdam-Eiche102 erfüllt werden musste, zwei 97 Eine umfassende Darstellung in der Erforschung der „Operativen Psychologie“ leistet Richter, Operative Psychologie. 98 Klaus Behnke und Jürgen Fuchs in ihrem Vorwort, zu: dies., Zersetzung der Seele, S. 7– 10, hier 7. 99 Süß, Politisch missbraucht?, S. 686. 100 Studieneinführung Reg.-Nr. 106/68: „Gegenstand, Aufgaben und Arbeitsgebiete der Psychologie. Die Bedeutung psychologischer Erkenntnisse für die Praxis im MfS“, zitiert in Behnke, Lernziel: Zersetzung, S. 12 f. 101 Ebd., S. 13. 102 Dieser konspirative Name beinhaltete die inoffizielle Bezeichnung für die „Stasi“-eigene Hochschule: Ministerium für Staatssicherheit, Juristische Hochschule. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Hauptrichtungen der Entwicklung. Die erste postulierte folgende Aufgabengebiete: 1. „Entwicklung und Einsatz psychologischer Verfahren zur Feststellung der Eignung operativer Kräfte für spezielle Funktionen und Tätigkeiten“, 2. „Qualifizierung der Einschätzung der die politische Zuverlässigkeit operativer Kräfte und operativ interessierender Personen wesentlich bestimmenden politisch-ideologischen Einstellungen und Überzeugungen und andere[r] Persönlichkeitseigenschaften“, 3. „beständige Sicherung einer anforderungsgerechten Einschätzung von Motivationen, Überzeugungen und Einstellungen und anderen operativ bedeutsamen Persönlichkeitseigenschaften operativer Kräfte als solche das gegenwärtige und zukünftige Verhalten bestimmende Voraussetzungen“, 4. „Qualifizierung der Einschätzung des Entwicklungsstandes operativ bedeutsamer sozialer Beziehungen zwischen Personen und Gruppen“ und 5. „Erfassen und Einschätzen psychischer Bedingungen als Bestandteil von Massenerscheinungen“.103 Während sich der erste Schwerpunkt sowohl auf die interne, psychologische Erfassung als auch auf die Perspektive von ‚Zusammenarbeit‘ von MfS-Mitarbeitern und oppositionellen Gruppen, sowie deren psychische Befindlichkeiten konzentrierte, beabsichtigte jener, nun noch kurz aufzuführende, zweite die Anwendung von Methoden und Formen der Massenkommunikation zu definieren und zu lehren, insbesondere aber die Durchführung von Handlungsweisen gegen Oppositionelle anzustrengen. Die Richtlinie forderte demnach „[d]ie Entwicklung und [den] Einsatz effektiver Trainingsverfahren für die Mitarbeiter im operativen Einsatz“, „[d]ie IM-Forschung“, das heißt wohl die Optimierung der Qualifizierung von IM, die „Einstellungs- und Verhaltensänderung bei IM und operativ interessierender Personen“ zu kontrollieren und die „Mitwirkung an der Vorbereitung operativer Kräfte auf ihren Einsatz im Rahmen operativ bedeutsamer Massensituationen“104 zu verwirklichen. In Zusammenarbeit mit psychologischen Instituten externer Universitäten wurden Grundkenntnisse in Methoden der Persönlichkeitseinschätzung, Gesprächsführung und Beeinflussung, Fähigkeiten in der Stimmen- und Sprachensowie Schrift- und Dokumentenanalyse gelehrt.105 Das MfS-Hauptstudium der 103 Vertrauliche Verschlusssache des Ministerrats der DDR, Ministerium für Staatssicherheit, Juristische Hochschule Potsdam, Sektion Politisch-operative Spezialdisziplin, Fachbereich II: „Wissenschaftskonzeption zur weiteren Profilierung der operativen Psychologie an der Hochschule des MfS“, zitiert in Behnke, Lernziel: Zersetzung, S. 16–19. 104 Die vorausgehenden Zitate ebenfalls ebd., S. 18 f. 105 „Sie mussten ja an allen Seminaren teilnehmen, auch Fachrussisch und Fachenglisch, mussten sich richtig rumquälen [...] Sie hatten am Anfang Orientierungsschwierigkeiten wie wir alle. Es waren teilweise auch ältere Semester dabei, auch ganz unterschiedliche Bildungswege. [...] Wenn man sie fragte, sagt mal, wofür macht ihr das eigentlich, wozu braucht ihr Psychologie ... da zuckten sie mit den Schultern. Vielleicht wussten sie es wirklich nicht. Die Geheimniskrämerei, wie wir ja jetzt wissen, die Parteidisziplin © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Operativen Psychologie wurde dann erneut in Potsdam oder in gesonderten Abteilungen der Bezirksverwaltungen aufgenommen, die Lehre orientierte sich jetzt praxisnah und anwendungsorientiert. Auf das psychologische Grundwissen aufbauend, begann eine Spezialausbildung in verschiedenen Fachbereichen, die beispielsweise zu Fragen der „Analyse der Aussagefähigkeit und Stimulierung der Aussagebereitschaft von Personen in der Untersuchungsarbeit“106 zentrierten und eine Anwendung ihrer Inhalte beispielsweise in „operativ zu beachtenden und zu nutzenden Besonderheiten der Persönlichkeit von Angehörigen sozialer Gruppen (z. B. Künstler, Kulturschaffende, Angehörige der medizinischen Intelligenz, Jugendliche u. a.) bzw. anderer operativ bedeutsamer Personenkategorien (z. B. hartnäckige Antragsteller auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, Haftentlassene, Demonstrativtäter)“ anstrebten. Insgesamt entwickelte die „Operative Psychologie“ im Zuge ihrer Entwicklung seit Anfang der siebziger Jahre einen – dies ist vor allem anhand der erstellten Diplomarbeiten und Dissertationen der JHS nachvollziehbar – eigenen „Forschungszweig“, der praxisorientiert darauf konzentriert war, die Methoden von psychodiagnostischen Tests oder sozialpsychologischer Trainingsverfahren den Erfordernissen der Operativen Arbeit anzugleichen. Die konkreten „Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung“ fanden detaillierte Auflistung in den entsprechenden Richtlinien. Der spezifische Katalog zur „Zersetzung“, der von der Diskreditierung der jeweilig zu bearbeitenden Person über die „systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge“ bis hin zu einer „gezielte[n] Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe“107 reichte und wie bereits dargelegt in Richtlinie 1/76 dokumentiert war, wurde durch das Lehrmaterial der MfS-Hochschule ausführlich veranschaulicht, anhand beispielhafter Fälle verdeutlicht und in direkten Bezug zu den Erkenntnissen der „Operativen Psychologie“ gestellt. „Auch wenn das fachliche Niveau der psychologischen Erörterungen an der MfS-Hochschule niedrig war, dürfte allein die ausgiebige und mit vulgärpsychologischen Überlegungen angereicherte Beschäftigung mit Fragen, wie man Gruppen ‚zersetzen‘ Vertrauen untergraben, Misstrauen erzeugen, Streit schüren, Zweifel säen und Unsicherheit verbreiten kann, zu einer Verstärkung der angestrebten Effekte geführt haben.“108 Die Ausführungen zu den Formen, Mitteln und Vorgehensweisen der „Zersetzung“ und ihrer pervertierten Ausformung und Entwicklung innerhalb einer „Operativen Psychologie“ haben das entscheidende Wirkungsprinzip des MfS in der politisch-motivierten Verfolgung als „Anleitung für perfektionierte Meusw., das ging ja extrem weit bei denen. ‚Wird sich zeigen im Einsatz‘, dann fragte man nicht weiter.“ Beschreibung der MfS-Kommilitonen während seines Psychologiestudiums von 1971–1975 an der Jenaer Universität durch den späteren Schriftsteller und Bürgerrechtler Jürgen Fuchs. Fuchs, „... und wann kommt der Hammer?“, S. 16. 106 Lehrplan, zitiert in Behnke, Lernziel: Zersetzung, S. 20; das folgende Zitat ebd. 107 MfS-Richtlinie 1/76. Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 390 f. 108 Süß, Repressive Strukturen, S. 229. Zu dieser Einschätzung gelangt ebenso Richter, Operative Psychologie, S. 301–309. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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thoden der Zerstörung der menschlichen Persönlichkeit“ darzustellen gesucht. „Die in der DDR angewandte ‚Zersetzung‘ liegt im Rahmen der weltweit beobachteten ‚Modernisierung‘ der Folter, die in vielen diktatorischen Systemen von physischen auf wissenschaftlich konzipierte Gewaltformen übergegangen ist.“109 Die seit Beginn der siebziger Jahre zu beobachtende Entwicklung untermauert die hier aufgestellte These, dass weniger die Operativen Ermittlungsund Beobachtungsmethoden des MfS als besonders typisch bzw. neuartig zu werten sind, als vielmehr die „umfassende verdeckte Steuerungs- und Manipulationsfunktion nicht nur in wichtigen Bereichen von Staat und Gesellschaft, sondern bis in die Primärgruppen und selbst persönlichste Beziehungen hinein“110. Das System einer permanenten, diffus wirkenden Lenkung und Disziplinierung der Gesellschaft konnte aber erst binnen der dargestellten Vielschichtigkeit neuester „Zersetzungsmethoden“ effektiv zum Tragen kommen; „zweifellos ein neues, verfeinertes Element“ in der repressiven Verfolgungspraxis, das seit Beginn der veränderten innen- wie außenpolitischen Zustände der Ära Honecker das Bild des Staatsicherheitsdienstes der DDR langfristig prägen sollte.

109 Neubert, Politische Verbrechen, beide Zitate S. 880. 110 Henke, Nutzung und Auswertung, S. 586, Hervorhebung im Original; das folgende Zitat ebd. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

6.

Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen und ihrer Bewältigung – Innenansichten der Wahrnehmung und Handlungsstrategien

Im vorausgehenden Kapitel wurden Entwicklungslinien und Funktion des Ministeriums für Staatssicherheit sowie seine Arbeitsweise und Methoden als bevorzugtes Instrument der Herrschaftssicherung dargestellt. In Abgrenzung zu den Innenansichten spezifischer Formen repressiver Kontrolle und Überwachung (Kap. 5.2) vollzieht sich im Hauptteil dieser Studie nun ein Perspektivwechsel. Zum einen muss auch hier eine fortschreitende Analyse und Einordnung der in den Einzelfällen auftretenden, zuvor klassifizierten Phänomene „feiner Waffen der Diktatur“ erfolgen, die auf die individuellen Aussagen ebenso wie auf die jeweils vorliegenden personenbezogenen MfS-Aktenlagen synchron zurückgreift. Zuvorderst jedoch geht es, der zentralen Fragestellung folgend, um eine Darstellung der individuellen Wahrnehmung erlebter Konfrontationen mit dem MfS und deren Auswirkungen auf die individuelle Lebenswirklichkeit. Die Erfassung vollzogener Wahrnehmungs- und Handlungsmuster infolge erfahrener Kontrolle, Überwachung und Repression steht im Vordergrund der Analyse. Aufgrund des Perspektivwechsels, der nicht allein nach einer Rekonstruktion der Mechanismen an sich, sondern gleichsam nach individuellen Einstellungen und Wertigkeiten im jeweiligen lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhang fragt und individuelle Einschätzungen erlebter MfS-Konfrontation im Sinne von Absicht und Wirkung darstellt, können schließlich Aussagen über das Erleben persönlicher Strategien des Handelns, ihrer Folgen und ihrer Bewältigung getätigt werden. Der Gesamtschau dieser individualbiographischen Elemente ist eine große Bedeutsamkeit beizumessen; sie ermöglicht eine differenzierte Abbildung erfahrener Repression in Bezug auf die sinnstiftende, lebensweltliche Befindlichkeit des Einzelnen. Insofern muss die ‚äußerliche‘ Darstellung eine entsprechende Form für die Illustration der Hauptquellen – den transkribierten Interviews – finden, um ihnen erstens einen angemessenen Raum, in dem sie „ihren Widerstand gegen Sinnzuschreibungen entfalten“1 können, zuzugestehen, zweitens das erhobene Quellenmaterial transparent und drittens die Leitlinien des Erzählens sowie die an diesen orientierte Lesart des Analyse- und Interpretationsvorgangs nachvollziehbar zu machen. Aus der Interpretation des vorliegenden Quellenmaterials resultiert eine Typologie, die versucht, das „Wiederkehrende, das Beständige und Typische“2 der

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Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 419. Burke, Soziologie und Geschichte, S. 43. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen

Erfahrungsmuster mit dem MfS in empirisch begründeten Typen zu subsumieren. Die Typologie erfasst damit einen Teil überwachungsstaatlichen (repressiven) Alltags in der DDR als einen Bereich ihrer gesellschaftlichen Realität. Sie spiegelt ein Spektrum von Konfrontationssituationen in ihren (inter-)individuell darstellbaren Ausprägungen wider und formuliert korrespondierend die Erfahrung dieser Situationen innerhalb der biographisch erworbenen Handlungsvoraussetzungen. Ebenfalls in den Blick genommen werden die jeweilig entwickelten und vollzogenen Handlungsstrategien innerhalb des individuell und allgemein gesellschaftlich vorgegebenen Handlungsspektrums der DDRGesellschaft. Insofern gestaltet sich die Veranschaulichung der konflikthaften Verhältnisse der ZeitzeugInnen zu staatlicher Kontrolle und Repression zugleich aus einer biographieimmanenten und einer handlungstheoretischen Perspektive, welche sich ergebnisorientiert innerhalb einer Struktur von fünf zugeordneten Typen widerspiegeln.3 Die Präsentation der Ergebnisse ist in intersubjektiver Form angelegt. Das heißt, die Aussagevielfalt und Vielgestaltigkeit der einzelnen Lebensgeschichten innerhalb ihrer Erfahrungsschwerpunkte wird gebündelt und in eine interindividuelle Struktur gesetzt, die entsprechend der Übereinstimmung vergleichbarer Wahrnehmungen und Erfahrungen eine zielführende Auswertung ermöglicht. Die Entscheidung für eine Typendarstellung in dieser Form, die sich demnach ausdrücklich nicht allein durch Einzelfalldarstellungen charakterisiert, wurde auch im Bewusstsein der Problematik getroffen, dass sie sich weit von den individuellen Sinnzusammenhängen des lebensgeschichtlichen Erzählens, vom „Träger der Erfahrung“ und insofern von der Einheit des biographischen Einzelfalls löst und im Prozess der Bildung „kollektiver Reihen“ subjektive Facetten auf Kosten künstlich geschaffener Typen zerstört.4 Um aber dennoch die gewonnen Ergebnisse eng gegenstandsorientiert und im Sinne des Erkenntniszusammenhangs darzustellen, musste die grundsätzliche Orientierung ihrer Abbildung zugunsten integrierbarer Einzelfalldarstellungen offen bleiben, um die Chance der Darstellung besonders charakteristischer Phänomene, welche die soziale Wirklichkeit genauer und dichter als jegliche Häufung ‚kollektiver‘ Erfahrungen beschreiben, sicherzustellen. Diese repräsentieren dabei die Varianten innerhalb der Struktur eines jeden Typus. In ihrer exemplarischen Hervorhebung eröffnet sich die Möglichkeit, damit die „historische Subjektivität“ einzelner Phänomene „bewahren und weitertragen [zu] können.“5 So kann einerseits das Intersubjektive einer möglicherweise historischen ‚Kollektiverfahrung‘ erkennbar gemacht werden, andererseits muss diese für divergierende

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Vgl. die methodischen Überlegungen und äußerst gelungene Umsetzung des dialektischen Konstitutionsprinzips bei: Findeis, Licht des Evangeliums, Kap. III.3, v. a. S. 394–399. Schröder, Gestohlene Jahre, S. 262 f. Niethammer, Lutz, Fragen – Antworten – Fragen, S. 419. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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oder gegensätzliche ‚typische‘ Einzelerfahrungen in der Darstellung zurücktreten.6 Die übergeordnete Bezeichnung der einzelnen Typen folgt einem Muster, das aus der oben beschriebenen Betrachtungsweise resultiert. Sie versucht, eine Verbindung aus übergreifenden biographieimmanenten Elementen und Befunden der handlungsorientierten Analyse herzustellen. Jeder einzelne Typus gliedert sich – dem lebensgeschichtlichen Erzählmuster folgend – zuerst biographisch chronologisch, so dass grundlegende Prägungen und Einflüsse der Primär- und Sekundärsozialisation innerhalb des Typus darstellt werden können, welche die frühen Entwicklungen im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft deutlich machen. Ihre Darstellung ist insbesondere auf die Fragestellung nach Wahrnehmungen von überwachungsstaatlichen und repressiven Zügen der Gesellschaft ausgerichtet, denn erst daraus lassen sich die interindividuellen Voraussetzungen im Vorfeld der eigentlichen Konfrontationssituation erschließen. Auf diesen Ausführungen aufbauend, werden vor allem politisch identitätsstiftende Momente, Konfliktfelder und Motive veranschaulicht, die grundlegend für die darzustellende Konfrontation mit dem MfS sind. Ihre spezifischen Entstehungszusammenhänge, Verläufe und Wirkungen ordnen sich schließlich in das nun vorliegende typisierte Erfahrungsmuster aus handlungstheoretischer Perspektive ein, wobei die biographische Komponente nicht gänzlich aus der Betrachtung ausscheiden kann, um einzelne Handlungsmuster und deren Entwicklungsprozesse im Fortgang nachzuzeichnen (Abb. 2).7 Die Komplexität der einzelnen Typen verringert sich dabei ihrer inneren Logik folgend im Verlaufe der Darstellung von Typus I beginnend. Diese begründet sich zum einen aus der unterschiedlichen Bewertung und der lebensgeschichtlichen Relevanz, zum anderen aus dem Grad staatssicherheitsdienstlicher Konfrontation, welche sich bereits aus der biographischen Dichte und Länge der einzelnen Interviews ableiten lässt und die eine abnehmende Tendenz von Typus I, über Typus II zu den in Kapitel 6.3 zusammenfassend eingeordneten Typen III bis V erkennen lässt. Zum anderen wird die grundlegende historische Einbettung der biographischen Sinnzusammenhänge, was die systemspezifischen politischen Grundbedingungen und gesellschaftliche Grundlagen, aber auch das Funktionieren des Instrumentariums Staatssicherheit anbelangt, vor allem in Typus I ausführlich geleistet. Typus I erreicht eine bereits äußerst umfassende Darstellung von Methoden und Mitteln staatssicherheitsdienstlichen Arbeitens anhand der darin typisierten Einzelfälle. Aus diesem Grunde verzichtet die Darstellung in den folgenden Typen auf eine erneut detaillierte Darlegung dieser bereits bekannten Phänomene und konzentriert sich auf deren Entstehungs- und Wirkungszusam6 7

Vgl. die Argumentation und Entscheidungsfindung einer adäquaten Darstellungsform bei Schröder, welche in die hier vorliegende einfloss: Schröder, Gestohlene Jahre, S. 262–268. Das dargelegte analytische Vorgehen wird durch Abb. 2 modellhaft veranschaulicht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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menhänge. Dieses Verfahren orientiert sich explizit an der übergeordneten Erkenntnisperspektive, welche nach den individuellen Auswirkungen überwachungsstaatlicher und repressiver Mechanismen auf den einzelnen Menschen fragt. Für ihre Beantwortung ist die Kenntnis staatssicherheitsdienstlicher Strategien und Wirkungsabsichten eine wichtige Voraussetzung; um sich jedoch dem zentralen Erkenntniszusammenhang der Arbeit einzufügen, kommt ihnen im Fortgang der Arbeit schließlich eine untergeordnetere Rolle zu. Eine abschließende Diskussion, welche die Konturen der typisierten Erfahrungsmuster kontrastierend vergleicht, übergeordnete Strukturmerkmale innerhalb der Typen abstrahiert und auf der Ebene der Typologie in einen Kontext stellt, ist schließlich in Kapitel 7 zu leisten.

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Typus I – Konsequente Systemablehnung im Familienmodell „Flucht“ und Aussetzung der biographischen Selbstbestimmung durch Inhaftierung „Also es ist egal wie, ich muss hier raus, ich werde verrückt. Das ist nicht mein Leben, man KANN ja gar nicht leben, weil es ist ja nur SCHEINleben.“ „... da is’ mit einem Mal das normale Leben abgeschnitten gewesen.“

6.1.1 Grundlegende Prägungen, Einstellungen und Wertigkeiten in Kindheit und Jugend Im Folgenden werden intersubjektiv die innerhalb des Typus identischen, als prägend und zugleich zentral greifbar gewordenen Grundzüge des vermittelten Weltbildes durch Elternhaus und Schule dargestellt. Vor allem erfahren hier diejenigen Elemente besondere Betrachtung, die sich als bestimmend für das zunehmend negativ entwickelnde Verhältnis zum Sozialismus im Allgemeinen und seiner Umsetzung im Staatsgebilde der DDR im Besonderen gezeigt haben. Es ist hinzuzufügen, dass diese Tatsache besonders bei jenen Personen des Typus auffällig wird, die ihre familialen Prägungen in einem starken Bezug zum Nationalsozialismus bzw. zur Gründungsphase der DDR sehen und erlebt haben. Das bedeutet, dass hier speziell die Generation derjenigen hervortritt, die selbst noch frühkindliche Erinnerungen an diese Zeit verbalisieren kann bzw. die elterliche Erziehung und Tradierung dieser lebensrelevanten Phasen die eigene Familiengeschichte stark geprägt hat. Die Brisanz und das entscheidende Moment der Lebensgeschichten liegt insbesondere in der Differenz zwischen familial gestifteten Weltbildern, vor allem antisozialistisch orientierten Prägungen einerseits und den Erfahrungen der staatssozialistischen Sekundärsozialisation andererseits. Das als „praktische Bewusstseinsspaltung“8 benannte Phänomen der kindlichen bzw. jugendlichen Alltagserfahrung, einem Aushalten der Spannung zwischen den Überzeugungen und Werten des privaten im Gegensatz zum offiziellen Lebensbereich, umschreibt dieses Dilemma. Eine Bewältigung dieses erzieherisch ambivalenten Aufwachsens gipfelte hier in einer Haltung und Einstellung, die eine generelle Absage an bisherige Lebensmuster in der DDR beinhaltete und von der kontinuierlichen Suche nach einer ‚Alternative‘ außerhalb des sozialistischen Gesellschaftssystems begleitet war. Die Grundlage dieser Einschätzung ist die auffallende Konzentration der lebensgeschichtlichen Erzählungen der ZeitzeugInnen dieses Typus zu Interviewbeginn auf die kindlichen und adoleszenten Erfahrungen, die zunächst weit außerhalb des im Mittelpunkt der Impulsfrage9 stehenden Lebensabschnitts 8 9

V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 12. Vgl. Kap. 3.3.3 zur Erhebung der Interviews (Dokumentation der Impulsfrage im narrativen Erzählteil). Hier nämlich wurde zunächst der Lebensabschnitt einer ersten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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standen. Dennoch scheint diese lebensgeschichtlich eingegrenzte Fragestellung für diese Personen fest mit der primären bzw. sekundären Sozialisation verbunden zu sein. Um die Ursachen und Motivationen erklären zu können, die ihre konsequente Absage an das Leben in der DDR formten und ein daraufhin ausgerichtetes Alltagsleben beinhalteten, mussten die ZeitzeugInnen aus dem Blickwinkel der gegenwärtigen Erinnerungsleistungen ihre grundlegenden Prägungen zentrieren. Nur darüber schien ihnen eine Stringenz und innere Logik in der individuellen Entwicklung – das heißt hier vor allem auch grundlegender Einstellungen zum DDR-System – auf die zu thematisierende Fragestellung möglich zu werden.

6.1.1.1 Erziehung in der Familie – Kindheit und frühe Jugend Familiär und individuell prägende Erlebnisse im Nationalsozialismus: Die ZeitzeugInnen, die sich selbst an die NS-Zeit erinnern können bzw. die als Kinder kommunikativ stark, insbesondere von Großeltern und Eltern, mit diesen Erfahrungen konfrontiert wurden, unterstreichen zu Beginn des Interviews deren lebensgeschichtliche Bedeutung. Sie spielt offenbar für das zukünftige ambivalente bzw. ablehnende Verhältnis gegenüber dem Staatssystem der DDR eine entscheidende Rolle. Die elterliche Autorität, die in der Primärsozialisation zur Ausbildung eines starken Vorbildcharakters führt, zeigt sich hier wiederholt. Dort, wo sich die Eltern infolge ihres sozialen und beruflichen Handelns im „Dritten Reich“ positionieren mussten, wurden auf die Kinder erste Wertigkeiten in der Einschätzung politisch verantwortlichen Handelns in – nachträglich als solche konnotierten – diktatorischen Systemen greifbar. Dabei ist vor allem die konfessionelle bzw. allgemein religiöse Verankerung eine ein wichtiger Faktor, der immer wieder benannt wird. Diese Befunde sollen im Folgenden anhand zweier Lebensläufe des Typus genauer vorgestellt werden. Frau Rose betont, dass sie in einem aufgeklärten, katholischen Elternhaus aufwuchs. Damit bestimmt sie zunächst den konfessionellen Hintergrund der Eltern, will aber auch gleichzeitig dem ihrer Meinung nach weit verbreitetem Vorurteil begegnen, dass ‚Katholizität‘ allein von Konservativismus geprägt sei. Die religiöse Toleranz und Offenheit des elterlichen Selbstverständnisses gegenüber anderen Religionsgemeinschaften prägte ihrer Meinung nach auch das allgemein lebensweltliche Handeln der Eltern. Dieses legt das Persönlichkeitsbild von den Eltern, vom Vater im Speziellen zu Grunde und steht vor allem für seine Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime. Die Eltern erkannten sehr schnell die menschenverachtende Politik des NS-Regimes gegenüber jüdischen Freunden und Bekannten und lehnten es daraufhin ab. Auch aus Wahrnehmung bzw. einer ersten Auseinandersetzung mit dem Staatssicherheitsdienst in den Mittelpunkt gestellt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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einer zweiten Erklärungsabsicht heraus, die in der fortlaufenden Erzählung erst evident wird – der Vater wird aus Gründen des familiären Schutzes und aus existenziellen Vernunftgründen NSDAP-Mitglied –, erfährt dies explizit Betonung: „[...] ich bin 1937 geboren, ich habe also noch diese Nazizeit als Kind SEHR ... Also das Ohr lag immer auf der Schulter meines Vaters und mein Vater war kein Nazi, der hat, also mein Elternhaus war eigentlich ’n aufgeklärtes, katholisches Elternhaus. Also nicht irgendwie spießig katholisch, sondern sehr weltoffen.“10 Frau Rose schildert aus diesem Grundverständnis für die elterlichen Wertigkeiten beispielhaft – aus der kindlichen Wahrnehmung einer Fünfjährigen – das moralisch verantwortliche Handeln des Vaters. Als Inhaber einer Exportfabrik versuchte er die Verfolgung seiner jüdischen Angestellten zu verhindern. Der Mut, die Zivilcourage und der Nonkonformismus des Vaters gegenüber staatlicher Autorität sind Schlüsselerlebnisse für die Tochter. „Mein Vater war sehr viel in Europa gereist früher und hatte äh eigentlich in vielen Ländern Vertreter, sehr viel Juden, jüdische Vertreter und lernte dadurch auch schon in der Nazizeit diese Not kennen, der Juden. Kriegte auch selbst Schwierigkeiten, weil er in der Nazizeit eben diesen Juden nicht gekündigt hat, sondern sie weiter beschäftigt hat und— äh die auch dann bei uns in unserem Dreitausend-Einwohner-Dorf, bei uns Zuflucht äh äh suchten und auch kriegten und einer hat ’s geschafft, nachdem er bei uns einige Tage versteckt war und mein Vater ihn auch so ’n bisschen beruflich noch eingeweiht hat in seinem Betrieb, der war auch Vertreter gewesen bei uns, und der hat es dann auch geschafft nach Rio de Janeiro. Und es spricht sicherlich für meine Eltern, dass wir ab ’45, also nach dem Krieg dann Carepakete von diesem Onkel R. aus Rio de Janeiro bekamen.“11

Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber staatlichen Systemen, die von Zwang und religiöser Intoleranz geprägt sind, scheint hier angelegt. Gleichzeitig werden aus der heutigen Erfahrung Vergleichsmomente diktatorischen Agierens gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden benannt. Die persönliche Erfahrung mit dem NS-Regime, die in der unmittelbaren Lebenswelt durch das Verlassen der Heimat bzw. die KZ-Internierung naher Bekannter und Freunde greifbar wird, prägt das ganz persönliche Empfinden für Diktatur und Repression. Es offeriert schon hier die Strategien des Handelns gegenüber dem System bzw. seine möglichen Konsequenzen: Flucht oder Inhaftierung. Des Weiteren ist hier sicherlich die Solidarität und Fürsorge des Vaters mit den Verfolgten des NS-Regimes unter Einsatz seiner eigenen Sicherheit, der Gefährdung seiner Familie bzw. seiner existenziellen Grundlage als prägendes Element der elterlichen Autorität zu sehen. Unter dem Eindruck dieses väterlichen Handelns treten Persönlichkeitsmerkmale hervor, die von einem geringen Maß an Selbsterniedrigung gegenüber staatlichen Autoritäten in Extremsituationen zeugen. Aufgrund des entsprechend bürgerlichen Bildungsniveaus 10 11

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 3 f. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 4 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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und auch des Ausnutzens institutionalisierter Unterstützungssysteme wie der Seilschaften in der Dorfgemeinschaft, konkret die alte Freundschaft zum Ortsgruppenleiter, kann der Vater einerseits die lebensgefährliche Bedrohung für seine jüdischen Angestellten einschätzen, weiß aber andererseits um seine Handlungsspielräume, wenn er beispielsweise seine Stellung und Ansehen als Fabrikant im Dorf nutzt, um sie der staatlichen Verfolgung zu entziehen. In ihrem Resümee, die das väterliche Verhalten in der NS-Zeit wertet und das sie stets in Verbindung zum Schicksal der Juden verbalisiert, wird die Prägung durch das Elternhaus nochmals deutlich, welches das als diktatorisch erkannte System konsequent ablehnt. Frau Rose spricht hierbei von einem regelrechten „Durchleiden“, das sie als Deutsche aus dem Erwachsen einer spezifischen Verantwortung erlebte, um die in der Kindheit wahrgenommenen Grausamkeiten an den Juden zu verarbeiten.12 Zugleich bildete diese Auseinandersetzung eine besondere Sensibilität für die Mechanismen einer Diktatur aus: „Äh, also es war, ich=ich hab’ die Zeit wirklich durchlitten und auch diese ganze Judengeschichte mit den KZs, das ist für mich, schon in der JUGEND was ganz Schreckliches gewesen. Und auch, mir ist es auch PEINLICH, dass es schon wieder ’ne Diktatur gegeben hat, in der DDR, was ja auch Deutsche äh wiederum verursacht haben. Dass das immer wieder passiert, in einem Jahrhundert.“13 Eine ähnliche gedankliche Klammer der Erfahrungstradierung von der NSZeit auf das Leben in der DDR schildert Frau Seestern. In ihrer individuellen Familiengeschichte spielt das Jüdische zur Zeit des Nationalsozialismus aber eine weit tragischere und unmittelbarere Rolle, da es in direktem Zusammenhang mit der eigenen Herkunft steht. „[...] mein Großvater väterlicherseits, war äh Beamter schon in der Vornazizeit und hatte äh eine jüdische Frau geheiratet [...] und meine Oma ist äh aus ’nem reicheren Handelshaus gewesen, sag’ ich mal. Und die äh ganzen Cousins, Schwestern und Brüder, die se hatte, sag’ ich mal, sind also zu neunzig Prozent aus Deutschland geflohen, weil se auch das Geld hatten. Dadurch also is’ der eine in Neuseeland gelandet, der eine in Palästina, einer in England, also in Israel ja, äh England, also über die ganze Welt verstreut, waren die eigentlich. Und nur meine Oma is’ in Deutschland geblieben [...] Und meine Oma ist ’ne ganze Weile davongekommen, weil sie mit ’nem Arier verheiratet war. Und ist dann die letzte Zeit, wo es auch diesen an den Kragen ging, von DREI Damen versteckt worden, im Keller. Und hat da eigentlich die letzten Monate der Nazi12

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Vgl. hierzu ihre Ausführungen zu einer Reise nach Polen in der Zeit nach 1990: „Wir sind mal in Warschau gewesen und da hat auch ’n Medizinkollege, ’n Arzt aus B. uns geführt und der war als Jugendlicher da im Untergrund in Warschau. Und hat uns dann auch geschildert, dass er dabei gewesen, also auch natürlich schon von der Gestapo an der Wand und erschossen werden sollte. Und in dem Warschau-Aufstand hat er uns denn geschildert, dass die Gestapo, die Deutschen, die Menschen in den Mietshäusern mit Maschinengewehren nach oben getrieben haben und dass die dann oben zum vierten Stock rausspringen mussten und dass sie sich dann noch ’n Spaß draus machten, die Leute beim Springen, also die Mütter mit Kindern und alle, in der Luft abzuknallen. Und so was hat der uns alles erzählt. Ich hab’ eine Migräne gekriegt, ich hab’ erbrochen, ich hab’ mich so geekelt.“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 56. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 56. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zeit äh im Keller versteckt zugebracht. Und mein Vater war damals ja Halbjude, war damals 18 oder was und is’ auch in ein KZ gekommen, aber nich’ in ein Vernichtungslager, sondern in ein Arbeitslager. Und hat dort so die letzten Kriegsjahre verbracht.“14

Neben der jüdischen Herkunft streicht Frau Seestern insbesondere das Bürgerliche in der familiären Tradition heraus, welches die ideologische Sozialisation und Eingliederung im „Arbeiter- und Bauern-Staat“ von Kindesbeinen an erschwerte. Längerfristig wurde dies auch aufgrund der Aussagen des MfS-Vernehmers in der Untersuchungshaft bestätigt: „So, deshalb, ich hab’ also nich’ die Arbeiterklasse im Hintergrund. Das wurde mir auch im Gefängnis immer wieder gesagt, »Na ja, is’ ja klar, dass die so eine geworden ist und wenn sie so reagiert.« Aber ja gut, das war natürlich ’ne Entwicklung.“15 Die unmittelbaren familiären Erlebnisse, zunächst die Erzählungen des Vaters von seiner Zeit im KZ und die Verfolgung der Großmutter durch die Gestapo, die allein aufgrund der Solidarität von „DREI Damen“ überleben konnte, zeichnen für die Heranwachsende eindringliche Bilder eines diktatorischen Staates. Zugleich aber werden erstens die Werte zwischenmenschlicher Solidarität in einem repressiven System – selbst unter dem Einsatz existenzieller Bedrohung – positiv übertragen, zweitens der Entwurf eines konsequenten SichEntziehens für das eigene Handeln modelliert. Diese Erzählungen veranlassen schon in ihrer Kindheit zu einer verstärkten Reflexion über Mechanismen repressiver Macht. Die Wahrnehmung für Formen einer derartigen staatlichen Herrschaft wird aus dem eigenen familiären Erleben frühzeitig geschärft. Implizit werden entsprechende Lebensmuster der Verweigerung oder Behauptung im NS-Staat vorgelebt bzw. tradiert; die Vergleichdimensionen zu Frau Rose sind entsprechend nachvollziehbar. „[...] und ich hab’ mich eigentlich sehr viel mit dieser äh Nazizeit auch beschäftigt, auch durch die Geschichte meiner Großmutter und meines Vaters. Und irgendwann, kommste aber dann aber dann doch mal (drauf), denkste, »Mensch, was is’ hier eigentlich anders, ne?« Gut, außer, dass se die— äh Vernichtungslager nich’ haben, aber das dann auch schon per (1 Wort) geplant haben. Gut, das hat man dann hinterher erfahren, damals natürlich nicht. Aber die ganze Ideologie war ja doch eigentlich ... Und auf diesen Gedanken kommste dann natürlich schon mal. Und das sind, da gibt ’s immer so kleine=kleine Steinchen, sag’ ich immer, die dann nach und nach ’n Mosaik werden.“16

Das Phänomen des ambivalenten Aufwachsens für die Zeit des Nationalsozialismus wird explizit lediglich von Frau Rose geschildert. Es erscheint aber umso bedeutender, da dieses von den anderen ZeitzeugInnen des Typus als das Charakteristikum ihres psychischen Aufwachsens in der frühen DDR benannt wird. Begründet ist diese zeitliche Fixierung durch die Auswahl der verfügbaren Geburtsjahrgänge; die RepräsentantInnen dieser verankern ihre ersten kindlichen Erinnerungen nämlich weniger in der NS-Zeit als vielmehr in der frühen 14 15 16

V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 23. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 23. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 24. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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DDR. Frau Rose schildert jene im einleitenden Teil als „praktische Bewusstseinsspaltung“ benannte Erfahrung aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Zum einen beschreibt und rechtfertigt sie diese innerhalb des Handelns ihres Vaters, der sich, im Bewusstsein seiner Verantwortung für die angestellten Juden und seine Familie sowie einer latenten Gefahr selbst in die Fänge der Gestapo zu geraten, zum Eintritt in die NSDAP entschließt: „[...] dass er auf der einen Seite schützen kann und auf der anderen Seite aber äh sich AUCH, in seiner Familie hatte er ja auch ’ne Verantwortung, schützen kann, ist er ganz zum Schluss noch in die NSDAP eingetreten, um auch immer zu hören und dabei zu sein, damit eben auch solche anonymen Anzeigen halt eben möglichst nich’ ihre Wirkung haben.“17 Entgegen seiner inneren Überzeugung und den religiös-moralischen Grundwerten, so jedenfalls erlebt es die Tochter, signalisiert der Vater nach außen eine politische Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus, als er als einflussreicher Fabrikant Parteimitglied wird. In dieser Diskrepanz, zwischen innerer Überzeugung und einem konträr dazu stehenden, äußerlichen Handeln, das gleichzeitig eine hohe Übertragung auf das Familienleben hat, wächst sie mit zwei älteren Brüdern auf. Trotz dieser durchaus kritischen bzw. ablehnenden Haltung gegenüber dem NS-Staat müssen die Kinder aber ihr Wissen zwischen diesen beiden Weltbildern lernen auszuhalten. „[...] ich=ich kann mich noch erinnern, dass meine Mutter zu mir sagte, »Du pass’ mal auf, du kannst doch nich’ auf der Straße sagen, dass der Hitler ’n Verbrecher ist. Wenn mal hier solche Worte fallen, dann darfst du das draußen NIEMANDEM erzählen.« Also, das war für mich schon eigentlich so eine Prägung durch ein SEHR kritisches Elternhaus. Also mein Vater hat das mehr, auch so weil er halt eben sehr viel im Export und Import (zu tun) hatte, hat er eben gesehen, dass der Hitler Deutschland nichts Gutes bringen kann, denn er hatte ja diesen ganzen Export gestoppt und mein Vater hatte zwar da so ’n Monopol und konnte exportieren. Und mein Vater sagte immer, »Das bringt nichts Gutes, der Hitler is’ ...« Der hat das also mehr aus seinem Beruf gesehen und meine Mutter war sehr INTUITIV und die hatte so, die war sehr katholisch und hatte eben so ihre Vision. Obwohl ihr Vater ein HUNDERTprozentiger Nazi war, das durfte sie ihrem Vater gar nicht sagen, dass sie den, also überhaupt HASSTE, den Hitler, also der war für sie (1) schlimm. Na ja, also so bin ich aufgewachsen und ich meine schon, dass das eigentlich die Voraussetzung war für meine Haltung [...].“18

Wie sich in den Lebensverläufen der Kinder zeigen soll, wird den Erfahrungen in beiden diktatorischen Systemen letztendlich eine kritische Grundhaltung insbesondere durch die elterliche Erziehung grundgelegt. Die Unfähigkeit, den Widerspruch auch in der DDR zwischen den eigenen Überzeugungen und dem staatlichen System auszuhalten, zwingt die Brüder diese schon sehr früh auf illegalem Wege zu verlassen. Frau Rose versucht dies kontinuierlich und gezielt seit Beginn der 70er Jahre.

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V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 4. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 4 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Familiär und individuell prägende Erlebnisse in der SBZ und Frühphase der DDR: Das Aufwachsen in einer psychischen Ambivalenz wie es der Dramatiker Heiner Müller einmal beschrieben hat19, findet auch bei allen Personen des Typus in Bezug auf deren kindliche Prägungen seine Entsprechung – hier nun für den Zeitabschnitt der Frühphase der DDR – und kann somit als ein typisches Charakteristikum dieser ZeitzeugInnengruppe betrachtet werden: „Na ja, man ist irgendwie doch damit aufgewachsen und man durfte auch nicht alles erzählen. Man wusste eigentlich, zu Hause darf man das und das reden, und in der Schule oder mit Freunden da muss man eben das weglassen oder erzählen. Also du warst eigentlich eben von Anfang an so ’n bisschen zweizüngig erzogen worden und puh, mein Gott, das nimmt man eben so hin als Kind und irgendwann, na ja— (2), weißte dann auch mal warum das Ganze ist [...].“20 Während Frau Seestern lediglich die Tatsache dieses Erziehungsmerkmals ihrer Eltern benennt, verweist folgendes Beispiel einer Zeitzeugin auf eine weitere Komponente im „zweizüngigen Aufwachsen“ der Diktatur. Sie umschreibt ihre permanente Angst innerhalb des Spagats zwischen öffentlichem und privatem Denken: „Und ich muss sagen, ich bin IMMER, IMMER aufgewachsen so, dass ich, dass mir eingebläut wurde, »Sage nichts, was du zu Hause hörst.« Das war das Allerallerwichtigste, also »Sage ja nichts.« Und da gibt es [...] einige Geschichten, äh wo ich also wirklich auch mich da dran auch gehalten hab’ und aber auch IMMER in der Angst gelebt hab’ schon.“21 Diese latente Angst22 hat ihre Ursprünge in der Familiengeschichte. Frau Krüger berichtet von der Verhaftung ihres Onkels Ende 1945. Dieser verschwindet nach der Enteignung und einer Vorladung in die sowjetische Kommandantur für viereinhalb Jahre in einem Speziallager der ostdeutschen Besatzungsmacht. In dieser Zeit bangt die ganze Familie um sein Leben, zumal sie keine Nachricht von ihm erhält. Dazu kommt die ständige Furcht selbst weiteren Willkürmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht ausgesetzt zu werden. Ganz anders verhält sich Frau Löffler zu diesem Problem. In ihren Erinnerungen erscheint sie als geschickte Jongleurin der „praktischen Bewusstseinsspaltung“, die sie als alltägliche Begleiterscheinung mit innerem und äußerem Weltbild in Einklang zu bringen vermag: „Man ist im Grunde genommen als

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„Ich bin aufgewachsen in dieser ersten Diktatur in einer ziemlich schizophrenen Situation: Draußen ‚Heil Hitler!‘, und zu Hause war alles klar. Diese Spannung entstand auf andere Weise in der nächsten Diktatur genauso. [...] Gerade diese schwarze Folie der Diktatur und dieses gebrochene oder ambivalente Verhältnis zum Staat war für mich ein Movens [...]“ Heiner Müller, „Jetzt ist da eine Einheitssoße.“ Der Dramatiker Heiner Müller über die Intellektuellen und den Untergang der DDR. In: Der Spiegel, 31 (1990), S. 136–141, Zitat S. 138. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 1. V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 2. Vgl. auch: „Und auch dieses Hoffen und=und=und auch diese FÜRCHTERLICHE Angst und das hab’ ich von Anfang an, eigentlich seit ich denken kann, miterlebt.“ V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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schizophrener, junger Mensch aufgewachsen, das hat einen aber nicht weiter belastet. Wir wussten genau, wer was hören will [...].“23 Diese psychische Leichtigkeit baut auf eine gefestigte Lebensanschauung auf. Die Grundfesten ihrer Haltung erkennt sie klar in der elterlichen Erziehung. Sie leitet aus der Schizophrenie des Lebensalltags keine pathologische Gefahr für sich ab, sondern sieht in ihrem Lebensweg, der konsequenten Ablehnung des Systems und seines Verlassens eine innere, zwangsläufige Logik aus der Einstellung ihrer Eltern, die sie als Kind vermittelt bekam: „... aber wenn man ALS KIND immer so erzogen wird ... Mein Vater war Bauingenieur und es gab nie alles. Es gab entweder Zement und Stein oder Stein und keinen Zement. Und an jedem Abendbrottisch saß mein Vater dort am Tisch und hat auf den Staat und auf dieses=dieses ((lachend)) System geschimpft. Und das saugt man als Kind mit der Muttermilch auf. Ich hab’ zwar vorhin gesagt, mit der Schule fing ’s an, nee. Du wirst als Kind so unterschwellig schon geprägt, wenn deine Eltern ständig auf den Staat schimpfen.“24 Die bisherigen Beispiele bewegten sich vorrangig in mittelständischen bzw. akademischen Elternhäusern. Die mehr oder weniger starke religiöse Bindung wurde gleichfalls in das Erziehungskonzept eingebracht. Ebenso wird in den geschilderten Fällen eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem neuen System des sich entwickelnden Sozialismus eingenommen. Diese nonkonforme Grundeinstellung zur SBZ bzw. DDR in ihren Anfängen liegt den einzelnen in Fällen zugrunde. Entscheidend bei den bisher betrachteten Familiengeschichten ist jedoch auch, dass die Kinder teilweise unbewusst der Diskrepanz von öffentlichen und familiären politischen Grundeinstellungen und Meinungen ausgesetzt werden. Die Aussagen der ZeitzeugInnen beschreiben in nahezu identischer Weise diese Erfahrung. Das Element der Schizophrenie bzw. der Zweizüngigkeit scheint in der Erziehung als bestimmend empfunden worden zu sein. Einen Gegensatz zu den bisher vorgestellten Elternhäusern bildet die elterliche Erziehung von Frau Wetzel. Der Vater vermittelte als Werkleiter eines VEB und als Mitglied der SED eine konsequent sozialistische, entsprechend atheistische Erziehung, die für die Tochter mit den Erfahrungen aus der Schule in Einklang stand. Sie verinnerlichte schon als Zwölfjährige den „festen Klassenstandpunkt“ und agierte auch innerhalb der Familie im Sinne einer sozialistisch erzogenen Persönlichkeit: „Also ich weiß noch, dass ich, so mit 12 oder 13, da is’ meine Oma das erste Mal in den Westen gefahren und dann hat se uns gefragt, »Was soll ich euch denn mitbringen?« Und da hab’ ich gesagt, »Mir nix. Ich will von denen nix ham!« Und dann=dann is’ man natürlich noch geprägt von den Eltern und sagt das, was die Eltern denken. Aber dann so mit 15, 16, fängt man natürlich an selber zu denken ...“25 23 24 25

V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 4. V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 20. V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 10. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Den Einschnitt, den sie im Alter von 15 oder 16 Jahren setzt, der mit dem abnehmenden Einfluss der Eltern und ihre eigenständigen Reflexionen über die Dinge des Lebens in der DDR einherging26, war zusätzlich von einem zwei Jahre zurückliegenden Erlebnis bedingt. Der Vater offenbarte nämlich damals innerhalb der Diskussionen mit dem BRD-Besuch die eigene Fassadenhaftigkeit in seiner Haltung zum DDR-Sozialismus. Seine SED-Mitgliedschaft tat sich als reiner Pragmatismus27 kund, der allein für das eigene Fortkommen in der beruflichen Karriere zweckdienlich war. „Und außerdem kam noch hinzu, dass dann als ich vierzehn war und Jugendweihe hatte, das erste Mal unsere Verwandten aus dem Westen gekommen sin’. Und wir ham die alle das erste Mal gesehen, au’ meine Eltern. Und dann äh wurden da abends stundenlange Diskussionen geführt, aah über politische Themen und ich saß immer dabei und hab’ zugehört. Und hab’ doch gemerkt, das ist doch ALLES GANZ ANDERS als das, was se uns in der Schule erzählen. Und natürlich hatten die auch Recht, unsere Verwandten, mit dem was se gesagt ham. Und selbst mein Vater hat ja dann, was mein großes Vorbild immer gewesen is’, hat ziemlich umgeschwenkt. Er hat eigentlich immer nach außen hin so die Fassade aufrecht erhalten und hat gesagt, aah zu mir, »Ja, wenn de was werden willst, dann musste in de Partei gehen«, das wusste er schon. Aber (1) privat hat er natürlich dann schon ’ne andere Meinung gehabt. Also die meisten sind ja da nur mitgelaufen und ham halt mitgemacht.“28

Für die Tochter stürzen die gesellschaftlichen Persönlichkeitsideale ein, die gerade von derjenigen Person vorgelebt wurden, die ihr bisher Vorbild und Richtschnur ihres eigenen gesellschaftlichen Handelns gewesen war, die ihr eine innere Sicherheit für das Verhalten in den äußeren Strukturen vermittelt hatte. Infolge dieser erlebten Diskrepanz innerhalb der Familie wurde bei Frau Wetzel zum einen die Wahrnehmung für die Widersprüche des Systems geschärft, zum anderen führte sie zu einer frühzeitigen und konsequenten Ablösung von der elterlichen Autorität. Eine familiale Primärsozialisation in einem explizit politischen Sinne ist bei Frau Schuster, die in einem späteren Zusammenhang ausdrücklich von ihrer eigenen „praktischen Bewusstseinsspaltung“ spricht, nicht nachzuvollziehen. Sie ist die einzige Person des Typus, die in einem unpolitischem Elternhaus aufwuchs und zumindest für ihre Kindheit die später für ihr Erwachsenenalter als typisch benannte Schizophrenie des eigenen Lebens noch nicht als solche erfuhr. Das ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass sie ohne Vater groß wurde und die Mutter als Kriegswitwe und berufstätige Kontoristin die beiden Töchter allein erzog. Im Vergleich zu den Erzählungen aller anderen Personen 26 27 28

„Und ich bin schon immer so gewesen, dass ich alles ziemlich aufmerksam beobachtet hab’ im Gegensatz zu den anderen, die mit mir in der Schule waren.“ V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 11. Vgl. ausführlicher zu diesem typisch ambivalenten Handeln vieler ehemaliger SEDMitglieder und ‚überzeugter‘ DDR-BürgerInnen die Ausführungen in Typus IV, Kap. 6.3.2 am Beispiel von Herrn Brandner und Frau Schulz. V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 11. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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des Typus wird dabei deutlich, dass es zumeist die Väter waren, die den eigenen Kindern ein politisches Bewusstsein und eine erste politisch-kritische Orientierung vermittelten. Eine andere Deutungsmöglichkeit ist allerdings folgende: Die Erinnerung lässt die Väter in dieser Funktion aufgrund geschlechtsspezifischer gesellschaftlicher Rollenmuster präsenter, konsequenter und kompetenter nachwirken.29 Der Fall von Frau Schuster ist der ersten Annahme zuzuordnen. Sie wuchs in einem evangelischen, aber konfessionell nicht stark praktizierenden Elternhaus auf. Die Tochter suchte sich ihre politisch-gesellschaftliche Orientierung in der sekundären Sozialisation von Schule und Sozialismus einerseits und „Junger Gemeinde“ bzw. kirchlichem Umfeld andererseits. Sie konnte auf erstaunliche Art und Weise beide Weltbilder in Einklang bringen und es wirkte im Interview glaubhaft, dass sie zunächst als überzeugte Mitgestalterin des DDR-Sozialismus agierte, sich später aber die Diskrepanz von Utopie und Wirklichkeit eingestehen musste. Daraufhin auch die eigenen Überzeugungen mit den Wirklichkeiten des Alltags abgleichen musste. „[...] mir ist aber erst viel viel später richtig aufgegangen, was de da nun eigentlich gemacht hast, denn man wird ja eigentlich in diesem System groß. Und da machste ja ziemlich viele Dinge, die hinterfragst du nicht. Und äh meine Mutter, die hat ’s schon, es war nicht so, ich bin überhaupt ni’ hier tendenziös oder im »Hoch lebe der Sozialismus« erzogen worden, in überhaupt keinen Fall. Aber äh meine Mutter hat eigentlich wenig in politischer Hinsicht irgendwie uns erzogen oder irgendwelche Standpunkte überhaupt abgegeben. Das war eigentlich dann ni’ so. Ja, da mussteste dann irgendwann selber droffkommen. Und was machste denn als Kind. Ich bin dann immer noch hier mit Sartre, »Wenn de also mit 17 keen Kommunist bist, dann haste keen Herz. Biste ’s mit 25 immer noch ni’, haste keen Hirn«, ne. Also, da is’ äh ... ((Lachen)). So ungefähr war dann die Entwicklung bei mir auch.“30

Die mütterliche Erziehung im Unpolitischen wurde zwar durch die sozialistischen Erziehungsanstalten und deren „Hoch lebe der Sozialismus“-Argumentation aufgefangen, führte aber nicht grundsätzlich zu einer Verformung ihrer eigenen Persönlichkeit. Ausdruck ihrer Gradlinigkeit ist das Bekenntnis zur konfessionellen Bindung. In einer klaren Absage an das sozialistische Modell Jugendweihe als „peudosakrale[r] Ersatzhandlung“31 für die evangelische Konfirmation bekannte sich Frau Schuster öffentlich zu ihren religiösen Werten, auch auf die Gefahr hin – auf welche Erfahrungen sich diese Vermutung damals stützte, bleibt unklar – das Abitur nicht ablegen zu dürfen.

29 30 31

Auf die Frage nach der politischen Haltung der Mutter gibt bspw. Frau Wetzel folgendes zu Protokoll: „[...] die hat sich eigentlich immer meinem Vater angeschlossen.“ VTranskript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 11. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 2. Wentker, Einführung der Jugendweihe, S. 139. Die Einführung der Jugendweihe wird für das Jahr 1954 und ihre endgültige Durchsetzung für die Jahre 1957/58 datiert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Ich bin— ’56 konfirmiert worden und da waren die ersten Jugendweihen. Ach da waren zwei oder drei, die dann überhaupt da das heimlich still und leise irgendwo gemacht haben. Dann war es aber so, dass viele— Studienplätze und Zugänge und so weiter von diesen Jugendweihen abhingen und dann ham sich viele NACH -Jugendweihen lassen. Na, das wär’ mir ni’ eingefallen. Nö, also bestimmte Dinge, die stehen für die=für mich außer Frage. Nö, nö. [...] Ich bin konfirmiert worden. Ich hab’ überall angegeben, dass ich in der evangelischen Kirche bin. Ich bin in der Kirche, ich bin ni’ irgendwie christlich oder so weiter groß engagiert. Aber schon um zu sagen, also ich mach’ ni’ alles, was ihr wollt [...].“32

Tatsächlich sollte der jungen Frau der Zugang zur Erweiterten Oberschule33 verweigert werden. Die offizielle Begründung ihres Schulleiters fußte jedoch nicht auf den vermuteten Argumenten. Er begründete die Absage mit dem beruflichem Stand der Eltern, denn zu diesem Zeitpunkt mussten mehr Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien für höhere Schulabschlüsse zur Bildung „neuer Eliten“ gewonnen werden.34 Diese wurden schließlich bei der Verteilung der Zulassungen zur Erweiterten Oberschule Kindern von AkademikerInnen oder selbstständigen MittelständlerInnen vorgezogen. In weiteren Fällen des Typus wird sich dieses Verfahren durchgängig bestätigen. In einem letzten Abschnitt innerhalb dieses Kapitels zur familiären Prägung der Kindheit sollen für diesen Typus noch zwei wichtige Komponenten benannt werden, die in den Ausführungen der ZeitzeugInnen auffallend präsent sind und im Hinblick auf eine spätere Abkehr von der DDR und der Suche nach einem Ausweg in Flucht bzw. Ausreise besonders bedeutend erscheinen. Zunächst sprechen die ZeitzeugInnen wiederholt von der Teilung Deutschlands. Obwohl noch nicht wie ab 1961 auch visuell vollzogen, zog sich die unsichtbare Mauer bereits schon in den fünfziger Jahren durch die Köpfe der damals noch kindlichen Gemüter. Frau Rose, die innerhalb dieser Personengruppe eine besondere Primär- und Sekundärsozialisation erlebte, weil sie ihre 32

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34

V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 11. Frau Schusters Entscheidung für die eigene Konfirmation und gegen eine Jugendweihe liegt damit in der problematischen Etablierungsphase dieser neuen Institution und scheint – wie Wentker belegt – auch eine nachweisbare Abgrenzungsmentalität vieler Jugendlicher gegen die staatliche Einflussnahme auf die religiösen Grundfesten darzustellen: „Es [das Politbüro] unterschätzte den Einfluss, den die Kirche noch auf die Bevölkerung besaß. Denn nachdem von kirchlicher Seite die Unvereinbarkeit von Konfirmation und Jugendweihe verkündet worden war, blieb die Anzahl der Teilnehmer an dem Weiheakt weit weniger als erwartet.“ Wentker, Einführung der Jugendweihe, S. 165. Erweiterte Oberschule (EOS): Vierjährige ab der neunten Klasse zum Abitur führende Oberschule; nach konsequenter Einführung der Zehnklassigen Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS) 1965 später nur noch zweijährig für die elfte und zwölfte Klasse. „Bei ’n Pionieren war ich wohl nisch, aber nee, doch, ’s letzte Jahr in der Schule, im zehnten, nee im achten Schuljahr, damit ich überhaupt off de Mittelschule kam. Ich bin ja (2–3 Worte) abgelehnt worden überhaupt auf de Oberschule zu gehen, weil ich kein Arbeiter- und Bauernkind war.“ V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 1. Vgl. für diese bildungspolitische Orientierung Ende der fünfziger Jahre: Schroeder, SED-Staat, S. 147. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Schulzeit ab dem zwölften Lebensjahr auf der westlichen Seite Deutschlands, in einer Klosterschule verbrachte und damit außerhalb der SBZ / DDR ihre schulische Bildung erfuhr, eröffnet uns hier eine spezifische Außenperspektive. Sie geriet innerhalb dieser besonderen Situation somit sehr früh aus dem Einflussbereich der Eltern, dennoch war die starke emotionale Bindung zu diesen und den Brüdern nicht geringer, Frau Rose litt vielmehr sehr unter dieser Trennung. Die politisch angespannte Situation der Jahre zwischen 1949 und 1955 lässt auch die heimatlichen Besuche in den Ferien zu einem Problem werden. Nur unter widrigsten Umständen und in der ständigen Auseinandersetzung mit den Behörden gelang es der Familie die Tochter gelegentlich in das Elternhaus zu holen. Die Erfahrung von Heimatlosigkeit bzw. der Erschwernis diese durch enge und häufige Kontakte auszugleichen, formt bei ihr das Bild des geteilten Deutschlands in der eigenen Lebensgeschichte. „Ja, meine=meine Schulzeit habe ich eigentlich auf der westlichen Seite Deutschlands verbracht, in [Ortsname], im Internat. Sechs Jahre war ich im Internat. [...] Da gab ’s Zeiten, wo ich mal ’s ganze Jahr nicht nach Hause kam. 1953 als diese äh politischen Unruhen waren und man eigentlich schon wieder ’nen Krieg witterte, das äh das waren also ganz BELASTENDE Jahre, wo ich halt NIE meine Eltern sah. Also höchstens mal in den großen Ferien hab’ ich dann meine Mutter mal ’n paar Tage in Westberlin getroffen. ’ne Mauer gab’s nicht, sie konnte nach Westberlin und dann haben wir uns da wenigstens mal getroffen. Aber es=ich musste eigentlich in den Ferien sehr oft ähm auf korrupte Art und Weise reingeholt werden in die DDR, WEIL ähm mein Vater irgendeinen Polizisten bestach, dass ich so ’ne Aufenthaltsgenehmigung kriegte für die Ferien. Also das war immer aufregend, kann ich in die Ferien nach Hause oder kann ich nicht nach Hause. Und da ich die Einzige war in diesen Internaten, ähm die aus der so genannten Ostzone äh äh äh da war, da war das schon eigentlich, schon von Kindheit an hat mich dieses geteilte Deutschland belastet, also das hat auch meine Familie aufgerieben.“35

Es fiel ihr zusätzlich schwer einen Bezug zur geteilten Heimat zu finden, da die rigorose Enteignung ihrer Familie das heimatliche Empfinden trübte. Mit eigenen Befehlen leitete die SMAD36 ab Oktober 1945 in der Wirtschaft die sozialistisch orientierte ökonomische Umgestaltung der Besatzungszone ein. Erste Maßnahmen waren hierbei die Beschlagnahmung und Enteignung betrieblichen und privaten Besitzes zur Überführung in das Volkseigentum.37 Auch der Va35 36 37

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 1. SMAD: Sowjetische Militäradministration in Deutschland bis Ende 1949. Der Befehl Nr. 97 des SMAD vom März 1946 überstellte das konfiszierte Vermögen an die deutschen Länderbehörden und nachdem Sachsen in einem Volksentscheid die Überführung der Betriebe in das staatliche Eigentum entschieden hatte, vollzog sich auch in den anderen Ländern, die entschädigungslose Überführung von Betrieben in das Volkseigentum. Ob jemand wirklich aktiver Nazi, Kriegsverbrecher oder nur mittelbarer Auftragnehmer entsprechender Institutionen gewesen war, spielte dabei oftmals keine Rolle. Es ging häufig einfach darum, Vorwände zu konstruieren, um eine generelle Enteignung der Unternehmen möglich zu machen. Eine NSDAP-Mitgliedschaft – unter welchen Umständen auch immer entstanden – reichte in den meisten Fällen schon aus. Es ist allgemein festzustellen, dass im Gegensatz zu den westlichen Besatzungsgebieten in der SBZ zuvorderst eine ökonomisch als politisch motivierte Entnazifizierung stattfand. Im April 1948 sollte durch Befehl 64 dieses Verfahren auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ter von Frau Rose wurde in dieser ersten Welle eines Großteils seiner Besitztümer enteignet und geriet unter allmählichem Verlust seines persönlichen Ansehens zudem ins Visier der damaligen Sicherheitsbehörden. Frau Rose musste den allgemein gesellschaftlichen Ansehensverlust und die generelle Aberkennung aller sozialen und ökonomischen Leistungen ihres Vaters auf der Grundlage einer Ideologisierung ohne Grauzonen erleben: „[...] zur DDR-Zeit da ging ’s ja eigentlich schon los, dass mein Vater plötzlich ’n Ausbeuter ist und ’n Kapitalist und eigentlich was Negatives darstellt. Also bis dahin war mein Vater ein angesehener Mann und war in der CARITAS und hat bei den vielen Flüchtlingstransporten den Pfarrer unterstützt während der, äh in der Nachkriegszeit. Und war eben angesehen und PLÖTZLICH diese Kehrtwende und plötzlich kann man so einem Kapitalisten ALLES wegnehmen.“38 Darüber hinaus wurde sie erstmalig – wie sie es dem heutigen Sprachschatz nach benennt – mit der „Stasi“39 konfrontiert. Sie erlebte in dieser Situation und einer darauf folgenden Inhaftierung ihres Vaters erneut die Mechanismen, an die sie sich noch aus der Zeit des Nationalsozialismus erinnern konnte und wurde damit erneut für die Formen staatlicher Macht und Repression sensibilisiert. Der Vater, der im neuen System als Selbstständiger seine existenzielle Grundlage schwinden sah und dazu ständig mit den neuen Vertretern des sozialistischen Ordnung als ehemaliges NSDAP-Mitglied konfrontiert wurde, entschloss sich – weitsichtig genug – seine Heimat zu verlassen und in den Westen überzusiedeln. „Da war mein Vater auch schon dabei ’48, war aber nur VIER Wochen in Untersuchungshaft und meine Brüder, die damals im Abitur standen, die haben dann äh ihn irgendwie auch wieder rausgekriegt, ich weiß es nicht, er hat vielleicht auch nur Glück gehabt, dass er wieder entlassen wurde. Aber ’48, na ja da, pph, also das war schon für mich ’n Schock als da die Stasi kam und meinen Vater abholte. Und danach wollte er auch nach [Ortsname] ziehen, also nach Niedersachsen und äh da hatten wir auch schon al-

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wirtschaftlichem Gebiet seinen Abschluss gefunden haben. In diese Zeit fällt die Konfrontation des Vaters von Frau Rose mit der „Stasi“ bzw. seine 4-wöchige Inhaftierung. Aus den Schilderungen werden die Umstände dieser Verhaftung nicht konkret greifbar, sie lassen aber sicherlich den Schluss zu, dass sie im Zusammenhang mit den eben geschilderten Umwälzungen in der Wirtschaft der damaligen Zeit durch den SMAD stehen. Vgl. Schroeder, SED-Staat, S. 48–50. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 25. In der SBZ waren es zunächst der „Ausschuss zum Schutz des Volkseigentums“ der deutschen Wirtschaftskommission und die durch SMAD-Befehl Nr. 201 aus der Kriminalpolizei rekrutierten Kommissariate 5 (K 5), die eine politische Entnazifizierung unter sowjetischer Vormundschaft in den jeweiligen Verwaltungszonen durchführten. Der Befehlserlass erweiterte allgemein die Befugnisse der Polizei als Ermittlungs- und Untersuchungsorgan, für die K 5 speziell bedeutete er eine Konzentration auf die Tätigkeit als polizeilicher Sicherheitsdienst an der Seite der Operativgruppen des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit (MGB). Diese Strukturen innerhalb der Deutschen Verwaltung des Innern (DVdI) blieben nahezu gänzlich bis zur Gründung der DDR bzw. zur letztendlichen Schaffung eines eigenen Ministeriums für Staatssicherheit im Februar 1950 bestehen (vgl. ab dieser Phase Kap. 5.1). Vgl. Fricke, DDRStaatssicherheit, S. 19–23. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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les bewegliche Hab und Gut im Westen und dann merkte er, dass er die Heimat nicht verlassen kann. Und sagte immer, »Ein Kapitän verlässt sein untergehendes Schiff nicht. Ich MUSS auf meinem Schiff bleiben, ich kann nicht weg, ich kann meine Heimat nicht verlassen.« Das sind halt die alten [lokale Region], die hängen so an der Scholle. Und äh na ja, da ham wir dann alles=hat er wieder alles zurücktransportiert, und äh nur wir Kinder blieben halt im Westen.“40

Die innere Zerrissenheit des Vaters spiegelt schon andeutungsweise die Problematik der familiären Zustände wider, welche sich für diese nun in der Folgezeit ergeben sollten. Die Ambivalenz zwischen den heimatlichen Gefühlen des Vaters und der eigentlichen Unmöglichkeit, sich mit den Zuständen des neuen Staatssystems in dieser Heimat zu arrangieren, wird sich als unauflösbar erweisen. Die Familie von Frau Rose blieb weiterhin im Visier des Staatssicherheitsdienstes, die Brüder verließen über Westberlin, noch vor 1949 die SBZ und der Vater floh schließlich in Androhung einer Verhaftung, die immer noch mit den Enteignungen Ende der vierziger Jahre in Zusammenhang stand, wie viele andere in einer ähnlichen Situation bei Nacht und Nebel in den Westen. „Angesichts der bis 1961 offenen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland bot sich dem Besitzbürgertum [...] ein natürlicher Ausweg aus der Bedrängnis, in die sie durch den Machtwechsel im Osten gerieten. Sie verließen so gut wie geschlossen die russische Besatzungszone bzw. spätere DDR.“41 „[...] also ’58 ist mein Vater abgehauen nach ’m Westen wegen dieser Enteignung, meine Mutter äh mein Vater ist bei Nacht und Nebel weg und mit nichts in der Tasche. Den hatten se gewarnt, hatten Funktionäre gewarnt, »Sie sind morgen Früh nicht mehr frei, es liegt ’n Haftbefehl vor und heute Abend um neun geht noch ’n Zug nach Berlin«, und da schon einer verhaftet worden ist, ist der in Panik weg. Und ich hatte ’58 geheiratet, das war also drei Tage vor dieser Flucht, war meine Mutter noch in [Ortsname]. und hat dadurch diesen=diese Flucht mit meinem Vater zusammen verpasst und ist dann der Stasi in die Hände gefallen und die haben sie dann so fertig gemacht, dass sie sich dann ’61, also ’58 war das, ’61 hat sie sich ’s Leben genommen. Sie wollte auch nicht nach ’m Westen und sie wollte auch nicht aus ihrer Heimat weg. Und nun klebte nun also überall der Kuckuck drauf und man hatte sie zusammengepfercht in zwei kleine Zimmerchen in ihrem Haus und sie fing an, in der Kirche zu übernachten und traute sich nich’ mehr in ihre Wohnung und, also sie kriegte eigentlich ene Schizophrenie und hat gedacht, sie muss nun dafür bluten und is’ nun das Opfer und hat nun so Verfolgungswahn gekriegt, dass die Stasi hinter ihr her ist und sie fertig machen will.“42

Die Familie bricht durch das Eingreifen der Sicherheitsbehörden endgültig auseinander. Die Mutter, nicht in der Lage, der Heimat trotz der Unterdrückungsmaßnahmen des MfS den Rücken zu kehren, hält dem Druck der Ermittlungen und Verhöre nicht stand. Der Zusammenbruch der familiären Struktur, der Riss durch die Familie, der sich entlang der Grenze der beiden deutschen Staaten zog, in Verbindung mit den Erfahrungen in einem erneut repressiven System 40 41 42

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 1 f. Engler, Zivilisatorische Lücke, S. 66. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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werden für Frau Rose lebensbestimmende Eindrücke einer doppelten Diktaturerfahrung. Sie eröffnete insofern auch ein alternatives Lebensmuster außerhalb der DDR, das ihre unabdingliche Abkehr und Perspektivlosigkeit in der DDR zu leben, grundlegend bestimmt haben. Hier kristallisiert sich ein allgemeingültiges Orientierungsmuster, das Engler in der Nachfolge des „bürgerlichen Exodus“ der fünfziger Jahre sieht: „Die Schüler jener kleinen ‚bürgerlichen Garde‘ teilten [das] Lebensprinzip der ‚solidarischen Kritik‘ an der DDR-Gesellschaft immer weniger und verließen, als die Reihe der staatlichen Nachstellungen an ihnen war, in den siebziger und achtziger Jahren in Scharen das Land.“43 Das erste Beispiel, welches die Teilung Deutschlands anhand der Familie von Frau Rose näher beleuchten sollte, beinhaltet noch eine zweite Komponente: die kindliche Diktaturwahrnehmung in der SBZ. Bei Frau Rose gestaltet sich diese primär in der direkten Konfrontation mit den Ermittlungsbehörden bzw. der „Stasi“ bei der Verhaftung des Vaters, sekundär verweist sie aber auch implizit auf eine Dimension von Diktatur, die sie in anderer Form schon als Kind in der NS-Zeit kennen lernen musste: „Aber manche waren dann eben in diesen KZs in Buchenwald oder sonst wo verschollen und=und manche sind jahrelang nicht wieder nach Hause gekommen.“44 Die konkretere Erfahrung mit den sowjetischen Speziallagern in der SBZ machte – wie bereits unter anderem Schwerpunkt kurz eingeführt – Frau Krüger in Zusammenhang mit der Geschichte ihres Onkels. „Diktatur. Eigentlich seit ich denken kann. Mit meiner, ja, mit der ersten Wahrnehmung hab’ ich das miterlebt und zwar deshalb, äh mein äh Onkel [...] war Fabrikant und ist nicht nur enteignet worden, sondern ist eines Tages äh zur=zur Kommandantur bestellt worden. [...] Er hatte aber kein schlechtes Gewissen und hat gesagt, »Warum soll ich da nich’ hingehen?«, ist dahin gegangen und da ham die da einen Bourgeois gesehen und den zusammengeschlagen und kam in diese äh in diese Lager, die damals da errichtet wurden und da war er viereinhalb Jahre in diesen Lagern. Hat (er) dann lebend überstanden, ist dann 1950 im Frühjahr entlassen worden. Aber wir haben NICHTS gehört, ob er noch lebt, wo er ist.“45

Diese frühen Erlebnisse haben, wie sie sagt, ihr Bewusstsein, in einem Staat mit repressiven Strukturen, konkret in einer Diktatur aufzuwachsen, geschärft. Während sie von „diesen Lagern“ ganz allgemein spricht, zeugt die Benennung von Frau Rose als KZ sicherlich auch davon – neben der ihr bewussten Tatsache, dass die ehemaligen KZs wie Buchenwald von den Sowjets weiterhin als Straflager missbraucht wurden –, dass sie hier eine deutliche Kontinuität sieht. Das bedeutet, dass sich eine zweite Diktatur unter anderen ideologischen Vorzeichen mit ähnlichen Mechanismen der Unterdrückung zu etablieren begann,

43 44 45

Engler, Zivilisatorische Lücke, S. 66. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 2. V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 1 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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die sich gar der Infrastruktur der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft skrupellos bediente und für die eigenen Zwecke erneut nutzbar machte.46 Entscheidend für diese frühkindlichen Erfahrungen in der Familie ist die weitreichende Brisanz dieser Erlebnisse für die zukünftige Lebensgestaltung. Deshalb ergibt sich eine hohe Relevanz und starke Internalisierung dieser ersten Berührungspunkte und deren Bestimmungen – damals als solche nicht definierbarer, aber dennoch wahrnehmbarer – diktatorischer Grundzüge einer Gesellschaft und deren Übertragung auf den entstehenden DDR-Sozialismus.

6.1.1.2 Schulische Erziehung und berufliche Ausbildung im Jugendalter Die Erzählungen der ZeitzeugInnen des Typus zu ihrer Schulzeit bzw. zur Lebensphase der beruflichen Orientierung sind wenig differenziert. Die weiblichen Personen dieses Typus nehmen zum Erziehungs- und Bildungssystem lediglich aus der Sicht ihrer eigenen Mutterschaft bzw. in einem stark abstrahierten Sinne Stellung, indem sie argumentativ ihre Einschätzung der Idee des Sozialismus auf diesen speziellen Bereich hin ausführen. Auf diesen wird vor allem in Kapitel 6.1.2. einzugehen sein, da sie hier zugleich in zahlreichen Fällen als tragende Entscheidung für ein Verlassen der DDR deutlich werden. Auffallend ist bei allen Frauen die Normalität der Berufstätigkeit auch im Sinne einer individuellen Selbstverwirklichung. Bei näherer Betrachtung stellt sich dies als Phänomen der familiären Tradition dar und ist nach eigener Einschätzung der Interviewpartnerinnen – wie vielleicht allgemein anzunehmen wäre – nicht in der staatssozialistischen Prägung begründet. Für diese Annahme, die auch in den expliziten Ausführungen zur Rolle von Frauen in der DDR Verifizierung findet, spricht zudem die Alterstruktur innerhalb des Typus. Politische Reglementierung der Zugangsvoraussetzungen für Schule und Studium: Konkrete Erlebnisse aus der eigenen Schulzeit werden größtenteils ausgeblendet. Zentriert werden jedoch stets zwei Dinge: Erstens benennen explizit nahezu alle Personen die Tatsache einer Nichtzulassung zur EOS bzw. zum Studium. Auch in der Frühzeit der DDR hat dieses Thema bereits hohe Relevanz und wird wie die bereits exemplarisch geschilderte Entscheidung für bzw. gegen eine Jugendweihe als Interpunktion im staatssozialistischen Sozialisationsprozess deutlich. Die Häufung der Äußerungen bezüglich dieses Themas zeigen zudem an, wie die staatliche Regulierung des Zugangs zum Abitur bzw. Studium selbstverständlich geworden war. Es zeigt, dass die ZeitzeugInnen unzweifelhaft des pädagogisch-politischen Zugriffs durch den Staat von der schulischen Sozialisation auf die berufliche Lebensplanung fortgeführt wurde. Zweitens – dies stellt die abstrakte Definition des obig genannten, konkreten 46

Vgl. umfassend zur Geschichte der sowjetischen Speziallager in der SBZ das deutschrussische Kooperationsprojekt hg. von Mironenko/Niethammer/Plato, Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Beispiels dar – thematisieren nahezu alle Personen des Typus das von Politisierung und Ideologisierung durchtränkte Erziehungskonzept vor allem in Bezug auf das eigene permanente Lavieren. Eine grundlegend kritische Einstellung zum System stand schließlich konträr zu den beruflichen und allgemein gesellschaftlichen Perspektiven des individuellen Daseins. Gleichzeitig lässt sich aber auch verdeutlichen, wie die staatlich verordnete Betonung der Einheitlichkeit von Bildung und Erziehung in der DDR grundlegend kritisch orientierte Jugendliche, unbewusst in den Dienst staatlicher Mechanismen von Überwachung schlittern ließen. Die später aufzuzeigenden Einzelfälle machen signifikant deutlich, wie die Begeisterungsfähigkeit und Manipulierbarkeit der heranwachsenden Jugend zum Zwecke der politischen Stabilisierung und zur Formung eines Erziehungsleitbilds der SED – „die sozialistische Persönlichkeit“ – ausgenutzt wurde. Die Jugend der sechziger Jahre, die sich nach dem Mauerbau dem Zustand einer „geschlossenen Gesellschaft“ mehr oder weniger bewusst ausgesetzt sah, ließ sich mehrheitlich auf ein Arrangement mit dem System ein, sie wollte zumindest Teilhabe und Mitgestaltung am Sozialismus und diese war offiziell nur in den entsprechenden staatlichen Jugendorganisationen möglich. Dieses aufrichtige Engagement, hinreichend in der Erziehungs- und Bildungsarbeit der staatlichen Lehrkörperschaft bzw. der FDJ-Aktivisten ideologisch aufgefangen und umgesetzt, sollte zum aufgehenden Saatgut des DDR-Sozialismus werden. Aufgrund der externen, schulischen Sekundärsozialisation wurde für Frau Rose eine alternative Sicht auf das Bildungswesen in der DDR möglich. Ihre Schulzeit verbrachte sie, wie bereits erwähnt, in einem Internat, auf der westlichen Seite Deutschlands. Nach 1956 kehrte sie auf Wunsch der Eltern zurück. Deutlich wird aus ihren Beschreibungen, welche Schwierigkeiten das ‚außersozialistische‘ Aufwachsen nun für das Leben in der DDR mit sich brachte. Primär sind es die politisch integrativen Elemente der Erziehungsinstanz Schule, die ihr als Externe für eine berufliche Verwirklichung entsprechend ihren Vorstellungen fehlen. Es sind aber nicht die qualitativen Mängel, sondern lediglich die gesellschaftlich politisch geprägten, die ihr den Weg in den Traumberuf verwehren sollen. Eindrücklich schildert sie, dass sie sich wie „vom Himmel gefallen“ fühlt, dass sie nun in einer Gesellschaft leben muss, deren Regeln sie von Anfang an nicht versteht bzw. ablehnt. Das Element der Schizophrenie, die erzwungene Heuchelei wird von ihr erneut als äußerst kennzeichnendes Element des Systems beschrieben. Gleichzeitig bildet die Erzählung von der Begegnung mit der „Nationalen Front“ einerseits ein Abbild ihres Unverständnisses für die Rituale der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Begrifflichkeiten, andererseits zeigt sie ihre weitere Entwicklung an: eine hier noch naive, später aber konsequente Aufrichtigkeit und Offenheit diktatorisch geprägter Strukturen, die sie generell ablehnt bzw. die sie grundsätzlich ablehnend beurteilt.

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„Dann wie gesagt, was ich schon erwähnte, ging ich wieder zurück in die DDR [...]. Das war, dass ich eigentlich nur den Wunsch meiner Eltern erfüllte. Und es war aber letztendlich auch für mich sicher positiv, denn dadurch hatte ich immer auch und war nicht so blind, als wenn man da nun aufgewachsen ist und alles mitkriegt. Also ich war auch damals schon sehr distanziert von der ganzen Sache. Ich begriff das auch gar nicht, ich kann mich noch erinnern, als da mal eine Spendensammlung war für das=die ‘Nationale Front’, da hab’ ich gedacht, ich werd’ verrückt. Ich dachte ‘NATIONALE FRONT’, also so ein aggressives, kriegerisches WORT hab’ ich zu ihnen, zu diesen Sammlerinnen gesagt, ich sage, »Für was sammeln Sie denn eigentlich? Für ’ne FRONT ? Also das kommt ja GAR NICH’ IN FRAGE. Das is ja ... Wollen Sie KRIEG machen oder was?« Nein, also das begriff ich alles gar nicht, diese ganzen Ausdrücke. Und äh für die DDR-Leute war (ich) auch immer so, als wenn ich vom Himmel gefallen wäre, weil ich auch dieses heuchlerische Zweispurige in der Schule nicht gelernt hatte. Wen einem das nich’ vom Kindergarten antrainiert wird, »Das darfste nich’ sagen und das darfste nich’ sagen, wenn de jetzt das Haus verlässt, wenn de jetzt in der Schule bist. Du musst doch hier mal LEBEN und du musst hier was WERDEN.« Äh, das hatte ich alles nich’ gelernt, also ich trat laufend ins Fettnäpfchen.“47

Dass sie nicht gelernt hatte systemkonform zu denken, wird für ihr weiteres Leben in der DDR zum außerordentlich desintegrativen Moment. Das politische Engagement oder ein Mindestmaß an „Als-ob“ wird zur Voraussetzung einer sozialen und beruflichen Wiedereingliederung der beim „Klassenfeind“ sozialisierten Frau in die DDR-Gesellschaft. Die unbedingte Forderung dieser politisierten Zugangsvoraussetzung verstärkt ihre kindlich geprägte Ablehnung gegenüber dem System weiterhin negativ. Ein beruflicher Werdegang kann zwar letztlich doch, aber lediglich aus eigener Initiative und im Ankämpfen gegen die Behörden begonnen werden. „Ich war nicht in der FDJ, ich hab’ auch leider die Schule vorm Abitur abgebrochen, also ich wusste gar nich’ in der DDR wie ich mal zu einer Berufsausbildung kommen sollte. Und— äh hab’ dann auch tatsächlich, hab’ da alle möglichen äh Fotoateliers abgeklappert und hab’ gefragt, ob sie mich nicht als Lehrling nehmen könnten. [...] Na ja, aber die sagten eben alle äh, »Wir haben ja keine PLANSTELLE für=für Sie«, also wenn man Lehrling werden will, muss man, müssen Planstellen da sein. Aber als HILFSkraft wollte mich dann eine Fotografin nehmen [...] und hab’ mich als Selbstmelder, hab’ ich dann meine äh Gesellenprüfung gemacht, Facharbeiterprüfung heißt das in der DDR. Und wäre sehr gerne auf die Hochschule gegangen für Buchdruck und Grafik, denn da gibt ’s also auch das Fach Fotografik, aber da bin ich auch wieder nicht angekommen, weil ich ÜBERHAUPT politisch NICHTS vorzuweisen hatte. Also nix, die haben alle gesagt, »Na ja, die Arbeiten sind gut, die Sie uns hier äh liefern, also aufgrund der fachlichen Qualifikation wär’ das schon was für Sie, aber Sie müssen unbedingt, Sie können sich ja wieder bewerben, aber Sie müssen unbedingt die und die Bücher und die Zeitschriften und ... Na ja, und politisch müssen Sie sich auch mehr engagieren. Also, das, ohne dem geht gar nichts hier.«“48

Die Erfüllung des eigentlichen Berufswunschs bleibt ihr aber verwehrt, da ihr der Preis dafür zu hoch erscheint. Sie entscheidet sich gegen die eigene Verbie47 48

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 2 f. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gung innerhalb des geforderten politischen Engagements. Da keine berufliche Integration ohne ideologische Einbindung möglich ist, eröffnet sich lediglich der Weg ins Private verbunden mit einer gleichzeitigen Loslösung vom sozialistischen Modell: politisch-gesellschaftliche Einbindung im Zuge von Erwerbstätigkeit.49 Frau Rose wird zu einer Außenseiterin im vergesellschafteten Netz, sie sucht ihren Alltag und ihre sozialen Bindungen zwischen den Maschen, im „eigenen Leben“50 in einer von ihr als solche benannten Nischenexistenz: „Na ja, und dann war ich sehr froh, dass ich dann heiraten konnte. Und dass ich das=dieses ganze Problem los war [...]. Und das war äh eigentlich meine Nische, ich war froh, dass ich mich nicht irgendeiner Berufstätigkeit aussetzen musste, weil ich da ja irgendwie politisch hätte heucheln müssen, mitreden müssen und das konnt’ ich nich’.“51 Dieses desintegrative Element aber spiegelt sich nicht nur bei Frau Rose wider, sondern ist ebenso bei jenen nachvollziehbar, die eine DDR-interne Schulsozialisation erlebten. Nichtsdestoweniger erfahren auch diese hier eingeordneten Personen mehrheitlich aufgrund ihrer familiären Herkunft, das heißt wegen des beruflichen Standes der Eltern ebenso eine staatliche Ablehnung, was ihre schulischen und beruflichen Ziele anbelangt, obwohl sie als Junge Pioniere oder zumindest FDJler die Einheit von sozialistischer Schule – in der Einbindung ihrer Jugendorganisationen – und Leben durchlaufen haben. Die Haltung, welche sich aus einem solchen, für die Jugendlichen nicht nachvollziehbaren Eingriff der staatlichen Stellen in die persönliche Lebensplanung provozierte – nämlich Frustration und Enttäuschung, aber auch Trotz und Ehrgeiz, die beruflichen Wünsche dennoch realisieren zu können –, kommt im folgenden Beispiel deutlich zum Ausdruck. „[...] und zu meiner Zeit als ich zur Schule gegangen bin, war ja zehnte Klasse Pflicht, aber Abitur durfte nur ’ne bestimmte Prozentzahl von äh Intelligenzkindern oder wie man das nennt, machen und da ich kein Arbeiter- und Bauernkind war, durfte ich nicht zur Oberschule. Und— dann hat man meinen Vater ins Kreisamt bestellt, ich weiß nicht, was die Entscheidung getroffen hat, und die haben gesagt, »Es tut mir leid, aber Ihre Tochter darf nicht zur Oberschule. Wir haben schon die Prozentzahl äh erfüllt und wir brauchen noch ’n paar Arbeiterkinder«. Und da kam aus meiner Klasse, einer aus ’ner LPG in die Oberschule, der viel schlechter in Deutsch war, aber Hauptsache die Prozentzahl wurde erfüllt. Und da ist man natürlich als Mädchen oder als junger Mensch schon sehr enttäuscht, ne. [...] Dann hab’ ich zehnte Klasse gemacht und dann dachte ich, wenn ich schon nicht zur Oberschule darf, dann mach’ ich an der Volkshochschule ’s Abitur.“52

49 50 51 52

Vgl. Kap. 6.1.2.1. Begrifflichkeit zuerst bei: Beck, Eigenes Leben, S. 110–115. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 3. V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 2 f. Ebenso schildert dies Frau Schuster: „Ich äh war, bin ja in die Fachschule gegangen, in [Ortsname]. Und— UM da überhaupt hinzukommen, haste ja irgendwelche gesellschaftlichen Aktivitäten nachweisen müssen. Also da sind wir dann in de FDJ eingetreten.“ V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Kindern aus mittelständischen bzw. akademischen Elternhäusern den Zugang zum Abitur bzw. zum Studium zu verweigern, entsprach dem Konzept einer Bildungspolitik, die ihren sozial egalisierenden Grundtenor in der besonderen Förderung von „Arbeiter- und Bauernkindern“ hatte. Dieses Konzept ermöglichte Jugendlichen aus der proletarischen Schicht in der DDR Bildungsmöglichkeiten, die aufgrund ihrer Herkunft zuvor nicht erreichbar gewesen wären und förderte langfristig den einzuleitenden Elitenwechsel für die neuen gesellschaftlichen Strukturen.53 Gleichzeitig aber wurde durch die einzig quantifizierende Selektion der zukünftigen HochschülerInnen, nach dem Kriterium des beruflichen Herkommens der Eltern, die Förderung derer, die aufgrund ihrer Leistungen und Qualifikationen dafür ebenso geeignet waren – wie Frau Löffler dies am Beispiel ihres Konkurrenten beschreibt –, oftmals unterbunden. Dieses Verfahren bildete nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel: „Wenn im Hinblick auf die Bildungslaufbahn zur Erweiterten Oberschule keine nennenswerten Anpassungsprobleme sichtbar wurden, so hatte das etwas mit den besonderen leistungsmäßigen und politischen Auswahlkriterien zu tun, die die Entscheidung dafür nur für einen ausgesprochen begrenzten Kreis von Jugendlichen als realisierbar erscheinen ließen.“54 Grundsätzlich war der Zugang zu einem höheren Bildungsweg erst durch allgemeine Loyalitätsbekundungen zum Staat in Form tragender Funktionen in der FDJ55 oder insbesondere bei den männlichen Jugendlichen durch eine frühzeitige Verpflichtung zum längerfristigen Dienst bei der NVA möglich. Das folgende Zitat hebt auf diese Problematik ab und verbindet diese mit der Unmöglichkeit, sich der Politisierung des Bildungsweges zu entziehen. Nur die Ausbildung individueller Strategien eröffnete einen Weg, die möglicherweise hervorgerufene innere Schizophrenie zu kompensieren. „Die Jungs, es ist ja so gewesen, dass vor allen Dingen die Jungs meistens Abitur machen konnten, wenn sie sich verpflichtet ham als äh Major oder was bei der Armee, also drei Jahre bei der Armee zu sein. Und des ham dann die meisten gemacht. Und einer war in der Klasse, der hat dann in der zwölften Klasse gesagt, »Ich widerruf’ das. Ich war damals noch keene 18. Das mach’ ich net«. Der hat dann eben totale Schwierigkeiten bekommen. Der konnte aah net studieren. Und da ich ja da immer mal vorhatte abzuhauen, hab’ mir gedacht, »Also ich kann mir das net leisten, da im Mittelpunkt zu stehen und bin ich lieber ganz still und ruhig in meiner Ecke und lauf da einigermaßen mit.«“56

Sinnentleerte Ideologisierung – Gescheiterter Kompensationsversuch des religiösen Vakuums: Ein weiterer wichtiger Punkt konzentriert sich auf die inhaltli53 54 55

56

Vgl. Noack, Bildungs- und Schulpolitik, S. 423. Kühnel, Lebenszusammenhang, S. 110. Vgl. dazu Aussage von Frau Wetzel: „Außerdem kam dazu, dass ich nach dem Abitur gar keinen Studienplatz gekriegt hab’, weil ich ‘gesellschaftlich zu wenig aktiv’ war, so hieß das ja damals, also politisch hab’ ich mich überhaupt nich’ engagiert. Und man konnte ja auch net das studieren, was man wollte.“ V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 9. V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 16. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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chen Komponenten im Bildungssystem der DDR, die sich bei den Personen dieses Typus als besonders prägende Erfahrung darstellen. Am häufigsten wird die Ideologisierung der Inhalte des täglichen Lernstoffes und des Schullebens im Allgemeinen genannt und dabei eine gewisse Sinnentleerung konstatiert. „Das hat man in der Schule ja von Anfang an gehört und also bis zum Abitur und das war ja immer wieder dasselbe, was da durchgekaut wurde, immer wieder dieselben Phrasen und wenn mal irgend’ne konkrete Frage gekommen is’, dann wurde die eigentlich gar net beantwortet und irgendwelche Kritik, das konnte sich eigentlich niemand vorstellen, da dran zu kritisieren. Das waren ja Halbgötter, der Hegel und der Feuerbach und der Karl Marx und der Liebk__ nee, ja der Engels. Also da, ’ne Diskussion hat ’s ja da drüber nie gegeben. Das is’ ja immer nur vermittelt worden und das musste man halt glauben. Also das war eigentlich auch wie ’ne Ersatzreligion. ((lacht)) Und dann merkt man eben doch, dass das wahre Leben eigentlich ganz anders ist. Ich frag’ mich aber nur, warum— so in meiner Klasse das eigentlich nur wenige erkannt ham.“57 Auffällig an der Aussage von Frau Wetzel ist die religiöse Vergleichsdimension. Sie beschreibt die sakrale Überhöhung der Personifikationen des Marxismus-Leninismus und verweist dabei gleichzeitig auf das durch die systematische Entkirchlichung geschaffene weltanschauliche Defizit, welches von der marxistischen Ideologie nun ihrerseits aufgefangen und erfolgreich ausgefüllt werden konnte. Insbesondere im Kernfach Staatsbürgerkunde der Polytechnischen Schulen und Erweiterten Oberschulen bildete der Marxismus-Leninismus den maßgeblichen Unterrichtsgegenstand, der den „untrennbaren Zusammenhang marxistisch-leninistischer Theorie, Politik der marxistisch-leninistischen Partei und revolutionärem Handeln der Arbeiterklasse zur Lösung gesellschaftlich herangereifter Fragen“58 zu vermitteln suchte. Zu einer ähnlichen Einschätzung wie Frau Wetzel kommt auch Frau Seestern. Sie schildert, wie im Unterricht weder Diskussionen über ideologische Ideen zugelassen noch sachliche Informationen vermittelt wurden, sondern in abstoßender Konsequenz der Klassenstandpunkt und die Staatsideologie der SED phrasenhaft, in unerträglicher Formelhaftigkeit internalisiert statt problematisiert wurde. Diese Erfahrungen speisen sich aus dem Unterricht in der „Schule der Sozialistischen Arbeit“, die sie während ihres Studiums besuchen musste.59

57 58 59

V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 15 f. Autorenkollektiv am Institut für gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR (Hg.), Staatsbürgerkunde Klasse 10. Unterrichtshilfen, zitiert in Behrmann, Einübung, S. 151. Der Vater von Frau Seestern erfährt als Verfolgter des Nationalsozialismus, als ehemaliger KZ-Häftling und Jude, besondere Privilegien in der DDR. Als sog. OdF (Opfer des Faschismus) wird auch seiner Tochter, obwohl nicht aus einer „Arbeiter- und Bauernfamilie“ stammend, der Zugang zur EOS und zum Studium (mit Stipendiumsförderung) ermöglicht, welche aber die ideologische Schulung obligatorisch beinhaltete. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 25 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Zum Beispiel musste ich, weil ich ja nich’ in der Partei war, gab ’s dann diese Schule der Sozialistischen Arbeit, (2 Worte) das war so ’ne Art Gehirnwäsche. Also da musstest du rein, da wurde dir erzählt, wie toll das eben is’. [...] Und der sagte, »Wenn die Tante Erna von drüben kommt und bringt euch ein— Kofferradio mit oder was weiß ich, dann is’ das äh äh eigentlich nur ’ne Verdummung und sie will den Krieg!« Da saß ich da, und da dacht’ ich, und kein Mensch sagte was, ne, hier rein und da raus, ne, und dann hab’ ich gedacht, »Und du sitzt auch hier und sagst nichts«, ne. Weil da wärste dann durch gewesen. Und das waren auch, wie sagt man immer, auch so kleine Bausteinchen. Und sagst, »Mensch, wieso eigentlich und wieso traust du dir hier nichts zu sagen? Und wieso kannst du dir gegenüber, bei so ganz offensichtlichem Unsinn, wieso kannst du hier nicht deine Meinung sagen?« Und das sind solche kleinen Sachen.“60

Frau Seestern betont im Zuge dieses augenfälligen Beispiels die Sinnentleertheit des aggressiven Klassenkampfes in der ideologischen Schulung. Nicht umsonst definiert sie diese als „so ’ne Art Gehirnwäsche“, die jeglicher Argumentations- und Realitätsgrundlage zu entbehren schien. Die zweite Komponente dieser Ausführungen ist erneut das Wahrnehmen der eigenen Unzulänglichkeiten in der permanenten Kompromissbildung und der Versuch diesem Verhalten zu entgehen: »Mensch, wieso eigentlich und wieso traust du dir hier nichts zu sagen?« Diese Überlegungen legen jedoch den Grundstein für eine Entwicklung, welche die Fassadenhaftigkeit und Widersprüche des Alltags analysiert und sich gegen den allgemeinen Konsens des Pragmatismus richtet, stattdessen den staatlichen Zwang zur Unaufrichtigkeit anklagt und im Sammeln der „Mosaiksteinchen“ den eigenen Weg aus der Zweizüngigkeit zu suchen beginnt. Ein weiteres Merkmal der Beobachtungen von Frau Wetzel und Frau Seestern während ihrer Schul- bzw. Studienzeit soll zudem Erläuterung finden, da es als besonders signifikant für die Gesellschaft in der DDR im Allgemeinen zutreffend ist. Frau Seestern spricht im zuletzt aufgeführten Zitat nicht nur von ihren eigenen Gedanken über das Dargebotene der ideologischen Schulung, sondern auch vom Verhalten der anderen Beteiligten, die als Masse der Gleichgültigkeit die ideologische Indoktrination über sich ergehen lässt („... und kein Mensch sagte was, ne, hier rein und da raus ...“). Das wahrgenommene Desinteresse und die Lethargie der anderen entwickeln sich, übergeordnet betrachtet und bewertet, schließlich zum gesellschaftlichen Phlegma.61 Die redundante und formelhafte Ideologisierung hatte einen fatalen Nebeneffekt, der den Machthabern zugute kam, indem er viele DDR-BürgerInnen zu unmündigen Rezipienten der allgemeingültigen Weltanschauung des Staates werden ließ. Frau Wetzel treibt diese Erkenntnis in besonders sinnfällige Phantasiegebäude, wenn sie etwa an die Gleichgültigkeit der MitschülerInnen bei der Aufarbeitung des Holocaust im damaligen Geschichtsunterricht zurückdenkt. „Aber (2) ich wusste, die meisten ham sich dafür aah net überhaupt interessiert, wir hatten en Lehrer, der hat dann ’ne zeitlang immer von den KZs erzählt und das hat mich 60 61

V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 24. Vgl. dieses Moment ausführlicher in den Ausführungen zu den alltäglichen Konfliktfeldern des DDR-Staatssozialismus in Kap. 6.1.2.1 und 6.1.2.3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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schon immer betroffen, weil wir mussten damals alle, als wir 14 waren, alle geschlossen nach Buchenwald. ((lacht gequält)) Und da sind die meisten durch, ham sich ’s angeguckt und sind wieder gegangen. Mich hat das immer sehr berührt. Auch wenn der Lehrer dann davon erzählt hat. Das konnt’ ich mir vorstellen und das hat mich betroffen. Aber die meisten saßen eben da und ham halb geschlafen und das hat niemanden interessiert. Die Leute waren so interesselos größtenteils, die ham alles über sich ergehen lassen, also ich weeß net, vielleicht hätten se ’s aah über sich ergehen lassen, wenn ’s geheißen hätte, »Stellt euch alle in eine Reihe und jetzt werden alle ab__abgeknallt.« Also ...“62

Was sie hier am Ende ihrer Ausführungen so drastisch schildert, sind die erdenklichen Auswüchse einer als solcher erlebten Erziehungsdiktatur. Sie bilden das Ergebnis einer schulischen Erziehung und Bildung ab, die das Problembewusstsein für die Aufarbeitung der wirklichen historischen Zusammenhänge systematisch hemmte, stattdessen antifaschistische Mythen ausbildete und instrumentalisierte, um neue diktatorische Machtverhältnisse legitimieren und letztendlich institutionalisieren zu können.63 Ideologische Faszination und Enttäuschungen der realsozialistischen Wirklichkeit: Ein bemerkenswertes Erlebnis, welches die andere Seite der Ideologisierung zeigt, jene nämlich, die eine Faszination auf junge Menschen ausstrahlte und gezielt das Charisma einzelner „Helden des Klassenkampfs“ benutzte, um die Massen „für die Sache“ zu mobilisieren, schildert Frau Schuster. Ihr Bericht fällt in die Zeit nach dem Bau der Mauer, in der es auch in der Erziehungspolitik massivere und störungsfreiere Durchsetzungen der politischen Linie zu verzeichnen gab. Mit der Schließung der DDR-Grenzen war ebenso die Chance für eine neue, innere Werteorientierung und Sozialismusreform gegeben. In diesen Kontext gehört die Geschichte von Frau Schuster, deren unpolitische Erziehung im elterlichen Hause und ihrer Suche nach der eigenen politischen Orientierung, sich durch die schulische Erziehung anfangs über Sartre und die Begeisterung für den Aufbau einer sozialistischen DDR definierte. Die Zweifel an der praktischen Umsetzung und einer sich kontinuierlich vergrößernden Distanz zu Ideologie und System gipfelten schließlich darin, dass sie sich mehr und mehr einer staatlich verordneten „praktischen Bewusstseinsspaltung“ ausgesetzt sah. Im Folgenden beschreibt sie die Stimmung Anfang der sechziger Jahre, in der die Bildungspolitik nach Verabschiedung des Parteiprogramms von 1963 offiziell eine gewichtigere Rolle von der SED zugewiesen bekam und dezidiert den „umfassenden Aufbau des Sozialismus“ in der „Erziehung und Heranbildung des allseitig – das heißt geistig, moralisch und körperlich – entwickelten Menschen, der bewusst das gesellschaftliche Leben gestaltet“64, festschrieb. 62 63

64

V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 16. Auf die antifaschistische Jugenderziehung in der DDR zur Aufarbeitung der NS-Zeit kann nicht ausführlich eingegangen werden, vgl. dazu Geißler/Wiegemann, Schule und Erziehung, S. 153–192; grundlegend zum Antifaschismus als Gründungsmythos der Geschichtsentwürfe der DDR vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, Kap. I und Zimmering, Mythen in der Politik. Parteiprogramm der SED vom Januar 1963, zitiert in Noack, Bildungs- und Schulpolitik, S. 429. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Diesen neuen Prämissen folgend, fand auch die Agitation der Jugend im Verbund der FDJ bei öffentlichen Kundgebungen statt. Und die öffentliche Manipulation der jugendlichen Massen hatte Erfolg: Die Freie Deutsche Jugend verzeichnete einen stetigen Mitgliederzuwachs, 1964 waren bereits 56 Prozent aller Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren in der FDJ organisiert.65 „Das war ja nun unmittelbar in der Zeit nach der Mauer. Ich bin von ’60 bis ’63 in der Fachschule gewesen in [Ortsname], in der medizinischen und da, wie gesagt, in diese Zeit fiel die Mauer. [...] Und— das war überhaupt (’ne) politisch relativ bewegte Zeit, das war auch in anderer Sache interessant, dann kam der, ach wie hieß denn der, ich vergess’ immer die Namen. [...] Und äh der zog dann also von einer FDJ-Gruppe in die andere. Und— den hab’ ich erlebt in [Ortsname] im Hygienemuseum. Der Mensch hat eine derartig un(glaublich) mitreißende Rede gehalten, also ähm die waren alle euphorisiert und es gab dann also spontan, echt, völlig spontan, Leute, die sprangen dann da vor und schrieen, also sie wollten in die Kommunistische Partei oder in die SED aufgenommen werden. Es war derartig MITreißend, kann man sich gar ni’ vorstellen. Ja, das is’=gehört alles in die ganze Angelegenheit mit rein.“66

Selbstkritisch erinnert sich Frau Schuster im Zusammenhang dieser empfundenen Begeisterung auch an ihre Tätigkeit als FDJ-Sekretärin, wo sie die unbewusste Einbindung in die Mechanismen der Überwachung ihrer eigenen MitschülerInnen erfährt, zum damaligen Zeitpunkt als solche aber nicht zu erkennen vermag.67 Sie analysiert abschließend die Grundlage dieses systemloyalen, unreflektierten Handelns, indem sie die Automatismen der allgemeinen Vergesellschaftung von frühester Kindheit an offen legt, die politisch instrumentalisierte Verhaltensweisen initiierte, stets dem Zwecke des sozialistischen Aufbaus verpflichtet und diesem dahingehend scheinbar uneingeschränkt legitimiert. „[...] dann biste natürlich in irgend’ner FDJ-Gruppe drin und nachher, aus lauter, weil wirklich keiner mehr übrig geblieben war, ins höchste Amt gewählt und war die FDJSekretärin von der Schule. Und es ist dann so, ähm, ich will nicht sagen, dass ich das bewusst mitgemacht hab’, aber es ist so, du bekommst zu jedem zeitgeschichtlichen Ereignis, dann haste ja dann irgendwo Versammlungen gehabt. Und dann mussteste natürlich zusammentragen, was ham die dann nun alles gesagt, die landeten dann von allen, von der ganzen Schule, das landete dann bei mir und ich hab’ das dann weitergegeben. [...] Dann haste dann noch gedacht, es ist Meinungsforschung, aber irgendwann merkste dann [...], dass de irgendwas machst, eigentlich um de Leute auszuHORCHEN, auszuspionieren. Ähm, ja. Mir ist erst viel später, das heißt ja nun, okay ich war dann achtzehn, nu’ pph mir aber erst viel, viel später richtig aufgegangen, was de da nun

65 66 67

Vier Jahre zuvor, 1960, lag die Zahl noch bei 48 Prozent. Vgl. Mählert, Jugendpolitik und FDJ, S. 463. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 2. Auf die Frage, inwieweit sie in der DDR eine Form der Überwachung wahrnehmen konnte, antwortet sie aus heutiger Sicht spontan: „Ja, im Prinzip, was heißt wahrgenommen, dass die stattfindet ((lacht)) ... Ich hab’ ja teilweise (2) mitgemacht, schlicht und ergreifend.“ V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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eigentlich gemacht hast, denn man wird ja eigentlich in diesem System groß. Und da machste ja ziemlich viele Dinge, die hinterfragst du nicht.“68

Im vorausgehenden Kapitel, das die kindlichen und adoleszenten Prägungen der diesen Typus repräsentierenden ZeitzeugInnen in den Mittelpunkt stellte, sind grundlegende Dimensionen der Lebenswirklichkeit in der SBZ bzw. frühen DDR deutlich geworden, teilweise in Verbindung mit erlebten bzw. kommunikativ erinnerten Begebenheiten im späten Nationalsozialismus. In dieser Lebensphase werden bedeutsame Dispositionen für die weitere Entwicklung im politischen wie identitätsbildenden Sinne gestiftet: ein kindlich wahrgenommenes, vom elterlichen Einfluss definiertes und gestiftetes Bewusstsein der doppelten Diktaturerfahrung in Verbindung mit der Ausbildung einer als solche bezeichneten „praktischen Bewusstseinsspaltung“. Letztere Erfahrung speist sich dabei aus der Differenz der familiär gebildeten Weltbilder und jener öffentlich verordneten in der jeweilig erlebten Diktatur. Zudem weisen alle Familiengeschichten ein hohes Maß an „Fluchtpotenzial“ auf. Die Flucht aus dem System erhält hier sinngebenden Charakter und wird als einzige Möglichkeit für einen möglichen Ausgleich der ambivalenten, teilweise bereits extrem repressiv erlebten Lebenswirklichkeiten in der DDR betrachtet, sie entwickelt sich zum favorisierten Konfliktlösungsmodell in der Familie und wird konsequent umgesetzt. Die Einschätzung, dass jenen frühen Erfahrungen in der Kindheit ausnehmend hohe biographische Bedeutung zukommt, begründet sich aus der Tatsache, dass die ZeitzeugInnen des Typus den Erzählungen von Kindheit und Jugend explizit hohe Priorität und Relevanz einräumen, um das übergeordnete Thema greifbar zu machen. Das zeigt sich vor allem an der Ausführlichkeit und dem damit zugestandenem Raum, welcher diesen Erzählungen im Laufe der Interviews immer wieder vor- und rückweisend zugestanden wird.

6.1.2 Wahrnehmung des Alltags im DDR-Staatssozialismus In den folgenden Ausführungen sollen jeweils die im Typus benannten individuell erfahrenen Dimensionen des vom Staatssozialismus geprägten Alltags Darstellung finden. Die individuelle Erfassung des DDR-Alltags präsentiert sich in den Äußerungen der InterviewpartnerInnen zunächst äußerst negativ. Grund für diese einseitige Alltags- und Lebensweltbeschreibung ist insbesondere die Konzentration auf und die Bindung des lebensgeschichtlichen Zusammenhangs an das Lebensmodell „Flucht aus der DDR“. Verstärkt wird diese Negativkonnotation des Alltags durch die zuletzt erfahrene Lebenswirklichkeit in der DDR: die politische Inhaftierung. Die Dominanz dieses Unschärfeparameters darf für die Deutung des nun Folgenden nicht außer Acht gelassen werden. Sie muss jedoch gleichberechtigt als eine Ausformung realsozialistischer Alltagswahrneh68

V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 1 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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mung, unter Fokussierung vor allem der diktatorischen Elemente, einbezogen werden. Die Alltagswelt in der DDR wird – aus diesen Ausführungen folgernd – mehrheitlich vor dem Hintergrund eines Verlassens der DDR, im Zusammenhang mit dem beschriebenen Lebenskonzept aktiviert. Diese Lebensphase wird daher besonders zentriert. Die schon in Kindheit und Adoleszenz erwachsenen Aversionen und gebildeten Sensibilitäten gegenüber den Mechanismen des Systems begleiten immanent die geschilderten Lebenswirklichkeiten, die bei allen Personen des Typus in der Verhaftung durch den Staatssicherheitsdienst unvermittelt ihre Aussetzung fanden.

6.1.2.1 Identitätsstiftende Momente und Konfliktfelder Zunächst werden die signifikant gewordenen Aspekte, die das jeweilige Alltagsleben der ZeitzeugInnen beispielhaft rekonstruieren, aufzeigen, inwiefern wahrgenommene, politisierte Strukturen des Berufs- bzw. Privatlebens und zugleich überwachungsstaatliche Elemente die individuell ablehnende Haltung und Einstellung zur DDR intensivierten. Aufgabe wird es sein, die innere Entwicklung der Personen nachzuzeichnen, welche – dies wird in einem zweiten Schritt vollzogen – die Ursachen und Beweggründe abbildet und differenziert beleuchtet, die letztlich für die Unbedingtheit eines Verlassens der DDR verantwortlich sind. Politisierung der Berufswelt69 : Die in Kapitel 6.1.1 dargestellten, in der DDR verstärkt erfahrenen gesellschaftspolitischen Elemente einer Kindheit und Jugend tragen sich im Berufsleben konsequent weiter. Die für diesen Typus relevanten Aussagen zur Situation des beruflichen Alltags sind fast ausnahmslos Beschreibungen im Berufsfeld akademischer Qualifikation. Sie beziehen sich zunächst vor allem auf die Ineffektivität und Entökonomisierung der Wirtschaft und zugleich auf die politische Determinierung der Erwerbsarbeit, die hier vorwiegend in Bezug auf den beruflichen Aufstieg und seiner Vernetzung mit kaderpolitischen Entscheidungen und politischem Engagement erzählt wird. Dieses Phänomen beschreibt Marz als einen Wandel von der Erwerbs- zur Beziehungsarbeit, welches insbesondere für die im Produktionsprozess befindlichen VEBs charakteristisch gewesen ist, weil hier „die realsozialistischen Wirtschaftsräume im Allgemeinen zunehmend durch eine spezifische Form von Arbeit, nämlich Beziehungsarbeit, zusammengehalten und zugleich ersetzt wurden“.70 Als wichtigste Charakteristika so definierter Beziehungsarbeit gelten für ihn: 1. die Entökonomisierung der Betriebe zum Zwecke der Ausgestaltung sozialer Handlungsräume, 2. die Entprofessionalisierung der Beschäftigungsgruppen und die Entdifferenzierung der betrieblichen Handlungsfelder, 3. die 69 70

Vgl. einführend zu den innerbetrieblichen Systemen und Strukturen realsozialistischer Ausformung: Kreißig, „Realsozialistische“ betriebliche Machtstrukturen, S. 109–130. Marz, System-Zeit, S. 78. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Entobjektivierung der alltäglichen Kooperationsprozesse, das heißt die starke unentwirrbare Koppelung sachlicher Entscheidungszusammenhänge betrieblicher Art mit persönlichen und emotionalen Momenten, 4. die Paralysierung des Berufsalltags in seiner kurz- wie langfristigen Wirksamkeit und die damit verbundene Erzeugung dysfunktionalen Arbeitshandelns und daraus entstehend 5. die Distanzierung von den eigenen individuellen Lebensverhältnissen, die ein unbestimmt bleibendes Selbstwertgefühl innerhalb eines dominanten Wir-Gefühls zu erzeugen vermochte.71 Die Realitäten dieser theoretisch analysierten Arbeitsstrukturen konnten in vielfältiger Weise von den ZeitzeugInnen illustriert werden. Mit dem Dilemma der arbeitsalltäglichen Organisation in einer HO-Gaststätte72 werden sie eingeleitet. Frau Schuster stellt hierin ihre Probleme in ihrer Funktion als Leiterin einer solchen dar: „Und wenn im November, wir mussten ja bis um zwölfe rum aufham, kein Schwein kam, dann ham wir halt um zehn zugemacht. Und da hatt’ mer, kriegt’ mer denn Krach mit der HO-Kreisleitung. Und die kamen dann und denn hat der gesagt, »Frau [Schuster], was macht ihr denn schon wieder für Dummheiten?« [...] »Wir sind nicht hier um Geschäfte zu machen, wir sind kein kapitalistischer Betrieb. Wir sind da um eine Versorgungsleistung zu erbringen.« Aha, na ja ham wir gesagt, »Na gut, okay. Da schmeißen wir de Leute um zwölfe naus, wenn ’s grad e Geld gibt, weil wir eben Versorgungsleistung erbringen und sitzen hier wenn nischt kommt.«“73 Was sie beschreibt, sind die Realitäten der sozialistischen Planwirtschaft, die bereits Ende der 70er Jahre die ökonomische Misere einleiteten und somit die Existenzgrundlage des Staates dem ideologischen Anspruch zum Opfer fiel. Das eigene Engagement für die Teilhabe am Systemaufbau wird durch die verordnete, sichtlich misswirtschaftliche Betriebsführung in Frage gestellt. Es entstand ein flächendeckend wachsender Eigensinn informeller Kollektive, begleitet von einer stillen Verweigerung gegenüber den Sanktionsmaßnahmen der Leitungskader, die wiederum mit den Organisationszielen und der Leistungssteigerung der VEBs oder wie hier der HOs in heftigen Widerstreit gerieten. Die Frustration über die augenscheinliche Ineffizienz des eigenen Arbeitseinsatzes lässt auch Frau Schuster zur Einsicht kommen, sich letztlich für das falsche ökonomische System im falschen politischen Konzept aufgearbeitet zu haben. „Ich hab’ dort drei neue ökonomische Systeme mitgemacht und nicht eins begriffen, was ich da sollte. Ich meen’, ich hab’ ’n Meisterbrief gemacht ’72 und vorneweg hatteste Schule und da und da, ich hab’ en Haufen Arbeiten immer irgendwie geschrieben über Gott-weeß-ich-was und Vorwärtskommen und nie kamste vorwärts. Und viele Ideen geopfert und die sich mein Chef dann an den Hut gesteckt hat. [...] Und es ging ja doch ni’ vorwärts, es ging ja alles zurück. Weil alles soviel, weil du NICHTS bekamst, was de irgendwie NOTWENDIGERWEISE brauchtest, weil eben durch dieses STÄNDIGE Dirigieren alles schief geht.“74 71 72 73 74

Vgl. ebd., S. 78 f. HO-Gaststätte: in die staatliche Handelsorganisation (HO) eingebundene Gaststätte. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 14. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 33. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Frau Roses Erfahrungen aus der Arbeitswelt ihres Ehemanns, der als Arzt in einem Klinikum tätig war, enthalten verstärkt die politisierte Dimension dieser „Beziehungsarbeit“. Sie weisen zugleich auf die entstandenen Defizite für die eigentliche medizinische Betreuung der Patienten und die wissenschaftliche Forschung, die auf Kosten der ideologischen ‚Beschäftigungstherapie‘ zurücktreten mussten. Sinnfällig wird hier besonders die Funktion der betrieblichen Berufswelt als „gesellschaftlicher Basisinstitution“75, die als „Lebensraum und Instanz der sozialen Versorgung und Betreuung“76 fungierte. „[...] dadurch, dass er nich’ in der SED war und äh seine Position verteidigen MUSSTE in vielen Kommissionen. Er war in der Konfliktkommission, er war in ’ner Kommission, die äh da ähm das, diese Preise verliehen: Wer wird in der Klinik ‘Sozialistisches Kollektiv’. Also das war ’ne Kommi__ er war in der Prognosekommission [...]. Alles diese Kommissionen, die DAUERTEN manchmal fünf Stunden am Tage und eine Sitzung musste mindestens einmal in der Woche sein. Und dann war er, dann gab ’s nur zu seiner Zeit zwei Oberärzte in der Klinik und die hatten zusammen 124 Betten, ich glaube hier in [Ortsname] ham se in der HNO nur so hundert Betten und zig Ärzte und zig Oberärzte. Und äh und dann war er entweder für die Stationen zuständig als Oberarzt oder für die Poliklinik, die wechselten sich immer ab, einer für die Poliklinik, einer oben. Also es gab wahnsinnig viel zu tun. Und dann MUSSTEN diese Sitzungen sein, wo NUR für den Papierkorb gearbeitet wurde, diese Prognose war nur eine Beschäftigungstherapie. Oder das wurde nie angeschafft, das wurde gar nich’ importiert, weil gar kein Geld da war. Nur um die Leute im Gehirn voll zu stopfen mit einer Hoffnung. Hier wird ja was getan. Aber es wurde ja nichts angeschafft. Und das war alles so sinnlos. Diese Konfliktkommission, wo es um Streitigkeiten der Krankenschwestern untereinander ging, wo man da also eingreifen musste. Oder wer wird ‘Sozialistisches Kollektiv’, so was SINNLOSES. Das sind Sachen gewesen, wo man Anreize geben musste, die hier im Westen selbstverständlich sind, dass man äh darauf hinarbeitet.“77

Äußerst drastisch entlarvt und beurteilt Frau Rose die destruktiven Elemente einer als solcher in die Praxis umgesetzten Planwirtschaft und der in diesem Kontext einwirkenden Funktionen der ideologischen Beeinflussung und aktiven Institutionalisierung innerhalb der Arbeitswelt. Letztere war auch Garant und Voraussetzung für berufliche Karrierechancen, denn „Eignung und Leistung sind in diesen beinahe geschlossenen Zirkeln der Kaderauslese bestenfalls sekundär für die Rekrutierung“78 gewesen. Wie der Ehemann von Frau Rose 75 76 77 78

Lutz, Betriebe im realen Sozialismus, S. 152. Ebd., S. 153. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, 31 f. Henrich, Vormundschaftlicher Staat, S. 119. Vgl. zur einseitig orientierten Kaderauswahl, die lediglich auf die politische Eignung im Sinne der machtelitären Kriterien fixiert war und langfristig zum hausgemachten Problem avancierte, Engler: „Menschen, die aus einfachen Verhältnissen stammten und deren Laufbahn vordiktiert schien, konnten sich plötzlich die begründete Hoffnung machen, nicht nur höhere oder höchste Bildungsstufen zu erklimmen; es rückte darüber hinaus in den Bereich des Vorstellbaren, dass sie innerhalb der unterschiedlichsten Handlungsfelder in sehr jungen Jahren den Gipfel professionsspezifischer Laufbahnen erreichen [...]. Begreiflich, dass in solchen Fällen die Umformung der Persönlichkeitsstrukturen, der aus den Ausgangs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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sich dieser politischen Diskriminierung zunehmend weniger entziehen konnte, solange er beruflich in höhere Führungspositionen aufsteigen wollte, zeigt seine endgültige Streichung aus dem so genannten Perspektivplan. Die Weigerung sich in gesellschaftlich relevanten Organisationen oder der Partei zu engagieren, zumindest aber in den FDGB79 einzutreten, markieren das Aus seiner wissenschaftlichen Karriere. In zunehmendem Maße erfährt er die defensiven Machtmittel der strukturellen Kaderpolitik im täglichen Arbeitsprozess. „Und ja er wurde dann ziemlich schnell dann nach dem Facharzt [...] Oberarzt und auch leitender Klinikdirektor, aber da wurde dann, ging die Schere dann zu, da wurde es immer enger und dann sagte ihm der Chefarzt eines Tages, sagt er, »Also Sie wissen schon, dass Sie hier an der Universitätsklinik nicht mehr vorgesehen sind im ...«, äh wie hieß der Plan, im Perspektivplan, »Sie sind im Perspektivplan nicht mehr drin, denn Sie sind ja nich’ mal, abgesehen von der Partei, im FDGB. Da müssten Sie ja wenigstens mal eintreten.« Und die jüngeren Oberärzte, die mein Mann fachlich noch anlernen musste bei Operationen und so, die kriegten eben alle schon diese Ausbildung im Perspektivplan der Hochschulausbildung. Nicht, die konnten ins Ausland fahren, die nahmen dann SEINE wissenschaftliche Arbeit mit und lasen die vor. Während er überhaupt nicht raus kam, er konnte auch nicht dieses halbe Jahr, was auch Bedingung war, in der Sowjetunion absolvieren, weil wir zu viel Verwandte im Westen hatten. Und es war eigentlich Endstation, [...] hatte mein Mann keine Lust in die Politik zu gehen und sich nun da degradieren zu lassen. Und sagte also, »Das möcht’ ich nicht.«“80

Die im Nonkonformismus zum System lebende Familie ist nicht zu einer Form des Zweckrationalismus bereit. Konsequent wird der drohenden beruflichen Degradierung des Ehemannes die Aufrichtigkeit eigener politischer Prägung und Überzeugung entgegengesetzt. Was aufgrund dieser bleibt – potenziert durch die Kumulation weiterer tragender Motive – ist der Ausstieg aus den vergesellschaftenden Strukturen und damit aus dem System. „Na ja, aber noch zu unserer Haltung in der DDR muss ich eigentlich sagen, dass wir gar nicht anders gekonnt haben als nur WIR zu sein. Also Karriere fachlich ja, gerne mit vollem Elan und Ehrgeiz hat meinem Mann die Hochschullaufbahn Spaß gemacht, Vorlesungen halten, hat ihm Spaß gemacht, die Arbeit mit Studenten hat ihm Spaß gemacht, äh das war eigentlich immer ’ne große Freude und da gab’s eigentlich gar keine Probleme, aber in irgendeiner Weise sich korrumpieren lassen, das war, das ist ’ne Sache, das ist ’ne Haltung, die kann man wahrscheinlich gar nicht so erlernen, wenn man sie nicht aus ’m Elternhaus mitbekommt.“81

79 80

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milieus mitgebrachten Verhaltenseigenschaften, nicht mit der Umformung des Denkens, der politischen Loyalitäten und der ideologischen Glaubensbekenntnisse Schritt hielt.“ Engler, Zivilisatorische Lücke, S. 67. FDGB: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 7. Eine ähnliche Erfahrung macht auch der als Hochschuldozent arbeitende Ehemann von Frau Krüger, er jedoch kann aus existenziellen Gründen der Politisierung seines Arbeitsalltags nicht standhalten und entscheidet sich aufgrund des hohen Drucks für einen Parteieintritt in die SED. Der Zwang zur Kompromissbildung ist aber dauerhaft nicht mit den eigenen Überzeugungen zu vereinbaren und wird schließlich zum Auslöser für die Familie, die DDR zu verlassen. V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 4 f. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 8. Vgl. dazu auch die Schilderungen von Frau Krüger: „Und der politische Druck, [...] dann kommt man doch auch in so ’ne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gezielte Desinformationspolitik: Ins Feld einer sich als solche präsentierenden „Arbeitsgesellschaft“82 ist auch die folgende Wahrnehmung staatssozialistischer Mechanismen eingebettet. Hierbei geht es um das systematische Entziehen bzw. das gezielte Zuteilen von Information und Wissen. Dieser Ansatz ist aus zweierlei Perspektive zu betrachten. Vordergründig erscheint sich dieser Mechanismus zunächst auf den erschwerten bzw. unerlaubten Zugang zu Informationen aus den westlichen Medien oder kritischen Schriften des In- bzw. sozialistischen Auslands zu beziehen. Primär erfolgte dies, um das Potenzial an Kritik an den bestehenden Zuständen möglichst gering und undifferenziert zu halten. Zugleich war es die Intention der Machthabenden – hier kommt die übergeordnete Komponente zum Tragen – durch eine Form der Abschottung nach außen, eine innere Konzentration der Bevölkerung auf soziale und berufliche Bindungen zu provozieren und diese so enger an das System zu schnüren. Eine solche Form der ‚Selbstbeschäftigung‘ vollzog sich ebenso unbeabsichtigt auch aus den bei weitem nicht zu unterschätzenden Faktoren der herrschenden Mangelwirtschaft. Hier ist der quantitativ hohe zeitökonomische Aufwand, der für den Aufbau und die Funktionalität der informellen Netzwerke nötig war, näher zu betrachten, denn nur so konnte der ökonomische Mangelzustand des Einzelnen zeitweise umgangen werden. Andererseits verbrauchte die kontinuierliche und vereinnahmende, ideologische Indoktrination in allen Sozialisationsinstanzen der Gesellschaft einen Großteil der Ressourcen an Zeit und psychischer Energie, die eine Informationsbeschaffung und tiefgehende Reflexionen über die gesellschaftlichen Zustände in der DDR zugelassen hätten. Die geschilderte Handhabe des Staates über das „Informationsmonopol“ muss nach Schuller „zur mittelbaren und strukturellen Repression“ in der DDR gezählt werden. „Damit sollte die Herrschaft über die Gehirne erreicht werden; damit sollte das Verhalten gesteuert werden, und zwar nicht nur negativ, dass man von bestimmten, von sehr vielen Informationen und Informationsmöglichkeiten ausgeschlossen worden ist, sondern natürlich auch positiv, indem das, was dann gegeben wurde, das Bewusstsein bestimmen sollte.“83 Herr Schuster beschreibt seine Wahrnehmungen dem gemäß: „DESINFORMATION war ihre beste Waffe. Die ham das Volk desinformiert, also die ham von nix, gar nix Ahnung gehabt und das war eigentlich ihre Waffe. Denn wenn se denen erzählt (hätten), wie das ’m Westdeutschen geht, wie der lebt und wie der arbeitet und

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Mühle rein, um überhaupt LEBEN zu können. Und=und diese Partei, das hat ihn also total zugerichtet und=und fertig gemacht und er hat also da drin, im Weggehen, den einzigen Ausweg gesehen.“ V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 13. Die Umschreibung der DDR in ihrer gesellschaftlichen Struktur als „Arbeitsgesellschaft“ hat der Soziologe Martin Kohli grundgelegt. Sie hebt insbesondere auf die Einbindung des Einzelnen in den Erwerbsbereich, d. h. seinen Betrieb und sein Arbeitskollektiv ab. Sie fragt nach der Rolle dieser Institutionen für die individuelle Lebenswelt des Einzelnen, für seine soziale Realität und Lebensweise und allgemein nach den alltäglichen Dimensionen, die sodann auch aus der staatlichen Verknüpfung von Arbeit und Freizeit generierten. Vgl. Kohli, DDR als Arbeitsgesellschaft?, S. 31– 61. Schuller, Repression und Alltag, S. 273 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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was für ’ne Voraussetzungen er hat und so. Wenn die das da drüben gewusst hätten, wären se doch viel schneller losgerannt, alle. Ja, weil äh äh, die haben ja den Bürgern ständig hier erzählt, dass die Leute hier in MASSEN im Straßengraben liegen und hungern und betteln gehen.“84 Er konkretisiert das durch die staatliche Bildungs- und gezielte Desinformationspolitik der DDR entstandene Wissensdefizit in seinen Erinnerungen an die Olympischen Spiele 1972 in München. Bemerkenswert sind die nachhaltigen Wirkungen dieser bewusst als Manipulation erkannten Propagandamechanismen gegen das kapitalistische Ausland. Noch in der Haft erliegt er den inkorporierten Zweifeln dieser politisierten Beeinflussung des individuellen Denkens; dies an einem Punkt in seiner Biographie, wo er sich bereits konsequent gegen das Leben in der DDR entschieden hatte. Die folgende Aussage verdeutlicht die hohe Wirksamkeit einer jahrzehntelangen ideologischen Indoktrination in der sozialistischen Sozialisation, derer er sich aufgrund ihrer alltäglichen Immanenz und Kontinuität zwar rational, unterbewusst aber nicht gänzlich zu entziehen vermochte. „Ja, um die Drehe der Siebziger war ’s, die Olympischen Spiele. Und da hatten se da ’ne Delegation, da durfte ja jeder Betrieb so, die wollten ja so nach dem Motto gehen: Auch DDR-Bürger dürfen reisen in de ganze Welt und sich alles ansehen, WENN se treu sind, so. Also ätsch, das habt ihr nun davon, weil ihr ja kenne überzeugten Kommunisten seid, dürft ihr nich’ und die, die treu sind, die schicken wir. [...] Dann berichteten die da drüber und da ging das da los hier, »Wir kamen in München auf ’m Bahnhof an, das Erste, was uns entgegenkroch, war ein bettelndes Kind«, und so war der ganze Artikel, bis unten runter, »Wir waren froh, dass wir wieder in der DDR waren, wo wir einen sicheren Arbeitsplatz haben und sichere Ernährung hatten«, und das alles. [...] Wenn du das ständig, das ist ja das, was ich ja damit sage, wenn du das ständig immer gehört hast, da ist dir im Knast Zweifel, wenn de alleine in de Zelle gesetzt, Zweifel aufgekommen, ob das auch richtig ist [...]. Und das war ihre Waffe gewesen, dass die die Leute SO SCHLECHT informiert ham, dass die sich gesagt haben ... Und das hat natürlich viele Leute zurückgehalten vor dem bösen Kapitalismus. Aber bis die da mal vom Boden kamen.“85

Im letzten Satz des Zitats kommt die für die DDR-Gesellschaft als besondere Problematik konstatierte Form des „Gefesseltsein an den Boden“86 zum Ausdruck. Eine gesellschaftliche Unbeweglichkeit, Motivationslosigkeit und Trägheit, die durch die staatssozialistische ökonomische Vergesellschaftung und de84 85 86

V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 62. Ebd., S. 62 f. Henrich, Vormundschaftlicher Staat, S. 153. Henrich lehnt sich hierbei an den Sprachgebrauch von Karl Marx an und führt das Phänomen der gesellschaftlichen Lethargie auf die „weitgehend leistungsunabhängige soziale ‚Sicherheit der Existenz‘ zurück, deren Preis eine ‚Abgeschlossenheit‘ der Gesellschaft“ und für den Einzelnen ein „Gefesseltsein an den Boden und die Maschinerie“ war. „Und dieses ‚Gefesseltsein‘ der Menschen ist die entscheidende Wirksamkeitsbedingung der Politischen Ökonomie des Sozialismus. Denn überall dort, wo sich die Produzenten dem Druck durch Aus- oder Abwanderung ohne Weiteres entziehen können, verringert sich die Schlagkraft der ökonomischen Despotie bei der Weiterführung der Industrialisierung.“ Ebd., S. 154 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ren existenzielle Abhängigkeiten ausgelöst worden war und sich selbst ergeben, nicht vermochte gegen offenkundige Missstände zu protestieren.87 Ihre verbleibenden Energieressourcen nutzten die Bürger der DDR mehrheitlich zur Aufrechterhaltung der primären Bedürfnisse, zur Sicherung sozialer und materieller Garantien. Die persönlich zur Verfügung stehende Freizeit wurde oftmals geopfert für die Ausbildung informeller Netze der Versorgung. Das heißt, jeder war stets bemüht, die ökonomische Misere durch individuell ausgebildete Erwerbsstrategien zu kompensieren, was dabei jedoch in den Hintergrund gedrängt wurde, war die Frage nach den Ursachen des allseitigen Mangels.88 Die Auswüchse der Mangelwirtschaft konnten aber zugleich von den Machthabern unintendiert genutzt werden, denn der zeitliche Raum für ein übergeordnetes Aufbegehren und die Aufforderung zu konkreten Lösungsvorschlägen war vom Kraftakt der Aufrechterhaltung der inoffiziellen Umverteilungsnetze in einer neubegründeten Tauschgesellschaft belegt. Dieser Umstand könnte ebenso dazu beigetragen haben, dass die Führenden des Staates schon früher, also bereits Ende der siebziger Jahre, vor einem massiven Aufbegehren der ökonomisch unzufriedenen Massen verschont blieben. Ideologisierung der Erziehung und verordnete Emanzipation: Zentrales Augenmerk – insbesondere der weiblichen Zeitzeugen des Typus – in der Wahrnehmung des sozialistischen Lebensalltags gilt der extremen Diskrepanz eigener Vorstellungen und Wertmaßstäbe der Kindeserziehung einerseits und des ideologischen Drills der Sozialisationsinstanzen in der DDR andererseits. Die Problematik der Entwicklung individueller Persönlichkeit innerhalb einer sozialistischen Kollektiverziehung, die im Grunde daraufhin ausgerichtet war, Individuen als Abbilder der gesellschaftlichen sozialistischen Zustände zu bilden, schildert Frau Schuster: „Und ooch diese ganze, die ideologische Ausrichtung, das war ja alles für die Männer gedacht. Und nur ’n Mann kommt auf die Idee zu glauben, wenn er also alle Leute erzieht wie die jungen Hunde, dass die dann funktionieren wie die jungen Hunde. Na die ham ja gedacht, wir holen die Kinder aus der Kinderkrippe, rein in die äh Kindergärten und von den Kindergärten in die Schulen und von den Schulen überallhin und dann funktionieren die wie die Zinnsoldaten. Das ist ja alles schief gegangen.“89 Die Hoffnung der erziehungsbildenden Institutionen auf die ‚Erzeugung gesellschaftlicher Multiplikatoren‘, welche zugleich langfristig wie nachhaltig „auch die Ideen, die Kategorien, das heißt den abstrakten ideellen Ausdruck eben dieser gesellschaftlichen Beziehungen produzieren“90 sollten, erhellt das 87

88 89 90

Frau Rose nahm diese Form der Lethargie bspw. so wahr: „Aber weil die Leute eben alle schon so lethargisch waren und eben psychisch krank, musste man denen solche Anreize geben, dass se dann eben sich so ’ne Abzeichen anstecken konnten, dass se ‘Sozialistisches Kollektiv’ sind.“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 32. Vgl. eine differenzierte Analyse der individuellen Erwerbsstrategien in der DDR, die schließlich zu einer Subsumtion systemkonformer und nonkonformer Handlungsstrategien gereicht, bei: Merkel, Utopie und Bedürfnis, S. 277–300. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 31. Marx, Brief an P.W. Annenkow vom 28.12.1846, S. 554; Hervorhebung im Original. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Zitat ebenso wie ein weiteres charakteristisches Moment dieses staatlichen Erziehungsmodells: seine ausgeprägten patriarchalischen Grundzüge.91 Das neue Verhältnis von Gesellschaft, Kollektiv und Individuum schien im Sozialisationskonzept von Krippe, Kindergarten und Schule nicht aufzugehen. Der Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft, die „selbst umso reicher“ werde, „je reicher sich die Individualität ihrer Mitglieder“92 entfalte, unterlag in der realen Umsetzung einem autoritären Erziehungsprinzip, das die Herausbildung individueller Persönlichkeiten primär zu unterbinden statt zu fördern suchte, ohne „auf die IDEE an und für sich zu kommen, dass jeder ’n eigener Charakter IST und dass man das vielleicht irgendwo in sein System mit einbeziehen müsste, dass ... Auf die Idee sind se ni’ gekommen.“93 Das von vielen Zeitzeuginnen in der Kindheit erlebte Aufwachsen in einer weltanschaulichen Doppelexistenz scheint sich nun schließlich auf die Erziehung der eigenen Kinder auch im Hinblick auf den Einfluss staatlicher Sozialisationsinstanzen zu übertragen. Das konsequente Handeln – aus diesen Prägungen genährt – ist ein Rückzug in informelle lebensweltliche Netzwerke. Dies beinhaltet die Entscheidung, die Kinder vorerst den staatlichen Erziehungsanstalten wie Krippe und Kindergarten zu entziehen und entgegen dem allgemeinen Verständnis in der Gesellschaft, auch der Vorstellung von gleichzeitiger Berufstätigkeit und Mutterschaft zu entsagen. „[...] ich hätte auch meine Kinder GERNE selbst erzogen, noch dazu in einer, einer Diktatur. Aber das hätte ich auch HIER gemacht. Ich hätte auch HIER meine Kinder nicht gerne ’nem Au-pair-Mädchen oder irgendeiner Angestellten äh die Erziehung oder die meisten Stunden des Tages überlassen. Aber das ist auch nur meine, MEINE Meinung für mich, wenn ’ne Fr__ Mutter glücklich ist in ihrem Beruf, bringt sie natürlich auch in ihrer Erziehung mehr rüber, als wenn sie unglücklich nur Mutter zu Hause sitzt. Dann soll sie lieber berufstätig sein UND Mutter. Aber äh wie gesagt, in ’ner Diktatur fand ich das noch wichtiger. Und dann kommt noch EIN ganz wichtiger Grund dazu, dass ich wirklich auch keine Hausfrau ähm war mit Komplexen, sondern ich war in der DDR ’ne ganz selb__ ich glaube die einzige selbstbewusste Hausfrau, denn die Frauen waren leider Gottes SO manipuliert berufstätig sein zu müssen, dass die ganze Emanzipation auch ’ne berufliche war und die EMOTIONALE Emanzipation wurde nicht gefördert und konnte auch gar nicht wachsen.“94

Das staatliche Emanzipationskonzept95, die Gleichzeitigkeit von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft, das bereits 1965 im Familiengesetzbuch der DDR fest-

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Vgl. zu diesem Punkt ausführlich: Diemer, Patriarchalismus. Bericht des ZK der SED an den XI. Parteitag der SED. In: Protokoll des XI. Parteitages der SED, S. 75. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 32. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 16. Vgl. umfassend zu den Kontroversen um die Lebenssituation der Frauen in der DDR im Spiegel der staatlichen Frauen- und Familienpolitik der SED v. a. Diemer, Patriarchalismus und Trappe, Emanzipation oder Zwang? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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geschrieben wurde96, findet in diesem Zusammenhang wenig positive Einschätzung. Es wird als oktroyiertes, nicht aber als selbstbewusst und freiheitlich gewähltes Lebensmodell interpretiert. Der Rückzug in das Dasein als Hausfrau, um – wie die Motive von Frau Rose bestätigen – die eigenen Kinder der staatlichen Erziehung und bzw. oder sich selbst einer Vergesellschaftung innerhalb des Berufs zu entziehen, erfährt in der DDR-Gesellschaft sehr geringschätzige Bewertung.97 Die Beschränkung auf die häusliche Sphäre galt in der DDR als kleinbürgerlich oder auch als elitär. Denn auch den Frauen war es gesellschaftliche Aufgabe, durch materielle Produktivität den Aufbau des realen Sozialismus aktiv mitzugestalten. Dass sie diesem staatlichen Anspruch mehrheitlich gerecht wurden, belegen die Zahlen: 1986 waren 91,3 Prozent der arbeitsfähigen Frauen berufstätig bzw. in Ausbildung; die Mütterrate, das heißt der Anteil der Frauen, die wenigstens ein Kind geboren hatten, lag zugleich bei 90 Prozent.98 Frauen, die wie Frau Rose dem offiziell favorisierten Lebensmodell eine Absage erteilten, wurde von staatlicher Seite vorgeworfen, vor allem ihren Töchtern ein zweifelhaft traditionelles Frauenbild zu vermitteln und dabei zugleich die gesellschaftliche Entwicklung im ideologischen als auch ökonomischen Sinne zu behindern. Die propagierte berufliche Emanzipation der DDR-Frauen war jedoch eine aus der Not geborene Tugend, denn unzweifelhaft bedeuteten die Frauen zunächst ein unabkömmliches Arbeitspotenzial für die Wirtschaft.99 Dieser Aspekt spielte vor allem für die Frauenpolitik der fünfziger und sechziger Jahre eine wichtige Rolle. Zu Beginn der siebziger Jahre aber veränderte sich die Situation, denn Frauenpolitik wurde nun als Familien- und Bevölkerungspolitik verstanden. Die Mehrbelastung der Frauen durch die Verflechtung von Mutterschaft und voller Berufstätigkeit hatte zu einem bevölkerungspoliti96

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98 99

„Beide Ehegatten tragen ihren Anteil bei der Erziehung und Pflege der Kinder und der Führung des Haushalts. Die Beziehungen der Ehegatten zueinander sind so zu gestalten, dass die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann.“ § 10 Abs. 1 FGB vom 20. Dezember 1965. In: Familiengesetzbuch der DDR, S. 16. Wie bspw. die abfällige Bemerkung die traditionelle Rolle als Hausfrau betreffend des Vernehmers von Frau Rose in der U-Haft des MfS beweist: „Na, jedenfalls fand ich diese Frage meines Vernehmers während der Stasi-U-Haft fand ich köstlich, als er mal sagte, »Also ganz eigenartig, Sie sind doch ... Woher nehmen Sie eigentlich Ihr Selbstbewusstsein, wo Sie doch eigentlich nur Hausfrau sind?« ((lacht)) Und das, dacht’ ich, das ist eigentlich ’n Kompliment.“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 18. Vgl. Gysi, Familienleben, S. 43 und 123. Zu dieser Einschätzung gelangt auch Frau Schuster: „Wissen Sie, wenn Sie die Geschichte der Frauen angucken, die Emanzipation der Frau wird immer dann gefördert, wenn se gebraucht wird. Gebraucht wird se immer in Kriegszeiten, wenn de Männer fehlen und gebraucht wird se, wenn de Arbeitskräfte fehlen, dann darfste alles. Und äh aber in der DDR, das hat mich eben gewundert, du darfst es nur in em gewissen Rahmen. Das war, wenn du genau hinguckst, vom gesellschaftspolitischen Standpunkt, eine Männergesellschaft. Die ham die Weiber nur bis zu einer gewissen Ebene kommen lassen, hatten ’n paar Schmuckstücke, die se da vorzeigen konnten. Die sich aus irgend’nem Grund da hoch katapultieren konnten, aber an SICH, fast alle Schaltstellen waren von Männern besetzt.“ V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 30 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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schen Dilemma geführt, was die rückläufigen Geburtenraten seit 1965 erkennen ließen. Diese Tatsache wirkte sich entsprechend katastrophal auf die Arbeitskräftebilanz aus. Aus diesem Grund reagierte der VIII. Parteitag 1972 folgerichtig mit Veränderungen in der Frauen- und Familienpolitik, die nun größere soziale Anreize für eine verstärkte, individuelle Familienplanung anbot.100 Frau Rose hingegen begibt sich aufgrund der offensichtlichen Verflechtung von beruflicher Selbstverwirklichung und obligatorischer Politisierung in die Rolle einer gesellschaftlichen Außenseiterin. Sie entkommt damit der Verlegenheit einer verordneten Emanzipation, die ihrer Meinung nach Emanzipation allein mit Berufstätigkeit gleichsetzte, das emotionale Element aber auszusparen suchte. Ein Konzept, das Mutterschaft zunächst biologisch definierte, nicht aber in der sozialen Funktion durchdeklinierte und aufgrund der einseitig auf die Frauen konzentrierten Gleichstellungspolitik großflächig scheitern sollte. Denn „[e]ine Diskussion über die Differenz zwischen Mann und Frau – ob nun im Beruf oder in der Familie – wurde nicht geführt und konnte somit kaum Eingang in das Bewusstsein der Frauen finden.“101 In diesem Zusammenhang offenbarte sich die Familienpolitik als jene, die sich in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie lediglich an die Frauen richtete und gleichzeitig den Begriff der Vaterschaft eliminierte. Die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung schien somit fortgesetzt. Die achtziger Jahre brachten diese Dimension innerhalb einer staatspolitischen Fürsprache für eine so genannte „neue Mütterlichkeit“ verstärkt zum Tragen.102 Dieses Plädoyer war „die logische Konsequenz der Entwicklung, die Honecker 1971 ein[ge]leitet und systematisch aus[ge]baut“103 hatte. Das favorisierte Modell von Berufstätigkeit und Mutterschaft mutierte letztendlich zu einer neuen Polarität in der Geschlechterordnung, die den Frauen ihre traditionelle geschlechtsspezifische Rolle in der Arbeitsteilung wie gehabt zuschrieb104. 100 101 102 103

Vgl. Schäfgen, Verdoppelung der Ungleichheit, S. 106–113. Kröplin, Selbstbild ostdeutscher Frauen, S. 190. Vgl. Helwig, Emanzipation und Familienpolitik, S. 897–900, Zitat S. 899. Diemer, Patriarchalismus, S. 78. Die sinkenden Geburtenzahlen, die zunächst auch seit dem nicht unproblematisch in der Volksvertretung aufgenommenen Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft (9. März 1972) immer noch stetig abnahmen, konnten letztendlich Mitte der siebziger Jahre erfolgreich aufgefangen werden. Seit 1975 war ein kontinuierlicher Anstieg dieser Zahlen, Anfang der Achtziger sogar ein verhaltener Babyboom zu verzeichnen. Nicht zuletzt war dies auf die sozialpolitischen Maßnahmen für Frauen, die auf die Bestimmungen den VIII. und XI. Parteitags rekurrierten, zurückzuführen. Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 282 f. 104 Dokument für diese Entwicklung ist bspw. die Äußerung der DDR-Autorin Gudrun Skulski in der Neuen Zeit vom 3.1.1987, der folgend eine Frau die Vereinbarung von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft in der DDR „mehr als ein Glück denn als eine Belastung [empfinde], weil die Rolle der Mutter in ihrem Inneren Saiten zum Klingen bringt, die erst den vollen Akkord der Persönlichkeit ausmachen. Wenn sie mit Rücksicht auf die Familie auf eine Leitungsfähigkeit verzichtet, tut sie’s aus eigener Überzeugung und aus Liebe zu Mann und Kindern.“ Zitiert in Helwig, Emanzipation und Familienpolitik, S. 899. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Diese Tendenzen, die eine von Männern gestaltete „neue Weiblichkeit“ postulierten und lediglich „mit den Verwertungsinteressen der SED an den weiblichen produktiven und reproduktiven Ressourcen“105 in Zusammenhang gebracht werden können, standen dabei im krassen Gegensatz zu den damaligen und heutigen Positionen der bundesrepublikanischen Frauenbewegung in der Tradition Beauvoirs, die im Sinne des Gleichheitsfeminismus, nicht biologisch, sondern sozial, ökonomisch und politisch argumentierte und die Machtfrage im Zusammenhang mit der Zuweisung der Geschlechterrollen stellte bzw. auch heute noch stellt. Sie wendete sich gegen ein Verständnis des Frauseins, wie es sich von nun an in der DDR präsentierte. Dieses nämlich verwies auf die Differenz der Geschlechter und nicht auf eine Gleichberechtigung im Sinne einer Gleichheit der Geschlechter. Die Betonung lag im Unterschied und seiner Umwertung, nicht aber in seiner Aufhebung. Im Sinne eines solchen Frauenverständnisses, das auch dazu neigt, Weiblichkeit und Mütterlichkeit auf traditionelle und typische Charakteristika hin zu idealisieren, erinnerte sich die DDRFrauenpolitik der achtziger Jahre an die Sozialistin und Differenzialistin Clara Zetkin, die fortan als historische Identifikationsfigur der „neuen Differenziertheit“106 und schon zuvor als Ikone der sozialistischen Frauenbewegung fungierte.107 Das Modell der neuen Frauen- und Familienpolitik aber konnte letzten Endes den Lebensumständen und –ansprüchen der Frauen in der DDR mehrheitlich nicht genügen. Die Gründe sind vielfältig und weit verzweigt. Die Einschätzung von Frau Rose, die von einer fehlenden emotionalen Emanzipation der Frauen in der DDR spricht, benennt sicherlich den zentralen und nachhaltigsten Grund. Er liegt in der Tatsache verborgen, dass erstens die Begrenzungen des politischen Systems in den öffentlichen Lebensbereichen, die individuelle Selbstverwirklichung außerhalb der privaten Sphäre unterliefe und zweitens die männliche Dominanz der SED-Führungselite trotz der geschaffenen Rahmenbedingungen den Frauen „eine gewaltige Anpassungsleistung abverlangte und weibliche Autonomie nicht duldete“.108 Ein augenfälliger quantitativer Aus105 Beide Zitate Diemer, Patriarchalismus, S. 81 f. 106 Dieser Begriff wird aufgenommen bei Diemer, „Ich bin Sekretärin ...“, S. 125. 107 Vgl. bspw. Zetkin, Nur mit der proletarischen Frau ..., v. a. S. 108 und 111. Dennoch: Im Gegensatz zum offiziellen Frauenbild des DDR-Systems sah Zetkin nicht allein in der Verbindung von Mutterschaft und Berufstätigkeit der Frauen das zu erreichende Ziel, sondern dies war grundlegende Voraussetzung für eine „volle Emanzipation“ der Frauen, die sich ihrer sozialen und persönlichen Abhängigkeiten vom Patriarchalismus (und des Kapitalismus!) so erst bewusst werden und sich daraus befreien könnten: „Die neue Rolle der Frau bewirkt ihre ökonomische Unabhängigkeit vom Manne, versetzt damit dessen politischer und gesellschaftlicher Vormundschaft über das Weib den Todesstoß. [...] Die Frage der vollen Emanzipation der Frau erweist sich also in letzter und entscheidender Instanz als eine ökonomische Frage, die im innigsten Zusammenhang mit der Arbeiterfrage überhaupt steht und nur im Zusammenhang mit ihr endgültig gelöst werden kann.“ Zetkin, Arbeiterinnen- und Frauenfrage, S. 39. 108 Bergmann, Ost- und Westfrauen, S. 179. Auf diesen Punkt weist v. a. auch Frau Schuster hin; vgl. erneut V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 30 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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druck dieses verfehlten frauenpolitischen Konzepts ist die hohe Scheidungsrate in der DDR gewesen, die im Weltvergleich an fünfter Stelle rangierte.109 In den Genuss staatlich finanzieller Förderung kam auch Frau Seestern. Aufgrund der Internierung ihres Vaters im KZ Buchenwald und seiner späteren Anerkennung als Opfer des Faschismus erfuhr auch sie staatliche Wiedergutmachung innerhalb der Gewährung eines Studienstipendiums. Sie gehörte damit zu jenen Frauen, die mit staatlich stipendialer Förderung ein Studium aufnehmen konnte und die später als Diplom-Ökonomin in der DDR in Vollzeit erwerbstätig wurde.110 Selbstverständlich nahm sie auch deswegen das staatliche Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen in Anspruch. Sie berichtet in diesem Zusammenhang von der Erfahrung, wie ihr die Erziehung ihrer eigenen Kinder durch die staatlichen Kindergärten „aus der Hand“ zu gleiten drohte. Am folgenden Beispiel wird dies zudem in einem Nebenaspekt deutlich: Bereits im Kindergarten versuchte man die zukünftigen Vertreter des internationalen sportlichen ‚Klassenkampfs‘ ausfindig zu machen. Die Selektierung möglicher LeistungssportlerInnen fand ohne Wissen der Eltern statt und brachte die politische Dimension bereits auf diese Weise in die Kinderstuben. „Grade auch mit den Kindern, dann im Kindergarten, wenn das eben so losgeht, wo du so merkst, sie nehmen dir die Erziehung aus der Hand, die werden ja auch im Kindergarten schon politisch äh eigentlich da, politisch agitiert. Und ’n weiterer— Baustein war ja auch, als meine Tochter nach Hause kam mit vier Jahren aus ’m Kindergarten und sagte, gut, ’s war am Anfang ’n bisschen lustig, sagt se, »Och, heute war ’n Mann da und da mussten wir alle ’n Rock hochheben, aber nur die Mädchen.« Und »Wir sind aber alle zu dick.« [...] So, da hab’ ich mich da mal erkundigt, und da gehen die aber in die Kindergärten ... Die suchen Leistungssportler, also Nachwuchs für Leistungssport, und da gibt’ s wohl bestimmte Kriterien, was weiß ich, wie groß die sind und wie der Oberschenkel is’, Umfang. Und dann sind das also welche, die eventuell in die äh Gruppe kommen, die zu Spitzensportlern herangezogen werden KÖNNTEN, weil sie eben die Maße haben für das und das.“111

Eine mögliche Politisierung ihrer beiden Kinder in den Erziehungs- und Bildungsanstalten kann auch Frau Rose ab dem Zeitpunkt der Schulpflichtigkeit nicht mehr ausschließen. Problematisch gestaltet sich hier jedoch die nun auftretende Differenz des elterlichen politischen Denkens gegenüber den offiziell vermittelten Leitthesen des Sozialismus in der Schule. Die Kinder geraten in eine ähnliche Situation wie sie Frau Rose bereits in der Zeit des Nationalsozialismus bzw. der SBZ als Heranwachsende erleben musste. Auch ihre Kinder müssen die Spannung des politisch schizophrenen Denkens aushalten, um sich in das System einordnen zu können; hier insbesondere um eine ‚elitäre‘ Schule besuchen zu können. Selbst ihre religiöse Bindung können sie nicht ohne öffentliche Diskriminierung im Klassenverband bekennen. Ein Grund mehr für 109 Vgl. Neef, Frauen im Spannungsfeld, S. 263. 110 Vgl. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 25 f. 111 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 24 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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die Eltern, ihren Kindern diese Form des ambivalenten Aufwachsens und die Unfreiheit der Meinungsbildung und Religionsausübung nicht länger zuzumuten. „[...] unsere Kinder kriegten Schulprobleme, also unser Sohn zumindestens, der ging auf diese ‘Russisch Erweiterte Oberschule’ und hatte im Klassenbuch hinter seinem Namen ein Sternchen mit zehn anderen Kindern zusammen, die auch alle noch christlich eingebunden waren und äh zur Christenlehre gingen. Und äh mir sagte die Klassenlehrerin, dass diese Schulen ja schließlich, also wie überhaupt unser Sohn dazu käme auf diese Schule zu gehen, denn diese Schule würde doch die Kader des Staates ausbilden und für Christen gäb’ ’s doch schließlich noch andere Schulen. Und, na ja und dann hat die Klassenlehrerin auch eines Tages mal so angeblich anonyme Fragen gestellt, was die Kinder außerhalb der Schule für Hobbys haben und äh Beschäftigungen. Und das hat unser Sohn uns zu Hause gar nicht gesagt, denn da hätte ich schon dann auch gesagt, »Du pass mal auf, schreib’ mal lieber an erster Stelle jetzt Mathematikzirkel. Das machste ja schließlich, oder=oder Junge Pioniere, das sieht besser aus als ...« NEIN, ER hat das alleine gemacht und war auch schon so in unserem Trend drin ähm auf Protest zu gehen und hatte also oben hingeschrieben, äh Christenlehre, Jungschar, Jungschar war auch etwas von der Kirche, wo sie zusammen Bücher lasen oder mal Nachtwanderungen oder irgendwie etwas unternahmen, ähm dann Kurrende, das war der Kinderkirchenchor, also drei Sachen für die Kirche und dann hat er nur Mathematikzirkel hingeschrieben und Junge Pioniere hat er vergessen. Ja, da war er zehn Jahre und so, dann hat sie IHN vorgeholt in der, also er war wohl äh prädestiniert ihn nach vorne zu holen und die Kinder zu fragen, ähm was sie sich wohl vorstellen, nein, erst hat sie ihn gefragt, was er wohl werden wollte. Und dann hat er gesagt, dass er das noch nicht wüsste und dann hat se gesagt, »Aber ich kann mir ’s schon denken, was du mal wirst. Du wirst bestimmt mal Pastor. Wisst ihr denn überhaupt, was ein Pastor ist?« Und dann haben die Kinder gesagt, ja— und nein und was weiß ich, »Also äh ein Pastor, der will anderen Menschen beibringen, dass es einen Gott gibt.«“112

Diese Erfahrungen lösen bei den Kindern der Familie Rose starke Frustrationen aus. Von den Eltern in einem Bewusstsein gegen den Staat und als bekennende Christen sozialisiert, werden sie nun in der schulischen Gemeinschaft von den LehrerInnen öffentlich zu Außenseitern stilisiert. Die Verantwortlichkeit gegenüber den Kindern, die nicht zu funktionierenden sozialistischen Persönlichkeiten erwachsen sind, fordert zu geradlinigem Handeln auf. Da eine grundlegende Chancenlosigkeit im Staatssozialismus festzustehen scheint, müssen sich die Eltern die Frage stellen, inwieweit die Beeinflussung ihrer politischen Wertmaßstäbe auf das zukünftige Leben der Kinder im System der DDR noch tragbar ist: »Dürfen wir das überhaupt, dass wir unsere Kinder, dass sie einfach in diesem Einfluss sind? Was soll mal aus ihnen werden, wenn wir da drüben bleiben?«113 Die Überlegungen um die Dimensionen der ideologisierenden Erziehung einerseits und der Auswirkungen einer konsequenten Ablehnung des DDR-Sozialismus auf die Kinder andererseits sollen bei Familie Rose wie auch bei Familie Seestern zu einem ausschlaggebenden Moment bei der Entscheidung für eine Flucht werden. 112 113

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 12 f. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 13. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Aspekte zur Entfaltung individueller Freiheit und Persönlichkeit – „Mauerbau“ als zentrales psychologisches Moment: Ein wichtiger Komplex der besonderen Alltagswahrnehmung spielt für diesen Typus eine signifikante und dominante Rolle, nämlich das Datum des 13. August 1961. Auch bei den Personen des Typus II wird seine Bedeutung nachgewiesen werden. Er gelangt in die nähere Betrachtung, weil er hier eine besondere Relevanz für die kompromisslose Absage an Staat und System zu spielen scheint.114 Die Erzählungen dieses Erlebnisses überzeugen durch ihre unmittelbare Authentizität, mit welcher sie die damalige politische und gesellschaftliche Situation zu beschreiben suchen und lassen sich somit auch nahtlos mit den Aktualisierungen im kollektiven Gedächtnis zusammenfügen. Die relative Häufigkeit des Auftretens dieses Komplexes innerhalb des Typus hat ebenso eine generationsspezifische Grundlage, denn nahezu alle Personen des Typus sind zu dieser Zeit bereits junge Erwachsene, die schon damals durch ein hohes Maß an Interesse für die politischen Ereignisse ihrer Zeit sensibilisiert waren. Die Erzählungen zum Komplex des Mauerbaus tauchen stets in direkter Kombination mit den Überlegungen zu den wesentlichen Motiven, die ein Verlassen der DDR auslösten, auf. Sie stehen auf diese Weise in enger Verbindung mit dem Komplex des eigenen Anspruchs auf freiheitliche Entfaltung der Persönlichkeit im übergeordneten Sinn; hier werden sie von der konkret fassbaren räumlichen Begrenzung von individueller Freiheit auf eine abstraktere Ebene übertragen: „Vor allem dieses, dieses Eingesperrtsein in ’n Land. Das kann sich ja kaum irgendjemand vorstellen.“115 Die bereits im vorausgehenden Kapitel 6.1.1 beschriebene Situation einer gesellschaftlichen Quarantänesituation wurde nun Wirklichkeit. Denn die bis dato gültige letzte Option, im Ernstfall zu flüchten, das heißt bei einer möglichen Konfrontation oder einer weiteren Verschlechterung der Zustände durch „die Hintertüre“ Berlin zu entkommen, wurde nun endgültig besiegelt. Zum anderen begrub der Bau der Mauer 1961 die noch in vielen Köpfen bestehende Hoffnung auf eine Lösung der offenen deutschen Frage. Man rechnete von nun an damit, dass die Umstände einer deutschen Teilung von lebensbegleitender Dauer sein würden.116 Die beschriebene gesellschaftliche Schocksituation und das Gefühl einer zivilen Abgeschlossenheit werden in den Äußerungen ebenso deutlich wie gleichzeitig erste Überlegungen einen Weg aus der DDR zu finden. Das erste Zitat in diesem Kontext belegt zunächst aber die empfundene Ohnmacht gegenüber dem staatlich vollzogenen Fait accompli im August 1961: 114

115 116

Auf die immense Bedeutung des Mauerbaus im kollektiven Bewusstsein der DDR-BürgerInnen verweist auch Major. Er gelangt ebenfalls zu der Aussage, dass diejenige Generation, welche das historische Ereignis persönlich erlebte, es bisweilen als „traumatischen Trennungsprozess“ beschreibt. Jüngere Ex-DDR-BürgerInnen hingegen sehen mit einer gewissen Widerwilligkeit in der Mauer ein Symbol des DDR-Staates, das die Situation des Lebens darin widerspiegeln konnte. Vgl. Major, Vor und nach dem 13. August 1961, Zitat S. 354. V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 18. Vgl. dazu auch Typus II, Kap. 6.2.1, die zitierte Äußerung von Herrn Spengler, V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Da biste, da warste sprachlos. Warst TOTAL sprachlos, eigentlich fassungslos. [...] Und äh dann plötzlich sagen die dir, du darfst da nicht mehr hin und her. Na ja Gott, wenn de in Sachsen bist, ist das dir nicht SO äh hautnah oder so, betrifft ’s dich nicht unbedingt so. Aber die Tatsache, dass jetzt ’ne TÜR, die du eigentlich gar ni’ immer, nur ab und zu, aber gelegentlich oder wenn überhaupt benutzt hast, dass die jetzt plötzlich zugeschlagen ist, auch wenn du gar nich’ vorhattest, die zu benutzen, das is’ ’n schreckliches Gefühl.“117 Daraufhin aber schildert Frau Schuster ihre grundlegende Einstellung zur DDR, ihre Heimatlosigkeit im System und die Unbedingtheit des Willens, die DDR zu verlassen. Strategien für mögliche Fluchtmöglichkeiten werden ausgelotet, wobei der Aspekt der familiären Hilfestellung und Zusammenführung eine große Rolle spielt. Die Suche nach einem Weg durch die erstarrten Fronten bestimmt von nun an ihre langfristige Lebensplanung; den Weg über eine Inhaftierung schließt sie jedoch aus. Letztendlich findet sie in ihrem zukünftigen Ehemann einen Seelenverwandten, gemeinsam planen sie ihre Flucht aus der DDR. „Meine politische Heimat war die DDR sowieso nie. [...] Nja und irgendwie hat man ja doch die ganze Unmöglichkeit in den Angelegenheiten gemerkt. Hach ((seufzend)), wann ich jetzt gesagt hab’, ich will weg, eigentlich wollt’ ich schon immer weg. Aber nja denn fielen ja nun erst mal sämtliche Schranken und oder gingen ja alle zu, ne, und dann kam ja, bis Ende ’70 war ja eigentlich überhaupt nichts zu machen. Da war ja alles auf Eis, da durfte ja ooch keiner besuchen kommen oder ganz äh, unter beschwerten Bedingungen dann, war schon schrecklich. Davon GEHÖRT, dass man raus kann, hab’ ich eigentlich schon ’68, ’69, nee schon Mitte ’60. Da hatten wir Besuch aus Westdeutschland und da sagten die mir schon, dass sie jemanden kannten, der also aus DDR-Gefängnissen rausgekauft worden ist. Das wäre für mich kein Weg gewesen, aber ich wusste also, es gibt immerhin noch ’ne Tür. [...] Und kurz vorher hatt’ ich meinen Mann kennen gelernt und— DER HATTE AUCH AMBITIONEN zu gehen und dann war die Sache natürlich viel hübscher. Und von da an haben wir eigentlich kontinuierlich auf das Ziel hingearbeitet, die DDR zu verlassen. Da kamen noch viele Punkte hinzu, weshalb ich mich entschlossen habe, so also, so konnt’ ich einfach nicht weiterleben.“118

Die Erzählung von Frau Rose lässt zugleich die Interpretation zu, dass gerade und wegen der Ereignisse des 13. August 1961 ein konsequentes Verfolgen des Wunsches die DDR zu verlassen, erst endgültig verstärkt wurde. Der Bestand der SED-Diktatur schien – zieht man auch das Agieren der westlichen Mächte mit in Betracht – nicht mehr in Frage gestellt werden zu können. Bemerkenswert an ihren Schilderungen ist die Erfahrung zuvor erlebter persönlicher Freiheit bei einer Reise nach Westdeutschland und Paris. Die vorenthaltene Freiheit wird dadurch in einer noch gravierenderen Dimension erlebt. Der Wunsch in diesen euphorisierenden Momenten einen Hilferuf an die westlichen Machthabenden zu senden, zeugt von einer unaussprechlichen Sehnsucht nach dieser: „Also Paris im Festschmuck, überall wehte die Trikolore, wir haben Ken117 118

V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 4 f. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 5 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nedy aus drei Meter Entfernung im offenen Wagen gesehen und am liebsten hätten wir ihm zugerufen, »Wir sind aus der DDR nur mal kurz rausgekommen.«“119 Der in unmittelbarer Reichweite liegende „Hauch von Freiheit“ und die genährte Hoffnung, diese möglicherweise schon bald in ihrer Gesamtheit zu erfahren, beschreibt Frau Rose in besonderer Authentizität. Auch aus diesem Grunde ist das folgende Zitat in seiner Ausführlichkeit gewählt, zuvorderst aber weil sie hier in unterschiedlichen Facetten die freiheitlichen Momente der westlichen Gesellschaft genauestens, verbunden mit ihren innersten Sehnsüchten, abbildet. Momente, die in ihrer heutigen Selbstverständlichkeit seitens einer westlichen Betrachtungsweise kaum auffällig wirken würden, hier aber nahezu in jedem Detail – sei es die unkomplizierte Ausstellung des westdeutschen Passes im Verhältnis zum jahrelangen Warten auf einen Interzonenpass oder die Schönheit und Ästhetik der Stadt Paris gegenüber der Tristesse ostdeutscher Städte – das psychologische Moment dieser jahrelangen Entbehrungen erfassen und das tiefe Verlangen nach Freiheit sinnfällig zum Ausdruck bringen. „Also die Enttäuschung kann man eigentlich erst erfassen, wenn man auch ein bisschen Vorgeschichte weiß. Also erwähnt hab’ ich, dass mein Vater ’58 abgehauen ist. Ich hab’ dann jahrelang äh immer wieder Anträge gestellt auf Interzonenpass, um ihn mal besuchen zu können. Das ist mir immer abgelehnt worden. Und äh vor dem, vor ’61, zu Pfingsten hab’ ich zum ersten Mal ’ne Genehmigung gekriegt und konnte nach dem Westen, mit meinem Mann zusammen mit ’m Auto eine Westreise machen. [...] Also eine TOLLE Reise gemacht und dann kamen wir zu meinem Vetter nach [Ortsname]. und damals SCHWELGTE Westdeutschland in der Euphorie der offenen Grenzen, dass man KAUM noch kontrolliert wird. Und sagte also, »Wenn=also Ihr müsst doch ’nen richtigen Eindruck bekommen hier von der Bundesrepublik und also wir müssen mit euch ins Ausland, damit Ihr mal seht wie FREI das jetzt hier ist und so weiter.« Und der ist auch Mediziner der sagte dann, »Du, das geht ganz schnell«, hat er zu meinem Mann gesagt, »wir äh ich besorge dir einen westdeutschen Pass äh und wir fahren zu einer Tagung nach Paris, zu einer medizinischen Tagung nach Paris und machen uns da eine paar schöne ... Und das müsst ihr erleben.« Also es ging auch innerhalb eines Tages, dass wir uns haben fotografieren lassen, es wurde ’n Pass ausgestellt, rein in das schöne Auto und äh dann sind wir hin so über Belgien nach Paris gefahren und kamen grad in die Zeit rein, wo Kennedy in Paris De Gaulle besuchte, bevor er in Wien Chruschtschow traf. Und wo die Mauer bereits besprochen wurde, festgelegt wurde, dass ’ne Mauer gebaut wird. Also Paris im Festschmuck, überall wehte die Trikolore, wir haben Kennedy aus drei Meter Entfernung im offenen Wagen gesehen und am liebsten hätten wir ihm zugerufen, »Wir sind aus der DDR nur mal kurz rausgekommen.« ((lacht)) Hach, also es war also wirklich ein Hauch von Freiheit, das war wirklich, was man so überhaupt an Höhepunkten erleben kann in Europa. [...] Na ja, jedenfalls äh haben wir da beschlossen, dass wir auf jeden Fall abhauen müssen, so schnell wie möglich, das war ’ne Zeit kurz vor der Mauer ...“120

Die politischen Entscheidungen der zweiten Berlinkrise aber sollten sich negativ auf die Pläne der Familie Rose auswirken. Wie Frau Rose bereits andeutete, 119 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 10 f. 120 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 10 f.; die beiden vorausgehenden Zitate ebenfalls. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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machte US-Präsident John F. Kennedy nach seinen Treffen mit dem Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Nikita S. Chruschtschow in Wien im Juli 1961 innerhalb seiner „three essentials“121 die amerikanische Position zu Berlin unmissverständlich deutlich und erteilte insofern ‚grünes Licht‘ für die Abstimmung der Ersten Sekretäre der kommunistischen Führungsparteien, die Anfang August in Moskau ihre Zustimmung zum Bau des „Antifaschistischen Schutzwalls“ gaben.122 Jegliche Hoffnung auf eine ‚illegale‘ Übersiedlung über Westberlin in die Bundesrepublik schien am Morgen des 13. August von einer Minute auf die andere begraben. „Aber wir mussten eben noch mal zurück. Wir mussten eben erst mal den Jungen holen und zweitens eben auch ’n bisschen vorbereiten. Und warteten eigentlich auf diesen Absprung. Und dann war=kam ein Sonntag Vormittag ((lachend)), es war ’n Sonntag. In den Nachrichten wurde gesagt, dass Berlin zugemacht ist. Dass die also, natürlich konnte man so ’n bisschen ahnen, aber man konnte sich ’s nicht vorstellen. Und dass es so plötzlich kam, das hat uns schon überrascht und dann äh war es halt passiert. Dann war das mit ’m Kind für uns eigentlich unvorstellbar noch raus zu kommen. Na ja, so war das ja, das war ’n Schock, war ein großer Schock und für äh mich eben ein besonderer Schock, weil in meinem Unterbewusstsein eben immer noch der Satz drin war, »Du brauchst doch NUR mal für EIN Jahr nach Hause zu kommen, du kannst doch zu jeder Zeit wieder nach ’m Westen.« Das zu JEDER ZEIT war nun endgültig vorbei. Na ja, jedenfalls äh kamen denn zur [...] Messe wiederum die vielen Klassenkameraden von meinem Mann und wir ham=führen immer Gästebuch [...] und der eine Klassenkamerad, der schrieb damals rein, »Erst wart ihr auf der Place Pigalle, jetzt sitzt ihr in der Mausefalle. Wir werden dafür sorgen, dass euch wenigstens der Speck nich’ ausgeht.« Das hat er reingeschrieben. ((lacht)) Ja, das is’ es eigentlich. Das war ’n ganz furchtbarer Schock.“123

Für Frau Rose wird die Endgültigkeit der Situation doppelt greifbar, im Kontrast zur empfundenen Freiheit während der Parisreise und in der Erinnerung an das Versprechen der Eltern, als diese sie aus dem niedersächsischen Internat lediglich für eine Zeit in die DDR holten. Die Zukunftslosigkeit der Umsetzung persönlicher und beruflicher Lebensziele und die Beraubung menschlicher Grundrechte in einer gesellschaftlichen Quarantänesituation sind ebenso für Frau Wetzel schwerwiegende Erfahrungen, die ihr eine freiheitliche Lebensgestaltung und Bildung ihrer Persönlichkeit versagen. Sie werden auch für sie zum entscheidenden Grund Heimat und Familie im Alleingang, bereits im Alter von 21 Jahren, zu verlassen: „Also ich 121

Kennedy formulierte in seiner am 25. Juli 1961 ausgestrahlten Rundfunk- und Fernsehrede die so genannten „three essentials“ für Westberlin. Diese beinhalteten: 1. die Garantie „einer Anwesenheit westlicher Truppen in Berlin, das keine Statusveränderung erfahren dürfe, zweitens den freien Zugang von und nach Berlin, drittens die Freiheit und Lebensfähigkeit der Stadt.“ Infolge dieser defensiven Strategie Kennedys waren bei einer möglichen Abriegelung Ostberlins durch die DDR die Interessenssphären der USA nicht tangiert. Lemke, Berlinkrise, S. 161. 122 Vgl. zu den nationalen und internationalen Entscheidungsprozessen im direkten Vorfeld des Mauerbaus, Lemke, Berlinkrise, S. 161–169. 123 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 11 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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hab’ eigentlich schon bestimmt seit meinem fünfzehnten oder sechzehnten Lebensjahr gedacht, dass ich aus der DDR raus will. Weil ich für mich dort überhaupt keene Zukunft gesehen hab’ und weil überhaupt keene Freiheit, keene persönliche Freiheit vorhanden war.“124 Aus dem damalig erkennbaren Handlungshorizont und der unbeirrbaren Absage an das politische System blieb für die vorgestellten ZeitzeugInnen vorerst keine Alternative als der DDR den Rücken zu kehren, denn „der Bau der Mauer erhöhte den Druck sich zu arrangieren“125, innere Opposition bzw. Veränderungen im humanitären Sinne hatten zunächst keine Perspektive. Die Zeichen, so sollte sich für die Personen dieses Typus zeigen, standen dauerhaft auf Flucht bzw. Ausreise.

6.1.2.2 Wahrnehmung überwachungsstaatlicher Strukturen In den Erscheinungsformen gesellschaftlicher Beherrschung und Kontrolle, die nicht unmittelbar greifbar und öffentlich erscheinen, sind für die DDR verschiedene Mechanismen zu unterscheiden. Die Äußerungen der ZeitzeugInnen in diesem Zusammenhang gliedern sich in drei Aspekte, die in der Intensität ihrer Alltagserfahrung differenzierte Grade einer Steigerung in der Wahrnehmung und der Konfrontation aufweisen. Zunächst kann man von einem gezeichneten Bild des gesellschaftlichen Misstrauens sprechen. Wie bereits dargelegt, bezog sich diese Alltagserfahrung in ihrer Konzentration nicht monolithisch auf das MfS, sondern es entsprach der Erfahrung, dass seine Wirkung auch innerhalb der Parteien, den Massenorganisationen, im Berufsalltag und den einzelnen Erziehungs-, Bildungs- und allen anderen Sozialisationsinstanzen aufzugehen vermochte. Kontrolle als gesellschaftliches Phänomen – Kollektives Misstrauen: In der rückwärtsgewandten Analyse erläutert Frau Schuster die Charakteristika einer DDR-Gesellschaft, die eine unbewusste Einbindung in die Technologien der Überwachung erfuhr, diese erst durch das Mitwirken aller gegen alle ermöglichte, ihrer Funktionen aber selten gewahr wurde bzw. sie nicht hinterfragte. Sie zeigt die aus ihrer Sicht fast unvermeidliche Integration des Einzelnen in die Netzwerke der Kontrolle. Das Beispiel der Hausversammlungen, die in Hausgemeinschaften mit mehreren Parteien stattfanden, zeigt schließlich an, dass selbst im privatesten Lebensbereich die Alltäglichkeiten von Wohnsituation oder Abfallbeseitigung in Verbindung mit dem Klassenstandpunkt und politischen Themen der Zeit Äußerung fanden.126

124 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 1. 125 Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 182. 126 Vgl. näher zum Phänomen ‚Kollektive Hausgemeinschaft‘ als zentrale Kategorie des Gesellschaftsmodells: Tippach-Schneider, „Blumen für die Hausgemeinschaft“. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Was die Leute denken, was in den Brigadeversammlungen besprochen wird und in den Hausversammlungen, wo auch immer gesprochen wurde, das wurde ja alles gesammelt. Ob du da nun ... (2) Du HAST MITGEMACHT. Du hast niemanden bewusst hingehängt, also so is’ es ni’. Aber du hast gesagt, in dieser ... »Also insgesamt ist die Stimmung so.« Also mit Namen und Adresse haben wir eigentlich ni’ gearbeitet, aber wie, »Da is’ das zustimmend oder ni’. Ja, da gab ’s sogar Ablehnungen. Ja und warum?« Da haste gesagt aus welchem Grund und so weiter. Aber so an sich diese Informationssammlungen haste schon irgendwie bewusst und unbewusst abgegeben. Alle.“127

In das Missverhältnis zwischen tatsächlicher Meinung und äußerlichen Verhaltensweisen gerät auch Frau Rose. Vor dem Hintergrund zu erwartender disziplinierender Maßnahmen bedeuteten die Preisgabe von Kritik oder geringe Abweichungen vom Klassenstandpunkt im entsprechenden Umfeld einen ständigen Drahtseilakt zwischen notwendiger Anpassung und gebotener Distanz. Aus diesem inneren Widerspruch resultierte wie im Folgenden nachgezeichnet wird, das wiederholt benannte Phänomen einer inneren Bewusstseinsspaltung, das Gefühl „nie RICHTIG AKTIV“ zu leben, produziert aus einem permanenten Misstrauen gegenüber der umgebenden Umwelt und einer immanenten Angst sich und seinen Angehörigen zu schaden: „Und äh ich hab’ da also wahnsinnig gelitten, auch wenn ich mit in der Klinik oder irgendwie mit Kollegen von der Klinik traf und hab’ dann hinterher wieder erfahren, dass die alle hohe Funktionäre sind in der Partei [...] Also eigentlich Kollegen, aber eben hohe Funktionäre. Ach, da hab’ ich dann hinterher im Bett gelegen und gegrübelt, »Was haste, was haste da jetzt alles erzählt?« Und ich wollte ja nun meinen Familienangehörigen nicht schaden. Also für mich war die, ich hab’ eigentlich nie RICHTIG AKTIV in der DDR gelebt. Ich hab’ mich da nie zugehörig gefühlt, das war furchtbar.“128 Das Misstrauen, so konstatieren Frau Rose und Frau Seestern zugleich, äußerte sich als charakteristischer Zug der DDR-Gesellschaft, als ein übergeordnetes Merkmal diktatorischer Zustände, das dem sozialen und emotionalen Grundbedürfnis nach Aufrichtigkeit und Vertrauen konträr zuwider lief. „[D]as Misstrauen, der Verrat und die Heimlichkeit [wurden] zu einer der wesentlichen Kräfte des Staatsaufbaus gemacht [...], und zwar durch den Einbruch, ja das systematische Einbringen dieser negativen Anthropologie in das Alltagsleben, vor allem in die Vertrauen erfordernden Alltagsbeziehungen der Menschen untereinander.“129 127 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 1 f. 128 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 13 f. 129 Moser, Vorsicht Berührung, S. 240 f. Vgl. dazu auch die Aussage von Frau Rose:„Und dann sind wir noch nach [Ortsname] gezogen, was für uns ’ne WAHNSINNIG wichtige Erfahrung war, wie schwer es ist innerhalb der DDR umzuziehen, da schminkt man sich diese ganzen PHANTASIEN von Zusammenhalten und die äh äh besseren Bürger Deutschlands ab, da ist man eben eigentlich allem Fremden ausgesetzt und auch dem ganzen Misstrauen, was zu einer Diktatur gehört. Ich muss da bleiben, wo ich geboren bin, da kenne ich die Leute und diese=diese Strukturen, dieses Kennen von Geburt an, das ist so verkrustet, dass da Fremde KEINE Chance haben reinzukommen.“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Frau Rose verweist in diesem Kontext ebenso auf Probleme im fortschreitenden Transformationsprozess, der vor allem zu Beginn von der Entladung unterdrückter Fremdenfeindlichkeit und vom neu aufflammenden Rechtsextremismus begleitet wurde. Die Ursachen für diese Haltungen in der ostdeutschen Gesellschaft sind in der heutigen Diskussion umstritten und noch ungenügend aufgearbeitet. Die Annahmen reichen von der so genannten „Töpfchenthese“ Pfeiffers130 über konkrete Anlehnungen an den autoritären Charakter Adornos im Sinne des „autoritären Syndroms“131 bis zu Deutungen, die darauf hinweisen, dass man es hier mit einer allgemein subjektiven Verarbeitungsweise gesellschaftlicher Umbrüche zu tun habe, die nicht ausschließlich auf DDR-spezifische Ursachen zurückzuführen sei.132 Erste Anzeichen dieser Ausformungen sind jedenfalls nicht erst mit dem Ende der DDR aufgebrochen und wahrnehmbar geworden, sondern erscheinen hier bisweilen als bereits dem System vor 1989 immanente Elemente. Einen weiteren, möglichen Grund für die Entstehung dieses Phänomens – der das primäre Erklärungsmodell, das auf die Permanenz der Überwachung in diktatorischen Systemen rekurriert, um eine Varianz ergänzt – liefert Frau Schuster in ihren Überlegungen zur erfahrenen Diskrepanz der Ideale einer Gesellschaft in Gleichheit und den tatsächlichen Realitäten einer Elitenbildung, die lediglich von Machtgier und Bereicherung gekennzeichnet war, nicht aber von einer Avantgarde der Arbeiterklasse, die in der Fortführung des Klassenkampfes das Denken im marxistischen Sinne vorantreibt und keiner Kontrolle des Proletariats bedarf. Dieser Konsens, der sich aus dem ideologischen Verständnis legitimierte und innerhalb des geschaffenen Menschenbildes festgelegt war, wurde von der machthabenden Führungselite bis zur Unkenntlichkeit parodiert. „Und dann siehste dann eben diese ganze Verlogenheit und diese Falschheit. Und vor allem in der DDR war es ja so, du wurdest in bestimmte Eliten ein__ äh geordnet. Und wenn de zu denen gehörtest, egal zu welcher, ob nun zur Intelligenz oder von mir aus hier zu den Wismut-Leuten oder zu was weiß ich zu wem allem, Stahlarbeiter, die waV-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 5. Eben solche Erfahrungen des Misstrauens im engen Freundeskreis schildert Frau Seestern, V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 2 f. 130 Christian Pfeiffer, Anleitung zum Hass. In: Der Spiegel, 12 (1999). Pfeiffer versucht darin die Entstehung fremdenfeindlicher Tendenzen ostdeutscher Jugendlicher mit der frühkindlichen „autoritären Gruppenerziehung“ in staatlichen Kinderkrippen und Kindergärten zu erklären. 131 Adorno, Autoritärer Charakter, S. 322–327. Vgl. bspw. die Aufnahme dieser Dispositionen menschlichen Verhaltens bei Clemenz, „Wir können nicht besser klagen“. 132 Vgl. Reif-Spirek, Rechtsextremismus, S. 32. Interessant sind ebenso die Äußerungen Heinrich August Winklers in einer Diskussionsrunde bezüglich dieses Themas. Er verweist darin auf die Jahrhunderte währende Prägung der hier ansässigen Menschen durch die „ostelbische Gutsabhängigkeit“, die „bis zu einem gewissen Grad“ in einen langfristigen Entwicklungsprozess eingeordnet, noch heute Auswirkungen auf Erscheinungsformen des rechtsradikalen Phänomens in den neuen Bundesländern vermuten ließe. Vgl. Zehn Jahre deutsche Einheit, S. 90. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ren dann auch immer so groß, denen ging ’s dann immer ’n bisschen besser. Und wenn de zu denen da gehörtest, »Hah—« ((bestaunend)), wie angenehm war das denn, denn da hatteste noch kleine Vergünstigungen, die die anderen dann ja dann NICHT mehr hatten. Und da haste dann ... Dort war der Standesdünkel DERARTIG ausgeprägt. Na da haste dann auf die anderen da runder geguckt [...].“133

Die Verlogenheit in den staatlichen Führungsschichten aber blieb der Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht verborgen, einerseits brachte sie diese unter einen ständigen Legitimationsdruck, andererseits gab sie sich damit selbst unbeschränkte Vollmacht einem ‚Lernen am Modell‘ nachzugeben, das heißt die vorgelebte Unaufrichtigkeit der staatlichen Autoritäten zu imitieren. Pointiert bedeutete dies, dass letztendlich jeder jedem misstraute, wenn er von seiner eigens gelebten Bewusstseinsspaltung auf die des anderen schloss. Dieses kollektive Misstrauen übertrug sich sowohl auf die öffentlichen als auch privaten Lebensbereiche der Gesellschaft. Wer einer janusköpfigen Situation wie dieser aufgrund seiner gebildeten Werte von geistiger Unabhängigkeit und sozialer Selbstorganisation nicht entsprechen konnte, fühlte sich letztendlich gezwungen – dies trifft für die Personen dieses Typus zu – in die Defensive auszuweichen: „Nee, ich hab’ dann ähm, wie gesagt, ähm, was mich gestört hat und weshalb ich dann eben auch an und für sich auch weg bin, dass du eben doch immer irgendwo zwei Gesichter hattest. Du gingst auf Arbeit und da zogst de dir ’n Mantel an oder ’n Kittel oder ’ne Haut und dann warst du das äh funktionierende Geschöpf, das zwar ’ne große Klappe hatte und auch ’ne eigene Meinung sich irgendwo noch erkämpft hat, aber im Großen und Ganzen doch staatskonform funktionierte. Das kannste nun drehen und wenden wie de willst.“134 Vorstellungen von und Vorerfahrungen mit überwachungsstaatlichen Mechanismen: Eine konkret auf das Ministerium für Staatssicherheit angelegte Verknüpfung von politischem System und Kontroll- und Überwachungsstrukturen ist bei den Personen des Typus vor der eigentlichen Konfrontation lediglich in einer sehr diffusen Form auszumachen. Es besteht bei einem Großteil das Bewusstsein einer staatlichen Instanz von Überwachung, sie wird aber nicht als konkret bedrohlich empfunden und kann weder spezifisch lokalisiert noch definiert werden. Die in der Psychoanalyse der Wendezeit nachträglich beschriebene Dimension einer allgegenwärtigen „latenten Angst“135 im täglichen Bewusstsein der DDR-Bevölkerung kann in den Aussagen der InterviewpartnerInnen dieses Typus nicht greifbar gemacht werden.136 Erst die tatsächliche Konfrontation mit dem MfS legt schließlich bei ihnen die Gewissheit nahe, hier in ein bisher in seiner Dimension nicht für möglich gehaltenes Netz staatlicher Kon133 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 9. 134 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 12. 135 Vgl. dazu die Ausführungen des Psychoanalytikers und -therapeuten Hans-Joachim Maaz zur Ausübung von Macht durch das MfS in der Verursachung eines latenten Angstphänomens. Maaz, Gefühlsstau, S. 19–23. 136 Vgl. aber die Tragweite dieses Phänomens in Typus III, Kap. 6.3.1.3, insbesondere bei Frau Giesen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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trolle eingebunden zu sein: „Gewusst haben wir das schon alle, gewusst haben wir das alle, aber persönlich glaubt ja jeder, dass er nicht betroffen is’. Und ich hab ’s eigentlich erst dann erfahren als ich nach dem Studium im Krankenhaus war. Da ich nicht verheiratet war, ledig war, war ich eigentlich das ausgesuchte Opfer von solchen Überwachungsleuten. Die waren alle überzeugt, »Aha die ist Ärztin, ist mit 26 noch nicht verheiratet, die wird doch nicht wegwollen?« Und da ham se alle gesagt, »Na ja, vielleicht äh hast du ’s schon gehört, die und die werden überwacht.« Ach hab’ ich gesagt, »Das ist doch Unsinn«, und so.“137 Wie dieses Netz funktionierte, darüber spekuliert Frau Schuster rückblickend im Zusammenhang mit ihrem Verhalten, als sie ihr Vorhaben einer Flucht in den Westen öffentlich preisgibt. Dass ihre Vorstellung vom MfS als grobmaschig arbeitendem Netz nicht mehr der damaligen Struktur des MfS entsprach, zeigen die Umstände, die zur Verhaftung von Frau Schuster führten.138 Ihre Aussage lässt ebenso Rückschlüsse zu, dass sie nicht aus dem Bewusstsein einer permanenten Beobachtung handelte bzw. die Konsequenzen dieses Handelns nicht in einen existenziell bedrohlichen Kontext einzuordnen wusste. Ihr selbstverständliches Auftreten und ihre Mitteilsamkeit im öffentlichen Raum beweisen, dass ihr trotz der offensichtlichen Wahrnehmung einer verordneten Öffentlichkeit, in der sie das „funktionierende Geschöpf“139 mimte, in der vertrauten Lebensumwelt dennoch Raum für unverhohlene Aufrichtigkeit blieb. „Ich hab’ nie en Hehl aus meiner Meinung gemacht, dass und ich hab’ nie en Hehl daraus gemacht, dass ich also ähm die ... Mich ham de Leute im Bus angesprochen, »Du bist ja noch hier. Wolltste ni’ abhauen?« ((Lachen)) Quer durch ’n ganzen Bus. No, das hat dort niemanden gerührt. Und dann hab’ ich gesagt, »Bin noch da.« Und dann war die Sache erledigt und die andern guckten weng dumm und damit ist die Sache erledigt. Zumindestens in den siebziger Jahren war das sch__ möglicherweise, dass es jemand gemeldet hat, aber da war das noch nicht GANZ so komplett, wie dann zehn Jahre später oder zwanz__ fuffzehn Jahre später, ne. Also da war es noch grobmaschiger das ganze Netz.“140

In eine tatsächlich individuell erfahrbare Überwachungssituation kommen lediglich zwei Personen des Typus, bevor sie durch eine Verhaftung unzweifelhaft 137

V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 1. Vgl. auch: „Und mit dem Staatssicherheitsdienst SELBER hab’ ich EIGENTLICH richtig erst durch die Verhaftung dann also mmh mit denen also zu tun gehabt oder die mit mir zu tun gehabt oder wobei ich sagen muss, ich hab’ mich schon vor der Verhaftung, also beobachtet gefühlt. Und ich hab’ da tausend Sinne und mein Mann hat immer gesagt, das bildest du dir ein und du hast doch Verfolgungswahn, aber es hat sich rausgestellt, ich hatte Recht.“ V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 3. 138 Vgl. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 11–13. Die Umstände, die zur Verhaftung von Frau Schuster und ihres Mannes führten, waren letztendlich sicherlich auch darin begründet, dass sie im öffentlichen Raum ihr Vorhaben ankündigte. In den personenbezogenen Akten sind aber diejenigen Unterlagen, welche die Verdachtsmomente des MfS für die Verhaftung spezifisch nachweisen könnten, nicht aufzufinden. 139 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 12. 140 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 11 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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mit der Staatssicherheit in direkte Konfrontation geraten. Frau Roses Erlebnisse in ihrer Jugend haben dies schon in den vorausgehenden Kapiteln belegt; die letzte dieser Begegnungen wird für sie zum auslösenden Moment, dem DDRSystem endgültig eine Absage zu erteilen. Die seit früher Kindheit lebensbegleitende Erfahrung von staatlicher Überwachung und Sanktionierung erreicht ihren Höhepunkt, als diese in die intimsten Bereiche des familiären Lebens eintritt. Infolge der Flucht des Vaters nach Westberlin wird es ihm unmöglich, an der Beerdigung seiner Frau teilzunehmen. Warnungen von Freunden hatten darauf hingewiesen, dass er bei einer Einreise in die DDR möglicherweise verhaftet werden könnte. Das MfS, dennoch auf seine familiären Verantwortlichkeiten und moralischen Verpflichtungen spekulierend, wird zum Zaungast der Beerdigung von Frau Roses Mutter. Desgleichen wiederholt sich die Situation einige Jahre später in umgekehrter Konstellation: Der Tochter wird die Reise in den Westen, ans Sterbebett des Vaters, verweigert. „Äh also mein Vater konnte zu der Beerdigung meiner Mutter nicht nach [Ortsname]. und ich konnte nicht ans Sterbebett meines Vaters nach ’m Westen. Das waren eigentlich die GRÖßTEN Schmerzen, die ich äh seelisch äh habe leiden müssen. Also am Grab meiner Mutter stand die Stasi und dachte, das war ja ’60, noch vor der Mauer, da hätte ja mein Vater über, irgendwie mit ’m falschen Pass vielleicht oder wie auch immer über Berlin einreisen können nach [Ortsname] mal für dies Begräbnis wenigstens und dann wieder abhauen, damals haute man ja noch laufend ab. Und äh deswegen hatten die sich erkundigt bei meinen Wirtsleuten, ob denn der Herr [Familienname des Vaters] zur Beerdigung käme, ob der erwartet würde. Und äh ich hab’ das auch gemerkt, dass die in einer gewissen Entfernung die Beerdigung beobachtet haben.“141

Aus diesen Erfahrungen, die sie im Folgenden als schwere menschliche Verletzungen umschreibt, entwickelt sich bei Frau Rose, betrachtet man die Gesamtheit ihrer Lebensgeschichte, wie sie auch in den frühkindlichen Erfahrungen greifbar wird, eine stringente Ablehnungshaltung zum DDR-System. Ein System, das sich verantwortlich zeigen muss für eine aufgeriebene, entwurzelte Kindheit und eine Familiengeschichte, in welcher sich die Inhumanität und die Fragwürdigkeit der Ideologie widerspiegelt: „Und umgekehrt war ’s eben so, dass ich meinem Vater seinen letzten Willen nicht erfüllen konnte, der mich auf dem Sterbebett gerne noch mal gesprochen hätte, nich’. Und äh das is’, das waren eigentlich so meine, das sind so meine Punkte, wo es um meine Eltern geht, wo ich eigentlich unversöhnlich bin mit dieser DDR. Also das sind menschliche Verletzungen, die man eigentlich nicht machen darf. Normalen Bürgern gegenüber, also ich meine, ich hatte ja nichts verbrochen. Und das ist schon sehr hart gewesen. Na ja, und dadurch war eigentlich in meinem Leben meine Haltung klar [...].“142 Die zuvor noch als Absurdität verharmloste Tatsache einer persönlichen Konfrontation bzw. Beobachtung durch das MfS soll auch für Frau Löffler zur 141 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 9. 142 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 9 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Realität im engsten Freundeskreis werden. Als junge Ärztin einer möglichen Republikflucht verdächtigt, setzt man den Ehemann ihrer Freundin als IM auf sie an. Die notwendige Konspiration aber wird auf der Familienebene durchbrochen, die Schwiegermutter des IM weiht sie in ihre eigene Konfrontation mit der Staatssicherheit ein. „»Du, der [Name des IM] muss dich überwachen.« Und da hat ’s mir eigentlich die Mutter meiner Freundin gesagt, nicht die Freundin persönlich. Und das war für mich der Schock. Ich wusste, ich war so wie wenn ’s den Boden unter den Füßen wegreißt, wie verhalt’ ich mich jetzt gegenüber, ich mein’, ich konnte das Vertrauen nicht missbrauchen, ich konnte nicht zu ihr sagen, »Du, wieso hast du mir das eigentlich nicht g’sagt oder dein Mann?« Der Mann, ist mir klar, dass er das ni’ sagt, aber die Freundin. Sie hätt’ ’s mir auch nicht direkt sagen können, sie hätt’ auch irgendwelche Andeutungen machen können und so was. Und das war für mich FURCHTBAR. Also das ... Da hab’ ich eigentlich erst erfahren, dass ich selbst überwacht werde und ich hab’ ’s ihr auch geglaubt.“143

Wie in den weiteren Ausführungen zu den Handlungsstrategien der Betroffenen in der Konfrontation mit dem MfS noch deutlicher zu zeigen sein wird, geht Frau Löffler zunächst in sehr bedachter Weise mit ihrer eigenen Überwachung um. Sie richtet sich auf die vierteljährlichen Berichterstattungsbesuche des IM ein und versucht mit der Situation, die ihr erst einmal „den Boden unter den Füßen wegreißt“, rational zu verarbeiten, indem sie sich von ihrer Freundin und deren Umfeld abgrenzt. Dennoch soll es ihr nicht gelingen, alle für sie gefährdenden Informationen der Kenntnis des MfS zu entziehen, weil sie wiederum nicht mit einer elektronischen Abhöranlage in ihrer Privatwohnung und weiteren IM im Freundeskreis und Berufsumfeld rechnet.144 Die geplante Flucht in den Westen endet trotz aller Vorsichtsmaßnahmen bereits an der tschechischen Grenze.145

6.1.2.3 Ausschlaggebende Motive für das Verlassen der DDR In den vorausgehenden Ausführungen wurde auf Alltagsdimensionen des DDRSozialismus hingewiesen, wie sie in den Interviews immer wieder deutlich geworden sind und somit einen Ausschnitt derjenigen Wahrnehmungen bilden, 143 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 1 f.; Die Informationen der Person bestätigen sich im 2. Operativplan zur Vorgangsakte, zeitweise werden auf Frau Löffler v. a. im beruflichen Umfeld sechs IM angesetzt, als IM „Doktor“ entpuppt sich unter Punkt „IM-Arbeit“ der Ehemann besagter Freundin. Dessen bisherige Arbeit „erbrachte eine Reihe für die für die Vorgangsbearbeitung bedeutsame Informationen. [...] Besonderer Wert ist auf die Erarbeitung von Absichten auf Trefftätigkeit in der DDR, in Berlin, an der Transitstrecke und im sozialistischen Ausland zu legen.“ MfS-Akte Frau Löffler, 2. Operativplan (BStU, ASt. Leipzig, AOP 147/75, Band 2, Bl. 45–51, Zitat Bl. 46). 144 Vgl. MfS-Akte Frau Löffler, Operationsplan zum VAO (BStU, ASt. Leipzig, AOP 147/75, Band 1, Bl. 26–30). 145 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 5–13. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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die mit hoher Wahrscheinlichkeit Momente mit langfristigen Konsequenzen für eine Konfrontation der ZeitzeugInnen mit dem MfS auslösten. In einem letzten Punkt sollen nun diejenigen Konfliktfelder sinnfällig und nachvollziehbar gemacht werden, die nach eigenem Dafürhalten der ZeitzeugInnen Anlass für eine solche Entscheidung wurden. Die mögliche Redundanz der eben gezeigten Alltagswirklichkeiten im Folgenden erscheint aber nun in einer anderen Qualität, denn die ausgewählten Beispiele argumentieren in einer übergeordneten Deutlichkeit und zeichnen die Momente der Entscheidungsfindung nach, die in ihrer alltäglichen Unerträglichkeit letztendliche Auslöser für ein Verlassen der DDR wurden. „[E]s gibt ja immer so geistige, ideelle Gründe zu gehen und es gibt materielle Gründe zu gehen oder ganz praktische Sachgründe oder eben aktuelle Gründe, die dann noch dazu kommen“146, aber alle verdeutlichen in ihrer Gesamtheit die Auswüchse des Realsozialismus der siebziger Jahre, die Menschen veranlassen sollten, ihre Heimat und auch oft ihre Familien zu verlassen, um im anderen Teil Deutschlands ein vielleicht ihren Vorstellungen entsprechend ‚wahrhaftigeres‘ Leben führen zu können. Im Folgenden erscheinen die einzelnen Motive in einer Abfolge zentraler Punkte, die für die ZeitzeugInnen dieser Personengruppe hervorgehobene Relevanz haben sollten, eine Flucht im Alleingang oder mit Hilfe einer Schleuserorganisation zu planen und anzutreten. Die Ungewissheit und Gefährlichkeit dieser Unternehmung, an der auch teilweise die minderjährigen Kinder beteiligt waren, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Über ein Bewusstsein der möglicherweise einzuschätzenden Gefahren wird ausführlicher in Kapitel 6.1.3 zu diskutieren sein. Dennoch: Die Entscheidung die DDR zu verlassen, so wird es in den folgenden Argumentationen deutlich, erstand aus einer Unbedingtheit des Willens, der verschiedentlich ausgeprägt sowohl materiell als auch gesellschaftlich moralisch wie familiär verantwortungsvoll motiviert und reflektiert war. In der retrospektiven Betrachtung erscheinen die geäußerten Motivationen unzweifelhaft überzeugend und glaubhaft; sie bringen Authentizität in die Entscheidungsprozesse junger Menschen und Familien, die trotz aller lebensgefährdender Risiken ein solches Unternehmen ins Unbestimmte als einzig denkbare Alternative wählten. Einmal waren es materielle und Sachgründe, die sich besonders auf die wirtschaftlichen Missstände, die schlechte Versorgungssituation und auf die berufliche Perspektivlosigkeit einzelner bezog, wobei diese wiederum schon im Bereich freiheitlicher Begrenzung der Selbstverwirklichung anzusiedeln sind. Die ZeitzeugInnen weisen immer wieder auf politische Divergenzen im beruflichen Umfeld hin, weil sie die praktische Umsetzung planwirtschaftlicher Strukturen und ihre offensichtliche Ineffizienz kritisierten und insofern der Frustration Ausdruck gaben, die ihr berufliches Handeln emotional verursachte, nämlich dass es „zunehmend bedeutungs- und folgenloser wurde, ob sie engagiert oder gar nicht arbeiteten, ob sie Verantwortung trugen oder abwiesen, ob sie Missstän146 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 29. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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de beseitigten oder erzeugten.“147 Die Konsequenzen dieser offenen Kritik konnten teilweise zu Beginn dieses Kapitels aufgezeigt werden, ausschlaggebende Momente aber wurden sie dann, wenn die persönliche Selbstverwirklichung im Beruf zu enge Beschränkungen erfuhr und folglich höhere berufliche Qualifikation aus politischen Gründen verweigert blieb.148 Auf dieser Ebene greift erneut der am Datum des 13. August 1961 thematisierte Aspekt der individuellen Freiheit. Allein die unmittelbar ausgelöste räumliche Begrenztheit spielte in ihrer ganz eigenen Wirkung auf die alltäglichen Gegebenheiten und psychischen Befindlichkeiten bereits – ohne das übergeordnete Moment dieses Aspekts – eine große Rolle, wie die Aussage von Frau Löffler belegt: „Aber was war denn. Es waren ja alle, die mit dreißig, in meinem Alter in der Haft. Die haben ihr Studium gehabt, die haben ihre Wohnung eingerichtet, die haben ihren ‘Wartburg’ erreicht, ham Bulgarien, Rumänien und Russland besucht und ham g’sagt, »So und das war ’s.« Und das war ’s wirklich. Was hab’ ich noch von meinem Leben zu erwarten, mit 32 ist Ende.“149 In dieser Aussage wird jedoch ein Bild des materiellen Wohlstands gezeichnet, das nur für sehr wenige DDR-BürgerInnen zutraf. Von Reisen ins osteuropäische Ausland konnten viele, wenn diese nicht schon an der Bewilligung der Reisevisa scheiterte, aus finanziellen Gründen ‚nur zu träumen wagen‘. Sicherlich, die Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik hatte seit 1971 zu einer Erhöhung der Durchschnittseinkommen um ca. 35 Prozent beigetragen, so dass der Konsumbefriedigung durch erhöhte Kaufkraft bis 1980 vermehrt Genüge getragen werden konnte. Das Warenangebot, teilweise auch an westlichen Produkten, die in so genannten „Delikat“- und „Exquisit“-Geschäften zu horrenden Preisen vertrieben wurden, konnte auch durch Lockerungen der Devisenbestimmungen erweitert werden. Die statistischen Werte über die volltechnisierte und motorisierte Ausstattung der Haushalte erreichte Ende der siebziger Jahre die 80-Prozent-Marke.150 Die Staatsführung konnte innerhalb der zugesicherten Sozialleistungen und des erreichten Konsumniveaus die Verdrossenheit der BürgerInnen, die in ihrer Gesamtheit „zu keiner Zeit hinter der Politik der SED-Führung“ stand, vorerst kompensieren. Grix definiert diese Erscheinungsform im Alltag der DDR als einen „unausgesprochenen Sozialvertrag“151 zwischen den Massen und der Eli147 Marz, System-Zeit, S. 78. 148 „Wie zum Beispiel hier gesagt, ich hab’ den Meister erst hier gemacht, weil ich da drüben keen MEISTER machen durfte. Und da hab’ ich mich gefragt, mit welchem Recht halten die ... Ja, denn ham die gesagt, meine politische Einstellung, die war natürlich miserabel, weil ich immer gesagt hatt’, »Das was ihr hier macht, das haut nich’ hin.« Und— habe kritisiert und weil ich ’s kritisiert hab’, durft’ ich das nich’ machen. [...] bis dann der Entschluss kam, [..] hab’ ich gesagt, »Ich hab’ hier die Schnauze voll, ich=ich steh’ ja hier, ich steh’ ja hier wie so ’n Idiot nur noch auf einem Bein hier und tritt auf der Stelle.«“ V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 61. 149 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 32. 150 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 286 f. 151 Beide Zitate Grix, Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens, S. 158. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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te, welche die grundsätzliche Entfremdung beider zeitweise zu unterdrücken vermochte. Dass sich der Staat in seiner mühsamen Annäherung an das westliche Konsumniveau, das ihm die BürgerInnen als Maßstab seiner wirtschaftlichen Führungskompetenz aufzwangen, selbst in Frage stellte und auf diese Weise den Legitimationsdruck des Realsozialismus kontinuierlich erhöhte, sollte von nachhaltiger Konsequenz ab Mitte der achtziger Jahre werden. Im Zuge von Ölkrise und steigender Staatsverschuldung drohte die Volkswirtschaft zusammenzubrechen und damit schien auch die Versorgungslage der Bevölkerung selbst an Grundnahrungsmitteln nicht mehr gewährleistet.152 In ihrer Dominanz drängender und eindringlicher stellen sich die nun genannten Motive aus Konfliktfeldern mit dem SED-System bzw. spezifisch mit dem MfS dar. Sie kennzeichnen vor allem die durch Inhumanität und ideologisch autoritäre Mechanismen verursachten Beschädigungen und Verletzungen individueller Lebensbereiche, besonders der familiären Bindungen. Die beiden Hauptaspekte, die teilweise schon in den Kapiteln zu kindlichen und jugendlichen Prägungen wie in den vorausgehenden Punkten der Alltagsdimensionen des Sozialismus Nennung fanden, sind die Auswüchse staatlichen Eingreifens in familiäre Bindungen und die Einflussnahme erziehungsdiktatorischer Formen auf die eigenen Kinder. Der Grad an Verletzungen durch das System, die sich in der gesamten Familiengeschichte von Frau Rose drastisch kumulierten, wird in Zusammenhang mit dem Tod des Schwagers in der BRD endgültig überschritten. Wiederum wird in einer familiären Angelegenheit, in der es um Krankheit und Tod geht, das sozialistische Bewusstsein ohne jegliche Pietät über ein humanitäres Grundbedürfnis gestellt. Wie Frau Rose entsprechend anmerkt, werden die Erleichterungen für Reisen ins nichtsozialistische Ausland bei Krankheits- und Trauerfällen erst mit Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 im besagten Korb 3 unter der Kategorie „Kontakte und regelmäßige Begegnungen auf der 152 In seiner unverhohlenen („Das reale Bild war eben einfach katastrophal!“) Analyse an das Politbüro, insbesondere vom neuen Generalsekretär der SED Egon Krenz, eingefordert, zeichnete der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer im Okt. 1989 den seit dem VIII. Parteitag (seit Honeckers Amtsantritt!) kontinuierlichen Niedergang der ökonomischen Verhältnisse der DDR in den staatlichen Bankrott nach: „Um ein ungeschminktes Bild unserer wirtschaftlichen Lage zu geben, muss im Zusammenhang mit der insgesamt positiven Entwicklung auf bedeutende Probleme der Sicherung und Akkumulation, der Proportionalität, des Entwicklungstempos und der Verwirklichung des Leistungsprinzips hingewiesen werden. [...] Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet [NSW] ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt. [...] Es wurde mehr verbraucht, als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde zu Lasten der Verschuldung im NSW, die sich von 2 Mrd. VM 1970 auf 49 Mrd. VM 1989 erhöht hat. Das bedeutet, dass die Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistungen beruht.“ „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ vom 30. Oktober 1989. Dokumentiert in: DA, 10 (1992), S. 1112–1120, Zitat S. 1112. Vgl. in diesem Kontext begleitend auch Hertle, Staatsbankrott. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Grundlage familiärer Bindungen“ festgelegt.153 Zuvor waren Reisen dieser Art zumeist DDR-BürgerInnen, die sich bereits im Rentenalter befanden, vorbehalten. Eine gesetzlich festgelegte Regelung bestand nicht. „[...] also mein Wunsch dieses Land zu verlassen, was nicht mehr oder was NIE meine geistige Heimat war und wo man mir auch die geographische Heimat genommen hatte und mich auch so schwer verletzt hat durch meine Eltern, ähm der Wunsch war so groß, dass ich, dass ich die Angst unterdrücken konnte. Und dieser Tod meines Schwagers, der nun auch noch ’ne Weile gelebt hatte und meine Schwägerin, die [...] laufend anrief, ob mein Mann nich’ kommen könnte. Da hing mein Schwager noch an der künstlichen Niere und lebte noch und äh wir hätten da eigentlich aus menschlichen Gründen da sein müssen, auch dann zur Beerdigung, das hat eigentlich meinem Mann so den letzten Rest gegeben. Er hat gesagt, »Nein.« Und dass man ihm dann auch noch den Vorwurf machte, als er den Antrag stellte, zur Beerdigung fahren zu können, das war, später ging das ja, da gab ’s ja schon menschliche Erleichterung, [...] dass man von=in seiner Position so viel sozialistisches Bewusstsein erwartet, dass er aus irgendwelchen familiären Gründen, auch wenn es sich um Sterben handelt, selbstverständlich drauf verzichtet, zu fahren. Und das war eigentlich dann so, also noch der letzte Punkt wo man sagte, »Nein, also es wird HÖCHSTE Zeit, dass wir hier rauskommen.«“154

In Bezug auf die zwischenmenschlichen Schädigungen zeigte sich die Inhumanität des politischen Systems wie geschildert auch in seinem Wirken als Erziehungsdiktatur. Für die ZeitzeugInnen, die dieses Motiv als Entscheidungsmoment benennen, wird es in zweierlei Hinsicht tragend: Erstens ist von einer Verantwortlichkeit den Kindern gegenüber die Rede, sie nicht gleichfalls der eigenerlebten Schizophrenie des Aufwachens auszusetzen bzw. sie vor einer ideologisierten Pädagogik gleichfalls schützen zu müssen. „[...] du hast irgendwie immer noch was eigentlich vor dir an Plänen, also du willst in die Schule, du willst studieren, und dann haste geheiratet und dann haste Kinder und hast ’ne Wohnung und dann eigentlich bei der Kindererziehung, bei meiner oder bei unserer Kindererziehung ist uns das eigentlich dann erst mal wieder richtig aufgekommen, dass wir UNSERE Kinder AUCH so zweizüngig erziehen müssen und da hat ’s dann eigentlich so ’n Klick gemacht, und da ham wir gedacht, »Nee, das wollen wir nich’!« Und da ham wir denn ... (2) Da ist das erste Mal, dass wir dann auf die Idee kamen, auch wegzugehen aus dem Staat.“155

Zweitens wird den Eltern bewusst, dass sie durch die Vermittlung des eigenen politischen Nonkonformismus in ihrer Kindeserziehung, die letztlich auf Ablehnung und Konfrontation mit dem staatlichen System zielen musste, einerseits deren Weg in eben eine solche Schizophrenie bzw. ‚Nischenexistenz‘ ebneten und deren persönliche Perspektivlosigkeit und berufliche Chancenlosigkeit in 153 „Um die weitere Entwicklung von Kontakten auf der Grundlage familiärer Bindungen zu fördern, werden die Teilnehmerstaaten Gesuche auf Reisen wohlwollend prüfen mit dem Ziel, Personen zu erlauben, in ihr Territorium zeitweilig und, wenn erwünscht regelmäßig einzureisen [...] Dringlichkeitsfälle – wie ernste Erkrankung oder Todesfall – werden mit Vorrang behandelt werden.“ Schlussakte von Helsinki vom 1. 8.1975. In: Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, S. 51–126, hier 97. 154 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 28. 155 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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der DDR vorprogrammierten. Andererseits konnten sie ihnen aber eine Zukunft in der DDR aus der Überzeugung ihrer persönlichen Wertmaßstäbe von Selbstverwirklichung, Religiosität und individueller Freiheit nicht länger zumuten. „»Dieses Leben, was wir hier haben, das können wir unseren Kindern auf KEINEN Fall zumuten. Denn die behalten ja diese Struktur, dass alle Verwandten im Westen sind und sie die Einzigen im Osten.« Oder ich hatte auch, das war auch noch ’n ganz wichtiger Grund für mich, dass ich dachte, »Menschenskind, wir haben sie so erzogen, dass sie hier mal nie gerne leben. Und beruflich auch nicht vorwärts kommen. Die Eltern Christen und sie auch engagiert, also richtig aktive, engagierte Christen und dann noch Intelligenz und was weiß ich und keine Arbeitervorfahren. Ähm die hauen bestimmt mal ab, unsere Kinder«, das sind, also das war eigentlich abzusehen, »und dann sitze ich drüben und kann sie erst wieder sehen, wenn ich in Rente gehe.« Also alleine da hab’ ich ja schon Panik gekriegt, also da war die Angst dann ganz weg vor der Flucht. Da dachte ich, »NEIN, wenn die im Westen leben und ich muss=bin dann die Einzige in der DDR ...« Nein, also das war auch ein ganz schrecklicher Gedanke, dass dann später vielleicht noch meine Kinder abhauen. Dann lieber so schnell wie möglich.“156

Während sich die zuvor angeführten Begründungen auf die Verantwortlichkeiten gegenüber den Kindern und der Personen selbst fokussierten, führen die folgenden Motivationen auf eine gesellschaftlich moralische Ebene. Es sind die ideellen Aspekte, von denen Frau Rose einleitend sprach. Es geht hierbei um das Mitschuldigwerden am Bestand eines diktatorischen Systems, gegen das selbst anzukämpfen man sich aus Angst vor Repressionen zu schwach fühlt, dessen Ablehnung also nur insofern geäußert werden kann, indem man es verlässt. Eine wichtige Rolle für diese moralischen Wertmaßstäbe und Beweggründe sind sicherlich auch die in der eigenen Familie erlebten Erfahrungen der NS-Zeit begründet.157 In den Fokus dieser Überlegungen kommen auch Momente des Selbstachtungsverlusts, auch vor der eigenen Inkonsequenz und der Unwille sich zukünftig, um die Situation zu ertragen, permanenter Selbsttäuschung und Verdrängung auszusetzen. Was aus diesen Überlegungen beispielsweise für die Familie Seestern resultiert, ist der Entschluss, den Linien ihres Denkens eine innere Logik des Handelns folgen zu lassen. Sie entscheiden sich für eine Ablehnung aus der Defensive. „Und da kommt eins, wie gesagt, eigentlich zum anderen. Und du sagst dir am Anfang, ne, »Du kannst hier nich’ mehr leben, du machst dich mitschuldig, du weißt das und du machst nichts dagegen, kannst nichts dagegen machen«, also. Oder— ja oder du hast eigentlich keine Möglichkeit was aktiv dagegen zu tun, das Einzige is’, dass de gehen kannst. Ja gut, wenn de natürlich Märtyrer nich’ werden willst. Sicher gab ’s auch wel156 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 28. 157 Vgl. das bereits in Kap. 6.1.1 angeführte Zitat nochmals in diesem Zusammenhang: „Und auch, mir ist es auch PEINLICH, dass es schon wieder ’ne Diktatur gegeben hat, in der DDR, was ja auch Deutsche äh wiederum verursacht haben. Dass das immer wieder passiert, in einem Jahrhundert.“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 56 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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che, die sich angebrannt haben, die ’n Mund aufgemacht haben, aber dann auch irgendwo in den Gefängnissen in der Versenkung verschwunden sind. Wir hatten immerhin noch zwei Kinder, musste auch immer überlegen, ham wir gesagt, »Nee, also Märtyrer wollen wir auch nich’ werden, dazu sin’ wir nich’ stark genug. Aber wir müssen was tun, wenn wir uns nich’: ... Wenn wir uns noch jeden morgen im Spiegel angucken wollen.« JA, das waren eigentlich so diese Beweggründe.“158

Über die eigenen Verwicklungen in die politischen Ereignisse des Jahres 1968 gerät auch Frau Schuster in eine selbstreflexive Phase, in der sie sich nach den Mitverantwortlichkeiten und ihrer eigenen Instrumentalisierung für den Sozialismus in seiner Intoleranz und Brutalität gegenüber alternativen Konzepten, wie es jenes des „Prager Frühlings“ darstellte, hinterfragen muss: „Direkt ähm, ich will mal jetzt sagen, die Augen geöffnet über das, was du hier eigentlich unbewussterweise mittust, das war bei mir dann bei dem Einmarsch in die Tschechei. [...] Auf der eenen Seite da schreien se also Frieden und sie sind also überhaupt ham se bloß ’ne Armee nur zur Dekoration oder so was und dann auf der anderen Seite gehen se so auf ihre eigenen Leute los. Das war mir unverständlich.“159 Ihre individuellen Beweggründe ergeben sich aus den tagespolitischen Ereignissen in ihrem Betrieb, die der Einmarsch der russischen Truppen in der ČSSR nach sich zieht. Die Politisierung am Arbeitplatz trifft sie auch als Brigadeleiterin einer Kantinenküche. Sie wird schließlich aufgefordert, öffentlich ihre Zustimmung zum Einsatz sowjetischer Truppen in Prag zu geben. Dieser verweigert sie sich erfolgreich, es entstehen ihr zunächst auch keine Nachteile, für sie persönlich jedoch „schärft sich [der] Blick“. Die Suche nach einem Weg aus der Verlogenheit des Systems wird zunehmend existenziell: „Aber wie gesagt, [...] von da an hab’ ich doch dann wirklich äh, MICH äh da drauf eingestellt, dass ich unter solchen Umständen A, so was nie wieder machen möchte und B, vielleicht ooch überhaupt nich’ mehr leben WILL. Und das geht also nachher soweit, bis de dann schlicht und ergreifend ’ne derartige ABLEHNUNG kriegst gegen diese ganze Angelegenheit, das ist so, wie wenn de einmal ... Du findest ’n Pullover, der hat Mottenlöcher und da siehst du eins und plötzlich und dann siehste alle. Und so war das da ungefähr auch. Und dann siehste dann eben diese ganze Verlogenheit und diese Falschheit.“160

Die Alltagswirklichkeiten des Lebens, hier insbesondere die siebziger Jahre betreffend, zeichnen aus der Sicht der ZeitzeugInnen dieses Typus eine etwas andere Realität und Vorstellung von der DDR, als sie sich zu jener Zeit in der Bundesrepublik ausbildete. Denn hier „dominierten unter den Beobachtern der DDR seit den frühen siebziger Jahren die ‚Idylliker‘. [...] Eine romantische Sehnsucht nach dem einfachen Leben, ohne die Kälte der kapitalistischen Ellbogengesellschaft, ohne die bunte Reklamewelt der Marktwirtschaft, auch ohne die 158 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 25. 159 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 6. 160 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 8. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Altlasten der unbewältigten Vergangenheit. [...] Bei aller Bedrückung orientierten sie [die Menschen in der DDR] sich weniger am Konsum als an individuellen Werten; Mitmenschlichkeit, Familienzusammenhalt, Freundschaft und Kollegialität besäßen einen höheren Stellenwert, kurzum, statt der grenzenlosen äußeren existiere eine wesentlich größere innere Freiheit“161. Auch die soziologischen Positionen zur theoretischen Einordnung der Beurteilung des Gesellschaftssystems der DDR grenzten sich von nun an die so genannten Modernisierungstheoretiker162 von einer Einordnung der DDR als einem allein totalitär zu charakterisierenden Regime konsequent ab und folgten dem Modell einer autoritär regierten Industriegesellschaft. Damit gestanden sie auch der DDRGesellschaft die Fähigkeit zum Wandel zu, indem ihrer Theorie „die Behauptung eines mehr oder weniger direkten kausalen Zusammenhangs von wissenschaftlich-technischer und ökonomischer Entwicklung auf der einen und politisch-gesellschaftlichen Wandlungsprozessen auf der anderen Seite“ zugrunde lag.163 Die staatliche Führung müsse sich unter dem Druck der industriellen Modernisierung ausdifferenzieren, so die Argumentation, insofern aber verringere sie ihre allmächtig erscheinende Machtkompetenz und erhöhe hingegen die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung sowohl im industriell-ökonomischen Bereich als auch im Einfluss auf allgemein politische Orientierungen des Staates.164 An einem zentralen Punkt, der auf ähnliche Weise an Wolles Überlegungen zu Gaus’ idyllischen Beschreibungen der DDR-Wirklichkeit verweist, setzte schließlich die zeitgenössische Kritik an: „In den Modernisierungstheorien [...] spielen die Lebenswelt und Interessenlagen der Beherrschten keine zentrale Rolle. [...] Die Untersuchungen sind meist elitenzentriert und an Steuerungsproblemen orientiert. Deshalb ist dieser Ansatz nur eingeschränkt leistungsfähig, wenn es um die Beschreibung und Erklärung von Konflikt- und Krisenpotentialen in den Systemen des bürokratischen Sozialismus geht.“165 Die nun allgemein auch in ihrer Breitenwirkung auf die BRD-Gesellschaft wirkende, westliche Tendenz einer Betrachtung der DDR als „kommoder Diktatur“ verfestigte sich zudem nach der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, dem UN-Beitritt bzw. der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages und der KSZE-Schlussakte.166 Neben den positiven Effekten vor allem im humanitären Bereich hatte diese internationale Anerkennungsphase zugleich für die SED-Führungselite eine erhöhte westliche Akzeptanz und gewisse Herrschaftslegitimierung zur Folge. Eine besondere Sensibilität für diese unterschwelligen Strömungen entwickelt auch Frau Rose, während sie zu Beginn der siebziger Jahre in eine Ausei161 162 163 164 165 166

Wolle, Es geht seinen Gang, S. 307 f. Als treffendes Beispiel benennt Wolle in diesem Kontext Günter Gaus’ Ausführungen in dessen Veröffentlichung „Wo Deutschland liegt“. Vgl. bspw. Ludz, Parteielite im Wandel. Glaeßner, Sozialistische Systeme, S. 146. Vgl. Ludz, Parteielite im Wandel, S. 25. Meyer, Sozialistische Systeme, S. 237; Hervorhebung im Original. Vgl. die Ausführungen zu dieser Entwicklung erneut in Kap. 4.2 und 5.1.2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nandersetzung nicht nur mit westdeutschen „Sekundärfreunden“, sondern auch mit ihrem eigenen Bruder gerät. „Und EIN Grund, [...] aber so ein darüber schwebender, ideeller Grund war auch, dass ich merkte, wenn man jetzt nicht die alten Freunde, mit denen man eben politisch überein stimmte, sondern neue Begegnungen hatte mit Westdeutschen oder eben auch so mit so Sekundärfreunden, so Bekannten, die man traf, oder auch manchmal bei guten, alten Freunden oder bei manchen Verwandten kam dann schon allmählich so ’ne Tendenz rein, der DDR-Akzeptanz, dass man die DDR akzeptierte, sogar ich, ach ja jetzt fällt mir ’s ein, mein Bruder, einer meiner Brüder sagte mal, »Du musst dich hier einrichten, du musst dich damit abfinden, dass du hier jetzt lebst. Du kannst doch nicht von uns erwarten, dass wir hier irgendwas Illegales für euch machen.« Der war auch dagegen, dass wir ... »JA nichts Illegales, da kann euch was passieren, das kommt überhaupt nicht in Frage. Richte dich hier ein, es is’ nun so und wir unterstützen euch ja gerne. Aber also denke JA nicht dran, dass du von mir mal ’ne illegale Hilfe kriegst.« Diese Tendenzen wurden lauter [...].“167

Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist die rein juristische Beurteilung der unrechtsstaatlichen Ordnung der DDR durch den Bruder von Frau Rose. Dieser, selbst Jurist, ist trotz seiner eigenen familiären Prägungen ganz der westdeutschen Perspektive verhaftet, nämlich den Bestand der DDR als staatliches Gebilde als gegeben zu akzeptieren. In besonderer Weise findet diese Akzeptanz aber umgekehrt Ausdruck in einer gesellschaftlichen Überlegenheit und Arroganz gegenüber den bestehenden Verhältnissen, welche bei den BürgerInnen in der ehemaligen DDR ein weit verbreitetes Gefühl der Entmündigung hervorriefen. „Dann kannten wir so einen, so ’nen Intellektuellen, so ’nen Künstler aus Amerika, ’nen Schwarzen, der hatte Asyl in der DDR, der war eben auch Sozialist und hatte eine weiße Amerikanerin geheiratet und hatte erst Asyl in der Tschechoslowakei gehabt und dann lebte er mit Schilderhäuschen und Villa in Ostberlin. Hatte aber immer die Möglichkeiten sich die Illustrierten aus dem Westen zu holen, in Westberlin ins Kino zu gehen, in Frankreich, Österreich und sonst wo Urlaub zu machen. Und der erzählte uns als Sozialist auch, sagt er, dass wir uns doch eigentlich beruhigen sollten, wir würden doch GUT leben. Es wär’ im westlichen, im kapitalistischen Ausland auch SCHWER zu existieren. Und ich sage, »Das ist ja, das gilt für dich, aber ich würde gerne meine eigenen Erfahrungen in der Welt machen. Wieso bin ich eingesperrt und wieso konntest du als Sozialist Amerika verlassen? Ich möchte das auch, ich möchte diesen Staat verlassen, weil ich kein Sozialist bin.« Also diese Tendenzen, so aus der 68er Zeit, dass man sagte, ihr lebt doch hier eigentlich ganz gut und so. Bei uns ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Ich hab’ gedacht, »Ja so ein SCHEIß, DAS WEIß ICH DOCH. Auf der ganzen Welt gibt ’s kein Himmelreich und überall muss ich kämpfen und überall habe ich Alltag. Das=was erzählen dir die?« Das war immer so von oben herab, so=so wohlwollend, also da waren wir eigentlich schon entmündigt.“168 167 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 29 f. 168 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 30. Ebenso V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 32: „Aber ich hab’ immer gedacht, wie das wär’, wie schön das wäre, wenn ich im Westen wär’. Und da hat der zu mir gesagt, »Bleib’ du mal hier, du brauchst dich um nix zu sorgen, du kriegst dei’ Stelle ...«.“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Das Phänomen der Subalternität, das hier speziell auf die Suggestion eines untergeordneten Ranges der DDR-Gesellschaft gegenüber derjenigen der Bundesrepublik abzielt, beschreibt Bahro nahezu zeitgleich als allgemein gültige Habitusform der sich ausbildenden DDR-Gesellschaft in seiner 1977 erschienenen, aber bereits 1973–76 entstandenen „Kritik des real existierenden Sozialismus.“169 Eine oktroyierte Gesellschaftsverfassung sowjetischen Typs und die Herrschaft der SED-Parteielite macht er hierin als entscheidende Komponenten für das Hindernis einer allumfassenden individuellen Emanzipation der DDR-BürgerInnen verantwortlich. Er verweist insofern auch auf die ideologischen Defizite des real existierenden Sozialismus. In Marxscher Argumentation thematisiert er in Bezug auf „die Forderung nach der Verwirklichung des geschichtlichen Selbstbewusstseins in allen Individuen“ zuvorderst den in der DDR verwehrten Zugang zur Teilhabe an der gegenwärtigen bzw. historischen Entwicklung der Gesellschaftstransformation. Diese Mitgestaltungsoption schaffe nämlich erst die „reale Möglichkeit, an der Synthesis des Geschichtsprozesses teilzunehmen, der einzige Weg [...], der subalternen Existenz zu entkommen.“170 Dem Phänomen eines subalternen „Scheinlebens“ entgegnet Frau Rose mit dem Entschluss unter Hilfe einer Fluchthelferorganisation, die DDR zu verlassen. Aus den bisher gezeigten Motivationen treten die vorausgehenden und kommenden Zitate der Argumentation besonders hervor, da sie nochmals alle Komponenten, die Frau Rose und ihre Familie an einem Leben in Selbstverwirklichung und -entfaltung beschnitten, selbstvergewissernd bündelt und dahingehend selbst die äußerste Gefahr einer Inhaftierung zur Erreichung dieses Ziels letztlich in Kauf nimmt. „Auch DAS konnte ich nicht mehr ertragen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dass die Westdeutschen so wohlwollend daher redeten und einem das DDR-Leben so schmackhaft machen wollten. ((lacht)) Das war auch ein Grund, der mich immer richtig verrückt gemacht hat. Da war auch meine Angst weg und da hab’ ich auch immer gesagt, »Und wenn ’s schief geht und wenn ich durch dieses Gefängnis gehen muss«, ich hab’ ja nicht gewusst, wie hart das Gefängnis wird. Aber äh ich hab’ das dann gesagt, »Also es ist egal wie, ich muss hier raus, ich werde verrückt. Das ist nicht mein Leben, man kann, man KANN ja gar nicht leben, weil es ist ja nur SCHEINleben.« Und das ... Ja.“171

Die von den ZeitzeugInnen des Typus beschriebenen Alltagsdimensionen des Realsozialismus und der aus diesen wiederum gebildeten Wirklichkeitskonstruktionen, die eine Motivation für das Verlassen der DDR darstellen, entwerfen ein Bild von der DDR, das von gesellschaftlicher Regression und „Lethargie“ wie geistigem Stillstand gekennzeichnet ist. Der ostdeutsche Dramatiker Heiner Müller hat einmal von der DDR als einem gespenstisch verlangsamten Ort gesprochen, dem es gelungen war, der Moderne einen anderen Takt aufzuzwingen und einen Hauch von sozialistischer Ewigkeit jenseits von Digitalisie169 Bahro, Alternative. 170 Beide Zitate ebd., S. 171; Hervorhebung im Original. 171 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 30–31. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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rung und Perestrojka zu verbreiten172, und damit die Schizophrenie dieses Staates in sowohl seiner Innen- als auch Außenwirkung in Worte zu fassen gesucht. Er beschreibt damit jenes, was Wolle später treffend als eine „Idylle hinter Stacheldraht“173 betitelt.

6.1.3 „Republikflucht“ Auf dem Wege bruchstückhafter Darstellung individueller Alltagsdimensionen, ihrer Wahrnehmung und Bewertung durch die ZeitzeugInnen dieses Typus konnten im vorausgehenden Kapitel die allgemeinen Rahmenbedingungen realsozialistischer Wirklichkeit unter dem Blickwinkel einer grundlegenden Systemablehnung aufgezeigt werden. Nicht zuletzt schilderten sie eindringlich und nachvollziehbar die aus einer spezifisch politischen Grundtendenz erwachsenen Beweggründe für ein Verlassen der DDR. Dass nach den Erfahrungen des 13. August 1961, des „Prager Frühlings“ und nach der internationalen Anerkennungsphase der DDR zu Beginn der siebziger Jahre mit dem Machtantritt Honeckers auf eine Veränderung und Abänderlichkeit des Systems und seines Bestands langfristig nicht zu hoffen war – weder durch innere noch äußere Kräfte –, ist dabei verständlich zum Ausdruck gekommen.174 Eine in den Äußerungen kontinuierlich ansteigende Resignation gegenüber dem sich ausbildenden staatlichen Status quo wurde einerseits erkennbar. Andererseits provozierte diese eine Überschreitung der jeweiligen Toleranzgrenzen und generierte letztendlich Handlungsmotivationen, die auf einem individuell gewählten Weg aus der erfahrenen staatlichen und gesellschaftlichen Erstarrung führen sollten. Fast alle vorgestellten Personen dieses Typus fassten noch in den frühen siebziger Jahren den Entschluss, auf lebensgefährdende Art und Weise aus ihrer Heimat zu fliehen. Es bot sich in der damaligen Zeit nur diese Form des Auswegs, war doch das seit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki völkerrechtlich zugestandene Menschenrecht auf „ständige Ausreise ins nichtsozialistische Ausland“ – beispielsweise aufgrund einer Familienzusammenführung – zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Alle Personen des Typus verfügten über enge verwandtschaftliche Beziehungen ersten Grades in die Bundesrepublik. Dies war ein wichtiger Punkt für die endgültige Entschlussfindung, auch im Hinblick auf unterstützende psychologische wie materielle Hilfe bei der Fluchtplanung. Die grundlegende Sicherheit schaffende Perspektive auf eine erste ver172 Vgl. Thomas E. Schmidt, Als das Boot gekentert war. Die jungen Autoren Ostdeutschlands erzählen kühl vom Leben in der Zone. In: Die Zeit, 37 (2002). 173 Wolle, Es geht seinen Gang, S. 307. 174 Vgl. ebenso Schullers Ausführungen zu diesem Spezifikum des DDR-Staates: „[Das] erste ist die Tatsache, dass sich das politische System der Deutschen Demokratischen Republik als unabänderlich, als unerbittlich dargestellt hat. Keinerlei Aussicht darauf sollte aufkommen, dass sich irgend etwas ändern könnte, sondern es sollte eine bleierne Gewissheit sein, dass es immer so bleiben würde.“ Schuller, Repression und Alltag, S. 274; Hervorhebung im Original. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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traute Anlaufstelle in der ‚neuen‘ Heimat ist gleichzeitig von entscheidender Bedeutung.175 Eine übergeordnete, nicht zu unterschätzende Relevanz bildet schließlich das von den bereits in der BRD lebenden Personen durchweg positiv vorgelebte ‚Lebensmodell‘: Nach einer illegalen Flucht war es ihnen offensichtlich gelungen, materiell wie ideell den persönlichen Zielvorstellungen eines freiheitlichen Lebens in der bundesrepublikanischen Gesellschaft näher zu kommen.

6.1.3.1 Fluchtüberlegungen und ihre konkrete Planung Allgemeine Voraussetzung zum Verständnis des Agierens sowohl der Untersuchungsorgane des MfS als auch der ZeitzeugInnen, die so eine nach DDR-Recht geltende Straftat begingen, ist für die nun folgenden Ausführungen die Vergegenwärtigung der für diese Fälle geltenden Tatbestände im Strafrecht der DDR.176 Was für alle Betroffenen zunächst im Blickfeld stehen musste, waren die Festlegungen des Paragraphen 213 (Ungesetzlicher Grenzübertritt), welcher das Verlassen der DDR ohne erforderliche Genehmigung bzw. den Versuch oder auch nur die Vorbereitung177 dessen unter ein Strafmaß von bis zu zwei Jahren Freiheitsentzug stellte (in besonders schweren Fällen bis zu acht Jahren). Dieser Paragraph war grundlegende Handhabe einer strafrechtlichen Verfolgung der hier betroffenen Personen durch die Strafjustiz der DDR. In seiner beispiellosen Schärfe machte er deutlich, wie die DDR das von ihr 1976 mit Ratifizierung der Konvention des „Internationalen Pakts über politische und Bürgerrechte“ verbriefte Recht auf freie Wahl des Wohnortes laut Artikel 12, Ziffer 2 („Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes zu verlassen.“) mit Füßen trat. Denn innerhalb der Festlegungen in Ziffer 3178 wagte man in Rück175 „[...] und dann ist uns die Entscheidung ganz leicht gefallen, weil wir dann ja auch, auch ’nen Ansprechpartner hatten hier, die waren zwar auch gerade hier, aber is’ ja egal. Du hast jemanden, der dir gesagt hat, »Ja, Mensch ich kann dir helfen«, oder »Mach das so und so«, und dann ham wir uns auch entschlossen zu gehen.“ V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 2; ebenso V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 35 und V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 6. 176 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das bis 1989 geltende Strafgesetzbuch der DDR vom 12.1.1968, sowie die angestrengte Novellierung vom 19.12.1974 und die Strafrechtsänderungsgesetze der Jahre 1977–1989. 177 Dies wird bei nahezu allen Tatbeständen des politischen Strafrechts in einem nachgeordneten Absatz – wie hier § 213 Abs. 4 „Vorbereitung und Versuch sind strafbar“ – gesetzlich verankert. Insofern erhält die politisch strafrechtliche Festlegung der DDR „die bedenkliche Tendenz zu einem Gesinnungsstrafrecht (§ 94 StGB)“. Schroeder, Strafrecht, S. 80 f. 178 „3. Die oben genannten Rechte dürfen keinen Beschränkungen unterworfen werden als solchen, die durch Gesetz vorgesehen sind, die zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind und mit den anderen in dieser Konvention anerkannten Rechten zu vereinbaren sind“. Beide Zitate IPbürgR, III Art. 12 Ziff. 2 bzw. 3. Übersetzt und veröffentlicht in: GBl. der DDR, Teil II (1974), Nr. 6, S. 58 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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griff auf das Strafgesetzbuch von 1968 dieses völkerrechtlich anerkannte Recht sogar als Straftat gegen die staatliche Ordnung zu definieren. „Für strafwürdig wurde [somit] ein Verhalten angesehen, das als solches nirgendwo mit Strafe bedroht war, das aber doch als eine Gefährdung der Stabilität des Regimes angesehen wurde“.179 Eine weitere Besonderheit kommt hinzu: Neben den nach Staatsverbrechen geregelten Tatbeständen schuf man vermeintlich unpolitische Zusatztatbestände, „die äußerlich ähnliche Verhaltensweisen erfassen. [...] Dieses Verfahren wird geradezu zum Prinzip erhoben. Zahlreiche Tatbestände des Kapitels „Straftaten gegen die staatliche Ordnung“ erscheinen als Auffangtatbestände gegenüber den Staatsverbrechen.“180 So kommt für die Betrachtung der Einzelfälle dieses Typus in allen Fällen gleichzeitig eine Korrespondenz von § 213 in Tateinheit mit „Menschenhandel“ (§ 132 StGB) bzw. „Staatsfeindlichem Menschenhandel“ (§ 105 StGB) zum Tragen. Während § 132 als „Straftat gegen die staatliche Ordnung“ von einem Jahr bis zu acht Jahren Freiheitsstrafe geahndet wurde, galt § 105 als „Verbrechen gegen die DDR“. In seiner Formulierung wurde die Komponente eines Verbrechens „zum Zwecke der Schädigung der DDR“ in seiner besonderen Skrupellosigkeit durch die Höhe des Strafmaßes in Absatz 3 deutlich: in „besonders schweren Fällen“ konnte schließlich „auf lebenslängliche Freiheitsstrafe erkannt werden“.181 Der Kommentar verweist für einen Vollzug dieses Strafmaßes auf § 110, der Verbrechen wie beispielsweise die in hohem Maße mögliche Gefährdung des Friedens, der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung aber auch des Lebens einer größeren Anzahl von Menschen zur Ahndung brachte.182 Das Aufdecken des Agierens westlicher „krimineller Menschenhändlerbanden“183 bei der Verschleppung und Schleusung von DDR-BürgerInnen war in diesem Zusammenhang als das im Zentrum der strafrechtlichen Aufklärungsarbeit stehende Moment zu sehen. Offiziell argumentierte man völkerrechtlich, das heißt hinsichtlich der Verletzung internationaler Abkommen wie des Transitabkommens bzw. des Grundlagenvertrags mit der Bundesrepublik, welche beidseitig die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität garantiert hatten.184 179 Schuller, Geschichte und Struktur, S. 70. Des Weiteren Schroeder, welcher der Absurdität und Inhumanität dieses „Tatbestandes“ lediglich mit Sarkasmus begegnen kann: „Die Vorstellung, dass die Bürger eines Staates diesen nicht verlassen dürfen, ist die des feudalen Absolutismus, bei der dem Fürsten ein ‚Bestand an Untertanen‘ gehörte“. Schroeder, Strafrecht, S. 90. 180 Ebd., S. 81. 181 § 105 (Staatsfeindlicher Menschenhandel, Besonderer Teil – Verbrechen gegen die DDR), Strafrecht der DDR, S. 300. 182 Vgl. § 105 (Staatsfeindlicher Menschenhandel – Kommentar) und § 110 (Besonders schwere Fälle), ebd., S. 300–302, 309. 183 Vom MfS benutzte Begrifflichkeit zur Bezeichnung westlicher Fluchthilfeorganisationen; in den Aktenlagen zumeist unter der Abkürzung KMHB geführt. Vgl. Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, S. 251. 184 Vgl. Wünsche, Völkerrechtliche Aspekte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Die fokussierte Personengruppe spaltet sich hinsichtlich der Art ihres „ungesetzlichen Verlassens“ der DDR in zwei unterschiedliche Typen auf: Einerseits in diejenigen, die mit ihrer Familie gemeinsam, also mit Ehepartnern und Kindern eine Flucht über eine Schleuserorganisation planten, die von der Bundesrepublik Deutschland aus beauftragt wurde.185 Andererseits in jene, welche einzeln oder mit dem Partner, niemals aber mit Kindern eine Flucht im Alleingang über die Grenzanlagen der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien oder Bulgarien in das westliche Ausland vorbereiteten. Diese Flüchtlinge, welche unter besonders hohem Einsatz ihres Lebens eine solche Flucht durchführten, bezeichnete man als Sperrbrecher.186 »Also ich finanziere euch Fluchthelfer.« – Schleusung durch Fluchthilfeorganisationen: Die zuerst genannte Gruppe leitete letztendlich jeweils über Verwandte, die bereits in der Bundesrepublik Deutschland ansässig waren, eine Fluchthilfeorganisation zur Realisierung des Vorhabens an. Zunächst aber gingen diesen Fluchtplanungen auch Überlegungen anderer Art voraus. Zumindest bei den Familien Rose und Seestern, die im Norden der DDR lebten, gab es zuvor Gedanken an ein Verlassen ‚auf eigene Faust‘; ganz konkret wurde an ein Überwinden der Ostsee mit Hilfe eines Bootes gedacht: „Dann ham wir an sich angefangen so mit recherchieren: Wie kann man das machen? Wir hatten zwei Kinder, wir ham an der Ostsee gelebt, wir hatten een Boot und ham dann überlegt, »Macht man das über die Ostsee?« Und da ham wir dann auf ’n Boot gesessen und mein Mann sagt, »Na ja, das bringt ... Das macht einen auch nicht glücklich, wenn dann einer weniger ankommt«, oder irgendwas, das Leben riskiert und das wollten wir irgendwie auch nich’ und da ham wir, eigentlich ziemlich über Umwege, Kontakt aufgenommen zu meinem Schwager.“187 Die einschätzbaren lebensgefährdenden Faktoren einer solchen Flucht vor dem Familienhintergrund erwiesen sich bei genauerer Planung als zu hoch: „[...] da übers Meer. Also nur wer die See kennt, fürchtet sie.“188 Der mögliche Einsatz des Lebens von Teilen der Familie zur Überwindung der Grenzen ist schließlich der Anlass professionelle Fluchthilfe in Anspruch zu nehmen. Auch Familie Rose hatte alle Hoffnungen auf eine Flucht nach der schmerzlich erfahrenen Errichtung der Berliner Mauer nahezu aufgegeben. Die zuletzt angebotene Hilfe des Schwagers von Frau Rose, der bereits in der BRD lebte und der Familie mit einem selbstgebauten Tragflächenboot zur Flucht verhelfen wollte, scheiterte ebenfalls; die Planungen wurden von seinem plötzlichen Unfalltod durchkreuzt.

185 Dazu zählen für diesen Typus: Frau Seestern, Frau Rose und Frau Krüger mit ihren Ehepartnern und Kindern. 186 Dazu zählen für diesen Typus: Frau Wetzel als Einzelperson, Frau Löffler mit ihrem Lebenspartner als auch Herr und Frau Schuster. 187 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 2. 188 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„[...] der Bruder meines Mannes wollte uns immer rausholen und hatte dann aber einen Unfall und starb über diese vielen Pläne uns mit Tragflächenboot über die Ostsee rauszuholen. Also das geht ja, es ist=hat einen AUFGERIEBEN, also man konnte ja kaum schlafen. So abenteuerlich das ist, man ist ja kein Abenteurer. Und mit den kleinen Kindern sollten wir dann an der Mole in Warnemünde stehen und dann wollte er im äh Schatten der Fähre im, wie heißt das Ding, dass man nicht erfasst wird auf dem Schirm, Bildschirm, der [...] Radar, genau, auf dem Radar. Im Schatten dieses Radargerätes wollte er abends, mit der Fähre von nach Gedser-Warnemünde REINKOMMEN und dann hätten wir da drauf springen und dann sollte die Fahrt eben ganz schnell Richtung, es ist ja nicht weit, Warnemünde, Dänemark, wollte er uns rausholen. Und das=da hat er, das hat ihn nervlich kaputt gemacht und uns auch und na ja das hat nicht geklappt.“189

Die Ehefrau des verstorbenen Schwagers erteilte nun unter erheblichen finanziellen Belastungen der Fluchtorganisation „Loeffler“ den Auftrag, die Familie von Frau Rose aus der DDR zu schleusen.190 Jenes Westberliner ‚Schleusungsunternehmen‘ war seit 1961 tätig und hatte sich insbesondere auf die Schleusung von Personen durch den zivilen Flugverkehr mit gefälschten Pässen und Visa-Unterlagen spezialisiert. Von nun an lag das Schicksal der Familie in deren Händen; die Kontaktaufnahme zu den Schleusern gestaltete sich schwierig. Bereits bei der zweiten sollte das geplante Vorhaben auffliegen, denn die Organisation befand sich zu dieser Zeit schon im Visier der Staatssicherheit.191 Wie die Aktenlage belegt, wird Familie Rose bereits am 9. Februar 1973 in einer „Vorlaufakte Operativ“ erfasst. Aufgabe der Abt. XX192 ist es, das Ehepaar nach §§ 213 und 100 StGB operativ zu bearbeiten: „Ziel der Bearbeitung ist es, dem Ehepaar Vorbereitungshandlungen zum illegalen Verlassen der DDR und staatsfeindliche Verbindungsaufnahme nachzuweisen.“193 Es gelingt dem MfS die Buchungen für die Flüge nach Budapest, die Herr Rose tätigte, zu registrieren.194 Ab diesem Zeitpunkt werden die Roses kontinuierlich beschattet; nach 189 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 8. 190 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 8. Pro Person konnte eine solche Schleusung 10 000 DM betragen, davon musste bereits ein Großteil vor der eigentlichen Schleusung als Anzahlung hinterlegt werden. 191 „Also äh diese Flucht konnte nicht stattfinden, das war schon merkwürdig, weil die Fluchthelfergruppe in Westberlin am Auffliegen war. Ich weiß nich’, ob Sie die ‘Organisation Loeffler’, diese Fluchthelfergruppe ‘Loeffler’, schon mal gehört haben? [...] Das sollte mit falschen Pässen gehen, wir sollten uns mit der ungarischen ‘Malew’Fluglinie sollten wir uns Tickets besorgen [...].“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 33. 192 Die Hauptabteilung XX bzw. die Abt. XX der Bezirksverwaltungen zuständig für „Staatsapparat, Kirche, Kunst, Kultur, Opposition“ nahmen eine besondere Funktion in der flächendeckenden Kontrolle und Überwachung unter Zuhilfenahme aller Mittel und Methoden derjenigen BürgerInnen in der DDR ein, die – in welcher Form auch immer – gegen die staatliche Ordnung opponierten bzw. einen Verdacht dahingehend erregten. Vgl. Gill/Schröter, MfS, S. 45. 193 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Eröffnungsbericht zur VA op. I/262/73 (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 7). 194 Abt. XX/3 der zuständigen Bezirksverwaltung notiert auf Hinweis der Verwaltung Groß-Berlin zwei Wochen vor der Festnahme des Ehepaars, dass Herr Rose „mit seiner gesamten Familie für den 6. 2. 73 einen Flug nach Budapest gebucht hat. Mit dieser Maschine der Interflug soll nach Angaben des Genossen K. durch eine Schleuser© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„inoffiziellen Hinweisen“ gelingt es dem MfS auch die vereinbarten Treffs mit den Kontaktpersonen der „Loeffler-Organisation“ unter Beobachtung zu stellen.195 Das zuletzt verabredete Treffen mit dem Fluchthelfer wird für die Familie zur nervlichen Zerreißprobe. Hierbei kommt es nämlich zur ersten direkten Wahrnehmung staatssicherheitsdienstlicher Observierung. Aus dieser entsteht das Bewusstsein, möglicherweise eine existenzielle Gefährdung der gesamten Familie zu provozieren. „Wir sind dann also über [Ortsname] am nächsten Tag nach Ostberlin gekommen, mein Mann hatte einen Treff mit dem Fluchthelfer, direkt vor dem Deutschen Dom am Lustgarten, auf dem Parkplatz sollten wir im Auto sitzen bleiben. Und da waren wir vorher zum Essen und ham unsere Kinder in dem sehr schönen Restaurant gelassen [...] und dann ham wir gesagt, »Wir wollen nur mal schnell gucken, was das Meißner Geschäft ausgestellt hat. Wir sind gleich wieder da.« Und äh sind dann mit dem Auto schnell zu dem Fluchthelfer gefahren und DA fühlten wir uns dann beobachtet. Also der kam, wir sahen ihn da so rumlaufen, Kragen hochgeschlagen und die Schultern so hochgezogen, ham wir gesagt, »Also da stimmt was nich’«, also wie im Film, wie im Krimi, also ENTSETZLICH. Und da ging er denn diese Stufen hoch, zu diesem äh Museum, was da am Lustgarten liegt. Und stand dann da oben und ich dachte, »Warum kommt er denn nich’ her? Wir können doch hier nich’ ewig stehen bleiben.« Neben uns war ’n Auto, der putzte ewig die Scheiben, ich sagt’, »Guck’ mal, der hat überhaupt keine schmutzigen Scheiben, der putzt immer noch, der=der=der ...«, also ich sagt’, »Das ist BESTIMMT SCHON die Stasi.« Na ja jedenfalls kam der dann mit seinem Auto noch mal GANZ KURZ ran, dieser Fluchthelfer, hielt neben uns, drehte die Scheibe runter und sagte nur, »Nächsten Sonntag um dieselbe Zeit«, und raste davon. Ach—, ich dachte, »Jetzt aber ganz schnell zu den Kindern.« Da sind wir denn schnell in dieses Restaurant wieder gefahren und Kinder eingepackt und wollten nur nach [Ortsname], so richtig.“196

Die Überwachung wird von der Bezirksverwaltung Groß-Berlin, Abt. XX durchgeführt, aufgezeichnet und umgehend an die zuständige Bezirksverwaltung weitergeleitet. Den Beobachtungen von Frau Rose entsprechend, wusste man bereits, dass die Familie nach Ostberlin fuhr, „um einen Treff mit einem Kurier der Schleuserbande [Schwärzung] durchzuführen“.197 Die weiteren Ausführungen in diesem Schreiben verweisen auf wenige Stunden später, das heißt auf die daraus folgende Festnahme des Ehepaars zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gemäß § 105 (Staatsfeindlicher Menschenhandel) in Tateinheit mit § 213 StGB (Ungesetzlicher Grenzübertritt). Dies übertraf im Grunde die Zielstellung des Eröffnungsberichts, da hier zunächst auf Tateinheit mit § 100 (Staatsfeindliche Verbindungsaufnahme) operiert werden sollte. Ähnlich verlief der gescheiterte Fluchtversuch der Familie Seestern. Mit einem befreundeten Ehepaar und westdeutscher verwandtschaftlicher Hilfe planorganisation eine Gruppe von DDR-Bürgern ausgeschleust werden.“ MfS-Akte Herr und Frau Rose (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 26). 195 Vgl. MfS-Akte Herr und Frau Rose, Vermerke Abt. XX /3 (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 40–41). 196 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 35. 197 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Aktennotiz (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 92). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ten sie mit der so genannten „Mierendorff-Bande“ eine Flucht über die Transitstrecke. Infolge des Transit-Abkommens zwischen Ostberlin und der BRD vom Dezember 1971198 boten sich für Schleusungsunternehmen gewissermaßen kurzfristig neue Methoden der Fluchthilfe an, noch bevor die DDR dann schließlich an den Grenzen Infrarotgeräte zu Aufspürung von Flüchtlingen einsetzte. Es gab beispielsweise in speziell umgebauten Fahrzeugen, die mit einem bestimmten Türensystem ausgestattet waren, relativ hohe Erfolgschancen, unbemerkt und ohne Beschädigung der Verplombungen die Grenze in die BRD zu passieren; auf dieses Verfahren hatte sich „Mierendorff“ spezialisiert.199 Bei mehrmaligen, abenteuerlichen Verbindungsaufnahmen mit den Auftraggebern200, im stetigen Bewusstsein, „dass die Stasi eigentlich da schon auch alles kontrollierte“201 wurden Termine vereinbart, kurzfristig wieder abgesagt und neu organisiert. Frau Seestern schildert diese Zeit der Abrufbereitschaft, im Hinblick auf ein plötzliches Ende des bisherigen Lebens in der DDR, als unerträgliche Aussetzung des normalen Lebensalltags. „Du weißt zwar irgendwann soll ’s jetzt losgehen, aber du weißt es ja nie genau, du erfährst es ja erst kurz vorher und bist natürlich nervlich, also wahnsinnig äh angespannt. Und du musst ja immer so tun, als äh als geht das Leben so weiter, ne. Wir ham uns also auch ’nen Weihnachtsbaum gekauft, die standen ja immer auf ’m Balkon in der DDR, wir ham eigentlich so getan, als werden ähm wir also Weihnachten da sein, obwohl wir also gehofft ham, dass wir nicht mehr da sind. So, und wir standen dann also auch schon auf gepackten—, na, Koffer waren ’s ja nicht, aber die Kinder auf ’n Arm und ich war auch schon ... Ähm, ich wartete im Haus schon drauf, dass es losgeht und dass mein Mann kommt, uns abholt, und das wurde also ganz kurzfristig, also es wurde eigentlich an dem Tag äh noch abgesagt [...].“202

Zudem zwingt das erstaunlich ausgeprägte Bewusstsein, bereits in der Beobachtung der Staatssicherheit zu stehen, zu Vorsichtsmaßnahmen im privatesten Bereich. Selbst in der eigenen Wohnung findet eine Form von ‚Entprivatisierung‘ statt, die letzte Sphäre von Intimität wird durchbrochen. „[...] diese Zeit ist auch unheimlich anstrengend, eigentlich schon, weil du willst dich ja immer mal austauschen über das Problem. Du hast ja eigentlich keine anderen Sorgen, du denkst ja immer nur drüber nach und=und überlegst dir auch noch machste ’s richtig, wie machste ’s richtig, also du will__, das Thema ist ja eigentlich Nummer eins für dich und deinen Partner. Und— du weißt aber schon, »Also du musst=du musst vorsichtig sein, die=die— Stasi überwacht dich«, oder sonst was. Also haben wir zu=am Anfang 198 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 287 f. 199 Vgl. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 3. 200 „Es sollte ein Weihnachtspaket geschickt werden, von unseren Freunden, wenn da ‘Levis’-Jeans drin sind, dann sollte es der 24. Dezember sein, wenn ‘Lee’-Jeans drin sind, ich glaub’, ’ne Woche vor Weihnachten, war der erste Termin und Weihnachten war der zweite Termin und wenn ’s ‘Wrangler’ sind, sollte das am Sylvestertag sein. Und wie gesagt, wie James Bond, is’ gar nichts dagegen.“ V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 4. 201 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 4. 202 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 5. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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also nicht in der Wohnung drüber geredet, sondern wir sind mal spazieren gegangen, so. Bloß das hältste ja auch nich’ lange durch, mmh kannst nich’ immer raus gehen, wenn dir was einfällt, so viel Zeit haste ja auch nich’. Also ham wir dann irgendwo gehört, wenn man Radio anhat, laut, dann können se die Gespräche nich’ abhören. [...] aber das=das zerrt so was an den Nerven, also das is’ schon Wahnsinn. Und wir ham eigentlich dann später auch rausgekriegt, dass sie uns wirklich in der Wohnung überwacht ham.“203

Diese damals den Befürchtungen angepassten Handlungsstrategien und Verhaltensmuster entsprachen in jeglicher Ausformung der Wirklichkeit; die Akte von Herrn und Frau Seestern belegt differenziert die Umsetzung des Maßnahmeplans zum eingeleiteten Operativen Vorgang (OV) gemäß den Tatbeständen §§ 105 und 213 StGB.204 Anlass für einen gezielten OV ist der vom MfS bereits beobachtete, gescheiterte Fluchtversuch der Familie Seestern; aufgrund eines Schneesturms und des dadurch verursachten Verkehrschaos’ auf der Transitstrecke konnte es zum verabredeten Termin nicht zum Treffen mit den Schleusern kommen. „Ja, und das sollte so laufen, dass wir ähm zu einem bestimmten Termin an diese Raststelle [Ortsname] fahren sollten, zu siebent, also mit einem Pkw auch, ja, geht ja, die Kinder waren klein, und ähm dort sollten also zwei Männer auch kommen. In diesen Raststätten sind ja auch diese Videokameras, also das wusste man ja auch, dass die also ganz stark überwacht sind, die sollten sich an ’nen anderen Tisch setzen, der eine sollte ’ne Schmidt-Mütze aufhaben, der andere ’ne Sherlock-Holms-Mütze und dann sollten se sich ’ne Schachtel ‘Marlboro’ kaufen und daran sollten wir die also erkennen. Und— wenn die also zahlen, sollten wir auch zahlen und sollten nun hinter denen hergehen und herfahren, die wären mit zwei Autos gewesen und— wir wären also hinter denen hergefahren, wenn die irgendwo ’ne Stelle gefunden hätten, wo sie unbeobachtet sich fühlen, wären wir also auch rechts raus in den Wald, wir hätten das Auto dort versteckt und wären in diesen Kofferraum da geklettert. [...] So gut, dann ham wir dort, weiß nich’, eine Stunde oder anderthalb, keine Ahnung mehr, gewartet und die kamen nich’ und was wir also dann viel später erfahren haben, war (2), dass sie diese Transitstrecke schon abgesperrt hatten wegen diesem Schneechaos und dass die also gar nich’ mehr reinkamen. SO ! Nun sin’ wir also wieder unverrichteter Dinge wieder nach Hause gefahren.“205

In der Oberservierung des potenziellen Fluchtversuchs durch die Abt. VI (Passkontrolle, Tourismus, Interhotel) wird berichtet, „dass die Verdächtigen durch die KMHB Mierendorff [...] ausgeschleust werden sollten. Da die Schleuser am Treffort [...] aber verspätet eintrafen, kam es zu keiner Kontaktaufnahme und 203 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 6. 204 MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Beschluss über das Anlegen eines Operativ-Vorgangs bzw. Maßnahmeplan (BStU, ASt. Rostock, AOp 590/80, Bl. 6 bzw. B. 14–17). 205 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 4 und 7. Ein auf ähnliche Weise geplanter, vorzeitig abgebrochener Fluchtversuch mit Hilfe einer Organisation wird auch für Familie Krüger Gegenstand einer drei Tage später erfolgten Verhaftung sein. Schon bei der nächtlichen Rückkehr in die gemeinsame Wohnung wird Frau Krüger einer Überwachung durch das MfS gewahr. Vgl. V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 7 und 12–13. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Schleusung.“206 In Folge dieser vereitelten Fluchtaktion kommt es zur Anlegung eines OV, der die Familie wird nun unter permanente „operativ-technische“ Maßnahmen stellte. Wie der Maßnahmeplan erkennen lässt, leitete Abt. VI so genannte „B-Maßnahmen“ ein, das hieß die Überwachung der Wohnung von Familie Seestern erfolgte von einem „konspirativen Objekt“; was wiederum bedeutete, dass das MfS von einer eigens dafür bereitgestellten, gegenüberliegenden Wohnung beobachtete. Von dieser mit hohem Aufwand betriebenen Observierung, die auch bei einem Verlassen des Hauses mit einem Pkw, in der Nacht beispielsweise mit Nachtsichtgeräten, rund um die Uhr fortgesetzt wurde, erhoffte man sich vor allem die Erfüllung der Zielstellung: „Erkennen und Liquidierung von Kurieren und Schleusern der genannten KMHB“.207 Durch die vom Agieren der Familie Seestern unabhängige Erfassung der Schleuser der Fluchthelfergruppe bei einem weiteren Schleusungstermin, von dem die Familie aber nicht in Kenntnis gesetzt werden konnte, wurde auch das Ehepaar ein Dreivierteljahr später, nach intensiven Recherchen des MfS – drei Tage nachdem sie sich zur Stellung eines Ausreiseantrags entschieden hatten – verhaftet. Dass die Familie Seestern in konkreten Zusammenhang mit diesen erfassten Schleusern geriet, erklärt sich Frau Seestern folgendermaßen: „Und da waren dann die beiden Schleuser da, aber wir nich’, weil wir gar nichts davon wussten. Und die hatten wohl unsere Bilder im=im, in der Brieftasche, um uns zu erkennen und die hat man dann verhaftet. Also wir nehmen an, das haben wir eigentlich nie genau rausgekriegt, auch nich’ aus unsern Akten, dass, ich mein’, diese Organisationen sind ja unterwandert, dass das irgendwie verraten worden is’, und die ham die verhaftet und ham die eben dann ausgequetscht und— anhand der Bilder ham se uns dann eben irgendwann mal da identifiziert über den, das waren Hochzeitsbilder, über, da is’ immer so ’n Stempel drauf, von welchem Fotografen, also das ham wir auch mitgekriegt, dann waren se bei dem Fotografen und dann ham se also so rausgekriegt, wer wir sind.“208

Diese Annahme findet auch Bestätigung im vorliegenden „Vorschlag zur Realisierung des OV“, der die Festnahme des Ehepaares im Detail festlegt. Diesem ist zu entnehmen, dass beim zweiten Fluchttermin, „die festgenommenen Schleuser“ nicht auf die Familie Seestern treffen, aber im Zuge der Vernehmungen „wesentliche operative Fakten herausgearbeitet werden [konnten], die darauf hinweisen, dass die Familie nach wie vor Aktivitäten in jeglicher Form un-

206 MfS-Akte Herr und Frau Seestern (BStU, ASt. Rostock, AOp 590/80, Bl. 6). 207 MfS-Akte Herr und Frau Seestern (BStU, ASt. Rostock, AOp 590/80, Bl. 14). Diese Annahme belegt auch die optische Hervorhebung (handschriftliche Unterstreichung) des Tatbestandes § 105 im Gegensatz zum Tatbestand § 213; die Aufklärung des Agierens der „Mierendorff-Bande“ hatte demnach – gegenüber einer Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der Familie Seestern – erste Priorität. Vgl. MfS-Akte Herr und Frau Seestern (BStU, ASt. Rostock, AOp 590/80, Bl. 6). 208 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 8. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ternimmt, um die DDR auf ungesetzlichem Wege über ein KMHB zu verlassen“.209 „Wir wollten das handgestrickt und ganz alleine machen, mit dunklem Trainingsanzug und Drahtschere ...“ – Sperrbrecher: Die Gruppe der so genannten Sperrbrecher leitete auf unterschiedliche Weise erste Planungen für eine Flucht ein. Die Gründe für einen Alleingang sind entweder fehlende finanzielle Mittel oder unzureichende kommunikative Kontakte in die damalige Bundesrepublik, aber letztlich auch die Furcht das eigene Leben in die Hände anderer legen zu müssen. All diese Personen wählten einen Fluchtweg über einen der Ostblockstaaten; insbesondere sind Grenzüberschreitungen über Rumänien und Bulgarien aber auch von Ungarn aus ins westliche Ausland geplant gewesen. Von diesen trafen lediglich Herr und Frau Schuster genaueste Vorkehrungen: Sie betrieben die illegale Beschaffung und Auswertung geographischer Karten, schulten für den Gang über die grüne Grenze in Ungarn das nötige Verhaltenstraining im Gelände und beschafften adäquate Werkzeuge für den Grenzdurchbruch. Ihre Planungen beschreibt Frau Schuster wie folgt; gleichzeitig benennt sie die für sie wahrscheinlichen Gründe, die noch vor Reise- bzw. Fluchtantritt zu einer Verhaftung führten. „Und dann ham wir direkt angefangen, die Sache zu planen. Wir ham dann gesagt, »Nee, nee, also wir machen die Sache alleine. Und zwar gehen wir über Ungarn.« [...] Und wir wussten, weil wir, wenn Sie jemanden hatten, der bei der Armee war, wir ham doch alle schießen gekonnt, ich konnt’ ’s doch auch, das ham wir doch in der Schule gelernt, ne. Und da haste gelernt dich zu bewegen und so weiter und da ham wir das eben noch geübt. Und wer also bei der Armee war, der hatte dann noch ’n bissel mehr Ahnung und wer sich ’n bissel umgehört hat, der weiß, dass du da fünfzig Kilometer vor der, ja mindestens oder zwanzig oder dreißig Kilometer vor der Grenze nicht mehr unbedingt sichtbar sein darfst und dann eben irgendwie sehen musst, dass de dahin kommst wie ooch immer. Und das ham wir dann geübt. Und das=das kam aber leider dann SCHIEF. Das heißt, wir sind ja gar ni’ weggekommen. Die ich=wir hätten=ich hätte den Antrag für Ungarn ni’ stellen sollen. Da brauchteste ja ’n Visum. In de Tschechei hätteste zum Beispiel keens gebraucht und da hätteste das so machen können. Aber irgendwie ham wir dann, na wie gesagt, das=den Antrag gestellt und das wurde dann abgelehnt und waren wir noch da und ham gesagt, »Wir möchten den holen. Dienstags.« So und nun guckte der so komisch in die KARTEIkarten und guckte mich so blöd an und dann hat der gesagt »Ich soll Donnerstag noch mal wiederkommen, da wär’ er da.« Und mittwochs ham se uns einfach abgeholt, mein Mann in [Ortsname] und mich zu Hause in [Ortsname].“210

209 MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Vorschlag zur Realisierung des OV (BStU, ASt. Rostock, AOp 590/80, Bl. 24). 210 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 12 f. Ein Detail dieser Aussage ist auch auf andere Weise interessant: Der in der DDR seit 1978 obligatorisch eingeführte Wehrunterricht (für die 9. und 10. Klasse) zur gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung im Kampf gegen den ‚Klassenfeind‘ vermittelte paramilitärische Fähigkeiten, die sich hier letztendlich gegen die DDR selbst richten sollten; sie werden Mittel zum Zweck, um das Land gegen den ‚Klassenfeind‘ zu verlassen, nicht aber um es gegen jenen zu verteidigen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Im Gegensatz zu diesen Vorbereitungsmaßnahmen, die sich über mehrere Monate erstreckten, hatten Herr und Frau Löffler wie auch Frau Wetzel zunächst nur die erforderlichen Visaunterlagen beantragt bzw. die Anreisemodalitäten via Flugzeug bzw. Pkw für die jeweiligen Länder geklärt211; der Weg über die Grenze war, beispielsweise wie Herr und Frau Löffler ihn sich mit Hilfe einer westdeutschen Reisegruppe vorstellten, weder im Detail geplant noch organisiert worden.212 Im vorangehenden Kapitel wurde erläutert, dass Frau Löffler ebenso wie ihr Ehemann bereits kontinuierliche Bespitzelung und Observierung durch mehrere IM und technische Abhöranlagen erfuhren, noch bevor eine Planung der „Republikflucht“ ihrerseits konkret greifbar wurde. Die Aktenlage von Frau Löffler macht die Anlässe greifbar, die das MfS auf das Ehepaar aufmerksam machten. So war es auch möglich, termingenau der anberaumten Flucht zuvorzukommen. Erste Ermittlungen gegen Frau Löffler standen in Zusammenhang mit der „Bearbeitung der Rückverbindung des ehemaligen Sanitätsinspektors [beim Rat des Bezirkes Leipzig], Dr. [Name], welcher im Juli 1973 die DDR ungesetzliche [sic] verlassen hat“. Die regelmäßigen Kontakte postalischer und telefonischer Art zwischen beiden befreundeten Personen wurden ab diesem Zeitpunkt kontrolliert bzw. abgehört, da gleichzeitig „durch einen Hinweis der KD Luckenwalde über einen IM aus dem Operationsgebiet vom 24.10.1973 [...] bekannt [wird], dass die [Löffler] mit ihrem jetzigen Freund [...] beabsichtigt, die DDR ungesetzlich zu verlassen“.213 Die synchrone Bearbeitung des Vor211

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Vgl. bspw. Frau Wetzel: „Aber mein Fehler war halt, dass ich nur ’n Hinflug gebucht hab’ ((lachend)), das war schon ziemlich dumm. Aber ich hatte damals ja total wenig Geld, ich konnt’ das einfach net machen. Und ich hab’ dann gesagt, ich wollte rückwärts trampen, das ham ja damals viele gemacht, aber das ham se mir net so richtig geglaubt. Aber es war natürlich auch klar, dass ich schon VORHER beobachtet wurde und zwar schon (’ne) ziemlich lange Zeit, wusst’ ich damals alles natürlich nich’.“ VTranskript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 4 f. Die Vermutungen der Überwachung lassen sich in den Unterlagen ihrer Personalakte verifizieren. Abt. M der zuständigen BV bestätigt in ihrer Auswertungstätigkeit eines Briefs von Frau Wetzel an einen westdeutschen Freund, der zweideutige Anmerkungen enthält, den Verdacht des „geplanten ungesetzlichen Verlassens der DDR“. Aus der Sofortmeldung und Personenüberprüfung generiert eine OPK, die zusammen mit der Tatsache, dass Frau Wetzel eine Urlaubsreise in die Volksrepublik Bulgarien beantragt hat, zu folgender Entscheidung „gemäß Richtlinie 1/71, Abschnitt 6“ führt: „Einleitung eines EV [Ermittlungsverfahrens] mit Haft nach § 213 (1) u. (3) StGB (Vorbereitungshandlungen zum ungesetzlichen Verlassen der DDR über soz. Ausland).“ MfS-Akte Frau Wetzel, Übersichtsbogen zur OPK (BStU, ASt. Gera, 19/1976 OPK, Bl. 5–6). „Wir wussten das auch, dass das in Bulgarien und Rumänien in diesen Ferienorten, diese Drei-Tages-Ausflüge in die Türkei gibt. Bloß als das bei uns soweit war, wusste ich genau, das kann nicht klappen, weil in Zypern Krieg war. Das war genau ’74, ich weiß nicht Türken und Griechen und was da alles war. Und da denk’ ich, dann machen die keine Gruppenreisen nach Zypern, wenn da unten jetzt Krieg is’. Also hab’ ich auch kein Zeugnis vorbereitet, gar nix.“ V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 35. MfS-Akte Frau Löffler, Einschätzung zum Stand der Bearbeitung der VAO (BStU, ASt. Leipzig, AOP 147/75, Band 1, Bl. 312–313). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gangs durch IM in der Bundesrepublik214, die zunächst die Entlarvung einer möglichen Schleuserorganisation über den bereits in die BRD geflüchteten Freund von Frau Löffler zum Ziel hatte, der massive Einsatz von mehreren IM sowohl am Arbeitsplatz bzw. im Freundeskreis215 als auch – wie die Aussagen von Frau Löffler im Interview verifizieren – die im direkten Zusammenhang damit stehende „Nutzung der eingebauten Technik bei der Vorgangsverdächtigen“216, ermöglichte dem MfS im Zusammenwirken der verschiedenen Abteilungen der zuständigen Bezirksverwaltung und anderer Kreisdienststellen die Sondierung des genauen Zeitpunktes der bevorstehenden Flucht: „Über die Vorgangsverdächtigten wird beginnend ab 14. 8.1974 bis auf Widerruf, eine Ausreisefahndung an allen Grenzübergängen zur ČSSR [sic] eingeleitet. Beim Erscheinen an dem Grenzübergang werden die Vorgangsverdächtigten einer intensiven Zollkontrolle [...] unterzogen sowie eine intensive Befragung zu Reisezielen durchgeführt mit dem Ziel, Anhaltspunkte auf das beabsichtigte ungesetzliche Verlassen der DDR zu erarbeiten.“217 Von den individuellen Beispielen ausgehend, kann für den übergeordneten Rahmen festgehalten werden, dass die staatssicherheitsdienstliche Bekämpfung der „Republikflucht“ mit der von Mielke beschlossenen Bildung der „Zentralen Koordinierungsgruppe“ (ZKG) (Januar 1975) und infolge der 1975 und 1977 erlassenen Befehle Nr. 1/75 und 6/77218 eine neue, ungeahnte Dimension erreicht hatte. Befehl Nr. 6/77 bezog sich vor allem auf die Verminderung der ansteigenden Zahl derer, die per Antrag eine ständige Ausreise ins westliche Ausland zu erreichen suchten. Dort wurde an exponierter Stelle mehrfach betont, dass „in den Rechtsvorschriften der DDR [...] ein Recht zur Übersied214

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Das MfS verfügte im westlichen Ausland und besonders in der damaligen Bundesrepublik (= Operationsgebiet) über ein weit verzweigtes Netz von IM, das der Hauptverwaltung Aufklärung unterstand und dessen Arbeit erst 1979 in „Richtlinie Nr. 2/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern im Operationsgebiet“ offiziell definiert wurde (dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 478–523). Mielkes Befehl Nr. 21/76 (GVS MfS 008–10687/76) aber offeriert bereits 1976 den verstärkten Einsatz und die Suche von „zuverlässigen Quellen im Lager des Gegners“ und fordert aus aktuellem Anlass, d. h. „unter Berücksichtigung der sich verändernden politisch-operativen Lagebedingungen“ die massive Anwerbung von geeigneten Kadern und die Nutzung aller operativen Möglichkeiten im Operationsgebiet. Dokumentiert in: Die Inoffiziellen Mitarbeiter, S. 653–657, Zitate S. 654. V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 33 f. MfS-Akte Frau Löffler, Einschätzung zum Stand der Bearbeitung der VAO (BStU, ASt. Leipzig, AOP 147/75, Band 1, Bl. 314). MfS-Akte Frau Löffler, Aktenvermerk über eine Aussprache mit dem Stellvertreter Operativ, Gen. Oberstleutnant Fesel zum OV (BStU, ASt. Leipzig, AOP 147/75, Band 3, Bl. 56). Befehl Nr. 1/75 zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels und Nr. 6/77 zur Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie die Unterbindung dieser rechtswidrigen Versuche. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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lung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin nicht vorgesehen“219 sei, demnach die in den KSZE-Verhandlungen unterzeichneten Vereinbarungen keine Übertragung auf das nationale Recht erführen. Befehl 1/75 verwies auf „verstärkte Anstrengungen“ des westlichen Gegners, „Bürger der DDR abzuwerben, zum ungesetzlichen Verlassen der DDR zu verleiten und auszuschleusen“. Dieses ‚Vorgehen‘ wurde in der Analyse als „Hauptrichtung des gegnerischen Vorgehens“ erkannt und sollte durch Instruktion vom 15. Januar 1976 mit aller Entschiedenheit offensiv bekämpft und zielgerichtet aufgeklärt werden.220 Die der ZKG untergeordneten „Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG)“ leisteten entsprechende Aufklärungsarbeit zur Verhinderung der Republikflucht auf Bezirksebene, wie am Beispiel von Frau Wetzel nachvollziehbar wird. Die zuständige Bezirkskoordinationsgruppe unterbreitet kraft der OPK-Ergebnisse, der Kontrollmaßnahmen von Abteilung M (Postkontrolle) und PZF (Postzollfahndung) als auch der Auswertung des Einsatzes von IMS „Reichel“ am 19. 7.1977 einen „Vorschlag zur offensiven Klärung des Materials [...] aufgrund der dringenden Verdachtsmomente, dass die [Wetzel] geplante Urlaubsreise zum ungesetzlichen Verlassen der DDR ausnutzen will“.221 Die Annahme des Vorschlags hatte die Zuführung von Frau Wetzel durch die Staatssicherheit und schließlich die Einleitung des Ermittlungsverfahrens nach § 213 zur Folge. Die in den genannten Befehlen des Ministers erteilten Anweisungen für die ZKG/BKG erlangten nur für einen Teil der vorgestellten Personen des Typus Gültigkeit und Umsetzung, weil – wie bereits deutlich wurde – Frau Rose, Frau Krüger, Herr und Frau Schuster wie auch Frau Löffler bereits vor 1975 einen Fluchtversuch durchführten bzw. die Planung eines solchen vorbereiteten. Ehe es zur Bildung der ZKG/BKG im diesem Jahr kam, waren hauptsächlich die HA VII und die Abteilung 5 der HA XX mit der Bekämpfung von Fluchtversuchen und „illegalem Menschenhandel“, wie sie diese Personen betrafen, beauftragt; dies findet in den personenbezogenen MfS-Unterlagen entsprechende Bestätigung.

6.1.3.2 Fluchtversuch – „Zuführung“ und Verhaftung Die Erzählungen über die Verhaftung durch das MfS nehmen im Verlauf der einzelnen Interviews sehr großen Raum ein. Wie Eberhardt in seiner Studie „Verschwiegene Jahre“ für die Hafterlebniserzählungen seiner ZeitzeugInnen bereits belegen konnte, so steuern auch die InterviewpartnerInnen des vorliegend untersuchten Typus gezielt und in den Beschreibungen äußerst differenziert auf den „Wendepunkt“ ihres damaligen Lebens zu; auffällig ist zudem, dass „mit fast vorhersagbarer Regelmäßigkeit“ die Daten der Verhaftung genau219 Befehl Nr. 6/77 (BStU, ASt. Chemnitz, Dokument 102331, Bl. 3, MfS-Zählung). 220 Vgl. Befehl Nr. 1/75. Dokumentiert in: Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen, S. 73–85, Zitate S. 81 f. 221 MfS-Akte Frau Wetzel (BStU, ASt. Gera, 19/1976 OPK, Bl. 36). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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este Nennung finden.222 Das ist Beleg mehr für die einschneidende Bedeutung dieser traumatisch erlebten Erfahrung. Die vorliegenden Fälle weisen auf letztlich verallgemeinbare Verhaftungsmodalitäten im Vorgehen des MfS223 hin. Gesondertes Augenmerk gilt dem Umgang des MfS mit den zurückgelassenen Kindern der verhafteten Eltern. Die Analyse der vorliegenden Fälle versucht bis heute schemenhaft gebliebene, gesetzliche Möglichkeiten des MfS im Verfahren mit den Kindern näher darzulegen bzw. möchte die Willkür und den Ermessensspielraum des Untersuchungsorgans in seiner Zusammenarbeit mit der staatlichen Jugendhilfe offen legen. Möglicherweise können so die Gründe und Gegebenheiten für eine Heimeinweisung und die in ihrer Folge entstandenen erziehungsrechtlichen Probleme nachvollziehbar gemacht werden. Die Ausführlichkeit der Darlegung rührt aus einem festgestellten Defizit in der bisher zur Verfügung stehenden Forschung, was die differenzierte Auseinandersetzung und Erhellung des Verfahrens mit den Kindern politisch Inhaftierter betrifft.224 Dies soll ein erster Anstoß für eine gesonderte und ausführlichere Befassung mit dieser Thematik sein. „Na, die ham mich aus ’m Bett geholt.“ – „Zuführung“: Die Durchführung von Festnahmen oblag zumeist der Abt. VIII (Beobachtung/Ermittlung) in Zusammenwirken mit Abt. VI (Passkontrolle, Tourismus, Interhotel) der jeweiligen Bezirksverwaltungen. Wenn eine Person von zu Hause aus verhaftet werden sollte, erschienen – fast durchweg in den frühen Morgenstunden – mehrere MfS-Bedienstete in der jeweiligen Privatwohnung. „In jedem Fall musste das 222 Vgl. Eberhardt, Verschwiegene Jahre, S. 139–149, Zitat S. 140. Vgl. bspw. die einführenden Erzählungen von Frau Wetzel zu ihrer Verhaftung: Sie wird offiziell von einem Volkspolizisten zur Klärung von Unregelmäßigkeiten der Visumausstellung aufgesucht und nach dem Verlassen des Hauses aber direkt in ein Auto geleitet, in dem zwei MfSMitarbeiter auf sie warten und sie nicht auf das vermeintliche Polizeirevier der Kreisstadt, sondern in das Untersuchungsgefängnis der Bezirkshauptstadt bringen: „Aber direkt konkret hab’ ich dann die Staatssicherheit erst bei meiner Verhaftung erlebt. Und das ist eigentlich total, ähm also ich hab’ nie gedacht, dass ich verhaftet werd’. Wahrscheinlich hat da nie jemand damit gerechnet. [...] Und ich wurde äh dann am 25. Juli 1977 verhaftet. [...] Und ähm das war am Vormittag, ich war zu Hause und ein Polizist hat geklingelt und hat gesagt, ich sollte mit nach [Ortsname] kommen, das war die Kreishauptstadt, äh weil ich einen Visumantrag nach Bulgarien gestellt hatte und da würde es Unregelmäßigkeiten geben.“ V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 1 f. 223 Unterschiedliche Varianten des Vorgehens bei einer Verhaftung durch das MfS hat bereits Raschka in seiner Studie empirisch belegt. Vgl. Raschka, Überwachung und Repression, S. 49–52. 224 Zur Differenzierung und Entwicklung des Verfahrens in den siebziger und achtziger Jahren, auch in Rückgriff auf die gesetzlichen Möglichkeiten des MfS im Zusammenwirken mit Jugendhilfe und Justiz, findet sich – soweit ich sehe – bisher keine gesonderte Auseinandersetzung. Zur Verfügung steht im Moment lediglich spezielle Literatur zum Thema „Zwangsadoption“ in Form von Lebensberichten (bspw. Veith, Gebt mir meine Kinder zurück) oder vereinzelt (populär-)wissenschaftlicher Auseinandersetzung (Brüning, Kinder im Kreidekreis). Ausführlicher sind die Veröffentlichungen zur Arbeit der staatlichen Jugendhilfe, die aber nicht konkret auf diese Problematik eingehen. Vgl. bspw. Bernhardt/Kuhn, Keiner darf zurückgelassen werden! © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Opfer mit der Festnahme überrumpelt werden, um beim ersten Verhör seine Unsicherheit und Überraschung ausnutzen zu können.“225 Dieses Muster entspricht auch den Ausführungen der von dieser Methode des MfS betroffenen Interviewpartnerinnen. Am detailliertesten berichtet Frau Seestern von ihrer damaligen so genannten „Zuführung“. Fern jeglicher Vorahnung und Gedanken an eine Verhaftung – der missglückte Fluchtversuch lag über ein halbes Jahr zurück –, geraten sie und ihr Ehemann nach der Aufdeckung der damals beauftragten Schleuserorganisation in ein Ermittlungsverfahren der Staatssicherheit, das ihre politische Inhaftierung zum Ziel hatte und dem Zwecke der Aufdeckung weiterer Netzwerke dieser Organisation dienen sollte. „Ach! Wir waren ja total überrascht [...] Früh um sechs klingelt das, die verhaften wohl immer nur zwischen früh um sechs und abends um zehn, das hab’ ich dann auch erst später erfahren, von welchen, die ’nen Ausreiseantrag gestellt hatten, die ich eben im Gefängnis dann kennen gelernt hab’. [...] Und— ne, standen früh um sechs vor der Tür, ich mit meinen Kindern da nun, ja also, wo denn mein Mann wäre, »Wir haben ein paar Fragen an Ihren Mann.« Und da war ich eigentlich felsenfest davon überzeugt, da is’ wieder irgendeiner aus unserem Bekanntenkreis weg und dazu wird er gefragt. Und, pff, von mir wollten se eigentlich nichts, ne. [...] Das waren zwei Männer und ’ne Frau. (2) Mmh ja, also es waren drei, aber ich weiß gar nich’, also sie kamen dann nur zu zweit in meine Wohnung, der eine hat vor der Tür gewartet und ich weiß jetzt aber gar nich’, ob ich das erst später mitgekriegt hab’, dass se zu dritt waren. Na, jedenfalls standen die da, und dann sagten se eben, ja äh, »Wir würden gerne auf Ihren Mann warten.«“226

Erst im Fortlauf des weiteren Geschehens, bei ihrer ersten Vernehmung, wird Frau Seestern deutlich, dass sie bis zur Klärung des Verbleibs der Kinder unter Hausarrest gestellt worden war und das Warten auf den Ehemann lediglich einen Vorwand darstellte, um sie von jeglichem Kontakt zur Umwelt fernzuhalten. Denn schließlich verändert sich die Situation grundsätzlich. Wie aus der Aktenlage hervorgeht, war ab diesem Zeitpunkt der Verbleib der Kinder durch das Referat Jugendhilfe im Heim organisiert und Herr Seestern bereits einzeln zugeführt worden.227 Daraufhin richtete sich die Aufmerksamkeit der MfS-Mitarbeiter auf Frau Seestern selbst: »Frau [Seestern], wir hätten auch an Sie noch ’n paar Fragen. Äh würden Sie bitte mitkommen zur Klärung eines Sachverhaltes.«228 Eindrücklich schildert sie die unvermittelte Trennung von ihren beiden Kindern, zugleich die ersten Wahrnehmungen, die eine mögliche Verhaftung anzeigen. Sie findet sich in einem von innen nicht zu öffnenden Pkw wieder, der sie direkt in die Untersuchungshaftanstalt des MfS bringen wird; erste psy225 Raschka, Überwachung und Repression, S. 50. 226 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 10. Ähnlich verlaufen die Verhaftungen von Frau und Herrn Schuster, vgl. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 11 und 13. 227 MfS-Akte Herr und Frau Seestern (BStU, ASt. Rostock, AOp 590/80, Bl. 24–25); VTranskript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 13 f. 228 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 11. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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chologische Methoden – Vermittlung des Ausgeliefertsein gegenüber der staatlichen Macht in Verbindung mit individueller Handlungsunfähigkeit – kommen implizit zum Tragen. Dennoch ist die Dimension der Konfrontation und ihrer Folgen noch längst nicht begreifbar. „Und wir gingen dann—, machte also die Kinder fertig, und wir gingen also die Treppe runter und ich weiß, die hatten mich noch links und rechts an der Hand. Und auf der anderen Seite waren die Stasibeamten, die se ooch anfassten und schaukelten da so die Treppe runter. Und UNTEN vor der Tür fehlt mir irgendwie für ’n PAAR— Sekunden der Film, ich saß in ’nem Auto drin, wo drinnen keine Klinken mehr waren und meine Kinder waren weg, ich weiß nich’ wie=wie die das geschafft haben, dass ich die losgelassen hab’, das, da fehlt mir total ... Weiß ich nich’ wie das war. Und sie merkten auch sofort, wie ich unruhig wurde, weil die Kinder eben nich’ mehr da waren. Und da sagten, »Ach, die sitzen hier hinten im Auto. Wie war noch mal die Adresse von Ihren Schwiegereltern?« Also, sie ham mich in dem Glauben gelassen, dass sie die also zu meinen Schwiegereltern fahren. Und die fuhren dann auch, wie gesagt, (da) hinterher und das war ja auch die Richtung. Und wie gesagt, ich hatte so ’n Auto, wo de innen also keine, nich’ mehr Fenster oder Klinken aufmachen kannst. So, und dann fuhren wir eben, na gut, ich wurde dann wieder ’n bisschen ruhig, weil mir eben das noch mal das Gefühl gab, dass das also, dass die zu meinen Schwiegereltern gebracht werden.“229

Frau Krüger gerät in eine ähnliche Situation, als sie mit ihren beiden Kleinkindern zu Hause auf die Rückkehr des Ehemanns wartet. Sie berichtet von ihrer Verhaftung folgendermaßen: „Und am dritten Tag230 is’ mein Mann auf der Straße festgenommen worden, das war samstags, und er wollte mittags zum=zum Essen kommen und=und kam nicht. Und da war ich in riesengroßer Sorge und guckte dann zum Fenster raus und sah, so vielleicht zehn, fünfzehn Männer, alle so in dieser grünen Lederkleidung, jetzt wusst’ ich, »Jetzt wirste verhaftet.« Wenig später hat es geklingelt, ich=ich war aber, ich stand so unter Schock, ich hab’ auch aufgemacht, was hätt’ ich auch tun sollen. Die ham mich da also ... Sofort=sofort ’n Stoß gegeben, in den Korridor reingeschmissen und gesagt, »Sie sind verhaftet.« Und— äh die Kinder, meine Tochter hatte geschlafen, die hatt’ ich nach ’m Essen ins Bett gelegt und der Sohn, ich hab’ in meinem Schock zu meinem Sohn gesagt, »Wir sehen uns nie wieder.« Und ich weiß wie der Kleine mit dreieinhalb Jahren dastand und gesagt hat, »Warum nicht?« Und äh ich, die Kinder musst’ ich dort lassen und äh ich bin mitgenommen worden [...].“231

229 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 11. 230 Diese Aussage greift auf einen drei Tage zuvor missglückten Fluchtversuch zurück, bei welchem der Fluchthelfer der Familie in letzter Minute am Treffpunkt konspirativ zu verstehen gab, dass das geplante Unternehmen wegen drohender Überwachung durch das MfS geplatzt sei. Unvermittelt fuhr die Familie, die ebenfalls wie Familie Seestern in einem Fluchtauto per Transitstrecke die DDR verlassen wollte, in derselben Nacht in das verlassene Heim zurück. Bereits hier bemerkte Frau Krüger auffällige Personen, die das Haus in Beobachtung hielten. Tatsächlich wurde die Fluchthilfeorganisation eine Woche später von den DDR-Grenzbehörden des MfS aufgedeckt. Vgl. VTranskript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 7 und 12 f. 231 V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 7 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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In den Ängsten der missglückten Flucht immer noch gefangen, wird Frau Krüger im Moment des Anblicks der zahllosen MfS-Mitarbeiter die Bedrohung des Bevorstehenden klar. Ebenso wie Frau Seestern ist es ihr nicht möglich, über den Verbleib des Mannes Auskünfte zu erhalten, die Information über seine Festnahme speist sich erst aus den späteren gemeinsamen Gesprächen nach Ende der Strafhaft. Oft ging das MfS-Untersuchungsorgan sogar soweit, dass sich die Ehepartner zur gemeinsamen Verhandlung das erste Mal wiedersahen und offiziell ab diesem Zeitpunkt nun Gewissheit vom Verbleib und Aufenthaltsort des Partners hatten.232 Damit stellte die Isolation der Mitglieder einer Familie, das heißt Trennung der Ehepartner bereits bei der Verhaftung bzw. gezielte einzelne Zuführungsstrategie wie die Einweisung der Kinder in staatliche Erziehungsheime und die damit verbundene Unterbindung des Kontakts und Ungewissheit über den jeweiligen Aufenthaltsort in den ausgesuchten Fällen ein bestimmendes psychologisches Moment für die Verhaftungsmuster des MfS dar. „Wir sehen uns nie wieder.“ – Isolierung der Familie und ungeklärter Verbleib der zurückgelassenen Kinder: Die besondere Tragik, die beiden vorausgegangenen Schilderungen ferner zu Grunde liegt, betrifft die Situation der zurückbleibenden Kinder. Nach der Verhaftung wurden diese sofort von den Eltern getrennt. Ihren Verbleib, ob nun bei Verwandten oder in einem Kinderheim, teilte man den verhafteten Eltern zunächst nicht mit. Die Einweisung minderjähriger Kinder in Kinderheime der DDR war – so hält dies Raschka für die Auswertung seiner empirischen Fälle fest – insbesondere für die siebziger Jahre typisch.233 Dennoch stellt sich die Frage, ob diese Feststellung für das Handeln des MfS nicht auf einem rein optionalen Verfahrensmuster beruhte. Aus den Eintragungen zum Fall der Kinder Seestern wird lediglich ersichtlich, dass erst am Tag der Verhaftung der Eltern – an besagtem Vormittag – mit der Koordinierung ihrer Unterbringung begonnen wurde. Die Planung im „Vorschlag zur Realisierung des Operativen Vorgangs“ der Abt. VI, die einen Tag zuvor erstellt wurde, weist auf die Kurzfristigkeit und im Voraus logistisch wenig durchdachte Handlungsstrategie des MfS234 hin. Schließlich ist in den Akten keine Dringlichkeit der Festnahme ersichtlich, wie dies im Gegensatz dazu beispielsweise im U-Plan (Untersuchungsplan) von Frau Rose wegen möglicher Fluchtgefahr nachvollziehbar wird.235 Unter Vortäuschung falscher Tatsachen, nämlich dass 232 „Und da saßen wir also beide dort, das=das wissen wir, ham uns natürlich nie gesehen, das ist klar. Ham uns dann das erste Mal nach ’n=das war nach ’m halben Jahr die Verhandlung, bei Gericht wieder gesehen.“ V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 20. 233 Auch er verweist dabei nicht auf eine in etwaigen Anweisungen oder Richtlinien nachweisbare Systematik bzw. ein allgemein geregeltes Verfahren. Vgl. Raschka, Überwachung und Repression, S. 50. 234 MfS-Akte Herr und Frau Seestern (BStU, ASt. Rostock, AOp. 590/80, Bl. 24). 235 Im Untersuchungsplan von Frau Rose wird die umgehend vollzogene Verhaftung nach der Observierung des Treffens mit dem Schleuser aufgrund „dringenden Tatverdachts“ (Fluchtverdacht) begründet. MfS-Akte Herr und Frau Rose, U-Plan zum U-Vorg. Nr. 271/73 der U-Abteilung IX (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 75–76). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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die Kinder in die Obhut der Schwiegereltern gelängen, suggerierte man Frau Seestern die Normalität des nun anstehenden Verfahrens „zur Klärung eines Sachverhalts“ und entledigt sich so möglicher Komplikationen. In Wirklichkeit aber gelangen Tochter und Sohn in ein nahegelegenes Kinderheim. Die Eltern wussten zunächst nicht von ihrem tatsächlichen Verbleib. In den Akten findet sich schließlich ein Bescheid der Heimjugendfürsorgerin, welche die Aufnahme der beiden zwei und fünf Jahre alten Kinder im Kreiskinderheim „Junge Garde“ zwei Tage nach der Verhaftung ihrer Eltern bestätigt.236 In diesen Fällen berief sich die Jugendhilfe auf die Richtlinie Nr. 4 des Zentralen Jugendhilfeausschusses von 1970. Hierin wurde für „familiengelöste Minderjährige“ bei denen „die erziehungsberechtigten Eltern aber an der Ausübung des Erziehungsrechts tatsächlich oder rechtlich verhindert sind“, eine Form der Pflegschaft (gemäß § 104 FGB) einleiten, die vor allem kurzfristig zur „Sicherung des weiteren Lebensweges der Minderjährigen“ entweder die „Unterbringung des Minderjährigen in einer geeigneten Familie oder in einem Heim“ zur Folge hatte.237 Der schon näher in den Blick genommene Fall der Familie Rose spielt auch in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Wie bereits geschildert, kam es nach dem Treff mit dem Fluchthelfer am Berliner Dom zu einer merklichen, in den Akten bestätigten Beschattung durch das MfS. Die Eltern, von dieser Situation verunsichert und verängstigt, traten mit ihren beiden Kindern per Pkw sofort die Heimreise gen Norden an. Auf der Autobahn erfolgte sodann in einem regelrechten, vom MfS inszenierten ‚Showdown‘ die Verhaftung des Ehepaars.238 „Und dann so kurz vor Königswusterhausen, da kamen plötzlich Autos angejagt und äh, ich äh, da war aber der Gedanke schon wieder weg, mit=mit Flucht, man=man is’, je näher man dran ist, um so mehr verdrängt man, in welcher Situation man is’. Ko236 MfS-Akte Herr und Frau Seestern (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 4, Bl. 54). 237 Richtlinie Nr. 4 des Zentralen Jugendhilfeausschusses zu den Aufgaben und der Arbeitsweise der Organe der Jugendhilfe bei der Sicherung des Lebensweges elternloser und familiengelöster Minderjähriger vom 30.10.1970. In: Familiengesetzbuch der DDR, S. 202–205, Zitate S. 203. 238 Von einem ebensolchen Vorgehen, das eine stark einschüchternde und schockierende Wirkung bei den Festzunehmenden hervorrufen sollte, berichtet Frau Seestern in Erläuterung der Verhaftung ihres Ehemanns: „Der wurde, ja, äh, der wurde auch eigentlich idiotisch verhaftet. Die hätten ja bloß zu Hause warten brauchen, bis er auftaucht. Aber sie müssen also irgendwie ihn auf der Autobahn da schon verfolgt haben, mit irgendwelchen zig Wagen, das steht, glaub’ ich, auch irgendwo da drin. Und— er sagt also, als er dann von der Autobahnabfahrt runter kam, ’s war dann irgendwie schon dunkel, gegen Abend, hat er nur irgendwie gemerkt, wie so ’n Polizist mit diesen Leuchtstäben irgendwie da so auf die Straße sprang und ihn äh stoppte. Und da hat er gedacht, »Na ja, Verkehrskontrolle.« [...] So und dann äh musste er also aussteigen und das was er sich auch aber im Nachhinein dann ihm erst aufgefallen is’, dass der gesagt hat, »Herr [Seestern] äh würden Sie mal bitte mitkommen.« Und normalerweise weiß ja so ’n Verkehrskontrolleur ((lacht)) nich’, dass das Herr [Seestern] is’. Aber das is’ ihm in dem Moment auch gar nich’ aufgefallen, so und dann musste er in den anderen Wagen und dann ging ’s ihm genauso, äh, war dann ooch einer ohne äh Klinken und unser Auto war dann weg.“ V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 13. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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misch, das ist, also glaube ich, in vielen Situationen im Leben so. Ähm, ich hatte also mich nun um die Kinder wieder gekümmert, weil die nun merkten, also dass wir so nervös sind. [...] DA wurden wir also gestoppt. Vor uns ’n Auto, hinter uns und neben uns. Und »Steigen Sie mal aus.« Und da hab’ ich noch gedacht, »Ach, vielleicht sind die Skier oben locker, wir hatten die doch oben auf ’n Dach. Vielleicht hat sich da was aufgetütelt und so.« ABER die hatten ja gar keine Uniform an, aber ich kam ja gar nich’ zum Nachdenken, es ging um Sekunden, da war, mein Mann saß in dem einen Auto, ich im andern und äh die=der, unser Sohn saß bei meinem Mann noch g__ wenige Minuten drin und unsere Tochter bei mir, die wurde auch immer kleiner, die wusste ja nun gar nich’, was los is’. Und hinten neben mir saß auch gleich noch ’n Stasimann, damit der nun alles mitkriegt, was ich eben der [Name der Tochter] sage und ... Ach ich=ich konnt’, ich war auch wie versteinert. Ich wusste gar nich’, was ich=was ich äh ihr noch sagen sollte. Ich hab’ nur, weil ich immer schon vorher mit ihr abends gebetet habe oder wenn Gewitter war, so was, solche Naturkatastrophen wie Blitz und Donner, wenn sie Angst hatte, das hab’ ich immer wahrgenommen, und da hab’ ich denn immer mit ihr gebetet, damit sie das dann auch alleine kann, wenn sie eben auch in so ’ne Katastrophe kommt. Und äh da hab’ ich denn nur noch zu ihr gesagt, »Jetzt is’ ’ne Situation, jetzt musst du ganz fest beten und musst ganz tapfer sein.« Also, das waren=sind meine letzten Worte.“239

Das urplötzliche Auftauchen, der unvermittelte Zugriff auf die Familie und ihre sofortige, gewaltsame Trennung werden für diese zu einem traumatischen Erlebnis. Erstaunlich ist die von Frau Rose selbst wahrgenommene und beschriebene Verdrängungsleistung, die im Angesicht der offensichtlich drohenden Gefahr, infolge des Stopps bei voller Fahrt durch drei Wagen des MfS, noch immer an eine verkehrspolizeiliche Kontrolle glauben möchte. Die religiöse Bindung und Vorbereitung der zehnjährigen Tochter auf eine wie auch immer geartete, mögliche „Katastrophe“ hilft beiden, Mutter wie Tochter, die innerliche Versteinerung für die kommenden Momente zumindest äußerlich zu bewältigen. Die Wirklichkeit gewordene Situation einer Festnahme hatten die Eltern mit dem Sohn bereits in angstvoller Vorahnung durchgespielt, ihm im Falle einer Trennung die Risiken erläutert und Verantwortung für die jüngere Schwester auferlegt: „Man wusste ja, dass wenn es schief geht, wird ’s ganz furchtbar. Und das Einzige, was wir immer unserem 14-jährigen Sohn gesagt haben, den wir ja einweihen konnten, weil wir uns auf ihn verlassen konnten, »Wenn irgendwas schief geht, dann musst du dich um die [Name der Tochter] kümmern.«“240 Beide Kinder wurden zunächst in ein „KINDERzuchthaus“ in der Umgebung von Berlin eingewiesen, dort getrennt voneinander untergebracht und in Kontaktsperre zueinander wie auch zu ihrer vertrauten Außenwelt gehalten. Wochenlang, auch als sie sich bereits in einem Heim an ihrem Heimatort aufhielten, wussten die Kinder nicht um das Schicksal von Mutter und Vater. Von den Zuständen und der Situation nach der Einlieferung in das ‚Kinderheim‘ konnten sie den Eltern erst Jahre später erzählen. Frau Rose gibt die aus den Gesprächen erinnerten Eindrücke ihrer Tochter wieder. 239 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 35 f. 240 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 28. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Die sind, da gibt ’s, gab ’s in Rummelsburg ein KINDERzuchthaus, [...] wo die Kinder dann sofort auch ... Damals war Minimum, die kriegte dann auch gleich so ’n=’ne Klamotte an, so bis unten hin, so ’n alten Kittel und sie sagt’ also da waren in=in dieser Zelle ZWEIjährige mit drin und wenn einer mal auf Toilette musste, dann ging mal die Tür auf, aber erst nach langem Klopfen erst, da wurde ’n Topf reingeschmissen. Also um=da hat sich keiner um die Kinder gekümmert. Die Fenster hatten alle innen keine Klinken und waren vergittert und die Tür hatte auch innen keine Klinke. Also richtig eingesperrt. Na ja und die andern Kinder nun, »Wo kommste ’n her und war is’ ’n los?« Und da hat se das erzählt, was passiert ist und da ham die gesagt, »Das waren bestimmt Räuber. Eure Eltern sind bestimmt von Räubern geraubt.« VIER Wochen hat das arme Kind geglaubt, wir sind von Räubern geraubt und sie is’ nun da irgendwo. Na ja und dann nach ’n paar Tagen is’ sie dann aber in so ’n staatliches Heim nach [Ortsname] gekommen und äh unser Sohn auch, ABER AUCH getrennt. Unser Sohn konnte sich gar nich’ um sie kümmern und konnte ihr das auch nich’ SAGEN [...].“241

Wie aus den Äußerungen insbesondere von Frau Seestern und Frau Krüger deutlich wird, wurde die ungeklärte Situation bzw. die Heimeinweisung der Kinder eigens zu Beginn der Untersuchungshaft als spezifisch psychisches Repressionsmittel im Ermittlungsverfahren ausgenutzt und instrumentalisiert.242 Für diese Einschätzung spricht auch, dass nach geraumer Zeit die zurückgelassenen Kinder ohne weitere Komplikationen dem Sorgerecht der Großeltern anvertraut wurden. „Ja, also mein Vater is’ wohl dann zu dem Staatsanwalt und hat dann gemeint, er hätte den vielleicht über(redet), aber das hat er sich vielleicht auch nur eingebildet, das weiß ich nich’, das wär’ sicher auch so gegangen. Dann, als sie dann auch gemerkt ham, dass wir, dass nich’ mehr groß was aus uns rauszukriegen is’, dann ham die die Kinder schon freigegeben. Und wir hatten ’s ja eigentlich nur unter diesem Aspekt gemacht. Wir wussten ja, dass es früher diese Zwangsadoptionen gibt=gab [...] Und wir wussten eigentlich, dass sie das eigentlich nich’ mehr machten, deshalb waren wir da eigentlich relativ sicher auch, dass die Kinder eigentlich bei uns bleiben können, ne. Sonst hätten ’s wir auch nich’ gemacht. Also, den Preis kann man auch nich’ zahlen, da wirste auch nich’ glücklich.“243

Dass es aber andere Schicksale gab, beweist der von Raschka untersuchte Fall Gisela Mauritz’, deren Sohn nach einem gescheiterten Fluchtversuch an einen den Eltern und Verwandten unbekannten Heimort verwiesen und später vom MfS zwangsweise zur Adoption freigegeben wurde.244 Sicherlich hängt die ver241 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 36 f. 242 „SO und das Erste, was ich gefragt hab’, ähm war natürlich nach meinen Kindern. Und da ham se gesagt, »Ja, die sind im Heim und wenn Se uns jetzt nich’ alles erzählen, dann kann das sehr lange dauern.«“ V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 12. Ebenso schildert dies Frau Krüger: „Und sonst hat man eben dort versucht, in der Haft, in der Untersuchungshaft eben die Schwachstellen rauszufinden, derjenigen, unsere Schwachstelle war die Sorge um unsere Kinder, die ja nun sehr klein gewesen sind. Und das hat man ja VOLL ausgenutzt.“ V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 7. 243 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 20. 244 Vgl. Raschka, Überwachung und Repression, S. 51. Ausführliche Dokumentation des Falles von Gisela Mauritz in: Veith, Gebt mir meine Kinder zurück. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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änderte Situation, wie sie Frau Seestern schilderte, mit den internationalen Vereinbarungen Mitte der siebziger Jahre zusammen, was KSZE-Abkommen u. a. in Folge betraf. Familie Seesterns Verhaftung fällt erst in das Jahr 1979, die Familien Rose wie Krüger hingegen wurden schon 1973 inhaftiert. Zu dieser Zeit hatte noch keine offizielle Einbindung der DDR in die genannten völkerrechtlichen Bestimmungen stattgefunden, dementsprechend – ohne internationalen humanitären Vereinbarungen verpflichtet bzw. ihrer Kontrolle unterstellt zu sein – glaubte man wohl auch, in solchen Fragen und Angelegenheiten noch äußerst drastische, den Zielen des Ermittlungsverfahrens unterworfene Methoden menschlicher Verletzungen anwenden zu können. Die Kinder von Frau Rose mussten insgesamt ein halbes Jahr in einem staatlichen Erziehungsheim zubringen. Wie ein Bericht der Arbeitsgruppe XX der zuständigen KD einen Monat nach Verhaftung der Eltern an die Bezirksverwaltung beweist, ist der Umgang mit Sohn und Tochter dort noch weitestgehend ungeklärt. Von einer durchgängigen, bereits längerfristig organisierten Koordinierung erhält man auch hier nicht den Eindruck. Lapidar erscheinende, logistische Unzulänglichkeiten (die Möglichkeit der Beschaffung von Dingen aus der elterlichen Wohnung beispielsweise), die sich aus dem Zusammenspiel mit anderen Abteilungen der BV ergeben haben, können auf unterer Kreisebene nicht gelöst werden und richten sich an die übergeordnete BV: „Da die Wohnung versiegelt wurde treten z. Z. solche Fragen auf wie: – Beschaffung von Kleidung und Schulbüchern, – Vorbereitung der Jugendweihe des Jungen, die I. EOS führt am 24. 3.1973 die Jugendweihe durch, wie soll sich die Schule bzw. Heim verhalten, – wer trägt die Kosten zur Durchführung der Jugendweihe, – es gibt z. Z. Diskussionen in der Klasse des Jungen, was ist mit seinen Eltern usw.“245 Deutlich hingegen wird, dass die Möglichkeiten die Kinder in die Rituale und Verbindlichkeiten der sozialistischen Sozialisationsinstanzen einzubeziehen, nun stärker in den Handlungseinfluss staatlicher Stellen gestellt werden. In die Organisation der Jugendweihe des Sohnes, die bereits mit Zustimmung der Eltern zuvor anberaumt war, schaltet sich das MfS offensichtlich ein. Bei der bereits dargestellten, christlich bekennenden Prägung durch die Eltern mag dieser Schritt verwundern. Wäre nicht der synchrone Dialog mit Frau Rose möglich gewesen, hätte die vorliegende Quelle den Schluss zugelassen, dass hier zwangsweise eine Jugendweihe vom MfS durchgesetzt wurde. Wie aber in einem telefonischen Nachgespräch mit Frau Rose zu dieser Thematik deutlich wurde, hatten die Eltern in Absprache mit dem Familienfreund und Pfarrer, dem Wunsch des Sohnes entsprechend, einer gleichzeitigen Jugendweihe und Konfirmation zugestimmt. Es war die Absicht der Eltern, die Kinder nicht gänzlich aus der sie umgebenden sozialen, aber vor allem in der Schule politisierten Umwelt abzuschotten, schließlich stellte die Planung einer Flucht keine Garantie und Gewissheit für ein baldiges und tatsächliches Gelingen und Leben außerhalb der DDR dar. Bis zu diesem Zeitpunkt aber mussten die Kinder in der 245 MfS-Akte Herr und Frau Rose (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 64). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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DDR ein ‚normales‘ Leben führen können, ohne dabei ständiger Ausgrenzung ausgesetzt zu sein. Sicherlich spielen hier die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Mutter, die selbst als eine in Westdeutschland sozialisierte Jugendliche von Anfang an ein Leben als Außenseiterin in der DDR führte, eine zusätzliche Rolle.246 Zudem war es Anliegen der Eltern, trotz ihrer konfessionell begründeten, ablehnenden Haltung gegenüber einer Jugendweihe, ihren Kindern den Freiraum eigener Entscheidungen, auch auf politischer Ebene, zuzugestehen. Das Vertrauen in die eigene Erziehung des Sohnes, gab Frau Rose gleichzeitig die Zuversicht, dass er auch infolge einer Jugendweihung nicht zwingend den „Verführungen des sozialistischen Atheismus“ erlegen musste. In dieser von der DDR institutionell geschaffenen Ersatzhandlung zu Konfirmation bzw. Firmung sahen die Eltern in der damaligen Situation ein sozial einbindendes Moment für ihr Kind, das schließlich unerlässlich für die noch verbleibende Zeit des Lebens in der DDR und insbesondere ohne den Rückhalt der inhaftierten Eltern werden konnte.247 Die sich hier nur ansatzweise zeigende Tendenz, die Kinder aus dem geistigen Einflussbereich der Eltern zu führen, könnte demnach, neben der zuvor benannten Erpressbarkeit der inhaftierten Eltern, ein weiterer Punkt für eine Heimeinweisung der Kinder in einer solchen Situation gewesen sein. Schließlich wird im Verlauf des Berichts eine weitere Problematik für die KD Arbeitsgruppe XX angedeutet, die auf die Bemühungen der Großtante hinweist, die Bereitschaft äußerte „die Pflege der Kinder zu übernehmen. Zu diesem Zweck sprach sie bei der Jugendhilfe vor und hatte die Absicht mit den Kindern zu sprechen.“248 Aber erst unter Aufbietung erheblicher bürokratischer Anstrengungen gelang es ihr, die Kinder aus dem Heim in die vertraute familiäre und soziale Umgebung zurückzuholen.249 „Ja, also die waren dann so ’n paar Tage in Rummelsburg und dann äh von der Stasi in dies Heim in [Ortsname] bei [Ortsname] gebracht worden, da waren se dann ’n halbes Jahr und dann hat unsere Tante in [Ortsname] und meine Schwiegereltern ham sich dann bemüht die Kinder rauszukriegen. Das hat Probleme gegeben, weil die Tante schon 75 war, die steht ja da mit drauf, mit dem Jugendamt, die meinten, sie wär zu alt. Die brachte dann aber, das is’ so ’n altes Schlachtschiff diese Tante, die war also wirklich grandios, gran__ eine grandiose Frau, VOLLER Zivilcourage und äh, die hat dann auch alle Atteste gebracht, Gesundheitsatteste, dass es dann hieß, »Also okay.« [...] Und die hat denn in unserer Wohnung die Kinder versorgt. Die hat ihre Wohnung einmot246 Vgl. die Ausführungen in Kap. 6.5.2. 247 Zitat und Aussagen dieses Abschnitts folgen den Ausführungen eines Telefongesprächs der Verfasserin mit Frau Rose am 14.10. 2002. 248 MfS-Akte Herr und Frau Rose (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 64). 249 Ebenso erging es den beiden Kleinkindern von Frau Krüger. Nach getrennter Einweisung in unterschiedliche Kinderheime, erlangte die Großmutter schließlich für den zweijährigen Sohn, die Nachbarfamilie für die halbjährige Tochter das Erziehungsrecht. Die Eltern erfuhren erst zwei Monate später, dass sich die Kinder wieder in der Obhut vertrauter Verwandter bzw. Freunde befanden. V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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tet in [Ortsname], abgeschlossen, ist dann nach [Ortsname] gezogen und da konnten unsere Kinder auch wieder in ihre Schulen gehen. Von dem Tag an ging ’s mir auch besser, also da, bis dahin war ich, war ich also schon äh erpressbar.“250

Diesen in der Praxis von den ZeitzeugInnen einhellig beschriebenen, schwierigen Verfahren zur Erringung der Pflegschaft widersprechen die allgemeinen Bestimmungen in bereits zitierter Richtlinie des Zentralen Jugendhilfeausschusses: „Vorrangig und so früh als möglich ist die Unterbringung des Minderjährigen in einer für ihn geeigneten Familie anzustreben. In erster Linie ist zu prüfen, ob der Minderjährige bei Angehörigen, Bekannten oder Bürgern aus seinem bisherigen Lebenskreis ständige Aufnahme finden kann. [...] Findet das Kind Aufnahme bei den Großeltern, bei einem Großelternteil, einem Eltern- oder Stiefelternteil, so ist diesen in der Regel das Erziehungsrecht zu übertragen.“251 Auf politisch strafrechtliche Vergehen von Eltern, die zu einer Verhinderung der Ausübung des Erziehungsrechts führten, wird in diesem Zusammenhang erwartungsgemäß nicht hingewiesen. Es ist aber aus den gezeigten Fällen zu erkennen, dass diese Kinder einer gesonderte (verschärfte) Behandlung erfuhren und hier das Verfahren für den jeweiligen Fall, im individuellem Ermessen des zuständigen Jugendhilfereferats lag, gleichzeitig aber den Anordnungen der jeweiligen Bezirksverwaltung oder Kreisdienststelle des MfS für die zu fällenden Entscheidungen, auch unter Missachtung der zitierten Richtlinien, gerecht werden musste. Zusammenfassend betrachtet, wird aus den beschriebenen und der Kenntnis weiterer, öffentlich gewordener Fälle, kein durchgängig operatives Vorgehen des MfS in Zusammenhang mit dem Umgang der Kinder für die siebziger Jahre nachvollziehbar. Die wenigen Einträge in den personenbezogenen Akten der Eltern lassen eher die Vermutung zu, dass hier jeweils ganz individuell unterschiedlich, ad hoc aus der entstandenen Verhaftungssituation und von Bezirksverwaltung zu Bezirksverwaltung unterschiedlich vom MfS gehandelt wurde. Was hingegen Formen von Erziehungsrechtentzug und Zwangsadoption von Kindern politisch Inhaftierter betraf, so erfolgten diese in den bekannten Fällen fast ausnahmslos bei allein erziehenden Müttern oder Vätern und besonders in denjenigen Fällen, wo die Kinder direkt in das Fluchtverlaufsgeschehen eingebunden waren bzw. werden sollten.252 Gesetzliche Handhabe für ein solches Verfahren stellte zunächst Paragraph 51 (Entzug des Erziehungsrechts)253 des 250 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 44. 251 Richtlinie Nr. 4 des Zentralen Jugendhilfeausschusses vom 30.10.1970. In: Familiengesetzbuch der DDR, S. 203 f. 252 Für die Zeit von 1960–1980 sind acht Fälle rechtskräftiger Entziehung des Erziehungsrechts bekannt, fünf Fälle von so genannter „Zwangsadoption“, d. h. ohne elterliche Einwilligung. Vgl. Brümmer, Entwicklung, S. 83 f. 253 „(1) Bei schwerer schuldhafter Verletzung der elterlichen Pflichten durch den Erziehungsberechtigten kann ihm, wenn die Entwicklung des Kindes gefährdet ist, als äußerste Maßnahme das Erziehungsrecht entzogen werden. Über den Entzug entschei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Familiengesetzbuchs dar, der auf das in der Verfassung unter Art. 38 III niederlegte „Recht“ und die „Pflicht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder“ rekurrierte. Danach konnte bei der Verletzung elterlicher Pflichten, auch in Tateinheit mit der Verletzung von Erziehungspflichten254 oder in Zusammenhang mit einer Straftat des Erziehungsberechtigten, die als eine Pflichtverletzung eingestuft wurde, ein Verfahren nach § 51 FGB ausgelöst werden. „Diese Voraussetzungen sind unter Umständen erfüllt, wenn die Eltern die DDR illegal verlassen oder zu verlassen suchen und damit den Straftatbestand der Republikflucht (§ 213 StGB) verwirklichen.“255 Eine vom MfS initiierte, erzwungene „Annahme an Kindes Statt“, die eine Erfordernis der elterlichen Einwilligung umging256, konnte in Berufung auf folgende Regelung erfolgen, so dass unter den vom MfS maßgeblich beeinflussten Umständen eine Ersetzung der Einwilligung zur Adoption möglich wurde: „Verweigert ein Elternteil die Einwilligung und steht die Verweigerung dem Wohle des Kindes entgegen [...], kann die Einwilligung des Elternteils auf Klage des Organs der Jugendhilfe durch das Gericht ersetzt werden.“257 Exekutivorgane dieser richterlichen Bestimmungen wurden schließlich die dem Verantwortungsbereich des damaligen Ministeriums für Volksbildung unterstellten Referate der Jugendhilfe. Sie regelten als Organe im Rat des Kreises bzw. Bezirks das Vorgehen in den dargelegten Fällen, stets aber in enger Zusammenarbeit mit den Untersuchungsorganen des MfS, der Abteilungen IX der jeweiligen Bezirksverwaltungen.258 Hausdurchsuchungen: Nach den vollzogenen „Zuführungen“ bzw. Verhaftungen begannen die Untersuchungsorgane des MfS, speziell die HA IX bzw. die Abteilungen IX, als Rechtpflegeorgane mit der eigenverantwortlichen Einleitung und Bearbeitung eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens.259 Ge-

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det auf Klage des Organs der Jugendhilfe das Gericht.“ III § 51 Abs. 1 FGB. In: Familiengesetzbuch der DDR, S. 33. Dieser Tatbestand konnte möglicherweise dann herangezogen werden, wenn eine „fortwährende Vernachlässigung (Abs. 1 Ziff. 1)“ nachzuweisen war, d. h. wenn sich für das Gericht bspw. eine lebensbedrohliche Situation für die Kinder darstellte. Hier konnte im Zuge des Verfahrens gegen die Eltern auf § 51 (FGB) plädiert werden. In diesen Fällen verwies die Anklage besonders oft auf die lebensgefährdende Situation von umgebauten Fluchtwagen bzw. die fahrlässige Verabreichung von Beruhigungsund Betäubungsmitteln ohne ärztliche Kontrolle. „Vernachlässigung“ bzw. „Fahrlässigkeit“ durch ein Verschulden der Erziehungsberechtigten herbeigeführt, erweiterte den Tatbestand des objektiv pflichtwidrigen Verhaltens um den der subjektiven Pflichtwidrigkeit. Vgl. StGB § 142 Abs. 1 Ziff. 1. In: Strafrecht der DDR, S. 369–371. Brümmer, Entwicklung, S. 83. Gemäß § 69 FGB. Zusätzlich war bei Kindern, die das 14. Lebensjahr bereits vollendet hatten, ebenfalls eine Einwilligung zur „Annahme an Kindes Statt“ erforderlich. Der Entzug des Erziehungsrechts nach § 51 FGB beinhaltete obligatorisch die Entbehrlichkeit der elterlichen Einwilligung (§ 70 II FGB). § 70 Abs. 1 FGB. In: Familiengesetzbuch der DDR, S. 38. Vgl. Jörns, Jugendhilfe in der DDR, S. 56–59. Es handelt sich hier genauer um die Befugnisse des „strafprozessualen Prüfungsstadiums“ (nach §§ 92–98 StPO), das zunächst auch ohne Kenntnis der Staatsanwaltschaft angestrengt werden konnte. Vgl. Reinke, Staatssicherheit und Justiz, S. 240 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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mäß § 88 der Strafprozessordnung (Durchführung der Ermittlungen) waren diese ebenso wie das Ministerium des Innern und die Zollverwaltung zur „Durchführung von Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Verbrechen gegen die Souveränität der DDR, den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte [...]“ sowie „Verbrechen gegen die DDR“260 in Strafsachen ermächtigt; MfS-intern galt Richtlinie Nr. 1/76 des Ministers: „Die Durchführung von Ermittlungsverfahren obliegt der Untersuchungsabteilung und hat unter strikter Einhaltung der dafür geltenden gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere StPO zu erfolgen“.261 Im Zuge der Verhaftungen der hier betroffenen Personen kam es durchgängig zu einer Durchsuchung der jeweiligen Privatwohnung; teilweise wurden auch die Arbeitsplätze in den Betrieben bzw. Erwerbseinrichtungen in genauen Augenschein genommen, was zusätzlich eine öffentlichkeitswirksame Komponente enthielt: vorzeitige Diskriminierung der mutmaßlichen Tatverdächtigen und damit gezielte Rufschädigung, zugleich aber auch Abschreckung für mögliche NachahmungstäterInnen. Die eingeleiteten Ermittlungsverfahren in den vorliegenden Strafsachen verlangten – zumindest offiziell gemäß Strafprozessordnung – nach Beweismitteln für den ausgewiesenen Tatbestand. In der Praxis aber war unter gegebenen Umständen einer möglichen Republikflucht ad hoc durch „Zuführung“ nach § 95 StPO (Prüfung von Anzeigen und Mitteilungen), wenn dies „unumgänglich [!]“262 war, entgegenzuwirken. Die nötigen offiziellen Beweisbestände für dieses Prüfungsverfahren hingegen fehlten oftmals gänzlich. In diesen Fällen musste nun nachträglich eine Hausdurchsuchung möglichst verlässliche Beweise liefern. Die Gründlichkeit des Vorgehens in den vorliegenden Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokollen aus den Aktenlagen wie im Fall Rose belegen dies. Bereits einen Tag nach erfolgter Verhaftung werden „auf Anordnung des Generalstaatsanwaltes“ zuerst der Pkw, dann die Wohnräume einer Untersuchung unterzogen, was zu einer akribischen Auflistung aller für die Ermittlungsarbeit relevanter Gegenstände und Unterlagen führt. Für die Beschlagnahmung des Pkws ergeht noch vom Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte folgender Beschluss: „Da der PKW [...] zur Durchführung strafbarer Handlungen in obiger Strafermittlungssache genutzt wurde, war die Beschlagnahme dieser Gegenstände, Unterlagen und Dokumente, die sich in diesem PKW befanden, gemäß § 121 StPO gerichtlich zu bestätigen.“263 260 § 88 Abs. 2 Ziff. 2 (Kommentar) StPO. In: Strafprozessrecht der DDR, S. 124 f. 261 MfS-Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge. Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 397. 262 „(1) Der Staatsanwalt und die Untersuchungsorgane sind verpflichtet, jede Anzeige oder Mitteilung entgegenzunehmen und zu überprüfen, ob der Verdacht einer Straftat besteht. [...] (2) Zu diesem Zwecke sind die notwendigen Prüfungshandlungen vorzunehmen. Der Verdächtige kann befragt und, wenn es zu diesem Zweck unumgänglich ist, zugeführt werden.“ § 95 Abs. 1 u. 2 StPO vom 12. Januar 1968 i. d. Neufassung vom 19. Dezember 1974 sowie i. d. F. des 2. und 3. StRÄG. In: Strafprozessordnung der DDR, S. 51. 263 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Beschluss des Stadtbezirksgerichts (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 21). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Fündig werden die Ermittler insofern, als hier unter den aufgeführten 36 Posten Berufszeugnisse, Geburtsurkunden, Sparkassenbücher, das heißt existenziell wichtige, persönliche Unterlagen bzw. Identitätsnachweise für die gesamte Familie sichergestellt werden können.264 Diese Tatsache nährt schließlich die Beschuldigung im Sinne einer Vorbereitung des ungesetzlichen Verlassens der DDR: „Bei den durchgeführten Durchsuchungen konnten die Reiseunterlagen in die UVR und die Flugtickets Berlin-Budapest für den 5. 2.1973 sichergestellt werden. Weiterhin sind Ermittlungen über den Verbleib der in Vorbereitung des Vorhabens verschenkten Sachen und Gegenstände vorhanden.“265 Desgleichen und in erheblich größerem Ausmaß – das beweist der angegebene Zeitraum der Durchsuchung von 9.30–15.00 Uhr bzw. eine fünfseitige Inventaraufstellung – verfahren die Mitarbeiter des MfS unter Aufsicht des zugewiesenen Staatsanwaltes bei der Wohnungsdurchsuchung.266 Waren beide Ehepartner – wie dies im Fall Rose zutraf – „zugeführt“ worden und die Kinder von einer Heimeinweisung betroffen, wurde die Privatwohnung zugleich vom zuständigen Abschnittsbevollmächtigten (ABV) unter Aufsicht des Staatsanwaltes versiegelt und dem Zugang Angehöriger vorenthalten.267 In den vorliegenden Protokollen wird zusätzlich eine mit Unterschrift bestätigte Versicherung abgegeben, die darauf verweist, dass die jeweilige Wohnung in einem unversehrten Zustand und ohne Beschädigungen hinterlassen wurde. Welchen Formulierungsspielraum dieser Nachsatz enthielt, bezeugt die Aussage von Frau Schuster: „’s muss ausgesehen ham wie in der russischen Botschaft. Also das hat ja ... Die nach mir aufräumen mussten, waren also TOTAL schockiert. Mein Gott, wenn se was davon ham. Die ham sogar ’n Wecker auseinander geschraubt, Schuhe auseinander gerissen, alles. Ach, die ham ’n Verfolgungswahn gehabt. Den hatten die ohnehin.“268 Die Hausverwalterfamilie, die nach Angaben von Frau Schuster ihre Wohnung später auflöst, beschreibt ihr im Nachhinein das sich ihnen mit Schrecken präsentierende Chaos der Verwüstung. Auch hier wird eine zusätzlich kalkulierte Funktion von Hausdurchsuchungen deutlich: Sie erfüllten für die Bevölkerung eine abschreckende Wirkung und sollten demonstrieren mit welchen Formen von regelrechter ‚Barbarei‘, Entschlossenheit und Akribie „Republikflüchtige“ vom MfS verfolgt wurden. Die Verbreitung der ungesitteten Durch264 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokoll (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 19–20). 265 MfS-Akte Herr und Frau Rose, U-Plan zum U-Vorg. (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, hier Bl. 76). 266 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokoll bzw. Inventaraufstellung (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 19–20 bzw. Bl. 25–29). 267 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Versiegelungsprotokoll (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 30). 268 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 18 f. Nicht nur eine Durchsuchung der Privatwohnung, sondern auch des Elternhauses soll im Falle von Frau Löffler weitere Verdachtsmomente erhärten. Von der „Gründlichkeit“ des Vorgehens berichtet auch sie. V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 35. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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suchungsmodalitäten des MfS wurde deswegen auch gezielt in Nachbarschaft und Lebensumfeld gestreut. „Qualität und Quantität ihrer Arbeitsleistungen waren gut.“269 – Zusammenarbeit mit den Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens: Neben den beschriebenen Verfahren der Beweismittelbeschaffung gehörte es zur Aufgabe der Untersuchungsorgane des MfS, die Kaderabteilungen der Betriebe, in welchen die hier im Mittelpunkt stehenden Personen bis zum Tag ihrer Inhaftierung tätig gewesen waren, zur Beurteilung der betreffenden Person anzuweisen, in der Angaben zu deren Arbeitsverhalten, betrieblichem Engagement und Persönlichkeit im Allgemeinen gemacht wurden. Mit Hilfe dieser Einschätzungen aus der beruflichen Perspektive sowie den zumeist bereits vorliegenden IMBerichten aus dem privaten und ebenfalls beruflichen Umfeld versuchte man das Mosaik der Ermittlungsunterlagen im Hinblick auf den vorliegenden Tatbestand zusammenzufügen und dies stets im Anschein legaler Methoden. Denn diese Form der Beweismittelbeschaffung hatte noch eine weitere Komponente: Für die zugelassenen Beweise im Ermittlungsverfahren galt nämlich, dass diese nicht auf der Grundlage konspirativer oder illegaler Methoden, das heißt auf Berichte inoffizieller Mitarbeiter oder gesetzlich unzulässiger Mittel (beispielsweise „Maßnahme B“ wie im Falle Seestern) beruhen durften. Auf diese Weise konnte den Bestimmungen der StPO schließlich offiziell Genüge getan werden. Innerhalb des MfS gab es aber noch viel zwingendere Gründe, auf deren Verwertung zu verzichten, da nämlich „[i]hre Verwendung im Strafverfahren als einer Form offizieller staatlicher Tätigkeit [...] die Dekonspiration der eingesetzten Kräfte und der spezifischen Mittel und Arbeitsmethoden des MfS zur Folge“270 gehabt hätte. Ohne Zweifel war aber die Nutzung der zuvor illegal errungenen Erkenntnisse grundlegendes Argumentationsmaterial in den Verhören des Strafverfahrens. Implizit oder im Zuge der „Wandlung“ eines inoffiziellen Beweises war es dennoch möglich, das bereits angesammelte Material aus strafüberführenden Informationen für das Verfahren nutzbar zu machen.271 Die dreiseitige Beurteilung des Direktors bzw. des Kaderleiters des Betriebs, in dem Frau Seestern tätig war, deutet die umfassende Fülle der Informationen an, die in einem solchen Ermittlungsfall eruiert und gesammelt wurden. Die Beurteilung geht auf den gesamten schulischen und beruflichen Werdegang von Frau Seestern ein, berücksichtigt ihre privaten Verhältnisse wie auch ihre konkreten Arbeitsleistungen und ihr politisches Engagement, beruflicher als auch privater Natur. In den niedergelegten Ausführungen zur Kollegin Seestern sind nach Angaben der Verfasser ebenso die Mitglieder ihres Kollektivs wie auch der ihr übergeordnete Direktor ihrer Abteilung einbezogen. Was demnach hier 269 MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Beurteilung der Kollegin [Seestern] (BStU, ASt. Rostock, AUI 1675/80, Band 1, Bl. 61). 270 Grundfragen der Realisierung der Beweisführung im Ermittlungsverfahren und in der Untersuchungsarbeit des MfS, zitiert in Raschka, Überwachung und Repression, S. 60. 271 Vgl. näher zur „Wandlung“ inoffizieller Informationen in offizielle Beweismittel die Ausführungen von Raschka, Überwachung und Repression, S. 61. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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vorliegt, ist eine zunächst objektiv, eher positiv anmutende Persönlichkeitsbeschreibung Frau Seesterns. An exponierten Stellen aber sind sie durchsetzt von Sympathie- und Antipathiebekundungen der beruflichen KollegInnenschaft, deren Objektivität jeglicher Grundlage entbehrt und in keinem Verhältnis zu Form einer beruflichen Beurteilung stehen.272 Dennoch: Insbesondere die auf die Persönlichkeit und den Charakter schließenden Details – wenn sie denn zutrafen – konnten beispielsweise auch für die Strategien der Vernehmungsführung eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Für den Außenstehenden preisgegebene, belanglos erscheinende Persönlichkeitsmerkmale und Eigenheiten stellten für das MfS alsdann ein unentbehrliches Reservoir an Informationen dar, das schließlich in der daraus individuell entwickelten Vernehmungspraxis missbräuchlich und zu Ungunsten der Beschuldigten zur Anwendung kam.273 Dies bestätigt auch Interviewpartner Herr Jonas innerhalb seiner heutigen Funktion als Mitarbeiter der BStU: „Und wenn dort gestanden hat ‘verschwiegen’, dann war ich der nächste IM-Kandidat.“274 „Ich war so geschockt und schockiert, dass ich eigentlich alles zugegeben hab’, von Anfang an.“ – „Prüfungshandlungen“: Infolge der „Zuführung“ sollte sich für die Betroffenen zeigen, dass es sich nunmehr nicht mehr ausschließlich bzw. überhaupt um die „Klärung eines Sachverhalts“275 handelte, sondern dass das Prüfungsverfahren gemäß § 95 StPO zum Regelfall im Verfahren des MfS-Untersuchungsorgans gehörte und zur allgemein gängigen Vorstufe einer Einweisung in die Untersuchungshaftanstalt des MfS gereichte:276 „So, und denn wirste eben in dieses äh Staatssicherheitsgebäude geführt, und dann sitz__ wirste in so ’nen Raum geführt, und dann heißt es aber nich’ mehr »Frau [Seestern]«, 272 Vgl. bspw.: „Im Kollektiv verhielt sie sich meist kollegial, jedoch sind auch teilweise Unstimmigkeiten aufgetreten, die von Kollektivmitgliedern mit Überheblichkeit und charakterlicher Wechselhaftigkeit seitens Kolln. [Seestern] begründet waren.“ MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Beurteilung der Kollegin (BStU, ASt. Rostock, AUI 1675/ 80, Band 1, Bl. 61). 273 Vgl. die stichpunktartige Beurteilung Frau Wetzels – aus einem Telefongespräch der zuständigen KD mit dem Direktor der Kaderabteilung der Ingenieurschule, an welcher sie studierte –, die eindeutig auf Besonderheiten des sozialen Umgangs von Frau Wetzel eingeht: „Beurteilung der [Wetzel]: erfüllt mit Fleiß ihre Aufgaben; hilft uneigennützig anderen; diszipliniertes, zurückhaltendes Auftreten; braucht viel Zeit, um sich im Kollektiv einzuleben; zurückhaltend gegenüber Fremden und ist nicht in der Lage, entgegengebrachtes Vertrauen zu erwidern; konstruktiver Klassenstandpunkt; sagt ehrlich und offen ihre Meinung, wenn sie angesprochen wird“. MfS-Akte Frau Wetzel, Ermittlungen zur Person (BStU, ASt. Gera, 19/1976 OPK, Bl. 27–28). 274 Er verweist in seiner Argumentation auf die in seiner MfS-Akte vorhandenen Kaderberichte. V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 16. 275 Zur immer wiederkehrenden Formel der „Klärung eines Sachverhalts“ bei Verhaftungen durch das MfS ist der Hinweis zu angrenzenden Gesetzen unter § 95 interessant. Hier wird auf die Zulässigkeit der Zuführung durch die Volkspolizei (VP) – nicht aber das MfS! – hingewiesen. Paragraph 12 Abs. 2 des VP-Gesetzes führt aus: „[...] ist eine Zuführung zulässig. Sie ist auch zulässig, wenn es zur Klärung eines die öffentliche Ordnung und Sicherheit erheblich gefährdenden Sachverhaltes unumgänglich ist.“, § 95 (Anmerkungen) StPO. In: Strafprozessordnung der DDR, S. 51–52. 276 Vgl. Raschka, Überwachung und Repression, S. 63. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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dann heißt ’s »Beschuldigte [Seestern]«, [...] also du wusstest jedenfalls, es is’ nich’ mehr zur Klärung eines Sachverhalts für andere, sondern es geht um dich.“277 Unvermittelt änderte sich der Sprachduktus, als sie dem Vernehmer vorgeführt wurde. In zunehmender Form erhielt auch im Falle von Frau Seestern die Kommunikation stärker kriminalisierende Konnotationen, die in diesem Stadium der Vernehmung formal als unzulässig galten.278 Verbale Einschüchterung als psychosoziales Repressionsmittel war lediglich der Beginn der nun folgenden fast 14-stündigen Tortur des ersten Verhörs von Frau Seestern.279 Was sich der „Zugeführten“ demnach offerierte, war nicht mehr im Definitionsbereich einer Befragung zu fassen, sondern erfüllte alle Kriterien des klassischen Verhörs. Raschka hat bereits in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Geständnisses ausführlich hingewiesen. Sie steht im Kontext der bereits thematisierten Problematik illegal ermittelter Beweislagen des MfS und deren Nichtverwendbarkeit im strafrechtlichen Prozess. „Das Geständnis des Beschuldigten [ist] für die Beweisführung im Ermittlungsverfahren und im gesamten Strafverfahren speziell in der Untersuchungsarbeit des MfS meist von ausschlaggebender Bedeutung“280 gewesen, deshalb war von Beginn an, in Ausrichtung auf die Grundlegung der Anklage, die Vernehmungsmethodik auf ein Geständnis der „Zugeführten“ angelegt.281 Der Verlauf des ersten Verhörs von Frau Seestern verifiziert dieses Verfahren. Das vorliegende neunseitige Protokoll belegt die einzelnen Stufen der sicherheitsdienstlichen „Wahrheitsfindung“. Gleich zu Beginn wird »Beschuldigte Seestern« mit den Tatbeständen ihrer mutmaßlichen Vergehen direkt konfrontiert, die auf „staatsfeindliche Verbindungsaufnahme und versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt“ lauten. In den nachfolgenden Antworten Frau Seesterns ist eine gewisse Standhaftigkeit gegenüber den Anschuldigungen zu vermerken, sie gesteht auch auf die Befragungen zum Schleusungstermin zunächst kein Fluchtvorhaben ein. Leider ist aus dem vorliegenden Vernehmungsprotokoll kein zeitlicher Verlauf des Verhörs erkennbar, denn plötzlich ändert sich das Aussageverhalten von Frau Seestern. Wie viele Stunden seit Beginn des Verhörs vergangen sind und welche verbalen Mittel neben den protokollierten Fragen des Vernehmers noch in den Verlauf des Verhörs 277 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 11 f. 278 „Eine Vernehmung als Beschuldigter sowie die Vornahme prozessualer Zwangsmaßnahmen ist unzulässig“, § 95 Abs. 2 StPO. In: Strafprozessordnung der DDR, S. 51. 279 Frau Seestern wird nach ihrer Einlieferung in das Staatssicherheitsgebäude sogleich einer Vernehmung unterzogen, die sich über eine feste Terminabfolge – nur unterbrochen von ein- bis zweistündigen Pausen – von 13 Uhr, 18.30 Uhr über 20.15 Uhr bis zu einem letzten Termin um 1.30 Uhr des darauf folgenden Tages erstreckte. MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Vernehmungsprotokoll Frau Seestern vom 22. 9.1979 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 1, Bl. 46). 280 Aus dem Lehrheft des MfS „Grundfragen der Realisierung der Beweisführung im Ermittlungsverfahren“, zitiert in Raschka, Überwachung und Repression, S. 63. 281 Vgl. ebd.; ebenso den aufgezeichneten Erlebnisbericht von Jablonski, Verhören bis zum Geständnis. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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einwirkten, wird im Protokoll nicht erkennbar. Wie Ammer darlegt, ist aber davon auszugehen, das hier mit „massiven Drohungen und Beschimpfungen“ gearbeitet wurde, um „den Beschuldigten in eine psychische Verfassung zu versetzen, die Grundlage seiner späteren Aussagebereitschaft und möglichst umfassender Willfährigkeit sein sollte.“282 Die Äußerungen im Interview von Frau Seestern können ebenso Rückschlüsse auf dieses Verfahren und die beabsichtigte abnehmende Selbstsicherheit und die zunehmende Geständnisbereitschaft ihrer Person geben: „So und dann— knietschen se dich aus. So, und irgendwann, du merkst ja irgendwie, dass se irgendwas wissen, und na irgendwann sagste ’s dann. Sie erpressen dich eigentlich auch immer wieder mit den Kindern.“283 Neben dem Spielen mit der Ermüdung und dem Ausnutzen des immer noch bestehenden Schockzustandes der unerwarteten Inhaftierung, wurde abermals die Situation der Kinder als Druckmittel für eine zielgerichtete Aussage missbraucht.284 Im weiteren Verlauf des Verhörs stehen nun konkret die Geschehnisse bezüglich des geplanten Treffs der Familie mit den Schleusern der Fluchtorganisation, der bereits ein dreiviertel Jahr zurücklag und aufgrund des einsetzenden Schneechaos’ nicht zustande kam. Bei einem weiteren Termin aber wurden die beiden Schleuser verhaftet und Fotos aus deren Besitz verwiesen auf Familie Seestern. Damit hatte das MfS zumindest einige wenige Anhaltspunkte, auf welche es die Verhörstrategie aufbauen konnte. Die Aussagen von Frau Seestern dazu werden als „unglaubwürdig“ eingestuft. Sie wird darauf hingewiesen, dass dem „Untersuchungsorgan [...] in Ihrer Sache eindeutige Beweise vor[lägen]“ und „eindringlich aufgefordert, durch wahrheitsgemäße Aussagen an der Wahrheitsfindung mitzuwirken!“285 Auf diesen Vorhalt hin legt sie – den Aufzeichnungen des Protokolls folgend – ein umfassendes Geständnis ab.286 Übermüdung bzw. Schlafentzug sind für die hier vorliegenden Einzelfälle, insbesondere für das erste Verhör im Zuge der Verhaftung als durchgängig an282 Ammer, Methoden des MfS, S. 81. Ammer spricht im Zusammenhang des ersten Verhörs von einer so genannten „Schockvernehmung“. 283 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 12. 284 Auf den Missbrauch der außer Kraft gesetzten Einwirkungsmöglichkeiten der Eltern auf das Schicksal ihrer Kinder wurde bereits im Vorausgehenden, im Zusammenhang mit den Heimeinweisungen der minderjährigen Kinder auch von Frau Seestern eingegangen. 285 MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Vernehmungsprotokoll Frau Seestern vom 22. 9. 1979 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 1, Bl. 49); vorausgehende Zitate ebd. 286 „Antwort: Ich habe den Vorhalt verstanden. Es entspricht den Tatsachen, dass ich bisher teilweise unwahre Aussagen gemacht habe. Die gegen mich erhobene Beschuldigung, so muss ich jetzt eingestehen, besteht zu Recht. Am 29.12.1978 haben mein Mann und ich gemeinsam mit dem Ehepaar [Name geschwärzt] versucht, in [Ortsname] den Kontakt zu zwei Angehörigen einer Fluchthilfeorganisation herzustellen, um mit unseren Kindern in den Kofferräumen von zwei Pkw versteckt in die BRD oder nach Berlin (West) ausgeschleust zu werden.“ MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Vernehmungsprotokoll Frau Seestern vom 22. 9.1979 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 1, Bl. 49); Hervorhebung im Original. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gewandtes psychisches Druckmittel nachweisbar. Zumeist reichte schon dieser primäre Bedürfnisentzug aus, um die Beschuldigten zu einem Geständnis zu bewegen: „Und da war ich so nieder, dass ich gedacht hab’, »Du kannst nicht mehr.« Ich konnte nicht mehr denken und dann fing er an, »Und jetzt geben Sie ’s zu ...« Und dann hab’ ich ’s zugegeben, dass wir die Absicht hatten wegzugehen. Und das war dann früh um halb vier, also Montag Früh um halb vier. Ich bin im Grunde genommen von Sonntag Früh um acht bis Montag Früh um halb vier permanent verhört worden. Und dann konnte ich ni’ mehr.“287 Die Beschreibungen belegen in diesem Zusammenhang die zuvor dargestellte Problematik des MfS, oftmals nicht über entsprechend legale Beweismittel für den anvisierten Tatbestand zu verfügen. Meist war zunächst lediglich nach § 122 StPO288 in Zusammenhang mit dem Vorliegen eines gesetzlichen Haftgrundes agiert worden. Das dem MfS vorliegende offizielle Beweismaterial musste deshalb gemäß Strafprozessordnung möglichst rasch durch ein Geständnis der Beschuldigten ‚aufgewertet‘ werden. Dies sollte idealerweise bereits im Verlauf des ersten Verhörs Erwirkung finden. Schließlich musste spätestens 24 Stunden nach „Zuführung“ ein richterlicher Haftbefehl für die vorläufig Festgenommenen ergehen. Die Konsequenzen, die sich für die Beschuldigten zudem ergaben, resultierten oftmals auch aus den zuvor defizitär vollzogenen Recherchen des MfS. Der Fall von Frau Schuster bestätigt, dass das Ermittlungsverfahren gegen sie und ihren Ehemann primär eine Verbindung zu einer westlichen Schleuserorganisation verfolgte. In Wirklichkeit jedoch traf dieser Tatbestand nicht zu und konnte deswegen auch innerhalb der Verhöre nicht verifiziert werden. Bereits während des ersten Verhörs wird Frau Schuster diese Dimension bewusst. Wie aus ihren Äußerungen deutlich wird, gelangt sie bereits von Anbeginn zu der Erkenntnis, „wie wenig die an und für sich wussten. Das was die hatten, das war alles Bluff. [...] Die hatten eigentlich gehofft, dass se hier in die Schleusungsringe irgendwie reinkamen.“289 Aus diesem Grund 287 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 16; ebenso V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 2. 288 Auf § 122 StPO (Voraussetzungen für die Anordnung einer Untersuchungshaft) rekurrierte das MfS-Untersuchungsorgan in den vorliegenden Fällen bei Fluchtverdacht oder Verdunkelungsgefahr in dringenden Verdachtsgründen. Vgl. Strafprozessordnung der DDR, S. 61 f. 289 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 16. Nahezu identisch vollzieht sich der Fall Löffler, auch hier ging Abt. IX infolge der intensiven Überwachung durch IM und Abhörmaßnahmen von einer Verbindung zu einer Schleuserorganisation aus. Was teilweise zutraf, da der Ehemann von Frau Löffler ein halbes Jahr zuvor Kontakt zu einer solchen aufgenommen hatte, dieser Plan aber dann verworfen wurde. Auch Frau Löffler wird innerhalb des ersten Verhörs klar, dass die Information auf welche das MfS die Verhaftung begründete, wenig Faktenmaterial beinhaltete: „Und ich soll doch zugeben, dass wir ’ne Organisation haben. Und die haben gedacht, ich leugne das ab, die waren fest überzeugt ’ne Organisation steckt dahinter. Und wie gesagt, weil ich diese Organisation vom Januar erwähnt hab’, war ’s ja völlig klar, »Jetzt haben wir ’n Anhalt Sie festzuhalten«, sonst hatten sie ja nichts.“ V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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wird es dem Vernehmer von Frau Schuster trotz stundenlanger, nervenaufreibender Verhöre auch im Verlauf der Untersuchungshaft nicht gelingen, eine Falschaussage, im Sinne einer geplanten Ausschleusung durch eine Organisation zu erwirken bzw. die erhofften Informationen und Auskünfte zu etwaigen Schleuserringen zu erlangen. Im Anschluss an diese ersten Verhöre sollte sich nun in allen Fällen eine monatelange Untersuchungshaft anschließen, deren Alltag äußerlich von endlos erscheinenden täglichen Vernehmungen bestimmt war und für die ZeitzeugInnen innerlich zunächst Ungewissheit, Desorientierung, Einsamkeit, Angst und Selbstzweifel stiften sollte.

6.1.4 Untersuchungshaftvollzug des MfS Der Untersuchungshaftvollzug des MfS unterlag der Abt. XIV, die als selbstständige Abteilung, mit Sitz in Berlin-Hohenschönhausen direkt dem Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke unterstellt war und der hier zwei Untersuchungshaftanstalten (UHA) auf Ministeriumsebene unterstanden: Hohenschönhausen (UHA I) und Lichtenberg (UHA II). Auf Bezirksebene koordinierte diese Abteilung die dortigen Abteilungen XIV der Bezirksverwaltungen in den entsprechenden Untersuchungsgefängnissen.290

6.1.4.1 Haftbedingungen in den MfS-Untersuchungshaftanstalten und repressive Auswirkungen „Nobelknast“ und „Ableger der Staatssicherheit“: In den einleitenden Erzählungen zur Untersuchungshaft tritt in den Schilderungen derjenigen Frauen, die während ihrer Untersuchungshaft in ein zweites Untersuchungshaftgefängnis verlegt wurden, eine Besonderheit auf. Sie beschreiben detailliert die unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen U-Haftanstalten. Frau Rose wird nach ihrer Verhaftung im Norden Berlins mit ihrem Ehemann vorerst für eine Zeit von vier Wochen in die UHA Hohenschönhausen eingewiesen. Erst nach dieser Zeit gelangen sie in die Untersuchungshaftanstalt ihres damaligen Wohnortes. Das Erleben der Strukturen und Mechanismen beider MfS-Untersuchungshaftanstalten lassen sie deutliche Unterschiede erkennen. Ganz allgemein umschreibt sie diese in besonders starken Metaphern wie „Hölle“ bzw. „Terror“. Sie verweist auch auf die Problematik der strategisch geplanten Verlegung, denn erneut muss sie sich auf andere Strukturen und noch dazu schlechtere Gegebenheiten einstellen, die ihren schwer erarbeiteten Überlebenswillen wieder zu brechen drohen: „Jedenfalls hab’ ich mir da schon eingebildet so nach vier Wochen, na ja, also jetzt hab’ ich nun so meinen Tagesablauf und weiß 290 Vgl. Beleites, Untersuchungshaftvollzug, S. 445. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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schon wo ’s so lang geht. Da hatt’ ich dann das Gefühl schon, »Na ja, das überlebste doch vielleicht.« Aber in [Ortsname], das war die Hölle. Das war=das war überhaupt, das war ein solcher Unterschied zu [...] Hohenschönhausen, war ja mehr so ’n Nobel__ äh -knast, ne. Das waren ja noch pph einigermaßen Verhältnisse. Aber dieser Terror in [Ortsname], das war=das war wirklich, das war sehr krass. War ’n krasser Gegensatz. Jede U-Haft hatte ja doch so sein Spezifisches noch in jeder Bezirksstadt.“291 Frau Wetzel schildert ähnliche Zustände nach einer unvermittelten Verlegung. Aufgrund von Renovierungsarbeiten gelangt sie in ein Untersuchungshaftgefängnis, das sie als „Ableger der Staatssicherheit“ bezeichnet, welches aber eine reguläre Untersuchungshaftanstalt der DDR-Justizorgane war, in der für diesen Zeitraum eine gesonderte Abteilung XIV des MfS untergebracht wurde. Die neuerliche Einweisung in die UHA veranlasst Frau Wetzel erstmalig eine Reflexion ihrer tatsächlichen Situation anzustrengen. „[...] da is’ mit einem Mal das normale Leben abgeschnitten gewesen.“ In den Beschreibungen kommen nun gehäuft Elemente von äußerster Härte vor. Sie beziehen sich vor allem auf das Agieren des Wachpersonals gegenüber den Untersuchungshäftlingen, von einem allgemein kriminalisierenden Umgangston und physisch unzumutbaren Zuständen ist die Rede, die sich von der Behandlung beim MfS stark unterscheiden: „Und— das hat sich einige Tage hingezogen, dann wurde ich wieder verlegt und zwar ins Gefängnis von [Ortsname], das war damals so ’n Ableger von der Staatssicherheit. Und—, also das war dann WIRKLICH ’n ganz normales ((lachend)) Gefängnis, weil am Anfang bei der Staatssicherheit is’ man trotzdem immer irgendwie als Mensch behandelt worden, da hat man sich noch net so wie ’n VERBRECHER gefühlt, aber da in [Ortsname] da kam man in das Gefängnis rein und also da is’ mit einem Mal das normale Leben abgeschnitten gewesen.“292

Auch bezüglich der Nahrungsversorgung („Und du kriegtest, gloobe 800 Kalorien am Tag zu essen.“293) und Raumbedingungen in den einzelnen UHA berichten die InterviewpartnerInnen von eklatanten Unterschieden: „Und dort waren die Bedingungen ja noch viel schlimmer, ja dort waren die Bedingungen PHYSISCH schlimmer. [...] Und die Fenster wurden aber zugemauert und da mit=mit diesen Glasbausteinen und da gab ’s nur ’n Lüftungsschlitz, ’n ganz kleiner Lüftungsschlitz. Und es war eine FÜRCHTERliche Hitze damals, das war im Sommer und— wir ham da drin ... Ich hab’ gedacht, ich krieg’ keine Luft mehr.“294 „Das weiß ich noch ganz genau, dieses Knallen von dem Riegel, wie der zuging.“ – Einweisung: Bereits nach dem ersten Verhör, das zumeist noch im jeweiligen Staatssicherheitsdienstgebäude stattfand, erfolgte im Anschluss, wenn sich der Tatverdacht durch ein Geständnis bzw. weitere ‚offizielle‘ Beweismittel erhärten ließ, die Einweisung in den Untersuchungshaftvollzug des MfS, 291 292 293 294

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 38. V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 2. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 17. V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 20. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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vorausgegangen waren dieser Haftrichtervorführung und Verkündigung eines Haftbefehls. Die Erinnerung Frau Wetzels lässt Rückschlüsse auf eine für sie noch immer nicht realisierbare Situation zu. Die Hoffnung auf eine albtraumartige Situation, die sich schließlich aufklären und zum Guten wenden wird, ist auch am nächsten Tag der Verhaftung nicht endgültig aufgegeben. Erst die Bestätigung des Haftbefehls lässt die Zweifel an der Annahme, dass es sich hier um ein Missverständnis handeln könnte, schwinden. Die Strukturen im Zusammenspiel von Justiz und Staatssicherheit werden ein erstes Mal erkennbar: „Na ja, und dann gingen halt am nächsten Tag die Vernehmungen weiter und dann wurde ich der Haftrichterin vorgeführt und da hab’ ich noch gedacht, »Na vielleicht sagt die dann, ‘Nee, wieso wollen Se die verhaften? Das gibt ’s ja gar ni’, die hat doch gar nix gemacht!’« Und dann hat die aber GENAUSO geredet, wie die Leute von der Staatssicherheit, also da war abzusehen, dass da für mich überhaupt nichts Positives dabei rauskommt. Und die hat dann den Haftbefehl natürlich noch bestätigt.“295 Im Zuge der Aufnahme wurden dann unverzüglich die Vernehmungen durch – ab den siebziger Jahren – zumeist akademisch ausgebildete, an der JHS geschulte hauptamtliche Mitarbeiter der Abteilung XIV fortgesetzt. Die Einweisung in die UHA legt die Mittel der Verunsicherung auf eine physische Grenzverletzung: Entkleidung und Entzug der persönlichen Habseligkeiten, Körpervisitation und „hygienische Maßnahmen“, zumeist das Tragen von Anstaltskleidung und schließlich Isolation in einen Einzelverwahrraum. Die psychische Relevanz der körperlich entwürdigenden Prozeduren aber wird in den nachfolgenden Aussagen ebenso deutlich: „[...] ICH in so einem zerlumpten, äh zerlöcherten, mit=wo der Hosenboden so bis in die Kniekehlen rein(geht) [...] ich hatte so dicke, also so ’n Sträflingsanzug an, so ’n Sträflingsstehkragen und dann solche Kamelhaarpuschen, also solche karierten Hausschuhe, solche Schlappen. Ach— wie ein Schwerstverbrecher.“296 Das plötzliche Zurückgeworfensein auf sich selbst, in einer Situation, die gedanklich zuvor nicht durchgespielt bzw. überhaupt erwogen wurde, das Nachwirken des Schocks und das innerlich gültige Empfinden von Recht und Unrecht stehen unvermittelt der gegenwärtig empfundenen Handlungs- und Hilflosigkeit entgegen: „[...] und da bin ich in die Zelle geführt worden, da ging der RIEGEL vor und da denk’ ich, »Das bist du nicht, du hast niemandem was getan, das kannst du nicht sein.« Das weiß ich noch ganz genau, dieses Knallen von dem Riegel, wie der zuging. Und dann kam ’ne Frau, die hat mich gefilzt, wie das üblich so ist. Und dann kam ich zum Vernehmer und bin vernommen worden [...].“297 Der bisher schützende Verdrängungsprozess, eine Form der Realitätsdiffusion, ‚begünstigt‘ durch Schlaflosigkeit und Ermüdung, und der innere Anspruch, sich „beherrschen“ zu müssen, können aufgrund der langsam durch295 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 2. 296 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 46 f. 297 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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scheinenden Erkenntnis der wirklichen Lage und der körperlichen und seelischen Ermattung nicht länger getragen werden. Lediglich emotionale Körpersensationen schaffen psychische Erleichterung und eine erste Verarbeitung des Schockzustands, denn weder ein zwischenmenschlicher Austausch, noch Trost bzw. Zuwendung von vertrauten Menschen werden durch Einzelhaftbedingungen und absolute Isolation nach außen zudem erschwert und unmöglich gemacht: „Da kam so ‘ne=‘ne Wachtel, haben wir immer gesagt, so eine vom Wachpersonal und die hat mich dann in ‘ne Dusche reingesteckt, da musste ich mich ausziehen und dann hat die gesagt, »So und jetzt duschen Sie sich!« Dann hab’ ich gesagt, »Ja, ich hab’ doch eben erst geduscht«, »Das macht überhaupt nix!« Und das war ja bestimmt vier, fünf Tage später und bei dem Duschen sind mir da erste Mal die Tränen gekommen, also da konnt’ ich mich dann ni’ mehr beherrschen.“298 „Einzelhaft ist Einzelhaft. Du bist ganz allein da drin.“ – Isolationshaft: Die angesprochene Dimension der Isolation in den Untersuchungshaftanstalten des MfS gehört in ein „wohldurchdachtes System psychischen Drucks“, das gleichzeitig „Verunsicherung, systematische Desinformation und Zermürbung“ sowie eine permanente Überwachung zu seinen „wesentliche[n] Elemente[n]“ zählte.299 Ersteres Phänomen dieses Systems fand in der zu vollziehenden Einzelhaft primäre Umsetzung. Der Verlauf der Ermittlungen, das heißt die Aussagebereitschaft der Beschuldigten bestimmte das Zeitmaß der Einzelunterbringung. Begründet wurde diese offiziell nach § 130 (Vollzug der Untersuchungshaft) der Strafprozessordnung, wo es in Absatz 3 hieß: „Der Verhaftete ist in Einzelhaft unterzubringen, wenn es die Ermittlungen erfordern.“ Den Interpretationsspielraum schränkte offiziell die Anmerkung „Einzelheiten werden durch die Untersuchungshaftvollzugsordnung geregelt“300 ein. Was die Details für eine solche Unterbringung charakterisierte, erörterte auch der Kommentar zu § 130.301 Alle Personen des Typus berichten von dieser über mehrere Tage, Wochen oder Monate andauernden Unterbringungsform. Es ist von der Tatsache auszugehen, dass eine Einzelhaftunterbringung, zumindest zu Beginn der Untersuchungshaft im MfS allgemein üblich war302, demnach der unzureichende 298 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 3. 299 Alle Zitate Raschka, Überwachung und Repression, S. 63; vgl. ebenso Beleites, Untersuchungshaftvollzug, S. 456–462. 300 Beide Zitate § 130 Abs. 3 StPO. In: Strafprozessordnung der DDR, S. 66. 301 „3. [...] Einzelhaft darf nur dann angeordnet werden, wenn es die Ermittlungen oder die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit in der U-Haftanstalt erfordern (z. B. wenn [...] Verdachtsmomente für einen Ausbruch vorliegen, der Verhaftete durch brutales Verhalten aufgefallen ist oder Anzeichen dafür vorliegen, dass er jedes Zusammentreffen mit anderen Inhaftierten zur Verschleierung der ihm angelasteten Straftat nutzt). Sie kann auch befristet als Sicherungsmaßnahme angewendet werden.“ Kommentar 3 zu § 130 StPO. In: Strafprozessrecht der DDR, S. 180. 302 „Also die erste Woche waren=ham se sowieso immer alleine sitzen lassen. Und dann war ich zwischendurch noch mal drei Wochen alleine.“ V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 17. Diese Erfahrung bestätigt Ammer als allgemein übliches Verfahren. Vgl. Ammer, Methoden des MfS, S. 81. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Stand der Ermittlungen bzw. die Gefährdung von Sicherheit und Ordnung im Sinne einer formalen Angelegenheit in jedem Fall als offiziell zutreffend betrachtet und durchweg so gehandhabt wurde. Das erzieherische Moment bzw. der einschüchternde und zermürbende psychische Aspekt aber stand für das MfS inoffiziell im Vordergrund dieser Maßnahme. Die Intention einer vollständigen Isolierung und Ablösung von der zwischenmenschlichen Außenwelt, der Entzug dieser sozialen Bedürfnisse, führte zu einer permanenten Beschäftigung mit sich selbst. Die in den Vernehmungen thematisierten Anschuldigungen werden immer und immer wieder durchgespielt, ohne dass sie einem Gegenüber mitgeteilt werden können. Die Trennung von Partner, Familie und vertrauten Menschen wird umso unerträglicher ins Bewusstsein getragen. Eine Aufklärung und Klarstellung der Situation diesen gegenüber war aber zunächst überdies unmöglich, weil zur strengen Einzelhaft anfangs auch die Unterbindung jeglichen Kontakts zu Familienangehörigen wie auch zu den jeweiligen Anwälten der U-Haft gehörte: „Und also meine Eltern ham das aah erst Tage später erfahren, wo ich bin [...] Ja dann war ich, ja natürlich immer alleine am Anfang, ich hatte überhaupt keene Möglichkeit mit irgendjemanden in Kontakt zu kommen, weder mit ’m Rechtsanwalt noch mit irgendwelchen Verwandten von mir oder so.“303 Dass das Mittel der Kontaktsperre ebenso auf der Seite der Angehörigen und deren Umwelt seine psychosoziale Funktion ‚erfüllte‘, beweisen die Erfahrungen, welche Frau Wetzel mit ihrer Mutter bei einem später zugelassenen Besuchstermin machte. „[...] und inzwischen kam dann meine Mutter mal zu Besuch. [...] Und die wusste ja überhaupt net, WAS LOS WAR, die hatte keine Ahnung. Und dann kam meine Mutter da rein und hat gesagt, »[Vorname Frau Wetzel], was hast ’n du gemacht?« Und da hab’ ich gesagt, »Ich hab’ GAR NIX gemacht!« Und dann hat der Vernehmer, der war ja dabei, hat dann glei’ gesagt, »Darüber wird nicht gesprochen.« Na ja, da konnten wir natürlich so gut wie gar nichts mit’nander reden, aber jedenfalls waren wir alle beide ganz schön betroffen von der Sache. Und dann wollte meine Mutter noch so verschiedene Kosmetiksachen und Essen dalassen, durfte sie alles nich’. Und dann kam ich wieder zurück in die Zelle und hab’ total geheult, weil ich mir vorgestellt hab’, wie meine Mutter da raus geht. (3) Also das war schon ganz schön hart. (3) Na und das macht mir heute immer noch zu schaffen.“304

Der letztendlich doch zugebilligte Kontakt zu den Angehörigen war oftmals die ‚Belohnung‘ für die Unterzeichnungsbereitschaft der häufig verfälschten Aussagen in den Vernehmungsprotokollen.305 Wie das Beispiel aber vorführt, wird 303 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 2. 304 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 4. 305 „[...] und hat dann aber wirklich in Kinderschrift aufgeschrieben per Hand, was ich gesagt hab’. Aber es is’ natürlich immer ’n bissel anders rausgekommen, als wie ich ’s gesagt hab’. Aber ich hab’ trotzdem dann natürlich immer unterschrieben, weil man immer Angst hatte, die Eltern dürfen einen net besuchen, da ham se natürlich sofort damit gedroht [...].“ V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 3 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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hier die Hoffnung auf emotionalen Beistand und vertraute Ansprache für beide Seiten zutiefst enttäuscht und gerät zur nervlichen Zerreißprobe. Die Mutter, vom MfS systematisch im Unwissen über den vorliegenden Sachverhalt gelassen, suggeriert der Tochter unwillentlich mit ihrer Bemerkung, dass sie möglicherweise berechtigt und eigenverschuldet in diese Situation gelangt sei. Die Tochter, dem plötzlichen Misstrauen der Mutter ausgesetzt, kann über die innerliche Enttäuschung hinweg dieses – wegen der Auflage des beisitzenden Vernehmers – noch nicht einmal aufklären. Das Gespräch endet in einer von Unausgesprochenheiten angefüllten emotionalen Sackgasse und belastet die Beschuldigte in ihrer Einzelhaftsituation umso mehr, da sie nun zugleich das mögliche Misstrauen der Eltern und die Verantwortlichkeiten gegenüber ihnen aushalten muss bzw. durch den programmatischen, vom MfS forcierten Vertrauensentzug ausgesetzt wird. Die Desinformationsstrategie des MfS gegenüber Eltern und nahen Angehörigen bereitete den Boden für Spekulationen und Mutmaßungen, die ihre diskreditierende Wirkung durch bewusste Gerüchtestreuung des MfS gemäß den Mitteln der „Zersetzung“ laut Richtlinie Nr. 1/76 erst voll entfalten konnte und das Bedürfnis nach vermeintlich aufklärenden Neuigkeiten nährte.306 Im Falle von Frau Löffler zielt diese auf eine Diskreditierung und Kriminalisierung ihrer beruflichen Tätigkeit als Ärztin: „Und das haben sie auch meiner Mutter ... Selbst die DDR-Leute haben ’s ni’ geglaubt, »Die wird schon ...« Und dann sind natürlich ganz bewusst irgendwelche Sachen gestreut (worden). »Die muss mit Morphium gehandelt ham, die hat jemanden umgebracht im Krankenhaus.« Solche Gerüchte streut die Stasi, WISSENTLICH. Also das war ganz klar. Also ham se ja auch zu meiner Mutter gesagt, »Die muss ja was gemacht haben, umsonst wird niemand eingesperrt.«“307 Aus den herbeigesehnten Begegnungen mit den Angehörigen, die aufgrund dieser Momente bisweilen zur Farce gerieten, konnte schließlich eine vom MfS genau kalkulierte, verstärkte innere wie äußere Isolierung resultieren. Bislang dem eigenen Selbstverständnis verfochtene rechtsstaatliche Normen werden durch abweichende Reflexionen über das möglicherweise falsche Handeln in Frage gestellt, bis hin zu Eingeständnissen, nicht im staatsrechtlichen Sinne agiert zu haben und damit zu Recht für schuldig erkannt zu werden. Zugeständnisse an die herrschenden strafrechtlichen Bestimmungen dieses Staates begleiten teilweise solche Überlegungen. Ebenso zermürbt die Scham gegenüber den Eltern und Verwandten als kriminell, ja gar als „Verbrecher“ zu gelten und am 306 „Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind: – systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben [...].“ MfS-Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge. Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 391. Den nachweislich zielgerichteten, konsequenten Einsatz dieser Methode bestätigt auch Eisenfeld in seinem Aufsatz: Eisenfeld, Gerüchteküche DDR, S. 41–53. 307 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 16. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Ende deren entgegengebrachtes Vertrauen enttäuscht zu haben. In den beschriebenen Äußerungen zur Einzelhaft treten diese vielschichtig gelagerten Selbstzweifel in kumulierter Form hervor. Vorwürfe gegen sich selbst und das verschuldete Agieren entfalten in dieser Vereinzelung nicht nur den Raum für psychisch, sondern auch für physisch selbstzerstörende Kräfte: „[...] wenn ich überlege die ersten Wochen. »Was wird deine Mutter sagen? Du sitzt im Knast. Wer=wer is’ denn schon stolz da drauf, dass das Kind im Knast sitzt?« Und das alles und da haste so ’n Kopp aufgehabt und bist mit ’m Kopp gegen de Wand gerannt. Dann haste denn ... Dann ging die nächste Phase, das ständige Einhämmern von denen, dass man ’n Verbrecher is’ und das alles. Und dann kommt natürlich Zweifel auf. Man setzt sich hin und sagt, »Haste richtig gehandelt, haste falsch gehandelt?«“308 Diese mannigfaltig in der Einzelhaft provozierten psychischen Reaktionsmechanismen mündeten zugleich in ein vom MfS intendiertes Teilziel der Zermürbungstaktik, nämlich zusätzlich ein schwer belastendes Schuldbewusstsein gegenüber den Angehörigen in den Untersuchungshäftlingen zu manifestieren. Die Wechselwirkung zwischen der verordneten, körperlichen Vereinzelung und der aufgrund dieser hervorgerufenen seelischen Nöte belegen den Einsatz psychophysischer Methoden durch das MfS, die zur Generierung von Hilflosigkeits- und Ohnmachtzuständen ausgenutzt wurden. Hauptziel dieser Methodik war letztlich, diese Situationen für eine erhöhte Aussagebereitschaft in den Vernehmungen und gleichzeitige Gefügigkeit für die Unterzeichnung der häufig belegten Verzerrungen in den Vernehmungsprotokollen zu missbrauchen.

6.1.4.2 Verhöre – Situationsbeschreibungen, Wirkungsmechanismen und Strategien der Bewältigung In den letzten Jahren sind die Vernehmungspraktiken im Untersuchungshaftvollzug des MfS aus veröffentlichten, partiell literarisch verarbeiteten Erlebnisberichten309, Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern der HA Untersuchung310 und den Aktenmaterialien des MfS größtenteils rekonstruiert und wissenschaftlich eingeordnet worden, vor allem was ihre Methoden und Zielstellungen anbelangt311. Die folgenden Ausführungen wollen weniger bereits bekannte Verhörmethoden kategorisieren oder nachweisen, sondern es geht vielmehr darum, die Methoden, die in den Interviews und Aktenlagen signifikant geworden sind, jeweils nachzuzeichnen. In Rückbezug auf bereits feststehende Begrifflichkeiten sollen Äußerungen individueller Wahrnehmung und Einschätzung, Abwehr 308 V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 59. 309 Vgl. bspw. Fuchs, Gedächtnisprotokolle – Vernehmungsprotokolle und unter Einarbeitung des Wissens aus den persönlichen Protokollakten, ders., Magdalena, exemplarisch v. a. S. 52–78. Bereits erwähnt wurde Jablonski, Verhören bis zum Geständnis. 310 Vgl. bspw. bei Furian, Der Richter und sein Lenker. 311 Vgl. Ammer, Methoden des MfS, S. 75–87; Welsch, Repression und Folter, S. 101–113. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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oder gar Resistenz aber auch von Ohnmacht und Resignation aufgezeigt werden. Die Analyse konzentriert sich in diesem Kapitel somit auf eine intensivierte Darstellung der Selbst- und Fremdwahrnehmung der InterviewpartnerInnen. Im Erfahren der Vernehmungspraktiken und ihrer Ziele modelliert sich ein erstaunlich kongruentes Bild der ausgelösten interindividuellen Denk- und Handlungsstrategien sowie differenzierter vorhandener und neu geschaffener Bewältigungsressourcen. Geschlechtsspezifische Komponenten sollen hierbei ebenso in den Fokus der Betrachtung gezogen werden, denn aus den Verhörprotokollen und den entsprechenden Äußerungen der ZeitzeugInnen konnten auffällig übereinstimmende Strategien der Bewältigung jeweils für die Männer bzw. die Frauen ermittelt werden, die im Kontext der „Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens“ Elemente verbaler Devianz und Resistenz auch in einem nichtalltäglichen, lebensweltlichen Zusammenhang aufweisen.312 „Da unten. Drei Mann gegen mich. Fünf Stunden.“ – Situationsbeschreibungen: Wenn die Erzählungen der meist weiblichen Interviewpartner zu einer Beschreibung der Verhöre während der U-Haft gelangen, wird nochmals ganz deutlich, dass die Staatssicherheit der DDR eine ausschließlich von Männern geführte und besetzte Domäne war.313 Obwohl das Frauenkommuniqué 1961 eine vermehrte Einbindung der Frauen in die Erwerbstätigkeit der Volkswirtschaft ausgelöst hatte, reduzierte sich im MfS hingegen seit diesem Zeitraum „der Anteil weiblicher Mitarbeiter sogar von 25,0 Prozent (1954) auf 16,3 Prozent (1965) und stagnierte danach“314. Trotz des 1965 von Mielke erlassenen Befehls Nr. 14/65, welcher Frauen als hauptamtliche Mitarbeiter „in Überein312

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Bezüglich der hier verwendeten Begrifflichkeiten, welche widerständiges Verhalten in der DDR kennzeichnen, orientiert sich die Arbeit allgemein definitorisch (vor allem auch in der Bezeichnung der einzelnen Typen), in der besonderen Betrachtung für die Ausnahmesituation der politischen Haft und ihres spezifischen Handlungsrahmens an der von Eckert eingeführten Definition, welche innerhalb dreier Erscheinungsformen unterscheidet und insofern Widerstand als illegalen Kampf für einen grundsätzlichen, politischen Systemwechsel charakterisiert, Opposition/Dissidenz als ein Streben nach Veränderung bzw. Reform der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände begreift und Resistenz/Verweigerung als ein von den geltenden real sozialistischen Normen abweichendes, im Alltag auftretendes Verhalten definiert. Vgl. Eckert, Widerstand und Opposition in der DDR, S. 52 f.; zudem in rein definitorischer Absicht ders., Widerstand und Opposition, S. 27–36. Raschka hat bereits für die Untersuchungshaft des MfS von „Möglichkeiten zur Gegenwehr“ und „Gegenstrategien gegen die Verhörmethoden“ (Raschka, Überwachung und Repression, S. 74) bei politischen U-Häftlingen gesprochen, ordnet dieses Phänomen aber nicht in einen begrifflich definitorischen Gesamtzusammenhang ein, wie dies bspw. Wunschik für den DDR-Strafvollzug geleistet hat. Hier tritt auch – soweit ich sehe in diesem Kontext zuerst – der von mir übernommene Begriff der „verbalen Devianz“ i. S. des von Neubert eingeführten Begriffs des „politischen Widerspruchs“ auf. Vgl. Wunschik, Selbstbehauptung und politischer Protest, S. 268 f. „Na sicher doch. IMMER. NUR MÄNNER.“ V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 17. Der Anteil hauptamtlicher Mitarbeiterinnen schwankte von 1971 bis 1989 stets um einen Prozentsatz von 15–16 %. Vgl. Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 554–557. Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 267. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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stimmung mit den Erfordernissen der politisch-operativen und fachlichen Arbeit, zielgerichtet für die vorgesehenen neuen Aufgaben qualifizieren und für leitende Dienststellungen [...]“315 gewinnen sollte, blieb eine konsequente Umsetzung aus. Den Frauen blieben realiter lediglich traditionell weibliche Arbeitsfelder im Sekretariatsbereich, beim Telefondienst und im Küchen- und Reinigungsdienst, geringfügig zuweilen in der inneren Verwaltung vorbehalten. Politisch-operative Aufgaben wie die Führung von inoffiziellen Mitarbeitern oder die Leitung von Verhören dachte man fast ausschließlich den männlichen Mitarbeitern zu.316 Hinzu kommt, dass das MfS strukturell ein den bewaffneten Organen des Nationalen Verteidigungsrats untergeordnetes Ministerium war und daher auch personell eine Entwicklung zur Männerdomäne naheliegend war. Der neuerliche Verweis auf dieses Faktum sollte die, aus diesem Selbstverständnis herrührenden Verhaltens- und Handlungsmuster der männlichen Vernehmer gegenüber den beschuldigten Frauen in einen Rahmen einbetten. Explizit konnten in den vorliegenden Quellen zur Untersuchungshaft jedoch keine spezifischen Strategien des MfS gegen Frauen eruiert werden. Vielmehr werden in den personenbezogenen Aktenlagen bei verheirateten Paaren die Ehefrauen lediglich auf dem Index der Männer miterfasst. Das heißt, dass ihr Fall nicht in einem gesonderten Vorgang bearbeitet wurde. Aber ein System, welches indifferent Teile der eigenen Bevölkerung als feindlich-negative Kräfte einschätzte, musste diese Frauen, die versuchten, in der DDR-Gesellschaft ihr Gesicht zu wahren und politisch agierten, zu subversiven, feindlichen Personen deklarieren. Oder hatte das MfS jegliche Form politischer Opposition und Resistenz für die männliche Bevölkerungsseite verbucht? Wurden die Frauen damit in ihrer politischen Wirkungsmächtigkeit völlig unterschätzt? Und ist aus diesem Grund auch der sich in den Vernehmungsprotokollen zeigende Sexismus der Vernehmer gegenüber den sich behauptenden Frauen zu erklären? Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund einer staatlich verordneten Gleichberechtigung und ihrer fragwürdigen gesellschaftlichen Umsetzung bzw. Missachtung, die insbesondere innerhalb des MfS personell wie in der operativen Arbeit mit317 oder gegen Frauen durch überkommene Vorstellungen der 315 316 317

MfS-Befehl Nr. 14/65 vom 5.1.1965 „Unsere Republik braucht Frauen – alle Frauen brauchen unsere Republik“. Dokumentiert in: Ellmenreich, Frauen bei der Stasi, S. 49–53, hier 52. Vgl. Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 267. Lediglich 15 % aller IM waren Frauen. Man bezweifelte ihre Konspirativität, fürchtete ihre Schwatzhaftigkeit und Emotionalität; den überkommenen Rollenvorstellungen entsprechend aber setzte man sie dennoch erfolgreich in der „Angriffsfront Intimleben“ ein: „[G]ünstig wäre der Einsatz von weiblichen IM (Operative Betten), die über Persönlichkeitseigenschaften verfügen, die im Interesse der Ausländer sind.“ Frömming, Detlef, Die Wirksamkeit des IM-Bestandes der Hoteleinrichtungen Hotel „Potsdam“ und Hotel „Cecilienhof“ bei der Aufdeckung und Abwehr von feindlichen Aktivitäten im aufnehmenden Tourismus aus dem NSA und daraus resultierende Schlussfolgerungen für die politisch-operative Arbeit (JHS-Diplomarbeit 1988), zitiert in Maennel, Frauen zwischen Alltag und Konspiration, S. 29. Vgl. dazu ergänzend und zur Situation der Frauen im MfS allg. Schmole, Frauen und MfS. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Geschlechterrollen, Stigmatisierungen und Dämonisierungen von Frauen grundsätzlich abgelehnt wurde. Die festgestellten Mehrheitsverhältnisse der Männer wirkten sich besonders negativ auf die zu Beginn der Untersuchungshaft stattfindenden Verhöre aus. Hier kam es oftmals zu einer Konstellation, die sich aus drei Vernehmern und einer Beschuldigten zusammensetzte. Diese vorgeführte Dominanz des Männlichen sollte zusätzlich einschüchtern: „Na und dann ham se mich mal im November runtergeholt und da saßen dreie da, gegen mich allein. Arm, verhungert und die drei da vor mir und ich hier. [...] Und aber das war eine WAHNSINNIG harte Vernehmung. Da unten. Drei Mann gegen mich. Fünf Stunden, ja. Also ich hab’ dort wassereimerweise geweint. Ich war mit den Nerven total am Ende und mit ’n Kräften auch. Also das, ich halt’ das heute noch nich’ aus, wenn ich lange Zeit irgendwie ausgefragt werde.“318 Die Vergleichsdimensionen der „doppelten Diktaturerfahrung“ wie sie in Kapitel 6.1.1.1 bereits dargelegt wurden, kommen hinzu. Seitens der InterviewpartnerInnen spielen sie auch für die Einordnung, Vergegenwärtigung und Einschätzung der Verhörsituation eine tragende Rolle. „Das war WAHNSINNIG interessant. Ich hatte ja gedacht, das is’ ungefähr so ... Ich hatte ja VIELE Bücher gelesen. Von Stalin und seinen Leuten, die also dann, die er also dann enthauptet hat und gefoltert hat bis zum Gehtnichtmehr. Und völlig sinnlos und so weiter. Dann kannte ich mehrere Erzählungen, Geschichten und so weiter von, ach von allen möglichen Leuten, die im Untergrund waren und dann also ((lachend)) tatsächlich angeschlossen in Zellen gesessen hatten. Dann hatt’ ich gelesen wie ’s UNGEFÄHR in den Kellern von der, wie hieß denn der andere Verein vorneweg, ni’ Staatssicherheit oder so ähnlich, hier die beim Adolf, Sicherheitsdienst. [...] Gestapo, ja. Geheime Staatspolizei. Also wie ’s bei denen da zuging. Also dacht’ ich, is’ es hier genauso. ((lacht)) Als Erstes kamste mal da rein, ’n großes Zimmer. IMMER (1) liegt zwischen dir und dem, der dich verhört, vernimmt oder was ooch immer, sehr viel Platz. Da vorne is’ der Schreibtisch, hier geht so ’n langer Schreibtisch lang und dann sitzt du da irgendwo. Also noch so ’n langer Tisch noch und das sitzte da irgendwie so schön weit weg von dem. So. Jetzt saß ich armes Schwein nun da, hab’ Guten Tag gesagt und hat der gesagt, ich soll mich setzen, hab’ ich mich gesetzt. Nu’=nun DER FING NI’ AN, der sagte nischt, hab’ ich au’ nichts gesagt. Ich hab’ gedacht, »Ich weeß ... Na, lass den nur kommen. Also der muss doch was machen.« Und dann hat der mich angebrüllt, ob ich weiß, warum ich hier bin. ((lachend)) Das wusst’ ich nisch. Hab’ ich gesagt, »Nee.« Und dann is’ er erst mal explodiert und rumgeschrieen hat er und es war also FURCHTBAR beeindruckend.“319

Bei allen Interviewpartnerinnen zeigt sich bereits in der Verhörsituation eine geringe Tendenz zur Selbsterniedrigung. Auf die Möglichkeit einer Resistenz bzw. Gegenwehr in der Konfrontation mit den methodischen Feinheiten der Vernehmungsstrategien, die aufgrund differenzierter Persönlichkeitsdispositionen und Bewältigungsressourcen für die Inhaftierten zu einer ‚Überlebensstrategie‘ erwuchsen, muss noch gesondert und ausführlicher im Folgenden eingegangen werden. 318 319

V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 17 f. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 15 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Frau Schuster deutet im vorigen Zitat die Strategien des MfS in den Vernehmungen an; von sachlichen, respektvollen, auch höflichen, bis demütigenden, verbal lautstarken und ausfälligen Facetten ist die Rede. Dies belegt auch Jürgen Fuchs in seinem bereits zitierten Erlebnisbericht: „Die Wochen vorher hatten sie verschiedene andere Touren versucht, leise und laut, brutal, plump und süßlich raffiniert.“320 Absicht und Wirkung dieses Verhaltens war, dem Beschuldigten nicht zu ermöglichen, sich auf stetig wiederholende Befragungsmuster und -techniken einstellen zu können, um dann ihrerseits taktisch zu agieren. Diese taktischen ‚Spielchen‘ sollten aber stets von einer Person umgesetzt werden. Die meisten der InterviewpartnerInnen hatten es schließlich die gesamte Zeit ihrer Untersuchungshaft mit ein und demselben Vernehmer zu tun: „Und, also das war ’n ganz junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, total geschniegelt, der hat jeden Tag ’n anderes Hemd angehabt [...] Und na ja jedenfalls ham sich diese Vernehmungen ziemlich lange hingezogen, aber eigentlich so lange bis halt so klar war, dass ich sozusagen ’n Alleintäter war, dass niemand davon wusste und äh (2) ja pph ... Der hat mir am Anfang dann immer Zigaretten angeboten oder Kaffee und ich hab’ immer rigoros gesagt, »Nein.« Also ich wollte mir von so ’nem Typen überhaupt nichts geben lassen.“321 Seit 1968 waren die Vernehmerprofile im Zuge einer „zweiten Etappe der nachholenden Akademisierung“322 ‚qualitativ anspruchsvoller‘ gestaltet worden. Die Vernehmer wurden in psychologischen Verhörtechniken geschult; mehr Wert legte man zudem auf deren Allgemeinbildung. Bis 1982 ließ sich dann auch ein erheblich höherer Anteil an fachlich breitgestreuten Akademikern – in der Mehrzahl aber Juristen – im hauptamtlichen Personal von 10,6 Prozent (1969) auf 27,6 Prozent verzeichnen.323 Die Vernehmer stellten für die U-Häftlinge zumeist die einzige zwischenmenschliche Bezugsperson dar. Wie erläutert, vollzog sich ein Großteil der Untersuchungshaft in Isolation. Der Vernehmer wurde zum alleinigen, obligatorisch verordneten Ansprechpartner. „Auf diese Weise sollte das Bedürfnis nach Austausch auf den Vernehmer konzentriert werden und den Inhaftierten dazu bewegen, das auszusagen, was das MfS als Geständnis benötigte.“324 Es wird teilweise sogar von einer gezielt eingesetzten, paradoxen Sehnsucht der Untersuchungsgefangenen nach dem Vernehmer infolge tage- oder wochenlanger Einzelhaft gesprochen.325 In den hier zur Verfügung stehenden Aussagen sind jedoch nähere Persönlichkeitsmuster oder charakterliche Züge der jeweiligen Vernehmer nicht auszumachen. Im Vordergrund steht hier nicht die einzelne Vernehmerpersönlichkeit, sondern lediglich seine Funktion im machtausüben320 321 322 323 324 325

Fuchs, Magdalena, S. 59. V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 3 f. Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, S. 339. Vgl. ebd., S. 339–348. Raschka, Überwachung und Repression, S. 67. Gespräch mit Hans-Werner Kintzel, bei: Raschka, Überwachung und Repression, S. 68. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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den Apparat. Denn die individuellen Ausformungen der ‚Exekutive‘ bleiben für die darzulegende Erinnerung von geringfügiger persönlicher Bedeutung. Deswegen werden diese Personen nur vereinzelt und dann schemenhaft beschrieben. Dagegen setzten die Interviewten ihr eigenes Agieren. Die Beschreibung folgt dabei stets einer detaillierten Beschreibung und Wertung einzeln erinnerter Vernehmungssituationen. „Und er wollte mich ja auch nur wieder demütigen.“ – Ausbildung konfrontationsbewältigender Handlungsstrategien: Die individuell anzuwendenden Verhörmethoden des MfS rekurrierten zumeist auf einer im Untersuchungsplan (U-Plan) detailliert erstellten „Einschätzung des Beschuldigten“. Aufgrund dieser legte der jeweilige Vernehmer letztendlich die „vernehmungstaktische Grundlinie“ fest. Aus den Beurteilungen der Beschuldigten erwuchs schließlich die „Zielsetzung für die Bearbeitung des Vorganges“.326 Diese hatte hier lediglich übergeordneten Charakter und war wenig auf die einzelne Person und deren ‚Vergehen‘ ausgerichtet: Es ging um die Aufdeckung und Überführung der Schleusungsringe. Konkrete Vorschläge oder Festlegungen der einzusetzenden Taktik in den Vernehmungen sind in diesem Akt nicht aufzufinden. Letztendlich ist aber nach Ammer stets von einem Hauptziel im Umgang mit den Beschuldigten auszugehen: „eine möglichst weitgehende Persönlichkeitsveränderung des Häftlings, bis hin zur Zerstörung der vorhandenen Persönlichkeit und anschließendem Neuaufbau einer anderen, etwa in dem Sinne, was mit einer so genannten Gehirnwäsche bewirkt werden soll.“327 Aus den vorliegenden Vernehmungsprotokollen und den Erzählungen der ZeitzeugInnen werden Ansätze dieser Taktik und deren Zielsetzung erkennbar und sollen nun beispielhaft dargelegt werden. Wie Auszüge einer ersten „Einschätzung“ im Untersuchungsplan von Frau Rose zu Beginn der Untersuchungshaft in Hohenschönhausen (HSH) im Vergleich zu einer weiteren, nach ihrer Verlegung, vier Monate später erstellten „Einschätzung“ der Untersuchungshaftanstalt an ihrem Wohnort belegen, wichen die Persönlichkeitseinschätzungen, die von Frau Rose nach fast viermonatiger Untersuchungshaft erstellt wurden, in vielfacher Weise davon ab. An die – unterhalb dargestellten – Ausführungen war nun die Art und Weise des taktischen Vorgehens in den fortlaufenden Vernehmungen gekoppelt. Sie lassen zugleich für die noch folgende Analyse der Selbsteinschätzung des eigenen Handelns und Verhaltens von Frau Rose und ihrer zeit-, standort- und situationsbe326 Die Schwerpunkte der Untersuchung konzentrieren sich vor allem auf die Schleuserorganisation und ihre Hintermänner: „[...] die Verbindungen der Beschuldigten zu Mitgliedern der Schleuserorganisationen sind umfassend aufzuklären.“ MfS-Akte Herr und Frau Rose, U-Plan zum U-Vorgang (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 79). 327 Ammer, Methoden des MfS, S. 76. Die weiteren Ausführungen orientieren sich grob an Ammers Kategorisierung zur Durchsetzung einzelner Teilziele mit Hilfe spezifischer Methoden. Diese werden, da sich diese Einteilung für die vorliegenden Aussagen und Aktenlagen als äußerst fruchtbar erwiesen hat, in Anlehnung an dieses Muster Darstellung finden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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dingten Veränderungen weitreichende Schlüsse zu und können als das korrelierende Moment in die Betrachtung der Selbstdarstellung einbezogen werden. „Einschätzung“ UHA HSH: „Charakterlich ist sie ruhig, reagiert auf Fragen misstrauisch und versucht, konkreten Fragen auszuweichen, indem sie aufgeworfene Probleme ausgiebig erörtern will. In den Vernehmungen muss die Beschuldigte durch präzise Fragestellung gezwungen werden, wahrheitsgemäße Aussagen zu machen. Bisher hat die Beschuldigte im Vergleich zu ihrem Mann wesentliche Tatsachen verschwiegen.“328 „Einschätzung“ UHA [Bezirksstadt der DDR]: „Charakterlich ist sie unausgeglichen und reagiert spontan aufbrausend. [...] In den Vernehmungen versuchte sie, ihre strafbaren Handlungen mit persönlichen Gründen zu motivieren und abzuschwächen. Sie trat diszipliniert auf, wobei sie jedoch versuchte, Vorteile für sich zu erreichen. [...] Sie reagiert auf politische Probleme vorwiegend emutionell [sic!], wobei sie Erfolge der DDR negierte. Sie ist eine Gegnerin der DDR und brachte dieses auch in Gesprächen zum Ausdruck.“329

Wie die Gegenüberstellung der beiden „Einschätzungen“ unweigerlich erkennen lässt, hat sich die Beurteilung der Beschuldigten Rose, was ihre charakterlichen Eigenschaften bzw. ihre Haltung und Positionierung in den Verhören betrifft, nach mehreren Monaten Untersuchungshaft, in zwei verschiedenen UHaftanstalten gewandelt. Die Untersuchungsorgane dort registrieren nun in den zitierten Passagen ein grundsätzlich aggressiveres Verhalten und konsequenteres Argumentieren bei der Beschuldigten: ein erstes Moment der Gegenwehr, das nicht mehr dem anfangs angenommenen Persönlichkeitsbild entsprechen will. Zurückzuführen sind diese Persönlichkeitseinschätzungen auf Aussagen, die sich in den Vernehmungsprotokollen wiederholt belegen lassen.330 Damit schien nun ein Gutteil der anberaumten Vernehmungsmethode seine Wirkung verfehlt zu haben. Die Schwierigkeiten des MfS in der Durchsetzung einer stromlinienförmigen Verhörtaktik und ihrer Zielsetzungen werden dies im Nachfolgenden noch exemplarisch erkennbar machen. Zu einem untergeordneten Teilziel der Verhörstrategien gehörte zugleich die Veränderung und Verlagerung des bei den Beschuldigten systematisch auf die 328 MfS-Akte Herr und Frau Rose, U-Plan zum U-Vorg. (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 78). 329 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Einschätzung (BStU, ASt. Rostock, 2748/73, Bl. 185). 330 Vgl. bspw. folgende Aussage von Frau Rose auf die Frage des Vernehmers, welchen Einfluss westliche Medien auf ihre Entscheidung des ungesetzlichen Verlassens der DDR hatten: „Ich sagte bereits, dass ich im Jahre 1955 nur auf Grund des ausdrücklichen Wunsches meiner Eltern in der DDR geblieben bin. Seit dieser Zeit habe ich nur widerwillig in der DDR gelebt und mich entwickelt, weil mein Mann ja die DDR bis vor kurzem nicht in die DDR verlassen wollte. Aus dieser Einstellung heraus haben mich die abgehörten Sendungen der westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen nur in meinem Entschluss bestärkt, in der Hoffnung auf ein günstiges Leben für mich und meine Familie in der BRD. Auch jetzt ist es noch mein Ziel, nach Verbüßung meiner Strafe in der BRD wohnhaft zu werden und dort zu leben.“ MfS-Akte Herr und Frau Rose, Vernehmungsprotokoll Frau Rose vom 26. 4.1973 (BStU, ASt. Rostock, 1999/74 OPK, Bl. 205). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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DDR und das MfS fixierten Feindbilds. Intendierter Nebeneffekt dieses Teilziels war, weitere für das Ermittlungsverfahren wichtige Informationen zu gewinnen. Der Feindbild-Faktor sollte in den vorliegenden Fällen, insbesondere in der Ausrichtung auf die jeweiligen Ehepartner und Mittäter, aber auch im Hinblick auf die Fluchthilfeorganisation zur Anwendung kommen. „Die Argumentation lief dann in die Richtung, dass der Beschuldigte [...] zu einer strafbaren Handlung ‚verführt‘ oder ‚missbraucht‘ worden sei“.331 Häufiger jedoch fällt auf, dass man nicht immer die Mühen einer in sich geschlossenen logischen Argumentationskette auf sich nahm, sondern eher auf niedrige menschliche Dispositionen setzte: Durch Diffamierung versuchte man Misstrauen zu schüren und gegenseitigen Verrat zu provozieren. Man spielte die Ehepartner vor allem zu Beginn der ersten Vernehmungen gegeneinander aus, indem man – wie dies nicht zuletzt auch bei kriminalpolizeilichen Vernehmungen üblich ist – Aussagen des jeweils anderen wie im Fall Rose nachweisbar fingierte und vortäuschte: „Frage [Vernehmer]: ‚Durch Ihre am 25. 2.1973 festgenommene Ehefrau [...] ist dem Untersuchungsorgan bekannt, dass Sie seit längerer Zeit Verbindung zu einer westlichen Menschenhändlerorganisation unterhalten, um mit deren Unterstützung Ihren geplanten, ungesetzlichen Grenzübertritt [...] realisieren zu können.‘ Antwort [Herr Rose]: ‚Ich zweifle die Aussagen meiner Ehefrau an. Ich habe noch nie die Absicht gehabt, die DDR ungesetzlich in die BRD bzw. Westberlin zu verlassen. Auch habe ich keine Verbindung zu einer Westberliner Schleuserorganisation aufgenommen.‘“332

Welche grundlegenden Zweifel trotz der Einhelligkeit des Vorhabens aufgrund dieser Verhörpraktiken bei den ZeitzeugInnen ausgelöst werden konnten, schildert Frau Seestern: „Und dann sitzte natürlich in deiner Zelle und überlegst—, »MEI was war denn da los und wieso«, und dann denkste natürlich du spinnst, und dann wird dir erzählt, »Na Ihr Mann hat das auch gesagt, Sie sind die Einzige, die das noch nich’ zugegeben ham«, und na ja. Und dann denkt man, kommen ooch schon so Gedanken, »Mensch, is’ denn mein Mann normal, ohne mich, oder was?« Das hab’ ich dann später erfahren, dass mein Mann genau solche Gedanken hatte, ne.“333 Das gegenseitige Ausspielen steigerte sich in einigen Fällen sogar soweit, dass mit fiktivem Ehebruch- bzw. Untreuebehauptungen und anderen Verleumdun331 Ammer, Methoden des MfS, S. 77. 332 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Vernehmungsprotokoll Herr Rose vom 30. 3.1973 (BStU, ASt. Rostock, 1999/74 OPK, Bl. 99). 333 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 16. Diese Methode bestätigen alle InterviewpartnerInnen nahezu durchgängig, besonders Frau Krüger: „Und erst eben, als wir uns dann schon nach unserer Haftzeit darüber unterhalten, dann ham wir festgestellt, dass also gar nicht, beide nicht ärgerlich aufeinander sein brauchten, sondern wir sind da echt ausgespielt worden. Und dieses Ausspielen der Ehepaare das war ja=das war ja sowieso ’ne sehr sehr große Sache. Das hat man ja sehr, sehr gern gemacht. Und es ist ja auch bei manchen gelungen.“ V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gen das Vertrauen zum Partner soweit in Frage gestellt wurde, um damit schließlich konkret auf eine Ehescheidung hinzuwirken.334 Wie Frau Rose bestätigt, war das Ziel dieser Methoden, zumindest einen der beiden Partner und somit die Kinder in der DDR zu halten. Mit dieser Methode glaubte man dem ausdrücklichen Wunsch der Inhaftierten in die BRD überzusiedeln, zusätzlich durch Unterbreitung anderer Angebote (Fortsetzung der beruflichen Karriere, Haftverschonung etc.) zuvorzukommen. Frau Rose berichtet in diesem Zusammenhang ferner von der versuchten IM-Anwerbung ihres Mannes335. Diese Verfahren sind bei allen Personen des Typus, bis auf die geäußerten Momente des Zweifels aber nie wirklich anschlägig geworden, auch wenn diese gemeinschaftliche Resistenz oftmals eine Verlängerung der Untersuchungshaft bedeutete. Das Moment der Solidarität und des ehelichen Zusammenhalts ist vom MfS in diesen Fällen unterschätzt worden. Im Falle des Ehepaars Rose richtete sich die Taktik letztendlich sogar gegen die Staatssicherheit selbst. Spontan und unabgesprochen nutzten sie das Ausspielen der Partner in ihrem eigenen Interesse: als Plattform einer versteckten Kontaktsuche, Kommunikation und als gegenseitigen Zuspruch. Die Vernehmer transportierten unbewusst Informationen über den psychischen Zustand des anderen und es gelang ihnen, sich gegenseitig zu signalisieren, dass der Partner innerlich noch nicht ‚gebrochen‘ war. Eine unmissverständlich positiv verstärkende Strategie, die beiden über diese schwere Zeit hinwegzuhelfen vermochte, aber auch demütigende Reaktionen und die Androhung von Strafen und Misshandlung nach sich ziehen konnte. „Und da war ihnen auch wichtig von mir zu hören, was hat mein Mann für Fernsehsendungen gesehen. ‘West’ gesehen, welche Sendungen, welche Programme und so weiter. Und das hab’ ich eben nich’ gesagt. Und da hab’ ich immer gesagt, »Das können Se doch, er sitzt doch hier irgendwo im Haus, das können Se doch von ihm selbst hören«, und was weiß ich. Na ja und nachdem der nun gesagt hat, »Also wir können Sie auch auf Eis legen im Keller und ich kann Sie auch die ganze Nacht hier festhalten«, und ich musste schon so nötig aufs Klo. Und dann sagt er, »Das können Se sich auch durch die Rippen schwitzen, Sie bleiben jetzt hier sitzen, bis Sie=bis ich weiß, die Programme, die 334 Vgl. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 19. 335 „[...] ohne mich wär’ mein Mann, das hat man wörtlich zu mir gesagt, ein guter Sozialist geworden und geblieben. Also sie haben auch gefragt während der U-Haft, ob er bereit wäre, sich scheiden zu lassen. Dann hätten se mich sicher gerne alleine ausgeliefert und äh vor unserer Verurteilung kam ein Tschekist, der sich also auch als Tschekist vorgestellt hat, zu uns. Der hat zuerst mit meinem Mann gesprochen und dann auch mit mir gesprochen. [...] Und der hatte meinem Mann angeboten, dass er, wenn er nun bereut und er=er wüsste doch, dass die Stasi alles könnte, dann könnte er also sofort ohne Gerichtsverhandlung entlassen werden und käme auch zurück in seine Position und könnte Hochschullaufbahn machen und der Weg stehe äh stünde ihm offen. Das wäre in seinem Ermessen und das könnte er sofort ähm jetzt sagen. Ja und da hat mein Mann gesagt, »Dazu gehört doch sicher noch ’ne kleine Unterschrift?« »Ja, ja«, sagt er, »natürlich, also ganz umsonst is’ es nich’. Unterschreiben müssen Se schon.« Und äh da hat mein Mann gesagt, »Also das kommt gar nich’ in Frage.« Na ja, und da si__ ham wir dann noch gesessen bis äh Ende November.“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 47 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Ihr Mann gehört hat«. Und äh, da hab’ ich denn gesagt äh, »Also seine Lieblingssendung, wenn Sie ’s genau wissen wollen, war ‘Schweinchen Dick’ und das hat er auch regelmäßig mit unsern Kindern zusammen gehört und dann ‘Dick und Doof’ hat er auch noch gerne gesehen.« Und das steht=stand wirklich dann im ... Hat er dann gesagt, »Soll ich das wirklich ins Protokoll schreiben?«, »Ja, das können Sie reinschreiben, es ist die Wahrheit!« [...] Und na ja, wenn mein Mann das dann zu lesen ... »Sollen wir Ihnen mal vorlesen, was Ihre Frau ausgesagt hat, was Ihre Lieblingssendung ist?« So ungefähr, »Sie mit Ihrem Niveau, doppelt promoviert und sollen wir Ihnen DAS mal sagen, was Ihre Frau meint?« Und wenn er dann hörte ‘Schweinchen Dick’, also da hätt’ er=sagt’ er, »Also da hab’ ich ja innerlich so lachen müssen, da hab’ ich ja gewusst, dass se dich noch nich’ innerlich kleingekriegt ham, dass de noch ganz mit gut dabei bist.« Das waren dann für ihn immer so Aufmunterungen.“336

In den vorgeführten Fällen ging die Strategie des MfS, die Ehepartner zu entzweien, nicht auf. Der geschilderte Einzelfall beweist zudem eine sehr funktionale Bewältigungsstrategie, die zur Umkehrung des Wirkungsmechanismen des MfS führte: Implizite Kontaktaufnahme und eheliche Solidarität über das Medium Vernehmer. Allerdings gibt es auch Beispiele, die zeigen, wie effektiv und ‚erfolgreich‘ diese Methode in anderen Fällen eingesetzt werden konnte. Konzentriert wurden dann unterschiedliche Mittel kombiniert, um ein Geständnis auf diese Art zu erringen: Einschüchterung, Schlaf-, möglicherweise Medikamentenentzug und zusätzlich eine Gegenüberstellung.337 In diesem Falle ist zu vermuten, dass das MfS zur Preisgabe von Informationen der Mittäter auch den medikamentösen Einsatz von Psychopharmaka oder – wie auch die Ärztin Frau Löffler in ihrem Fall annimmt – Barbituraten338 nicht scheute. Letztlich gelingt es dem Vernehmer, die junge Frau gegenüber ihren Mittätern und deren Aussageverhalten misstrauisch zu stimmen. Der psychische Druck und die Zweifel an den Freunden bringen die Frau endlich dazu, über Planung und Verlauf des Fluchtversuchs der beiden Familien auszusagen. „Und später hab’ ich also dann meine Freundin gefragt und die sagte, »Die ham mich so verrückt gemacht und die ham mir einfach erzählt, [Seesterns] gehen mit ’m Rücken an die Wand und äh und pph Sie äh sin’ hier die Letzte, die noch die Lampe halten«, und dann sagt’ se, »Dann hab’ ich ’s eben irgendwann zugegeben.« Weil se sich ooch selber nich’ mehr im Klaren war, wann wir was und ... Ich denke wie gesagt, se ham eventuell auch mit Medikamenten nachgeholfen, kann ich aber nich’ beweisen. Also ich hab’ ’s nur EINMAL mitgekriegt in dieser Untersuchungshaft, äh dass meine Freundin äh die ganze Nacht geschrieen hat. Und das=das ... Und ich hab’ sie an der Stimme erkannt, und das is’ mir natürlich durch Mark und Bein gegangen. Und äh sie sagt dann auch, also da hätten sie ihr auch dann ganz starke Beruhigungsmittel gegeben, obwohl sie das Schreien wohl selbst gar nich’ so mitgekriegt hat. Also sie musste auch teilweise, ja (1), ganz neben sich gestanden ham. Ja, gut, das war eigentlich noch das, und da ham se eigentlich lange drauf rumgebohrt und da wurdest=wurde sogar ’ne Über=Ge336 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 43. 337 Vgl. MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Gegenüberstellungsprotokoll vom 28.12.1979 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 1, Bl. 110–113). 338 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 16. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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genüberstellung gemacht. Und dann wurdest du also gefragt, und dann hab’ ich wieder sagen müssen, »Nee, ich war da nich’«, ((lachend)) und sie hat gesagt, doch sie war da [gemeint ist der Schleusungstermin].“339

„Dann hab’ ich das von der Rosa Luxemburg zitiert“ – Formen verbaler Devianz und resistenten Verhaltens: Die Analyse soll sich nun auf eine intensivierte Darstellung der Selbst- und Fremdwahrnehmung der ZeitzeugInnen während der Verhöre konzentrieren. Im individuellen Umgang mit den Verhörpraktiken modelliert sich ein erstaunlich kongruentes Bild der ausgelösten individuellen Handlungsstrategien. Das Muster setzt bei den individuellen Voraussetzungen, in Form bestimmter Persönlichkeitsdispositionen an. Starke Spiegelungen, der in den Ausführungen von Kindheit und Jugend geäußerten Prägungen, Einstellungen und Wertigkeiten finden sich hier wieder. Bei den Frauen des Typus zeigt sich eine ausgesprochen hohe Auffälligkeit renitenten Verhaltens im Fortgang der Vernehmungen. Die noch in den ersten Verhören aus den Protokollen ersichtliche Passivität, von einer latenten Angst geprägt, die vor allem aus der Ungewissheit um das eigene Schicksal und das der Kinder resultierte, wird mehr und mehr von einem aggressiveren, eigensinnigen Verhalten abgelöst. Ausschlaggebende Momente für eine veränderte, problemzentrierte, direkt auf das MfS bzw. den Vernehmer ausgerichtete Bewältigung sind: Der Rückgriff auf ein erstaunlich hohes Informationspotenzial und Wissen, das mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft eine reale Einschätzung der Situation zulässt und ebenso die strafrechtliche Handhabe einzuordnen weiß. Dieses Wissen speiste sich aus den geschaffenen sozialen Unterstützungssystemen wie sie für die Betroffenen die politischen Mithäftlinge und vor allem die Familienangehörigen darstellten.340 War einmal der Verbleib der Kinder in den familiären Kreisen gesichert, schien ein Hauptproblem der ersten U-Haftzeit zumindest gemildert. Hinzu kam die schon im Vorfeld, spätestens aber seit der U-Haft allen Beteiligten bekannte Tatsache, dass so genannte Häftlingstransporte in die Bundesrepublik existierten und das Strafmaß in diesem Falle oftmals nur eine sekundäre Rolle spielte. Diese anfängliche Hoffnung musste aber nicht zwingend zur Wirklichkeit werden, wie die Aussage von Frau Wetzel bestätigt: „Und ich hab’ dann für DIESES so genannte Verbrechen hab’ ich schon die Höchststrafe bekommen, achtzehn Monate, die ich dann aah bis zum Schluss abgesessen hab’. Und also damals hat mir das noch nichts weiter ausgemacht, weil eigentlich klar war, dass alle freigekauft werden, wenn se einmal im Gefängnis sind, so nach ungefähr der 339 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 16. Diese Aussage bestätigt ebenso das Gegenüberstellungsprotokoll, vgl. MfS-Akte Herr und Frau Seestern (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 1, Bl. 113.) 340 „[...] da war eine Frau von einem Kollegen und die hat mir das alles erzählt, dass in Hoheneck alle vier Wochen ein Transport geht und so. Und da hab’ ich gedacht, es ist nur eine Frage der Zeit, alles andere ist mir wurscht. Da hab’ ich dann wieder Kraft geschöpft. Und hab’ das auch, ich muss schon sagen in der Haft ganz gut ertragen [...].“ V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 18. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Hälfte oder nach ’m Jahr und da war das Strafmaß eigentlich für uns alle total unbedeutsam.“341 Was eigens das Handeln der Frauen charakterisiert und als eine weitere grundlegende Disposition erkennbar wird, ist ein sehr geringes Maß an Selbsterniedrigung, getragen von einem hohen Maß an individueller Selbstbehauptung. Zum einen lassen sich solche Verhaltensweisen in kleinen Details nachweisen, wie es beispielsweise die verbale Devianz bezüglich des MfSSprachgebrauchs aufzeigt. Die Absage den inhaltlichen Momenten der Vernehmung zu folgen, um sich bestimmter Begrifflichkeiten zu verweigern und sich damit eindeutig zu positionieren, weisen auf eine hohe Sensibilität gegenüber den Mechanismen einer Diktatur, ebenso was deren Missbrauch von Sprache anbetraf. Die beispielhafte Aussage aus dem Vernehmungsprotokoll von Frau Seestern macht dies deutlich. „Frage [Vernehmer]: ‚Wie haben Sie die Verbindung zu einer kriminellen Menschenhändlerbande hergestellt?‘ Antwort [Frau Seestern]: ‚Ich weiß, dass Fluchthilfeorganisationen in der DDR als kriminelle Menschenhändlerbanden bezeichnet werden, möchte aber bei dem von mir benutzten Ausdruck der Fluchthilfeorganisation bleiben.‘“342 Zum anderen erhält die verbale Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Vernehmer eine weitere tragende Bedeutung: Sie entwickelt sich zu regelrechten psychischen Befreiungsschlägen in der Form verbaler Devianz. Dabei werden die Erfahrungen der Kindheit und Jugend zugleich erneut aufgebrochen: „Und das mit der Enteignung meiner Eltern und da war ich ja froh, dass ich das denen mal so richtig entgegenschreien KONNTE, was das für ’ne Verletzung war, was sie meinen Eltern angetan haben. Und äh, das war also wie ’ne Befeiung für mich und das also, da, da bin ich zwar körperlich, nervlich fast durchgedreht, aber es hat mich seelisch befreit, dass ich denen das ins GESICHT schreien konnte. Was ich also von ihnen halte, indirekt, ich musste ja wieder aufpassen, dass ich nicht ‘Staatsverleumdung’ kriege. Also ich hab’ sie nicht beschimpft. Ja. Und daraufhin, ja, hab’ ich noch ’n halbes Jahr mehr gekriegt, dreieinhalb Jahre und bei meinem Mann is’ es bei vier Jahren geblieben.“343 Die direkte Konfrontation wird nicht gescheut, gemäß dem Motto: »Freiheit kennt nur der, der weiß, er kann nichts mehr verlieren.«344 Die Frauen rechnen hierbei ganz persönlich, innerhalb verbaler Aggressivität mit dem System ab. Diese wirkte sich aber negativ auf die Haltung der Vernehmer aus; denn wer beispielsweise die Dreistigkeit besaß mit den ideologischen Integrationsfiguren des Systems gegen dieses zu argumentieren, ‚zwang‘ das MfS verschärft vorzugehen.

341 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 6. 342 MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Vernehmungsprotokoll Frau Seestern vom 22. 9.1979 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 1, Bl. 50). 343 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 44. 344 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 12. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„»Und ich=ich fühl’ mich auch nicht schuldig, dass ich hier bin. Das bilden Sie sich ja nich’ ein, ich hab’ das=das Gleiche getan, was Karl Marx getan hat, als der nach England ausgewandert ist. Der musste auch, der wollte auch nur WEG. Ich habe nichts gegen Ihren Staat hier gemacht, nichts gegen den. Ich habe weder Flugblätter verteilt noch irgendwie illegal gegen den Staat. Ich wollte hier nur weg und deswegen BIN ICH verhaftet worden.« Ach—, da haben die gebrüllt, »Raus! Melden Sie sich ab«. Und ach—, also sie waren außer sich und das muss dann, das hab’ ich die ganzen zwei Jahre dadurch auch immer mal wieder durch Bemerkungen erfahren, hat=müssen die in meiner Akte schon mal reingeschrieben haben, »Ist größenwahnsinnig, vergleicht sich mit Karl Marx.« Und so also, mir ist NIE was genehmigt worden, ich hab’ NIE ’n Päckchen gekriegt oder NIE meinen Sondersprecher oder NIE irgendwie mal Fernsehen dürfen oder=oder IRGENDetwas außer der Reihe.“345

Die Ehefrauen werden daraufhin auffällig häufig, entgegen den grundsätzlichen, bereits geschilderten Annahmen des MfS politischer Aktivität und Resistenz von Frauen, als die geistigen Rädelsführer für die gemeinsam begangene Straftat erkannt, wie dies im zusammenfassenden Schlussbericht des Untersuchungsorgans bei den Ehepartnern Rose sichtbar wird: „Bis zum Sommer 1971 lehnte der Mitbeschuldigte [Rose], der von seiner Ehefrau bis dahin wiederholt zur Durchführung eines gemeinsamen ungesetzlichen Grenzübertritts beeinflusst wurde, eine solche Handlung ab. Im September 1971 entschloss er sich jedoch infolge der ständigen Beeinflussung durch seine Ehefrau [...] die Deutsche Demokratische Republik [...] zu verlassen.“346 Fast durchweg erhalten die Zeitzeuginnen aufgrund ihres Verhaltens während der U-Haft höhere Haftstrafen als dies ursprünglich in der Anklage beantragt wurde. Ebenso belegen dies die U-Haftzeiten, teilweise mit wochenlanger Isolationshaft, sowie die Höhe des Strafmaßes und dessen anschließende Verbüßung im „strengen“ Strafvollzug.347 Ein weiteres Merkmal, das vor allem die Mütter unter den Zeitzeuginnen dieses Typus aufweisen, lässt sich mit dem Begriff Zukunftsorientierung umschreiben. Das Handeln kreist hierbei um ein Prinzip, das von einem ungebrochenen Optimismus hinsichtlich des Endes der Haft gekennzeichnet ist. Die beeinflussbaren Faktoren dieses Hoffnungsprinzips erkennen die Frauen im aktiven Herbeiführen von Entscheidungen wie z. B. durch eine kooperativere Haltung in den Verhören: „So, und irgendwann, du merkst ja irgendwie, dass se irgendwas wissen, und na irgendwann sagste ’s dann, sie erpressen dich eigentlich auch immer wieder mit den Kindern. Das war— schon ganz fies. Na ja gut, und ich muss jetzt auch sagen, aus der heutigen Sicht, bringt ’s überhaupt nichts, nichts zu sagen, wenn de dann alles gesagt hast, dann geht ’s wenigstens irgendwo vorwärts. Und auch in die Richtung, wo de hinwillst.“348 345 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 54. Vgl. ebenso die o.g. Teilüberschrift in V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 6. 346 MfS-Akte Herr und Frau Rose, Schlussbericht der Untersuchungsabteilung vom 26. 3.1973 (BStU, ASt. Rostock, 1999/74 OPK, Bl. 272). 347 Differenziertere Ausführungen zum jeweiligen Strafprozess, zu Urteil und Formen des Strafvollzugs vgl. Kap. 6.1.5. 348 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 12. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Zugleich provozieren die repressiven Methoden des MfS eine verstärkende Bedeutung im politischen Reflexionsprozess der Zeitzeuginnen und werden letztlich als Bestätigung für das richtige Handeln gegen das diktatorische System gewertet. Parallel begünstigen diese ebenso die bestehenden Aversionen gegenüber dem Feindbild DDR und laufen insofern den eigentlichen Zielvorstellungen der MfS-Methodik diametral entgegen: „Und DAS sind eigentlich alles noch mal solche Schritte, das wusstest du ja vorher auch nich’, du wusstest zwar irgendwo es is ’n Unrechtssystem, aber diese ganz konkreten Sachen erfährst du ja dann erst am eigenen Leibe und da wirst du eigentlich immer sicherer, dass du— ’s richtig gemacht hast, dass du ’s sicher hättest schon eher machen können, aber das weißt du ja nich’, du hast ja auch deinen Entwicklungsweg. Und— dass du eigentlich auf ’m richtigen Weg bist. Und das macht einen eigentlich stark da drin.“349 Die Männer indessen verweigerten sich in den vorliegenden Einzelfällen zumeist gegenüber den ‚Konfliktauslösern‘ und zogen sich verstärkt auf sich selbst zurück: „Also mein Mann hat eigentlich kaum was ausgesagt und hat sehr lange geschwiegen und hat immer, anhand von meinen Aussagen, von meinen Protokollen hat man dann immer meinen Mann vernommen und äh er wurde immer passiver, aber es wurde daraus eigentlich ’ne ganz unbewusste Taktik zwischen uns beiden, die wir ja nicht abgesprochen hatten.“350 Das aber hinderte sie nicht daran, in den Vernehmungen klar Stellung zu beziehen, auf die rechtsstaatlichen Defizite und Missstände, ja auf den Charakter eines Unrechtsstaats hinzuweisen und damit ebenfalls eine eindeutige Haltung gegenüber der DDR einzunehmen, folgt man der Aussage Herrn Schusters351 wie den Aufzeichnungen aus einer Vernehmung Herrn Seesterns. „Im Zusammenhang mit dem ‘Bau der Mauer’ in Berlin entwickelten sich bei mir Zweifel an der Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung der DDR. [...] Meine Zweifel an der Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung der DDR wurden auch durch weitere Maßnahmen verfestigt. So verstand ich nicht die Maßnahmen zur Vergrößerung der Intershopläden und deren Sortimente, die meiner Auffassung nach gegen die Ideologie der Bürger der DDR gerichtet ist. Auch die zeitweiligen Reisebeschränkungen für DDR-Bürger ins kapitalistische Ausland sehe ich als Beschneidung der persönlichen Freiheit an.“352

In diesem Zusammenhang soll noch auf einen weiteren Aspekt hingewiesen werden, der näher beleuchtet, wie sich Inhaftierte bewusst von der Konfronta349 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 13. 350 V-Tranksript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 42 f. 351 „[...] ich sagt’, »Hier geht ’s nicht darum, ob ich ’ne Straftat gemacht hab’, sondern ich HABE ’ne Straftat gemacht, aber ob ich DIESE, ich persönlich als Mensch, diese als Straftat ANSEHE, DAS IST ’ne andere Frage. SIE sehen die an, ich nicht. Und da ist der Unterschied.«“ V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 44 f. 352 MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Vernehmungsprotokoll Herr Seestern vom 9.10.1979 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 4, Bl. 110–111); eine ähnliche Argumentation verfolgt Herr Rose bei seinen Vernehmungen, vgl. MfS-Akte Herr und Frau Rose, Vernehmungsprotokoll Herr Rose vom 8. 5.1973 (BStU, ASt. Rostock, 1999/74 OPK, Bl. 104–108). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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tion mit ihrer eigenen Situation entzogen haben und sich auf das Selbst zurückzogen und in eine eigens konstruierte Ersatzrealität flüchteten. Ein solcher emotionszentrierter Abwehrmechanismus zeigt sich bei Herrn Schuster, der in eine Beobachterrolle flüchtet und sich dadurch von den belastenden Realitäten der Inhaftierung und ihren Auswirkungen psychisch absetzen kann. „»[Schuster] pass auf, du musst die Sache so sehen: DU sitzt hier im KNAST. Du bist hier von irgendjemanden, von irgendene Firma delegiert, in diesen Knast dich reinzusetzen, um zu beobachten, wie das im Knast zugeht. Betrachte dich bitte als GAST hier. Und da schaust du ... Nimmst dein Bett da oben und machst da ’n bisschen so mit, was die andern machen. Und da schaust du mal so zu, wie das so zugeht. SO musst du dir das vorstellen und das machste bis zur Entlassung.« Und du wirst lachen, das hat wunderbar geklappt, das hatte WIRKLICH wunderbar geklappt. [...] Und da war ich plötzlich so, als wenn ich GAST war da. Das war herrlich. Wenn die sagten, »Raustreten«, bin ich rausgegangen, hingestellt, »Sie gehen!«, »Ja—.« Bin ich dahin gegangen, hab’ das gemacht, wenn ich fertig war, bin ich wieder zurückgegangen. Das gemacht. Als wär’ ich so in Trance, als wenn ich gar ni’ anwesend wär’. Und das hat viel Nerven gespart, das war so die ganze Sache ... Und das ham die MEISTEN dort gemacht [...].“353

Diese spezifische Bewältigung der Realitäten in der Haftsituation beinhalteten aber zugleich eine zweite Komponente: Nach außen scheinbar angepasstes Verhalten musste also nicht zugleich Rückschlüsse auf die politische Gesinnung und die psychischen Befindlichkeiten der Untersuchungshäftlinge zulassen. Dieses weitere unberechenbare Moment für das MfS erschwerte die Erstellung einer geeigneten Verhörstrategie und stellte insofern ein effektives Mittel dar, sich individuell zugeschnittenen Methoden in den Vernehmungen zumindest zeitweise zu entziehen. Die dargestellten Formen widerständigen Verhaltens sollen aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der gegebene Handlungsspielraum sowohl in den Vernehmungen als auch im gesamten Untersuchungshaftalltag für alle beteiligten Personen nur sehr gering blieb. Deshalb sind diese Erscheinungen nonkonformen Handelns auch grundsätzlich anders zu werten als jene im ‚normalen’ Alltagszusammenhang der DDR-Wirklichkeit. Primär zeugen die hier vorgestellten Strategien der Selbstbehauptung von verzweifelten Versuchen, die psychischen Belastungen, die aus der plötzlichen Konfrontation mit der Haftsituation resultierten, auszuhalten. Angedrohte Verschärfungen der Haftbedingungen, die sogar soweit führten, dass die Inhaftierten Ängste vor physischer Folter empfanden354, die Erpressbarkeit und die Ungewissheit, was das Schick353 V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 58 f. 354 Folgendes Beispiel verweist gleichzeitig auf die zwielichtige Position der Mediziner in den Untersuchungshaftanstalten des MfS: „Ich konnte nichts essen und (hatte) Magenkrämpfe, na ja, so psychosomatische Sachen. Und äh da kam ich zu dem Arzt und hinter mir stand der Sanitäter und der Arzt, die guckten sich laufend so komisch an, dass ich schon Angst kriegte, und dann fragte der mich, ob ich mich schuldig fühlte. (2) Und da, gestutzt und hab’ den angeguckt, »Er hat doch ’n weißen Kittel, hat doch auch ’n Stethoskop, das muss doch ’n Arzt sein. Warum fragt der mich, dass ich mich schuldig fühle?« Also das war so ’ne Frage, wo ich Angst kriegte, jetzt werd’ ich gefoltert, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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sal der Familienangehörigen anbetraf und die fortwährenden Demütigungen und Erniedrigungen des U-Haftalltags durch die permanente Überwachung der Verwahrräume355, die oft unzureichende Ernährung wie auch die medizinischen und hygienischen Unzulänglichkeiten, schränkten die Möglichkeiten, Einfluss auf die Wirkungsmechanismen der physischen und psychischen Repressionen des MfS zu nehmen, entsprechend ein. Deshalb ist auch für die geschilderten Einzelfälle – trotz der aufgeführten Beispiele, die eine Verweigerungshaltung bzw. Resistenz deutlich werden ließen – innerhalb der Haftsituation beim MfS von einer Ohnmachtsituation, provoziert von Ungewissheit, Isolation, Desorientierung und allseitiger Überwachung und Kontrolle, zu sprechen.

6.1.5 Einflussnahme des MfS auf den politischen Strafprozess, Strafvollzug und Entlassung Nach einer ausführlichen Schilderung der Erfahrungen im staatssicherheitsdienstlichen Untersuchungshaftvollzug richtet die Untersuchung nun zunächst das Augenmerk auf den politischen Strafprozess und fragt, inwieweit das MfS Einfluss auf den Verlauf des Strafprozesses bzw. die Urteilsfindung des Gerichts nehmen konnte. In diesem Kontext muss eingangs der Begriff des „politischen Strafrechts“, das für die DDR im Sinne eines als Herrschaftsrecht dienendes Werkzeug zur Bewahrung politischer Macht zu fassen ist, definiert werden. Seine mehrfache Dimension im Hinblick auf die DDR-Justiz veranschaulichen die Ausführungen Arnolds: „Zum einen eliminieren die Herrschenden mittels wenn ich mich nich’ schuldig fühle oder so. Und— äh da hab’ ich gefragt, »Wie meinen=wie MEINEN Sie denn das?« Und das war irgendwie, das passte ihnen schon nich’, das war also schon nich’ demütig genug, wahrscheinlich, ne. [...] und dann wurde der Arzt dann immer zynischer, »So, Sie HABEN— was. Es fehlt Ihnen was. Ja. Mmh. Tja—. Ham Sie vielleicht HÄMORRIDEN VOM VIELEN SITZEN ?«, »Nein—«, »Tja, tja, also was können wir denn da mit Ihnen machen?« Und da war bei mir aber schon, da konnte ich schon gar nich’ mehr sagen, was ich hatte. Ich sagte (1 Wort), »Also mir fehlt nix.« Dachte, »Also das ist ja gar kein Arzt. Das is’ ja ... Wo bin ich den hierhin geraten?«“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 45 f. 355 Einerseits zeigte sich diese in der ständigen Kontrolle der Verwahrräume, die durch einen in der Tür eingelassenen Spion erfolgte und dem Schließpersonal auch in den Nachtstunden zur Überwachung aller Vorkommnisse in den Zellen diente. Damit wurde gezielt jegliche Form von Intimität durchbrochen, ebenso was die Verrichtung der Notdurft und der täglichen Toilette betraf. Andererseits wirkte in diese Überwachung der Umstand des allseitigen Misstrauens. Alle Betroffenen berichten von der Tatsache, dass das MfS so genannte Zelleninformatoren (ZI) einsetzte, die relevante Informationen für den Fortgang der Verhöre innerhalb eines scheinbar aufgebauten Vertrauensverhältnisses gewinnen sollten. Dies hatte für den Untersuchungshäftling eine zusätzlich negative Wirkung: Der latente Verdacht, dass jeder Mithäftling ein möglicher ZI sein könnte, verhinderte zunächst auch Solidarität und die offene Kommunikation. Die überstanden geglaubte Isolationshaft konnte so sinnbildlich auch ihre Fortführung in einer Gemeinschaftszelle finden. Die geäußerten Vermutungen über die Existenz solcher ZIs bestätigt die „Richtlinie Nr. 2/81 zur Arbeit mit Zelleninformatoren (ZI)“ vom 16. 2.1981. Auszugsweise dokumentiert in: Im Namen des Volkes?, S. 107–120. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Strafrecht (sowohl durch Rechtssetzung als auch Rechtspraxis) von ihnen selbst gegenüber den Gesellschaftsmitgliedern eingeräumte, zumeist verfassungsmäßige Freiheiten und damit zunächst zugebilligte politische Interessen, die mit den machtpolitischen Herrschaftsinteressen nicht übereinstimmen. Zum anderen aber werden mittels Strafrecht solche Interessen ausgeräumt, deren politisches Gewicht allein darin besteht, dass sie von einer Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern vertreten werden, ohne allerdings von den Herrschenden verbrieft worden zu sein.“356 6.1.5.1 Ende der Ungewissheit – Strafprozess357 Nach mehrmonatiger Untersuchungshaft, die für die Beschuldigten äußerlich von wochenlanger Isolationshaft und tagelangen Verhören bestimmt war, legte das Untersuchungsorgan des MfS seine Beweislage der Staatsanwaltschaft vor, die ihrerseits nun das Strafverfahren mit Beantragung der Hauptverhandlung zum Abschluss bringen musste. Auch wenn fast alle der hier beteiligten Personen wussten, dass der Prozess von Anfang an als das retardierende Moment eines rechtsförmigen Trauerspiels zu betrachten war und das zu erwartende Urteil bereits im Vorfeld nahezu feststand, bedeutete ein fixer Prozesstermin zugleich das Ende der Untersuchungshaft und die baldige Gewissheit über das zu verbüßende Strafmaß. Einschüchterung vor dem Prozess: Nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens durch die MfS-Untersuchungsorgane, wenige Tage vor der gerichtlichen Hauptverhandlung gestattete man den meisten Untersuchungshäftlingen Einblick in die grundlegenden Gesetzestexte, teilweise auch in die gegen sie vorliegende Anklageschrift.358 Dabei durften Notizen für die Verhandlung gemacht werden, die aber nach der Einsichtnahme sofort wieder beschlagnahmt wurden. Das rechtliche Informationsdefizit war für die Untersuchungshäftlinge bereits während des Ermittlungsverfahrens von Nachteil gewesen, denn die allgemeine Unkenntnis über das geltende DDR-Recht, der verwehrte Zugang zum Strafgesetzbuch oder zur Strafprozessordnung wurde gezielt als Druckmittel bei entsprechendem Fehlverhalten in den Vernehmungen eingesetzt. Dies haben die Aussagen der ZeitzeugInnen in den dargelegten Situationen verbaler Devianz 356 Arnold, Strafgesetzgebung, S. 64 f. 357 Auf die Paragraphen für die im politischen Strafprozess nach DDR-Recht fokussierten Vergehen bzw. Verbrechen des „Versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts“, zumeist im schweren Fall, in Tateinheit mit „staatsfeindlichem Menschenhandel und staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme“ ist bereits im Kontext der Entscheidungsprozesse der ZeitzeugInnen für ein Verlassen der DDR in Kap. 6.1.3.1 ausführlich eingegangen worden. 358 Die Aushändigung bzw. Kenntnisnahme der Gesetzestexte und der Anklageschrift durch die Untersuchungsorgane des MfS erfolgte nach reiner Willkür; hier ist kein durchgängiges Muster zu erkennen. Grundsätzlich muss diese Weigerung als Verstoß gegen § 203 StPO angesehen werden (vgl. Strafprozessrecht der DDR, S. 249 f.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ansatzweise dort belegt, wo maßgeblich mit der Einleitung weiterer Straftatbestände wie „staatsfeindlicher Hetze“ oder „öffentlicher Herabwürdigung“ ein höheres Strafmaß angedroht wurde.359 Grundsätzlich war es den angeklagten Personen durch dieses Vorgehen nicht möglich, sich konkret auf den Prozess vorzubereiten. Da aber fast allen Angeklagten im Vorfeld bereits bewusst war, dass keine Chance bestand, das Verfahren durch eigene Verteidigung positiv zu beeinflussen, hätte das Zugeständnis und die Inanspruchnahme dieses justiziellen Grundrechts keine Relevanz beinhaltet.360 Falls aber – wie in einigen Fällen bezeugt – das MfS dennoch zugestand, sich mit geltendem Strafrecht und Anklageschrift auseinander zu setzten, konnte das Studium der relevanten Straftatbestände für den bevorstehenden Prozess zugleich äußerst einschüchternd und ängstigend. Frau Schuster: „Und äh in der Woche vorm Prozess kriegst du die, darfste jeden Abend, nach ’m Abendbrot, ’s Gesetzbuch haben und die Strafgesetzordnung, ne. Zwee so ’ne, zwee Schwarten sind das. Und was da drinne steht, es is’=es nützt dir sowieso nischt, ABER ...“ Herr Schuster: „Ich hab’ die Paragraphen alle rausgesucht, wo TODESurteil draufsteht. Aber in Massen stand da ’s Todesurteil drauf.“ Frau Schuster: „16 Paragraphen waren das.“ Herr Schuster: „16 Paragraphen, ja, wo noch ’s Todesurteil ...“ Frau Schuster: „Du kommst jeden Abend in ene andere Zelle, du darfst das nicht in deinem Raum machen [...]. Hattste ’n Stift gekriegt? Ja. Stift hat man gekriegt und Papier hat man gekriegt, musst’ de aber alles wieder hinterher abgeben.“361

Diese Aussagen bezeugen auch, dass den Untersuchungshäftlingen nicht immer die Höhe des möglichen Strafmaßes für ihr Vergehen bekannt oder zumindest in einem abgesteckten Rahmen klar war. Die Tatsache, dass sie sich selbst mit Höchststrafen bzw. der Todesstrafe auseinander setzten, beweist zum einen, wie unbekannt den meisten Betroffenen die Strafpraxis der DDR-Justiz war und zum anderen, wie willkürlich ihr Agieren eingeschätzt wurde. Wenn der Angeklagte weder die Anklageschrift kannte noch sein vermeintliches Strafmaß in Andeutungen des Vernehmers erkennbar wurden, waren diese Ängste durchaus nachvollziehbar und begründet. Zumal weitere Aussagen, die das Verhalten der Staatsanwaltschaft im Prozess schildern, belegen, dass nicht alle Betroffenen auf die Gewissheit bauen konnten, mit einer Freiheitsstrafe von zwei bis zu vier Jahren ‚davonzukommen‘. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte sich der Strafprozess für einige Personen zum traumatischen Erlebnis; vor allem wenn man zusätzlich die missliebige Rolle der Rechtsanwälte einschließt, „die 359 Vgl. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 44; V-Transkript Nr. 18/1 Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 17. 360 Auf diese Missstände gegen justizielle Grundrechte der politisch Angeklagten hat Fricke bereits 1986 hingewiesen. Vgl. Fricke, Menschen- und Grundrechtssituation, S. 49 f. 361 V-Transkript Nr. 18/1+2, Herr und Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 46 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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überwiegend nur dem SED-Regime nahestehende Anwälte“362 waren und eine geringe Einflussnahme auf die politischen Verfahren ausüben konnten oder wollten. Termine mit dem Rechtsanwalt wurden zumeist nicht oder nur sporadisch gestattet. In den hier auftretenden Fällen wird davon berichtet, dass man den Anwalt wenn überhaupt, dann höchstens eine Woche vor der Verhandlung sprechen konnte, dabei jedoch durch diesen „obligatorisch runtergeleiert“ wurde: „Sie sind ein politischer Prozess. Wir können leider nichts für Sie tun.“363 Frau Wetzel erzählt sogar, dass sie nur wenige Minuten vor der Verhandlung ihren Anwalt das erste Mal zu Gesicht bekam: „[...] und in dem Moment seh’ ich ’s erste Mal meinen Rechtsanwalt. Direkt vor der Verhandlung, vorher nie gesehen. Und da hat der sich vorgestellt, »Ja, ich bin Ihr Rechtsanwalt« und äh, er hätte schon meine Akten gelesen und wir ham eigentlich kaum dann über irgendwas gesprochen. Und ich hatte eigentlich den Rechtsanwalt nur genommen, damit meine Eltern bissel informiert sind, weil ich wusste, dass der sowieso nichts in der Verhandlung machen kann.“364 Dieses Informationsdefizit auf Seiten der Beschuldigten konnte aber auch während der Hauptverhandlung, etwa während eines Vorgesprächs, nicht ausgeglichen werden. Trat sogar einmal der Umstand einer kurzen Verhandlungspause ein und durfte diese zu einem Gesprächskontakt zwischen Angeklagtem und Anwalt genutzt werden, so fand dieser aber ausschließlich unter Beisitz eines MfS-Mitarbeiters der Abteilung XIV statt. „Es war jedenfalls SO eine FARCE.“ – Hauptverhandlung: „Unter den gegebenen Voraussetzungen verkam die Hauptverhandlung vor Gericht in politischen Strafsachen zum justizförmigen Ritual. Die Richter hatten zu formalisieren, was inhaltlich die Staatssicherheit im Zusammenwirken mit der Politbürokratie der SED längst entschieden hatte.“365 Allein der Beginn der Hauptverhandlung wurde zur Demonstration staatssicherheitsdienstlicher Überlegenheit und „Allmacht“ missbraucht und war deswegen von stark kriminalisierendem Charakter für die politisch Angeklagten gekennzeichnet. Parallel zu den geschilderten Zuführungs- und Verhörmethoden versuchte man hier vor allem in der Manifestation zahlenmäßig hoher Präsenz der beisitzenden MfS-Mitarbeiter und deren Auftreten in Uniform, Einschüchterung zu provozieren: „Wir kamen da an, mit Armee äh Staatssicherheit ging ja in Armeeuniform, mit den Armeeleuten, der [ihr Ehemann] wie gesagt in ’ner Acht und standen nun da. Und— ich hat-

362 Ammer, Methoden des MfS, S. 85. Zur „Kernfrage anwaltlicher Berufsethik“ der Rechtsanwaltschaft in der DDR vgl. Kraut, Rechtsbeugung?, S. 52 f. 363 V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 47; beide Zitate. 364 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 5 f.; ähnliche Erfahrungen auch beim Ehepaar Schuster: „Dann ham wir ’n [den Anwalt] erst zum Prozess wiedergesehen und da hat er keinen Ton gesagt.“ V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 48. 365 Fricke, Kein Recht gebrochen?, S. 31. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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te zwee Damen mit, die auf mich offpassten, [...], also fünf Personen waren da, um uns zwee da (1) zu bewachen und an der Flucht zu hindern. ((lacht))“366 Das Vorführen in Handschellen war ein beliebtes Mittel der Abschreckung und Einschüchterung. Nach oftmals mehrmonatiger Trennung in der Untersuchungshaft sahen sich die Ehepartner hier im Gerichtssaal zum ersten Mal wieder. Umso stärker wirkte das Entsetzen über die äußeren Umstände des Wiedersehens. Diese Einschüchterungseffekte konnten aber wie im folgenden Beispiel deutlich wird, nicht immer die beabsichtigte Wirkung erzielen: „Mein Mann kam mit Handschellen. »Gottes willen«, sag’ ich, »du hast doch Handschellen dran.« »Ja, ja«, sagt’ er, »ich hab’ ja ooch von denen en Anzug an, die ham Angst um ihren Anzug.« Dass er mit dem abhauen könnt’, na ja ...“367 Auf eine Außenwirkung setzte man mit dieser Methode nicht, sie war allein auf die Befindlichkeit der Angeklagten ausgerichtet, schließlich wurden die hier vorliegenden Fälle stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß Paragraph 211 StPO abgeurteilt. Dessen bediente man sich fast durchgängig in allen politischen Strafprozessen, um – dem offiziellen Wortlaut gemäß – die „Sicherheit des Staates“ nicht zu gefährden bzw. die „Geheimhaltung bestimmter Tatsachen“368 zu garantieren; vereinzelt durften Elternteile dennoch an den Verhandlungen teilnehmen369, denn schließlich war das Recht auf Öffentlichkeit bei der Schuldspruchverkündung wiederum offiziell nicht zu unterbinden. Mit diesen gesetzlichen Verbindlichkeiten aber machte man die Angeklagten nicht vertraut, stattdessen argumentierte das MfS bereits vor der Verhandlung mit fadenscheinigen Gründen, die aber von den Angeklagten häufig durchschaut wurden: „[...] und na ja also die Gerichtsverhandlung war natürlich ’ne Farce und die war ja unter Ausschluss der Öffentlichkeit und da hat der Vernehmer zu mir gesagt äh, »Dass Sie keine Angst zu haben brauchen, dass die Öffentlichkeit dabei is’.« Also es wird wohl eher umgekehrt gewesen sein.“370 Als auffällig zeigt sich in den vorliegenden Einzelfällen, wie auch in der Studie von Raschka, einerseits ein äußerst teilnahmslos auftretendes Gericht, andererseits eine übereifrig agierende Staatsanwaltschaft. Diese war bis dahin, formal nach §§ 87 und 89 StPO, lediglich als Richtschnur und Regulativ für ein korrektes Ermittlungsverfahren aufgetreten, sollte aber auf den Verlauf des Ermittlungsverfahrens keinen Einfluss ausüben. Nachdem sie die Ergebnisse in den abschließenden Ermittlungsberichten der Abteilung IX des MfS zur Kenntnis genommen hatte, spielte sie nach Maßgabe des so genannten Prozessvorschlags des MfS-Untersuchungsführers ihre vorgeschriebene Exekutivrolle im 366 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 49. 367 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 21 f. 368 Vgl. § 211 Abs. 3 StPO. In: Strafprozessrecht der DDR, S. 257–258. Dass dies Usus war, bestätigen die Ergebnisse der Studie Raschkas, nach der lediglich 6,6 % aller politischen Verfahren öffentlich stattfanden. Raschka, Überwachung und Repression, S. 85. 369 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 17. 370 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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jeweiligen Verhandlungsverlauf. „Ein solcher Prozessvorschlag war zwar formal als internes Kontrollelement der Staatssicherheit angelegt; da der zuständige Offizier das Verfahren aber bis zur Urteilsverkündung zu beobachten hatte, dürfte allein diese Kontrolle eine erhebliche Wirkung auf Richter und Staatsanwälte gehabt haben.“371 Ihre Rolle gegenüber den Weisungsbefugnissen des MfS erfüllten alle Vertreter der Staatsanwaltschaft in den geschilderten Fällen jedoch mit hohem politischen Übereifer, ideologischem Missionisierungszwang und äußerst elitärer Arroganz. Das ist insofern bemerkenswert, da sie allein unter Bestätigung des MfS in politischen Prozessen agieren durfte und demzufolge auch dessen starker Lenkung ausgesetzt war.372 Um die Funktion der DDRStaatsanwaltschaft in politischen Prozessen besser einordnen zu können, muss festgestellt werden, dass sie sich zwar stets „im unmittelbaren Schlepptau des MfS befunden hat“ und „der Sicherheitsdoktrin der SED“ verhaftet war, dennoch als „Erfüllungshilfe“373 zur Steuerung der politischen Strafjustiz große Bedeutung erlangt hat. In diesem Kontext soll ihr konkretes Verhalten während der hier geschilderten Verhandlungen betrachtet werden. In den Äußerungen der InterviewpartnerInnen, die den eigentlichen Prozess näher beschreiben, lassen sich drei wechselseitig bedingende Ausformungen repressiven Agierens seitens der Staatsanwaltschaft erkennen: Erniedrigung durch haltlose Beschimpfung, Einschüchterung durch Androhung von Höchststrafen und Entmündigung durch Entzug jeglicher Selbstbestimmung. Die Handlungen seitens der Staatsanwaltschaft sind insbesondere in den Beschreibungen des Ehepaars Schuster sehr plastisch geworden. Alle genannten Elemente lassen sich in diesen Schilderungen finden. Das erste Zitat belegt die zu erzielende Verunsicherung beim Angeklagten Schuster, der trotz seines vermeintlichen Wissens um eine mögliche Höchststrafe während des Plädoyers der Staatsanwaltschaft in große Zweifel gerät und dabei nicht umhin kommt, ein lebensbedrohliches Strafmaß in Erwägung zu ziehen, das – realistisch betrachtet – völlig über den möglichen Strafrahmen der Straftat hinausgereicht hätte. Die gezielte Desinformationspolitik nicht nur über das geltende Strafrecht konnte nicht nur vom MfS in der Untersuchungshaft, sondern auch letztlich von der Staatsanwaltschaft und dem vorsitzenden Gericht effektvoll als einschüchternde Drohgebärde benutzt werden. „Da fing der Staatsanwalt an zu geifern, dem lief immer der Sabber hier runter vor Aufregung [...]. Und dann, also wenn der sich so in Rage geredet hatte, wenn der so richtig drinne war, da ham wir gedacht, wir kriegen die Todesstrafe. Also was wir alles waren bei dem, VERBRECHER und=und VERBRECHER AM VOLK UND VERBRECHER DEM STAAT GEGENÜBER und VERRAT AN=AN DER GANZEN KOMMUNISTISCHEN und=und och—, hat der gegeifert. Ich dachte, »Mein lieber Mann, wenn ich nicht genau wüsste, dass wir 371 Raschka, Überwachung und Repression, S. 83. 372 Vgl. Reuter, Prozess der Erneuerung, hier S. 323. 373 Selbst der ehemalige Stellvertreter der Generalstaatsanwalt der DDR Lothar Reuter musste dies – zwar mit stark rechtfertigender Tendenz – bereits 1990 einräumen. Vgl. ebd., S. 322–334, Zitate S. 323. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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alle so bis zu fünf Jahren ...«, ham se uns emal gesagt, könntste kriegen, höher nich’, da hab’ ich gedacht, »Jetzt gibt ’s de Todesstrafe.«“374

Gleichermaßen nimmt seine Ehefrau das Szenario im Gerichtssaal wahr, ihre Befürchtungen laufen in eine ähnliche Denkrichtung, was die Höhe der Haftstrafen anbelangt. Beim Strafantrag des Staatsanwalts muss sie sich zunächst als „ideologischer Embryo“ entmündigen und entwürdigen lassen: „Und der hat dort GETOBT. Und dann hab’ ich gedacht, »Wenn der jetzt sagt, fuffzehn Jahre, da is’ das gerade passend.« Und dann sagt der, stellt der seinen Strafantrag und sagt also, mein Mann eins, sechs, ein Jahr und sechs Monate und ich, ideologischer Embryo, das alles hätte nun also ... Ja, ideologischer Embryo hat der wirklich zu mir gesagt ((Lachen)) und äh, »Der Embryo kriegt ’n Jahr und acht Monate.« Da hab’ ich gedacht, ich hab’ mich VERHÖRT. Ich hatte schon mit achtzehn Jahren so ungefähr gerechnet. Und da hab’ ich gedacht, »Für diesen Klecker macht der so einen Haufen Auftritt.«“375 Mit derartigen Auftritten gaben sich die Vertreter des staatlichen Rechts der Lächerlichkeit preis, denn das geforderte Strafmaß stand in keiner Relation zu den verbalen Entgleisungen und Beschimpfungen des Staatsanwalts. Wie so oft bei Frau Schuster weckt auch dieses Verhalten Assoziationen an den Nationalsozialismus: „Und dann hat der gespuckt. Also, Freisler war ... Freisler-Verschnitt war das.“376 Eine Genugtuung verschaffte den Angeklagten bisweilen zumindest die Diskrepanz des von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafmaßes und der Schwere des zur Schuld gelegten Verbrechens. Dies aber veranlasste keinen der hier Befragten dazu, im Verlauf der Schlussvorträge das Recht der eigenen Verteidigung oder das „Letzte Wort“ einzufordern. Formen verbaler Devianz, wie sie in den Verhörsituationen belegt werden konnten, sind für das Verhalten während der Verhandlungen nur bei Frau Wetzel ansatzweise erkennbar.377 Der Prozess fungierte also damit als moralische Anstalt des DDR-Sozialismus, als letzter verzweifelter Akt gegen die Gegner der DDR, deren Entlassung in die BRD meist vorzeitig feststand und deren Strafmaß deshalb nur von zweitrangiger Bedeutung war. Trotzdem hatte es für die unmittelbar bevorstehende Strafverbüßung eine akute Brisanz, drohte doch den Verurteilten mit einer Frei374

V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 48. Ein gleichermaßen cholerisches Auftreten ihres Staatsanwaltes schildert Frau Wetzel, V-Transkript Nr. 15, 23.10. 2000, S. 6. 375 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 18. 376 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 48. 377 „Also, es ging ja eigentlich da drum, also mein schlimmstes Verbrechen war ja, dass ich in der Verhandlung gesagt hab’, dass ich nichts bereue und dass ich das wiederholen werde ((lachend)), wenn ich rauskomm’. Das war natürlich ’n großer Fehler, aber ...“ V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 6. Mit der letzten Bemerkung deutet sie ihre Vermutung an, dass sie aufgrund dieses Verhaltens als einzige der hier beteiligten ZeitzeugInnen die gesamte Strafe verbüßen musste und in die DDR entlassen wurde. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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heitsstrafe von mehr als zwei Jahren zu dieser Zeit noch der „schwere“ Strafvollzug. „... zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von 3 – drei – Jahren verurteilt.“ – Urteil378 : Die Verhandlungstermine waren zeitlich auf einen, höchstens auf zwei Tage angelegt. Inklusive Beweisführung, Vernehmung der Angeklagten und Zeugenschaft, Schlussvorträgen und Urteilsverkündung schloss die Hauptverhandlung zumeist nach wenigen Stunden. In den untersuchten Fällen bestätigt sich auch hier jene Tendenz bezüglich der Höhe der jeweils verhängten Urteile, welche für die allgemeine Kriminalstatistik der Generalstaatsanwalt zwischen 1971–1988 ermittelt wurde.379 Die Fälle von Frau Wetzel und dem Ehepaar Schuster lauteten gemäß § 213 (Ungesetzlicher Grenzübertritt) Abs. 4 bzw. zusätzlich 3 (5), das heißt „Vorbereitung und Versuch“ bzw. zusätzlich in „Gruppe“, auf Freiheitsstrafen unter zwei Jahren. Bei allen anderen Personen des Typus kam der erschwerende Verdacht bzw. die Beweislage gemäß § 100 (Staatsfeindliche Verbindungen) oder § 105 (Staatsfeindlicher Menschenhandel) hinzu, die in allen Fällen eine Strafhöhe von mindestens zwei bis hin zu vier Jahren Freiheitsentzug bedeutete: „Und äh und mit Fluchthelfern war ja gleich zwei Jahre aufwärts und äh ja. Und ich war von der Staatsanwältin mit drei Jahren Haft vorgeschlagen, mein Mann mit vier Jahren. Und die Richterin hat dann aus meinen drei Jahren noch ’n halbes Jahr dazugemacht, weil sie meinten, dass ICH diejenige war, die meinen Mann dazu gebracht hatte. Ich also die Aktivere gewesen wär’ und ich der eigentliche Staatsfeind, weil ich ja schon im Westen zur Schule gegangen bin und weil ich sowieso eben in der U-Haft die Aggressivere war.“380 Das zehnseitige Urteil des Ehepaar Rose bestätigt in seiner Begründung die Aussage im vorausgehenden Zitat und verweist, teilweise wortwörtlich, auf die Quelle der Urteilsfindung. Denn in seiner Argumentation bezieht sie sich stark auf die vom MfS vorgelegten Ermittlungsunterlagen, in denen Frau Rose bereits in den „Einschätzungen“ als „Gegnerin der DDR“ und „im Vergleich zu ihrem Mann“ durch nicht wahrheitsgetreue Aussagen negativ auffiel. Damit gab sie sich nach Meinung des Gerichts letztlich als geistige Rädelsführerin der Straftat zu erkennen. Die vorsitzende Oberrichterin G. folgte auch weiterhin der Beweisführung der vorliegenden Vernehmungsprotokolle der MfS-Untersuchungs-

378 Urteil Herr und Frau Seestern, Abschrift des Urteils vom 10. 3.1980, Bl. 3; Kopie bei der Verfasserin. Auf die Rolle und Berufsethik der DDR-Richter in politischen Strafprozessen kann an dieser Stelle nicht vertieft eingegangen werden, auszugehen ist aber grundsätzlich davon, dass „nicht nur die mit dem politischen Strafrecht befassten Richter eine Erziehung ihrer Mitbürger im Geiste des Sozialismus-Kommunismus mittels Zwang und Gewalt für legitim [hielten], sondern vielmehr wurde diese von der Mehrheit aller Richter für zwingend gehalten.“ Vgl. Kraut, Rechtsbeugung?, v. a. S. 25–48, Zitat 35. 379 Vgl. Kriminalstatistik des GStA, zitiert in Raschka, Überwachung und Repression, S. 89. 380 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 42. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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organe381, indem sie schließlich resümiert, „dass die Angeklagte [Rose] durch ihre Einflussnahme wesentlich die Entschließung des Angeklagten [Rose] förderte.“ Sie setzt, entgegen dem Strafantrag der Staatsanwältin S., für Frau Rose eine höhere Freiheitsstrafe fest und bezieht sich in ihrer Begründung auf die Straftat des Ehemanns, denn schließlich zeigte sich „[i]hr Verschulden und ihr Tatbeitrag [...] jedoch nicht um soviel geringer, wie das dem Antrage des Vertreters des Staatsanwalts des Bezirkes zu Grunde lag. Der Senat erkannte deshalb eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten“.382 Herrn Rose, dem neben „ungesetzlichem Grenzübertritt im schweren Fall“ und „staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme“ zusätzlich Paragraph 105, also „staatsfeindlicher Menschenhandel“ zur Last gelegt wurde, verurteilte man zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren.383 Die ‚günstige‘ Beweislage im Fall Rose, die belegte, dass tatsächlich „ein Zusammenwirken mit staatsfeindlichen Menschenhändlern“ bestanden hatte, „Auskünfte eingeholt und an den Kurier der Menschenhändlerorganisation weiterge[ge]ben“ wurden, war auch der Tatsache geschuldet, dass der Kurier R. der Fluchthilfeorganisation „Loeffler“ am gleichen Tag wie das Ehepaar Rose verhaftet und im November 1973 „wegen mehrfachen Verbrechens nach § 105 Ziff. 2 StGB“ zu 9 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde.384 Die Aussagen des Fluchthelfers wirkten sich erschwerend auf das Urteil der Roses aus385, denn hier konnte – so das Gericht – bewiesen wer381 Vgl. jeweils das Zitat aus dem Schlussbericht der Untersuchungsabteilung vom 26. 3. 1973 zum Beschuldigten Rose, MfS-Akte Herr und Frau Rose (BStU, ASt. Rostock, 1999/74 OPK, Bl. 272) und das folgende in der Urteilsbegründung: „Die ungefestigte Haltung des Angeklagten [Rose] zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR in Verbindung mit dem ständigen Einfluss seiner Ehefrau führten im Herbst 1971 zu der Erklärung gegenüber seiner Ehefrau [...] die DDR in die BRD zu verlassen.“ Urteil Herr und Frau Rose, Abschrift des Urteils vom 24. 7.1973, Bl. 4; Kopie bei der Verfasserin. 382 Urteil Herr und Frau Rose, Abschrift des Urteils vom 24. 7.1973, beide Zitate Bl. 9– 10. 383 Paragraph 105 erfüllte einen Straftatbestand, der selbst in den siebziger Jahren nur noch selten zur Anklage kam. Vgl. Raschka, Überwachung und Repression, S. 89. 384 „Außerdem war für weitere Instruktionen ein letzter Zwischentreff in der Hauptstadt der DDR – Berlin – für den 4. 3.1973 zu vereinbaren. Den erhaltenen Auftrag führte der Angeklagte R. nur teilweise aus, indem er sich mit zwei Personen traf und beim dritten Treff vom Pkw aus dem Ehepaar [Rose] gleichzeitig mitteilte, dass er sich beobachtet glaube. Die weiteren Treffs führte er nicht aus. Beim Versuch, die Hauptstadt der DDR zu verlassen, wurde der Angeklagte festgenommen.“ Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen staatsfeindlichen Menschenhandels. In: Neue Justiz, 23 (1973), S. 693. Diese Ausführungen gehen detailliert mit den Aussagen von Frau Rose konform, vgl. Kap. 6.1.3.1. 385 Vgl. Urteil Herr und Frau Rose, Abschrift des Urteils vom 24. 7.1973, Bl. 6. So auch beim Ehepaar Seestern, wo beide Kuriere der Fluchthilfeorganisation „Mierendorff“ beim, den Seesterns unbekannten, dritten Schleusungstermin festgenommen wurden und es aufgrund eines Fotos zur Verhaftung kam. In die Beweisaufnahme gegen das Ehepaar Seestern flossen die Aussagen der bereits verurteilten Schleuser erschwerend ein. So dass sie gem. § 100 Abs. 1 und zudem gem. § 22 Abs. 2 (2) der Mittäterschaft angeklagt werden konnten und zu 3,5 Jahren (Herr Seestern) bzw. 3 Jahren (Frau Seestern) verurteilt wurden. Vgl. Urteil Herr und Frau Seestern, Abschrift des Urteils vom 10. 3.1980, Bl. 12, 16 und 17. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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den, dass Herr Rose sich „zeitweilig in diese Organisation eingliedert[e] und die Organisation in ihrer gegen die DDR gerichteten Tätigkeit, nämlich bei der Ausschleusung weiterer DDR-Bürger unterstützt[e].“386 Aus den beiden vorliegenden Urteilen wird erkennbar, dass die Anwälte der Ehepaare Rose und Seestern lediglich gemäß § 111 StGB (Außergewöhnliche Strafmilderung) versuchten die zur Anklage stehenden „Verbrechen gegen die DDR“ (§§ 100, 105) zugunsten der Angeklagten zu beeinflussen. In diesen Fällen aber war laut Gericht „auf Grund des hohen Realisierungsgrades der Verbrechen der Angeklagten und der Schwere ihrer Schuld“ kein geringeres Strafmaß zu erzielen.387 Nach Urteilsverkündung jedoch sahen sich die beiden Anwälte genötigt, in Berufung zu gehen, obwohl dieses Unterfangen aussichtslos war und deswegen für die Betroffenen allein eine unnötige Verlängerung der Untersuchungshaft zur Folge hatte: „Unser Rechtsanwalt meinte, das=das hätte er noch nie erlebt, dass das Urteil von der Ehefrau und dazu von ’ner Mutter, und zumal ich eben nich’ beruflich tätig gewesen war, noch um ’n halbes Jahr hoch gesetzt wurde. Da müsste man noch mal in Berufung gehen. [...] dann die Berufungszeit, kamen wir dann wieder in Einzelhaft in der [Ortsname] UHaft, wo ich glaubte, es ging noch mal alles von vorne los.“388 Im Verwirklichungsersuchen des Bezirksgerichts gegen das Ehepaar Rose wird diese Annahme bestätigt, denn beide Urteile werden auch in Bezug auf die Höhe der Freiheitsstrafen nicht abgeändert und dahingehend „die Berufungen als unbegründet zurückgewiesen“.389 6.1.5.2 Einflussnahme des MfS auf den politischen Strafvollzug390 Nach „freiheitlich-demokratischer Auffassung“ spricht man vom Terminus „politischer Gefangener“ in der DDR, „wenn nach den in freiheitlichen Demokratien anerkannten Grundsätzen das Verhalten des Häftlings den Freiheitsentzug nicht gerechtfertigt hätte, mag er auch nach den in einem volksdemokratisch regiertem Gebiet verfolgten Grundsätzen veranlasst gewesen sein.“391 Im Gegensatz zur Zahl politisch Inhaftierter am Ende der Ära Ulbricht (Ende der sechziger Jahre: ca. 7 570 im Jahresmittel) verminderte sich die Gesamtzahl dieser im Laufe der Ära Honecker um etwa die Hälfe. Diese Tendenz belegt 386 Urteil Herr und Frau Rose, Abschrift des Urteils vom 24. 7.1973, Bl. 7. 387 Urteil Herr und Frau Seestern, Abschrift des Urteils vom 10. 3.1980, Bl. 19. 388 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 45. So auch Frau Seestern, die daraufhin erst nach einem Jahr U-Haft den Strafvollzug antrat. Vgl. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 16 f. 389 Verwirklichungsersuchen in der Strafsache gegen Herrn und Frau Rose vom 3. 9.1973, Bl. 1–2; Kopie bei der Verfasserin. 390 Vgl. allg. für die Ära Honecker: Wunschik, DDR-Strafvollzug, S. 467–493. 391 Die Definition des Begriffs folgt Fricke in Anlehnung an die bundesdeutsche Rechtssprechung. Leitsatz zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Mai 1961, zitiert in Fricke, Menschen- und Grundrechtssituation, S. 18. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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in erster Linie den massiven Einsatz verfeinerter MfS-Methoden im nichtstrafrechtlichen Bereich, denn unter besonders gezieltem Einsatz von „Zersetzungsmechanismen“ wurde ebenso dienlich gegen „politisch-negative Personen“ agiert, aber damit gleichzeitig die Zahl der politischen Häftlinge verringert. Der kurzzeitige Anstieg in den achtziger Jahren begründet sich vornehmlich aus den veränderten Bedingungen durch das 1979 erlassene 3. Strafrechtsergänzungsgesetz. Die darin enthaltende Verschärfung des politischen Strafrechts und dessen Brisanz für die Anfang der achtziger Jahre ansteigende Zahl Ausreisewilliger machte es zum strafrechtlich äußerst effektiven Instrument der Sicherheitsund Justizorgane.392 Während demnach die jährliche Zahl politisch Inhaftierter zwischen 1970 und 1974 bei ca. 5 826 Personen lag393, sank sie gegen Ende der siebziger Jahre auf ca. 4 200 und steigerte sich hier kurzzeitig vor allem aufgrund der Verfolgung der Ausreisewilligen auf ca. 4 448394, von 1985 bis 1988 lässt sich schließlich ein Rückgang auf ca. 3 862 politische Häftlinge (alle Zahlen im Jahresmittel) erkennen. Nach Schätzungen Raschkas lag ihr Anteil an der Gesamtzahl der Inhaftierten bei ca. 1/4 in den siebziger Jahren, zu Beginn der achtziger Jahre bei ca. 1/5, ab der Mitte dann bei ca. 1/6.395 In der Ära Honecker war die Zahl der männlichen politisch Inhaftierten in den Strafvollzugseinrichtungen Brandenburg, Cottbus und Bautzen I am höchsten. Die Mehrzahl der weiblichen Häftlinge brachte man in der Strafvollzugseinrichtung Hoheneck im Erzgebirge unter. Nach rechtskräftiger Verurteilung 392 V. a. hinsichtlich der §§ 97 und 98 (Bestimmungen über Landesverrat) und 219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme), wo nunmehr die Übermittelung (selbst der Versuch) von Nachrichten und Schriftstücken, die dem Ansehen der DDR schaden könnten, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden konnte. Vgl. auch die beiden nachfolgenden Fußnoten. 393 Was speziell den Straftatbestand der „Republikflucht“ anbelangt ist ein erheblicher Rückgang anhand zweier Zahlen (1971–2 991 und 1979–1781 Verurteilungen zu Freiheitsentzug wg. § 213) zu verzeichnen. Die Abnahme der „Republikflüchtigen“ korreliert dabei stark mit dem Anstieg der Ausreisewilligen seit Beginn der 80er Jahre. Vgl. Werkentin, Ausmaß politischer Strafjustiz, S. 66 f. (Tabellen 3 bzw. 4). 394 1983 hatte die DDR erstmals eine Verordnung „zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern“ veröffentlicht. Sogleich aber lieferte die MfS-Dienstanweisung Nr. 2/83 den Strafrechtskatalog, der die Antragsteller, welche sich auf die neue Verordnung beriefen, wirksam von ihrem Vorhaben abbringen sollte. Insbesondere in den Jahren 1983/84 kam es zu einem Anstieg der politisch Verurteilten aufgrund des hier veröffentlichen Strafrechtskatalogs. Vgl. MfS-Dienstanweisung (DA) Nr. 2/83 vom 13. Oktober 1983 „zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie für vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich negativer Handlungen“. Dokumentiert in: Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen, S. 87–205, insbes. Anlage 6, S. 191– 193; vgl. zur Effektivität der DA: Werkentin, Ausmaß politischer Strafjustiz, S. 49–74 und S. 70 (Schaubild 6). 395 Vgl. alle Angaben zu den Gesamtzahlen politischer Häftlinge bei Raschka, „Für kleine Delikte ...“, S. 25 (Tabelle 2). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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verbüßten auch alle hier beteiligten Zeitzeuginnen ihre Freiheitsstrafen in der Strafvollzugseinrichtung Hoheneck, Herr Schuster und Herr Seestern in Cottbus sowie Herr Rose in verschiedenen Einrichtungen, darunter ebenfalls Cottbus. Die Aufsicht des Strafvollzugs oblag formal dem Ministerium des Inneren396. Nichtsdestoweniger aber sicherte sich das MfS durch die Verpflichtung zur „politisch-operativen Sicherung“397 der Strafvollzugsanstalten erheblichen Einfluss und operative Kontrolle in allen Bereichen der „Verwaltung Strafvollzug“. Jede Strafvollzugseinrichtung verfügte über eine eigene „Operativgruppe“398. Diese stellte eine aus der so genannten Linie VII des MfS rekrutierte Gruppe von Verbindungsoffizieren dar. Allgemein war diese Linie für die geheimpolizeiliche Aufsicht des Innenministeriums zuständig. Wie die Dienstanweisung 2/75 deutlich macht, war deren vordringliche Aufgabe, ein Netz der operativen Abwehrarbeit zu schaffen, vor allem unter Einsatz geeigneter inoffizieller Mitarbeiter, das insbesondere gegen politische Strafgefangene aktiv wurde.399 So konnten missliebige Personen, die unter der Ermittlungstätigkeit des MfS verurteilt worden waren, kontinuierlich und selbst in der Strafhaft ganz gezielt überwacht und bespitzelt werden. Die Gruppe inoffizieller Mitarbeiter reichte von Beschäftigten des Strafvollzugs, über Angehörige der Arbeitseinsatzbetriebe, bis zu den (vor allem „kriminellen“) Strafgefangenen selbst, die „auf der Grundlage ihrer Bereitschaft zur Wiedergutmachung“400 zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit verpflichtet werden sollten. Für die hier beschriebenen Fälle war aber zunächst, was die allgemeinen Rahmenbedingungen des Strafvollzugs anging, das Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz von 1968 grundlegend. Dieses führte erstmals Kategorien für die Vollzugsart ein und unterschied einen so genannten strengen, allgemeinen bzw. leichten Vollzug. 1974 wurde dieses Modell um die Kategorie des „verschärften“ Vollzugs für Rückfalltäter präzisiert. Das Kriterium für eine Einweisung in den „strengen“ Vollzug war allein das Strafmaß, nämlich eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren.401 396 Die Zuständigkeit des MdI für den DDR-Strafvollzug war für die Sonderhaftanstalt des MfS Bautzen II und das bis 1974 bestehende „Lager X“ auf dem Gelände der MfSUntersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen ausgenommen; diese unterstanden direkt dem Ministerium für Staatssicherheit. Vgl. § 58 Abs. 1 StVG, Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7. April 1977. Dokumentiert in: Finn, Politischer Strafvollzug, S. 146. 397 Vgl. MfS-Dienstanweisung Nr. 2/75, Die politisch-operativen Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit im Strafvollzug der Deutschen Demokratischen Republik vom 13. März 1975. Dokumentiert in: Fricke/Klewin, Bautzen II, S. 232. 398 Operativgruppe (OG): Bezeichnung für eine Struktureinheit mit eng begrenzter Aufgabenstellung. 399 „Eine qualifizierte politisch-operative Abwehrarbeit“ betraf „insbesondere Strafgefangene, die wegen Staatsverbrechen verurteilt worden sind und zu denen von der Linie IX Auskunftsberichte übersandt wurden“. MfS-Dienstanweisung Nr. 2/75. Dokumentiert in: Fricke/Klewin, Bautzen II, S. 242. 400 Ebd., S. 243. 401 Vgl. Finn, Politischer Strafvollzug, S. 24. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Dieses traf für Frau Rose, Frau Krüger, Frau Löffler und Frau Schuster wie für deren Ehemänner zu. Alle genannten Personen verbüßten ihre Haftstrafen in der Zeit zwischen 1973 und 1976. Erst 1977 verabschiedete die Volkskammer ein neues Strafvollzugsgesetz und hob die differenzierte, pädagogisch als ineffektiv und wenig praktikabel eingeschätzte Kategorisierung der Vollzugsarten auf.402 Dies war die offizielle Begründung der Neuerung. Man gliederte nun in einen „allgemeinen“ und „erleichterten“ Vollzug (diese Regelung betraf Frau Wetzel und Frau Seestern). Die Überlegungen des Politbüros zu einem Neuentwurf des Strafvollzugsgesetz zeigen aber auf, dass es in gleichem Maße auch um das internationale Renommee der DDR ging. Ehemalige Strafhäftlinge hatten nach ihrer Entlassung ins „nichtsozialistische Ausland“ die Missstände in den Gefängnissen der DDR in eigenen Veröffentlichungen angeprangert und damit die Fassadenhaftigkeit der „aufgeklärten Diktatur“ bloßgestellt und diskreditiert.403 Auf derartig „gezielte gegnerische Angriffe auf den Strafvollzug durch Hetze und Verleumdung“ musste unverzüglich innen- wie außenpolitisch reagiert werden. Man registrierte und bemäntelte zugleich, dass „Strafentlassene, die nach der Entlassung aus dem Strafvollzug ihren Wohnsitz in der BRD bzw. Westberlin genommen haben“ von den westlichen Medien einerseits missbraucht wurden, aber andererseits innerhalb „unmittelbare Auswirkungen der verstärkten ideologischen Diversion [...] sich auch im Strafvollzug in zunehmenden Aktivitäten Strafgefangener mit feindlicher bzw. verfestigt negativer Grundeinstellung“ zeigten. Diese Erfahrung führte unter anderem dazu, ein neues Strafvollzugsgesetzes zu schaffen, das „Ordnung und Disziplin weiter zu festigen und gleichzeitig begünstigende Bedingungen, die Ansatzpunkte für derartige Handlungen bieten, konsequenter zu beseitigen“ hatte.404 In der Praxis bedeutete die Änderung von 1977 für die politischen Gefangenen jedoch nur wenig Erleichterung, denn grundsätzlich waren sie mit strengeren Haftbedingungen konfrontiert als die gemeinsam mit ihnen untergebrachten, „kriminellen“ StraftäterInnen.405 Zumindest aber formulierte das neue Gesetz die Abschaffung des „strengen“ Einzelarrests, von dessen inhumanen Methoden Frau Schuster, Frau Rose und Frau Krüger noch zu berichten wussten. Auch hinsichtlich Besuchs- und Freigangsregelungen, postalischen Kontakten und hygienischen Notständen waren – teilweise schon früher, bisweilen auch in Reaktion auf westliche Zeitungsberichte – geringe Verbesserungen durchgesetzt worden.406 402 Vgl. v. a. §§ 12 und 17 Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7. April 1977. Dokumentiert in: Finn, Politischer Strafvollzug, S. 133–149. 403 Vgl. bspw. den eindringlichen, zeitgenössischen Einblick von Lolland/Rödiger, Gesicht zur Wand! 404 Beschlüsse des Politbüros vom 15. 3.1977, inkl. Bericht über die Arbeit des Organs Strafvollzug (SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/218, Bl. 4). 405 Vgl. Wunschik, Strafvollzugspolitik, S. 277. 406 Bspw. wurde in der Frauenhaftanstalt Hoheneck ab 1976 das mittelalterliche „Kübelzeitalter“ beendet, ab nun gab es innerhalb der Gemeinschaftsverwahrräume (für 30– 40 Personen) zumindest eine abgeteilte Nasszelle, in der Notdurft und Toilette ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Zehn Jahre später untersuchte eine Arbeitsgruppe der Abteilungen Staatsund Rechtsfragen sowie Sicherheitsfragen des ZK der SED in der Strafvollzugseinrichtung Hoheneck, inwieweit das Gesetz von 1977 verwirklicht werden konnte. Der Bericht schildert lakonisch die ordnungsgemäße Realisierung eines – wie es scheint – wenig ambitionierten Projekts: „Das Strafvollzugsgesetz wird konsequent verwirklicht. Die Behandlung der Strafgefangenen erfolgt gerecht und unter Achtung der Menschenwürde. Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit sind nicht festgestellt worden. Die notwendige Ordnung und Disziplin wird durchgesetzt.“407 Exkurs – Politische Haft im Frauengefängnis Hoheneck408 : Wie Anspruch und Wirklichkeit in den Strafvollzugseinrichtungen der DDR auseinander klafften, belegen zahlreiche Berichte vormals politisch Inhaftierter.409 Auch wenn vor allem für die Ära Honecker Hafterleichterungen greifbar wurden, kann für die siebziger Jahre, insbesondere vor 1977 von unzumutbaren, diskriminierenden Haftbedingungen für politische Gefangene gesprochen werden. Entlang der Aussagen der beteiligten Zeitzeuginnen soll exemplarisch, speziell der Vollzug in der Strafvollzugseinrichtung Hoheneck betrachtet werden. Die Äußerungen der Männer im vornehmlich politischen Strafvollzug Cottbus werden hierbei stellenweise als Vergleichsmoment eingebunden. 1864 bereits erstmals als „Sächsisches Weiberzuchthaus“ aufgeführt, wurde das ehemalige Schloss Stollberg kontinuierlich, auch während der Zeit des Nationalsozialismus als Zuchthaus bzw. Strafanstalt genutzt. Per Entscheidung des Ministerrates und des Ministeriums des Innern fungierte es ab 1950 als Strafvollzugsanstalt der DDR, die nun unter der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei gestellt und von ihr zum einheitlichen Ausbau aller Voraussetzungen des Vollzugs in der DDR angewiesen war. Hoheneck war ab jetzt ausschließlich für die Unterbringung weiblicher Gefangener vorgesehen; die Belegung nur auf ca. 600 Frauen ausgerichtet. Aufgrund der Einweisung der vom Sowjetischen Militär-Tribunal und in den „Waldheimer Prozessen“ verurteilten richtet werden konnten. Vgl. Finn, Frauen von Hoheneck, S. 73, Anm. 5. Von Auswirkungen westlicher Medienberichte auf den Strafvollzug Hoheneck berichtet bereits für das Jahr 1975 Frau Schuster: „Und die dann in dem Mai weggegangen sind, am 5. Mai kamen die raus und die ham dann hier im=in irgend’ner Zeitung veröffentlicht, wie schlecht es ihnen dort gegangen ist, was tatsächlich stimmte. Daraufhin kriegten wir also mehr Unterwäsche und mehr Strümpfe, damit wir also dann menschlicher existieren konnten.“ V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 25. 407 Über die Verwirklichung des StVG vom 7. April 1977 in den Strafvollzugseinrichtungen Bautzen I und Hoheneck vom 20. 7.1987 (SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/ 218, Bl. 116–117). 408 Die kurze historische Einführung zur StVE Hoheneck orientiert sich v. a. an: Finn, Frauen von Hoheneck, S. 13–16 und den Materialien und Infotafeln der ständigen Ausstellung „Ich dachte, es gibt draußen keine andere Welt.“ Frauen als politische Gefangene in Hoheneck, Stadtbibliothek Stollberg/Erzgebirge, Projekt der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft. 409 Vgl. bspw. Bechler, Warten auf Antwort; o.g. Finn, Frauen von Hoheneck; Schacht, Hohenecker Protokolle; Thiemann, „Stell’ dich ...“. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Frauen entwickelte sich die Strafvollzugsanstalt ab 1950 gleichzeitig zu dem politischen Frauengefängnis der DDR. Eine zweite Hochphase der politischen Inhaftierungen zeigte sich schließlich zur Mitte der siebziger Jahre. Bereits 1970 ist eine Kapazitätsüberbelegung von 30–35 Prozent auszumachen, stetig sind nahezu 700 Frauen inhaftiert gewesen. Dies hing vor allem mit der Tatsache zusammen, dass Hoheneck nun auch verstärkt als Frauengefängnis fungierte, in dem besonders „Langstraflerinnen“, so genannte schwerkriminelle Frauen, inhaftiert wurden: „Die höchsten Strafen, die gegen weibliche Täter ausgesprochen werden, sind in der StVA Hoheneck zu vollziehen“.410 Die Amnestie vom Oktober 1972 schaffte kurzzeitig Abhilfe für den Belegungsnotstand und bewirkte eine Verringerung der Strafgefangenen um 126 Personen.411 Aber der kontinuierlich hohe Anstieg, der absolute Höchststand der 1957–1990 geführten Statistik von 1 612 Frauen im Mai 1974 (Vorjahreszahl / Monatsdurchschnitt: 333) verschlimmerte erneut die Zustände. Die Überbelegung versuchte man auszugleichen, indem selbst die jugendlichen Straftäterinnen zur Arbeit herangezogen wurden. Da man im Schichtwechsel arbeitete, außerhalb der StVE in Arbeitskommandos für die Betriebe „Esda“ und „Elmo“ und innerhalb in einer Näherei für „Planet“, konnte die permanente Präsenz der Häftlinge in den Verwahrräumen und der Einrichtung insofern behelfsweise verringert werden. Die hohen Belegzahlen der Jahre 1974/75 resultierten demnach insbesondere aus der 1974 veranlassten „Einrichtung einer ‚besonderen Abteilung‘ für alle ‚äußerst renitenten‘ weiblichen Strafgefangenen aus der DDR“412 und zugleich aus einer vermehrten Einlieferung der Straftatengruppe, die durch Ermittlungsverfahren des MfS wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ verurteilt worden war. In diesem Zeitraum, aufgrund dieses „Delikts“ verbüßte der Hauptteil der hier zu untersuchenden Einzelfälle seine Haft in Hoheneck. In den Schilderungen zum Haftalltag und seinen Rahmenbedingungen wird deshalb im Folgenden nur auf die Zeit der siebziger Jahre zurückzugreifen sein. Ebenso aber geht es um die Darstellung der inneren Zustände der Zeitzeuginnen. In der Verbindung dieser beiden Aspekte ergeben sich folgende Fragestellungen: Werden ungenügende und diskriminierende Haftbedingungen, vor allem auch seelische Misshandlungen bewusst disziplinierend und erzieherisch gegen die Zeitzeuginnen eingesetzt? Inwieweit ist hier immer noch ein Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit erkennbar? Wie wird die Aussetzung der biographischen Selbstbestimmung durch die politische Inhaftierung zur damaligen Zeit insgesamt bewältigt und eingeordnet? Welche Strategien der ‚Alltagsbewältigung‘ in der Extremsituation Haft sind nachvollziehbar? 410 411

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Bericht des Leiters von Hoheneck Major Scholz vom 8. 5.1971, zitiert in Material der Ausstellung „Ich dachte, es gibt draußen keine andere Welt.“; Belegungszahlen im Folg. ebd. Zur Notwendigkeit von Amnestien wegen der Überbelegung der StVE in der DDR, die aufgrund der „Überzogenheit ihres Strafsystems“ zustande gekommen waren und deswegen eine fragwürdige „Humanität mit Hintergründen“ offenbarten, vgl. Schroeder, Strafrecht, S. 154–159. Material der Ausstellung „Ich dachte, es gibt draußen keine andere Welt.“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Die Auswahl der Einzelbeschreibungen des Haftalltags in Hoheneck bezeugen die Formen der Disziplinierungs- und Repressionsmaßnahmen durch die gegebenen äußeren Rahmenbedingungen, im Arbeitseinsatz und den laut Strafvollzugsgesetz „erzieherischen“ Methoden. Hierbei ist nur ein Ausschnitt der Verhältnisse für den fokussierten Zeitraum zu zeigen, der auf den exemplarischen Darstellungen der Interviewpartnerinnen beruht. „Disziplinierungs- und Erziehungsmaßnahmen“: Zu Beginn der Einweisung in den Strafvollzug Hoheneck erfolgte – wie in anderen gleichartigen Einrichtungen ebenfalls – ein Aufnahmeverfahren, das eine isolierte Unterbringung für mehrere Tage erforderlich machte. Ärztliche Untersuchungen, das „Vertrautmachen mit den Verhaltensanforderungen und Pflichten und Rechten“ und „vor allem unter Berücksichtigung der Entwicklung vor der Haft differenzierte Festlegungen für die Umerziehung“ waren hier vorgesehen; deswegen erfolgte auch eine Aussprache mit den zuständigen MfS-Offizieren.413 In diesen Gesprächen ging es um die erneute Symbolisierung der unbestrittenen Machtverhältnisse des MfS, eben auch im Strafvollzug, um Verweise und einschüchternde Anschuldigungen auf das bisherige gesellschaftsschädigende Verhalten. Wohl weniger verfolgte man die Ausarbeitung eines ideologischen Umerziehungsauftrags als vielmehr die Schaffung möglichst demütigender Lebens- und Arbeitsumstände während der Haftzeit. In der verbleibenden Zeit – bis zu einer möglicherweise vorzeitigen Entlassung in die BRD – wollte man die politisch inhaftierten Frauen umso konsequenter einer strengen Disziplinierung und Ordnung unterwerfen. „Und dann wird man eines Tages rausgeholt und wird dann eingeteilt und hat dann so ’n Gespräch. Mit eben mit zwei Offizierinnen, die einen dann ausfragen, was man, wozu man sich geeignet fühlt mit der Arbeit, obwohl man ja schon sowieso eingeteilt ist. [...] Also das war sowieso kein Einteilen nach Wunsch. Aber man wurde wenigstens gefragt und da wollten die auch wissen, wie man so zu seiner Tat steht. [...] Dann waren die so überheblich, also das Überhebliche hat mich so derartig nervös gemacht. Fragten dann so, »Ja haben Sie denn schon mal an ’ner Nähmaschine genäht?«, »Ja, zu Hause so meinen häuslichen Kram hab’ ich schon selbst gemacht.« »So, so«, sagte se, »also NÄHEN können Sie also AUCH. Aber Ihre Arbeitskraft haben Sie nie dem Staat zur Verfügung gestellt?« »Nein«, ich sage, »das nich’.« »Also haben Sie nur von dem Geld Ihres Mannes gelebt?« »Ja«, ich sage, »natürlich mein Mann hat das Geld verdient und davon haben wir schon gelebt.«“414

Die prägenden Eindrücke dieses Einweisungsrituals bestätigten – nicht zuletzt auch was die verkommenen Räumlichkeiten anbelangte – alle Befürchtungen, in die „wohl unmodernste, humanen und hygienischen Minimalanforderungen im Strafvollzug am wenigsten entsprechende Anstalt der DDR“415 für mögli413 414 415

Über die Verwirklichung des StVG vom 7. 4.1977 in den Strafvollzugseinrichtungen Bautzen I und Hoheneck (SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/218, Bl. 115). V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 53 f. Auf die politisch begründete Motivation dieses Rückzugs auf die Familie ist bereits in Kap. 6.1.2.1 eingegangen worden. Finn, Politischer Strafvollzug, S. 39. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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cherweise mehrere Jahre eingeschlossen zu sein. Das Aufnahmeverfahren beinhaltete auch das Desinfizieren in kellerartigen, fensterlosen Duschräumen. Diese räumlichen Umstände weckten bei Frau Schuster unmittelbar die Erinnerung an die Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten. Ihre Aussage bescheinigt zugleich ihre traumatisierten Ängste vor der bereits widerfahrenen Willkür des Systems, die sich nun auch im Strafvollzug fortzuführen schien: „Wenn de in die Einweisung kommst nach Hoheneck und dann musste erst mal, du kommst noch in deinen Zivilsachen, dann musste in die Duschräume gehen [...]. Und dann sind wir da drinne und ich hab’ wirklich gedacht, »Jetzt drehen die die Duschen off und es kommt da wie in Auschwitz das Gas raus.« Also es war ENTSETZLICH.“416 Den zahlreichen Berichten aus der politischen Haft in Hoheneck zufolge waren es auch bei den hier benannten Aussagen zunächst die äußeren Rahmenbedingungen, die den Frauen besonders zu Beginn das Durchhalten schwer machten: überbelegte Zellen, in denen kein Quadratzentimeter Intimsphäre blieb, unzureichende Anstaltskleidung, sanitäre Missstände, fehlende Grundversorgung mit Toiletten- und Kosmetikartikeln: „[...] waren zwei große Räume, in jedem waren so teilweise, mmh drei-, sechs-, achtundzwanzig, dreißig Leute und war in der Mitte so ’n ähm Abteil, da waren zwei Toiletten drin, eine rechts und eine links und an jeder Seite ähm so ’ne Waschtröge mit drei Wasserhähnen und auf der anderen Seite kam noch mal so ’n großes Zimmer. Und was heeßt Zimmer, ne, hatte drei Fensterle, so kleene Dinger. Und wir ham teilweise auf ’m Fußboden gelegen, es war ganz furchtbar.“417 Die Frauen wurden innerhalb dieser provozierend unzumutbaren äußerlichen Missstände zunächst auf ihre primären Bedürfnisse reduziert. Ihr Haftalltag, neben dem täglichen Arbeitseinsatz, wurde fortan kalkuliert auf den möglichen Ausgleich der verwehrten Grundbedürfnisse bestimmt. Infolge solcher impliziter Disziplinierungsmaßnahmen reduzierten sich die Konfrontationsgrade auf eine existenzielle Ebene, die politische wurde vorerst ausgeschaltet. Indirekt verstärkt wurden diese Zustände auch aufgrund der Zuteilung in die einzelnen Arbeitsbereiche: Näherei, Strumpfhosenherstellung oder Elektromotorenbau. Allen DDR-BürgerInnen wurde schließlich auch im Strafvollzug das ‚Recht‘ auf „gesellschaftlich nützliche“ Arbeit eingeräumt.418 Weil die inhaftierten Frauen aber in den angewiesenen Tätigkeiten wenig Erfahrung hatten, waren sie oft nicht in der Lage die überhöhten Arbeitsnormen, im körperlich äußerst anstrengenden Dreischichtsystem zu erfüllen. Nach der geleisteten Arbeit bemaß sich aber auch ihren Verdienst, der in Hoheneck zum Einkauf grundlegender Hygieneartikel nötig war. Während das neue Strafvollzugsgesetz von 1977 konsequent festlegte, dass Körperpflegemittel den Strafgefangenen 416 417 418

V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 22. Mit diesen assoziierten Ängsten steht sie nicht allein; die Studie von Priebe bestätigt diese Befürchtung auch bei anderen politisch Inhaftierten. Vgl. Priebe, Psychische Störungen, S. 57–58. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 22. Vgl. §§ 2, 21, 22 StVG. Dokumentiert in: Finn, Politischer Strafvollzug, S. 132 und 136. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zur Verfügung zu stellen seien419, war dies zuvor in Hoheneck nicht der Fall gewesen. Im Gegensatz dazu berichten die Frauen von den Verhältnissen in der StVE Cottbus, wo deren Männer zur gleichen Zeit, also noch vor 1977, inhaftiert waren. Hier nämlich „wurde wenigstens die Hausordnung eingehalten. Sie kriegten mehr zu essen, sie kriegten ein wesentlich höheres Gehalt und äh sie kriegten Seife und Haarwäsche kostenlos. Das musste nämlich das Haus stellen. Und das mussten wir, wir mussten die Seife und die=die Haarwäsche auch äh äh noch von dem bisschen Geld bezahlen. Also ich hatte dann mal, ich war dann mal wieder nich’ im Akkord, ich hatte dann mal wieder ’n paar Wochen Arbeit, wo ich in so ’nen Arbeitsgang eingewiesen wurde, ’n sehr komplizierten. Und da wurde ich nur bezahlt, da kriegte ich nur, im Monat zwei Mark. Und da hab’ ich dann an die Stasi ’n Brief geschrieben, »Ich lebe unter meinem Existenzminimum«, ich könnte mir also die Haare nich’ mehr waschen und auch die Zähne nich’ mehr putzen“.420

Ein erzieherisches Moment, das sich als Spezifikum für die politischen Gefangenen im Frauengefängnis Hoheneck erkennen lässt, war die Zusammenlegung mit schwerkriminellen Frauen. Dieses Verfahren hatte von außen kalkulierte Mechanismen, zugleich aber auch eine spontan wirkende, inhärente Dynamik zur Folge: Zum einen war die Privilegierung und Schaffung hierarchischer Verhältnisse zwischen „politisch“ und „kriminell“ Inhaftierten eine gezielt eingesetzte Methode der Disziplinierung. Während man insgesamt die als „kriminell“ eingestuften Strafgefangenen in den Erziehungsprozess innerhalb von Posten der Verwahrraumältesten, der Brigadiere im Produktionsbereich oder Seminargruppenleiterinnen bei Bildungsmaßnahmen einbezog, waren den politischen Häftlingen Funktionen dieser Art stets vorenthalten. Allein dadurch erhielten sie schon eine untergeordnete Stellung, die von den „Kriminellen“ oftmals missbraucht wurde: „Ja, die langen, die, sag’ mer mal, die verantwortungsvolleren, höheren und angenehmeren Posten, das hatten alles die Mörderinnen. [...] Und dann sagt die ene, »Ich sitze wegen Doppelmord«, du weeßt ja gar ni’, was de für ’n Gesicht machen sollst, wenn dir das jemand sagt. Und dann biste mit denen zusammen, rund um die Uhr.“421 Zum anderen nutzte man das zeitweilig auf der einen Seite zur Schau getragene, aggressive Potenzial und das auf der anderen Seite gehegte Misstrauen als disziplinierendes Druckmittel geschickt aus. Hinzu kam, dass zumeist in den siebziger Jahren die Mehrheitsverhältnisse in den Verwahrräumen erzieherisch zugunsten der „kriminell“ Inhaftierten ausgelegt wurden, so konnte man auch gezielt angeworbene Zelleninformatoren gegen die Minderheit der politischen Häftlinge einsetzen: „Aber äh, die hatten schon ’n bisschen mehr Privilegien. Aber die Politischen waren da, wir kämpften ja alle ohne. Wir hatten also keine, 419 Vgl. § 46 StVG. Dokumentiert ebd., S. 145. 420 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 55; ebenso V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 24. 421 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 23.; ebenso V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 21. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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hatten unseren Rücken nich’ an der Wand. [...] DIE wollten sich ja da drin politisch bewähren und waren auch eigentlich Parteigenossinnen und also die=die hätten uns ja am liebsten zerrissen. Und ham uns auch laufend beobachtet und dann Meldungen rausgegeben, um uns eben, um SICH AN UNS ZU bewähren. Und so was liebte man ja. Deswegen ham se uns ja auch da rein gesteckt.“422 Nicht immer aber konnte die Anstaltsleitung auf die niederen menschlichen Abgründe wie Aggressivität, Neid und Misstrauen innerhalb der Konstellationen von „Kriminellen“ und „Politischen“ setzen. Zugleich berichten die Interviewpartnerinnen auch von der aktiven Zusammenarbeit mit diesen Frauen. Es gab unter jenen auch diejenigen, „die aufmerksam machten, »Hier passt auf, die denunziert«, und, »Vor der müsst ihr euch in Acht nehmen.« Oder es gab ja auch Kriminelle, die unsere Kassiber dann mal in andere Zellen brachten, also die zu uns hielten.“423 Insofern zeigten sich mit der Zeit auch gegenseitige Toleranz und Achtung. Die nachfolgend ausführlichen Schilderungen von Frau Schuster, die diese Tendenz bestätigt, steht desgleichen in direktem Zusammenhang mit den Maßnahmen des „strengen“ Arrests. Sie schildert eindrücklich die Foltermaßnahmen in der Strafvollzugseinrichtung Hoheneck noch Mitte der siebziger Jahre. Da den Inhaftierten nicht die gesetzliche Möglichkeit der Nachprüfung von Vollzugsmaßnahmen gegeben war, konnten sie lediglich das Eingaberecht nach § 38 StVG nutzen und beim Strafvollzugsleiter gegen Disziplinierungsmaßnahmen dieser Art Beschwerde einlegen. „Die mangelhafte Rechtsstellung der Strafgefangenen“ im Allgemeinen aber wirkte sich eher negativ auf die Ernsthaftigkeit der Bearbeitung solcher Beschwerden, deren erfolgversprechende Untersuchung bzw. für etwaige Konsequenzen gegen das Haftpersonal aus.424 Keine der an diesem Projekt beteiligten Frauen musste derartige „Arrestmaßnahmen“ erleiden. Die Berichte hierzu beschränken sich auf die Frauen, die wegen „krimineller Delikte“ inhaftiert waren. Ein Grund für diese ‚Verschonung‘ war sicherlich, dass die Mehrheit der politisch Inhaftierten in die Bundesrepublik entlassen werden sollte; die Gefahr bei Bekanntwerden dieser Methoden das internationale Ansehen der DDR vorsätzlich zu schädigen, war für die Anstaltsleitung in den meisten Fällen zu hoch. Allein aber das Wissen um die vermeintlichen „Erziehungsmaßnahmen“ hatte für die Frauen bereits eine abschreckende Wirkung. Denn bereits das Verfehlen der Arbeitsnorm konnte ein Grund für den isolierten Arrest darstellen. Es musste also nicht unbedingt zu konkret provozierten Vergehen gegen die Hausordnung kommen, um Opfer derartiger Repressalien zu werden. „Ich bin im Januar dorthin gekommen, die hatten nur ein Hemdchen an [...]. Nichts, keine Strümpfe, nichts, und dann noch Schuhe. [...] IM JANUAR und nicht geheizt, also ich hab’ gedacht, dass die das überhaupt überleben. [...] Und wer STRENGEN Arrest hat422 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 58. 423 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 58. 424 Vgl. Arnold, Strafvollzug, S. 202. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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te, der kriegte mmh jeden Tag nur, also zu jeder Mahlzeit, drei Scheiben trocken Brot und einen BECHER SCHWARZEN KAFFEE. Das war alles. Muss man (sich) mal vorstellen, wie wenig die zu trinken bekommen ham. Und da kam KEENER rein, außer zu den Mahlzeiten, du konnst nich’ sagen, du brauchst was oder du musst mal. [...] EINMAL mussten die dann nach den drei Tagen eine warme Mahlzeit bekommen. Und ich geb’ dem einen Mädchen da diese warme Mahlzeit, [...] die nimmt mir den Teller ab, nimmt den rum und HAUT den der Wachtel ins=ans Gesicht. Also den Gesichtsausdruck von dem Mädchen, den vergess’ ich nie, da war SO VIEL Verachtung und WUT UND STOLZ drin, also ’s war traumhaft. [...] Aus welchem Grunde nu’, zu wenig gearbeitet, geraucht, zu viel Krach gemacht oder was weeß denn ich, da biste da in den Bau gekommen. Und da bis zu drei Wochen, ja sechs Wochen bliebste da unten. Wir sind dort unten da lang gegangen, da gab ’s, im Keller unten waren, das eene war oben und wir sind dann noch ’n paar Treppen runter und im Keller unten ging ’s dann weiter und da waren noch welche, die standen im Wasser, kaltem Wasser.“425

Die Beschäftigung mit den mitinhaftierten „kriminellen“ Frauen führte indessen auch zu einer besonderen Form der Abgrenzung in einer übergeordneten Frage: „Was gibt es für Kriminelle in einer Diktatur? In einer Diktatur, in einer sozialistischen Diktatur, wo Karl Marx immer gesagt hat, dass es in der richtigen Gesellschaftsordnung gar keine Kriminellen mehr gibt, weil die da gar keinen Grund mehr haben, kriminell zu sein?“426 Diese Überlegungen eröffneten eine neue Perspektive auf die Situation in der Haft. Mehrere der hier beteiligten Frauen erzählen von der konkreten Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung, die einerseits eine politisch-motivierte Positionierung innerhalb des Strafvollzugsgeschehens produzierte und andererseits die Kategorisierung „kriminell“ in einer Diktatur differenzieren lernte.427 Letztendlich konnte so das vermeintliche Erziehungsmoment in der Konfrontation von „Kriminellen“ und „Politischen“ nur noch bedingt wirksam werden. Im Gegenteil machte die zeitweise Solidarität und Kameradschaft mit diesen auch die Überwachungsmethoden durch Zelleninformationen weniger effektiv und gefährlich. In den vorliegenden Fällen bewirkte das kalkulierte Aufeinandertreffen von politischen und „kriminellen“ Strafgefangenen sogar eher eine verstärkte Politisierung der Haft, eine Steigerung der Auseinandersetzung mit dem System und eine entschiedenere Orientierung auf das zu erreichende Ziel: die frühzeitige Entlassung in die BRD: „Und dort wusstest du auch, dass du ausgehorcht wurdest bei allem und jeden. Und dann hab’ ich gedacht, jetzt musste denen doch glei’ noch beweisen, dass de ja UM GOTTES WILLEN ja niemals umschwenken würdest. Also ich hab’ da meine Meinungen pflasterdick aufgetragen.“428 Die Disziplinierungsmaßnahmen gegen die hier beteiligten Frauen waren, neben den besonders physisch belastenden Bedingungen bei der Arbeit, eher subtiler Art, insbesondere, was die Sanktionen bezüglich der Kontakte zu den 425 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 23 f. 426 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 26 f. 427 Vgl. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 58–60; V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 21; V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 18. 428 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 25. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Angehörigen anbelangte. Briefsendungs- oder Paketsperre waren beliebte Maßnahmen die Gefangenen von ihrer familiären und sozialen Umwelt mehr und mehr zu isolieren. Gleichfalls wurden zwar „Sprecher“ mit Angehörigen zugelassen oder gar mit den in Cottbus inhaftierten Ehepartnern veranlasst, aber kalkuliert, schon nach wenigen Minuten willkürlich abgebrochen. „[...] das waren also Kabinen, wo man hinter Glas eigentlich nur sich sehen konnte und da gab ’s überall Abhörgeräte und da is’ jeder Einzelne nachher abgehört worden. Und äh wir hatten irgendwas gesagt, was wir nicht sagen durften [...]. Und die AUSWAHL, was man sagen durfte, die war so gering und=und mit einem Male, äh wir wussten dann, wir hatten noch über die Kinder gesprochen und wo sie sind und so und da bekamen wir also schon ’ne Verwarnung. Und dann hat mein Mann nur noch gesagt, »Also, äh kann=hast du denn Zahnpasta, deine Zähne sehen ja noch so weiß aus.« Und (auf) einmal ham die gesagt, also der Sprecher wird abgebrochen. Und da waren wir, also KEINE, wir ham vielleicht fünf Minuten zusammen gesprochen.“429

Diese bei allen Personen forciert angewandte zwischenmenschliche Kontaktsperre, vor allem zu den zurückgelassenen Kindern, wurde zum Haupthaftproblem der inhaftierten Mütter. Bewusst – wie zuvor in der MfS-Untersuchungshaft – gegen die Frauen instrumentalisiert, erzielte man mit Gefühlen von Ungewissheit und Trennungsangst emotionale Zustände, welche die Frauen verstärkt in anhaltende Schuldvorwürfe trieb und die seelisch zermürbenden Charakter hatten: „Ich hab’ auch in der Haft eben Frauen erlebt, die alleine saßen, die jetzt keine Kinder hatten. Und die mussten eigentlich nur mit diesen Widrigkeiten, mit diesen täglichen Widrigkeiten zurecht kommen. Aber wir hatten die STÄNDIGE Sorge auch um unsere Kinder, [...] das ist fürchterlich, wenn man NICHT NUR FÜR SICH allein verantwortlich ist, sondern noch eigentlich die Schuld trägt äh darunter, dass andere leiden. [...] Das ist auch MEIN großes Haftproblem, eigentlich.“430 Strategien der konstruktiven Bewältigung: Dennoch, die Situation konnte verbessert werden, insofern dass sich die hier beteiligten Frauen außerhalb der Gefängnismauern starke sozial unterstützende Netzwerke geschaffen hatten, die sich beispielsweise der Kinder emotional als auch materiell annahmen. Schließlich war es nicht immer eine Selbstverständlichkeit, dass Großeltern und andere Verwandte, ja auch Freunde und Nachbarn die Kinder unter oftmals schwierigen, behördlichen Auseinandersetzungen aus den Heimen holten und sich über Jahre hinweg ihrer Pflege und Erziehung stellten. Das Wissen, dass sich diese Menschen um die zurückgelassenen Kinder sorgten, bedeutete eine große psychische Hafterleichterung für die Eltern. Es machte besonders den psychologischen Druck ihrer Handlungsohnmacht ein bisschen geringer: „[...] als wir dann inhaftiert waren, hat auch dieser Westberliner Freund allen Klassenkameraden im Westen gesagt, »Wir haben alle berufliche Positionen, dass wir 429 V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 24; ebenso V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 19. 430 V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 19, ebenso V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 44 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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’s uns leisten können 50 Mark im Monat auf ein Spendenkonto einzuzahlen, denn äh unser Klassenkamerad und seine Frau sind ja inhaftiert, da sind zwei Kinder und ’ne alte Tante von 75 Jahren, die die Kinder versorgt, die ’ne Rente kriegt von 150 Mark [...] und die müssen wirtschaften können.«“431 Diese freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Unterstützungssysteme, vor allem in der Bundesrepublik waren aber zugleich auf andere Weise für die Bewältigung der Haftsituation bzw. im Hinblick auf ein baldiges Haftende von großer Bedeutung. Sie konnten nämlich öffentlich Aufmerksamkeit und institutionelle Unterstützung für die Inhaftierten und deren Familien erlangen, indem sie sich beispielsweise an staatliche Behörden wie das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen wandten oder über berufliche Interessenverbände, die Kirchen bzw. Menschenrechtsorganisationen auf ihre politisch inhaftierten Verwandten und Freunde hinwiesen. Der Bruder von Frau Rose startete unter Mitwirkung von Amnesty International eine weltweite Petitionskartenaktion mit einer Auflage von 40 000 Stück, die sich direkt an den damaligen Vorsitzenden des DDR-Ministerrates Horst Sindermann und den Vorsitzenden des Staatsrates Willi Stoph richtete: „Die DDR ist Mitglied der VEREINTEN NATIONEN, der UNO, deren Deklaration der Menschenrechte in Artikel 13 jedem Menschen das Recht zugesteht sein Land zu verlassen. Da die DDR beansprucht, der deutsche humanistische Rechtsstaat zu sein, in dem die Menschenrechte verwirklicht sind, bitte ich Sie dringend, Frau [Rose] umgehend freizulassen!“432 Die Rückendeckung der Freunde und Verwandten, das Wissen um die Fürsorge für die Kinder und die Hoffnung auf den baldigen Transport in die Bundesrepublik halfen die schwierige Zeit im Strafvollzug mit all seinen Widrigkeiten zu überstehen. Dieses Ziel wurde zum täglichen Motivationsmoment, sich nicht selbst aufzugeben und die restliche Zeit durchzuhalten: „[...] also wenn die Hoffnung zu stark wurde, ließ dieser Selbsterhaltungstrieb nach. Und man fiel dann immer in so ’n Loch, wenn man beim nächsten Transport dann nich’ dabei war. Und das hab’ ich ja oft erlebt, die sind ja alle fast, die NACH mir gekommen waren, die sind ja fast alle VOR mir gegangen. Ich war ja immer, ich war eigentlich ’n ganz alter Hase.“ „Ich habe mich jeden Abend gelobt und habe gesagt, »Diesen Tag hast du wieder ÜBERlebt, das is’ ’ne Leistung.« Und so hab’ ich mich allmählich aufgebaut [...].“433 Gerüchte über mögliche Transporte waren der Hoffnungsanker für alle politischen Häftlinge im Strafvollzug. Jedes kleine Indiz, das auf eine bevorstehende Entlassung hinwies, versuchte man zu deuten: „Die Stasi hatte ja im Gefängnis eine extra Etage [...]. Und wenn so ein Transporter zusammengestellt wurde, 431 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 8 f. 432 Auszug des Wortlauts der von Amnesty International 1975 aufgelegten Petitionskarte für Frau Rose adressiert an den Ministerratsvorsitzenden Horst Sindermann; Hervorhebung im Original. Exemplar bei der Verfasserin. 433 Beide Zitate V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 50 bzw. 61. Ebenso V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001, S. 56 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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da brannte wieder drei Tage das Licht, da wussten wir schon wieder, da läuft was.“434 Diesen Informationshunger stillte die „Operativgruppe“ der Staatssicherheit, welche für die Zusammenstellung der Transporte aus dem Strafvollzug in die Bundesrepublik zuständig war, auch systematisch mit der Streuung von Gerüchten. Unter Ausnutzung dieses Umstandes erreichte sie mitunter ein zeitweise erhöhtes Wohlverhalten bei den politischen Häftlingen.435 Schließlich wusste man, dass die Frauen auf ihren Transport „wie off ’n Sechser im Lotto“436 warteten und trotz aller Widrigkeiten auf aktiv, nach außen gerichtetes resistentes Verhalten verzichteten, sobald sich die Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung auch nur andeutete. Diese Mittel der psychischen Verunsicherung belegen, dass der Umgang mit politischen Strafgefangenen für die Strafvollzugsleitung, gesteuert durch die „MfS-Operativgruppe“ differenzierte Formen der Repression erforderlich machte, um sie reibungslos in den Strafvollzugsalltag einzufügen und die nötige Sicherheit und Ordnung insgesamt nicht zu gefährden. Denn wie die internen Aufzeichnungen belegen, war eine Integration dieser „Kategorie“ von Häftlingen nicht immer problemlos zu bewältigen, vor allem was die Kapazitäten und die Ausbildung des Wachpersonals anbelangte. Intern schätzte man nämlich die „Strafgefangenen, bei denen Ermittlungen durch das MfS geführt“ wurden, als „sehr intelligent“, „aber oppositionell gegen unseren Staat und den Strafvollzug“ auftretend ein, was aufgrund deren „Cleverness und Raffinesse“ zu ungewollten „Überspitzungen und untaktischen Verhaltensweisen“ des Strafvollzugspersonals führte. „Dieses Problem, für die Strafvollzugseinrichtung Hoheneck nichts Unbekanntes, stellte sich für den Personalbestand [...] als Hürde dar, und es ging einfach darum [...] keine Unkorrektheiten oder gar Verstöße gegen das Gesetz zuzulassen.“437 Letzteres war auch im Sinne der Staatssicherheit, die ja einerseits das harte Vorgehen gegen politisch Inhaftierte stets anwies, andererseits aber auf das verantwortungsvolle Handeln der Strafvollzugsleitung und seines Personals angewiesen war, um für „die DDR diskreditierende und daher ‚sicherheitspolitisch‘ relevante Missstände“438 im erforderlichen Rahmen zu halten.

434 435 436 437

V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 21. Vgl. Wunschik, DDR-Strafvollzug, S. 484. Beide Zitate V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 25. Alle vorausgeh. Zitate: Diskussionsbeitrag zur Dienstbesprechung der BDVP KarlMarx-Stadt, Oberst der VP Lippold am 21. 3.1985 (SäStA Chemnitz, Bezirksbehörde der DVP KMSt, 25.2. Nr. I 0346 B, Bl. 6). 438 Wunschik, DDR-Strafvollzug, S. 493. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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6.1.5.3 „Auf Transport“? – Haftentlassung durch das MfS Die Monate und Jahre im Strafvollzug waren für die politisch Inhaftierten psychologisch lediglich dadurch zu ertragen, weil sie hofften per „Häftlingsfreikauf“ frühzeitig in die Bundesrepublik entlassen zu werden. Seit 1963 existierte diese Form der humanitären Bemühungen zwischen beiden deutschen Staaten. Die Regierung der DDR hatte damals eine Erklärung abgegeben, einem Angebot der Bundesregierung nachzukommen, das über das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen „Häftlingsfreikäufe“ politisch Inhaftierter ermöglichte. Im Gegenzug sollte die Bundesrepublik für jeden Häftling finanzielle Aufwendungen in Höhe von rund 40 000 DM, abhängig von Strafmaß und Bildungsniveau, ab 1977 pauschal von 96 000 DM aufbringen. Der Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) im MfS, unter Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski organisierte die kommerzielle Abwicklung dieses ‚realsozialistischen Menschenhandels‘. Bis 1989 waren dabei aus dem Haushalt des Bundesministeriums insgesamt 3,4 Milliarden DM für ca. 34 000 Häftlinge an die DDR geflossen. Zuständiger Unterhändler für die Belange und Auswahl der ‚freizukaufenden‘ Häftlinge war mit Vollmacht des Generalstaatsanwalts der DDR, der Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Er koordinierte die jeweiligen Transporte nach Maßgabe des MfS und der Regierung der DDR. Entsprechend den vorliegenden Gesuchen aus der BRD, die durch das zuständige Bundesministerium vertreten und weitergeleitet wurden, orientierte sich die Auswahl der freizulassenden Häftlinge. Zusätzlich übernahm Vogel im Auftrag von Angehörigen aus der BRD Mandate für eine Vielzahl von politischen Häftlingen und konnte dahingehend zusätzlich seinen Einfluss für deren vorzeitige Entlassung geltend machen.439 Diese Ausführungen sollten aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass im Laufe der Jahre nur etwa die Hälfte aller politischen Gefangenen, die in die BRD ausreisen wollten, von der Bundesrepublik ‚freigekauft‘ wurden. Eine Sicherheit für einen solchen ‚Freikauf‘ bestand demnach nicht. Ausschlaggebend waren vor allem die Bemühungen und Kontakte von westdeutscher Seite, die per Liste auf die jeweilig ‚Freizukaufenden‘ hinwies. Frau Rose weist in diesem Kontext zusätzlich auf die Kehrseite der westdeutschen Bemühungen für einzelne Häftlinge hin. Ihre Deutungen bezüglich dieser Verhandlungen weisen ebenso daraufhin, dass das Schicksal der politischen Häftlinge nicht selten zum Spielball aktueller politischer Konflikte zwischen beiden deutschen Staaten werden konnte. „Das war aber eher ’n Grund uns zurückzuhalten und um auch die=den Westen erpressbar zu machen. [...] Und dass sie immer ’n paar potente äh äh Häftlinge zurückhielten, damit die westdeutsche äh Regierung dann im Frühjahr wieder verhandlungsbereit war. Denn die standen dann immer wieder unter dem Druck, dass eben bestimmte Angehö439 Vgl. Weidenfeld/Korte, Handbuch zur deutschen Einheit, S. 447; Neubert, Politische Verbrechen, S. 874. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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rige, ob nun Verwandte oder beruflich, äh diesen Häftling unbedingt raus haben wollten und dann mussten se wieder verhandeln und da konnten se wieder die Allgemeinpreise steigen lassen. Das war so die Taktik. Und dann kam sowieso diese ganze Guillaume-Affäre, da war ja äh überhaupt kein Häftlingstransport, kein Freikauf in der Zeit.“440

Für den Einzelfall ist aber nur schwer nachzuweisen, welche Kriterien jeweils für eine Entlassung in die Bundesrepublik schließlich entscheidend waren. Seit Ende der siebziger Jahre nämlich wurden nur noch die Gesamtzahlen der jährlich in die BRD „Freigekauften“ notiert und mit den erhaltenen wirtschaftlichen „Gegenleistungen“ verrechnet.441 In der Gruppe der Inhaftierten musste allein Frau Wetzel eine Entlassung in die DDR, nach Verbüßung ihrer gesamten Haftstrafe, hinnehmen. Auf ihren Fall soll noch gesondert eingegangen werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle aber bereits, dass sie als einzige von den hier im Mittelpunkt stehenden Personen keine Angehörigen bzw. Freunde in der Bundesrepublik hatte, die auf ihre Inhaftierung aufmerksam machen konnten. Formal mussten alle politisch Inhaftierten einen Antrag auf Entlassung in nichtsozialistische Staaten bzw. nach Westberlin stellen, bevor das erwünschte Verfahren und eine mögliche Bewilligung des Gesuchs offiziell angestrengt wurde. Die Anträge waren dann von den zuständigen Abteilungen des MfS im Strafvollzug „qualifiziert zu erfassen, aufzubereiten und auf dem vorgeschriebenen Weg den für den letzten Wohnort der Inhaftierten zuständigen Abteilungen Innere Angelegenheiten zuzuleiten.“442 Die übergeordnete Abstimmung im Zusammenwirken der einzelnen Abteilungen übte in allen Verfahren die „Zentrale Koordinierungsgruppe Übersiedlung“ des MfS aus, die insbesondere mit der Hauptabteilung IX eng zusammenwirkte und mit ihr gemeinsam seit Abschluss der jeweiligen Strafverfahren „die Voraussetzungen für eine Entscheidungsfindung hinsichtlich der Einbeziehung in die Maßnahmen zur Übersiedlung“ schuf. Letzte und oberste Entscheidungsgewalt für die „Übersiedlung Strafgefangener“ aber behielt sich der Minister für Staatssicherheit selbst vor. Im Laufe der Jahre strebte das MfS einen stetig reibungsloseren Ablauf für das bedeutende Devisen einbringende Verfahren an. Dies beweist der aktualisierte Anhang der MfS-Dienstanweisung Nr. 2/83, der ab Mai 1986 das Verfahren im Sinne der „konsequenten Durchsetzung einer straffen zentralen Führung aller Maßnahmen“ differenzierter festlegte.443 440 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 50. 441 Vgl. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Rolle des Arbeitsbereichs „Kommerzielle Koordinierung“, zitiert in Raschka, Überwachung und Repression, S. 123. 442 MfS-Dienstanweisung Nr. 2/75. Dokumentiert in: Fricke/Klewin, Bautzen II, S. 247. 443 Alle vorausgehenden Zitate Anhang zu Dokument Nr. 2 vom 5. 5.1986 (Übersiedlung von Strafgefangenen) der MfS-Dienstanweisung Nr. 2/83 vom 13.10.1983 „zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie für vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich negativer Handlungen“. Dokumentiert in: Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen, S. 206–208, Zitate S. 206. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Abschiebehaft“ in Karl-Marx-Stadt und „Freikauf“ in die BRD: „Es galt [...] Strafgefangene aus verschiedenen Strafvollzugseinrichtungen unserer Republik, von den Transportkommandos der Abt. XIV Berlin und der Bezirke zur BV Karl-Marx-Stadt Abt. XIV zu überführen, ihre Entlassung vorzubereiten und ihren Transport nach Westdeutschland durchzuführen.“444 Das gleichzeitig auch dem MfS als Untersuchungshaft dienende Strafvollzugsgebäude am Kaßberg in Karl-Marx-Stadt wurde für alle politisch Inhaftierten, die für eine frühzeitige Entlassung in die Bundesrepublik vorgesehen waren, zur letzten Station ihrer politischen Haft. Gleichzeitig waren sie jedoch abermals dem Gewahrsam des Ministeriums für Staatssicherheit ausgeliefert. Der neuerliche Aufenthalt beim MfS, der bis zu zwei Wochen andauern konnte, diente einer letzten Tiefenprüfung, was ungeklärte finanzielle Verhältnisse, die Entlassung aus der DDR-Staatbürgerschaft, die Regelungen für die zurückgelassenen Kinder und deren spätere Ausreise betraf. Des Weiteren ging es darum, in erneuten, einschüchternden Gesprächen die Häftlinge über den Wirkungsgrad des MfS auch im „Operationsgebiet“ hinzuweisen445 und ihnen in diesem Zusammenhang eine Schweigepflicht aufzuerlegen, was ihr „politisches Verbrechen“ und die damit in Verbindung stehenden Untersuchungs- und Strafvollzugsbedingungen anbelangte. Für diejenigen Häftlinge, die vorläufig ihre Kinder in der DDR zurückließen oder wo jeweils erst einmal nur ein Ehepartner entlassen wurde, hatte diese Verpflichtung eine andere Dimension als für jene, die ohne diese schwere Hypothek in die BRD ausreisen durften. Mit diesen Mitteln sorgte das MfS dafür, dass dem westlichen Ausland nur vereinzelt greifbare Ansatzpunkte geboten wurden, die Methoden und Zustände der politischen Haft in der DDR anzuprangern. Das instrumentalisierte Angstprinzip des MfS wirkte damit noch weit über das vermeintliche Ende der Haft hinaus. Die letzten Tage in der Abschiebehaft wusste das MfS aber auch ganz pragmatisch zu nutzen. Mussten doch die aus den skandalösen Bedingungen des Strafvollzugs kommenden und durch diese gezeichneten politischen Häftlinge zumindest äußerlich wieder zu wohlgenährten und ansehnlichen Menschen gemacht werden. Man wollte den bundesrepublikanischen Behörden und Menschenrechtsorganisationen nicht sofort offenkundig Anlass geben, die dort öffentlich bekannt gewordenen Berichte über unzumutbare Zustände in den

444 Analyse „Aktion“ 1970, Bericht des Referates IV der Abt. XIV des Ministeriums für Staatssicherheit vom 1. 2.1970, die für die Entlassung und Überführung von Strafgefangenen in den Westen zuständig war. Dokumentiert in: Im Namen des Volkes?, S. 81–91, Zitat S. 81. 445 Vgl. dazu die Festlegungen zum weiteren Verfahren mit nach der BRD entlassenen Strafgefangenen: „Nach erfolgter Übersiedlung in nichtsozialistische Staaten oder nach Westberlin sind diese Personen, sofern sie nicht bereits aktiv erfasst sind, bei entsprechender operativer Bedeutsamkeit [...] als ‚West-Personen‘ in der VSH-Kartei [Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei] zu erfassen.“ MfS-Dienstanweisung Nr. 2/75. Dokumentiert in: Fricke/Klewin, Bautzen II, S. 248. Zur Dimension der „West-Arbeit des MfS“ vgl. ausführlich Knabe, Unterwanderte Republik. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gefängnissen der DDR bereits rein optisch, durch das körperliche Erscheinungsbild der ehemaligen Häftlinge zu bestätigen. „[...] dann wieder im Kaßberg. Das sind zwei Trakte. Einer, wo de U-Häftlinge sind und einer für die, die zum Ausliefern sind. Das wirste dann noch mal ’ne Woche, zwei behandelt wie im Sanatorium. Kriegste genug zu essen, darfst LANGE in den Hof gehen, während de sonst in der U-Haft bin ich mal sechs Wochen überhaupt ni’ an de Luft gekommen und einmal bloß zwanzig Minuten und dann wieder drei Wochen ni’, weil ’s geregnet oder geschneit hat. Dann hattste da bloß ’n ganz kleinen Käfig in der U-Haft, wo de da spazieren gingst, war meistens ’n Dreieck. [...] Und äh in der Auslieferung, da war ’s dann ganz hübsch, da hast’ also wie gesagt, Bücher so viel wir wollten und essen so viel wir wollten und alles wunderbar. Und durftest LANGE spazieren und ZUSAMMEN in den großen Hof [...].“446

Die offizielle Entlassung aus der Haft vollzog sich durch eine Weisung des Beauftragten für Sonderaufgaben der Hauptabteilung IX an die jeweilige Bezirksverwaltung des MfS, in dem die Inhaftierten ihren letzten Wohnsitz geführt hatten. Darin wurde wie im vorliegenden Fall des Ehepaars Seestern447 bestimmt, beide Strafgefangenen „am 5. 5.1981 aus der Strafhaft in die BRD [zu] entlassen. Gleichzeitig erfolgt[e] die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR.“ Ein weiterer Vermerk verwies auf den MfS-Befehl 6/77 – Ziffer 11 –, der die „sich aus der Übersiedlung ergebenden politisch-operativen Maßnahmen“ anordnete, die sich seit 1976/77 erheblich verschärft hatten: „Verhinderung einer Wiedereinreise – Einleitung der Sperre der Einreise und des übrigen Transits“ wie auch die „aktive Erfassung durch die territorial und objektmäßig zuständige Diensteinheit mit dem zusätzlichen Vermerk ‚Übersiedlung Strafgefangener‘“448. Infolge dieser Weisung der HA IX in Berlin verfügte nun das zuständige Bezirksgericht im Falle von Frau Seestern eine „Strafaussetzung auf Bewährung“ in Höhe von zwei Jahren und sechs Monaten. Wegen der besonderen Möglichkeiten der vorfristigen Entlassung im DDR-Strafrecht war noch nicht einmal eine Begnadigung nötig, stattdessen kam jeweils, wie auch im Falle von Frau Seestern eine Begründung gem. § 45 StGB Abs. 1 zur Anwendung. Diese sah eine Strafaussetzung ohne Mindestdauer der Strafverbüßung vor, solange nur „der Zweck der Freiheitsstrafe erreicht“ war.449 Im 446 V-Transkript Nr. 18/1 Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 20 f. 447 Folgende Zitate daraus: MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Durchführung zentraler Maßnahmen zur Übersiedlung Strafgefangener vom 23. 4.1981 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 4, Bl. 285). 448 Die Anweisungen des MfS-Befehls Nr. 6/77 gründen auf o.g. MfS-DA Nr. 2/75, beinhalten aber ab nun konsequent das auferlegte Einreise- und Transitverbot in/durch die DDR für die ehemaligen Strafgefangenen, vgl. MfS-Befehl Nr. 6/77 vom 18. März 1977 „zur Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen“, dokumentiert in: Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen, S. 21–71 (mit Anlagen), Zitat S. 37. 449 MfS-Akte Herr und Frau Seestern, Beschluss des Bezirksgericht Rostock/1. Strafsenat vom 28. 4.1981 (BStU, ASt. Rostock, AUI/1675/80, Band 4, Bl. 270); vgl. die Einma© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gegensatz zum Fall von Frau Seestern galt aber für die weiteren ZeitzeugInnen, die neben „ungesetzlichen Grenzübertritts“ zugleich wegen „Verbrechen gegen die DDR“ zu hohen Haftstrafen bis zu vier Jahren verurteilt worden waren, mindestens zwei Drittel ihrer Freiheitsstrafe zu verbüßen, bis sie für eine Entlassung in die Bundesrepublik vorgesehen waren. Nach Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und nach ein bis zwei Wochen in der Abschiebehaft in Karl-Marx-Stadt gelangten die InterviewpartnerInnen, wobei die Ehepaare jedoch teilweise getrennt waren, in die Bundesrepublik. Bis 1982 begleitete das MfS die Strafgefangenen zu einer abgeriegelten Raststätte am Hermsdorfer Kreuz, wo sie den Beauftragten der Bundesregierung übergeben wurden. In westdeutschen Reisebussen, die bis zur Grenze vom Unterhändler der DDR, Wolfgang Vogel begleitet wurden, gelangten die ehemaligen politischen Inhaftierten schließlich direkt in das Notaufnahmelager Gießen. Problematik der zurückgelassenen Kinder: Die politische Inhaftierung hatte somit das erwünschte Ende mit der Übersiedlung in die BRD gefunden. Die Mechanismen des MfS aber wirkten zunächst für diejenigen ZeitzeugInnen noch entscheidend und nachhaltig weiter, die ihre Kinder in der DDR zurücklassen mussten. Sie wurden zum letzten Faustpfand des MfS gegenüber den politisch inhaftierten Ehepaaren. Denn schließlich hatte auch hier das MfS die letzte Entscheidungsgewalt darüber, zu welchem Zeitpunkt die Kinder nachfolgen durften. Der Grundlagenvertrag hatte bereits festgelegt, dass die Familienangehörigen ohne besondere Verhandlungen in die BRD nachreisen durften. Verlässliche Definitionen bezüglich des Zeitrahmens für diese Übersiedlung aber wurden nicht vereinbart. Das Warten auf die Kinder konnte sich in einem Rahmen von zwei Monaten bis zu zwei Jahren bewegen. Im o.g. Anhang der Dienstanweisung Nr. 2/83 wurde erst eine Festlegung diesbezüglich greifbar. Hierin weist Mielke konkret an, „dass die Familienangehörigen [...] der in die BRD übergesiedelten Strafgefangenen im Zeitraum von nicht länger als zwei Monaten zur Übersiedlung“450 kommen sollten. Das Verfahren schien aber in den siebziger Jahren weitaus langwieriger und schikanöser betrieben zu werden, denn die Ehepaare Seestern, Rose und Krüger mussten über Monate, ja bis zu einem Dreivierteljahr auf die Ausreise ihrer Kinder warten. Der psychische Druck konnte somit nach dem Ende der Haft und dem Bemühen um einen Neuanfang in der Bundesrepublik vorerst nicht abgebaut werden. Die ligkeit der spezifischen Regelungen einer „Strafaussetzung auf Bewährung“ gem. § 45 StGB und ihrer Interpretation Schroeder, Strafrecht, S. 154–157. 450 Anhang zu Dokument Nr. 2 vom 5. 5.1986 (Übersiedlung von Strafgefangenen) der MfS-Dienstanweisung Nr. 2/83 vom 13.10.1983 „zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie für vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich negativer Handlungen“. Dokumentiert in: Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen, S. 208. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Angst der Eltern um ihre Kinder, deren Schicksal noch in den Händen des MfS lag, dauerte kontinuierlich an. „Mmh, das war eigentlich noch mal ziemlich hart, da hatte ich auch das erste Mal in meinem Leben ’ne Depression. Wir sind, wie gesagt, im Mai entlassen worden und wussten wir ja, es kann so zwischen zwei Monaten dauern und zwei Jahren bis se die Kinder nachlassen. [...] Und jetzt so bis September, muss ich sagen, war ich=waren wir noch relativ ruhig. Da ham wir gesagt, ja gut, so drei bis vier Monate das is’ normal. Und wir müssen selbst erst mal Fuß fassen und Wohnung suchen und eh wir selber wieder einigermaßen auf der Reihe waren, sagen wir, war das eigentlich noch nich’ so schlimm. Aber dann so September, Oktober fing das eigentlich an, wo wir immer noch nichts hörten [...]. Und dann, ham sie, zwei Tage vor Weihnachten ham sie uns Bescheid gegeben.“451

Teilweise waren die Kinder bis zu vier Jahren getrennt von den Eltern bei Großeltern, Verwandten oder Freunden aufgewachsen. Dieser lange Zeitraum der Trennung, unter den Umständen einer Inhaftierung der Eltern und gleichzeitigen Aufenthalten in staatlichen Kinderheimen, bedeutete einen irreversiblen Eingriff in die bestehende Familienstruktur. Die Zeit der familiären Entfremdung erlebten die Kinder der inhaftierten Eltern auf unterschiedliche Weise. Die Eingewöhnung in die alte Familienstruktur nach den zurückliegenden Erlebnissen, noch dazu in einer völlig neuen Lebenswelt gelang jeweils unterschiedlich und war stark abhängig vom Alter der Kinder. Die Akzeptanz der elterlichen Autorität und des wiedergewonnenen Familienlebens war bei den nun adoleszenten Kindern meist schwieriger.452 Gleichsam als äußerst wichtig für einen neu zu schaffenden Familienzusammenhalt stellten sich die interfamiliären Strukturen zu Großeltern, Verwandten und Freunden heraus, die großen Anteil an der materiellen und institutionellen Unterstützung wie emotionalen Bewältigung der biographischen Extremsituation dieser Familien hatten: „Und DA muss ich aber auch sagen, da ham unsere Eltern eigentlich auch ganz toll unsere Kinder eigentlich erzogen, die (2) ham eigentlich gar nich’ diese Entfremdung eigentlich gehabt. [...] Und, weiß noch, die stiegen aus dem Zug aus, wir hatten schon Angst, das waren Zweiundeinvierteljahre, wo wir die Kinder nich’ gesehen hatten, und fassten uns auch an die Hände und schnatterten los, als wären sie mal kurz beim Bäcker um die Ecke gewesen und hatten also jetzt zu erzählen und nahmen hier diese Welt ein ((lachend)). Und ich weiß auch noch, wie irgendwann jemand kam, [...] wie

451 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 20 f. 452 Vgl. bspw. die Situation der Familie Rose, wo die Kinder im Alter von 14 und 18 Jahren, nach vierjähriger Trennung ausreisen durften: „Kinder können sich das gar nich’ mehr vorstellen, wie das nach vier Jahren is’ mit Eltern. Und für uns war das auch schwierig, wir waren auch nicht mehr mit=wir waren auf DEM Stand stehen geblieben, wo unsere Kinder waren, als wir sie äh das letzte Mal gesehen hatten und die hatten sich weiterentwickelt und das hat natürlich sehr viele Probleme gegeben.“ V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 62. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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dann meine Tochter sagte, »Och—, wir waren ein Jahr im Heim und ’nen Vierteljahr bei der Oma«, ((lachend)) so hatte sich diese Zeit für sie angefühlt.“453 „Und dann noch dazu in die DDR entlassen worden zu sein, also das war wirklich das Allerschlimmste.“ – Endstation DDR: Als einzige der hier politisch Inhaftierten wurde Frau Wetzel nach Verbüßung ihrer achtzehnmonatigen Freiheitsstrafe eine Übersiedlung in die Bundesrepublik verweigert. Sie gehörte zu den Fällen, die keine institutionelle bzw. verwandtschaftliche Unterstützung aus dem Westen geltend machen konnte und war möglicherweise deshalb auch nicht für einen ‚Häftlingsfreikauf‘ von westlicher Seite vorgesehen worden: „Und immer sind andere, wie das damals hieß, auf Transport gegangen, also dann halt vom Westen freigekauft worden und ich bin nie drangekommen. Und äh musste wirklich bis zum Schluss dann absitzen. Und ich hatte nie gedacht, dass ich wieder in die DDR entlassen werd’. Ich hatte ja eigentlich mit allem abgeschlossen. Und hab’ dann ... Und dann musst’ ich wieder mir irgendwo ’ne Arbeitsstelle suchen, das musste man ja schon machen, bevor man entlassen wird. Das war ja in der DDR so üblich“454. Gemäß Wiedereingliederungsgesetz von 1977 garantierte die „sozialistische Gesellschaft [...] den aus dem Strafvollzug entlassenen Bürgern die volle Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, soweit ihnen diese nicht durch gerichtliche Entscheidung eingeschränkt worden sind.“455 Diese Einschränkung betraf vor allem die aus politischer Haft in die DDR entlassenen Bürger, die obligatorisch der Überwachung der Staatssicherheit unterlagen, „wenn die bestehenden Verdachtsmomente bzw. Kontrollgründe bis zur Entlassung aus dem Strafvollzug nicht geklärt werden konnten“.456 Diese auch bei einer restlosen Haftverbüßung fortschreitende Reglementierung und Einschränkung der persönlichen Freiheit sollte gemäß dem Wiedereingliederungsgesetz, vor allem mit Hilfe der kollektiven Kontrolle erfolgen: durch die „Bereitstellung der Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze [...] in solchen Arbeitskollektiven von Betrieben, Einrichtungen und Genossenschaften [...], in denen die günstigsten Bedingungen für die weitere gesellschaftliche Erziehung vorhanden sind.“457 In diesem Umfeld konnte das MfS die Maschinerie der bereits im Vorfeld der Inhaftierung erfahrenen Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen erneut einsetzen. Dies geschah aber nun eher offensiv, um von vornherein die zu453 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 20 f. 454 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 6. 455 Vgl. § 1 Abs. 1 Gesetz über die Wiedereingliederung der aus dem Strafvollzug entlassenen Bürger in das gesellschaftliche Leben (Wiedereingliederungsgesetz). In: Strafprozessordnung der DDR, S. 208. 456 „Die operative Bearbeitung und Kontrolle von Strafgefangenen nach Entlassung aus dem Strafvollzug ist durch die für den zukünftigen Wohnort bzw. die Arbeitsstelle zuständige Diensteinheit zielstrebig fortzusetzen, wenn die bestehenden Verdachtsmomente bzw. Kontrollgründe bis zur Entlassung aus dem Strafvollzug nicht geklärt werden konnten [...].“ MfS-Dienstanweisung Nr. 2/75. Dokumentiert in: Fricke/Klewin, Bautzen II, S. 246. 457 § 4 Abs. 2 Wiedereingliederungsgesetz. In: Strafprozessordnung der DDR, S. 209. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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künftige Rolle als ehemaliger Straftäter deutlich zu machen. Wie in vielen anderen Fällen bezeugt, musste auch Frau Wetzel ihren Personalausweis gegen ein so genanntes PM 12-Ersatzdokument eintauschen. Diese Identitätsbescheinigung stigmatisierte sie behördlich nun als Vorbestrafte und erlaubte ihr das Verlassen des Wohnortes nur unter Abmeldung bei der zuständigen Polizeistelle. Grundsätzlich war ihr ein Aufenthalt bereits in der näheren Umgebung von und in Berlin sowie im grenznahen Gebiet untersagt: „Musst’ ich als erstes meinen Ausweis abgeben, hab’ ich gesagt, »Wieso denn das? Ich bin doch ganz normal entlassen. Ich bin wieder ’n ganz normaler Bürger.« Und da ham se gesagt, »Nee, Sie sind kee normaler Bürger, weil Fluchtgefahr besteht.« Und da hatte ich dann also wirklich jahrelang keinen Personalausweis [...].“458 Frau Wetzel grenzte sich aufgrund der äußeren Beschränkungen mehr und mehr vom gesellschaftlich verordneten Leben in der DDR ab. Sie entschied sich gegen eine Berufstätigkeit an einem zugewiesenen Arbeitsplatz in der staatlichen Produktion, der ihren Qualifikationen und Interessen keineswegs entsprach. Stattdessen suchte sie ihre Lebenssituation in einer erneut politisch nicht ungefährlichen ‚Nischenexistenz‘ zu bewältigen. „Dass man dann wirklich sich das alles bewusst gemacht hat, was man alles so mitgemacht hat, das kam dann nach der Entlassung. [...] Und da hab’ ich aah wirklich Jahre damit zu tun gehabt, damit zurechtzukommen.“459 Familiär, das heißt von den Eltern, und gesellschaftlich konnte und wollte sie keine Hilfe annehmen, erst in ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau sowie in der Religionsgemeinschaft der „Zeugen Jehovas“ fand sie zunächst zwischenmenschlichen Halt und gemeinschaftliche Zuflucht. Hier gelang es ihr ansatzweise die Erfahrungen der Haft zu verarbeiten, denn dort „war das ja eigentlich uninteressant, ob man im Westen oder Osten ist, weil irgendwann soll ja de große Erlösung kommen.“460 Doch die Hinwendung zu den in der DDR unter starker Repression und Verfolgung stehenden „Zeugen Jehovas“ entsprach langfristig nicht ihrem eigenen Lebenskonzept. Was ihre politischen Überzeugungen und deren Durchsetzung anbetraf, hatte sich ihre ablehnende Haltung nach den erfahrenen Konfrontationen mit dem System nur noch verschärft, in der Religionsgemeinschaft aber wurde aktive politische Auseinandersetzung mit dem System gescheut, was Frau Wetzel letztlich auch dazu veranlasste, sich unter großen Schwierigkeiten von dieser religiösen Gemeinschaft abzugrenzen. Damit blieb der Wunsch, die DDR unbedingt zu verlassen, ihre einzige Perspektive. Die politische Inhaftierung und die jetzt zugewiesene Außenseiterrolle hatten diese mehr als verstärkt und selbst die Angst vor erneuten Repressionen in den Hintergrund treten lassen. Zwei Jahre nach ihrer Haftentlassung stellte Frau Wetzel einen Antrag auf ständige Ausreise in die BRD: „Im Januar ’79 bin ich wieder in die DDR entlassen worden und— Ende ’83 dann hierher ausgereist. Aber also die Zeit dort, das 458 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 13. Die Häufigkeit dieses Überwachungsmechanismus belegt auch Raschka, Überwachung und Repression, S. 124 f. 459 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 7. 460 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 13. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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war für mich nur so ’ne Warteschleife, da hab’ ich net versucht, mir da wieder ’n Leben aufzubauen.“461 Während im Verlauf der Ära Honecker besonders aufgrund der internationalen Vertragsverpflichtungen und völkerrechtlichen Anerkennungsphase der DDR so genannte weiche Formen der Verfolgung zur favorisierten Repressionsstrategie des MfS gegenüber etwaigen Systemgegnern reüssierten und daraufhin insbesondere im nichtstrafrechtlichen Bereich ‚erfolgreich‘ agiert wurde, darf die Bedeutung politischen Strafrechts und seiner Instrumentalisierung für die Verfolgung politischer Gegner dennoch nicht unterschätzt werden. Konnten nämlich gegen das System gerichtete politische Verstöße auch infolge von spezifischen Überwachungs- bzw. „Zersetzungsmaßnahmen“ nicht rechtzeitig oder gänzlich unterbunden werden oder vermutete man wie in den untersuchten Fällen eine mögliche Zusammenarbeit mit westlichen Untergrundund Fluchthilfeorganisationen, dann blieb die Inhaftierung für das MfS ein in vielerlei Hinsicht probates Mittel. Die politische Justiz wurde instrumentalisiert, um sich missliebiger Systemgegner zu entledigen und gleichzeitig relevante Informationen gegen vermutete Formen „politischer Untergrundtätigkeit“ zu erlangen. Zwar verringerte sich die Zahl der politischen Häftlinge in der Ära Honecker gegenüber den ersten beiden Dekaden des Bestehens der DDR fast um die Hälfte, aber aufgrund der Rückschritte in den Strafrechtsänderungsgesetzen nach 1977 war es ein Leichtes, dem System „feindlich-negativ“ gegenüberstehende Personen mit Hilfe eigens dafür geschaffener, politischer Paragraphen durch Inhaftierung mundtot zu machen und zu isolieren. Außerdem nutzte man die ökonomischen Vorteile dieser Inhaftierungen in Form der beschriebenen ‚Häftlingsfreikäufe‘ und entledigte sich damit zugleich der missliebigen Gegner. Dass diese Taktik in den achtziger Jahren eine gegenteilige Dynamik entwickelte, zum Massenphänomen „Flucht und Ausreise“ avancierte und ein wesentlicher Antrieb für die Umbruchsphase 1988/89 werden sollte, wurde für das MfS zum unkalkulierten, verhängnisvollen Moment. Sollte der Einsatz des politischen Strafrechts doch eigentlich als vermeintlicher Garant zur Erhaltung der politischen Macht fungieren. Als aber um die Mitte der achtziger Jahre auf „die Treue der Massen und damit die Sicherung äußerer Fügsamkeit der Andersdenkenden und zugleich Garantierung passiven Gehorsams aller anderen Gesellschaftsmitglieder“462 nicht mehr zu hoffen war, konnte auch solche allen rechtsstaatlichen Prinzipien zuwiderlaufende Rechtspraxis, die lediglich der Verwirklichung autoritärer Machtmechanismen gedient hatte, langfristig und infolge eines fortschreitend angewachsenen Legitimationsdefizits der herrschenden Machtelite nicht länger systemstabilisierend wirken.

461 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 7. 462 Vgl. Arnold, Strafgesetzgebung, S. 65. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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6.1.6 Auswirkungen der Erfahrung staatssicherheitsdienstlicher Inhaftierung Geschichtswissenschaft hat – besonders aus dem zeithistorischen Blickwinkel und innerhalb eines sozialwissenschaftlichen Methodenspektrums – auch die Aufgabe, die Auswirkungen historischer Phänomene in der Gegenwart deutlich zu machen. Sie kann diese nicht in einem abgeschlossen zeitlichen Rahmen fokussieren und letztlich in der Betrachtung vom Jetzt isolieren. Dies gilt umso mehr, wenn wie hier, die in ihm lebenden Akteure Träger der kollektiv historischen Erfahrung sind, die im spezifischen Erkenntnisinteresse zeitgeschichtlicher Forschung liegen sollte. Vor allem Letzteres, die Tatsache, dass diese Arbeit es mit einem ‚lebenden Gegenstand‘ zu tun hat, verpflichtet sie umso mehr nach den Folgen politischer Repression und Willkür in einer erfahrenen Diktatur zu fragen und diese auf die Gegenwart hin auszuleuchten. Im Sinne einer für dieses Projekt zu leistenden Erinnerungsarbeit kann das Verstehen historischer Prozesse und Erlebnisse dahingehend nur ermöglicht werden, wenn im lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhang der Individuen nach den individuellen Auswirkungen historischer Gegebenheiten gefragt wird und insofern erkennbar gemacht werden kann, auf welche Weise sie das Leben des Einzelnen elementar konstituiert haben. Für den abschließenden Teil, der die Zeit nach der Haftentlassung, hier spezifisch in der Bundesrepublik bis 1989 nachzeichnen soll, ist es deshalb notwendig, die während und infolge der Haft ausgelösten gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Schäden näher zu betrachten. Die Aussagen in den Interviews bezüglich der psychischen und physischen Leiden, die infolge der Haft wahrgenommen und aufgetreten sind, zeigten sich wenig detailliert und lassen deswegen auch keine differenzierten Beschreibungen zu. Äußerungen, die auf Kennzeichen der so genannten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD)463 hinweisen, sind lediglich in Randbemerkungen erkennbar, teilweise auch bewusst nicht vertieft und daher wenig symptomatisch greifbar geworden, wollte man sie im Sinne einer solchen Kategorisierung deuten.

6.1.6.1 Gesundheitliche Folgeschäden und psychosoziale Belastungsmomente Wenn sich die InterviewpartnerInnen zu psychischen, psychosomatisch oder pathologisch definierbaren Folgeschäden nur andeutungsweise bis gar nicht äußerten, muss einerseits nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass solche nie aufgetreten sind. Andererseits ist gegenüber den InterviewpartnerInnen 463 Als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet man eine akute bzw. chronische Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis, das direkt und persönlich erlebt wurde. Symptome sind intensive Ängste und Hilflosigkeit, die sich bspw. durch anhaltendes Wiedererleben des traumatischen Ereignisses, Abflachung des Reaktionsvermögens oder gegenteilig durch Anzeichen unvermittelt heller Wachzustände und eines hohen Erregungsniveaus äußern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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eine Haltung unzulässig, die davon ausgeht, dass bei politisch Inhaftierten stets von vor allem psychischen Beeinträchtigungen nach der Haft auszugehen ist. Allein bei den Ausführungen zu Kapitel 6.1.5.3, welche auch um die Problematik der zurückgelassenen Kinder kreiste, äußersten Frau Rose und Frau Seestern nachweislich Anzeichen von Depressionen und Angststörungen.464 Auf weitere psychische Belastungen ging explizit nur Frau Schuster ein; sie führte diese ursächlich vor allem auf die nächtlichen und stundenlangen Verhöre in der MfS-Untersuchungshaft hin aus. Das damalige Gefühl des Ausgeliefertseins und die nervlich unerträgliche Anspannung über Stunden hinweg, kann bei ihr auch heute ähnliche Ängste und ein Wiedererleben der damaligen Ereignisse provozieren: „Also ich halt’ das heute noch nich’ aus, wenn ich lange Zeit irgendwie ausgefragt werde. [...] Ich halte diese ewige Fragerei nich’ mehr aus. Das is’ also ’n Dauerschaden. Sind mehrere geblieben.“465 Später wird Frau Schuster deutlicher. Zugleich finden sich nachvollziehbare Gründe, warum viele der InterviewpartnerInnen auch heute nicht offen über derartige Folgeerkrankungen sprechen möchten. „Ich bin in Bezug auf bestimmte Dinge nicht mehr belastbar. Wenn also, wie gesagt, lange auf einen Gegenstand gefragt wird. Dann, wenn Sie bloß fragen, »Warum brennt ’s Licht?« Irgendwo brennt bei mir ’ne Sicherung durch und ich kann an und für sich ... Heute, das war irgendwie, weil Sie mir irgendwie bekannt vorkommen, weil ich nun Ihre Eltern kenne, war das nicht so belastend für mich, aber ansonsten kann ich da drüber nicht gut reden, ohne dass es mir hinterher nicht schlecht geht. Dann, insofern also, dann bin ich wieder sehr aufgeregt und dann muss ich wieder weinen und dann bin ich also, wie gesagt, noch weniger belastbar und sehr unruhig [...]. Das dauert also lange, bis ich wieder die Contenance finde.“466

Auch wenn das vorliegende Quellenmaterial nur ansatzweise Einblick in die beschriebene Symptomatik der Haftfolgeschäden leistet, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass politische Verfolgung, vor allem wenn sie mit Inhaftierung verbunden ist, traumatisches Erleben provozieren und zu anhaltenden psychischen Störungen, psychosomatischen und körperlichen Beschwerden bei den Opfern führen kann. Als etwaige symptomatische Krankheitsbilder können sie sich dann als ungünstige Handlungsvoraussetzungen für die Bewältigung späterer Lebensanforderungen äußern und als Langzeitfolgen, wie sie in den Untersuchungen von Pross Äußerung fanden, lebensbegleitend fortwirken. In diesem Kontext werden beispielsweise Symptome wie anhaltende Schlafstörungen, Alpträume, allgemeines Misstrauen, Konzentrationsstörungen, quälendes Kreisen um die immer gleichen Erinnerungen aus der Haft, Hineinsteigern in aussichtslose Kämpfe gegen Behörden oder auch Voralterung genannt.467

464 Vgl. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 62; V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 20. 465 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 18. 466 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 38. 467 Vgl. Pross, Wir sind unsere eigenen Gespenster, S. 306 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Die repressiven Methoden des MfS in Untersuchungshaft und Strafvollzug bedeuteten für politisch Inhaftierte einen schwerwiegenden Eingriff in die bisherige individuelle Lebensgestaltung. Die unmittelbar herbeigeführten Belastungen konnten im Gegensatz zu den für die ZeitzeugInnen nur schwer greifbar zu machenden Haftfolgeschäden, aufgrund der bisherigen Ergebnisse präzise veranschaulicht werden. In der resümierenden Analyse, die sich an die wegweisenden explorativen Studien von Priebe u. a.468 rückbindet, soll abschließend eine begriffliche Eingrenzung dieser Belastungsmomente erfolgen. In den vorausgehenden Kapiteln sind die für die ZeitzeugInnen erkennbar gewordenen, individuellen Folgen politischer Repression, im Vorfeld und während der Haftsituation dargelegt worden. Dabei konnte ein erkennbares Spektrum von Belastungsmomenten und Bewältigungsstrategien in den Phasen von Verhaftung, Untersuchungshaft, Strafvollzug und Entlassung aufgezeigt werden, das mit den Ergebnissen der Studie von Priebe u. a. letztlich konform geht. In hoher Übereinstimmung mit den Äußerungen der InterviewpartnerInnen dieses Typus wurden folgende „subjektive Belastungen“ während der Haft genannt: Hilflosigkeit gegen Diskriminierung, Einzelhaft, Ungewissheit, keine Kontakte zur Außenwelt, enge Räume, Zusammensein mit Kriminellen, schlechte Arbeitsbedingungen, Verdacht auf Psychopharmaka. Auch eine Auflistung der „subjektiven Befürchtungen“ während der Haftzeit zeigt, dass eine große Affinität zu jenen im Typus aufgezeigten Ängsten besteht: hohe Haftstrafe, Absitzen der gesamten Strafe, Entlassung in die DDR, Vergasung beim Duschen, Misshandlung und psychische Folter. Entsprechung findet zudem das hauptsächlich in Kapitel 6.1.4 festgestellte Verhalten der InterviewpartnerInnen, das die Belastungen der Untersuchungshaft funktional bewältigen half. In Priebes Studie sind ebenfalls die am häufigsten genannten Kategorien sowohl eine andauernd unbeugsame Haltung und ein trotzig-rebellischer Widerstand als auch eine möglichst konstruktive Anpassung an die Umstände der Haft.469 Die dargestellten Belastungen während und deren Auswirkungen nach einer politischen Inhaftierung, insbesondere auf Grundlage der aufgeführten Studien zeigen an, dass nicht wenige Menschen, die den Repressalien des MfS ausgesetzt waren, kurzzeitig psychische Schädigungen erfahren haben. Teilweise in so erschreckendem Ausmaß von dem sie lebenslang begleitet werden und deshalb therapeutischer Hilfe als Opfer psychischer Folter bedürfen. In diesem Zusammenhang sind die hier psychopathologisch angelegten Ausführungen als wichtiger Bestandteil innerhalb des Gesamtkonsenses der Konsequenzen staats468 Vgl. zuerst Priebe, Psychische Störungen, S. 55–61; zudem in der Bündelung verschied. Studien unter Berücksichtigung des Transformationsprozesses, in: Priebe/Denis/Bauer, Eingesperrt und nie mehr frei; wichtig im Hinblick auf erste Rehabilitierungsverfahren ehemals politisch Verfolgter in der DDR vgl. Peters, Über das StasiVerfolgten-Syndrom, S. 251–265. 469 Vgl. die Befunde von Priebe u. a., Psychische Störungen, S. 57 f. In dieser Studie wurden 55 Personen untersucht, die aus politischen Gründen mindestens für sechs Wochen in Gefängnissen der DDR inhaftiert waren. Die hier zitierten Sichtweisen der InterviewpartnerInnen wurden durch standardisierte offene Fragen erfasst. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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sicherheitsdienstlicher Unterdrückungs- und Zersetzungsmechanismen zu betrachten, gesteuert und angewiesen durch eine eigens geschaffene und politisch instrumentalisierte „Operative Psychologie“.

6.1.6.2 Existenzaufbau und konstruktive Verarbeitung – Lebensgestaltung in der Bundesrepublik bis 1989 Vor diesem Hintergrund sollen aus den Aussagen, die das neu zu gestaltende Leben in der Bundesrepublik beschreiben, zuvorderst die Auswirkungen betrachtet werden, welche im Zusammenhang mit den MfS-Konfrontationen und insbesondere der Inhaftierung stehen, um so deren alltagsprägende Relevanz zu erkennen. Diese Perspektive richtet ihr Augenmerk zugleich auf differenzierte Strategien der Bewältigung, die aus der Haftsituation in die jeweilige Lebensgestaltung innerhalb des Verarbeitungsprozesses übertragen werden konnten. Bei der Analyse der stattfindenden Erfahrungsbildung, welche die Auswirkungen politischer Kontrolle und Repression einschließt, muss insbesondere dem gesellschaftlich und ökonomisch veränderten Handlungsrahmen, in dem sich die ZeitzeugInnen nun und in vollständiger Abgrenzung zur DDR neu orientieren mussten, verstärkte Bedeutung zugemessen werden. Existenzieller Neuaufbau und soziale Integration durch Berufstätigkeit und Familie: Die Fixierung auf die existenzielle Neuorientierung in der Bundesrepublik bot für alle Betroffenen zunächst auch die Chance, das in Erinnerungen auftauchende Erlebte der Inhaftierung vorerst auszuklammern, also im psychoanalytischen Sinne bewusst abzudrängen. Die aufzuwendenden Energien und Aktivitäten in der neuen Lebenswelt konnten nur effektiv freigesetzt werden, indem dieser Abwehrmechanismus, zumindest kurzfristig aktiviert wurde. Schließlich war man in der bundesrepublikanischen Gesellschaft anfangs Problemen, was vor allem ökonomisch und materielle Determinationen anbetraf, ausgesetzt und musste diese in das neue Lebenskonzept möglichst erfolgreich einbinden. Zudem sind allgemein die sozialen Aspekte für Menschen, die alle beruflichen und zwischenmenschlichen Netze verloren und in einer anderen Umgebung neu aufbauen müssen, ein zusätzliches Belastungsmoment für einen Neubeginn. Eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Integration der InterviewpartnerInnen spielte dabei sicherlich die Tatsache, dass sich jeweils die Ehepaare gemeinsam, mit Unterstützung der in der Bundesrepublik lebenden Verwandten eine neue Zukunft aufbauten470. Nicht zu vernachlässigen, sind auch die materiell und sozial stützenden Maßnahmen der Bundesregierung, was ehemals politisch Inhaftierte aus der DDR anbelangte, wie zum Beispiel das Angebot eines zinslosen Darlehens über 10 000 DM, die Möglichkeit einer Erholungskur sowie eine besondere Form des Kündigungsschutzes471. 470 Zur Bedeutung des Partnerschaftsstatus bei der psychosozialen Krisenbewältigung von Übersiedlern vgl. Jerusalem, Stress und Stressbewältigung, S. 126–151. 471 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 29. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Auf der anderen Seite begegnete man den Neuankömmlingen aus der DDR aber auch mit großer Skepsis und Zurückhaltung. Zu den Problemen der Existenzgründung gesellte sich ein von den ZeitzeugInnen oft beschriebenes Mentalitätenproblem. Frau Schuster berichtet von ihren ersten Eindrücken, was Arbeitssuche und erste Integrationsversuche betraf: „Und da kommste hierher und da biste nichts. Und da fragen dich noch die Leute, [...] da waren die ersten Arbeitslosen, fünfhunderttausend oder was weeß ich wie viel, ’s war noch keene Million, »Ja, was wollen Sie hier? [...]«“472 Eine andere Problematik, die mit dem wahrgenommenen Desinteresse und geringem Informationsniveau der meisten Westdeutschen über die Zustände in der DDR zusammenhängt, provozierte ein besonders desintegratives Moment für die ehemaligen politischen Häftlinge. Frau Löffler beugte solchen Situationen vorläufig vor, indem sie erst einmal ihre Vergangenheit wenig öffentlich machte: „[...] als ich hier war, gemerkt hab’, wie wenig die da Bescheid wussten, dachte ich, das erzähle ich ja niemandem. Die glauben mir das nicht, wenn ich nix gemacht hab’, kann ich nicht=keine Strafe von zweieinhalb Jahren kriegen.“473 Frau Krüger erlebte solche Situationen bei der schulischen Integration ihrer Kinder. Das allgemeine Unwissen der Lehrer und Eltern vermittelte ihr zeitweilig das Gefühl, erneut in eine Außenseiterrolle der Gesellschaft zu geraten. Dieses Phänomen, dass weite Teile der westdeutschen Bevölkerung nicht bereit waren, sich mit den Gegebenheiten in der DDR auseinander zu setzen bzw. sich über diese zu informieren, konnte sogar dazu führen, dass politische Häftlinge aus der DDR möglicherweise von ihnen sogar als ehemalige kriminelle Straftäter wahrgenommen und stigmatisiert wurden. „Und äh mit einem Mal merkte ich auch so ’ne gewisse Zurückhaltung, mit einem Mal ham die mich nich’ mehr gesehen, nich’ mehr angekuckt. Und äh da kam dann raus, erzählte mir dann eine, ja äh der [ihr Sohn] erzählt überall rum, »Meine Eltern saßen im Zuchthaus.« Und zwar haben wir, als wir, als unsere Kinder gekommen sind, die wussten ja nicht, wo wir gewesen sind, da hieß es ja immer nur, »Die Eltern arbeiten«, und äh da haben wir den Kindern die Wahrheit gesagt und haben gesagt, dass äh, »Wir leben nicht mehr in der DDR. Das wird nie wieder vorkommen äh, dass wir euch=euch verlassen. Und die Angst müsst ihr nicht haben.« Die haben se auch nicht gehabt, aber trotzdem, unser Sohn musste das ja auch verarbeiten. Und natürlich, wenn jetzt irgendjemand hört, ja die Eltern saßen im Zuchthaus, kann sich ja keiner vorstellen, welche=um welche Vergangenheit das ging. Und erst als sich das rumgesprochen hatte, dann bin ich dann wieder akzeptiert worden. Also auch hier gab ’s dann also auch schon Probleme.“474

Die politische Inhaftierung in der DDR konnte aber gleichwohl Katalysator und positiver Impetus für die zukünftige, z. B. berufliche Entwicklung sein. Frau 472 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 27. 473 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 16. 474 V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 18. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Löffler gelang trotz der widrigen Anerkennungsprobleme ihrer bisherigen Tätigkeit nach und nach der Wiedereinstieg in die ärztliche Laufbahn: Ihre erste Assistenzstelle am Klinikum gewinnt sie im Vorstellungsgespräch, wie der Vorgesetzte betont, auch aufgrund ihrer „schweren Vergangenheit“475. Sie erhält dort zugleich die Möglichkeit zur Promotion und erfährt langfristig Fürsprache und Hilfe für die anschließende Arbeitssuche. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und innerfamiliären Problemen zeigte sich bei den Betroffenen ein insgesamt gesellschaftlich positiver Integrationsverlauf. Allen Ehepaaren ist es gelungen, sich beruflich erneut oder erst hier zu verwirklichen und insofern gleichzeitig ein existenziell, überdurchschnittlich hohes Lebensniveau zu schaffen. In manchen Fällen, wie für Herrn Schuster konnten berufliche Wünsche endlich ohne politische Reglementierung umgesetzt werden. Aber zugleich kamen vor allem für die im mittleren medizinischen Bereich tätigen Personen anfänglich große Hindernisse ins Spiel, denn die in der DDR erworbenen Berufsqualifikationen wurden mancherorts nur teilweise bis gar nicht anerkannt. Für Frau Löffler und Frau Schuster war nur unter erschwerten Bedingungen in Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen ein Einstieg in das Berufsleben wieder möglich. Dennoch, so bilanziert Frau Schuster, „denk’ ich, dass ich eigentlich das, was ich immer hätte werden können, doch erst hier noch verwirklichen konnte, geworden bin. Charakterlich jetzt mal und ooch beruflich.“476 Frau Löffler wurde ihre Approbation als Ärztin entzogen. Daraufhin musste sie ihre praktischen Erfahrungen in weiteren zwei Jahren Assistenz unter Beweis stellen. Diese unerwarteten Probleme brachten existenzielle Ängste und persönliche Frustrationen mit sich: „Nee, also von daher hab’ ich schon mein Lehrgeld gezahlt mit der Approbation, dass sie mir das einfach ni’ anerkannt haben. [...] Ich hatte ja zwei Jahre als praktischer Arzt drüben gearbeitet, hab’ ein Jahr im Krankenhaus gearbeitet, das hat plötzlich alles nix mehr gezählt. Das hat schon weh getan. Und das ist ja auch nu’ ’ne finanzielle Sache. Ich hab’ ja hier nur mit ’m Koffer Handtücher angefangen, ich hatte ja nix.“477 Frau Krüger wie auch Frau Rose wagten gemeinsam mit ihren Männern den Schritt in die Selbstständigkeit und bauten erfolgreich ein Planungsbüro bzw. eine eigene Arztpraxis auf. Damit war nahezu allen Personen im Bereich des beruflichen Feldes ein erfolgreicher Neueinstieg gelungen. Die Bedeutung eines gesicherten Arbeitsplatzes und die persönliche Befriedigung im Beruf als Grundlage für Lebensbedingungen, die frei von Zukunfts- und Existenzängsten sind, wird in allen Einzelfällen nachvollziehbar geschildert.478

475 476 477 478

V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 37. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 37. V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 37 f. Vgl. die allgemein hohe Bedeutung dieser Faktoren für menschliche Umbruchsphasen bei Jerusalem, Stress und Stressbewältigung, S. 128 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Für die Frauen gestaltete sich die Eingliederung in die Arbeitswelt insgesamt, unabhängig von der jeweiligen Ausbildung trotzdem eher schwierig. Sie waren es ‚gewohnt‘ berufstätig zu sein und mussten dies auch in Anbetracht der anfänglich finanziell schwierigen Situation. Die Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz wurde aufgrund der Verteilung erwerbstätiger Frauen in der damaligen BRD deutlich erschwert. Zusätzlich kam hinzu, dass die institutionellen Rahmenbedingungen für berufstätige Mütter in der Bundesrepublik äußerst unterentwickelt waren, was insbesondere die Betreuung in Kinderkrippen, Kindergärten und Schulhorten anbelangte. „Also nee, die waren ja völlig erstaunt und ich war erstaunt über denen ihre Hinterweltlerischkeit. Dass die Mädchen dann oder die Frauen überhaupt ’n Beruf machten und diese ganze Entwicklung, wie se jetzt und heute und hier ist, die hat sich dann erst nach den siebziger und achtziger Jahren angebahnt. Dass die Frauen überhaupt gesagt ham, »Wieso muss ich denn abhängig sein? Ich kann ja ooch ’n Beruf haben. [...] Und wir brauchen ooch ’n Kindergarten.« Und so was ist dann erst später geworden. Ich war da eigentlich und überhaupt sagen wir mal überhaupt die Lehrerinnen, wir waren da ’ne Ausnahme. Und äh der Staat is’ ja ooch, wenn du als Frau ’n Kind hattest, nicht besonders großzügig gewesen. Da gab ’s kein Babyjahr, das gab ’s dann alles erst später. Da mussteste also nachher sehen, wie de kommst.“479

Betrachtet man diese sozialpolitisch unzureichenden Zustände vor den zurückliegenden Erfahrungen der Eltern, die nach jahrelanger Trennung von ihren Kindern nun wieder ein gemeinsames Familienleben aufbauen mussten und die erlittenen Defizite und Schädigungen durch größere Fürsorge und Geborgenheit auszugleichen suchten, erhält dieses Faktum eine besonders negative Dimension. Bisweilen hatten die Eltern zusätzlich noch lange mit eigenen Schuldzuweisungen leben, auch wenn sie ihren Kindern in der Bundesrepublik nun durchweg alle Chancen und Möglichkeiten, was schulische Bildung und berufliche Ausbildung, materielle und individuelle Freiheiten anbelangte, eröffnen konnten480. „Na ja, also Dostojewski hat ja mal gesagt, dass das Gefängnis die Universität des Lebens ist.“ – Konstruktive Verarbeitung481 : Viele ZeitzeugInnnen, die zahlreichen Aussagen sprechen dafür, konnten zugleich, indem sie lernten prägende Erlebnisse der Haft in einem konstruktiven Sinne zu werten, ihre Erfahrun479 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 29 f.; vgl. ebenso V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 30. 480 Folgendes Zitat bezieht sich hier noch auf die Zeit als die Eltern bereits in der BRD lebten, die Kinder in der DDR noch auf die Übersiedlung warteten: „Und meine Mutter ist mal mit den beiden zum Fotografen gegangen. Also wie Kinder SO verhärmt und traurig aussehen können. Also FÜRCHTERLICH. GANZ fürchterlich. Also ich muss sagen, eigentlich sage ich mir heute noch, im Prinzip mit kleinen Kindern hätte man nicht machen dürfen.“ V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001, S. 19. 481 Die folgenden Ausführungen rekurrieren in der Analyse der Bewältigungsstrategien auf die kognitive Theorie des Coping nach Lazarus und Folkman. Vgl. grundlegend Lazarus/Folkman, Stress, Appraisal, and Coping; Coping als Stressbewältigungsmodell insbes. nach belastenden Ereignissen v. a. Folkman, Personal control, S. 839–852. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gen für den weiteren Lebensweg erfolgreich nutzen, ohne dabei jedoch die damalige und heutige Brisanz für das eigene Leben zu verharmlosen. Allgemein vermittelt sich dabei der Eindruck, dass zunächst emotionszentrierte Bewältigungsstrategien, das heißt auf das eigene Befinden ausgerichtete Aktivitäten gegen die belastenden Momente angewendet wurden: „Aber ich habe eigentlich immer analysiert und ich glaube, dass ich dadurch auch mein Selbstwertgefühl äh eher gezeigt oder eher äh, eben ich habe auch meine Emotionen immer gezeigt. Und ich kann auch dazu stehen, sie kriegen ja kaum ’ne deutsche Frau, die sagen dann lieber, »’s war eigentlich gar nich’ so schlimm. DAS HAB’ ICH DOCH MIT LINKS ... LÄNGST VERGESSEN.« Und solche Sprüche hören sie eher, als dass mal einer sagt, »Ich bin da SCHWER VERLETZT worden. Man hat mich gedemütigt und das vergesse ich nich’.«“482 Dieser Mechanismus findet sich so ausgeprägt nur bei Frau Rose, ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion ist ihr auch hier wiederum hilfreich. Auf ein emotional stark ausgebildetes Selbstwertgefühl, das ihr erlaubt, einerseits die erlittenen Verletzungen durch das MfS als aktive Herausforderung zu begreifen und zu verbalisieren, dadurch andererseits aber keine passive Opfermentalität auszubilden, weisen ihre Äußerungen im vorangehenden Zitat. Positive Wirkungen für den heutigen Lebensalltag erkennt Frau Rose vor allem in der Tatsache, persönlich und charakterlich gewachsen aus dieser Extremerfahrung hervorgegangen zu sein, auch wenn etwaige Zukunftsängste dadurch nicht als unbedingt weniger bedrohend empfunden werden: „Also ich=ich meine schon, dass ich auch für ’s Leben einiges gelernt habe. Es macht das Leben nicht leichter, weil man natürlich auch wieder Ängste kriegt so manchmal vor der Zukunft [...]. Ich konnte mich während der Haft noch neben mich stellen und mich beobachten. Und da bin ich eher dran gewachsen.“483 Im Hinblick auf die existenziell-materielle Absicherung formuliert vor allem Frau Seestern, dass seit der Haftzeit die zwischenmenschlichen Werte durch das Erleben einer persönlichen Grenzerfahrung eine höhere Priorität in ihrem Leben erlangt haben, hingegen Ängste vor materieller Not kleiner geworden sind. Schließlich ist sie der Überzeugung, dass ohne den engen Familienzusammenhalt ein erfolgreicher Neuaufbau des Lebens in der Bundesrepublik nicht gelungen wäre: „Also du wirst stärker. Du hast, du weißt, du warst schon mal ganz unten und da ganz unten geht ’s eben auch weiter. Und— ich hab’ zum Beispiel keine Existenzangst, ich denk’ mir, pph es war schon mal alles weg, du bist=du kommst ja dann mit ’nem Koffer hierher oder mit ’nem Pappkarton, wo du deine drei äh ach, hast nich’ mal drei Blusen, hast eigentlich nur das an, was de auf ’m Leib hast [...]. Also, hast eigentlich fast nichts. [...] du merkst natürlich auch, wie wichtig ’ne gut funktionierende Familie is’.“484 Alle Zeitzeuginnen berichten in diesem Kontext davon, dass der Kontakt und die tägliche Auseinandersetzung mit den so genannten kriminellen Straftäterin482 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 57. 483 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 61. 484 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 27. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nen im Strafvollzug für sie persönlich eine zwischenmenschliche Schulung der Toleranz, Vorurteilsfreiheit und Solidarität darstellte. Insgesamt bildet sich in den Äußerungen ein Konsens, der die Erfahrungen im Haftalltag im Nachhinein insofern positiv bewertet, als dass „diese Angst vor diesen Leuten und oder vor dem Kontakt mit diesen Leuten und ooch denen ihre Meinung zu akzeptieren und denen ihre Charakterstärke zu sehen [...] erst dort gelernt“485 werden konnte. Insofern herrscht Übereinstimmung, dass die Inhaftierung zugleich als gewinnbringend persönlichkeitsbildender Prozess wahrgenommen werden muss, der die eigene Menschenkenntnis und zwischenmenschliche Offenheit voranzubringen vermochte.486 Zeitlich verzögert tauchten so genannte problemzentrierte Bewältigungsstrategien auf. Sie motivierten sich insbesondere in der Konzentration auf das bestehende diktatorische System in der DDR, das noch immer Menschen unter die Ausübung repressiver Machtmechanismen stellte. Insofern fand nun auch eine übergeordnete Auseinandersetzung mit den Verursachern der eigenen Inhaftierung statt. Eine täterorientierte Aufarbeitung wurde schließlich erst nach 1989 möglich, diese dann sehr konkret auf einzelnen Personen orientierte Aufarbeitung ist bei allen Personen überaus deutlich erkennbar geworden:487 „Ich bin auch nicht ärgerlich, dass ich in dieser Diktatur noch mal hinter die Kulissen schauen konnte und äh diesen ganzen Machtapparat erlebt habe, den ich, den ja NIEmand, also nicht ein DDR-Bürger, der nicht gesessen hat, ahnt das ja, was äh was=was das überhaupt für ein brutales System war. Diese Erfahrung möchte ich auch nich’ missen. (1) Jetzt hinterher, vorher würde ich mich nicht dafür entscheiden, sie kennen zu lernen. Aber im Nachhinein schon und äh ich äh habe diese Erfahrungen gemacht und bin aus der Haft gekommen und habe mich eigentlich mehr mit ’ner Heldenstruktur gesehen, dass ich das durchgehalten hab’.“488 Ebenso wie bei Frau Rose ist vor allem bei denjenigen Personen eine kognitive Kontrolle489, das heißt der Versuch negativen Erfahrungen positive Aspekte abzugewinnen, zu beobachten, die sich aktiv für noch inhaftierte bzw. bereits übergesiedelte politische Häftlinge organisierten und sich so sozialpolitisch betätigten. Die Mitgliedschaft in den Opferverbänden für ehemalige politische

485 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 38. 486 Vgl. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 60; V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 37; V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000, S. 22. 487 Vgl. Kap. 8. 488 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 60 f. 489 Der Begriff leitet sich aus einer Kategorisierung so genannter Kontrolltypen ab, welche die unterschiedlich ausgeprägte Herstellung von wahrgenommener Kontrolle für die Bewältigung von kritischen Lebensereignissen und Stresssituationen einordnet. Durch kognitive Kontrolle ist es Menschen möglich, negative Erfahrungen besser zu kontrollieren, indem sie bspw. bestimmte Lebensereignisse neu und konstruktiv bewerten. Vgl. Lazarus/Lazarus, Passion and reason. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Häftlinge wie der VOS bzw. dem BSV490, wie auch in der „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“491 konnte durch das dort geleistete soziale und politische Engagement zugleich die eigene Aufarbeitung positiv beeinflussen und half diese problemzentriert zu reflektieren. Die Tatsache, dass hier weiterhin aktiv gegen das repressive Regime in der DDR agiert werden konnte, hatte eine zusätzlich positiv verstärkende Komponente: „Und— ich hab’ das bestimmt gut verarbeitet, weil ich eben hier die Vorträge drüber gehalten hab’, aber ich musste dann wirklich damit aufhören, weil es jedes Mal wieder hochkam und selbst wenn ich heute wieder davon erzähl’, nach über zwanzig Jahren, seh’ ich das noch alles vor mir. [...] als eben die DDR noch bestanden hat, hab’ ich gesagt, »Ich will, das was hier möglich ist tun, damit das irgendwann zu Grunde geht.«“492 Das Ehepaar Rose leistete solche Hilfe im Alleingang. Nachdem es selbst die ersten Probleme des Existenzaufbaus überwunden hatte, versuchte es anderen ehemals politisch Inhaftierten, die behördlichen Gänge und Neuorientierungen zu erleichtern. Ohne Einbindung in eine konkrete Organisation leistete es private Hilfe in Form selbst erstellter Leitzettel und Broschüren sowie durch die zeitweilige Aufnahme ehemaliger DDR-BürgerInnen.493 In diesem Kontext steht auch die von den Ehepaaren Seestern und Krüger besonders intensiv erlebte Erfahrung, dass zu Beginn der sozialen Integration und des Aufbaus persönlicher Netzwerke insbesondere die Solidarität und Hilfsbereitschaft der ehemaligen Häftlinge untereinander eine große Erleichterung war. „Du kommst ja doch in ’ne andere Welt, in ’n anderes Land eigentlich auch, und hast=musst dir hier wieder ’nen Bekanntenkreis aufbauen [...]. Und WIR hatten natürlich, durch diese Gefängniszeit, da lernste ja unheimlich viele kennen, die Gleichgesinnte sind und die du im Gefängnis auch ECHT kennen lernst. Da verbirgt keiner mehr sein=sein wahres Wesen [...] Und die waren ja dann verstreut über die ganze Bundesrepublik. Und da kamen also, als wir hier ankamen, auch Geldgeschenke, Pakete, Hilfslieferungen, Hilfsangebote mit allem Möglichen, auch die das wieder irgendwelchen Freunden hier weitererzählt hatten. Wir haben also Geld überwiesen gekriegt von Leuten, die wir gar nich’ kannten. Und auch Hausrat dann geschickt gekriegt. Es war eine unheimlich tolle Solidarität auch unter den ehemaligen äh ja Inhaftierten. Und du hast eigentlich gleich äh äh du hast gleich wieder ’nen Bekanntenkreis gehabt und das ist eigentlich, glaub’ ich, was ganz Wichtiges, also für mich zumindest, wenn de doch in der Fremde bist. Und wir haben uns eigentlich relativ schnell hier heimisch gefühlt [...].“494

490 VOS: Vereinigung der Opfer des Stalinismus; BSV: Bund der Stalinistisch Verfolgten. Vor allem das Ehepaar Schuster war für den VOS im süddeutschen Raum bei der Betreuung neu übergesiedelter politischer Häftlinge aktiv. Vgl. V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 26: „Wer alleine is’ (mit) solchen Sachen und gar niemanden findet, der Verständnis hat, hat ’s viel, viel schwerer. Und deshalb hab’ ich das dann ooch gemacht hier mit dem=mit der VOS.“ 491 Frau Wetzel organisierte sich im Vorstand der Organisation. 492 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 17. 493 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 69 f. 494 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 27 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Das Aufeinandertreffen der ehemaligen Häftlinge befreite zusätzlich von der auferlegten Schweigepflicht des MfS und teilweise von den Ängsten, auch in der Bundesrepublik nicht vor dem Zugriff des MfS sicher zu sein495. Man ermutigte sich gegenseitig, im Schutze der Organisationen öffentlich über die erlebten Unterdrückungsmethoden in der DDR zu sprechen, konnte sich zugleich an die menschenrechtlichen Probleme in der DDR rückbinden und somit auch einen Beitrag zur Aufweichung des Systems leisten. In vielen Fällen psychisch stützend und letztlich ausschlaggebend, weiterhin aktiv auf die Zustände in der DDR öffentlich aufmerksam zu machen, war letztlich auch für alle hier betroffenen Personen die vollständige rechtliche Rehabilitierung durch die Aufhebung des von der DDR-Justiz gefällten Urteils. Insgesamt haben die aufgezeigten Aufarbeitungsstrategien der Haftgeschichte bis ins Jahr 1989 bei allen Personen zu einem letztlich konstruktiven Umgang mit diesem schwierigen Abschnitt in der eigenen Biographie geführt. Das liegt formal zunächst daran, dass es allen ausnahmslos gelungen ist, die schwierige Anfangszeit in der Bundesrepublik durch grundlegende Faktoren wie Berufstätigkeit und soziale Unterstützung, ferner durch hohe Selbstwirksamkeit zu bewältigen. Allein die Bereitschaft an diesem Projekt mitzuarbeiten, beweist dies auch für den heutigen Lebensabschnitt. Trotz seiner marktwirtschaftlichen Risiken und Determinationen konnte das gesellschaftliche System der Bundesrepublik allen Beteiligten die Wiederaufnahme der biographischen Selbstbestimmung durch die Garantie unveräußerlicher Freiheitsrechte und rechtsstaatlichen Schutzes gewährleisten. Insofern wurde auch der Wunsch nach einer freiheitlichen Lebensweise in Beruf und Privatleben für alle erfüllt. Das zeigt sich äußerlich vor allem durch die bis heute ausgeübten, gesellschaftlich angesehenen beruflichen Tätigkeiten der InterviewpartnerInnen, wie in den hohen Bildungsabschlüssen bzw. akademischen Berufen der Kinder, sowie im bis dato erworbenen Besitz und Wohneigentum. Die Inhaftierung durch das MfS diente dabei als zusätzliches Motivationsmoment, die gesellschaftlich offerierten Chancen und Rahmenbedingungen soweit als möglich zu nutzen. Eine bewusste Auseinandersetzung mit der Problematik der erfahrenen Repressionen und deren Auswirkungen ist für alle Personen erkennbar geworden. Die vollzogenen Freisetzungsprozesse, die zu anderen Schwerpunkten der individuellen Lebensgestaltung führten, wurden jedoch nochmals durchkreuzt. Der plötzliche Umbruch und das Ende der DDR im Jahre 1989 spielten hierbei eine entscheidende Rolle für das Aufbrechen des bereits abgeschlossenen Verarbeitungsprozesses. Mit dem 1990 vollzogenen ‚Beitritt‘ der DDR zur Bundesrepublik sollte sich eine zweite Phase der Aufarbeitung, die vor allem mit der Öffnung der Akten des Staatssicherheitsdienstes verbunden war, anschließen. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine konkrete Auseinandersetzung mit den 495 Diese Bedenken äußerten v. a. Frau Seestern und Frau Wetzel. Letztere besonders aufgrund ihres politischen Engagements in der IGfM. Vgl. V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000, S. 32; V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000, S. 7 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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verantwortlichen Tätern möglich. Diese eröffnete, gesellschaftlich einmalige Form der Aufarbeitung, die infolge der Bestimmungen des Stasiunterlagengesetzes angeboten wurde, brachte innerhalb des Umbruchs auch wiederum kritische Erfahrungsmomente in der zuvor verarbeitet geglaubten Haftgeschichte zum Vorschein. Bei einigen ZeitzeugInnen zeigte sich sogar, dass bei selbst herbeigeführten Begegnungen mit ehemaligen inoffiziellen Mitarbeitern die mühsam gewonnene psychische Stabilität erneut ins Wanken geriet. Wie mit den neuen Realitäten der gesellschaftlichen Zustände und sich dadurch aufwerfende identitätsstiftenden Fragen umgegangen wurde und inwiefern sich insgesamt die Anpassungsleistungen, Lebensstile und Aufarbeitungsstrategien der bereits in der BRD lebenden InterviewpartnerInnen von jenen der bis zum Ende in der DDR wohnhaften unterscheiden, soll im Schlusskapitel (Kapitel 8) diskutiert werden. Hier nämlich muss abschließend die grundsätzliche Frage nach einem Zusammenhang von Identitätsbildung und Diktaturerfahrung resümierend aufgeworfen werden, die sich aber erst in der Betrachtung der Veränderungen des andauernden Transformationsprozesses beantwortet werden kann.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

6.2

Typus II – Individuelle Resistenz zur Erlangung persönlicher Selbstbehauptung und kollektive Systemopposition im Hinblick auf gesellschaftliche Reform496 „Ich wollte also Christentum und Sozialismus unter einen Hut bringen.“ „Wieso eigentlich diesen Leuten das Land überlassen?“

6.2.1 Grundlegende Prägungen, Einstellungen und Wertigkeiten in Kindheit und Jugend Der Ansatz der nachstehenden Darstellung, die den Typus „Resistenz und Systemopposition“ näher beleuchtet, wird von zwei interindividuell grundlegenden Determinanten bestimmt. Diese finden sich bereits in der Kindheit bzw. Jugend und stellen den Ausgangspunkt für das sich im Erwachsenenalter ausbildende Engagement in übergeordnet politischen Entscheidungsprozessen dar: erstens ein in der Kindheit durch elterliche Erziehung, Familiengeschichte und Kirche internalisiertes Diktaturverständnis bezüglich der DDR; zweitens ein aus der christlichen Orientierung als identitätsstiftend erfahrenes, politisches Handeln, das sich zugleich durch die Bindung an die evangelische Kirche motiviert und sich unter deren Schutz ausformt: „Die politische Grundprägung äh hab’ ich eigentlich in der Kirche gekriegt. Ich will nich’ sagen DURCH die Kirche, aber IN der Kirche von EINIGEN sehr engagierten Menschen, die dort waren. Und die dort=vielleicht nur dort waren, weil sie woanders nich’ sein konnten [...] weil das war der einzige FREIraum und dort sin’ wir dem begegnet. [...] Schon als KIND und Jugendliche bin ich also da sehr eingebunden gewesen. Hab’ auch meine Eltern sehr—, na sag’ mer mal, auf eine gute Art AKTIV da drin erlebt.“497

496 Bezüglich der Definition resistenten bzw. oppositionellen Handelns vgl. zunächst die Ausführungen in Kap. 6.1.4.2, die sich an die Definition von Eckert anlehnen. Zudem wird in Typus II die sich in der DDR ausbildende kollektive Umwelt-, Frauen- und Friedens- wie Menschenrechtsarbeit unter den Begriffen politisch alternativ und oppositionell subsumieren. In den einzelnen Entwicklungsstufen der letztlich gesellschaftlich ausgerichteten Arbeit vieler Gruppen gelten zu Beginn ebenso die Begriffe sozialethisch (v. a. christliche und moralische Motivation, geringer Institutionalisierungsgrad) und Basisgruppe (Selbstbezeichnung; als zeitgenössischer Begriff, welcher die Loslösung von aller Obrigkeit ausdrücken sollte, gültig). Im Zuge der 80er Jahre trägt ihre Arbeit – für die hier betrachteten Gruppen trifft dies zu – immer stärker politische Motivation, deshalb ist schließlich die Rede von politisch alternativem Gruppen, nach Ausbildung spezifischer interner Gruppenstrukturen und politischer Radikalisierung ab Mitte der 80er Jahre werden diese als oppositionell bezeichnet. Oppositionell im Sinne von Eckert heißt: nicht ausgerichtet auf die Abschaffung des politischen Systems, sondern auf dessen Reformierung, dabei meist unter Einsatz oder am Rande legaler Mittel. Vgl. Pollack, Politischer Protest, S. 59–61 und erneut Eckert, Widerstand und Opposition in der DDR, S. 52 f. 497 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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6.2.1.1 Erziehung in der Familie – Kindheit Frühe Ausbildung des Diktaturverständnisses: Eine solche in der Lebenswelt generell vorhandene, christlich geprägte Grundhaltung ließ ein politisches Selbstverständnis wachsen, das zugleich auf in der Familie tradierte historische Erzählungen und Vorstellungen rekurrieren konnte. Vor allem die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der sich konkret in der eigenen Familiengeschichte manifestiert hatte oder zumindest aufgrund des religiösen Selbstverständnisses zum Gespräch zwischen den Generationen zwang, wurde – wie in Typus I noch auffälliger – zu einem ersten Orientierungspunkt für das politisch-moralische Aufwachsen. Das offiziell in der DDR-Geschichtsschreibung vermittelte Bild des „Faschismus“ leugnete hingegen für den real sozialistischen Nachfolgestaat jegliche Kontinuität in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit. Im Gegenteil, sie stilisierte die DDR als das ehemalige antifaschistische Deutschland und versuchte darin eine ihrer wichtigsten Legitimationssäulen zu institutionalisieren. Der antifaschistische Mythos instrumentalisierte dafür allein den Widerstand kommunistischer Provenienz, wohingegen alle anderen Formen des Widerstands und seiner Verfolgung ausgeblendet blieben. In der begrifflichen Verengung auf die Vokabel „Faschismus“ machte sich die DDR-Führung bereits definitorisch von jeglicher Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit spezifischen Ausprägungen des Faschismus im Dritten Reich frei.498 Obwohl auch in der frühen Schulzeit bei den ZeitzeugInnen die konsequente Vermittlung des „verordneten Antifaschismus“499 „ganz tiefe Spuren hinterlassen“500 hatte, entwickelte die Diskrepanz zwischen dieser und der im familiären und kirchlichen Umfeld alternativen historischen Aufklärung eine individuell konstruktiv erfahrene Auseinandersetzung. Es offerierten sich Varianten historischer Betrachtungsweisen, die zur Bildung einer eigenen kritischen Haltung und gesellschaftlicher Verantwortung beitrugen. „Das hing sicher damit zusammen, dass sich die evangelische Kirche der AUFarbeitung ihrer eigenen Geschichte im Zusammenhang mit dem äh Dritten Reich, also mit Hitler, mit dem Krieg und ihrer Eigenrolle gestellt hat. Das halt ich ihr zugute. Gell. Also sie ham dieses Schuldbekenntnis abgelegt, sie ham sich damit auseinandergesetzt und waren ECHT ooch Betroffene und (ham gesagt), »Oh Gott, das darf nich’ wieder passieren. Das darf uns nich’ wieder passieren.« [...] Und es wurde anders vermittelt als das was sonst in der SCHULE als Geschichte vermittelt war, weil Geschichte ja nur eine Geschichte des Klassenkampfes war. [...] Mehr ham wir ja nie gehört, aber wie gesagt durch diese privaten Sachen und durch das, was wir in der Kirche gehört ham, also IN KIRCH-

498 Zum Gründungsmythos der DDR vgl. Glaeßner, Selbstinszenierung, S. 20–39; Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 29 f. 499 Der zuerst von Giordano benutzte Begriff hat sich für die Auseinandersetzung der DDR mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eingebürgert. Giordano, Zweite Schuld, S. 219. 500 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Kreisen, sag’ ich mal so, von einigen Leuten, auch nich’ von allen, äh— wusst’ ich, dass es mehr gibt.“501

LICHEN

In der Differenz des offiziellen Geschichtsbildes und den überlieferten Erfahrungen im Elternhauses aufgewachsen, dessen Erzählungen „noch SO FRISCH“ waren, dass „man STÄNDIG konfrontiert“ wurde, führte diese für die InterviewpartnerInnen zu einer äußerst starken Einbindung in die kommunikative Tradierung des Nationalsozialismus, die sie „geprägt hat“, als wären sie „selber dabei gewesen“502. In Bezug auf die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus war in der DDR eine Orientierung der evangelischen Kirchen auszumachen, die in ihren Ansätzen an die Grundgedanken der „Barmer Theologischen Erklärung“ von 1934 anknüpfte. Diese hatte vormals den Widerstand der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit grundgelegt. Nicht einmal zwei Jahrzehnte später sah man sich erneut einem „totalen Weltanschauungsstaat“503 gegenüber und wollte nun konsequenter Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft tragen. In Erfüllung dieses Grundsatzes stellte man sich, im Gegensatz zum vom Antifaschismusmythos getragenen Selbstverständnis der DDR, zusammen mit den westlichen evangelischen Kirchen der Aufgabe einer verantwortungsbewussten Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Diesen Dienst an der Gesellschaft, der mehr und mehr durch die staatliche Kirchen- und Religionspolitik von der Institution Kirche abgelöst werden sollte, verwirklichte sie nun insbesondere in der seit Ende der sechziger Jahre praktizierten „Offenen Arbeit“504. Vor allem Jugendliche wurden in die innerkirchliche Diskussion und Lebensgestaltung eingeschlossen. Später sollten sie eine wichtige Basis für die aktiven Basisgruppen in der Kirche werden.505 Der ursprünglich aus dem Konflikt der Verantwortung für die Gräueltaten des Nationalsozialismus entstandene innerkirchliche Diskurs Verantwortung wurde insofern vor dem Hintergrund der globalen Auseinandersetzung „zum entscheidenden Ansatz zur Durchbrechung der Grenzen des Denk- und Handlungshorizontes“506 für die zukünftigen politisch alternativen Gruppierungen. Das Angebot dieser Gruppenarbeit war letztlich eine Reaktion auf die andauernde und sich verschärfende Kontroverse mit der SED-Kirchenpolitik, welche 501 502 503 504

V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 2. Alle Zitate V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 3. Vgl. Neubert, „Von der Freiheit ...“, S. 226. Die „Offene Arbeit“ der evangelischen Kirchen wurzelte primär in der Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Als besonders thüringisches Phänomen, erstmals 1969 in Saalfeld und Rudolstadt auftretend, entwickelte sie sich DDRweit immer mehr von einer Art innerkirchlichen „Aussteigerbewegung“ zu einem Diskussionsforum über die Möglichkeiten der Demokratisierung der Gesellschaft. Ab den achtziger Jahren ging sie nahezu mehrheitlich in die unabhängige Friedensbewegung über. Vgl. Pollack, Politischer Protest, S. 74–76. 505 Vgl. Neubert, „Von der Freiheit ...“, S. 224 und 226. 506 Gutzeit, Widerstand und Opposition, S. 241 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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die kirchliche Erziehungstätigkeit stets in Frage stellte und sie damit zum konfliktträchtigsten Feld in der Auseinandersetzung zwischen beiden Kontrahenten machte. Das einseitige Kirchenverständnis der SED-Regierung, das jene institutionell als rein politische Größe begriff, versuchte vor allem die evangelische Kirche bei ihren Aktivitäten in der pädagogischen Jugendarbeit und Volksbildung immer stärker einzuengen. Bereits seit 1970 fanden Rüstzeiten oder in diesem Sinne für Kinder und Jugendliche angebotene Veranstaltungen nur eine staatliche Genehmigung, solange sie offiziell einen gottesdienstähnlichen Charakter erfüllten.507 Innerhalb dieses historisch kritisch gebildeten Familiengedächtnisses und der Einbindung in die aktive pädagogische Kirchenarbeit wurden die InterviewpartnerInnen unweigerlich auch in die Betrachtung staatlich struktureller Grundzüge der DDR einbezogen und dahingehend sensibilisiert. Die Übertragung einer ersten, kindlich geformten Vorstellung von „Diktatur“ wird dabei zur prägenden Erfahrung. Der Diktaturbegriff als solcher verbalisiert sich in diesem Sinne freilich noch nicht, doch seine Merkmale internalisieren sich bereits sehr zeitig unter dem Einfluss der familiären und kirchlichen Lebenswelt. „[...] aber dass man sich nicht in ’ner Gesellschaft befindet, die ene demokratische Gesellschaft is’, das hab’ ich, glaub’ ich, schon als ganz Kleines gelernt. Also ich bin aufgewachsen mit meinen Urgroßeltern zusammen, die mit in dem Haus gewohnt haben, die beide dem Bildungsbürgertum entstammten [...] und die natürlich diese DDR-Gesellschaft und die ganze Regierungsform für vollkommen unmöglich hielten. Also die ham das tatsächlich gesehen, als eine direkte Fortsetzung der Diktatur, nur dass se sich anders genannt hat. Und das hab’ ich als ganz kleiner Knopf schon gelernt, also so. Natürlich nicht mit den Worten, die ich jetzt verwende, aber es war ganz präzise getrennt, was=was man zu Hause gelernt hat und was richtig war und das, was außen rum war, was man nicht dagegen an konnte, aber was nicht richtig war. Also eigentlich war ’s gar nich’ mal richtig und falsch, sondern nur richtig und nicht richtig. So=so differenziert, und damit bin ich aufgewachsen, ich kann mich nicht an ’ne Zeit erinnern, wo ich das nicht gewusst hätte.“508

Selbst überwachungsstaatliche Vorstellungen von den in der DDR herrschenden strukturellen Grundzügen sind für diese frühe Lebensphase erkennbar geworden. Sie verbinden sich dabei eng mit einer dezidiert gesellschaftlich ablehnenden Haltung in den jeweiligen Familien. Erste Benennungen, die auf konkrete Erlebnisse in der Kindheit zurückgreifen und das SED-System bereits damals als eines, das Angst und Willkür vermittelte, tauchen auf. „Also das ist für mich eigentlich eine (1) kindliche Erfahrung schon gewesen. Ich bin ’44 geboren und [...] mein Vater war Nazi, is’ am Kriegsende gefallen und war wohl ein sehr überzeugter Nazi, wenn auch zum Schluss ein etwas geläuterter, aber wir waren da von vornherein Leute, die in einer Position waren, die äh gar nicht in die Situation geraten können, dass sie normale, wohl geratene, brave DDR-Bürger werden können. [...] und dort bin ich aufgewachsen in dem Bewusstsein, das ging ja aber nicht nur uns 507 Vgl. Ordnung, Kirchenpolitik, S. 432–434. 508 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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so, sondern vielen, das ist hier uns eine feindliche Umwelt oder uns eine jedenfalls nicht sonderlich wohlgesonnene Umwelt und das müss’ mer halt aushalten und wie viele, zu denen wir auch gehörten, dachten wir ja, die Verhältnisse werden irgendwann sich auch wieder anders entwickeln. [...] Also so bin ich aufgewachsen und da habe ich mit dem Phänomen, dass zum Beispiel äh mir bewusst war, unser Schuster oder unser Friseur sind bekannt als Leute, die mit, wir sagten damals SD, zusammenarbeiten. Äh, das hab’ ich schon als Kind gehört, wo ich noch gar nicht wusste, was das ist. Das war im RIAS damals zu hören, da gab ’s gelegentlich Namenslisten, da wurde also gemeldet, unser Friseur ist einer davon. Also das Phänomen war mir nicht fremd und dass dann gelegentlich zu jemanden e schwarzer BMW gefahren kam und dann ging ’s dem ziemlich dreckig, das hab’ ich auch erlebt. [...] dass man sich da mit Methoden bediente, die wir heute als klassische Methoden von Geheimdiensten ansehen, [...] das hab’ ich alles als Heranwachsender miterlebt, so dass ich in dem Bewusstsein war, äh das gehört offenbar dazu. Dass es hinter den Kulissen etwas gibt, was dich im Auge hat.“509

Gleichzeitig aber bildeten sich durch diese Erfahrungen feine Sensoren für Mechanismen aus, welche sich eine Staatsform zu Nutze macht, die eine kritische Öffentlichkeit, Formen individueller Dissidenz oder gar Widerstand von vornherein auszuschalten gedenkt. Ferner speiste sich aus der alltäglichen Präsenz westlicher Medien sowie den lebendig gehaltenen verwandtschaftlichen Beziehungen in die Bundesrepublik ein zusätzlicher Einfluss, der das politische Denken mehr und mehr an demokratischen Wertmaßstäben orientierte und parallel die Wahrnehmung für autoritäre Strukturen im DDR-Systems schärfte.510 Grundlegung zivilen Ungehorsams: Dieses systemkritische Aufwachsen brachte aber auch konkrete Probleme für die Jugendlichen mit sich, vor allem sobald sie institutionell durch Schule oder Ausbildung in staatliche Strukturen stärker eingebunden wurden. Durch die eigene enge religiöse Bindung, die sich auch in der aktiven Kirchenarbeit äußerte, kam eine bewusste, äußerlich wahrnehmbare Abgrenzung vom ideologischen Atheismus des Sozialismus hinzu, welche den Grad einer möglichen Konfrontation mit dem System vergrößerte. Prinzipiell und verkürzt dargestellt galten ja, blickt man auf die theoretischen Grundlagen der SED-Kirchenpolitik, „christlicher Glaube wie Religion als zurückgebliebenes gesellschaftliches Bewusstsein, das allmählich überwunden werden musste und für das es in einem voll entwickelten Sozialismus keinen Platz mehr geben sollte. Deshalb wurde der Atheismus zum unaufgebbaren Bestandteil der marxistischen Weltanschauung erklärt.“511 Primär forderte dies zuerst von den Eltern eine konsequente Anleitung zur Handlungsorientierung, wollten sie ihre Kinder vor einer wie in Typus I festge509 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 1 f.; Vgl. auch: „Und auch die, worüber ja sehr wenig gesprochen worden is’, über äh die Stalinzeit, das kam ja praktisch zu DDR-Zeiten gar nich’ vor, das kam auch in den Erzählungen unserer Eltern auch nur andeutungsweise vor, was da so an Bespitzelungen und an Denunziationen gekommen is’. Äh oder ooch die Zeit, wo dann die, um die sechziger Jahre, wo die Mauer gebaut wurde und so was. Aber das GEFÜHL, dass die ANGST hatten, das hat=das hab’ ich gespürt.“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 3 f. 510 Vgl. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 9. 511 Vgl. Ordnung, Kirchenpolitik, S. 433. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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stellten Form der „praktischen Bewusstseinsspaltung“ bewahren und dabei gleichzeitig für die ihrerseits favorisierte christlich-moralische Wertebildung einstehen. Sie waren aufgefordert, auf die Gefahren, die eine abweichende politische Meinung, allein schon verbale Offenheit und Devianz in der DDR mit sich bringen konnte, hinzuweisen. Die Elternhäuser konfrontierten ihre Kinder in den dargestellten Fällen offen mit den möglichen politisch-repressiven Maßnahmen des Systems. Dies hielt sie aber nicht davon ab, einer stets unerschrockenen, konstruktiv politischen Erziehung Genüge zu tun, die religiös motiviert und von sozialethischer Stringenz gekennzeichnet ist.512 Ihre identitätsbildende Absicht ist dabei eng mit einem moralisch verantwortlichem, politischen Handeln verknüpft. Hier werden Wertigkeiten, die sich in einer konsequenten Verweigerung gegen Anpassungsleistungen der DDR-Gesellschaft sowie in einem frühen politischen Engagement zeigen sollen, grundgelegt. „Und in DEM Zusammenhang WUSSTEN wir natürlich auch, und meine Eltern ham da im Gegensatz zu andern Eltern mir das auch immer wieder gesagt, äh dass das gefährlich is’. Also wir wussten=ich wusste auch, dass es Zuchthäuser gibt in der DDR. Ich wusste, dass es dort NICHT bilderbuchmäßig zugeht. Ich hatte selber in der Verwandtschaft äh Leute, die aus unterschiedlichen politischen Gründen dort eingesessen hatten und ohne Zähne und Herzfehler und so was wieder rausgekommen sind. Also das war mir auch vor Augen. Und selbst wenn uns Kinnern das nich’ so— GANZ plastisch gesagt wurde, wir ham ’s dann doch mitgekriegt. Und meine Eltern ham sich viel gewagt, indem sie ’s NICHT vor mir verborgen ham. [...] Ich hab’ das eben ooch ’n bisschen vorgelebt gekriegt, dass man sich deswegen nich’ verstecken muss. Und bin äh ... Ist sicherlich auch diese lutherische Prägung auch ’ne ganz wichtige, deswegen halt dann die Protestanten dieses »Hier stehe ich, Gott helfe mir, ICH KANN NICHT ANDERS«, gell. Also diese Geschichte hat=hat ooch schon etwas in uns bewirkt, dass man sagt, also äh ziviler Ungehorsam is’ wichtig, dass man sagt, man DARF sich dem nich’ beugen, wenn das Gewissen anders ist.“513

In diesem Fall wird das gesellschaftlich verantwortliche Handeln spezifisch in den lutherischen Kontext von individueller Gewissensfreiheit gestellt und in seiner Funktion als politischer Instanz zugleich legitimiert.514 Was die Funktion des Protestantismus in diesem Punkt in der DDR anbelangt, argumentiert Neubert ebenfalls in diesem Sinne, indem er innerhalb einer Betrachtung der 512

513 514

Vgl. auch diese Wahrnehmung des MfS zu den kindlichen Prägungen des Herrn Kunze im ersten Sachstandsbericht zur Erstellung einer Operativ-Vorlaufakte: „[Kunze] stammt aus einer Beamtenfamilie, die sehr religiös eingestellt sind [sic], was sich auch auf den [Kunze] durch die entsprechende Erziehung übertrug.“ MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 1109/71, Bl. 25). V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 3. Frau Simons Agieren vollzieht sich, folgt man Grafs Überlegungen zur Bestimmung der protestantischen politischen Persönlichkeit, hier im Sinne typisch protestantischer Handlungsweisen: „Protestantische Frömmigkeit beinhaltet in allem Gewissensernst spezifische politische Gefährdungspotentiale [...] Die protestantische Persönlichkeit ist in sich widersprüchlicher, zerrissener als die des institutionendefinierten Katholiken: himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, beides eng miteinander verknüpft, aber immer geprägt von einem extrem hohen religiös moralischen Anspruch.“ Graf, Deutscher Protestantismus, S. 101. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Konfliktfelder von protestantischen Grundüberzeugungen und kommunistischen Ansprüchen festhält, dass der „Protestantismus aus sich heraus – trotz aller Anpassung und Kollaboration vieler seiner Vertreter – sehr wohl die Kraft hatte, Widerstand und Opposition zu begründen und für deren Umsetzung die geistigen Energien freizusetzen.“515 Die vorgestellte Position stellt aber in ihrer dezidierten Ausrichtung innerhalb des Typus eine Besonderheit dar, bildete sich für die anderen Personen des Typus doch das aktuelle gesellschaftliche Handeln in erster Linie aus einem allgemein christlich untermauerten, vor allem aber freiheitlich-demokratischen Grundverständnis, das die ‚Legitimität der Freiheit‘ einzufordern wagte.516

6.2.1.2 Schule, Ausbildung und „Offene Arbeit“ – Entfaltung systemkritischen Bewusstseins im Jugendalter „Erst mal sind wir ja durch die ganze Schule intensiv immer, in den fünfziger Jahren ist das ja gradezu kampagnenartig über das Land gegangen, also das Jahr aus=in dem ich aus der Schule geschmissen wurde, ’58, war so ’n Kampagnenjahr. ’53 war ’n ähnliches Jahr, nicht nur wegen des 17. Juni, sondern auch sonst sind da also nicht so viele Leute zur Oberschule zugelassen worden oder zum Studium, weil da ZUNÄCHST erst mal die Kurbel angezogen worden war. Das hab’ ich, auch wenn ich da ja noch äh in ’nem zarten Alter eigentlich doch schon mit wahrgenommen. [...] Und das hat bei mir dann in, eigentlich in den sechziger Jahren dann auch mehr oder mehr, das hing auch noch mit Wehrpflicht und solchen Dingen zusammen, dass ich mir Vorstellungen machte, was würde ich denn selber für ’ne äh äh politische Linie für gut halten, weil ja ich, wie viele DDR-Bürger DAS System, was hier herrschte, nicht als eins empfand, an dem ich mitwirken kann.“517

In der Konfrontation mit dem sozialistischen Ideologisierungsfeldzug in der Schule bzw. nach ersten, ernsthaft lebenslaufprägenden Konflikten innerhalb dieses institutionellen Rahmens wird einerseits ein systemfeindliches Denken provoziert, andererseits das Einsetzen einer konstruktiv alternativen, politischen Reflexion benannt. Systemtheoretische Aspekte und die aus der realsozialistischen Erfahrung gebildeten Überlegungen stellen die Frage, wie eine politische Partizipation im SED-System aussehen könnte. „[...] ich denke, dass diese reine Idee einer gerechteren Gesellschaft, die ja diesem Sozialismus irgendwann mal zugrunde gelegen hat, schon sehr faszinierend ist, auch für junge Menschen. Und man natürlich in der Lage ist zu sagen, auch als nachdenkender 515 516

517

Neubert, „Von der Freiheit ...“, S. 232. Auf die weitreichende fachwissenschaftliche Debatte um die Funktion von Religion und Rolle der Kirchen in Deutschland, insbesondere der hier thematisierten Entwicklungen des Protestantismus in der DDR kann in diesem Kontext nicht ausreichend eingegangen werden. Aus diesem Grunde sei einführend verwiesen auf Pollack, Funktionen von Religion und Kirche, S. 64–94 und Kleßmann, Protestantische Kirchen, S. 441–458. V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 5 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Mensch, dass das schon en gutes System ist, aber es müsste noch dies und jenes geändert werden. Bloß, da war ja denn nichts.“518 „Also ich denk’ so ungefähr, eigentlich seit Konfirmationszeiten hat mich Politik immer interessiert. Ich hab’ das eigentlich immer als Mangel empfunden, dass ich mich politisch nicht entfalten kann, wenn ich im Westen aufgewachsen wäre, wäre ich vielleicht tatsächlich richtig in de Politik reingegangen.“519

Auffälliges Moment ist hier zudem, dass die biographische Rekonstruktion aus einem besonders religiös geprägten Verständnis erfolgt. Das politische Interesse, das von diesem stark initiiert ist, verlagert sich von der Vorstellung auf der sozialethisch gewachsenen Grundlage, hin zum Gedanken politisch auf einer staatlich höheren Plattform engagiert zu sein, letztlich resignierend auf eine andere, nämlich innerkirchliche Basis. In diesem, für die spätere Entwicklung immer bedeutender werdenden Frei- und Schutzraum Kirche entwickelte sich von nun an ein Milieu, das vorerst auch eine thematisch spezifischere, das realsozialistisch Politische zunächst ausklammerte. Über die Schaffung eigener Themen und Inhalte verankerte sich ein alternatives Gedankengut und Selbstverständnis, das sich vordergründig eher sozialethisch als politisch definierte und innerhalb kirchlicher Jugendgruppen organisieren lernte. Politische Reglementierung – Ausschlaggebende Momente für eine kircheninterne (Berufs-)Orientierung: Diese stark von den Eltern vorgelebte, frühzeitige Orientierung außerhalb des gesellschaftlichen Raumes, der von Staat und Partei besetzt war, brachte zu allen Zeiten der DDR Differenzen mit sich. Für Herrn Spengler, der Mitte der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre zur Schule ging, äußerten sich diese besonders drastisch durch die Flucht der älteren Schwester in die BRD. Sie war ebenfalls innerhalb ihres kirchlichen Engagements in Konflikt mit dem System geraten. Sogleich übertrug sich ihr politisches Handeln auch auf die schulische und berufliche Laufbahn der jüngeren Geschwister. Nach dem Schulverweis erhielt Herr Spengler von staatlicher Seite keine Möglichkeit, seine Schulbildung fortzusetzen. Ab diesem Zeitpunkt gewann er mehr und mehr Zugang zur Kirche als einem Raum, der weniger staatlich gleichgeschaltet war und öffentlich funktionierte, aus dessen Blickwinkel aber auch immer transparenter wurde, „wie Dinge vor sich gehen und das nich’ alles äh nachvollziehbar ist. Dass also nicht diejenigen, die dann, als meine Mutter versuchte sich zu beschweren, äh ihr gegenübertraten, die eigentlichen Strippenzieher sein können, sondern dass da Fäden sind, die ich nie zu sehen kriege.“520 Dass das staatlich kontrollierte Agieren auch von einem eigens geschaffenen Apparat gelenkt wurde, der Strukturen eines Sicherheitsdienstes im klassischen Sinne beinhaltete, sind Einsichten, die aus diesen ersten Auseinandersetzungen resultierten und lebensprägend für den Alltag in der DDR blieben: „Also das ist für mich ’ne Erfahrung, die sich an verschiedenen Stationen 518 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 7. 519 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 41. 520 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 4. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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meines Lebens festgemacht hat, so dass, also ich ÜBERHAUPT nich’ zu denen gehöre, die irgendwann am Ende der DDR oder gar danach äh mit Erschrecken aufgewacht wären.“521 Einzig das evangelische Proseminar eröffnete Herrn Spengler die Möglichkeit im Rahmen der Kirche berufliche Perspektiven aufzubauen. Auf einem der drei kirchlichen Privatgymnasien vermittelte man ihm, ebenso wie auch anderen vom Staat benachteiligten, christlich orientierten Jugendlichen eine klassische humanistische Bildung; diese kirchliche Bildungsnische sollte zu einer Keimstätte alternativen Denkens in der DDR avancieren.522 Eine solche private Schulausbildung war möglich, da die Kirche in der DDR die Freiheit besaß, als ‚Subsystem‘ innerhalb ihrer Organisation relativ autonom zu agieren. Ihre „seelsorgerischen, kulturellen, karitativen und sozialen Einrichtungen, ihre Ausbildungsstätten, Archive, Verlage sowie ihr Pressewesen unterlagen zwar politischen, rechtlichen und materiellen Beschränkungen“523, trotzdem war die Kirchenorganisation und -verwaltung grundsätzlich nicht in das System des administrativen Sozialismus eingebunden. Mit der 1968 verabschiedeten Verfassung leitete die DDR-Regierung jedoch auch eine neue Phase der Kirchenpolitik ein. War es die bis dahin erfolgreiche Absicht gewesen, den Einfluss von Kirche und Religion im Allgemeinen gesellschaftlich weiter zurückzudrängen, ging es jetzt vornehmlich darum, die östlichen Landeskirchen von der gesamtdeutschen Bindung loszulösen. Im Falle der zahlenmäßig unbedeutenderen katholischen Kirche wurde dieses Bestreben aufgrund der Entscheidungsgewalt des Vatikans äußerst schwierig, die enge Verflechtung der evangelischen Landeskirchen im Verbund der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD) konnte hingegen auf DDR-Ebene gelöst werden. Die Trennung von den westdeutschen Kirchen erfolgte schließlich auch aufgrund ihrer geschwächten Position nach Annahme der Verfassung von 1968. Nach Absatz 2 des Artikels 39 war die bisherige Zusammensetzung der EKD aus Vertretern der ost- und westdeutschen Kirchen offiziell nicht mehr möglich. Sie bedeutete nun quasi einen Verstoß gegen dieselbe. Die ehemalige Organisationsstruktur wurde damit kirchenrechtlich völlig verändert und gleichzeitig funktionsuntüchtig gemacht. Unter dem starken Druck einer weiteren Spaltung auch innerhalb der acht Landeskirchen lösten sich im Juni 1969 die östlichen evangelischen Landeskirchen der DDR vom EKD und gründeten gleichzeitig den „Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ (BEK).524 Diese Phase der DDR-internen kirchlichen Neuorganisation beinhaltete auch eine personalpolitische Komponente, so „dass die damals noch existierende ‘Evangelische Kirche in Deutschland’, aus (der) ja dann der Osten zwangsweise ausscheren musste, sagte, jetzt müssen wir unbedingt Juristen ausbilden“; diese bot Herrn Spengler die Chance „zur kircheninternen juristischen Ausbil521 522 523 524

V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 4. Kleßmann, Sozialgeschichte, S. 31. Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 28. Vgl. Besier, SED-Staat und Kirche. Vision, S. 21–34. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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dung.“525 Sein schulischer wie beruflicher Weg innerhalb der evangelischen Kirche, forciert durch den unvermittelten Verweis von der staatlichen Schule, führte zur Ausbildung eines besonders abgegrenzten, stets von einer „innergesellschaftlichen“ Außensicht begleiteten, kritischen Bewusstseins. Diese biographische Grundsituation spiegelt sich in ähnlicher Weise bei Frau Simon wie auch bei Frau Manzel wider. Nicht aber aufgrund des Berufes der Eltern wie dies in Typus I besonders deutlich geworden ist, verweigerte man ihnen den Zugang zur Erweiterten Oberschule, allein die kirchliche Bindung wurde zum ausschlaggebenden Moment.526 „[...] im Grunde meine erste wirkliche Konfrontation is’ gewesen, als ich in die Oberschule gegangen bin. [...] So, und dann wurde an mich das Anliegen gestellt seitens der Lehrerschaft aus der Kirche auszutreten, dann könnte ich weiter in die Oberschule gehen oder ich bleibe in der Kirche und dann muss ich von der Schule gehen. So. Und dann war ich damals keineswegs so äh, dass ich die Kirche für wirklich wichtig gehalten hab’, aber ich fand das ’ne derartige Unverschämtheit, also so ’ne Forderung zu stellen, dass ich gesagt hab’, »Fällt völlig aus«, und damit bin ich dann abgegangen. Was die üble Folge hatte, dass ich als ältestes Geschwister, also es meinen Geschwistern verdorben hab’, das heißt also von denen ist überhaupt erst gar niemand zugelassen worden zur Erweiterten Oberschule. Das hat also ziemlich heftige Folgen gehabt, diese eine Weigerung, aber ähm letztlich hab’ ich mich ganz wohlgefühlt dabei, ich hab’ dann natürlich nicht, kein Abi gemacht, nich’ studiert, das, was ich immer wollte.“527

Ihr äußerst konsequentes Verhalten macht aber zugleich die weitreichenden Wirkungen für ihre jüngeren Geschwister, die quasi einer Form von Sippenhaftung unterworfen werden, deutlich. Zunächst aber ist den eigenen beruflichen Verwirklichungswünschen eine Grenze gesetzt. Der unvermittelte Abgang von der Schule bringt nun selbst bei der Wahl eines Lehrberufs erneute Barrieren mit sich. Bewusst ins Spiel gebrachte, administrative Schikanen wirken sich zusätzlich negativ auf die bereits äußerst eingeschränkte, berufliche Laufbahn aus. „[...] ich’ hab’ zwar die zehnte Klasse fertig gemacht, aber äh man musste sich doch für ’n Beruf immer bewerben, ich glaube, ’n halbes Jahr vorher, vor Schulschluss. Musste man so zur Berufsberatung gehen und so alles gehen. Und denn habe ich von der Schule aber die Unterlagen nicht ge__ bekommen, die ham die mir nicht gegeben. Und dann bin ich mal hingegangen, hab’ gesagt, »Ich brauch’ das für die Berufsberatung«, »Ja, ja kriegst’ noch später«, und so. Jedenfalls als ich dann endlich hingehen konnte, gab ’s 525 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 4. 526 Für Frau Simon wird ihre Weigerung neben der Konfirmation auch die staatliche Jugendweihe zu vollziehen entscheidend: „Deswegen hab’ ich also auch keine Delegierung bekommen [...] zur Erweiterten Oberschule, um das Abitur zu machen. Ich war die Einzige, die nur Konfirmation gemacht hat. Ich war gar nich’ so wahnsinnig fromm, na ja vielleicht damals doch schon, aber das war auch ’ne Protesthaltung schon. Nich’, also dieser Schwur da für ’n Staat ODER BEIDES, das ging für mich nich’. [...] Dass ich äh beides gemacht hätte, das war für mich Heuchelei. Ich kann nich’ äh Jahwe dienen und BAAL. Das geht einfach nich’. Und äh von daher hab’ ich=war ich also die einzige in der Klasse, die NUR Konfirmation gemacht hat und das auch durchgestanden hat.“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 4. 527 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nur noch zwei Was. Ham die dann gesagt, »Entweder du wirst Transportarbeiter oder du wirst Krankenschwester. Kannste dir raussuchen. Was anderes ham wir nich’ mehr.« Hab’ ich gedacht, »Eh’ ich jetzt mein Leben lang Gabelstapler fahre, werd’ ich lieber Krankenschwester.«“528

Diese disziplinierenden Maßnahmen ziehen sich wie ein roter Faden durch das weitere berufliche Fortkommen, das unter systematischem Einsatz der Partner des operativen Zusammenwirkens gesteuert wird. Nur mit kirchlicher Hilfe gelingt es Frau Manzel, sich den repressiven Strategien der staatlich gelenkten Disziplinierung zu entziehen. Denn nachdem sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester abgeschlossen hat, versucht sie das Abitur nachzuholen. Auch hier wird ihr die so genannte Delegierung vom Arbeitgeber versagt. Erst der Arbeitsplatzwechsel in ein katholisches Krankenhaus bringt schließlich das notwendige institutionelle Empfehlungsschreiben.529 Ähnliche Parallelen lassen sich bei Frau Simon nachzeichnen. Nach einer nahezu abgeschlossenen Berufsausbildung, bei der man „derartig politisch gedrillt wurde“530, um im Anschluss ein Facharbeiterstudium ablegen zu können, entscheidet sie sich aufgrund der politisierenden Erfahrungen konsequent gegen diesen bisher angestrebten Weg. Ihre Ablehnung gegen eine Politisierung der Berufsbildung tut sie demonstrativ kund. Konsequent tritt sie vor Abschluss ihrer Ausbildung aus der FDJ aus und erhält nur auf schwierigen Umwegen eine Zulassung zur Krankenschwesterausbildung. Im Gegenmodell zur staatlich verordneten Jugenderziehung, bei alternativen Jugend- und Künstlergruppen innerhalb der evangelischen Kirche sucht sie eine neue Orientierung. „Und äh der Gerhard Schöne hat dann so=so Untergrund-Kabarett-Programm damals laufen gehabt. Bei dem hab’ ich in der Wohnung gehockt und die ersten BiermannLieder gehört, äh die dann eben so live mitgeschnitten waren in Biermanns Wohnung. ((lachend)) [...] Und das hat mich dann immer mehr in diese Richtung ... Dann kam die Friedensbewegung da rein, diese Geschichten. Fing an, dass ich das ... Äh ich wusste natürlich immer, weil das mit der Stasi is’, hier gibt es jemand, der auf mich aufpasst, und die=die Lehrer passen ooch off mich auf und äh äh wir mussten dann immer ... Aber ich hab’ mir nichts draus GEMACHT, ’s war mir=’s war mir grad egal. Also muss ich sagen, weil die konnten mir ja gar nich’ so— viel. Sie hätten mich vom Abi ausschließen können. Aber da ich eh schon nich’ mehr studieren wollte, war ’s mir AUCH egal. Und äh das is’ so, Michael Beleites hat das mal so schön gesagt, wenn man nichts mehr zu VERLIEREN hat, is’ man sehr frei. Und deswegen hab’ ich mich dann GANZ frei gemacht oder versucht frei zu machen, indem ich dann wirklich gesagt hab’, »Ich halt’ das nich’ mehr aus. Ich tret’ jetzt aus der FDJ aus.«“531

Ein typisches Moment für die berufliche Orientierung, die sich aus den Erfahrungen in Kindheit und Jugend speist, ist schließlich eine Konzentration auf den kirchlichen Bereich. Frau Simon sucht sich letztlich in der Funktion als Hausmutter eines diakonischen Altenheims ihren beruflichen Weg. 528 529 530 531

V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 3. V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 3 f. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 5. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 5. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Die professionelle Einbindung in kirchlichen Einrichtungen brachte für die InterviewpartnerInnen mehrheitlich auch auf privater Ebene eine starke Hinwendung zu Themen, die einen sozialethisches Engagement forderten. Das Informations- und Diskussionsdefizit an Inhalten, denen in der ‚öffentlichen Debatte‘, auf der offiziellen gesellschaftlichen Ebene kein Rahmen eingeräumt wurde, fand hier seinen Ausgleich. Seit Beginn der siebziger Jahre schuf man für jene in der zuvor erwähnten „Offenen Arbeit“ in den evangelischen Kirchen einen eigenen Raum. Diese unter dem Dach der Kirche agierenden Gruppen532, die sich mehrheitlich aus Mitgliedern der evangelischen Jungen Gemeinde und der Studentengemeinde zusammensetzten, verdichteten ihr thematisches Augenmerk aber zunächst in so genannten Friedenskreisen. Bis Mitte der achtziger Jahre hatte dann eine inhaltliche Kontinuität und personelle Festigung zur Bildung konkreter Friedens-, Umwelt-, Menschenrechts- und Frauengruppen geführt. Für den Beginn dieser Gruppenbildungen ist aber keine grundsätzlich klare Trennlinie zwischen rein kirchlichen und von ihr losgelöst politisch alternativen Gruppen erkennbar. Schließlich ist deren ursprüngliche Bildung auf gemeinsame private Kontakte und informelle Netzwerke, insbesondere innerhalb des kirchlichen Bereiches zurückzuführen. Der unmissverständlich politische Ansatz, auch im Sinne der Ausbildung alternativer Lebensstil- und Kulturkonzepte, ist für beide Seiten gleichermaßen und untrennbar zu beobachten. Hinzu kommt der auch für diesen Typus erkennbare generationsspezifische Entstehungshintergrund; er spielt für die Bildung der politisch alternativen Gruppen eine besondere Rolle und erklärt, was Frau Manzel in diesem Kontext mit der Aussage „Ich bin ’n richtiges DDR-Kind“533 deutlich machen möchte. Denn „[i]n den achtziger Jahren meldete sich eine Generation zu Wort, die im Schatten der Mauer erwachsen war“534 und die trotz primärer Sozialisationsunterschiede auf einen gemeinsamen Fundus an Erfahrungen wie der „Abwesenheit materieller Not, dem Ausgeschlossensein von Entscheidungen und wirklichen Gestaltungswirklichkeiten, dem Zustand des Eingesperrtseins als Normalität und schließlich einer gewissen Eintönigkeit und Monotonie der Öffentlichkeit in der DDR“535 zurückgreifen konnte. Letztendlich ausschlaggebend ist, dass vor allem von dieser Generation die entscheidende bürgerbewegende Dynamik ausging, die sich bis 1989 in nahezu 150 kirchlichen Basisgruppen formierte und die insofern auch stark auf die in der Kirche engagierte ältere Generation einwirken konnte.536 Diese wiederum hatte innerhalb ihrer personellen Verankerung und ihres unabhängigen intellektuellen Potenzials die Möglichkeit, der jüngeren einen systemunabhängigen Bereich zu eröffnen, der für 532 Zu Bildung und Selbstverständnis dieser Gruppen vgl. ausführlich Kap. 6.2.2, das diese bsph. in konkreten Zusammenhang mit den Aktivitäten der InterviewpartnerInnen stellt. 533 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 27. 534 Ulrike Poppe zitiert in Rink, Ausreiser, S. 70. 535 Ebd. 536 Vgl. Pollack, Politischer Protest, S. 137–140. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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die Ausformung politischer gemeinsamer Zielstellungen den notwendigen schützenden Freiraum bot. „Also ich war äh in [Ortsname] die ganzen Jahre über, äh erst als ich hier zweiter Jurist war, [...] haben wir die ganze Zeit immer etwas gemacht, was dem Staat mit Sicherheit nicht gefallen hat, dass wir Leute, die uns Pfarrer oder Jugendwarte herschickten, die ein Problem haben, rechtlich beraten haben. Ja, das war kostenlose Rechtsberatung, so genannte, wie der Staat das Parallele nannte. [...] Aber das haben wir die ganzen Jahre über gemacht und zwar im Grunde nicht ganz ohne Risiko. Und wir hatten natürlich in allen Phasen, wenn=wenn kirchliche Mitarbeiter, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich, egal, Probleme hatten, insbesondere in der Jugendarbeit bei Rüstzeiten und so was, da mussten wir sagen, »Also das könnt ihr euch leisten, das könnt’ ihr nicht leisten.«“537

Erst Mitte der achtziger Jahre wurden durch die Differenzierung der inhaltlichen Schwerpunkte auch Unterschiede in der zuvor eher gemeinsamen Ausrichtung deutlich, die – so Rink – von diesem Zeitpunkt an zu einer weniger verzahnten Zusammenarbeit und deutlichen Loslösung einiger Gruppen aus dem Schutzraum der Kirche führte.538 Seine sich anschließende These, dass sich also eine prätentiöse, vor allem personelle Trennung in der thematischen Arbeit herausbildete, konnte von den Aussagen der InterviewpartnerInnen so jedoch nicht gestützt werden.539 „Mauerbau“ und „Teilung“ als identitätsstiftende Momente? – Eine generationsspezifische Trennungslinie: Innerhalb des vorliegenden Typus bestätigt sich, um auf die eben thematisierte Generationsspezifik zurückzukommen, diese Trennlinie ebenfalls. Einerseits haben wir es hier mit der Nachkriegsgeneration, also den um das Kriegsende Geborenen zu tun, andererseits mit jenen, die gerade, als die Mauer errichtet wurde, in die DDR hineingeboren wurden. Diese altersmäßig unterschiedliche Verteilung gliedert den Typus auch insofern auf, als sie die Positionen zu einem wiedervereinigten Deutschland bedingt. Erstaunlicherweise hat diese Grundhaltung aber für das vor allem aus der religiösen Überzeugung herrührende, politische Engagement in der DDR keine Auswirkungen dahingehend, dass sich die Aktivität der in den vierziger Jahren Geborenen letztlich besonders oder ganz konkret auf das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands konzentriert hätte. Dennoch ist aufgrund der zeitlich verschobenen Sozialisation ein grundsätzlich unterschiedliches, insbesondere emotiona537 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 15. 538 Vgl. Rink, Ausreiser, S. 55–57. 539 Vgl. die Aussagen von Frau Manzel und Frau Simon:„Das heißt ja nich’, dass die Frauen, die in dieser Frauengruppe waren, waren ja die allermeisten noch in anderen Gruppen, das heißt, es war ja nich’ die einzige, wo man hingegangen ist. Also ich weeß gar nich’, ich glaube, es ist nich’ mal EINE Frau dabei gewesen, die wirklich nur dort mitgemacht hat. Alle anderen waren ja auch noch in anderen, in gemischten Gruppen mit dabei.“ V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 12; „Und deswegen ham wir uns dann so ’n bisschen gesplittet und ham gesagt, ja also hier mehr Umwelt und da mehr Frieden. Und da gab ’s sogar ’ne kleine Frauengruppe, die aber gleichzeitig, die Frauengruppe die waren vier Leute, gleichzeitig waren wir ooch Umwelt- und ooch Friedensgruppe, ja.“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 12. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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les Verhältnis für diese Thematik erkennbar geworden, das auch unter den Aspekten von Heimat und nationaler Identität besondere Betrachtung verdient. In der Schilderung von Herrn Spengler werden die Einstellungen beider Generationen durchaus deutlich. „[...] das ist für mich seit jeher und meine Kinder könnten ’s Ihnen bezeugen, die ham auch früher darüber gelacht, eine richtige Sehnsucht gewesen, vielleicht bin ich einer der fossilen äh Wesen, eines der fossilen Wesen, das also dieses Vaterlandsgefühl oder diese Sehnsucht nach Vaterland hat. Das war für mich immer da. Und das war für mich, die Kinder sagten ((lachend)), wenn se mich veräppeln wollten, »Das passiert dann, wenn der Vater endlich die Wiedervereinigung erreicht hat«, oder so. Das wussten se und da ham ooch Freunde so gelegentlich ihre Scherze damit getrieben. Konnten das natürlich nur, weil jeder, der eigentlich ein Realist sein wollte, eigentlich sagt, »Das ist doch völlig aus der Welt.« Aber da muss ich sagen, das hat für mich immer gegolten und davon hab’ ich nie abgelassen und das war für mich wirklich eine traumhafte Erfüllung.“540

Nach dem Mauerbau bildete sich bei den Personen hier, im Gegensatz zu jenen des Typus I, für welche der 13. August 1961 mehr als eine katalysierende Wirkung hatte und die Unbedingtheit des Verlassens der DDR nur forcierte, eine Grundhaltung, die zunächst die Abläufe der Geschehnisse rational zu erfassen suchte: „Das Begreifen von Vorgängen war da, das hieß nicht das Billigen“. Diese Analyse weitet sich zu Überlegungen aus, in denen man dieses an sich ungerechtfertigte Handeln „dem Staat in seiner Schwäche als eines seiner ihm nur noch übrig gebliebenen Mittel äh grad zugestanden hat. Nicht weil man ’s billigt, aber wenn sie den Staat als solchen vor dem totalen Ausbluten bewahren wollten, mussten se ’s wohl machen, nich’.“ Die konkrete Auseinandersetzung mit den systemimmanenten Ursachen für eine solche „Perfektion der Abschottung“ führte aber andererseits auch dazu, dass man bald die „Dinge schon fast naturgesetzlich äh wahrnahm“541, wie es für die später geborene Generation dann typisch war. „Dass das Bewusstsein äh sich einstellt, die Zeiten werden uns vielleicht bis zum unserem Lebensende so begleiten wie sie dann in der DDR waren, das ist ja erst ’ne Erfahrung, die sich nach dem Mauerbau allmählich einstellte. [...] Und das hat bei mir relativ früh eingesetzt und das hat dann in späteren DDR-Zeiten, dann auch zu der Reflexion geführt, äh gibt es vielleicht Elemente an der DDR, die ich akzeptieren könnte und das hat ’s durchaus gegeben, vor allen Dingen unter dem Aspekt, dass man sagt, das is’ ’ne Staatsform, die dich möglicherweise lebenslänglich begleitet und vielleicht deine Kinder und Enkel auch noch [...].“542 540 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 26 f. 541 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, alle vorausgeh. Zitate S. 32. 542 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 1, 6. Vgl. ebenso: „Also ich habe immer geglaubt, dass Deutschland wieder mal einig sein wird. Ich hatte eine Karte, äh ‘Die beiden deutschen Staaten’ in meinem Arbeitszimmer hängen, von Freiherr von Stein, hatte ich so ’nen kleinen Zeitungsartikel, den ich da draufgeklebt hatte, »Es gibt nur ein unteilbares Deutschland.«“ V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 23. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Diese Wahrnehmung entkräftet auch den der DDR-Opposition später oftmals zum Vorwurf gemachten Umstand, dass sie niemals ernsthaft die nationale Frage diskutiert bzw. zum politischen Programm erhoben habe. Nach außen hin ließ dies eine ignorante und ablehnende Haltung gegenüber der gesamtdeutschen Frage vermuten.543 Dennoch darf nicht davon ausgegangen werden, „dass die deutsche Frage für die Oppositionellen tabu war“. Sie lag schlicht und einfach außerhalb des realistisch vorstellbaren Handlungsrahmens und der unmittelbaren Lebenswelt nicht nur der jüngeren, politisch aktiv werdenden Generation und konnte insofern nicht ins zentrale Blickfeld gelangen:544 „Also das war nicht das, was wir wollten. Ich will damit nicht sagen, dass ich nicht glücklich drüber bin, dass es denn so gekommen is’, aber das war ooch ähm das war ooch jenseits aller Vorstellungskraft, schlicht und einfach. Also nich’, dass man dagegen gearbeitet hätte, ja och Gott, das war ja so was, ja man stellt sich ja ooch nich’ vor, auf ’m Mond spazieren so zu gehen. Es war eben etwas, was nich’ geht. Und deswegen spielte das keine Rolle.“545 Das lebensbegleitende Moment einer gesamtgesellschaftlichen Abschottung, die vertagte Entscheidung zur Lösung der deutschen Frage, die auch aufgrund der bundesrepublikanischen Entspannungspolitik vorerst eine eindeutige Richtung vorgab, ließ die in den sechziger und siebziger Jahren in einem realsozialistischen Mikrokosmos aufwachsende Generation ihren kritischen Blick nicht national nach außen, sondern primär abgegrenzt auf die innere Verfassung des diktatorisch geprägten SED-Systems werfen. „Gewiß spielten bei der Unterbewertung nationaler Identität auch Einflüsse linker Denktraditionen eine Rolle“.546 Die Formulierung der Inanspruchnahme vorenthaltener, individueller Freiheiten war vorerst, wie dies in der konträren Ausrichtung besonders prononciert auch in Typus I erkennbar wurde, auf einen innergesellschaftlichen Diskurs angelegt, der aber räumlich nahezu nicht antizipiert wurde. Die Existenz der DDR und ihrer herrschenden Machtverhältnisse war seit dem Mauerbau als historisches Faktum nicht mehr zu leugnen; dieses gab einmal mehr einen äußerst beschränkten Handlungshorizont vor, der nach dem Kahlschlag von 1961 für die Entwicklung neuer Formen individuell resistenten und kollektiv oppositionellen Handelns schwierige Voraussetzungen schuf. Es dauerte schließlich mehr als ein Jahrzehnt, bis sich in der DDR im Dickicht staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle und Überwachung eine erneuerte, informelle Teilöffentlichkeit herausbildete, die stetig eigene Kommunikationsformen und Netzwerke für eine tragende Opposition aufbauen konnte. 543 Vgl. Mehlhorn, DDR-Opposition, S. 183–188. 544 Vgl. vorausgeh. Zitat und Argumentation aus dem direkten Umfeld der oppositionellen Gruppen bei Ulrike Poppe, die mit dieser These und Frau Manzels Äußerungen konform geht. Poppe, „Der Weg ist das Ziel“, 266–269, Zitat S. 267. 545 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 7. 546 Poppe, „Der Weg ist das Ziel“, S. 266. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Das zur alltäglichen Normalität gewordene Dasein „im Schatten der Mauer“, welche – wie jede andere alltagsweltliche Erfahrung dies beinhaltet – die Schärfe der Wahrnehmung trübte, verrückte auch den Blick auf ihre eigentlich spiegelbildhafte Bedeutung, was die gesellschaftlichen Zustände in der DDR betraf. Diese Wahrnehmungseintrübung diente aber gleichfalls als schützender Abwehrmechanismus, der die gesellschaftliche Abgeschlossenheit in ihrer Dimension milderte und sie über viele Jahre in ihrer scheinbaren Unabänderlichkeit erträglich machte. Eine solche Quarantänesituation konnte aber nur solange vorhalten, bis letztlich der Zeitpunkt eingetreten war, der im Zusammenspiel verschiedenster innen- wie außenpolitischer Zusammenhänge den Anstoß für die Formierung und direkte Auseinandersetzung politisch alternativer Gruppen mit dem SED-System gab und langfristig auf eine ganzheitliche Veränderung der Gesellschaft im Sinne einer Pluralisierung und Demokratisierung hinwirkte: „Also die Maueröffnung, das war wirklich wie äh ene, ach wie soll ich sagen, als die Nachricht kam, hab’ ich gemerkt, erst dann hab’ ich gemerkt äh, wie sehr mich das bedrückt hat, dieses Eingesperrtsein. Weil man hat das ja immer, ich mein’ ja, wir ham ja wirklich direkt am Grenzübergang gewohnt in [Ortsname]. [...] Das heißt also, man hat immer die Grenze vor Augen, durch die man nicht durfte und hat ’s aber immer irgendwohin getan, wo man nicht dran gedacht hat. Ja, als dann auf einmal die Grenze nich’ mehr war, da hat man gemerkt, wie viel man immer weggesteckt hat [...].“547

6.2.2 Loslösung aus verordneter Öffentlichkeit und Ausbildung einer Protesthaltung548 Das vorausgehende Kapitel hat dargelegt549, inwieweit das Aufwachsen in der DDR durch staatliches Bemühen weitestgehend vorstrukturiert und geregelt wurde und in welchem Maß institutionelle Reglementierungen insbesondere die berufliche Orientierung negativ beeinflussten. Letztlich hat dieser Einblick 547 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 26. 548 Protest definiert sich hier allg. im Sinne Luhmanns als Kommunikationen, die „an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen. [...] Die Protestkommunikation erfolgt zwar in der Gesellschaft, sonst wäre sie keine Kommunikation, aber so, als ob es von außen wäre. Sie äußert sich aus Verantwortung für die Gesellschaft, aber gegen sie. [...] Die Peripherie protestiert – aber nicht gegen sich selbst. Das Zentrum soll sie hören und dem Protest Rechnung tragen.“ Luhmann, Protestbewegungen, S. 204 f.; Hervorhebung im Original. Pollack, Luhmanns Definition folgend, hält als spezifisch kennzeichnend für die Protestformen der politisch alternativen Gruppen in der DDR „eine Mischung aus Anpassung und Abweichung“ fest, welche „kalkulierte Normübertretung, dosierte[n] Widerspruch, die doppeldeutige Abweichung, die auch als harmlose Unachtsamkeit oder gar als staatsfeindlicher Akt gewertet werden konnte“, beinhaltete. Pollack, Politischer Protest, S. 159. 549 Vgl. ausführlicher zu den Bedingungen der politisierten Sozialisation in der DDR Kap. 6.1.1 und 6.1.2 bzw. losgelöst von den empirischen Befunden der Arbeit allgemein Kap. 4.1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gleichermaßen bestätigt, wie drastisch die allseitige Politisierung der jugendlichen Lebenswelt auf die individuelle Biographie einwirkte, insbesondere sobald symbolische Loyalitätsbekundungen und Konformität dem Staat gegenüber öffentlich verweigert wurden. Verflochten ist damit die seit der Kindheit bestehende, enge Bindung im innerkirchlichen Raum und die zugleich alternative politische Sozialisation, die schon früh erste Konfrontationen mit staatlichen Machtstrukturen nach sich zog; schließlich nährte sich dieses gegen den Staat gerichtete Handeln aus dem frühen Grundverständnis in einem diktatorischen Staatsgebilde aufzuwachsen. Doch entstand das für diesen Typus charakteristische, politisch engagierte Handeln nicht allein aus der Tradierung und Erfahrung repressiven staatlichen Agierens. „Damit Protest zustandekommt, müssen zur Unterdrückungserfahrung weitere Faktoren hinzutreten. Wichtig sind in diesem Zusammenhang Außenanregungen, geistige Alternativen, alternative Werte und alternative soziale Zusammenhänge.“550 Vor diesem Erfahrungshorizont kam der evangelischen Kirche wiederum ein nicht zu unterschätzender Einfluss zu. Alle hier beteiligten Personen begriffen die Kirche als einen Raum, der außerhalb des vom Staat dominierten Bereichs lag und als einzige Institution im realsozialistischen DDR-Mikrokosmos Möglichkeiten sozialethischen Handelns eröffnete. Insofern repräsentierten vor allem die evangelischen Kirchen die so genannte Gegenöffentlichkeit551, in der „eigene Werte, Normen und Verhaltenstypologien“ entwickelt und realisiert werden konnten. Weil diese Gegenöffentlichkeit zugleich auch „jenseits privater und persönlicher Beziehungen“ funktionierte, die „bei aller noch so engen Kommunikation ein gewisses Maß an Anonymität“ zuließ und ohne elitäre Abschottung allen Interessierten zugänglich wurde, ist innerhalb der Kirchen definitorisch von einer alternativen Form von Öffentlichkeit zu sprechen.552 Schon deshalb gerieten Personen, die sich unter dem Dach der evangelischen Kirchen in der sich formierenden Gegenöffentlichkeit organisierten, leicht ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit. Denn der ostdeutsche Kirchenbund entwickelte sich eigenständiger nach Honeckers Amtsantritt und verstand sich nach der Eisenacher Synode (1971) von nun an als „Kirche im Sozialismus“. Gemäß der programmatischen Formel wollten die Kirchen „in dieser so geprägten Gesellschaft nicht neben ihr, nicht gegen sie“553 agieren, sondern – wie der progressive Erfurter Probst besonders optimistisch formulierte – mit einer „engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus“554 an der gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisch mitwirken. Doch die Phase der erfolgreichen Zusammenarbeit von SED-Kirchenpolitik und Kirchenbund währte nicht lange; das letzte Jahrzehnt war von „Stagnation 550 551 552 553

Pollack, Politischer Protest, S. 146. Vgl. zur ursprünglichen Begriffsbildung die Ausführungen in Kap. 4.1. Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 21. Texte von der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, EPD-Dokumentation 34/71 vom 19. 7.1971, zitiert in Gerlach, Staat und Kirche, S. 88. 554 Falcke, Mit Gott Schritt halten, S. 24. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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und Scheitern“555 bestimmt. Was sich die Kirche aber erhalten konnte, war ihre besondere Rolle innerhalb der institutionell vom SED-System verregelten Gesellschaft. Bereits seit 1978 kam es zu schwierigen Auseinandersetzungen. Die Einführung des Wehrkundeunterrichts als obligatorisches Schulfach leitete die immer stärker werdenden Militarisierungstendenzen in der DDR-Gesellschaft ein. Der IX. Parteitag 1976 hatte diese Orientierung bereits formuliert: „Der Förderung der Bereitschaft und der Fähigkeit aller Bürger zum militärischen Schutz des Sozialismus gehört die ständige Aufmerksamkeit der Partei“. Verwirklicht wird diese auch „durch die sozialistische Wehrerziehung, insbesondere der Jugend, durch die Erziehung zur revolutionären Wachsamkeit“.556 Später sollte sich diese in ihrer extremen Ausformung in der Novelle des Wehrdienstgesetzes 1982 widerspiegeln. Angesichts des NATO-Doppelbeschlusses 1979, der die globale atomare Bedrohung verschärfte, entstand eine weltweit organisierte Friedensbewegung, die ebenfalls in der DDR ihre ganz eigene, unabhängige Ausprägung entfaltete und deren Wurzeln auch in der evangelischen Kirche zu finden sind. Ab 1980 veranstaltete diese zusammen mit den Freikirchen und kirchlichen Basisgruppen landesweit im Jahresrhythmus so genannte Friedensdekaden; zuerst unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“, das von der ikonographischen Umsetzung des prophetischen Bibelspruches „Schwerter zu Pflugscharen“ sinnbildlich getragen wurde.557 Dieses Zeichen entwickelte sich alsdann zum identitätsstiftenden Protestsymbol und bildete ein eigenständiges Phänomen bei den unabhängigen Friedensgruppen in der DDR. Die überregionale Zusammenarbeit bildete eine verstärkte kirchliche Basisgruppenarbeit aus, sie brachte bald programmatische Initiativen, wie zum Beispiel die eines Sozialen Friedensdienstes als Alternative zum Wehrersatzdienst hervor.558 Diese konstruktiven gesellschaftlichen Überlegungen und Forderungen, die eine „weitere Politisierung der Friedensbewegung bewirkte[n]“559, mussten aber letztlich aufgrund staatlicher Maßnahmen und innerkirchlicher Differenzen scheitern. Sie wurden auch infolge der Durchsetzung 555 Vgl. die folgenden Ausführungen bei Ordnung, Kirchenpolitik, S. 439–442. 556 Programm der SED. In: Protokoll des IX. Parteitages der SED, Band 2, S. 256. 557 „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.“ (Jesaja 2, 4); vgl. Wolle, Heile Welt der Diktatur, S. 261. 558 Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 393–395. Seit 1962 galt in der DDR die allgemeine Wehrpflicht, die kirchliche Forderungen für eine Möglichkeit zur Kriegsdienstverweigerung nach sich zog. Im Jahre 1964 verfügte man schließlich, dass ein waffenloser Wehrersatzdienst als Bausoldat in der NVA möglich sei. Dieser Kompromiss war aber keine befriedigende Lösung für viele Wehrpflichtige. Mit der kirchlichen Initiative für einen „Sozialen Friedensdienst“, die vom Dresdner Pfarrer Wonneberger ins Leben gerufen wurde, sollte eine Form des zivilen Ersatzdienstes für diejenigen geschaffen werden, die aus Gewissensgründen auch den Dienst als Bausoldat verweigerten und deswegen bis Mitte der achtziger Jahre mit Gefängnisstrafen rechnen mussten. Ausführlicher zu den frühen Entwicklungen um Wehrersatzdienst und Kriegsdienstverweigerung in der DDR vgl. Besier, SED-Staat und Kirche. Weg, S. 596–601. 559 Neubert, Geschichte der Opposition, S. 395. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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des Wehrdienstgesetzes von 1982, das einen gesteigerten Militarisierungsgrad der Gesellschaft verfolgte, durchbrochen und damit deutlich von der SED-Kirchenpolitik zurückgewiesen. Die SED hatte das Angebot einer „Kirche im Sozialismus“ in ihrer ideologischen Kurzsichtigkeit nicht nutzbar gemacht und deren Integrationskraft in gesellschaftlich brisanten Fragen stark unterschätzt. Zusammenfassend betrachtet, war es ihr ab 1979 immer weniger gelungen, die christliche Bevölkerung, die in großen Teilen die Idee des Sozialismus immer noch als konstruktiv begriff, in die Kirchenpolitik einzubinden: „Ich hatte ja an sich nie verleugnet, dass ich als Christ lebe und— ich wollte aber auch kein Staatsfeind sein. Ich wollte also Christentum und Sozialismus unter einen Hut bringen.“560 Trotz dieser ablehnenden Haltung seitens der staatlichen Politik ist ab 1982 von einer wichtigen Zäsur für die auch aus der Kirche hervorgegangenen Friedensgruppen zu sprechen: Sie hatten sich von nun an „in die DDR-Gesellschaft implantiert. Nicht nur stieß der Gedanke der Abrüstung auf wachsende Resonanz, sondern setzte Zeichen und schuf allgemeinverbindliche Symbole“561. Für das unterstützende und stabilisierende ‚Subsystem‘ Kirche bedeutete dies von nun an, sich in höherem Maße gegen Eingriffe von staatlicher Kontrolle und Repression nicht nur auf der Ebene des engagierten Kirchenvolkes, sondern auch auf der Seite der Kirchenleitung zu rüsten.562 In diesem Spannungsfeld entwickelten sich Motivationen sozialethischen und schließlich politisch alternativen Handelns, die im Umfeld der Kirche, innerhalb der Bildung politisch alternativer Gruppen563 mündeten und dadurch gleichzeitig ins Blickfeld und unter die Kontrolle des MfS gerieten. Für die hier im Mittelpunkt stehenden Personen ist eine solche Orientierung für die achtziger Jahre nachvollziehbar geworden. Diese zeitliche Fixierung ist deswegen zu benennen, weil in den Interviews für den Beginn des letzten Jahrzehnts der DDR andere Motivationsmomente für ein Engagement im informell politischen Rahmen erkennbar wurden, als noch ein Jahrzehnt zuvor bzw. in den letzten Jahren der 560 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 4. 561 Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 60. 562 Vgl. Kap. 6.2.3.1 (untere Ebene des „Kirchenvolkes“) und 6.2.3.2 (v. a. Disziplinierung der Kirchenleitung). 563 Kollektive Formen politisch alternativen/oppositionellen Wirkens sind innerhalb des soziologischen Begriffs Gruppe beschrieben. Dieser hat sich nach 1945 hauptsächlich für die Bezeichnung von Kleingruppen kristallisiert, in denen persönlich direkte Beziehungen in sozialer Einheit zwischen allen Gruppenmitgliedern möglich sind. Diese Beziehungen sind auf das Vorhandensein eines Wir-Gefühls und eine geistige Homogenität ausgerichtet. Gemeinsame Handlungsmotivationen und -ziele ermöglichen direkte Interaktion und Kommunikation, aus denen sich Solidarität, Gruppenkohäsion nach außen und Kooperation nach innen konstituiert. In der Gruppe herrschen interne Rollenstrukturen vor, durch Abgrenzung von gemeinsamen Werten und Normen des offiziellen politischen Systems beinhalten sie eine Tendenz zur sozialen Abgrenzung (damit für die DDR ein oppositionelles Erscheinungsbild nach außen). Vgl. Pollack, Politischer Protest, S. 50–57; dies insbesondere in Anlehnung an Luhmann, Organisierbarkeit, S. 248. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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DDR.564 Die konkret gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die ab Anfang der Achtziger in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerieten, sind vor diesem Hintergrund bei allen Personen motivationstragend bzw. infolge ihrer Aktivitäten Auslöser für erste Konfrontationen mit staatlicher Kontrolle und Überwachung gewesen.

6.2.2.1 Individuelle Konfliktfelder und grundlegende Handlungsmotive Zentrierung traditioneller Wertkategorien in der Abkehr von gesellschaftlichen Idealmodellen: Die Suche nach einem gesellschaftlich sozialethischen und politisch alternativem Handeln war aus der Enttäuschung über die Diskrepanz des alltäglich erfahrenen Realsozialismus und seiner theoretischen Grundlegungen geboren. Die Alternative eröffnete sich aber genauso wenig im gesellschaftlichen System der Bundesrepublik: „[...] wir merkten, auch die im Westen geraten in Zweifel, ob der Osten nicht doch was Lebensfähiges is’ [...]. Also, dass ich im Grunde auch an vielen Stellen dabei war zu sagen, also am Sozialismus gibt es Dinge, die ich nich’ nur für verabscheuenswert halte.“565 Die Frage nach einer solchen Alternative stellte sich eigentlich nicht mehr in dem Sinne, dass man sich auf die Entwicklung neuer gesamtgesellschaftlicher, theoretischer Konzepte konzentrierte, sondern vielmehr erkannte, dass es „auf sofortige Schritte“ ankam: „öffentliches Reagieren, öffentliche Meinungsäußerung, symbolische Handlungen, Aufklärung und Protestaktionen.“566 : „Also nich’ unbedingt jetzt, also das sag’ ich jetzt mal von mir, nich’ gesagt ham, »Also das was da im Westen ist, das ist das Tolle.« Also das war ’s nich’, das war für uns nich’ die Idealgesellschaft, dazu waren wir VIEL zu gut informiert. Hatten VIEL zu gute viele äh viel Grüne und friedensbewegte Freunde. Wussten vielmehr=wussten genug, um zu wissen, dass also Kapitalismus so wie er is’ auch nich’ das Tolle is’ und das einzig Wahre. Wir wollten irgendwas, wahrscheinlich ganz anderes, hatten aber gar keine Zeit und äh gar kein jetzt ... Das war viel zu weit weg, um das jetzt irgendwie im Detail zu detaill__ äh zu formulieren [...].“567 Diese Pragmatik, die im Jetzt einen drängenden Handlungsbedarf sah und keine Zeit für theoretische Großentwürfe hatte, orientierte sich letztlich an den 564 Dies bestätigen auch Elvers, Findeis und Pollack aufgrund ihrer Befragungen von Mitgliedern politisch alternativer Gruppen. Während für die späten achtziger Jahre „systeminterne Probleme das Motiv zum politischen Handeln bildeten“, sind für das Ende der siebziger und den Anfang der achtziger Jahre durchaus auch globale Probleme ein wichtiges Motivationsmoment. Pollack geht von einer Verschiebung der Motivationen von globalen zu systemintern gesellschaftlichen Problemen aus. Dieses Ergebnis bestätigt sich auch für die hier beteiligten InterviewpartnerInnen. Vgl. Elvers/Findeis, Politisch alternative Gruppen, S. 98; Pollack, Politischer Protest, S. 144 f. 565 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 6. 566 Poppe, „Der Weg ist das Ziel“, S. 246. 567 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 26. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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abendländischen Wertkategorien, die in starker Entsprechung zum biblischen Zeugnis, insbesondere zur Bergpredigt, standen: Freiheits- und Menschenrechte, Friedenserhaltung und Umweltbewusstsein im ursprünglichen Sinne der Schöpfungsverantwortung. Aufbrechen monolithischer Strukturen – Sondierung informeller Informationsund Kommunikationsfelder sowie Forderung nach politischer Partizipation:568 Unter dem Dach der Kirchen suchten die InterviewpartnerInnen einen neuen Raum zur Weitung des von der staatlich verordneten Öffentlichkeit stark eingeschränkten Handlungsrahmens. In ihm konnte eine kollektive Plattform für inter- und innergesellschaftliche Themen geschaffen werden, die zur gemeinsamen Meinungsbildung, zum Aufbau eigener Kommunikationsformen und zur Erlangung politischer Handlungsfähigkeit führte. Gleichsam ging es darum, eine gemeinschaftliche Erfahrung herzustellen, die gesellschaftliche Vereinzelung und das grassierende kollektive Misstrauen abbauen halfen: „Und das war dort für mich auch wieder so ’ne Offenbarung, wie ich dort also erlebte, was es ALLES SCHON GAB. [...] Und es gab so ’n bissl so Untergrundliteratur, also so handgeschrieben und mit Schreibmaschine m=mühsam irgendwie vervielfältigt. Man konnte so was mitnehmen, Anregungen mitnehmen. Man hatte so das Gefühl man ist nich’ so ganz allein. Und man lernte wieder tausend Leute kennen [...].“569 Dies geschah aber zunächst primär vor dem Hintergrund des Hauptanliegens, nämlich für gesellschaftlich brisante Ziele gemeinsam politisch zu arbeiten. Die Kirche ebnete den Boden und setzte die entscheidenden Impulse des alternativen gesellschaftlichen Denkens und schuf insofern die Rahmenbedingungen für die Ausbildung und den Ausgang gesellschaftlichen Handelns. Das heißt, sie bot auch das Erleben grundlegender Elemente demokratischer Handlungsformen, die bisher im kollektiven Rahmen ungekannt waren, wie vor allem freien Meinungsaustausch und Offenheit. Dies sollte nach und nach Ausstrahlung auf die gesamtgesellschaftliche Ebene haben. Die Kirchenarbeit wurde immer massiver in die Nähe politischer Arbeit gerückt und als Motor für eine übergeordnete gesellschaftliche Bewusstseinsänderung entdeckt. „Also die Kirchentage waren weniger so Repräsentation nach außen, sondern bestanden im Wesentlichen darin, dass äh, dass es Gesprächsgruppen gab, wo über alle möglichen Themen diskutiert wurde. [...] Und da wurde drei Tage oder zweieinhalb Tage lang, wirklich präzise an einem Thema gearbeitet. Und das hab’ ich schon, also hier in [Ortsname] hab’ ich das schon mitgemacht, also hier als Gesprächsleiterin zu arbeiten, 568 „Tja also, wie das richtig angefangen hat, weiß ich wirklich nicht mehr. Also ich kann das nich’, also ich kann das nich’ sagen. Also, ja über die Kirche natürlich, weil sich ja unter dem Kirchdach ja immer viele Leute getroffen haben, die so, mal ganz pauschal vielleicht, Probleme mit dem System hatten und da waren ja ooch ganz viele dabei, die so mit der Kirche überhaupt nichts am Hut hatten. Die einfach den Raum genutzt haben oder die Möglichkeit sich da zu treffen und ja da hat man immer welche kennen gelernt.“ V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 5. 569 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 15. Frau Simon berichtet hier von ihrer ersten Delegierung zu einem kirchlichen Basisgruppentreffen in Leipzig. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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weil ich das ooch gut kann. Und ähm das war ja im Grunde ooch politische Arbeit. Es nannte sich zwar so Kirche, aber letztlich wurde ja alles behandelt von Politik über Umwelt und Pädagogik, einfach alles, was einem so am Herzen lag, wurde=wurde diskutiert. Und ich denke, das war schon ’ne politische Arbeit, also ich hab’ se jedenfalls als solche verstanden, weil äh weil einfach Leute miteinander in Kontakt gekommen sind, dann sind Sachen draus entstanden, dass also welche sich dort kennen gelernt haben und später dann was zusammen weiter gemacht haben. Und es war ja immer auch ’n Wille zur Veränderung da und wenn er nur darin bestand, dass man gedacht hat, »Also man kann nich’ so alles hinnehmen wie es is’.« Es war ja dann nicht so, dass die Bürger dann auf die Straße gegangen sind und dann Zeitungen gedruckt ham, das haben die allerwenigsten gemacht, aber so ’ne Bewusstseinsänderung ist ja auch schon viel.“570

Motiviert wurde dieses auch aus dem in der Kindheit und Jugend gebildeten Diktaturbewusstsein und die vor allem durch die evangelische Kirche – entgegen dem Deutungsrahmen des „verordneten Antifaschismus“ – internalisierte historische Verantwortung für den Nationalsozialismus. In der Übertragung dieses Bewusstseins auf die repressiven Züge des SED-Systems legitimierte sich ein systemkritisches, alternatives Denken und legte den Beweis dar, dass auch in einer Diktatur Möglichkeiten wirksamen kollektiven Handelns geschaffen werden können. Dabei verstanden sich diejenigen, die aus einer Gegenöffentlichkeit in die DDR-Gesellschaft verantwortlich hineinwirken wollten, ein Stück weit sicherlich als Avantgarde571, die letztlich den Anstoß für ein noch ungeahntes Massenphänomen bilden sollte und damit Ende der achtziger Jahre ein gesellschaftliches Aha-Erlebnis erzeugte: „Im Prinzip hab’ ich gemerkt, das was ich ... Den Effekt, den viele von uns hatten, war doch einfach nur der wie in dem Märchen von ‘Des Kaisers neue Kleider’. Wir waren so wie das Kind, das dann sagt, »Aber der hat doch gar nischt an.« Wir ham ’s einfach benannt. Und plötzlich sagen alle, »Aber ja, das stimmt ja.«“572 Das Engagement im Umkreis der zugänglich gewordenen Umwelt-, Friedensund Frauengruppen wurde zugleich als demokratisches Lernfeld begriffen, dessen entscheidende Grunderfahrung für das Agieren der bürgerbewegten Gruppen im Herbst 1989 nicht zu unterschätzen ist. Innerhalb der Einbindung in die Basisgruppenarbeit erlebten besonders Frau Simon und Frau Manzel, wie ihr Engagement unter dem Kirchendach Schritt für Schritt eine Dynamik auch für den öffentlichen Raum entwickelte, indem man partiell die staatlichen Beschränkungen aufzubrechen und neue Wertmaßstäbe herrschaftsfreier Kommunikation und gesellschaftlicher Verantwortung zu setzen vermochte. „Da hab’ ich das erste Mal erlebt, wie man eigentlich ’ne Wahl durchführt. Es is’ nämlich wichtig auch die Stimmenthaltungen zu zählen. Überhaupt Stimmen und Gegen570 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 6. 571 „Die Versuchung äh so ganz opportunistisch so was mitzumachen, die war bei mir schon durch meine Rolle kaum gegeben. Das is’ bei jemanden, der im VEB sitzt und Soli-Marken kleben muss ganz anders, als wenn einer in der Kirche sich befindet und von Staatsleuten normalerweise sowieso immer mit ’ner gewissen Distanz bedacht wurde [...].“ V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 6. 572 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 30. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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stimmen, wie man das so MACHT. ’s GAB ’S JA NICH’, wir kannten das ja nich’. Ich greif’ jetzt mal vor. Und diese Erfahrung, muss ich mal sagen, das was wir damals in den Gruppen geübt haben, auf GANZ NAIVE und ((lachend)) lustige und manchmal ganz langwierige und mühsame Art und Weise, das war DIE Basis dann, wussten wir damals natürlich noch nich’, aber für äh die Sachen, die dann nach 1989 kamen, die dann ins ‘Neue Forum’ zum Beispiel einflossen oder ... Da waren genau DIESE Leute, die dann DORT saßen und wussten, wie ’s geht. Wie man das denn macht. Denn die andern kam__ die waren erst grad mal aufgewacht und wir hatten ’s schon ’n bissl geübt.“573

6.2.2.2 Kollektive Orientierungen: Emanzipative Frauenfriedensgruppen und christlich motivierte Umweltarbeit Die von der kirchlichen Basisgruppenarbeit angeregte Entschlossenheit zu Aktivitäten setzte Energien frei, die bei Frau Manzel wie bei Frau Simon zur Bildung und Einbindung in eigenständige Basisgruppen führte. Am Engagement der beiden Interviewpartnerinnen soll nun verdeutlicht werden, welche Motivationen und Handlungsziele für die Gründung in einer solchen Gruppierung und Arbeit in ihr bestimmend waren und wodurch sich diese auszeichnete. Während sich Frau Manzel in der Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“ organisierte, entwickelte Frau Simon anfangs noch stark im Schutzraum der evangelischen Kirche, später losgelöster davon, die Arbeit einer so genannten „ÖkoGruppe“ in einer sächsischen Kleinstadt. Sowohl die Wurzeln der Frauenfriedens- als auch der Umweltgruppen sah man zu Beginn der neunziger Jahre noch eindeutig in den unabhängigen Friedensgruppen verortet574, deren Entwicklung im Vorausgehenden skizzenhaft nachgezeichnet wurde. Dennoch scheint sich zumindest für die staatlich unabhängige alternative Umweltarbeit diese Sichtweise immer mehr zu verschieben; der Schwerpunkt liegt weniger im friedenspolitischen, sondern eher im christlich motivierten Bereich. Auch in den Aussagen von Frau Manzel bestätigt sich diese Tendenz. Sie sieht nämlich ebenfalls die politische Komponente der Umweltgruppen weitestgehend ausgeklammert, abgesehen von der Arbeit der Umwelt-Bibliotheken575.

573 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 16. 574 Kühnel/Sallomon-Metzner, Grüne Partei und Grüne Liga, S. 167–169. 575 Umwelt-Bibliothek (UB): Seit 1986 bildeten sich von der überregionalen Wirkung der Berliner UB der Zionskirchgemeinde ausgehend, deren Gründer aus der Friedens- und Umweltbewegung kamen, DDR-weit so genannte Umwelt-Bibliotheken, die dem Informations- und Vernetzungsbedürfnis in den politisch alternativen Gruppen und in der Öffentlichkeit Rechnung tragen wollten. Sie entwickelten sich zu Kommunikationszentren der gesamten Oppositionsbewegung in der DDR und boten zugleich der sich entwickelnden Samisdatliteratur, deren Texte weit über umweltthematische Schwerpunkte hinausgingen, ein breites alternativ-politisches Forum. Zur Institutionalisierung der UBs innerhalb der Kirche, ihrer konkreten Tätigkeit und Probleme mit dem MfS vgl. im Folgenden im Umfeld der Ausführungen zur UB-Arbeit von Frau Simon in Kap. 6.2.3.2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Und die=die Umweltgruppen, also jedenfalls die ich kennen gelernt hab’, die könnte ich insofern abtrennen, weil die oftmals ooch also an politischer Arbeit wirklich gar nich’ interessiert waren. Die ham gesagt, »Wir wollen das nich’.« Die kümmern sich jetzt darum, dass da irgendwo Bäume jetzt irgendwo nich’ abgesägt werden oder dass ’ne Protestaktion gegen ene bestimmte Fabrik gemacht wird oder so was. Also das waren immer ganz äh eng umgrenzte und ganz präzise Anliegen, die die hatten. Also jedenfalls in den Gruppen, die ich kennen gelernt hab’. Und das Einzige war eben diese UmweltBibliothek dort in der Zionskirche, die darüber hinaus ging. Die also viel Informationsarbeit gemacht ham und diese Zeitung gedruckt [...].“576

Frau Simon bestätigt dies, als dass sie zuvorderst und ursächlich eine christlich geprägte Motivation für die Ausbildung eines Umweltbewusstseins und seiner organisierten Umsetzung innerhalb der Kirchen als bestimmend beschreibt. Das Selbstverständnis der ökologischen Arbeit resultierte primär aus der christlichen Verantwortung für die Schöpfung. Durch die Schaffung der „Ökumenischen Versammlungen“ konnte man den religiös motivierten Handlungsrahmen der aktiven Umweltgruppen auf eine von den Kirchenleitungen getragene Plattform bringen und den innerkirchlichen Wirkungsgrad gesellschaftlich ausweiten577 : „[...] diese so genannte Ökumenische Versammlung war ins Leben gerufen worden, äh die ja weltweit eigentlich funktionierte, aber wahrscheinlich nur in Ostdeutschland so ausgeprägt gelebt wurde. Wo es also hieß [...] »Was hat das äh mit dem Leben zu tun?« Und da war ja genau die Splittung in Frieden, äh Verhältnis zur Natur, zur Schöpfung. ‘Wahrung der Schöpfung’ hieß das schöne Wort immer [...].“578 Charakteristisch für beide Frauen ist schließlich, dass sie sich nicht auf das Engagement allein in einer Gruppe beschränkten, sondern parallel in verschiedenen Initiativen aktiv mitarbeiteten.579 Deshalb sind auch in die folgende Betrachtung, wenn nicht eigens darauf verwiesen wird, stets fließende Übergänge und interkommunikative Einflüsse anderer politisch alternativer Gruppen einzubeziehen. Emanzipative Frauenfriedensgruppen: Die Entstehung der „Frauen für den Frieden“-Gruppen in der DDR ist eine überregionale, zeitlich fixierbare Erscheinung580. Konkreter Anlass für ihre Bildung war ein innenpolitischer 576 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 8. 577 So argumentiert auch Choi, Dissidenz, S. 52. Knabe führt zudem den in diesen Kreisen wichtigen Einfluss kritischer Literatur ins Feld, die in den siebziger Jahren in ihren Werken die Krise der modernen Industriegesellschaft verhieß und die Ausbeutung der Natur durch den Menschen anprangerte. SchriftstellerInnen wie Monika Maron in Flugasche, Brigitte Reimann in Franziska Linkerhand, Hanns Cibulka in Swantow und Erich Neutsch in Spur der Steine waren ihre populärsten Vertreter. Vgl. Knabe, Zweifel, S. 216–222. 578 Vgl. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 13 f. 579 Vgl. Kap. 6.2.1.2. 580 „Frauen für den Frieden“-Gruppen entstanden auch zeitgleich im nord- und westeuropäischen Raum und in den USA. Diese weltweite Organisation der Frauenfriedensbewegung motivierte sich aber zuvorderst aus der globalen Problematik einer allgemein festgestellten Kernwaffenbedrohung. In der DDR wurden die „Frauen für den Frieden“ zur markantesten und größten Fraueninitiative innerhalb verschiedener an© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Konflikt, der durch das im März 1982 verabschiedete neue Wehrdienstgesetz ausgelöst wurde. Es beinhaltete eine Sonderregelung für den möglichen Verteidigungsfall: die allgemeine Wehrpflicht für Frauen. Nachdem der Protest einzelner Frauen kein Gehör bei den obersten staatlichen Entscheidungsträgern fand, wurde im Oktober 1982 über eine großangelegte Unterschriftenaktion die Unterzeichnung einer Eingabe an Erich Honecker möglich gemacht581. Das von bereits in anderen Friedensgruppen engagierten Frauen verfasste Schreiben erlangte große öffentliche Aufmerksamkeit, denn es wurde gleichzeitig in der westlichen Presse veröffentlicht; hatten doch die führenden Köpfe dieser Frauengruppe wie Irena Kuckutz, Ulrike Poppe und Bärbel Bohley bereits im Frühjahr 1982 enge Verbindungen zu den westdeutschen Frauen in der Vereinigung „Anstiftung der Frauen für den Frieden“ aufgenommen und deren mediale Kommunikationsnetze genutzt. Infolge dieser öffentlichen Aktivitäten kam es auch zu ersten Auseinandersetzungen mit staatlichen Stellen – nicht nur zu Gesprächen mit staatlichen Vertretern, die zur Zurücknahme der Unterschriften aufforderten, sondern auch zu Verhören durch den Staatssicherheitsdienst. Innerhalb dieser Konfrontationen formierte sich nun mit ihrem ersten offiziellen Auftreten auf der Friedensdekade desselben Jahres die Berliner Gruppe der „Frauen für den Frieden – Ost“, welcher auch Frau Manzel angehörte. Landesweit folgten weitere, regionale Zusammenschlüsse, die ab nun in einer gemeinsamen Initiative innerhalb der DDR und später auch grenzüberschreitend zusammenarbeiteten582 : „Organisiert, du lieber Himmel. Also zusammengefunden hat sich die Gruppe [...] in ’ner Novelle des Wehrdienstgesetzes. [...] Da war jedenfalls in dem Gesetzestext vorgesehen, die Möglichkeit Frauen auch zum Militär einzuziehen. Und da hatten dann en paar Frauen ja so ’ne Art Protestbrief formuliert und haben dann dafür Unterschriften gesammelt und daraus ist diese Gruppe dann entstanden. Weil man sich gesagt hat, bloß mit dem Brief is’ ja ooch blöd, man könnte ja noch mehr machen und ... Ja, wir haben uns schon immer regelmäßig getroffen. Immer in irgendwelchen Wohnungen, wie man ’s eben gemacht hat.“583 Ihre Ziele sind nicht präzise auf einen Nenner zu bringen. Die Akzentuierung war sowohl friedenspolitisch, ökologisch als auch geschlechtsspezifisch, wobei die frauenspezifische Komponente zuerst weniger programmatisch zu verstehen war, sondern vielmehr für ihre personelle Zusammensetzung charakteristisch wurde. Thematisch verfolgten die Friedensfrauen schließlich ähnliche Themen wie andere Friedensgruppen. Ein wichtiger Aspekt war aber dennoch derer Gruppenbildungen. Der reine Frauenanteil in der Gesamtheit der DDR-Widerstands- und Oppositionsbewegung lag im Durchschnitt bei nur ca. 11 %, wobei für die Ära Honecker ein stetiger Anstieg zu verzeichnen ist. Vgl. ausführlicher zur Frauenbewegung in der DDR, Kenawi, Frauengruppen. 581 Eingabe vom 12.10.1982. Dokumentiert bei: Kuckutz, „Nicht Rädchen ...“, S. 275– 277. 582 Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 459 f. 583 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 9 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„der emanzipatorische Impuls, sich selbst als Frauen einzumischen und andere zu ermutigen, um neues Denken und Handeln zu ermöglichen. Die Gewaltfreiheit war Ausgangspunkt dabei“584. Das „Entwickeln eigener Inhalte“ stand dabei nicht so sehr im Vordergrund, als in viel größerem Maße das „Ziehen von Grenzen und die Verweigerung“585. Zudem wollten sie hier – aus der erfahrenen Diskussionskultur in gemischtgeschlechtlichen Friedensgruppen – brisante Themen auf eine pragmatischere Art und Weise, ohne männliche verbale Dominanz bearbeiten. „Nee, wir hatten einfach die Erfahrung gemacht, dass äh in Diskussionen, wie ’s ja dann später auch irgendwelche äh Soziologen und Linguisten erforscht haben, tatsächlich Männer mehr reden als Frauen in gemischten Gruppen. Und das hatten wir also ohne solche Arbeiten gelesen zu haben, einfach erfahren und ham uns gedacht, wenn die Männers da nu’ sitzen, WA, und sich unterhalten und RUMSTREITEN, wie weit denn nun so ’ne SS 20 fliegen kann, ob drei Kilometer oder dreieinhalb Kilometer, das interessiert uns einfach nich’. Sondern wir wollen über das gleiche Thema sprechen, also zum Beispiel auch Raketenstationierung. Und äh überhaupt, das was uns an dieser=an dieser Politik interessiert, was Militär und Frieden betraf, aber ohne diese ganzen technischen Sachen, die uns wirklich nicht interessiert haben und die unserer Meinung nach ooch nich’ wichtig waren für die Diskussion.“586

Immer auf die wichtigen friedenspolitischen Themen konzentriert, sollte sich in dieser Hinsicht selbst die Zusammenarbeit mit der westdeutschen Frauenbewegung, was deren Zentrierung des Feminismus anbelangte, nicht ganz unproblematisch gestalten. Der gesellschaftliche Handlungsrahmen in einer Diktatur setzte die jeweiligen Prioritäten politischen Agierens ganz automatisch; ganz andere, vor allem feministische Themen erschienen den Friedensfrauen aus ihrer ostdeutschen Perspektive eher banal und von geringerer gesellschaftlicher Brisanz. In der demokratisch gewachsenen, bundesrepublikanischen Risikogesellschaft587 der achtziger Jahre, mit ihren eigenen ökonomischen Gesetzen und Zwängen hatten sie hingegen eine völlig andere Tragweite, weil sie auch eine individuell differenziertere und immer weniger kollektive Dimension in sich bargen. Die aktuelle atomare Bedrohung in der Welt, die Militarisierung der DDRGesellschaft, die politisierte Erziehung der eigenen Kinder, das heißt die insgesamt als zunehmend empfundene, vormundschaftliche Allzuständigkeit des Staates bis in die privatesten Bereiche war primär drastisch genug, um zuerst sozialethisch-moralische Überzeugungen und politisch alternative Motivationen in konkrete gemeinsame Handlungsziele umzusetzen. Die repressiven Mechanismen des Systems, dem Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen ausgesetzt waren, standen im Vordergrund der Arbeit. Auch wenn die Frauen das DDR-System als patriarchalisch verstanden und um die paternalistische Frauen584 585 586 587

Kuckutz, „Nicht Rädchen ...“, S. 282. Miethe, „... ich musste lernen ...“, S. 34. V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 11 f. Begriffsbildung nach Beck, Risikogesellschaft. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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politik des Staates wussten, musste dieses Thema, die Benachteiligung von Frauen in der DDR, von der gesamtgesellschaftlichen Beeinträchtigung innerhalb der Diktatur überlagert werden:588 „[...] wir hatten ja regelmäßig Kontakt ooch zu Westfrauen und ham uns manchmal echt gewundert über deren Probleme. Also, wenn die denn so, die ham uns das ooch oft vorgeworfen, also das heißt, die ham gesagt, »Ja und ihr kümmert euch ja gar nicht um Frauenrechte«, und so was. Aber es war uns wirklich nicht wichtig, weil äh es war uns einfach WICHTIGER, ähm uns dagegen zur Wehr zu setzen, dass die Kinder im Kindergarten eben Panzer zum Spielen kriegen und dass se denn zum Manöver ‘Schneeflocke’ schon Militär gespielt haben in der Grundschule und so ’ne Sachen. Und es war uns wirklich wichtiger, auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, so dass uns ähm, sagen wir mal so, also Emanzipation, das war einfach kein Thema.“589 Auf die Gefährlichkeit der friedenspolitischen Arbeit wird in Kapitel 6.2.3 am Beispiel der Aktivitäten von Frau Manzel ausführlich einzugehen sein. Zuvor sei aber bereits erwähnt, dass Teile der Friedensfrauen immer wieder vom MfS „zugeführt“, verhaftet und verurteilt wurden. Seit dem Protestschreiben vom Oktober 1982 hatte nämlich die systematische „operative Erfassung und Bearbeitung“ der Gruppenmitglieder begonnen: „Ich meine, es war ja ooch gefährlich, es sind Frauen immer wieder verhaftet worden und ham ooch gesessen. Mich hat es zum Glück nie erwischt, aber es waren regelmäßig welche aus der Gruppe, die irgendwo gesessen haben. Das heißt also, wenn man sich überhaupt entschlossen hat, dort was mitzumachen, musste man schon wirklich so viel Selbstbewusstsein haben und ähm der Meinung sein, dass die Arbeit WICHTIG ist, dass man sich jetzt WIRKLICH nicht mehr drüber unterhalten musste, wer nun den Mülleimer runterträgt und den Abwasch macht.“590 Die Kirche bot auch den Friedensfrauen für ihre politischen Überzeugungen und ihr Hauptanliegen, andere zum politisch alternativen Denken zu bewegen, ein Forum. Ohne deren Kommunikationsnetze und strukturelle Gegebenheiten wäre eine DDR-weite Vernetzung der Frauenfriedensgruppen unmöglich gewesen. Ohne die Möglichkeit Flugblätter, Plakate und Zeitschriften mit dem Aufdruck „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ herzustellen und zu vervielfältigen, wäre die Demonstrativität und Organisation öffentlicher Aktionen zusätzlich erschwert worden. Ab Mitte der achtziger Jahre traten die Friedensfrauen mit ihren Protestaktionen aus dem schützenden Raum der Kirche heraus, um ihren Wirkungskreis zu vergrößern. Damit war eine Konfrontation mit den Sicherheitsorganen nahezu vorprogrammiert. Rückendeckung für derartige öffentliche Aktionen bot dann oftmals nur die enge Zusammenarbeit mit Vertretern der bundesrepublikanischen „Grünen“. Der sehr enge Spielraum zwischen öffentlich demonstrierter Verweigerung und Opposition und unmit588 Vgl. Miethe, „... ich musste lernen ...“, S. 39. 589 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 10. 590 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 10 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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telbar zu befürchtenden, repressiven Konsequenzen dehnte sich durch die Unterstützung populärer westdeutscher PolitikerInnen aus. Diese konnten einerseits ihre medialen Kontakte nutzen und sich so öffentlich solidarisieren, wenn beispielsweise auf eventuelle Zuführungen oder Verhaftungen von Friedensfrauen durch das MfS aufmerksam gemacht werden musste, andererseits boten sie nötige Informations- und Kommunikationsnetze für die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen und eröffneten informelle Aktions- und Handlungsfreiräume, sie sich kontinuierlich ausbauen ließen. Wilhelm Knabe, Gründungsmitglied der „Grünen“ und ab Mitte der achtziger Jahre im innerdeutschen Ausschuss derselben aktiv, sah die Aufgabe seiner Partei in der Zusammenarbeit mit den politisch alternativen Gruppen in der DDR weniger darin, als öffentliches „Sprachrohr oder Stellvertreter“ zu fungieren, sondern eher in der Rolle, alles Nötige zu leisten, „dass sich diese Menschen selbst äußern können und nicht von Repressionen des Staates daran gehindert werden“:591 „[...] man muss ja auch wiederum sagen, dass ja ähm, also jedenfalls ab Mitte der Achtziger wir im Grunde schon Narrenfreiheit hatten. Man muss es mit diesem bösen Wort benennen. Einfach durch unsere Kontakte in den Westen auch. Und es war ja wirklich so, sobald jemand für längere Zeit eingesperrt wurde, sofort ging das Spektakel los im Radio, »Ja und da ham se wieder einen ... Die BÖSE Regierung im Osten hat schon wieder so ’nen armen Bürgerrechtler eingesperrt.« Und das war alles immer ganz furchtbar peinlich, so dass das ooch wirklich vermieden wurde. [...] Und ich meine, die Situation war ja wirklich goldig, da kann ja heute nur jeder davon träumen, der Politik macht. Man brauchte wirklich nur anzurufen und ’ne Stunde später ist die Meldung gekommen, so wie man sie gesagt hat. Und ähm das hat uns schon geschützt.“592

Dieser bundesrepublikanische Rückhalt war auch im Verlauf der folgenden Jahre zusätzliches Motivationsmoment für ein öffentlich offensiveres Agieren, das sich vermehrt auch zu internationalen Aktivitäten ausbauen ließ. Es ging den Friedensfrauen ja letztlich übergeordnet um einen globalen Ansatz: „die Überwindung der Grenzen des gegenseitigen Verstehens, eines neuen blockübergreifenden und grenzüberschreitenden Denkens und Handelns.“593 Christlich motivierte Umweltarbeit: Zuvor aber deutete sich, nach Rückschlägen wie dem Bundestagsbeschluss zur Nachrüstung im November 1983, der aufgrund einer gesamtdeutschen Gegeninitiative mit den „Grünen“ auch Verhaftungen von Ulrike Poppe und Bärbel Bohley nach sich zog, eine Umorientierung der unabhängigen Friedensgruppen in der DDR an. So wie sich in der Bundesrepublik Friedensgruppen auflösten, geschah dies gleichzeitig auch in der DDR. Vor allem war eine Verschiebung der inhaltlichen Schwerpunktsetzung erkennbar geworden, die sich nun vor allem auf das Umweltthema konzentrierte. Das stärker werdende Gruppenphänomen, das sich personell, wie 591 Vgl. zunächst Knabe, Westparteien, S. 1148–1150 und S. 1186 f., Zitat S. 1150. Ausführlicher auf die konkreten Verbindungen, Kontakte und ihre Bedeutung in der Konfrontation mit dem MfS ist in Kap. 6.2.3 einzugehen. 592 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 18 f. 593 Kuckutz, „Nicht Rädchen ...“, S. 280. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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das MfS 1989 zusammenfasste, seit 1983/84 „zu großen Teilen aus dem Bestand der ‚Friedenskreise‘“ rekrutierte, sollte sich wiederum unter Schutzfunktion der evangelischen Kirchen formieren. Das MfS hält aber zugleich fest, dass „[a]nders als in gleichgelagerten Zusammenschlüssen [...] in den Ökologiegruppen jedoch viele Mitglieder die Motivation ihres Handelns in der ehrlichen Mitwirkung bei der Lösung von Umweltschutzproblemen“594 sahen. Diese Einschätzung geht konform mit der Aussage von Frau Manzel bzw. der von Choi und Knabe festgestellten, zuvor erwähnten Akzentverschiebung in der Beurteilung der Umweltgruppenbildung, nach welcher diese nicht allein auf eine politisch friedensbewegte Basis, sondern gleichsam ebenso auf eine religiös motivierte zurückgriff. Der Schöpfungsgedanke war Ausgangspunkt der ökologischen Kirchenarbeit, was auch zunächst ihr politisch konfrontatives Wesen gegenüber dem Staat schmälerte, zugleich aber eine offenere, effektivere Arbeit ermöglichte. Die DDR selbst hatte bereits seit 1970 – noch vor der Bundesrepublik – in der Verabschiedung des Landeskulturgesetzes zum Schutz von Boden, Wäldern und Gewässern mit einer zumindest theoretisch engagierten Umweltarbeit begonnen. Noch auf dem VIII. Parteitag 1971 konnte ein Sieben-Milliarden-Umweltprojekt auf den Weg gebracht werden, was auch die Schaffung eines Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft nach sich zog. Doch blieben viele der anberaumten Maßnahmen auf der Ebene unverbindlicher Willenserklärungen. Das Parteiprogramm von 1976 widmete sich nicht mehr gesondert den ökologischen Aufgaben, wies aber im Bereich der Agrarpolitik dafür stärker auf die „Umgestaltung der Landwirtschaft nach dem Beispiel und der Methoden der industriellen Produktion“ hin; schrittweise also zu einem „volkswirtschaftlichen Agrar-Industrie-Komplex“595, wie ihn bereits Marx als materielle Voraussetzung einer „neuen, höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie“596 beschrieben hatte. Aus dieser Perspektive legitimierte sich für die Machthabenden folglich auch – ideologisch sanktioniert – eine allein produktionsorientierte Ausbeutung der Natur. Die ökonomischen Belange, hier die sich stets im Hintertreffen befindende Erzeugung von ausreichenden Nahrungsmitteln zur Versorgung der Bevölkerung, hatte Vorrang und insgesamt betrachtet, waren Ende der siebziger Jahre die Prioritäten für die moderne Industriegesellschaft und gegen ökologisch nachhaltiges Denken und Handeln gesetzt. Nur „wenn die Volkswirtschaft der DDR einen entsprechend hohen Produktivitätsgrad erreicht haben würde, könnte sie die Schäden, die sich durch das Wachstum verursachen müsste, wieder beheben.“597 594 Beide Zitate aus der Anlage zur Information Nr. 150/89 „Information über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen“ vom 1. 6.1989. Dokumentiert in: Mitter/Wolle, Ich liebe euch doch alle!, S. 57. 595 Programm der SED. In: Protokoll des IX. Parteitages der SED, Band 2, S. 229. 596 Marx, Kapital, S. 528. 597 Vgl. Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 62 f., Zitat S. 63. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Und gleichzeitig [...] gab ’s äh zu DDR__ hatte die DDR-Staatsführung natürlich erkannt, drüben gab ’s die Grüne Bewegung und die Umweltdiskussionen, und das GING ja, konnte man ja nich’ so einfach weg=weg ... Und dann wurde hier die staatliche Umweltinspektion gegründet. Hat kein Mensch bemerkt, aber angeblich war die dazu da, um den Umweltschutz in der DDR zu äh zu, weiß nich’, durchzusetzen oder so was, ja. Und ich hatte einen Vortrag von der Frau, die hier als Um=Umweltinspektorin eingesetzt war, gehört. Die war als Gesprächspartnerin mal eingeladen in so ’ne kirchliche Veranstaltung, is’ tatsächlich gekommen. Äh ’ne fitte Frau, Chemikerin äh ((lacht)), die hatte als ihr Einzugsgebiet, die drei mit, drei meist belastetesten äh Kreise vom Bezirk [Ortsname], also äh [Ortsname], [Ortsname] und [Ortsname]. Und hatte als Dienstfahrzeug en Moped ((Lachen)). Das sagt schon alles aus, wie effektiv diese Behörde war. Und die hatte äh dann das Konzept vorgestellt, die war natürlich in der Partei (und so ganz toll), aber ich glaube, die war schon soweit mit der Realität konfrontiert worden, dass es ihr also echt schwer fiel uns da irgendwie so den=die totale Parteilinie vorzuführen.“598

Was das vorausgehende Zitat zudem deutlich macht, ist die zwar begrenzte, aber dennoch gegebene Möglichkeit eines systemimmanenten Dialogs mit den staatlichen Vertretern, die zur Durchsetzung der geschaffenen gesetzlichen Umweltbestimmungen eingesetzt wurden. Die Einrichtung der staatlichen Umweltinspektion 1985 signalisierte ebenso, dass der Staat das auf einer breiteren Ebene der Bevölkerung gewachsene Interesse an ökologischen Fragestellungen, das nicht allein aus dem kirchlichen Milieu kam, zu integrieren suchte599. Damit war der Diskurs zuerst auf einer inhaltlichen Argumentationsebene eröffnet worden, sicherlich in einem sehr begrenzten Rahmen, aber die Äußerung dieser Probleme war „ohne unmittelbare persönliche Gefährdung grundsätzlich artikulierbar geworden“600. Die umweltpolitisch aktiven Gruppen konnten ausgehend von wissenschaftlichen Untersuchungen und Ergebnissen, soweit sie zugänglich und greifbar wurden, Kritik äußern. Sie bewegten sich zwar in einem vom Staat abgesteckten Rahmen, der aber innerhalb eine gewisse Mitsprache auf der Grundlage gesetzlicher Umweltbestimmungen einräumte. Sie sahen also – zumindest noch anfangs – die Chance ökologische Arbeit zu leisten, ohne ihre Hauptenergien primär für die Auseinandersetzungen mit der Staatssicherheit und die Abwehr repressiver Maßnahmen aufwenden zu müssen. Dies funktionierte aber letztlich nur, solange keine allzu sensiblen Themen, wie sie beispielsweise die Friedensgruppen anschnitten, öffentliche Aufmerksamkeit erlangten. Der Uranabbau der „Wismut“ für die Atomwaffenherstellung der Sowjetunion, mit dem sich später auch Frau Simon intensiv befasste, hatte hingegen hohe militärische und außenpolitische Brisanz und musste schließlich für die von den staatlichen Stellen zuerst als „konstruktiv“ begriffenen Umweltgruppen zu Auseinandersetzungen mit staatssicherheitsdienstlicher 598 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 17 f. 599 Schon 1980 schuf die SED eine an den Kulturbund der DDR angegliederte „Gesellschaft für Natur und Umwelt“ (GNU), in der ökologisch, engagierte DDR-BürgerInnen aus allen gesellschaftlichen Bereichen in einer Form der populären Umweltarbeit eingebunden wurden. Bis 1985 zählte diese bereits 50 000 Mitglieder. Vgl. Kloth, Grüne Bewegung, S. 147. 600 Ebd., S. 150. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Kontrolle führen. Ausgangspunkt ebensolcher war der bereits 1982 vom Ministerrat gefasste Beschluss zur Geheimhaltung von Umweltdaten. Er hatte zur Folge, dass der Rahmen für ökologisch engagierte Informations- und Öffentlichkeitsarbeit wieder kleiner und in den kirchlichen Raum abgedrängt wurde bzw. einer willkürlichen Kriminalisierung der alternativ organisierten Umweltgruppen Vorschub leistete:601 „Also um argumentieren zu können, muss man ja dann sagen können, wie viel kommt denn nun wirklich raus. Also in der Luft, da müsste man Messungen machen. Ja, dann hat die DDR-Führung ja vorgebeugt, indem sie das »Gesetz zur Geheimhaltung der Umweltdaten« veröffentlicht hatte. Nicht veröffentlicht, sondern festgelegt hatte. Das ist=das heißt also, dass ich mich hingestellt hab’ und gesagt hab’, »Hier kommen Schadstoffe raus und hier stinkt ’s«, das war im Prinzip schon ein=eine landesverräterische Tätigkeit.“602 In die spätere Zeit, Mitte der achtziger Jahre, fällt die Bildung der von Frau Simon gegründeten „Öko-Gruppe“. Dem bundesrepublikanischen Einfluss, wie sie bestätigt, kam eine wichtige, initialzündende Rolle zu, die auf ein in der Jugend gebildetes Grundverständnis für den Naturschutz traf und zugleich die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auf die brisanten Missstände konzentriert fixierte. Das von den „Grünen“ in den Bundestag eingebrachte und auf die gesamtgesellschaftliche Agenda transformierte ökologische Verantwortungsbewusstsein führte gleichfalls zur Übertragung auf die Umweltsituation in der DDR. Die ökologischen Gruppierungen traten hier damit erstmals auch in eine aktive Phase, durch welche die theoretische, kircheninterne Diskussion abgelöst wurde.603 „Und alles was im Westen war, war ja dann bei uns auch irgendwie, da schwappte das dann rüber. [...] Ja und äh Fernsehen ham wir natürlich au’ geguckt, dadurch ham wir halt auch ganz viel gewusst und da war das eigentlich ooh ganz naheliegend, dass man sagt, äh was weiß ich äh Pflanzenschutzmittel DDT, die jetzt im Westen jetzt verboten werden, »Ja, was wird eigentlich bei uns eingesetzt?« Und ich kam, ich hatte ja diese Gärtnerausbildung und ich wusste, dass wir also (Lindan) und DDT FLEIßIG einsetzten und als ich das dann also mitkriegte, dass das so Halbwertszeiten von dreißig Jahren im Boden hat und so was. Äh is’ es eigentlich ene Milchmädchenrechnung, äh »Wenn ’s dort schädlich wirkt, dann muss es doch bei uns eigentlich AUCH ... Und kann das denn sein?«“604

Die wichtigste Voraussetzung und der innere, christlich motivierte Anstoß zur kollektiven Organisation und Bewältigung dieser umweltpolitischen Themen aber vollzog sich initiativ wiederum im kirchlichen Raum. „Und das kirchliche Forschungsheim Wittenberg hatte auch so ’n bisschen so ’ne Umschlagfunk601 Genauer Wortlaut: „Beschluss zur Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt der DDR“, Nr. 47/1.2./82 vom 16.11.1982. Vgl. STASI intern, S. 309. 602 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 36. 603 Vgl. Pollack, Politischer Protest, S. 91; Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 67 und 73. 604 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 8–10. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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tion“605; es offerierte einen Rahmen, aus dessen Informations- und Kommunikationsstrukturen heraus sich regionale eigenständige Umweltgruppen wie jene von Frau Simon entwickeln konnten. Die Brisanz der dort angeregten Themen motivierte umso mehr, sich trotz möglicher Auseinandersetzung mit staatlichen Kontrollorganen zu engagieren.606 „Und ich bin zu den Sachen gekommen, weil ich wie gesagt zu so ’m überregionalen Treffen war und bei der Vorstellungsrunde hatte ich mich vorgestellt, »Ja, [Ortsname] und wir beschäftigen uns so ... Umwelt-Bibliothek fangen wir an und interessieren uns für Kohle. Und jetzt ooch so bissl ‘Wismut’.« Da sagte der Hans-Peter Gensichen aus dem Forschungsheim Wittenberg, der sagte, »Aha, ‘Wismut’. [...] wir müssen mal spazieren gehen«. MMH. Na gut, dann sin’ wir halt spazieren gegangen. [...] sagt er, »Nimm mal deine Tasche mit.« Mmh. Und dann ließ er beim Spazierengehen irgendwas in meine Tasche plumpsen. [...] Ich hatte keine Ahnung von ‘Wismut’. Ich war da zwar RUMgefahren und ich hatte=wusste schon, dass ähm— dort nich’ Wismut, sondern Uran abgebaut wird und dass das die Ausgangsstoffe für die Atomkraftwerke und die Atombomben war’n [...]. Aber dann hab’ ich das gelesen, »Das is’ es. Das muss=DAS muss raus. Das muss UNBEDINGT raus.« Und dann hab’ ich alle Hebel in Bewegung gesetzt [...].“607

Und diese unmittelbare Aktualität hatte auch eine ganz alltägliche Bedeutsamkeit, die aus dem konkreten Erleben und der eigenen Betroffenheit der direkten Bedrohung durch Havarien in benachbarten, industriellen Verschwefelungsund Braunkohleveredelungsanlagen herrührte. In der kirchlichen Umweltarbeit tätige Personen wie Frau Simon verstanden es auch als zivilisationskritische, verantwortungsvolle Aufgabe, die Bevölkerung über die Gefahren für Natur und Mensch, die gesundheitlichen Risiken und Folgeerkrankungen aufmerksam zu machen. „Und dann hab’ ich das einfach noch mal erzählt, mal so wie ich Ihnen das jetzt erzählt hab’ und hab’ mal gesagt, »Leute, wir wissen ja alle hier kommt Schwefelwasserstoff raus und jetzt les’ ich das mal vor, wie Schwefelwasserstoff auf die Gesundheit wirkt«, und dann hab’ ich das vorgelesen. Die [Ortsname]-er sind ja nich’ so schnell. Und dann hab’ ich gesagt, »Ja, und immer wenn die Blasen durchgehen ...« Und dann stand so ’n Alter, ich weiß nich’, ob der wirklich alt war, die sehen alle zwanzig Jahre älter aus, als se waren, und sagte, »Nja wissen Se, Frau [Simon], wenn ich ’s mir richtsch überlege, was Sie so sagen ... Als die letzte BLASE durchgegangen is’, sin’ meine Karnickel gestorben. Da is’ vielleicht doch was dran.« Also da hatt’ ich den Durchbruch, da hatt’ ich dann ooch mal ’ne ganze Zeit lang selbst [Ortsname]-er, die in dem Betrieb arbeiteten, auf meiner Seite. Und die dann also so=so diesen BLICK hatten, »Mensch JA, vielleicht is’ das ja tatsächlich was, dass=dass meine Frau ’n Loch in der Speiseröhre hat. Und so. Vielleicht is’ das ... ’s sind so viele an demselben Krebs gestorben und ham so viele so ...« Also das war irre.“608

605 606 607 608

V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 15. Vgl. Gensichen, Kritisches Umweltengagement, S. 146 und 153. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 23. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 39 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Spätestens mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 konnte diese bevölkerungsorientierte Aufklärungsarbeit auf eine größere Resonanz in der Öffentlichkeit hoffen. Die unmittelbare Konfrontation mit den Auswirkungen dieser Katastrophe und die Betroffenheit darüber, lenkten das Umweltthema immer mehr auf die kritische Auseinandersetzung mit den industriellen Schädigungen der Volkswirtschaft und verstärkt auf den sensiblen Bereich der Atomkraftenergie. Die „Initiative Schaffung atomkraftfreier Zonen“, welche sich im Umfeld der Aktivitäten der Gruppe von Frau Simon gegen den Bau eines neuen Atomkraftwerks zwischen Elbe und Mulde stemmte609, geriet ab diesem Zeitpunkt, auch weil sie unvermindert ein wachsendes Umweltbewusstsein im öffentlichen Raum der Gesellschaft zu institutionalisieren suchte, verstärkt ins Blickfeld der Staatssicherheit. Im Aufgreifen solcher global und zugleich national politisch explosiver Themen, die über die Gefahren „abschmelzender Polkappen“ oder „über die Behinderung der Dritten Welt“610 hinausgingen, wurden die Umweltschützer von den staatlichen Stellen nicht mehr als für den Naturschutz konstruktiv Tätige, in einem fassbaren Raum wie der staatlichen „Gesellschaft für Natur und Umwelt“ Kontrollierbare eingestuft, sondern den Kräften der „politischen Untergrundtätigkeit“ zugeordnet. 6.2.2.3 Ausbildung alternativer Lebensweisen611 und Streben nach politischer Handlungsfähigkeit Getragen werden die unterschiedlich gelagerten Motive für eine individuelle Resistenz im politischen Handeln von zwei Grundpfeilern: zunächst ideell und räumlich vom ‚Subsystem‘ der Kirche, zugleich aber auch von der Suche nach einer Differenzierung und Pluralisierung der Lebensgestaltung. Diese Suche hatte sich aus einer Ablehnung des bereits in der Jugend erfahrenen, allumfassenden Integrationsmodus des normativen, politisch-ideologischen Einheitskanons der Persönlichkeitsentwicklung in den institutionellen Strukturen der DDR entwickelt. Die Gruppen offerierten, den Aussagen von Frau Simon folgend, in diesem Sinne eine dem politischen Engagement gleichwertige Funktion, nämlich die Eröffnung eines Freiraums für alternative Lebensformen. „Und dass wir immer das Gefühl hatten, also es gibt doch noch was anderes. Und das hat uns so spüren lassen, also das, was wir HIER erlebt haben und was uns hier als das Beste alles Möglichen verkauft worden is’, das=das konnte nich’ stimmen. Dazu war ’s zu offensichtlich. Äh ja, wir KAMEN einfach zusammen, [...] weil wir alle von irgendwie so ähnlichen Sachen umgetrieben worden sind, weil wir FAST alle aus kirchlichen Umfeld so kamen. Alle so diese Vorprägungen hatten, wie ich sie vorhin beschrieben hab’. Und weil wir auch ’n Stück zusammen leben wollten. Also das is’ ’ne Sache, ähm die 609 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 40. 610 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 11. 611 Vgl. zum Kontext von politisch alternativem Protest und sozialistischer Lebensform: Häuser, Lebensstile und politische Kultur, S. 145–148. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ich=die ich in den ganzen Aufarbeitungen viel zu WENIG finde, das ist alles immer so furchtbar dramatisch und politisch und schwerwiegend. Ich hab’ gesagt, wenn ich jemals ein Buch schreibe über diese Zeit, und irgendwann mach’ ich ’s vielleicht mal, dann werden das lauter Geschichten sein und der Titel steht schon fest, der heißt, »Eigentlich war alles ganz anders.« Weil das würd’ ich dann betonen wollen, dass ich sag’, wir ham doch nich’ nur GEKÄMPFT und waren politisch aktiv und ham uns mit der Stasi rumgeschlagen oder was, wir ham in erster Linie gelebt.“612

Dieses Streben nach einem „Ideal, das hieß: Wir wollen anders sein und anders als DAS“613 hing in besonderer Weise eng mit dem zuvor beschrieben Aufbrechen von Informations- und Kommunikationsdefiziten infolge struktureller Verregelungen zusammen; auch mit einer stringenten Orientierung an Idealen und traditionellen Werten und einer Hoffnung darauf, die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen vom „eigenen Leben“ und der sozialistischen Alltagswirklichkeit auflösen zu können.614 Ungleich mehr, nämlich jenes, was diese Menschen bewegte, Themenkreise um Frieden, Umwelt, Dritte Welt, Erziehung usw. konnte in den offiziell geschaffenen Angeboten der staatlichen Organisationen nicht aufgefangen werden. Man schuf sich alternativ, konstituierend unter dem Dach der Kirche, einen freien Meinungsaustausch, herrschaftsfreie Kommunikation und eine eigene Diskussionskultur in politischen Gesprächs- und Aktionsgruppen. Wollte man aber ganzheitlich gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen, bedeutete dies auch, dass man neue „Elemente eines gemeinsamen Lebensstils“ erprobte, die eine Lebensform ausbildeten, welche „gleichermaßen relevant für die Friedensfrage wie für die Ökologieprobleme wie auch für die ökumenische Solidarität“615 wurden. Falcke verwendet in seiner phänomenologischen Beschreibung dieser Gruppen Begriffe wie „Lebensstil“ und „Ganzheitlichkeit“ und grenzt diese insofern ganz bewusst von dem in den siebziger Jahren in der sozialwissenschaftlichen Diskussion aufkommenden und später bestimmenden „Konzept der sozialistischen Lebensweise“ ab, das die individuelle Lebenspraxis in der DDR, vor allem vor dem Hintergrund ihrer sozioökonomischen Bedingungen betrachtete und in enge Verbindung zur seit dem VIII. Parteitag gesellschaftlich formulierten Hauptaufgabe, der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, stellte. „Wie die Individuen mit ihren objektiven Lebensbedingungen umgehen, erschien aber weniger relevant als die Frage, inwiefern sie den objektiv bestimmten Erfordernissen gerecht werden [...]. Sie wurden eindimensional auf ihre Funk612

613 614 615

V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 10. In ähnlicher Weise zeigt sich diese Motivation auch in Pollacks empirischer Studie, die diese als „das Streben nach Autonomie“, dem Versuch „nicht mitzumachen, sich nicht anzupassen, manchmal auch einfach nur der Wille, sich zu unterscheiden, anders zu sein als die meisten, [...] seine Individualität gegen die Mehrheit, gegen die ‚desinteressierte, feige, unaktive Masse‘“ durchzusetzen, umschreibt. Pollack, Sozialethisch engagierte Gruppen, S. 129 f. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 11. Pollack, Politischer Protest, S. 150. Falcke, Unsere Kirche, S. 48. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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tion für gesellschaftliche und ökonomische Anforderungen reduziert.“616 Die sozialistische Lebensweise entwickelte sich alsbald zur Strategie des von der SED propagierten Gesellschaftsverständnisses, welches sich überwiegend aus einer Abgrenzung zu den westlich orientierten, kapitalistischen Gesellschaftsformationen definierte: „soziale Sicherheit, Verwirklichung grundlegender Menschenrechte, wie das Recht auf Bildung, auf Arbeit und soziale Betreuung“. Differenzierte Ausformungen dieses theoretischen Konzepts blieben jedoch weitgehend undeutlich. Seine Funktion war unverkennbar die eines „vorgegebene[n] Interpretationsmuster[s] der gesellschaftlichen Wirklichkeit“, welches „die führende Rolle der SED, den Anspruch, die Gesellschaft planmäßig entwickeln und lenken zu können“617, legitimieren sollte. Das adäquate Gegenmodell zur staatlich verordneten Lebensweise fand sich für die Phänomenologie der gruppenspezifischen Charakteristika hingegen primär im Umfeld des Lebensstilskonzepts, das zunächst vor allem die Entwicklungen westlicher Industrienationen näher fokussiert hatte.618 Lebensstile erschließen einmal ein spezifisches Wissen über gemeinsame Relevanzsysteme und Symbolisierungen gesellschaftlicher Gruppenzugehörigkeit, aber ebenso Abbildungen dieser in subjektzentrierten Formen, die zur Verfestigung der Selbsttypisierung und Identitätsfindung sowie zur Sicherung individueller Sinngebung beitragen. Im Sinne dieser Definition ist auch Falckes Analyse der sozialethischen Gruppen, das heißt politisch alternativer im kirchlichen Raum angesiedelter Gruppen, in der DDR zu lesen, wenn er einmal die Funktion der sich ausformenden Lebensstile vor allem in der Symbolisierung von sozialer Identität und synchroner Signalisierung von Zugehörigkeit, bei gleichzeitig klarer Distanz und Distinktion zur Mehrheit der DDR-Bevölkerung, also in sozialer Abgrenzung durch expressive Performanz und Monopolisierung von spezifisch politisch alternativen und sozialethischen Ansprüchen zu den bisherigen Formen der sozialistischen Lebensweise sah.619 Falcke bescheinigte diesen Gruppen eine ebenso auf den Lebensstilbegriff bezogene „Ganzheitlichkeit“620, insofern sie einen eigenen Charakter kollektiv typisch identifizierbarer Deutungsund Handlungsmuster, die eigenen Werthaltungen, Einstellungen und Erfahrungen in einer gemeinsamen Lebensführung auszudrücken und umzusetzen 616 617 618

Häuser, Gegenidentitäten, S. 39. Zitate ebd., S. 40 f. Auf eine ausführliche Darstellung von Theorie, Linien der Tradition und neuesten Entwicklungen des Lebensstilkonzepts muss im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden. Vgl. bspw. die Beschreibung theoretischer Lebensstilkonzeptionen und empirischer Lebensstilforschungen unter besonderer Berücksichtigung ostdeutscher Lebensstile bei Schwenk, Lebensstil; allg. Überblick zuletzt: Hartmann, Lebensstilforschung. 619 Dies bereits in Anlehnung an Weber, der mit seinem Begriff der „Lebensführung“ in der Analyse von Klassen und Ständen die klassische Traditionslinie des Lebensstilbegriffs begründete und darin die heute noch gültigen Funktionen des Terminus grundlegend entwickelte. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 260–268; Lüdtke, Expressive Ungleichheit, S. 24–26. 620 Falcke, Unsere Kirche, S. 48. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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suchten:621 „Es is’ ja immer so, wenn man irgendwo ausgegrenzt is’ oder sich ausgrenzt oder eben irgendwas Besonderes macht, dann schweißt das ooch zusammen. Und äh da war so ’ne=so ’ne eigene Kultur in diesen Gruppen.“622 In dieser vorwiegend gesellschaftlich-distinktiven Gruppenorientierung, die eine ernstzunehmende Motivation darstellte, wollten sich die InterviewpartnerInnen stark von der Mehrheit der DDR-Gesellschaft distanzieren. Der individuell stark umgrenzte Handlungsrahmen „in einer entdifferenzierten ‚klassenlosen‘ Gesellschaft“623 ließ nur geringe Abwandlungen von der einheitlichen Lebensweise zu, weil sie eher auf eine Reproduktion des vorgegebenen Lebensweise-Modells abzielte. Allgemein ist für moderne Gegenwartsgesellschaften festzuhalten, dass relativ homogenisierte Gesellschaftslagen letztlich die Verankerung von Lebensstilen fordern und in ihnen der Stilisierungsbedarf kontinuierlich wächst, um symbolisch Distinktion anzuzeigen.624 Auch wenn die gesellschaftliche Lebenspraxis in der DDR unter anderen Vorzeichen stand, hat dieses Phänomen schließlich für das letzte Jahrzehnt der DDR mehr und mehr an Relevanz gewonnen. Der innere Antrieb differente Lebensstile auszubilden, gründete schließlich auf der Kumulation veränderter äußerer Bedingungen und innergesellschaftlicher Möglichkeiten der Sozialintegration.625 Die herrschaftlich kollektiv erzwungene, als Konfliktfeld empfundene äußerliche Homogenität in der DDR-Gesellschaft konnte insbesondere durch die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit im kirchlichen Raum ausgeglichen werden. Innerhalb dieser selbst vollzogenen „Zwangsdistanzierung“ von den widersprüchlichen Realitäten der DDR-Gesellschaft kam es, wie bei den InterviewpartnerInnen deutlich wurde, innerhalb dieser Gruppen sowohl zu einer größeren Freisetzung von Solidarisierung und als auch für den Einzelnen zu Ausbildung von Distinktionen, die eine stärkere Individualisierung ermöglichten.626 Neue Lebensformen, in einer strukturell ‚außergesellschaftlich‘ geschaf621 Vgl. die Definition des Lebensstilbegriffs in diesem Kontext bei Hörning/Michailow, Lebensstil, S. 502. 622 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 11. 623 Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 222. 624 Zur Bedeutung der modernen Lebensstilforschung hat maßgeblich Bourdieu beigetragen. Seine Lehre konstatiert, dass soziale Gruppen sich nicht nur ökonomisch, sondern auch symbolisch durch die von den Klassenangehörigen mit „Distinktionszeichen“ zum Ausdruck gebrachten Habitusformen – für eine erste Kurzdefinition des Begriffs vgl. erneut Kap. 1 – unterscheiden. Diese prägen das Handeln der Menschen, die sich als Angehörige von Gruppen voneinander abzugrenzen suchen. In den drei Dimensionen des „ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals“ hat Bourdieu die Lebensstile klassifiziert. Auf die Bedeutung seiner zuerst für die französische Gesellschaft angelegten Studie für eine Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände im DDR-Sozialismus hat er im Zuge der Umbrüche im Herbst 1989 verwiesen. Vgl. Bourdieu, Politisches Kapital, S. 33. Grundlegend zur „Habitus“-Theorie vgl. Bourdieu, Feine Unterschiede. 625 Vgl. Hörning/Michailow, Lebensstil, S. 503. 626 Vgl. Beck, Eigenes Leben, S. 111 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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fenen Sphäre, bildeten die Grundlage und stellten die Weichen für ein Vordringen in den öffentlichen Raum, um letztlich eines der Hauptziele zu erreichen: die Herstellung einer pluralistischen Öffentlichkeit.627 Betrachtet man die unterschiedlichen Konfliktfelder gemeinsam, ist die Bildung eines abgrenzbaren, eigenen Phänomens zu erkennen, das maßgeblich für die Motivation, sich politisch zu engagieren, verantwortlich zu machen ist: der Entschluss die Konfrontation und Auseinandersetzung mit einem System, das als undemokratisch und repressiv empfunden wurde, zu wagen. Am Beispiel von Frau Manzel, die im Umfeld der Friedensfrauen aktiv war, konnte dies speziell erarbeitet werden. Hier wurde deutlich, dass die Thematisierung geschlechtsspezifischer Problemlagen von den systemspezifisch übergeordneten, nämlich denjenigen, welche die allgemein diktatorischen Zustände in der DDR aufzeigen sollten, in ihrer Bedeutsamkeit zunächst verdrängt wurde. Politischer Protest, der sich zugleich in individueller Resistenz und später als kollektive Opposition manifestierte, bildete sich in den achtziger Jahren vor allem aus drei Inhalten: Freiheits- und Menschenrechte, Frieden und Umwelt. Die im Vorausgehenden vollzogene Trennung, die vor allem eine systematisierende Funktion hatte, ist für die damalige Wirklichkeit nur schwer nachzuvollziehen. Allein schon dadurch, dass die evangelische Kirche durch die Möglichkeit, sich unter ihrem Dach gemeinsam zu formieren, eine Artikulation dieser Inhalte erlaubte und zu einer Festigung der Protesthaltung beitrug, sind die genannten Bereiche ideologisch, personell und organisatorisch eng miteinander verbunden. Insofern bot sie auch bis zu einem gewissen Grad Schutz vor staatlichem Zugriff.628 Der Entschluss sich politisch alternativ zu engagieren, kam eigens auch aus einem von Neubert als „Sozialisationsnotstand der Gesellschaft“ bezeichneten Gefühl, das veranlasste die persönliche Vereinzelung zu überwinden, um der Bevormundung und Begrenzung durch staatliche Strukturen und Maßnahmen kollektiv Ausdruck zu geben, gemeinsam im Sinne traditioneller Wertkategorien verantwortliches Handeln voranzutreiben und als „sozialisierende Gruppen“629 gesamtgesellschaftliches Bewusstsein zu verändern. Der individuelle Antrieb motivierte sich 1. aus dem Bestreben, politische Handlungsfähigkeit zu erlangen – hier nun spezifisch aus dem Verständnis einer protestantischen Prägung heraus –, dies aber 2. in enger Verflechtung mit dem Wunsch nach solidarisierender Gemeinschaft und gleichgesinnter Kommunikation. Fest darin verankert war 3. die Ausbildung von und Suche nach kollektiven Lebensformen, die in Widerspruch zur bisherigen gesellschaftlichen Lebensweise standen und diese innerhalb so genannter „Existenzformen des eigenen Lebens“630 zu überwinden suchten. Sie stillten das Bedürfnis nach „Autonomie und Selbstbestimmung“ und gewannen zugleich eine hohe „Bedeutung für die persönliche 627 628 629 630

Vgl. Poppe, „Der Weg ist das Ziel“, S. 254. Vgl. Kloth, Grüne Bewegung, S. 145. Beide Zitate: Neubert, Religion, S. 35. Beck, Eigenes Leben, S. 114. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Identitätsfindung“631. Alle drei Elemente, die sich gegenseitig bedingten, erfüllten eine wichtige Funktion für den Entstehungszusammenhang einer individuell wie kollektiv engagierten Protesthaltung: „Ja also, dieses Leben und=und Engagiertsein, das=das war eine Einheit.“632

6.2.3 Disziplinierung innergesellschaftlichen Protests und politisch alternativer Reformbestrebungen – Formierung individueller Resistenz und kollektiver Opposition Aus der Perspektive der Machthabenden bedeutete die Konstituierung gesellschaftlicher Resistenz bzw. Opposition seit Ende der siebziger Jahre eine immense Gefahr für die innere Stabilität des DDR-Systems. Der real existierende Sozialismus, der noch bis zur Mitte der siebziger Jahre kurzzeitig durch den Wohlstandsschub eine hoffnungsvolle neue soziale und ökonomische Wirklichkeit geschaffen hatte633, enthüllte jetzt seine Schattenseiten. Die Verwirklichung der Hauptaufgabe des VIII. Parteitags, die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, führte letztlich in eine finanzielle Katastrophe für den Staatshaushalt. Aufgrund der hohen Staatsverschuldung war insgesamt ein stabiles Wirtschaftwachstum nicht zu halten, fehlte doch der finanzielle Rückhalt für die Erneuerung und den Ausbau wissenschaftlich-technischer Grundlagen. Hinzu kam zu Beginn der Achtziger die globale Weltwirtschaftskrise, die vor allem für die DDR langfristig in ein ökologisches Desaster führen sollte: Aufgrund der weltweiten Erhöhung für Rohstoffpreise und der Drosselung der Erdölexporte aus der Sowjetunion, die aufgrund der Afghanistan-Intervention wirtschaftlich ebenfalls unter Druck geraten war, verlagerte die DDR ihre Energiegewinnung größtenteils auf Braunkohle (1985 bei 82 Prozent), welche nur eine der Ursachen für die fortschreitende und immense Schädigung von Luft, Wasser und Böden darstellte.634 Zugleich hatte die SED seit 1971 die „systemtheoretische Konzeptionalisierung und die Interpretation des Sozialismus als relativ eigenständige Gesellschaftsformation“635 verworfen, stattdessen bewegte sie sich mehr und mehr in einem vom Pragmatismus getriebenen, ideologischen Vakuum, das vorerst auf die großen Utopien verzichtete und zunächst in ernüchternder Form und verwässerter Definition die „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“636 proklamierte. „Die wissenschaftlich-technische Revolution verlor die 631 Vgl. Häuser, Gegenidentitäten, S. 67. 632 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 11. 633 Vgl. dazu die Ausführungen zum seit 1962 in der DDR etablierten ökonomischen Reformprogramm NÖSPL am Ende des Kap. 6.3.2.1. 634 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 304–311 und S. 321. 635 Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 221. 636 Rede Erich Honecker, Bericht des ZK an den VIII. Parteitag der SED, insbesondere zur „Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Protokoll des VIII. Parteitages der SED, Band 1, S. 57–99. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Bedeutung eines Motors rapider sozialer Umwälzung; damit ging die legitimatorische Verknüpfung technokratischer und utopischer Hoffnungen verloren.“637 Die sich im DDR-Mikrokosmos kumulierenden Krisenanzeichen führten letztlich ideell zu einer innergesellschaftlichen Stagnation und Perspektivlosigkeit. Die Kommunikation zwischen Staat und Volk verkam durch die „Veralltäglichung“ der Machtverhältnisse zu einer „Akkommodierung“ zwischen beiden. Letztlich mussten jene, die sich einer ideologischen Sinnentleerung widersetzen und der Entfremdung ihrer eigenen Identität in einer verordneten Enttraditionalisierung entkommen wollten, ihre Kommunikation in einem anderen Raum suchen, der „Freiheit und wirkliche Autorität signalisierte“638. Auf diesen Prozess der Ausbildung systemkritischen Potenzials, vor allem unter dem Einfluss der Kirchen, reagierten die Machthabenden wiederum nicht im Dialog, sondern lediglich mit autoritärer Drohgebärde. Die in den Gruppierungen als systemgefährdend eingeschätzten, neu aufgeworfenen Fragen, die „einen Diskurs in Gang“ setzten, „der so etwas wie die bisher aufrecht erhaltenen Öffentlichkeitsstrukturen zu paralysieren drohte“639, begegnete man mit einer eindimensionalen Strategie: Forcierung des stetigen Ausbaus staatssicherheitsdienstlicher Strukturen, vor allem unter gesellschaftlicher Einbindung in Form inoffizieller Mitarbeiter640, und der Verschärfung und Differenzierung ihres Vorgehens. Das MfS räumte insofern den politisch alternativen Gruppen auch niemals einen eigens entwickelten Ansatz bzw. eine inhaltlich berechtigte Daseinsfunktion ein; sie wurden allein „als von westlicher, das heißt feindlicher Seite inspirierte und ferngesteuerte Kräfte“641 angesehen, wobei für die einzelnen Gruppieren unterschiedliche Einschätzungen, was ihre Gefährdung für die staatliche Stabilität betraf, galten. Darauf ist bereits im vorausgehenden Kapitel verwiesen worden. Grundsätzlich lässt sich festhalten, „dass das SED-Regime auf die Friedensbewegung weitaus empfindlicher reagierte als auf ökologische Gruppen. Während die Kritik an der Umweltpolitik noch als reine Dissidenz in einer speziellen Sachfrage gewertet werden konnte [...], berührten Themen wie Abrüstung [...] das Selbstverständnis und das Sicherheitsbedürfnis des Regimes in viel stärkerem Maße.“642 Deshalb stellt sich auch die Frage, ob 637 638 639 640

Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 222. Ebenso vorausg. Zitate: Niethammer, SED und „ihre Menschen“, S. 314 und 316. Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 82. „Die Lösung der grundsätzlichen politisch-operativen Aufgaben erfordert vor allem: Ständige Erhöhung der Wirksamkeit der Arbeit mit IM [...], die in Kenntnis der von den feindlichen Stellen und Kräften sowie von den feindlich-negativen Kräften im Innern der DDR angewandten, oft konspirativen Mittel und Methoden und ihrer Lebensgewohnheiten in der Lage sind, vertrauliche Beziehungen zu diesen herzustellen, in die Konspiration des Feindes bzw. feindlich-negativer Gruppierungen einzudringen“. MfS-DA 2/85 „zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“ (BStU, ASt. Chemnitz, Dokument 594, Bl. 13; MfS-Zählung). 641 Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 83. 642 Mühlen, Opposition, S. 221. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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folglich spezifische Methoden und Maßnahmen der Bearbeitung gegenüber diesen als unterschiedlich systemgefährdend eingeschätzten Gruppierungen bzw. deren Vertretern empirisch greifbar zu machen sind und in welcher Form sie sich charakterisieren und möglicherweise kategorisieren lassen. Letztlich verfolgten sie doch stets ein einheitliches Ziel, den individuell oder kollektiv engagierten Menschen, die eine kritische Öffentlichkeit zur Demonstration ihrer gesellschaftlichen Kritik und Reformansätze schaffen wollten, jegliche Handlungsfähigkeit zu nehmen, indem der vorgegebene gesellschaftliche Handlungsrahmen immer enger gezogen wurde. Ausführende Linie innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit zur „Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit (PUT)“ – wie das MfS diese Form gesellschaftlicher Teilhabe bezeichnete – waren die Hauptabteilung XX und die in den Bezirksverwaltungen zuständigen, dem Linienprinzip folgenden Abteilungen XX. In die Arbeit der Bekämpfung von „Kirche, Kultur und Opposition“, die resistente Einzelpersonen und oppositionelle Gruppen zugleich betraf, wurden in der Folge kumulierender Anzeichen eines staatsgefährdenden Potenzials dieser, allmählich alle operativen Diensteinheiten des MfS einbezogen, um eine spezifische und effektive „Arbeitsteilung“ zu gewährleisten.643 In der Reaktion auf das vermehrte Auftreten verschiedentlich als oppositionell lokalisierbarer Gruppen differenzierten sich die HA bzw. Abt. XX zusätzlich in unterschiedliche Diensteinheiten, wobei jene der XX/4644 und XX/9 besonders aktiv im innerkirchlichen Raum bzw. in intellektuellen Personenkreisen arbeiteten und gleichzeitig auch auf überregionaler Ebene zusammenwirkten.645

6.2.3.1 Bearbeitung systemkritischer, aus dem kirchlichen Umfeld kommender Einzelpersonen – Individuelle Ausbildung von Resistenz und Gegenwehr Die ab den siebziger Jahren mit den „feinen Waffen der Diktatur“ vollzogene „Zersetzungstätigkeit“ des MfS gegen systemkritisches Potenzial in der eigenen Bevölkerung richtete sich sowohl gegen einzelne Personen als auch gegen ganze Gruppierungen. In den folgenden Ausführungen wird in individuell beispielhafter Weise versucht, anhand einer Einzelperson des Typus, die aufgrund ihres engen Bezugs zur evangelischen Kirche und ihrer systemkritischen Haltung im beruflichen Feld des Bildungswesens in direkte Konfrontation mit dem MfS kam, das Wesen staatssicherheitsdienstlicher Maßnahmen zu untersuchen und typische Strategien von Zersetzungsmechanismen aufzuzeigen. Desgleichen ist 643 Vgl. MfS-DA 2/85 (BStU, ASt. Chemnitz, Dokument 594, Bl. 25–36; MfS-Zählung) 644 Die Diensteinheit XX/4 differenzierte sich nochmals in mehrere Referate, die bspw. gesondert für die Bearbeitung der evangelischen Kirche (Referat 1) oder der PUT in der evangelischen Kirche (Referat 5; 1983 aufgrund des Anwachsens dieses Phänomens neu gegründet) zuständig wurden. 645 Vgl. Rudolph, Bearbeitung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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es Ziel, die vollzogenen Denk- und Handlungsstrategien sowie individuellen Auswirkungen und Einschätzungen der Maßnahmen auf der Seite des Betroffenen zu rekonstruieren. Das „Interesse reaktionärer Kirchenkreise, die Schulpolitik unseres Staates zu unterlaufen.“646 – Berufliche Marginalisierung und „Herauslösung“ in Zusammenarbeit mit den Partnern des POZW: Unvermittelt setzte für Herrn Kunze eine merklich konfrontative Auseinandersetzung seiner Person mit den staatlichen Stellen ein, zunächst auf administrativer Ebene über die Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens und aus dem Anlass der politischen Disziplinierung seines Sohnes.647 Was er nicht ahnte: Bereits seit über einem Jahrzehnt befand er sich im Visier der Staatssicherheit und war kontinuierlich beobachtet und durch inoffizielle Mitarbeiter kontrolliert worden. In einer Form von Arbeitsteilung koordinierte das MfS mit den Partnern der POZW über den leitenden Schuldirektor, der als Geheimer Mitarbeiter entsprechende Eingriffsbefugnisse hatte, das geplante Vorgehen gegen Herrn Kunze. Die operative Zielstellung war „Beweise der Verletzung der Tatbestandsmerkmale gemäß § 106 StGB herauszuarbeiten“648; zehn Jahre später führte diese zur Entlassung Herrn Kunzes aus dem Schuldienst. Weil man jedoch seit 1971, innerhalb der Überwachung des „Literarischen Zirkels“, in dem Herr Kunze und vier weitere Lehrerkollegen religiösen und politischen Austausch pflegten, lediglich Anzeichen „konvergenztheoretischer und sozialdemokratischer Auffassungen“649 ausmachte, aber niemals eine Erfüllung des Tatbestands nach §§ 106 (Staatsfeindliche Hetze) nachzuweisen war650, versuchte man Herrn Kunze auf anderem Wege, nämlich beruflich, haftbar zu machen. Schließlich hielt man ihn „für ’n Kirchenspion, der testen will, wie weit man sich auf ’m Bildungssektor vorwagen kann. Und man hat nach ’m Anlass gesucht.“651 Diesen fand und nutzte man innerhalb der „provokatorischen Ver646 MfS-Akte Herr Kunze, Übersichtsbogen zur OPK (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 5). 647 „... also er [sein Sohn] trug den Aufnäher ‘Schwerter zu Pflugscharen’, der Direktor bekam das mit, de Sekretärin musste den abtrennen und ich wurde dann bestellt, inwieweit ich so was unterstützen würde. Ich hatte dieselben Argumente wie der Sohn, die Sowjetunion hat der=den USA dieses Emblem als Denkmal geschenkt und äh das ist eigentlich nichts Schlechtes. Und wenn er ’ne andere Meinung (hätte), dann könnte er das in der Problemdiskussion im Unterricht doch recht gut nutzen zur Auseinandersetzung und damit würden die Kinder ja auch zu kritischen äh Meinungen erzogen.“ V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 1. 648 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 25). 649 MfS-Akte Herr Kunze, Operativplan (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 1109/71, Bl. 111). 650 „[K.] vertrat in diesem Kreis die Linie der ev.-luth. Kirche, trat gegen die sozialistische Schulpolitik auf und testete dabei offensichtlich, wie weit ein christlich gebundener Lehrer in dieser Eigenschaft mit einer Kritik, einer offenen Ablehnung bzw. passiven Verhalten gehen kann. In der operativen Bearbeitung konnten die Ausgangshinweise nicht als strafrechtlich relevant bewiesen werden.“ MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 203). 651 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 9. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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haltensweisen und teilweise feindlichen Aktivitäten seines Sohnes“652; das Handeln des Herrn Kunze konnte dabei entsprechend gelenkt und „kriminalisiert“ werden. Das Ziel bestand nun darin „hinsichtlich seines [Herrn Kunzes] Auftretens und Verhaltens im Schuldienst“ Ansatzpunkte für eine Zersetzung herauszuarbeiten, beispielsweise aufzuklären, wie er „unter Nutzung von Freiräumen der Kirche, pazifistische Ideen zu popularisieren und unter dem Vorwand der Umweltschutzpolitik gegen den Staat eingestellte Jugendliche zu sammeln“653 suchte. Letztlich sollte ihm aufgrund dieser Aktivitäten die Fähigkeit, als „sozialistische Lehrerpersönlichkeit“ tätig zu sein, abgesprochen werden; primär ging es darum sein Bemühen „die Linie der Kirche auch in seiner Lehrertätigkeit wirksam werden zu lassen“654 zu unterbinden. Schließlich bewegte er sich im Bereich Volksbildung auf einem gesellschaftsideologisch äußerst brisanten Terrain. Die Tätigkeit als Lehrer beinhaltete zuvorderst die Formung sozialistischer Persönlichkeiten und dabei war die Frage, „von welchem ideologischen Standpunkt der Lehrer an seine Arbeit herangeht, wie tief er in die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, in die Gesellschaftsstrategie der Partei eingedrungen ist und welche politische Haltung er seinen Schülern vorlebt“655, letztlich entscheidend. In dieser Hinsicht hatte sich Herr Kunze jedoch, was die realsozialistischen Erziehungsideale anbetraf, zu weit von der offiziellen Linie entfernt. Das an christlichen Grundwerten orientierte problematische Verhältnis zur gesellschaftlichen Militarisierung in der DDR artikulierte er auch zunehmend kritisch im Unterricht. Die obligatorische Einführung der „Wehrerziehung“ an den Polytechnischen Oberschulen bildete für ihn dabei einen neuen Ansatzpunkt. Denn selbst in seinem zweiten Unterrichtsfach Mathematik wurde dieses zum Thema: Klassenstandpunkt und Feindbildkonstruktion spiegelten sich in Aufgaben wider, die Berechnungen von Geschossgeschwindigkeiten, Waffeneffizienzen und Flugbahnberechnungen forderten.656 Seinen Unmut über diese flächendeckend angelegte Einschleusung des sozialistischen Wehrmotivs in nahezu allen Unterrichtsfächer tat er auch öffentlich gegenüber Kollegen und Eltern kund, was die kontinuierliche Diskreditierung seiner Person bei Schulleitung und Volksbildung zur Folge hatte.657 Auch der Verdacht, dass er als Kraft „reaktionärer Kirchenkreise“658 wirkte, schien insofern weiter untermauert. Für die Umsetzung des operativen Planes seiner so genannten Herauslösung aus dem Schuldienst hatte er insofern ausreichend Gründe und Argumente geliefert. 652 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 209). 653 Beide Zitate MfS-Akte Herr Kunze, Operativplan zur OPK (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 203). 654 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 203). 655 Opitz, Lehrer, S. 8. 656 Vgl. Lehrplan Mathematik der Klassen 9 und 10. Dokumentiert in: Iter, Handreichung zur Wehrerziehung, S. 136. 657 Vgl. V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 9 und 13. 658 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 203). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Konkret gestaltete sich diese nun in mehreren Etappen. Der vom MfS gesuchte Anlass, wie eingangs erwähnt, war das Auftreten seines Sohnes mit dem Symbol nicht nur der ostdeutsche, sondern auch der weltweiten Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. Das Motiv, das noch bis zu Beginn der achtziger Jahre auch offiziell ein Ausdruck der sozialistischen Geschichtsverheißung gewesen war, wurde spätestens seit der zweiten Friedensdekade des Kirchenbundes 1981 zum weitverbreitetsten Symbol gegen die sowohl weltweit sich beängstigend entwickelnde atomare Aufrüstung als auch gegen die innergesellschaftlich steigenden Militarisierungstendenzen. Seit März 1982 galt in Bildungseinrichtungen das Verbot des Zeichens659. Schüler und Schülerinnen wurden, wie auch der Sohn von Herrn Kunze, aufgefordert, dieses als Aufnäher getragene Symbol unverzüglich abzutrennen. Während die Regierung noch mit dem Kirchenbund über die gesondert geregelte Verwendung des Zeichens debattierte, war die Linie im MfS bereits festgelegt und sollte sich bis zum Herbst weiter verschärfen. Aufbauend auf das Rundschreiben Mielkes, das unter anderem eine „Herstellung und Verbreitung von Symbolen mit pazifistischen Inhalt“660 umfassend und massiv zurückzudrängen suchte, wiesen die Leiter der jeweiligen Bezirksverwaltungen eigens das verstärkte Vorgehen der Abteilungen XX gegen Kräfte der „Evangelisch-Lutherischen Kirche zur Forcierung und Durchsetzung einer ‚eigenständigen Friedensbewegung‘“661 an, die auch praktische Zurückdrängung pazifistischer Inhalte und Losungen in welcher Form auch immer beinhaltete. Wie ernsthaft und akribisch hierbei im Bezirk vorgegangen wurde, zeigte auch die Statistik der zuständigen SED-Bezirksleitung, die monatliche Auflistungen über das Tragen pazifistischer Symbole von Schülern an 73 Schulen führte. Die Auswertung zur einzuschätzenden Zurückdrängung des Symbols „Schwerter zu Pflugscharen“ ergab aber hier auch, dass „diejenigen, die sich nach wie vor hartnäckig weigern, [...] zumeist religiös stark gebundene Jugendliche [sind], die auch ihre Verteidigungspflicht mit der Waffe ablehnen“662. Das heißt: die Verantwortung für die opponierende Haltung der Jugendlichen, die diese im Tragen der pazifistischen Symbole öffentlich ausdrückten, trugen die „Aktivitäten kirchlicher Kräfte“. Auch Herr Kunze wurde als eine solche ‚Kraft‘ innerhalb der Volksbildung wahrgenommen; die Befragungen der Kollegen in den Berichten des IM bzw. GM schildern, wie er beispielsweise im Schulalltag versuchte, „nachzuweisen, dass religiös gebundene Kinder in der DDR benachteiligt würden“ und dass „es richtig sei, dass die Kir659 Dies gemäß einer gemeinsamen Richtlinie der Ministerien des Innern, für Volksbildung sowie für Hoch- und Fachschulen. Vgl. Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 85. 660 Vgl. Rundschreiben Mielkes vom 17. 3.1982 (Dok. 67). Dokumentiert in: Besier/Wolf, »Pfarrer, Christen und Katholiken«, S. 321. 661 MfS-DA 6/82 vom 14.10.1982 „zur Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit“ des Leiters der BV Karl-Marx-Stadt Gehlert (BStU, ASt. Chemnitz, C-XX-688, Bl. 1; MfS-Zählung). 662 Stimmungsbericht der Abt. Agitation und Propaganda vom 26. 4.1982 (SäStA Chemnitz, SED BL KMSt, Nr. IV E-2/9.01/447, Bl. 5b). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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che einen sichtbaren Beweis ihrer Friedensliebe in der Öffentlichkeit unter Beweis stell[e]“663. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen stehen die verschärften Maßnahmen gegen Herrn Kunzes Sohn, die eine Vorhut der eigentlichen Zersetzungsmaßnahmen gegen den Vater selbst darstellen sollten. Bereits seit Anfang 1982 war der Sohn wegen seines provokativen Verhaltens aufgefallen: 1. durch einen Brief an den Rat des Kreises, in dem dieser Auskunft über das Tragen des Symbols „Schwerter zu Pflugscharen“ forderte, 2. weil er als einziger Schüler in provokatorischer Absicht nicht im Blauhemd der FDJ zum Wehrkundeunterricht erschien und 3. infolge eines vom MfS abgefangenen Briefs an die „Junge Welle“, dem er das von ihm verfasste Gedicht „Gedanken zum Weltfrieden“ beigelegt hatte.664 Wenige Zeit später wurde der Sohn, als er zusätzlich wegen schriftlicher Äußerungen gegen die Verteidigungspolitik und den Wehrdienst in der DDR negativ auffiel, „aus ’m Unterricht abgeholt, (2) zu einer Vernehmung der Staatssicherheit. [...] Ja, den [Name des Sohnes] ham die von früh um acht bis Nachmittag um drei verhört.“665 Zuvor erging an den Direktor und zugleich Geheimen Mitarbeiter eine Benachrichtigung, dass Mitarbeiter der Untersuchungsabteilung der BV für Staatssicherheit zur Klärung eines Sachverhaltes den Sohn von Herrn Kunze zur Befragung aus dem Unterricht entfernen würden.666 „Und dann um drei kamen ein Kriminalbeamter und zwei Leute von der Staatssicherheit [...] und anschließend wurde [Name des Sohnes]-s Zimmer durchsucht. Ich fragte nach ’nem Durchsuchungsbefehl, äh mir wurde ge(deutet), der würde nachgereicht. [...] Und dann stellte man fest, er hatte mit ‘Ormig’667 -Papier, was ich noch von meiner Dissertation übrig hatte, hatte er ein GEDICHT ‘Meine Gedanken zum Weltfrieden’ (1) aufgeschrieben [...]. Und dieses Gedicht hat er Freunden geschickt und wahrscheinlich ist das auch abgefangen worden und so ist man aufmerksam geworden. Und dann hatte er mit solchen Reihbuchstaben Aufkleber gemacht etwa ‘Schwerter zu Pflugscharen’ oder andere und das wurde alles beschlagnahmt. Äh ich musste dann ein Beschlagnahmeprotokoll unterschreiben, wollte den Durchschlag haben, der vorhanden war, der wurde mir verweigert und meine=mein Vorschlag, das Ganze zu verbrennen, »Das sind doch äh Lappalien, Belanglosigkeiten«, wurde mit Schweigen beantwortet. Ich fragte nach den Namen, weil ich mich über die beiden beschweren wollte und äh wurde mir nur gesagt, ich könnte mich ja an der entsprechenden Stelle beschweren, aber äh ihre Namen würden se nich’ sagen, die wüssten dann schon, wer geschickt worden sei.“668

Die Androhung einer möglichen Beschwerde, der Vorschlag an die Staatssicherheitsdienstmitarbeiter, die sichergestellten Materialien zu vernichten und seine 663 664 665 666 667

MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 210). MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 209). V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 11 f. Vgl. MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 211). Ormig: in der DDR über Jahrzehnte angewandtes, einziges Vervielfältigungsverfahren von Schrifttexten. 668 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 11 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Unterschrift unter das ausgefertigte Einziehungsprotokoll mit dem Zusatz „als Erziehungsberechtigter – aber ohne Einwilligung für die Beschlagnahme“669 boten endgültig Anlass das Verfahren gegen Herrn Kunze mit Hilfe des POZW, das ihn aus dem Schuldienst lösen sollte, einzuleiten. Zunächst wird er zu einer Stellungnahme vor dem Kollektiv aufgefordert, die sein erzieherisches Versagen erklären soll und daraufhin genötigt, eine Erziehungsvereinbarung für seinen Sohn zu unterzeichnen, die den erzieherischen Einfluss eines ‚Freundes‘, der später als IM erkennbar wird, auf den Sohn ermöglicht. Dies lehnt Herr Kunze, wie einer Aktennotiz des GM zu entnehmen ist, jedoch kategorisch ab.670 Letzten Endes war wiederum ein wiederholtes ‚Fehlverhalten‘ des Sohnes ein willkommener Anlass zur endgültigen „Herauslösung des [Kunze] aus dem Schuldienst“671. „Äh, im Jahr (1) drauf, hatte er im Biologieunterricht der Klasse zehn, wo das Kapitel Abstammungslehre dran is’, äh in seinem Lehrbuch Texte durchgestrichen. Dort stand, dass durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse die Abstammungslehre der Kirche überholt sei. (1) Und da hat er ’n Fragezeichen rangemacht und immer wenn ‘Wissenschaftliche LEHRE’ steht, hat er ‘Lehre’ durchgestrichen und ‘Theorie’ drübergeschrieben. Und eine Mitschülerin bekam das mit, hatte der Biologielehrerin Bescheid gesagt und die Biologielehrerin hatte ihm das Buch weggenommen und das dem Direktor gebracht. [...] Meine Frau hatte da schon wieder Angst, es könnte wieder so was passieren wie im Jahr vorher mit den ‘Schwerter zu Pflugscharen’. Ich hab’ gesagt, »Na, was soll denn das, Karl Marx hat ooch seine Randglossen gemacht zu irgendwelchen Programmen, da kann dem nischt passieren.«“672

Als dieser Vorfall jedoch vom Direktor an die Abteilung Volksbildung beim Rat des Kreises Weiterleitung fand673 und er wenige Tage später durch den „Kreisschulrat grünes Licht in Sachen Kunze“674 erhielt, wurden von der zuständigen Kreisdienststelle des MfS die Instruktionen über den Ablauf des operativen Eingreifens koordiniert. Zunächst hatte aber die Schule Probleme, einen Aufhebungsvertrag zu erzwingen, da Herr Kunze formale Vorgangsfehler geltend zu machen und zu seinen Gunsten vorzubringen wusste. Diese interne Panne schlägt sich in den Aufzeichnungen der MfS-Kreisdienststelle nieder, wo der Unmut der Volksbildungsabteilung gegenüber dem MfS deutlich wird: „Wenn wir schon einen aus dem Schuldienst entlassen sollen, dann soll uns die ‚Stasi‘ auch mitteilen, was 669 Vgl. MfS-Akte Herr Kunze, Sachstandsbericht zur OPK (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2531/81, Bl. 7). 670 MfS-Akte Herr Kunze, Aktennotiz (2) vom 19. 5.1982 (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, unpaginiert). 671 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 269). 672 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 1. 673 Der Brief an die Abt. Volksbildung beim Rat des Kreises der Stadt ist in der MfS-Akte von Herrn Kunze dokumentiert. Akribisch listet der Direktor der Oberschule die Streichungen und Randbemerkungen des Schülers in besagtem Lehrbuch auf. MfSAkte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 114). 674 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 241). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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sie wissen“675. Auch nach einer Erhöhung des Drucks auf den Sohn, dessen Ausbildungsvertrag zum Krankenpfleger rückgängig gemacht wurde, war er nicht bereit, seinen Schuldienst zu quittieren: „Und— der [Name des Sohnes] wurde vorm Fahnenappell öffentlich getadelt, mit der Begründung er hätte den Lehrtext so verändert, dass er nicht mehr im Sinne der Arbeiterklasse sei. Und er hatte sich als Krankenpfleger beworben und hatte schon die Zulassung in [Ortsname]. Der Direktor hatte mit dieser Fachschule Verbindung aufgenommen, die mussten die Zulassung zurücknehmen.“676 Erst die Anschuldigung, er hätte seine auferlegte Schweigepflicht bezüglich der bevorstehenden Entlassung in einer Elternaktivsitzung gebrochen, machte ihn greifbar. Das unsolidarische Verhalten insbesondere des fachbetreuenden Kollegen gab den Ausschlag für die Bestätigung der fristlosen Kündigung. Damit hatte sich das ausgefeilte Administrations- und Kontrollsystem innerhalb der Volksbildung einmal mehr zugunsten des SED-Systems bewährt. Jeder Lehrer, jede Lehrerin war einem Fachberater zugeordnet, der stetig Hospitationen, auch bei Elternabenden und Elternaktivsitzungen durchführte. Innerhalb dieses hierarchischen Inspektionssystems, das lückenlos funktionierte, konnten verdächtige ‚politische Abweichler‘ wie Herr Kunze zielgerichtet unter Kontrolle gehalten und wenn nötig aus dem Bildungswesen „herausgelöst“ werden.677 „[...] und ’s waren insgesamt zwölf Kollegen, die da—, nein zwölf Personen, ’s war also auch der Schulrat, der Schulinspektor, der BGL-Vorsitzende und eben die anderen, dass die Zahl Zwölf zusammenkam. Warum, die zwölf, ’s war sicher Zufall, aber ’s war de Passionszeit und irgendwie (war das für mich) eene unheilige Aktion. Ja und dort äh, bin ich da rein, ich hatte ihn gefragt, »Ich hab’ ja dann Unterricht«, »Das wird vertreten.« Der Schulleiter eröffnete die Versammlung und äh »Disziplinarverfahren« und »mit fristloser Entlassung.« [...] ich hätte also die dienstliche Schweigepflicht verletzt, hab’ ich gesagt, »Das is’ nich’ wahr.« Der Kollege war mit da gewesen, der in diese Elternaktivkonferenz gekommen war. Ich sagt’, »Er hat mir, nach dieser Versammlung, auf meine Frage hin, habe ich die dienstliche Schweigepflicht verletzt, bestätigt, dass ich das nicht verletzt hätte«, ich sagte, »Bitte sprich dazu.« Er sagte, »Ja du hast nich’ mit Worten, aber mit deiner Mimik«, weil ich Tränen in den Augen hatte. Und dann hätt’ ich ’s noch in der Öffentlichkeit getan. Da wusst’ ich nich’, was gemeint war [...]. Ich wollte dann das schriftlich ausgehändigt bekommen, weil ich in der Konfliktkommission gegen diese fristlose Entlassung Beschwerde führen wollte. Der Schulrat brüllte mich an, er hätte das vorgelesen und damit hätte er seine Pflicht getan und schriftlich kriegte ich das nich’. Die bestellten Kollegen, die sprachen so alle gegen mich, ich hätte also meine Erziehungspflicht doch nich’ wahrgenommen. Man würde das bedauern, aber da__ ich wäre selber schuld, weil ich meinen Sohn nich’ sozialistisch erziehen würde. Ich hatte ja an sich nie verleugnet, dass ich als Christ lebe [...].“678 675 MfS-Akte Herr Kunze, Äußerung des Bezirksschulinspektors in der Dienstversammlung zur Problematik [Kunze] (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 270). 676 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 2. Vgl. das Programm für den Ablauf der Herauslösung Herrn Kunzes: „Aussprache des Direktors der POS mit dem Leiter der Medizinischen Fakultät [Ortsname] [...] mit der Zielstellung zu erreichen, dass der [Name des Sohnes] keinen Medizinischen Beruf erlernen kann.“ MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 240). 677 Vgl. Schröder, Staatliche Repression, S. 346. 678 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 3 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gemäß Paragraph 2, Abs. 1 der „Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte“ wurde eine fristlose Entlassung rechtskräftig, deren offizielle Begründung sich wie folgt darlegte: „[...] im Zusammenhang mit der Sicherung des militärischen Berufsnachwuchses, der Ausprägung eines klaren Feindbildes und der konsequent materialistischen Bildung und Erziehung“ traten verstärkt Fragen und Probleme auf. „Kollege [Kunze] geriet in seiner Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit als Lehrer immer deutlicher in Widerspruch“679. Der ‚erfolgreiche‘ Abschluss des durchgeführten Disziplinarverfahrens mit fristloser Kündigung wurde umgehend von der Auswertungs- und Kontrollgruppe (Abt. AKG) der Bezirksverwaltung allen an der „Herauslösung“ beteiligten Partei- und Sicherheitsdienststellen mitgeteilt.680 ‚Operative‘ Nachsorge – Fortsetzung staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle: Herrn Kunze und seiner Familie, besonders seinem ebenso von den Maßnahmen in Mitleidenschaft gezogenen Sohn, waren somit deutlich die Grenzen kritischen politischen Denkens und Handelns im DDR-System aufgezeigt worden. Die angestrebte Marginalisierungs- und Isolationsstrategie des MfS zeigte nach der Entlassung vorerst auch ihre kalkulierte Wirkung. „Bin raus, nach Hause, (2) da hab’ ich erst mal geheult, dann bin erst mal in de Natur gegangen, um irgendwie zu mir selber zu finden und hatte dann ’ne Art Nervenzusammenbruch. War also krank, musste zum Arzt, hatte Herzprobleme und den Krankenschein nahm die Schule gar nich’ mehr auf. Ich musste also dann in de Stadt zu so ’ner Stelle, wo ’s um ’s Rentenrecht ging, um das abzugeben. Kam mir also wie so ’n Fürsorgeempfänger vor. [...] Ja und dann, früh, ich hab’ mich immer, oder wenigstens paar Tage, immer angezogen und wollte in de Schule, meine Frau machte mir (klar), »Du BIST nich’ mehr an der SCHULE, musst zu Hause bleiben.«“681

Konsequent wurde Herr Kunze von seinem früheren Arbeitsfeld isoliert. Er erlebte eine schwierige Phase, die ihn in eine berufliche Desorientierung und existenzielle wie soziale Haltlosigkeit führte. Sein ehemaliger Kollegenkreis hielt sich bis auf wenige Ausnahmen an das vorgeschriebene Kontaktverbot, einigen war bei einer entsprechenden Positionierung zugunsten des Herrn Kunze ein Parteiverfahren angedroht worden. „ALLE ANDEREN, wenn ich die in der Stadt getroffen hab’, ich hab’ gegrüßt, drehten sich rum oder gingen vorher, wenn se mich sahen, auf de andere Straßenseite. Das hat weh getan.“682 Dies hatte unmittelbar schwerwiegende psychische Gesundheitsfolgen für ihn. Auch sein Sohn blieb von diesen beabsichtigten Strategien nicht unbehelligt. Er nahm zu einem ehemaligen Studienkollegen des Vaters, der im Bildungsministerium tätig war, Kontakt auf, um rechtliche Hilfe für den Vater zu erbitten. Die Begegnung aber geriet zu einem äußerst frustrierenden Erlebnis für den Sohn, da der 679 Beide Zitate: MfS-Akte Herr Kunze, Bericht der Abt. Volksbildung des Rat des Kreises an die zuständige MfS-KD (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 285; MfS-Zählung). 680 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 311–312). 681 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 4 f. 682 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 8. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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als „anonyme Quelle“ für das MfS im Fall Kunze tätige ‚Freund‘ keine rechtliche bzw. zumindest moralische Unterstützung anbot, sondern sogar „die Entlassung aus dem Schuldienst als notwendig hervorhob“ und dem Sohn, nachdem dieser mit „einer verhärteten christlich-pazifistischen Position“ auftrat zugleich Vorwürfe wegen seines Verhaltens und der Konsequenzen für den Vater machte:683 „Äh, mein jüngerer Sohn (1) ist von vielen Freunden von mir angesprochen worden, »Du bist Schuld, dass dein Vater ’n Schuldienst verlassen musste.« Das wusste ich gar nicht, aber der Junge hatte dann derartige Depressionen, dass der sich mit Selbstmordab__ sichten getragen hat. Obwohl er ja nur der Anlass war, aber nich’ schuld.“684 Dennoch strebte Herr Kunze kontinuierlich eine Aufhebung seiner fristlosen Entlassung an. Er konsultierte einen Anwalt und erhob zuerst Klage beim zuständigen Bezirksgericht; als diese ohne Anhörung zurückgewiesen wurde, stellte er einen Konzessionsantrag beim Obersten Gericht. Die Akten wurden dem Anwalt in diesem Falle aber gar nicht erst zugänglich gemacht, daraufhin äußerte er seine Befürchtungen bezüglich des MfS. Mehr und mehr wurde deutlich, dass die Chancen für die Rückgängigmachung der Entlassung aussichtslos waren: „Mit dem Rechtsanwalt hatte ich mich abgesprochen, der sagte, »Wir müssen jedes Wort absprechen, denn hier steckt die Stasi dahinter und ich hab schon erlebt, wie Leute aus ’m Gerichtssaal verhaftet wurden. Sie dürfen sich nicht provozieren lassen, nichts sagen.« Und DANN, wo der meine Akte haben wollte, war die nicht greifbar.“ Für Herrn Kunze wurden Hinweise dieser Art äußerst wichtig. Sie bestimmten sein weiteres alltägliches Verhalten und nachdem in Anbetracht verschiedener Ereignisse immer deutlicher wurde, „dass dort im Hintergrund die Staatssicherheit steht“685, traf er die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen in der Öffentlichkeit, im privaten Bereich und auch in der beruflichen Neuorientierung.686 Wie sich herausstellen sollte, hatte das MfS lange zuvor eine Postkontrolle für Herrn Kunze angewiesen und bereits wichtige Mitteilungen, die er in die Bundesrepublik bezüglich seiner beruflichen Diskriminierung gesandt hatte, abgefangen. Außerdem lieferte der beim Ehepaar Kunze privat verkehrende, langjährige Kollege und später als IMS enttarnte Hausfreund weiterhin ‚zuverlässige‘ Informationen zur Situation in der Familie, beispielsweise aber auch

683 684 685 686

MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 335). V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 9. V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 20. „Und äh (2) nach der fristlosen Entlassung hab’ ich mich also auch äh (1) bemüht in der Öffentlichkeit nur Dinge zu äußern, wo ich mir sicher war, dass mir das nicht angehängt werden kann. [...] hab’ dann auch in meinen Briefen mich zurückgehalten, beziehungsweise Briefe, die ich weggeschickt habe, ohne Absender oder mit falschem Absender und nich’ in [Ortsname] rein gesteckt, sondern irgendwo anders. Und äh die Freunde und Verwandte ham sich dann AUCH entsprechend verhalten.“ V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 20. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Details über die Räumlichkeiten des Hauses. Er offerierte dabei implizit auch Möglichkeiten unbehelligten Eindringens in die Privatsphäre der Familie.687 „Ja aber in der Zeit haben wir Angst gehabt, dass man in der Zeit, wo wir nich’ da waren, uns hier heimlich Wanzen eingebaut hat. Da sind wir, wenn wir irgendwas Entsprechendes zu bereden hatten ins Gartenhäusel oder in ’n Hof gegangen, um uns dort auszu__ äh tauschen. Und später dann in der Stasiakte hab’ ich dann zwar nichts von Wanzen gefunden, aber dass diese Angst berechtigt war, denn aus diesen Berichten ging hervor, dass einer hier ausgekundschaftet hat, wo welches Zimmer is’, wie das Möbel steht, welche, ob wir Sicherheitsschlüssel oder einfache Schlüssel haben und da hätte DURCHAUS so was passieren können. Und dann kamen andere, die nicht unbedingt zum Freundeskreis gehörten und empfahlen mir, doch de Ausreise zu beantragen.“688

Auch bezüglich der verpflichtenden Suche nach einer neuen Arbeit versuchte das MfS Herrn Kunze weiterhin unter Kontrolle zu halten, was aber letztlich nicht gelang, da er eine ihm zugeteilte und vom MfS leicht kontrollierbare Tätigkeit als Technologe in einem staatlichen Ziehwerk schlichtweg abwies. Er kalkulierte nämlich ein, dass man ihn „dort irgendwie politisch provozieren würde und hatte aus dem Grund Angst und ha[t] dort nich’ angefangen.“689 Zugleich erhielt er über die Vermittlung eines verlässlichen Freundes die Möglichkeit, in einer privaten Genossenschaft als Geschäftsführer anzufangen. Die für ihn zuständige Kreisdienststelle wandte sich in einem Fernschreiben sofort an die übergeordnete Bezirksverwaltung und informierte diese, dass der bis dato von ihnen operativ bearbeitete Kunze, der als „anhaenger reaktionaerer kirchenkreise“ gelte, nun in einem anderen Kreisdienststellenbereich beruflich tätig sei und ließ prüfen, inwieweit er dort „unter operativer kontrolle“690 gehalten und für eventuelle Maßnahmen der Bearbeitung koordiniert werden könnte. Die zuständige KD sah sich jedoch im Antwortschreiben, das zwei Wochen später dokumentiert ist, nach eingehender Prüfung außer Stande, dies zu leisten.691 So konnte sich Herr Kunze vorerst erfolgreich weiterer Eingriffe durch das MfS während seiner beruflichen Neuorientierung entziehen; seine kontinuierlich fortschreitende Bearbeitung war missglückt. Das MfS jedoch wirkte nun aber verstärkt diskriminierend auf die berufliche Laufbahn des Sohnes ein. Damit provozierte es zugleich ein schwerwiegendes Problem innerhalb der Familie. Dem Sohn wurde, wie bereits geschildert, nach mehrmaligen Verwarnungen wegen der Verbreitung pazifistischer Schriften und Symbole der Ausbildungsplatz entzogen. Nur mit Hilfe des Landeskirchenamtes gelang es, ihn in einer anderen Fachschuleinrichtung unterzubringen. Doch sein konsequent politisch provozierendes Auftreten und Verhalten wurde wiederum als willkom687 Vgl. MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 250–251 und XIV 1109/71, Bl. 16–17). 688 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 10. 689 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 14. 690 MfS-Akte Herr Kunze, Fernschreiben (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 75; durchgäng. Kleinschreibung). 691 Vgl. MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 76). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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mener Anlass genutzt, ihn erneut beruflich zu diskriminieren. Schließlich konnte schon der Hinweis auf ein Fehlverhalten, vor allem wenn es zugleich „politisch-negativ“ erschien, zu einem Ausschluss aus einer Bildungseinrichtung führen. Die berufliche Lebensplanung des Sohnes von Herrn Kunze zerschlug sich damit aufgrund der systematischen Inszenierungsmaßnahmen des MfS in enger Zusammenarbeit mit den Partnern des POZW. „Ich habe mich ans Landeskirchenamt gewandt. Und die haben in zweierlei Richtungen recherchiert. Einmal um meine Wiedereinstellung zu schaffen, was se nich’ geschafft ham und äh wegen der Sippenhaft [...] Aus seiner [des Sohnes] Stasiakte ham wir dann erfahren, dass die also gesagt haben, »Wir nehmen ihn, aber so bald wie möglich raus.« Und er bekam ’ne erste Verwarnung, weil man ihn erwischt hatte, dass er im (1) Gesellschaftszimmer den Fernseher, ’n Westsender eingedreht hat. Und ’ne zweite Verwarnung, weil man in seinem Zimmer ’ne Kassette gefunden hatte mit christlichen Liedern. Und er wurde dort dann ebenfalls fristlos entlassen, weil er abgelehnt hatte äh Wehrerziehung mitzumachen. Hätte er ’ne GST692 -Uniform anziehen müssen, hätte schießen müssen. Äh man hatte ihm dann noch ’n Kompromiss vorgeschlagen, ohne schießen mit ’n Mädchen die Ausbildung machen. Er hatte dann aber gesagt, »Ich kann aber auch die GST-Uniform nich’ anziehen.« Man hatte die Symbolik mit den ‘Schwerter zu Pflugscharen’ ja hochgespielt und da hat er gesagt, »Ich kann nich’ die GST-Uniform anziehen, wo entsprechende äh Symbole drauf sind.« Und da wurde er dort fristlos entlassen. Wir ham dann versucht ihn in [Ortsname] im Diakonissenkrankenhaus mit unterzubringen. Der dortige Direktor hatte zuviel Angst, dass ihm die Staatssicherheit dann ihm dort nachgeht und— IHM dann Schwierigkeiten macht und dann hat er in [Ortsname] im Pfarrtöchterheim als Hausmeister zwei Jahre gearbeitet.“693

Individuelle Bewältigung: Während sich nahezu die gesamte ehemalige Kollegenschaft von Herrn Kunze und seiner Familie distanzierte, erfuhr er hingegen starke moralische Unterstützung von den in der Kirchengemeinde engagierten Freunden, die auch teilweise Eltern seiner Schülerinnen und Schüler waren und für ihn Partei ergriffen. So berichtet der GM in seiner Eigenschaft als Direktor der Oberschule von einem Elternabend, bei welchem sich vier Personen, die als „christlich bekannt“ waren, eine offene Diskussion bezüglich der Maßnahmen gegen Herrn Kunze provozierten, darin eindeutig solidarisch zu Herrn Kunze Stellung bezogen und laut Protokoll im Plenum sinngemäß zum Ausdruck brachten: „es geht ja hier nur um reine Glaubensdinge; wir sind ja ein demokratischer Staat; wo sind die Gesetze für uns; wir stehen hinter Herrn [Kunze]“694. Auch von anderer Seite erhielt er Solidaritätsbekundungen, seine Arbeit als Lehrer schien trotz aller Auseinandersetzungen mit den bildungspolitischen Behörden Früchte getragen zu haben. 692 GST: Gesellschaft für Sport und Technik. Als Massenorganisation war sie für die vormilitärische und wehrsportliche Ausbildung der Jugendlichen ab dem 14. bis zum 25. Lebensjahr zuständig. Diese war in den Lehrplänen der POS und Berufsschulen fester Bestandteil, deswegen waren auch nahezu 80 % dieser Zielgruppe in der GST organisiert. 693 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 16 f. 694 MfS-Akte Herr Kunze (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 273). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Und in der Öffentlichkeit hat diese Sache eigentlich derartig Staub aufgewirbelt in [Ortsname], dass Leute=dass ich äh Geld im Briefkasten fand, dass man mich unterstützen wollte diese erste__ und ich wusste zum Teil gar nich’, wo das herkam. In zwei Fällen hab’ ich das rekonstruieren können, in zwei anderen nicht. Und dann kamen ehemalige Schüler, dann hab’ ich im Bus welche getroffen, wenn ich nach [Ortsname] gefahren bin. Also, die Leute standen zu mir. Und äh ich hab’ immer behauptet, als Lehrer sieht man nichts von seiner Arbeit, aber dann kamen ehemalige Schüler, die mich um Rat fragten in der Kindererziehung oder in persönlichen Dingen und was weiß ich. Und alle äh bekundeten mir, äh wie sehr man das bedauert, dass ich raus__äh geschmissen wurde.“695

Der befürchtete Rückzug von Freunden, Bekannten und Nachbarn, die möglicherweise Nachteile für sich selbst befürchteten, bestätigte sich nicht; die vom MfS sozial intendierte Isolation funktionierte nur über direkte Eingriffe auf kontrollierbare Institutionen. Die moralische Unterstützung ermunterte Herrn Kunze seine persönlichen Verletzungen aktiv zu bewältigen, um langfristig auch seine Wiedereinstellung als Lehrer anzustrengen. Aus seinen Schilderungen wird deutlich erkennbar, wie es ihm innerhalb mehrerer Phasen nur durch seinen Willen zur eigenen Selbstbehauptung gelang, die Belastungen der beruflichen Rückstufung abzubauen und den Entzug der vertrauten beruflichen Lebenswelt kontinuierlich zu verarbeiten. „Ich habe ZWEI JAHRE nicht an dieser Schule vorbeigehen können. Und dann hab’ ich mich einmal gezwungen, »Du musst dort mal vorbeigehen, um deine Vergangenheit zu bewältigen.« An dem Tag war mit mir zu Hause nicht zu reden. Aber ich hatt’ ’s gepackt, ich war ’s erste Mal wieder dran vorbei, konnte dann wieder dran vorbeigehen. Aber als dann mal ’n Klassentreffen ehemaliger Schüler war [...], da musste ich also das erste Mal wieder in diese Schule rein und ich dachte, du hast ’s ja gepackt, aber als wir dann im Geographiezimmer waren und ich hatte das ja ausgestaltet und mich ein Schüler, ein ehemaliger Schüler, etwas fragte, da hab’ ich wieder geheult. [...] Das war noch zu der Zeit, wo ich in der Genossenschaft in [Ortsname] gearbeitet hab’. Als ich dann wieder im Schuldienst war und wieder mal so ’n Treffen war, äh da hab’ ich in der Schule mich dann beherrschen können. Da hatt’ ich ’s dann endgültig gepackt. Und später als Schulrat, die Übergangsform, da bin ich ja dann oft in dieser Schule gewesen, also da hat ’s mich dann nich’ mehr berührt.“696

In dieser Phase seiner lebensweltlichen Neukonstituierung verlor auch das MfS allmählich das Interesse an seiner Person. Die Gefahr, dass er „mit verschiedensten Aktivitäten im Interesse reaktionärer Kirchenkreise [...], die Schulpolitik“ unterlaufen könnte, schien aufgrund seiner Entlassung gebannt. Da auch die weiterhin fortlaufende Kontrolle durch IM „keinerlei negative Hinweise“ erbrachte, „die auf eine Feindtätigkeit schließen“697 ließen, stellte das MfS ca. vier Jahre nach Herrn Kunzes „Herauslösung“ aus dem Schuldienst seine Bearbei695 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 9 f. 696 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 8 f. 697 MfS-Akte Herr Kunze, Abschlussbericht (BStU, ASt. Chemnitz, XIV 2591/81, Bl. 25– 26). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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tung ein. Zusätzlich wurde verfügt, dass er mittelfristig den Schuldienst wieder begleiten dürfte. Ohne von diesen Entwicklungen Kenntnis zu haben, entschloss sich Herr Kunze unerschrocken ein weiteres Mal, seine Wiedereinstellung zu erwirken. Obwohl er in diesem Zusammenhang zugibt: „Die Angst vor der Staatssicherheit, die hab’ ich immer gehabt und ich hab’ immer wieder Angst bekommen, dass ich eines Tages verhaftet werd’. Da wurde ja irgendwas konstruiert. Aber wie gesagt, ich hab’ mich NIE als Feind der DDR gefühlt, ich wollte nur Christentum und Sozialismus unter einen Hut bringen.“698 Er fand zunächst, aufgrund des Lehrermangels tatsächlich als so genannter Wanderlehrer eine Anstellung, entledigte sich auch langsam seines Misstrauens gegenüber den Kollegen und erreichte in der Zeit des Umbruchs die Annullierung der fristlosen Entlassung von 1983.699 Die bis dato immer bestehende Angst vor einer staatssicherheitsdienstlichen Überwachung löste sich. Bei den Umstrukturierungen des Schul- und Bildungssystems der DDR im Jahre 1990 wurde er in die Position des Kreisschulrats befördert und erlangte insofern nicht nur für sich selbst, sondern auch gesellschaftlich eine umfassende Rehabilitierung seiner Person – auch wenn die lebensprägend negative Erfahrung für ihn bis heute zurückgeblieben ist: „Und dann hab’ ich mich natürlich äh schon engagiert, ich hatte ja nichts mehr zu verlieren. Und ich war natürlich äußerst glücklich wie die Wende kam. [...] Und als das ‘Forum’700 gegründet (wurde), die ersten Diskussionen in der Schule waren, wo unsere Meinung erforscht wurde. Also es war schon nicht ganz ohne. Und als ich das Schulamt 1990 übernommen hab’ und äh irgendwo Schüler im Gymnasium streikten oder Lehrer streikten, äh weil Lehrer entlassen wurden, die bei der Staatssicherheit waren, dort musst’ ich natürlich hin und die beruhigen und so weiter. Also da ham wir uns schon immer so gefühlt auch meine Mitarbeiter, als wenn wir ins Feuer müssten.“701

6.2.3.2 Verfolgung oppositioneller Gruppen – Handlungsformen der kollektiven Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsarbeit und die Rolle der evangelischen Kirche In den vorausgehenden Kapiteln wurden Prägungen, Konfliktfelder und Motivationen dargestellt, welche die Personen des Typus zu einem kollektiven politisch alternativen Engagement lenkten, das sich gegen die herrschenden gesellschaftlichen Zustände in der DDR richtete und deren Veränderung bzw. Reform forderte. Sie begriffen die DDR insofern als einen Organisations- und Handlungsraum, in dem sie, entgegen seiner systemspezifischen strukturellen 698 699 700 701

V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 22. Vgl. V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 6 f. und 21. Neues Forum: im September 1989 in der DDR gegründete, politische Bürgerinitiative. V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 22. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Verfasstheit Schritt für Schritt einzufordern wagten, was sie letztlich zu einem autonomen, ohne ideologische Leitlinien begrenzten Agieren führen sollte. Dabei spielte das aus einem protestantischen Selbstverständnis geprägte Bewusstsein des zivilen Ungehorsams und die Einbindung in das ‚Subsystem‘ Kirche eine bedeutende Rolle, weil sich erst hier ein verstärktes Konfliktbewusstsein gegenüber dem Staatssystem entwickelten und etablieren konnte. Jegliche Einforderung von alternativen Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft, die auch in nur geringem Maße von der herrschenden Parteilinie abwichen, wurde gemäß den Denkschemata der kommunistischen Doktrin im Sprachgebrauch des MfS als „feindlich“ bzw. sogar „feindlich-negativ“ betrachtet, das heißt als eine grundsätzlich „ablehnende, destruktive, pessimistische, auch reaktionäre“702 Haltung gegen die sozialistische Gesellschaft gewertet. Die Aktivitäten der Gruppierungen waren jedoch mit einem solch simplifizierenden Feindbild nicht einzufangen, ihre Forderungen und Ziele stellten sich differenzierter dar. Mit Sicherheit hatten sie nicht einmal hypothetisch die Absicht das Ende der DDR herbeizuführen, denn „[d]aß die Abschaffung der DDR ein illusorisches Unterfangen war, war der DDR-Bevölkerung seit dem 17. Juni 1953 klar“703. Die Äußerungen der InterviewpartnerInnen im Vorausgehenden haben dies bereits deutlich gemacht.704 Was aber möglicherweise zu erreichen war, lässt sich von den geschilderten Motivationen, die sich aus der Wahrnehmung der sozialistischen Alltagswelt und ihrer Interpretation ergaben, ausgehend in eine logische Kette anzustrebender Handlungsziele überführen. Diese wiederum aber standen stets und von Anfang an in der direkten Konfrontation mit dem SED-System, auch wenn die Gruppen versucht haben, im gegebenen rechtlichen Rahmen zu agieren und diesen bis an den Rand der Legalität auszuschöpfen. Für die hier im Mittelpunkt stehenden Gruppierungen, in denen Frau Simon, Frau Manzel und Herr Spengler ihr aktives Engagement entwickelten, ist ein übergeordnetes gemeinsames Hauptziel greifbar geworden, das mit den in Kapitel 6.2.2.1 grundlegend benannten Motivationen konform geht. Es ist die Reform der realsozialistischen Zustände, die sich zuerst innerhalb der Bildung einer kritischen Öffentlichkeit und der Schaffung politischer Teilhabe an gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsprozessen äußern sollte: „Wir waren ja diejenigen, die gesagt ham, wir wollen HIER was verändern. [...] Wir waren diejenigen, die tatsächlich ooch, da denk’ ich, da sprech’ ich ooch für die meisten von uns, die auch noch an eine REFORMIERbarkeit des Sozialismus glaubten oder was auch IMMER, wie man das nennt, das ham wir gar nich’ so definiert.“705 702 Vgl. Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit, S. 88. 703 Pollack, Politischer Protest, S. 152. 704 Vgl. bspw. die bereits in Kap. 6.2.1 angeführte Aussage Frau Manzels: „[...] ja man stellt sich ja ooch nich’ vor, auf ’m Mond spazieren so zu gehen. Es war eben etwas, was nich’ geht. Und deswegen spielte das keine Rolle.“ V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 7. 705 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 26. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Auf dieser abstrakten Ebene ist eine Benennung der gesamtgesellschaftlichen Ziele in den einzelnen Aussagen nicht deutlicher erkennbar geworden, ging es doch zuerst darum, erste Ansätze einer gesellschaftlichen Veränderung in untergeordneten Themenfeldern wie ‚Frieden‘ oder ‚Umwelt‘ zu formulieren. Diese Feststellung hat Pollack als allgemeingültiges Kennzeichen dieser Gruppen erkannt: „Insofern kann man sagen, dass die politisch alternativen Gruppen in der Formulierung ihrer Zielvorstellungen die gegebenen Grenzen der Umsetzbarkeit ihrer politischen Ziele immer schon mit berücksichtigten. Offensichtlich ist es sehr schwer, längere Zeit an Handlungszielen festzuhalten, die kaum realisierbar sind. [...] Die Gruppen waren mehr eine Reaktion auf die Entmündigung und Unterdrückung in der Gesellschaft sowie auf die Inaktivität und Angepasstheit der Bevölkerung als eine Aktion für die Schaffung einer anderen Gesellschaft.“706 Auffällig bei den Personen des Typus ist, dass die Formulierung der eigenen politischen Ziele stets in unmittelbarer Nähe der Äußerungen zum Interessenkonflikt mit der so genannten Ausreisebewegung707 auftauchen. Während Ausreisewillige ihren Protest gegenüber den gesellschaftlichen Zuständen direkt demonstrierten, indem sie an die staatlichen Stellen per Ausreiseantrag ihr Verlangen formulierten, die DDR aus individuellen differenzierten Beweggründen708 möglichst rasch zu verlassen, war der Protest der politisch alternativen Gruppen auf eine in der DDR stattfindende kritische, aber konstruktive Arbeit gerichtet. Dass diese Differenz zu einer ernsthaften Auseinandersetzung wurde, war der Tatsache geschuldet, dass die Gruppen und die evangelische Kirche die Erfahrung machen mussten, von diesen oftmals infrastrukturell benutzt und als Plattform für die eigenen Zwecke missbraucht zu werden.709 Dieser Interessenskonflikt drohte das Selbstverständnis der politisch 706 Pollack, Politischer Protest, S. 152 f. 707 Vgl. dazu Kap. 5.2, das dieses Phänomen in den politischen Gesamtzusammenhang eingeordnet und dabei die Entwicklung und Verfahren der „ständigen Ausreise“ von DDR-BürgerInnen ins nichtsozialistische Ausland näher erläutert. 708 Die Auswertung der Übersiedlungsgesuche im letzten Quartalsbericht vom 15. 9.1989 des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt Siegfried Lorenz an Erich Honecker hält als bestimmende Beweggründe fest: „Die Meinungsäußerungen sind hierzu sehr differenziert und reichen von ‚Fehlern in der Jugenderziehung‘ über ‚Fortdauernde Schwierigkeiten in der Versorgung‘ bis hin zu ‚Ignorierung von Problemen des DDR-Alltags in den Medien‘.“ (SäStA Chemnitz, SED BL KMSt, Nr. IV F-2/3/96, Bl. 5). Es zeigt sich bis zum Ende der 80er eine starke Entpolitisierung der Motivationen. Für die zweite Hälfte der 70er Jahre sind noch vornehmlich politische Beweggründe erkennbar geworden. Vgl. bspw. die protokollierten Äußerungen der Antragsteller in den Aussprachen beim Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt: „Ich hasse die DDR und das System des Sozialismus mit seiner Diktatur, Unterdrückung und Unmenschlichkeit; Es gibt keine Freiheit und Rechte in unserem Staat.“ Information zum Stand der Bearbeitung von Übersiedlungsanträgen in die BRD vom 24.11.1976 (SäStA Chemnitz, SED BL KMSt, Nr. IV C-2/5/343, Bl. 6). Diese Entwicklung, eine Verschiebung von politischen zu quasi ökonomischen Ausreisemotiven bis zum Ende der 80er Jahre wurde auch vom MfS als solche erkannt. Vgl. hierzu Mitter/Wolle, Ich liebe euch doch alle!, S. 142 und zugleich den Blickwinkel der politisch Engagierten innerhalb der Aussage von Herrn Spengler in der übernächsten Anmerkung. 709 Vgl. Poppe, „Der Weg ist das Ziel“, S. 264 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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alternativen Gruppen intern zu verwässern und ebenso ihre Glaubhaftigkeit und Wirkungsmächtigkeit extern zu schmälern. Zwar war deren Engagement desgleichen von der Kritik am SED-System getragen, aber auf eine verantwortungsvolle Veränderung der Gesellschaft ausgerichtet; sie motivierte sich jedoch in keinem Fall aus einer Totalabsage an diese: „Und dann hatten wir das Problem, dass plötzlich SCHARENweise Ausreiser, so ham wir die genannt, äh in unsere Gruppen kamen. Die uns also NUR benutzen wollten, so als Alibi und sagten äh, »Wir=wenn wir hier drin sind, sind mer unangenehm und äh kommen dadurch eher raus.«“710 Die Ausreisewilligen hingegen „zielten auf Provokation, gingen persönliche Risiken ein, hatten innerlich mit dem Staat gebrochen und glaubten an keine Reformfähigkeit mehr“711. Ein solches Verhalten konnte die konspirative Arbeit der Gruppen gefährden, die stets versuchten die Grenzen des Legalen zu wahren, um Schritt für Schritt Veränderungen herbeizuführen. Wenn sich die „Ausreisebewegung“ teilweise auch als „stärkendes und belebendes Element“ durch ihre zahlenmäßig äußerst mobilisierende Kraft in die Arbeit einbrachte, verfolgte doch die Mehrheit innerhalb ihrer Teilhabe an Veranstaltungen, Aktionen und Aktivitäten der Gruppierungen zumeist „vollkommen egoistische Ziele“:712 „Und wir hatten uns da versucht dagegen zu wehren, indem wir gesagt ham, »Okay, wir können das hier ja nich’ selektieren. Wir wissen nich’, wer hier aus welchen Motivationen, aber WER einen Ausreiseantrag hat, wird bei uns NICHTS unterschreiben, wird NIE sprechen öffentlich«, also hier so ... Also wir wollten denen keine Produktionsfläche lassen. »Ihr könnt’ gerne da sein, ihr könnt uns helfen, wenn euch das jetzt wirklich hier um die Umweltarbeit und Friedensarbeit geht, ihr könnt’ hier Sachen abtippen und so was alles. Aber NICH’=damit wir nich’, also nur das Mittel zum Zweck sind.«“713 710

711 712 713

V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 26. Vgl. bezüglich des Verhältnisses zu den „Ausreisern“ Herrn Spenglers Äußerung auch zu deren Beweggründen und fragwürdigen Mitteln, die DDR zu verlassen. Er schildert dies im Zusammenhang mit dem Missbrauch kirchlichen Rechtsbeistands: „Und dadurch dass eben auch in der letzten Phase, eben auch Leute zu uns kamen, die also Übersiedlungsanträge gestellt haben und Hilfe wollten, wie sie hier weiter überleben oder vermeiden können, dass sie in den Knast kommen ... Es gab’ auch welche, die wollten nicht vermeiden, sondern grad, die wollten in ’n Knast kommen, damit sie dann gekauft werden. [...] Aber Leuten Tricks zu verraten, wie man schneller hier raus kommt, das ist nicht meine Sache. Das hing ooch damit zusammen, dass ich selber abgelehnt hatte rauszugehen. [...] Und mich hat immer äußerst verbittert, wenn ich dann wahrnahm, wie die dann drüben, um ihren Weggang zu rechtfertigen, die DDR VÖLLIG verzeichnet dargestellt haben. Also an Stellen von=von Repressalien und so weiter geredet haben, wo man in der DDR keine erlitt. Aber im Grunde die Tatsache, dass es in ganz vielen Fällen ihnen darum ging, äh dass sie einfach, was ihnen ja nicht vorzuwerfen war, ein angenehmeres Leben haben wollten und das wurde kaschiert und da wurde im Grunde ein gequältes Leben hier draus gemacht, was nun wirklich nicht stimmt, nich’.“ V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 24. Wolle, Flucht als Widerstand?, S. 323. Beide Zitate ebd. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 27. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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In dieser Phase, die vor allem für das Jahr 1988 bestimmend wurde, kam es daher zu einer bewussten Abgrenzung, aber zugleich deutlicheren Positionierung der politisch alternativen Gruppen, was die Definition ihres Selbstverständnisses, ihrer Beweggründe und Ziele anbetraf. Insofern hatte der Konflikt letztlich einen durchaus positiven Effekt für das interne kollektive Handeln der Gruppierungen: Er zwang, deutliche Vorstellungen von konkreten Ausformungen politischen Protesthandelns, das innerhalb der Strukturen des DDR-Systems stattfinden sollte, zu formulieren, um dieses alsdann zielorientierter sukzessive durchsetzen zu können. Der Auseinandersetzung mit der „Ausreisebewegung“ aber war eine DDRweite Krise innerhalb der politisch alternativen Gruppen vorausgegangen, die sicherlich auch – zumindest für das Jahr 1988 – Einfluss auf das Entstehen der so genannten großen Ausreisewelle hatte. Das MfS hatte im Januar 1988, vor allem im Zuge der alljährlich stattfindenden Luxemburg-Liebknecht-Demonstration714, führende Persönlichkeiten einzelner Gruppierungen wie beispielsweise Vera Wollenberger oder oppositionelle Künstler wie Stephan Krawczyk aufgrund ihres öffentlich provokativen Auftretens beispielsweise wegen „Zusammenrottung“ bzw. „landesverräterischer Tätigkeit“ festgenommen, kurzzeitig inhaftiert, verurteilt oder unter hohem Druck zur Ausreise in die Bundesrepublik gedrängt bzw. einfach über Nacht dorthin abgeschoben. Die von diesen Personen durch das MfS erzwungene Entscheidung, die DDR zu verlassen, schaffte eine außerordentlich schwierige Situation innerhalb der politisch alternativen Gruppen, was deren spezifische Identität und Selbstdeutung anbetraf. Das MfS notierte erfolgsmeldend auf die im Februar 1988 ausgemachte Stimmung in den Gruppierungen: „Bei den in der DDR verbliebenen Mitgliedern ist Enttäuschung und Ratlosigkeit vorherrschend. [...] Durch die rasche Kapitulation der Inhaftierten wird ein Schwund an ‚Glaubwürdigkeit‘ befürchtet“715. Die Ausweisung von Bürgerrechtlern und Künstlern, die auch in der DDR öffentlich hohe Wogen schlug, hatte aber ebenso mittelbare Auswirkungen auf die Entstehung der Ausreisewelle von 1988, welche – wie beschrieben – die innere Konfliktsituation in den einzelnen Gruppierungen zusätzlich verschärfte. In großen Teilen der ausreisewilligen Bevölkerung glaubte man nämlich wahrzunehmen, dass sich die Regierung innerhalb einer unkomplizierteren und zahlenmäßig ansteigenden Bewilligung von Ausreisebegehren verstärkt des kritischen Potenzials im Land zu entledigen suchte716; zuerst natürlich von jenen, 714 715

716

Zu den „Januarereignissen“ von 1988 vgl. Wolle, Flucht als Widerstand?, S. 316–323. Einschätzung der derzeitigen Reaktion in den operativ bedeutsamen Gruppierungen des politischen Untergrunds der Hauptstadt, BStU, ASt. Berlin, BV Berlin, Abt. XX, Bl. 1, zitiert in Wolle, Flucht als Widerstand?, S. 322. Vgl. ebenso zur „Ventiltaktik durch Ausbürgerung der Oppositionellen“ Choi, Dissidenz, S. 169 f. Diese Auffassung, dass die massive Ausweisung ausreisewilliger DDR-BürgerInnen als solche intendiert und folglich tatsächlich eine Schwächung der oppositionellen Kräfte in der DDR zur Folge hatte, vertritt auch Knabe. Dem entgegen steht u. a. die Interpretation von Eisenfeld, der das Phänomen ‚Flucht und Ausreise‘ als allein exponiertes widerständiges Verhalten erkennt und dessen hohe politische Rückwirkung in den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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die sich auffallend „feindlich-negativ“ zu gebärden suchten und dies nicht selten im Kreise und auf Kosten politisch alternativer Gruppen taten.717 In diesem Kontext – um die Rolle der Kirche in die Problematik einzuordnen – berichtet auch Herr Spengler von ‚internen Differenzierungskämpfen‘, die im Umfeld seiner kirchlichen Arbeit auftraten und die beispielhaft das stets schwierige Verhältnis von in der Kirche integrierten politisch-agierenden Gruppierungen widerspiegeln soll. Die geschilderte Situation macht deutlich, welche Interessensgegensätze bereits innerhalb dieser Konstellation aufbrachen und wie wenig kongruent, aufeinander abgestimmt und problematisch das jeweilige Handeln von Einzelpersonen und Gruppen in Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirche sein konnte. „Und da sollte also ein Auftritt von dem Krawczyk sein und wir hatten ’ne Phase, wo wir sagten, »Wir stehen SO scharf«, und das merkt man aus den Unterlagen [des MfS], dass das richtig war, »jetzt im Blickfeld des Staates, dass wir, wenn wir hier so bunte Vögel gewagte Sachen machen lassen, gefährden wir diese sozialdiakonische Jugendarbeit und Kinderarbeit, die uns wirklich wichtig ist. Das kann ’s nicht sein, dass wir, bloß damit Herr Krawczyk mal ’ne flotte Zunge los wird, diese Sache auf ’s Spiel setzen.« [...] Jedenfalls ich wurde am Abend angerufen, »Der [Veranstaltungsort] ist voll, äh Krawczyk und Klier sind da. [...] Da haben wir in der Dunkelheit vor der Kirche mit Frau Klier und dem Krawczyk, der Superintendent und der Leiter der Stadtmission äh GERUNGEN geradezu. Ham gesagt, »Was=was riskieren Sie hier?« Und da war der Krawczyk wirklich ’n kluger Mann, der sich dann dazu bewegen ließ, den Kompromiss zu machen, er macht einen Brecht-Abend und hat uns versprochen, »Ich bleibe bei Brecht.«“718

Die befürchtete Gefährdung der innerkirchlichen Arbeit wie sie Herr Spengler äußerte, bestätigte sich tatsächlich, denn das MfS hatte schon registriert, dass in der Kreisstadt „eine zunehmende Zahl von kirchlichen Amtsträgern und Synodalen der evangelisch-lutherischen Kirche ihre Aktivitäten forcieren, um die staatliche Anerkennung als gesellschaftspolitische Kraft zu erreichen und als legale Opposition wirken zu können.“719 Insofern hatte er stets eine realistische Einschätzung der brisanten Lage vor Augen und konnte entsprechend überlegt agieren. Die Abt. XX des Bezirkes nahm die in diesem Rahmen stattfindenden

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Kontext des Niedergangs der SED-Diktatur stellt. Vgl. Knabe, Opposition; Eisenfeld, Ausreisebewegung. „Ähm wir hatten natürlich nach dieser Stephan Krawczyk-Geschichte auch ein großes Problem, dass darin bestand äh ... Stephan Krawczyk ist nach ’m Westen gekommen oder die ganze Gruppe da, nachdem es also Proteste gegeben hatte in der DDR, sie sind nicht eingeknastet worden, sondern nach ’m Westen gekommen. Und da passierte=kam ja diese AUSreisewelle in Gang, ganz massiv, wo jetzt die Leute, die RAUS wollten aus der DDR. Aus sehr unterschiedlichen Gründen (und) merkten, man muss negativ AUFfallen, dann kommt man schneller raus.“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 25 f. V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 21 f. Information über Aktivitäten oppositioneller Gruppierungen im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche des Bezirkes Karl-Marx-Stadt vom 10. 5.1989 (BStU, ASt. Chemnitz, C-XX-39, Bl. 8). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Veranstaltungen als Aktivität oppositioneller Gruppierungen im Bereich der Kirche wahr und stufte sie als „feindlich-negativ“ ein: „Im [Veranstaltungsort] der Inneren Mission [Ortsname der Kreisstadt] finden regelmäßig Veranstaltungen [...] statt, die die Politik der SED und der Regierung in Frage stellen bzw. direkt angreifen.“720 Die allgemein aus einem dogmatisch ideologisierten Verständnis herrührende, grundsätzlich destruktive Wahrnehmung der Gruppen und ihrer Ziele durch das SED-System konnte deutlich gemacht werden, so dass deren Forderung nach legaler, selbstständiger politischer Arbeit im öffentlichen Diskurs, auch im Dialog mit Staat und Partei721, in der Folge als systemgefährdend eingestuft werden musste. Insofern ist davon auszugehen, dass die Gruppierungen von Anfang an ins Visier der Staatssicherheit gerieten und deren Hauptaufgabe darin bestand, konsequent repressiv auf die Institutionalisierung und Ausformung politisch alternativer Gruppen und ihrer Aktivitäten einzuwirken, um deren gesellschaftlichen Wirkungsgrad möglichst auf ein Minimum zu reduzieren. Dass es unterschiedliche Einschätzungen der einzelnen Gruppen gab, was ihren besonderen, möglicherweise systemgefährdenden Charakter anbetraf, wurde bereits zu Beginn des Kapitels angedeutet. Ob diese Klassifizierung sich auch in den Maßnahmen der MfS-Disziplinierung differenziert niederschlug, soll anhand einer Analyse der erkennbaren Repressionen gegen die Umweltgruppe von Frau Simon und die „Frauen für den Frieden“ unter Mitwirkung von Frau Manzel veranschaulicht werden. In die Betrachtung dieses Wechselspiels gerät zudem als dritter Faktor die evangelische Kirche; dies vor allem anhand der Aussagen von Herrn Spengler. Innerhalb der für das MfS schwierigen Problematik, inwieweit die Kirche eine besonders stützende Rolle für einzelne oppositionelle Gruppen einnahm, ist zu klären, welche disziplinierenden Einwirkungsmöglichkeiten das MfS auf einzelne Kirchenvertreter hatte und ob diese letztlich auch durchgreifend wurden. Parallel muss nach den beabsichtigten repressiven Wirkungen und tatsächlichen ‚Erfolgen‘ des MfS gegenüber den Gruppen gefragt werden bzw. inwieweit die Gruppen die spezifischen Maßnahmen des MfS auch als solche realisieren und wahrnehmen konnten, um Strategien zu ihrer Abwehr zu entwickeln? Warum und inwiefern scheiterte bzw. gelang dies? Welche Handlungsfelder und Handlungsmittel konnten in diesem Zusammenhang als Schutz gegen die MfS-Maßnahmen und gleichsam zur Fortführung der politisch alternativen Arbeit neu erschlossen und genutzt werden? Disziplinierung der evangelischen Kirche: Zunächst soll das geschilderte Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und politisch alternativen Gruppen erneut thematisiert werden, unter der Prämisse des Eindringens staatssicherheitsdienstlicher Disziplinierungsmaßnahmen in dieses symbiotische, ursächliche Etablierungs- und Handlungsfeld systemkritischen Widerspruchs. Man wollte einerseits innerhalb dieses Raumes das kritische Potenzial schrittweise absorbie720 Ebd., Bl. 10. 721 Vgl. Poppe, „Der Weg ist das Ziel“, S. 250 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ren, indem dieser als solcher entpolitisiert und durch eine so genannte Strategie der „Theologisierung“722 zu den grundlegenden religiösen Themen zurückgeführt wurde. Andererseits setzte man auf eine innere Konfrontation zwischen Kirchenleitung und kirchennahen politisch alternativen Gruppen, dadurch dass man die Kirchenoberen eng an eine Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen band und sie hierin zugleich für staatliche Zwecke instrumentalisierte. Man zwang sie nämlich, qua ihrer kircheninternen Autorität disziplinierend auf die Gruppen einzuwirken. Im kirchlichen Raum, der neben den ideellen Grundgegebenheiten auch die infrastrukturellen Möglichkeiten und damit die Grundlage für die Schaffung eines breiteren politischen Wirkungsfeldes offerierte, sollte es faktisch – wie am Beispiel von Herrn Spengler zuvor deutlich geworden ist – zu Interessenskonflikten kommen, und zwar mit denjenigen Personen, die eine Vermittlerrolle zwischen Gruppen und Staat einnehmen mussten. Denn solange die Kirche den sich unter ihrem Dach gebildeten Gruppen Schutz vor staatlichem Zugriff gewähren sollte, mussten sich diese zugleich über die Grenzen des Schutzraums im Klaren sein und die Spielregeln der Zusammenarbeit mit der Kirche einhalten. Die Kirche wollte die hart erkämpfte relativ autonome Position in der DDR nicht gänzlich verspielen und musste insofern die Arbeit der Gruppen im legalen Rahmen halten, was zu starken Auseinandersetzungen mit vor allem „protestativen Gruppen“ führte, „die mittels spektakulärer Aktionen öffentliche Aufmerksamkeit erzielen und mit ihren Provokationen Zeichen für die Notwendigkeit gesellschaftlichen Wandels setzen wollten“723, dabei aber thematisch immer weiter aus dem kirchlichen Raum, offiziell jedoch unter deren Protektorat in die verordnete Öffentlichkeit zu treten wagten. Direkte Einflussnahme von Regierung und MfS auf die Kirchenleitung: Zum einen versuchte man also ganz konkret über einen Zugriff auf die Kirchenoberen eine Disziplinierung der im kirchennahen Bereich aktiven Gruppen zu erreichen. Aus diesem Anlass zweckentfremdete die Regierung die bereits institutionalisierten regelmäßigen Gespräche mit kirchlichen Vertretern in den Referaten für Kirchenpolitik. Dies geschah sogar zeitweise auf direkte Anweisung Honeckers, der aufgrund der Tatsache, dass „unter dem dach der kirche konterrevolutionaere aktionen gegen staat und gesellschaft“ provoziert wurden, forderte in offiziellen Aussprachen mit der Leitung der evangelischen Kirche klarzustellen, „dasz die evangelische kirche sich selbst einen schlechten dienst erweist, wenn sie denen entgegenkommt, die die kirche fuer ihre staatsfeindliche taetigkeit miszbrauchen wollen. [...] dabei darf kein zweifel darueber zugelassen werden, dasz der staat schon von der verfassung her die religioese taetigkeit der kirche schuetzt, dasz aber in keinem augenblick zugelassen wird,

722 Knabe, Feine Waffen, S. 206. 723 Pollack, Politischer Protest, S. 157. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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unter dem schirm der kirche staatsfeindliche taetigkeit zu fuehren.“724 Die politisch provozierenden Aktivitäten der Gruppen fanden auch nach Einschätzung des Staates primär innerhalb der Kirche ihren Ausgangspunkt bzw. ihre eindeutige Zuordnung, wodurch man nun kompromisslos von den Kirchenleitungen kraft ihrer Verantwortung gegenüber Staat und Institution Kirche forderte, stärker regulierend und disziplinierend gegenüber den Gruppen aufzutreten. Gelang es aber dem MfS und den jeweiligen kirchenpolitischen staatlichen Stellen nicht, diese präventive Einmischung über die Kirchenleitungen durchzusetzen, das heißt zeigten sich diese in ihrer Zusammenarbeit zu wenig kooperativ, verfügte das MfS durchaus auch über ‚feinere‘ Methoden, sich einzelne Personen im kirchlichen Umfeld für seine Interessen gefügig zu machen. Die systematische Kompromittierung und zugleich Korrumpierung der kirchlichen Würdenträger mit Hilfe speziell geschulter MfS-Mitarbeiter, so genannter OibE725, zählte zu jenen Methoden, die es den Vermittlern zwischen Staat und alternativen Gruppen äußerst schwer machte, der ihnen zugewiesenen Rolle für beide Seiten in irgendeiner Weise gerecht zu werden, begegneten sie doch innerhalb dieser schizophrenen Situation stets der über allem Handeln stehenden Androhung der staatlichen Kirchenpolitik, „das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, das seit dem 6. März 1978 von beiden Seiten als kooperativ definiert wurde, aufzukündigen und die den Kirchen gewährten Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten einzuschränken.“726 Einerseits versuchte man mit „inoffiziell“ gewonnenen, kompromittierenden Informationen die nicht zufrieden 724 Fernschreiben Erich Honeckers an die 1. Sekretäre der SED-Bezirks- und Kreisleitungen vom 18. 2.1988 (SäStA Chemnitz, SED BL KMSt, Nr. IV F-2/3/96a, Bl. 1, durchgäng. Kleinschreibung). 725 OibE: „Offiziere im besonderen Einsatz“ waren hochqualifizierte, oftmals auch in der „Operativen Psychologie“ geschulte Offiziere des MfS, die ihre Diensttätigkeit unter einer Legende wahrnahmen und in Schlüsselpositionen der Volkswirtschaft oder im Staatsapparat, im Falle von Herrn Spengler bspw. im Referat für Kirchenfragen beim Rat der Stadt agierten. Vgl. MfS-Ordnung Nr. 6/86 über die Arbeit mit Offizieren im besonderen Einsatz des MfS vom 17. 3.1986. Dokumentiert in: Fricke, MfS intern, S. 164–179. Herr Spengler schildert die Methoden des OibE auch im Vergleich zur Arbeitsweise des MfS gegenüber der Kirche noch zwei Jahrzehnte zuvor: „Wenn ’s von der Sorte mehr gegeben hätte, wär’ ’s gefährlich gewesen. Der hatte wirklich eine äußerst geschliffene, gute Art aufzutreten, konnte allerdings, wie wenn man ein Rollo runter- oder raufzieht, SCHLAGARTIG aus einer äußerst verbindlichen, angenehmen, aber nicht korrumpierenden Art, umschlagen in die brutale Androhung von irgendetwas. DAS kann doch nicht dasselbe Gesicht sein. Aber das waren Ausnahmen, solche guten Leute hatten se zum Glück seltener. Aber die LINIE, die sie da fuhren in den achtziger Jahren, die war vom Teufel. Da war die brutale Auseinandersetzung, die ooch in [Ortsname] hier ursprünglich ganz brutal und direkt war, äh »Ihr— seid doch sowieso Staatsfeinde und da drehen wir alles ab«, die war ja wesentlich besser [...].“ V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 8 f. 726 Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 86. Am 6. März 1978 hatte auf Bestreben der obersten Vertreter der Kirchen in der DDR ein Spitzengespräch mit Erich Honecker stattgefunden, welches die Grundlage für eine „Kirche im Sozialismus“ gelegt hatte und ihr unter der Prämisse von Offenheit und Durchsichtigkeit eine gewisse Autonomie des Handelns innerhalb ihres Bereichs zugestanden hatte. Vgl. erneut Kap. 6.2.2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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stellende ‚unverbindliche‘ Zusammenarbeit effektiver zu gestalten, indem man androhte dem Ansehen der jeweiligen kirchlichen Mitarbeiter so zu schaden, dass deren persönliche und berufliche Integrität möglicherweise zerstört wurde. Nicht selten aber nutzte man solches Material auch gerne, um das Verhältnis auf eine „inoffizielle“ Basis“ zu heben, quasi durch Erpressung eine inoffizielle Mitarbeit zu erzwingen: „Ich denke, das hat schon zu den normalen Methoden der Stasi gehört, äh Schwachstellen, die man bei jemanden entdeckt hatte und auch zum Teil systematisch ermittelt hatte, dann zu benutzen. Und da muss ich gar nich’ erst mit schweren Repressionen arbeiten. [...] wenn se em Pfarrer sagten äh, »Wir kennen Ihre homosexuelle Veranlagung«, das hat GEREICHT. Da musste überhaupt gar nich’ weiter auf ’n Tisch gehauen werden. [...] aber wenn man außen so die Strukturen aufgebaut hatte, dass Andeutungen langen, sie müssen ja nicht mal böse ausgedrückt werden, nein sie langen als Andeutungen. Und das denk’ ich, das hat auf ganz breiter Front die Dinge beherrscht, aber bei mir hat ’s keine Rolle gespielt. Mir ist man nie in dieser Weise begegnet.“727 Daneben entwickelte das MfS nach Aussagen von Herrn Spengler zudem mehr und mehr eine Strategie der Korrumpierung, die sich innerhalb der gezielten Gewährung von Vergünstigungen, vor allem in der großzügigen Genehmigung von Reisen ins nichtsozialistische Ausland und gelegentlichen materiellen Zugeständnissen äußerte. Diese Methode hatte nach Ansicht von Herrn Spengler eine besonders perfide Natur, denn sie zielte auf die systematische Isolierung des Kirchenvolks und insofern auch der in der Kirche politisch engagierten Gruppen von den übergeordneten Kirchenvertretern. Da sich die evangelische Kirche vor allem auch in der DDR als Volkskirche verstand, „d. h. als eine Kirche, die für das Volk da zu sein hat und in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen will“728, hatte diese isolierende Taktik zusätzlich eine außerordentlich negative Auswirkung auf das Selbstverständnis der gesamten Institution. Das MfS konnte in Anwendung dieser Methode auf die berechenbare Außenwirkung solcher ‚Vergünstigungen‘, die im vertrauten Umfeld kollektives Misstrauen und damit interne Auseinandersetzungen nach sich zogen, setzen. Geschickt lenkten diese vom MfS provozierten kircheninternen Konflikte vom eigentlichen Konfliktauslöser ab und absorbierten kalkuliert diejenigen Energien, die vordringlich für die Umwelt- und Friedensarbeit der Gruppen, insofern für ihre gesamtgesellschaftlich orientierte, systemkritische Wirksamkeit aufgebracht werden sollte. „Das hat erst in der ganz späten DDR begonnen, dass der Staat ja auf perfidere Methoden verfiel, äh in der Kirche, was man dann ‘Staatspolitik in Kirchenfragen’ äh hochtrabend nannte, äh ’ne neue oder gegenüber der Kirche ’ne neue Strategie anzusetzen, dass er im Grunde, nach meiner Einschätzung, sagte, »Für die Zeit, in der es die Kirche noch geben wird, eh’ Glauben, Kirche, Christentum ganz ausstirbt, kann das für 727 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 12. 728 Pollack, Funktionen von Religion und Kirche, S. 80. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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uns zum Beispiel außenpolitisch gegenüber der Dritten Welt ganz zweckmäßig sein, wenn wir mit der Kirche anders umgehen. Wir wollen natürlich trotzdem nicht die Kirche fördern [...]. Wir wollen vor allem die Profis, die wollen wir etwas streicheln und vom Kirchenvolk isolieren.« Und damit begann, dass die das in den achtziger Jahren ermöglichten, dass ein kirchlicher Mitarbeiter eine Dienstreise haben kann. Und das hab’ ich also als eine ausgesprochen üble Methode angesehen und die GEFAHR, dass da die äh die Kirchenkader, in Anführungsstrichchen, vom Kirchenvolk getrennt werden, die hat auch echt bestanden in meinen Augen.“729

Diese Strategie wirkte in zweifacher Hinsicht nachteilig auf die Arbeit der Gruppen. Zum einen hemmte das zuweilen entstandene Misstrauen gegenüber den Fürsprechern in der Kirche die enge Zusammenarbeit und damit die Gestaltung durchsetzungskräftiger Aktivitäten, denn man vertraute nun nicht mehr gänzlich der schützenden Hand kirchlicher Amtsträger. Zum anderen wurde sich die Kirchenleitung innerhalb der intensiven Gespräche mit Regierungsvertretern und MfS bewusst, dass eine gegen das von oben angewiesene Eingreifen zweigleisige Strategie, das angespannte Verhältnis zwischen Staat und Kirche problematisieren und verschärfen würde. Daraufhin schalteten sich nun häufiger als zuvor oberste Vertreter der Kirchenleitungen bevormundend in die Aktivitäten einzelner Gruppen ein und nahmen so direkten Einfluss auf deren geplante Veranstaltungen und Aktivitäten, wodurch die politische Dimension des Engagements im Bereich der Kirche stetig verringert werden sollte. Frau Simon schildert dieses von Staat und MfS provozierte problematische Verhältnis aus ihrer Perspektive, indem sie dessen Folgen für die Arbeit ihrer kirchennahen „Öko-Gruppe“ als ein ständiges Ankämpfen gegen die Restriktionen der Kirchenoberen schildert, vor allem sobald das Engagement thematisch etwas über den kirchlichen Rahmen hinaus zu wirken drohte und stärkere politische Dimensionen annahm. Solange es ihnen um die Bewahrung der Schöpfung ging, waren sie im Sinne des kirchlichen Auftrags geduldet, aber sobald sie versuchten „an Strukturen [zu] rütteln, sozusagen die Kirche als Institution in Gefahr [zu] bringen, NJET“730. 729 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 7. 730 Sinngemäßer Wortlaut des damaligen Landesbischofs von Thüringen Leich, der in einem Gespräch mit den Basisgruppen der Kirche im Frühjahr 1989 die Position der Kirchenleitung deutlich zum Ausdruck brachte, nachdem er von den Gruppen zu einer Stellungnahme aufgefordert worden war. Frau Simon bezieht sich hier auf einen inoffiziellen Mitschnitt eines Gesprächs durch das MfS, das der Gruppen innerhalb der Akteneinsicht der MfS-Unterlagen zugänglich wurde. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 34. Der Realitätssinn des Bischof Leich, der – wie aus den Quellen deutlich wird – zudem unter starkem IM-Einfluss stand, spiegelt sich auch in folgender Einschätzung einer MfS-Forschungsarbeit wider: „Das Auftreten des Bischof Leich, seine von Sachlichkeit getragenen [...] Ausführungen bei kirchlichen Veranstaltungen bewirken, das negativen Kräften im Wesentlichen ihre Wirksamkeit genommen wurde. Diese Haltung des Landesbischofs Leich wurde durch die gezielte pol[itisch]-op[erative] Einflussnahme durch IM in Schlüsselpositionen [...] gefördert“. Hermann, Artur, Die Kenntnis der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen – Voraussetzung für eine wirksame politisch-operative Arbeit (Diplomarbeit JHS) zitiert in Schilling, „Bearbeitung“, S. 235. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Und immer gegen, das kann ich ja für [Ortsname] wenigstens sagen, immer gegen den Widerstand der etablierten, auch der evangelischen Kirche. Gegen den Widerstand der Pfarrer und vor allem auch des Kirchenvorstands. [...] Die ham das Ganze von Anfang an äußerst skeptisch ähm begleitet, nich’ mal begleitet äh beobachtet. So nach dem Motto, »Was machen die da? Hat das eigentlich noch was mit Glauben zu tun?« [...] Ja— und da wurde ich dann also, ich weiß, ich bin bestimmt zwei- oder dreimal vor diesen Gemeindekirchenrat zitiert worden äh und musste uns da rechtfertigen, was wir da eigentlich tun.“731

Frau Simon betont aber zugleich, dass die Hilfe einzelner, in der Kirche aktiver Fürsprecher umso entscheidender war und damit dennoch den Zugang zu deren infrastrukturellen Möglichkeiten, die eine erweiterte politische Gegenöffentlichkeit mobilisieren konnten, zuließ.732 Auffällig wird im Umweltengagement der Gruppe um Frau Simon, dass sich diese oftmals und notwendigerweise dem Autoritätsgehorsam gegenüber der Kirchenleitung verweigerte und den lautstarken Protest einzelner zuständiger Pfarrer und des Kirchenvorstands der Gemeinde schlichtweg ignorierte. In diesem Zusammenhang verweist sie auf mehrere Beispiele aus ihrem Aktionsfeld, die deutlich machen, dass es den Kirchenleitungen teilweise nur pro forma um die Erfüllung der staatlichen Maßgaben gegenüber den Gruppen ging, sie jedoch – wie sich am Problemfeld Umwelt-Bibliothek zeigte – nicht in der staatlich geforderten Härte durchgriffen, eher mit Sorge distanziert beobachteten, aber dennoch deren Arbeit in ihren Räumlichkeiten duldeten: „Also mir wurde erklärt, ich musste WIEDER vor ’n Gemeindekirchenrat und musste WIEDER sagen, dass wir fromm und nur fromm sind und sonst gar nichts. Und ich hab’ ihnen dann auch schon erzählt, das die äh dass ja die Bewahrung der Schöpfung ja— also GANZ doll was mit Glauben zu tun hat. Und dann konnten se schlecht was dagegen sagen, ne. Äh aber die Umwelt-Bibliothek sollte sofort wieder raus. Ja wir sind aber einfach nich’ gegangen. Wir haben ’s also einfach nur besetzt.“733 Indirekte Disziplinierung durch massiven IM-Einsatz von Kirchenvertretern: „Ihre gesellschaftliche Öffnung brachte die evangelischen Kirchen in die Gefahr übergroßer Nähe zur staatlichen Herrschaft in der DDR, ja, in die Gefahr der Verstrickung in das politische System der DDR.“734 Diese Gefahr offenbarte sich besonders in der Form, dass das MfS ab Mitte der achtziger Jahre vermehrt Kirchenvertreter als inoffizielle Mitarbeiter in der disziplinierenden Arbeit gegen die Basisgruppen der Kirchen einsetzte. Implizit sollten sie die 731 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 13. 732 „Und da gab ’s ganz große Unterschiede. Wir ham zum Beispiel immer vom Freistaat Erfurt gesprochen. In Erfurt war Heino Falcke Probst. [...] Der hat allen solchen Leuten wie uns den Rücken freigeschaufelt gegen ... Also in Erfurt konnte man über kirchliche Wege äh zum Beispiel Sachen kopieren, vervielfältigen, Treffen machen und so was.“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 34. 733 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 20. 734 Pollack, Funktionen von Religion und Kirche, S. 80. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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bereits durch die Maßnahmen der Kirchenleitungen beginnenden Konfrontationen innerhalb der Konstellation Kirche und Gruppen verstärken und deren negative Dynamik ausnutzen, um das gemeinsame Agieren mehr und mehr zu lähmen bzw. destruktiv zu lenken.735 Ihre Aufgabe bestand zudem darin, vertrauliche Informationen an die staatssicherheitsdienstlichen Kräfte weiterzugeben, welche aktive Personen und deren Arbeit kompromittierten, was unter Ausnutzung der Möglichkeiten des politischen Strafrechts in der DDR zur Kriminalisierung und Inhaftierung dieser Personen führen konnte. Des Weiteren hatte man den IM in Kirchenkreisen die Aufgabe zugewiesen, beeinflussend und insofern ebenfalls manipulierend auf die Auswahl thematischer Schwerpunkte der Gruppen einzuwirken, so dass diese wieder mehr ursächlich religiösen Themen zugeführt wurden. Wie einleitend angedeutet, bezeichnete das MfS diese konspirative Durchdringung als gezielte „Entpolitisierung und Theologisierung“736 kirchlicher Gruppen. Inwieweit zumindest die Anwerbung zahlreicher „Hauptwaffe[n] im Kampf gegen den Feind“737 Früchte trug, lässt sich an der überaus hohen Zahl kirchlicher Vertreter, die eine inoffizielle Mitarbeit begleiteten, bereits messen. Besier hat anhand der Akten des MfS, vor allem auch für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Thüringen (ELKT)738, bedenkliche Ausmaße der Kooperationsbereitschaft kirchlicher Amts- und Würdenträger auf allen Ebenen ausmachen können.739 Diese war zur damaligen Zeit von denjenigen, die wie Herr Spengler ebenfalls in gehobenen Positionen der Kirche tätig waren, außerhalb des Vorstellbaren gelegen, zwar als hypothetisch durchaus vorhanden, was den Wirkungsgrad dieser Personen, also beispielsweise die Weitergabe kircheninterner Informationen und deren Einfluss auf personalpolitische Entscheidungen und innerkirchliche Entwicklungen anbetraf und für das MfS äußerst effektiv machte, hatte man unterschätzt. Die immense Infiltration der Kirche durch das MfS war aber schon allein aus der Überzeugung, dass die Kirche ein relativ autonom organisierter Raum in der DDR geblieben war, nicht denkbar gewesen, von den hohen moralischen Wertvorstellungen, an denen man die obersten Repräsentanten der Kirche maß, ganz abgesehen. So nimmt Herr Spengler folglich auch an, dass die damalige Situation insgesamt weniger drastisch war, als es die bisherige wissenschaftliche Literatur darzulegen suchte. In diesem Kontext weist er auf die 735 „Die Kreisdienststellen haben sich bei der Lösung vorgenannter politisch-operativer Aufgaben zu konzentrieren auf [...] die Verstärkung der Abwehrarbeit an der kirchlichen Basis [...], einschließlich von Werbungen unter diesen Personenkreisen, [...] die Erarbeitung von Hinweisen [...], die für eine inoffizielle Zusammenarbeit, vor allem über eine langfristige Entwicklung mit perspektivischem Charakter geeignet sind“. MfS-DA 2/85 (BStU, ASt. Chemnitz, Dokument 594, Bl. 17–18; MfS-Zählung). 736 Knabe, Feine Waffen, S. 206. 737 MfS-Richtlinie 1/79. Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 417. 738 Vgl. Besier, Resistenz, S. 182–214. 739 Zum Aufbau des „IM-Netzes“ in Kirchenkreisen vgl. Vollnhals, Kirchenpolitische Abteilung, S. 98–110. Zum Ausmaß der kirchlichen IM vgl. Besier, SED-Staat und Kirche. Vision; Neubert, Vergebung oder Weißwäscherei? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zusätzlichen Möglichkeiten des Staates hin, seinen Einfluss auf interne Kirchenfragen zu vergrößern, zum Beispiel in der staatlichen Ausbildung der Kirchenjuristen, welche vielfach als Informationsträger des MfS funktionierten und die massive Unterwanderung der Landeskirche Thüringen mit inoffiziellen Mitarbeitern zusätzlich erklärbar macht und auf diese Weise die damalige Kirchenleitung teilweise entlastet.740 „Ich habe in dem Ghetto Kirche gelebt, wo ich intern sehr frei und offen mit andern reden konnte. Freilich (2) kaum damit rechnete, dass es unter uns Maulwürfe geben würde. Dies Phänomen der Maulwürfe unter uns, das ist äh ernster gewesen, als ich es damals für möglich gehalten habe, aber viel viel geringer als es jetzt in der Literatur von Herrn [...] Besier äh zum Beispiel darstellt (wird), wo er im Grunde die Kirche relativ pauschal äh als völlig unterlaufen und kollaborierend und so was darstellt. Das ist richtiger Unsinn. Aber ich war, ich hätte gar nich’ gedacht, dass es etwa unter ganz=in ’nem ganz normalen Pfarrkonvent, [...] dass es DA gelegentlich einen gab, der anschließend alles dahin trug. An der Stelle hab’ ich also gemeint, der Verlass untereinander äh sei wirklich wirksamer [...]. Die Verhältnisse in Thüringen mögen wohl WESENTLICH schlimmer gewesen sein, das sieht man auch daran, dass die Thüringer Landeskirche ihre Juristen tatsächlich in Jena an der Jura-Sektion hat ausbilden lassen. Und der Staat müsste ja blöd gewesen sein, wenn er die Gelegenheit nicht genutzt hätte [...].“741

Der Spielraum der unter dem Dach der Kirche agierenden Gruppen wurde auf diese Weise stärker eingeschränkt, vor allem durch die direkten Eingriffe auf oberster Ebene, was die Disziplinierung der zentralen kirchlichen Institutionen und deren Vertreter durch die Vertreter des Staatssekretariats für Kirchenfragen und der kirchenpolitischen Abteilung des MfS (HA XX/4) anbelangte. Für Aktionen der Basisgruppen wurden die obersten kirchlichen Amtsträger immer häufiger in die Verantwortung gezogen und mussten nun ihrerseits reglementierend gegenüber den politisierenden Tendenzen in ihren Kirchen vorgehen, was die inneren Konflikte mit den Amtsträgern auf unterer Ebene zudem schürte. Der Druck auf diese Kreise wirkte jedoch weniger einschüchternd und reglementierend, als ihn das MfS in seiner Wirksamkeit berechnet hatte, wussten doch besonders auch Kirchenjuristen wie Herr Spengler stets um den aktuellen rechtlichen Handlungsspielraum politischer Aktivitäten im kirchlichen Umfeld. Insofern konnten sie ohne die Befürchtung strikter Maßnahmen des MfS 740 Dieser differenzierende Ansatz geht konform mit Schillings Ausführungen, der in der Debatte um die außerordentliche Verflechtung der ELKT mit dem MfS im Gegensatz zu den anderen evang. Landeskirchen in der DDR darauf hinweist, dass für diese bisher keine Gesamterhebungen vorliegen und lediglich die Thüringer und Mecklenburger Kirchen die verpflichtende Regelprüfung aller im Dienstverhältnis stehender Pfarrer etc. von damals vorgeschrieben haben. Das heißt also, eine mögliche Verzerrung der Daten, die die damalige Situation in Thüringen spiegeln, ist insofern möglich, da hier bis jetzt die stärkste, besonders auch öffentliche Aufarbeitung durch populär gewordene Berichte in Print- und Fernsehmedien erfolgt ist und bislang keine repräsentativen Vergleichswerte zu den anderen Landeskirchen vorliegen. Vgl. Schilling, „Bearbeitung“, S. 211–213. 741 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ihre Zusammenarbeit mit den politisch alternativen Gruppen unter der gebotenen Vorsicht erfolgreich fortführen. „Also jedenfalls das Bewusstsein, dass ich etliches tue, was mir ans Bein gehen kann, wenn man will, das Bewusstsein hab’ ich gehabt. Ich muss allerdings sagen, es war die ganzen Siebziger und bis in äh so ’87 lebten wir eigentlich unter dem Eindruck, die Zeiten, wo der Staat Kirchenleute verhaftet, sind, wenn die nicht GANZ Schlimmes machen, eigentlich vorbei. [...] Man kann sagen eigentlich vom Beginn der Honecker-Ära bis so zur Gorbatschow-Zeit hat das— Gefühl vorgeherrscht, eh’ sie einen Pfarrer oder so was verhaften, werden sie alles mögliche Andere machen. Ja keine Märtyrer schaffen. Das war ihnen viel zu wichtig und ich denke das war auch klug von ihnen, dass sie das nicht gemacht haben, denn das hatte ja vorher im Grunde Widerstand geschaffen. Wenn einer verhaftet war und so und so viele gesagt haben, »Jetzt muss ich auch entschiedener sein.«“742

Auf subtilere Art und Weise versuchte man durch die Verlagerung der politischen Schwerpunkte in theologische Bereiche rückzubinden; vor allem ab Mitte der achtziger Jahre forcierte man gemäß Dienstanweisung 2/85 des Ministers für Staatssicherheit durch vermehrten Einsatz besonders christlicher, aber dennoch staatsloyal orientierter IM die Entschärfung systemkritischen Potenzials in den Umwelt- und Friedensgruppen. Das staatliche Handeln, „das sich jahrzehntelang darum bemüht hatte, die Gesellschaft zu entkonfessionalisieren“ und das nun „im Umfeld der Kirche agierende Gruppen stärker zum Glauben zurückzuführen bemüht war, um sie zu entpolitisieren“743, führte sich vor diesem Hintergrund selbst ad absurdum. Die Effektivität all dieser Maßnahmen blieb jedoch im Verhältnis zu ihrem konzentrierten Einsatz in einem äußerst begrenzten Rahmen, weil die Gruppen einerseits um das Eindringen staatssicherheitsdienstlicher Maßnahmen in ihre engsten Kreise wussten, andererseits „die Präsenz der Basisgruppen und die von ihr erzeugte [...] Resonanz“ in einer erweiterten Gegenöffentlichkeit, ja ihre bereits stückweise gelungene „Besetzung öffentlicher Räume“744 nicht mehr aufzuhalten war: „Die Stasi war da sicher immer mit anwesend, damit ham mer ooch gerechnet, aber es war uns, also mir zumindest war ’s schlicht egal. [...] Und— wir ham ooch damit gerechnet, dass die mit in diesen Gesprächsgruppen sitzen und saßen sie ja ooch jede Menge, gell. Manchmal waren mehr von denen da als von uns. ((lachend)) Aber es hat der ganze Sache letztlich keinen Abbruch getan, äh weil wir ham uns einfach nich’ danach gerichtet. Es war=wir ham irgendwann damit aufgehört darüber nachzudenken. Und GANZ bri__ äh brisante Sachen, gut die ham wir dann schon mal anders gelöst.“745 Von den Gruppen forderten die implizit erkennbar gewordene MfS-Unterwanderung und der teilweise schwindende Rückhalt innerhalb der Kirche eine Richtungsänderung auf mehreren Ebenen. Zunächst räumlich: Sie fühlten sich 742 743 744 745

V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 23. Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 87–89. Ebd., S. 89. V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 15 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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mehr und mehr gezwungen – das entsprach schließlich auch ihrem gesellschaftlich-reformorientierten Ansatz – aus dem kirchlichen Schutzraum herauszutreten, um sich unabhängig von dessen Strukturen und Themenschwerpunkten zu machen. Weiterhin thematisch: Ab der Mitte der achtziger Jahre differenzierte sich auch aus diesem Grunde eine weitreichendere politische Orientierung innerhalb vieler Protestgruppen aus, „die sich aus Betroffenheitsgefühlen und aus eher religiösen Motiven für Frieden, Umwelt und Gerechtigkeit und soziale Minderheiten“746 primär engagiert hatten. Ohne die gezielte Anstrengung, die Gesellschaft zunächst zu pluralisieren und das System demokratischen Maßstäben gemäß zu reformieren, würde das Engagement bezüglich der Umwelt- und Friedenthemen letztlich ineffektiv bleiben. Es mussten also grundsätzlichere politisch-radikalere Forderungen aufgestellt werden; das heißt auch, dass die Auseinandersetzung in möglicherweise direkter Konfrontation mit dem System geführt werden musste. Beispielhaft für die Umorientierung der Gruppen zu dieser Zeit ist die Bildung der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) 1985/86, die nun das Thema der Menschenrechte in ihre bisherige Friedensarbeit aufnahm und zu deren Mitgliedern ebenso „Frauen für den Frieden“ wie Frau Manzel zählten. Ihre Bildung entspricht auch insofern einem Novum, als dass sie als erste Gruppe tatsächlich den kirchlichen Schutzraum verließ und sich unabhängig von ihm eine breite öffentliche Wahrnehmung erkämpfen konnte.747 Dieses Merkmal führt zum letzten Punkt, dem infrastrukturellen: Trat man aus der Obhut der Kirche heraus, musste man sich neue Arbeitsformen und Organisationsstrukturen, das heißt auch alternative Netzwerke sowie Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten schaffen, die den Fortbestand der Arbeit und deren Außenwirkung auf einer geeigneten Plattform sicherten. Systematische Disziplinierung und strafrechtliche Verfolgung der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsarbeit oppositioneller Gruppen: Die thematische Verschiebung und politische Radikalisierung wird auch innerhalb der hier zu betrachtenden Gruppierungen um Frau Simon bzw. Frau Manzel um die Mitte der achtziger Jahre greifbar. Die Diskussion um diese Akzentverschiebung hat innerhalb der neuen sozialen Bewegungsforschung748 zu unterschiedlichen 746 Choi, Dissidenz, S. 73. 747 Vgl. Templin/Weißhuhn, Initiative Frieden. 748 Die Theorie „neuer sozialer Bewegungen“ (NSB) beschreibt in unterschiedlichsten Ansätzen das seit den siebziger Jahren auftretende Phänomen gruppenspezifisch orientierter Bewegungen, die sich bspw. als Bürgerinitiativ-, Umweltschutz-, Anti-AKW-, Frauen- oder Friedensbewegung formierten und damit aus Folgeproblemen der Modernisierung – bspw. Umweltverschmutzung, Dritte-Welt-Problematik, Globalisierungsthematik – westlicher Industriegesellschaften resultierten. Die spezifisch europäische Ausformung des NSB-Ansatzes konzentriert sich v. a. auf die Frage, inwiefern Prozesse dieses Wertewandels und der Modernisierung auf die Entstehung und Entwicklung „neuer sozialer Bewegungen“ Einfluss nehmen. Bereits vor 1990 fand dieser Ansatz auch für die Verortung der politisch alternativen Gruppen in der ehemaligen DDR erste Anwendung. Vgl. zuerst: Knabe, Neue Soziale Bewegungen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Auffassungen geführt, teilweise wird sie sogar von ihr bestritten.749 Pollack der zwar übergeordnet an einer exakten Übertragung des europäischen NSBKonzepts auf die politisch alternativen Gruppen in der DDR zweifelt, hält in diesem spezifischen Kontext jedoch fest, dass eine „thematische Schwerpunktverlagerung unübersehbar“750 geworden sei, indem er eine veränderte Programmatik – speziell zur Menschenrechts- und Rechtsstaatsproblematik hin –, insbesondere aus der jeweiligen Samisdatliteratur der Gruppen751 erarbeiten konnte; entsprechend spiegelt sich diese auch in den vorliegenden individualbiographischen Aussagen wie Aktenlagen wider. Dieser Schritt in eine mehr oder weniger offene Systemkritik forderte Regierung und MfS zu einem konzentrierteren und durchgreifenderen Vorgehen gegen die „politische Untergrundtätigkeit“ auf. Nicht zufällig erlässt Mielke in diesem zeitlichen Kontext, das heißt in einer spürbar werdenden, für die Stabilität des SED-Systems gefährlichen Erweiterung und Profilierung politischen Protests durch eine Neuformierung der politisch alternativen Gruppen die bereits oben zitierte Dienstanweisung 2/85. Ein weiterer Grund für das verschärfte Vorgehen war ein außenpolitisches Phänomen, das zusätzlich systemkritisches Potenzial anregte und ein Stück weit auch legitimierte. Dies betraf den Regierungswechsel in Moskau unter Michail Gorbatschow, der von nun an als Generalsekretär der KPdSU mit seinem Reformkonzept von „Glasnost“ und „Perestroika“ unweigerlich auch eine dynamisierende Wirkung auf das Bewusstsein der Gruppen wie der gesamten DDR-Bevölkerung ausübte. Ihre Regierung hingegen deutete die Zeichen der Zeit falsch und forcierte den Mechanismus ihres eigenen fortschreitenden Untergangs demzufolge selbst. Hartnäckig verweigerte sie sich einer auch nur schrittweisen Übertragung der sowjetischen Reformansätze auf die DDR, die einen demokratischeren Sozialismus ausbilden sollten und unterschätzte insofern gleichermaßen den unbedingten Reformwillen der eigenen Bevölkerung, die ihrem Unmut und ihrer Unzufriedenheit gegenüber dem System von nun an verstärkt Ausdruck verleihen sollte. Stattdessen übte sich die herrschende Parteielite aus einer immensen Selbstüberschätzung vielmehr im systematischen Ausbau ihres repressiven Instrumentariums Staatssicherheit und bildete besonders für die Bearbeitung und Disziplinierung von oppositionellen 749 Vgl. bspw. Joppke, East German Dissidents, S. 119. 750 Pollack, Politischer Protest, S. 99. Auf seine Kritik an einer ganzheitlichen Transformation des europäischen NSB-Konzepts auf die DDR-spezifische Entstehung der politisch alternativen Gruppen kann in diesem Zusammenhang leider nicht vertiefend eingegangen werden. Vgl. einleitend seine Argumentation ebd., S. 48 und 255 f. Hinzugefügt werden muss, dass Pollack jedoch die Relevanz des NSB-Ansatzes bspw. für die Erklärung und erste Einordnung der sozialen Ursprünge von Protest in der ehemaligen DDR nicht gänzlich verwirft und sich seiner ebenso bedient, vgl. ebd. S. 49. 751 Bspw. eröffnete sich die IFM ab 1986 mit dem Erscheinen des „Grenzfalls“ ein eigenes Sprachrohr und Forum für ihre Ideen. Bereits im ersten Heft ging man auf Konfrontation mit der ‚demokratischen‘ Verfasstheit des Staates, indem man wagte eine mögliche Manipulation der Volkskammerwahlen zu thematisieren. Vgl. Wahl ’86 – Ein kurzer Rückblick, Grenzfall Nr. 1/86. Dokumentiert in: Hirsch/Kopelew, Grenzfall, S. 2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gruppierungen neue Strategien der Unterdrückung und Verfolgung aus, die ihrerseits in den Gruppen Ab- bzw. Gegenwehr im Hinblick auf eine Fortführung der kollektiven oppositionellen Arbeit provozierten. Absorbierung der kirchlichen Umweltarbeit durch staatliche Integration: Das Vorgehen des MfS gegenüber den Umweltgruppen äußerte sich im Vergleich weniger repressiv, als es bei den Friedensfrauen bzw. der IFM deutlich geworden ist; wie bereits einleitend angedeutet, schätzte man nämlich deren systemgefährdendes Potenzial weitaus geringer ein. Das Engagement dieser meist eng im Kirchenraum gebundenen Gruppen suchte man innerhalb einer „Politik der Umarmung und Vereinnahmung“752 zu disziplinieren. Indem man einzelne Vertreter der Gruppen für eine Arbeit innerhalb der umweltpolitischen Strukturen des Staates ehrenamtlich ‚verpflichtete‘, glaubte man das umweltpolitische Handeln jener geschickt unter Kontrolle halten und zielgerichtet kanalisieren zu können. Dieses taktische Kalkül fiel auch insofern auf fruchtbaren Boden, als es immer Ziel – auch der „Öko-Gruppe“ von Frau Simon – war, sich zuvorderst innerhalb der gesetzlich gegebenen Handlungsmöglichkeiten des Staates zu engagieren und sachbezogene, effektive Umweltpolitik zu betreiben, indem man ihren Aktionsradius ausweitete. „[...] man wollte EHRENamtliche UMWELTinspekteure werben, die dann irgendwelche Objekte begutach__ na nich’ begutachten, beobachten sollten, um irgendwelche eventuellen Missstimmigkeiten zu melden. ’s war NEU. [...] dann wurde ich ANGENOMMEN, JA—. Und da hab’ ich gesagt, »Was is’ ’n jetzt los?« Äh hat jetzt die Stasi geschlafen oder wollen se mich da reinhaben. Also ’s war mir schon klar, dass die ja wussten, wer ich bin, weil ich war ja schon öffentlich in diesen Kirchensachen mit aufgetreten. Und mir war das klar, dass die ooch ihr=dass die alles wissen. [...] Und dann kriegt’ ich einen Dienstausweis mit Bild. Und da ham die gedacht, »Wenn wir die [Simon] da BESCHÄFTIGEN, dann ham wir die im GRIFF«, das war so. Das weiß ich heute, das hab’ ich dann in den Unterlagen gefunden. Die ham natürlich nich’ damit gerechnet, erstens, dass ich da wirklich hingehe und dass ich das wirklich mache.“753

Wie die Überlegungen von Frau Simon bereits andeuten, rechneten das MfS und die angewiesenen Lokalbehörden nicht damit, dass es den eingebundenen ehrenamtlichen Umweltinspekteuren gelingen würde, im Sinne des MfS „feindlich-negativ“ zu agieren. Das Amt für Kirchenfragen hatte zwar auf die Gefahren hingewiesen, die eine institutionelle Einbindung der kirchlichen Umweltarbeit mit sich bringen konnte und deshalb auch „ein hohes Maß an subtiler politischer Differenzierungsarbeit“754 gefordert, trotzdem gelang es Frau Simon unter der Obhut der staatlichen Umweltinspekteurin, brisantes Material, was die Gefährdung des Trinkwassers durch die Schadstoffdeponien im Bezirk be-

752 Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 88. 753 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 18. 754 Rundschreiben von Staatssekretär Gysi an die stellv. Vorsitzenden für Inneres der Räte der Bezirke und Kreise vom 28.1.1985, zitiert in Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 89. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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traf, für die Umweltarbeit ihrer Gruppe zu sichern.755 Die Umweltarbeit entwickelte damit politischere Dimensionen, sie blieb aber auf einer offiziell rein umweltthematischen kooperativen Ebene mit den staatlichen Behörden. Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Agieren gegenüber den Vertuschungsmanövern der Umweltbehörde war für Frau Simon die Erlangung hoher Sachkompetenz in Verbindung mit der Schaffung eines ausgeprägten Informationsniveaus über umwelttechnische Fragen und Details. In ihrer Position als Mitarbeiterin der staatlichen Umweltinspektion gelang es ihr, inoffizielles brisantes Material, das grundlegende Daten und Messwerte zur Umweltsituation im Bezirk preisgab, zu recherchieren. Es war nach ihrer Aussage nicht nur die zeitweilige Naivität der Behördenvertreter, die der Meinung waren, dass sie das „dienstliche“ Interesse der Umweltinspektion mit Informationen bedienen mussten, sondern auch deren Einblick in die alarmierenden, übergeordneten ökologischen Problemlagen, der einigen unter ihnen Anlass war, ihr Wissen um die fatale Umweltzerstörung weiterzugeben. So war es Frau Simon zugleich möglich geworden, einen innerstaatlichen Diskurs zur Umweltproblematik anzuregen, der auf Grundlage wissenschaftlicher Daten der Behörden Argumente gegen die bisherige Umweltpolitik der DDR-Regierung hervorbrachte. „Da bin ich nach [Ortsname] reingefahren, da kriegt’ ich Termine. Da saß ich zusammen mit einem Menschen vom, wie hieß das, hydrologischen Institut, mit einem Bodenkundler und mit einem, was war der andere, einem Geologen. Und die ham mir tatsächlich, waren ganz liebe Menschen, ham mir [...] die Pläne ausgerollt und ham mir erklärt, weil ich war ja doof, äh wie so was funktioniert. Ich hatte KEENE Ahnung, ich hab’ mich NOCH NIE mit Grundwasserfließrichtungen beschäftigt oder so was. Aber es war natürlich einsehbar, wenn die sagen, »Also das Grundwasser fließt von West nach Ost, so ist die Fließrichtung an der Stelle, und das Werk liegt in der Mitte und äh die Bodenverseuchung ist jetzt bei, wir schätzen dreißig Meter, die Trinkwasser__ also die Grundwasserleiter liegen ungefähr bei vierzehn Meter und dann gibt ’s noch welche, die weiter drunter liegen, dann is’ das ja, ja dann muss das ja schon drin sein.« [...] Da waren die Leute, die Leute waren richtig dankbar. Sie wussten um diese Schweinereien schon lange, aber sie hatten den Maulkorb um und jetzt kam ich daher und hab’ gesagt, »Gut, jetzt nehm’ ich das mit.« Und dann hab’ ich eben Informationsveranstaltungen auch zu diesem Thema gemacht.“756

Im Umfeld ihrer kirchennahen Veranstaltungen erreichte die Umweltgruppe nun auch größere Teile der betroffenen Bevölkerung und konfrontierte sie mit den Ursachen und katastrophalen Folgen der Umweltverschmutzung in ihrer Lebenswelt. Frau Simon unterlief damit nicht nur die staatlich verordnete Abschirmung der Umweltschäden, im Gegenteil, sie versuchte stattdessen die Mo755 „Dann diese Umweltinspekteurin, die hat mich also (1) ernst genommen, die hat mich also zum Beispiel ganz offiziell beim Direktor der Stadtwirtschaft vorgestellt als ihre Mitarbeiterin, der alle Unterlagen zugänglich zu machen sind. Und da hab’ ich also immer meinen Haushaltstag und meine freien Tage hab’ ich damit verbracht am Direktionsschreibtisch zu sitzen und die GANZEN internen Unterlagen vor mir zu haben.“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 18. 756 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 36 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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bilisierung einer größeren Öffentlichkeit für das Thema. Hierbei setzte sie aber nicht allein auf die Resonanz ihres unmittelbaren Umfeldes, sondern nutzte zugleich die Aufmerksamkeit der westlichen Medien. Gemäß der seit 1982 bestehenden Anordnung zur Geheimhaltung von Umweltdaten hätte sie zwar erstens nicht an besagte Daten und Messwerte gelangen dürfen, zweitens war aber die Tatsache ihrer Veröffentlichung, noch dazu in einem westlichen Magazin, dem Strafrecht der DDR gemäß als Wirtschafts- und Industriespionage (§ 97 StGB) bzw. als „Landesverräterische Nachrichtenübermittlung“ (§ 99 StGB) zu werten. Dennoch verlautbarte Frau Simon in einem Interview mit dem „Stern“ ihre gewonnenen Daten über die ausgestoßenen täglichen Schadstoffmengen des VEB BV Espenhain.757 Der Operative Vorgang der KD kam erneut ins Rollen; es erfolgte eine sofortige Informationsanforderung des Ministeriums in Berlin, in welcher über die bisherigen Aktivitäten von und Maßnahmen gegen Frau Simon und den ortsansässigen Pfarrer aufgeklärt wurde. Trotz dieses ‚staatsfeindlichen Vorgehens‘ blieb Frau Simon weiterhin von strafrechtlichen Maßnahmen bzw. einer Inhaftierung verschont. Diese Tatsache erklärt sich allein aus dem Umstand, dass das MfS befürchtete Frau Simons „umfangreiche Verbindungen zu [...] ‚Öko-Gruppen/Einrichtungen‘ in der BRD“758 könnten bei einer möglichen Inhaftierung größeres öffentliches Aufsehen erregen und für das außenpolitische Ansehen der DDR schädigender sein, als es die bisherigen Aktivitäten vermocht hatten. „Zwei Wochen später ruft mich mein Cousin aus ’m Westen an, sagt, »BIST DU WAHNSINNIG geworden? Ein RIESENartikel im ‘Stern’.« Und der hatte das alles brühwarm geschrieben und mit Namen und alles, ja. [...] Heute weiß ich, ’s war mein Glück unter anderem, weil die Stasi gedacht hat, ich hätte so WAHNsinnig gute Connections zur Westpresse, dass es von daher schon ein bisschen schwierig war, die Frau [Simon] einfach wegzufangen, man hätte damit rechnen müssen, dass da also irgendjemand AUFschreit und fragt, »Was is’ los?« Es hätte wahrscheinlich gar nich’ funktioniert, aber die hatten so den Eindruck.“759

Die vor allem im Zusammenhang mit den Umweltgruppen vom MfS praktizierte Taktik der „Einbindung“ konnte, wie an diesem Beispiel deutlich wird, gezielt für die kollektive Aufklärungsarbeit zur Herstellung kritischer Öffentlichkeit unterlaufen und im umgekehrten Sinne für die eigenen Handlungsziele konkret ausgenutzt werden. In Orientierung an der aktuellen politischen Lage am Ende der achtziger Jahre hatten die Gruppen gelernt, den möglichen Handlungsrahmen einzuschätzen und die eigenen Aktivitäten entsprechend anzugleichen; denn kalkulierbar war, dass sie sich „mit einer Orientierung an der Rechtssituation immer kurz unterhalb der Schwelle der strafrechtlichen Relevanz“760 befanden und mit einer möglichen Inhaftierung durch das MfS rech757 Vgl. „Mit Gott gegen Giftschwaden“. In: Stern vom 3.11.1988. 758 Telegramm der BV Leipzig an das MfS Berlin vom 8.11.1988. Dokumentiert in: STASI intern, S. 322 f. 759 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 30 f. 760 Beleites, Konspirative Abschirmung, S. 1606. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nen mussten. Aus diesem Grunde suchten vor allem die im kirchlichen Raum enger gebundenen Umweltgruppen nach weniger offensiven Aktionsmitteln in der DDR, indem sie sich jedoch wie dargelegt den Kontakt zur bundesrepublikanischen Presse bahnten und insofern ihrem öffentlichen Aufklärungsziel gerecht werden konnten. Die rückbindende Resonanz von Veröffentlichungen ostdeutscher Themen in den Westmedien innerhalb der DDR, welche die Rolle und Bedeutung der bundesrepublikanischen Rundfunk- und Fernsehmedien im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Mobilisierung im Umbruch 1989/90 bereits andeutet761, äußerte sich beispielsweise deutlich, als Frau Simon in einem Interview mit dem Deutschlandfunk öffentlich auftrat. Wiederum wird nicht eindeutig klar, warum das MfS, welches bereits längst durch die Abteilungen 26 und M die Telefon- und Postkontrolle von Frau Simon angeordnet hatte, das von Westberlin aus initiierte Gespräch überhaupt zuließ bzw. nicht im entscheidenden Moment abbrach. „[...] da rief mich plötzlich der Deutschlandsender an. Mich. IN DER DDR. JA. ((Lachen)) Ich dacht,’ ich fall’ tot um, ja. Ja— sie hätten da von irgendwelchen Berlinern äh da meinen Namen gekriegt und ich würde doch da in Sachen Umwelt [...] Das war für mich echt der Hammer, weil es war immer die Frage, »Was machste jetzt? Ähm wie weit wagste dich vor. Wie weit äh was geht?« Also wir ham ja immer versucht genau immer unter dieser Linie zu bleiben, wo ’s strafrechtlich wird, wo ’s offensichtlich strafrechtlich wird. Aber NIEMAND kannte die Grenze. Niemand WUSSTE, wie WEIT sind die jetzt empfindlich. Ab wann. Und Westmedien das war immer was Gefährliches.“762

Es wird in dieser Aussage ganz deutlich, dass Frau Simon einerseits das besonders hohe Risiko und seine möglichen existenziellen Gefahren bewusst einkalkulierte, andererseits den Einsatz eines hohen persönlichen Risikos unter die übergeordnete gesellschaftliche Sache stellte und sich insofern der Wirksamkeit staatlich repressiver Einschüchterung aus einem sehr hohen Überzeugungsgrad entzog, indem sie ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortlichkeit über diese Ängste stellte. Der Effekt einer solchen medienwirksamen, aber sehr riskanten Umweltarbeit war jedoch von einer solch großen DDR-internen Durchschlagskraft begleitet, wie sie Frau Simon selbst nie einzuschätzen gewagt hätte. In ihrer langfristigen Wirkung auf das Selbstverständnis der betroffenen Menschen, welche die katastrophale Umweltsituation in der Region zumindest argwöhnten, aber aufgrund der staatlichen Desinformationspolitik und Einschüchterung nicht wagten, öffentlich nach Ursachen und Folgen zu fragen, wurde sie erst später wirklich greifbar. Anhand dieses einzigen Beispiels wird bereits nachvollziehbar, wie Zivilcourage und vielleicht auch ein Stück weit auch politische Naivität die Dynamik des Aufbruchs von 1989 stellenweise in Gang brachten und dass der Mut, das öffentlich verordnete Schweigen zu brechen, in der Bevölkerung das vorhandene Bedürfnis nach unzensierten Informationsmöglichkeiten und öffentlicher Kommunikation aufbrach und die bisher kontrollierte, durch 761

Vgl. zur Bedeutung der Westmedien ebenso die Ausführungen im Folgenden unter: Kollektive Gegenstrategien zur Abwehr gezielter Zersetzungsmechanismen. 762 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 29. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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staatliche Abschirmung und Verharmlosung verdeckte gesellschaftliche Realität auszusprechen wagte. „Früh um sechs, Interview, am Telefon. Ja, mmh. ((lacht)) Und ich hatte wieder gehofft, sie kommt nich’ durch. [...] Und dann meldete ich mich und ich war SOFORT off Sendung. Und dann hat die mich gefragt, mich vorgestellt, da Krankenschwester mit Namen und alles, aus [Ortsname] und was ich denn da so mache. Und da ham wir da bestimmt fünf Minuten Interview [...] Und dann hab’ ich gewartet, was passiert. ((lacht)) [...] Ich bin Jahre später sogar noch, aber ab dem Tag STÄNDIG von wildfremden Leuten angesprochen worden, ob ich diese Krankenschwester gewesen bin, die ... Und die meisten Leute ... Die nächste Frage war, »Was is’ ’n Ihnen passiert?« »Gar nichts, ihr seht doch, ich loof doch draußen rum. ’s is’ nix passiert.« [...] DOCH was Wichtiges war passiert, die Leute sprachen mich an und merkten, da hat jemand ’n Mund aufgemacht IM WEST -Radio, hat was gesagt, was sie VERSTANDEN haben, ich hab’ ja von mir erzählt und von meinen Befindlichkeiten als Mutter und Krankenschwester, die einfach hier in der Region lebt, und da fühlten se sich wohl verstanden. Und ich LEBE noch. [...] solche Sachen ham dieser ganzen Bewegung ooch ’n Schub gegeben, weil, wie gesagt, dann ham die gemerkt, das sind nich’ irgendwelche Spinner, irgendwelche durchgeknallten Leute, sondern das is’ ’ne Mutter mit zwei Kindern, die sich um so was kümmert. Und die hat ja RECHT. Die sagten, »Meine Kinder kriegen hier ooch keene Luft, wenn hier Smog is’. Meine Kinder ham ooch Pseudokrupp. JA—, das was die sagt, stimmt.«“763

Dass die Anonymität solcher Quellen von westlichen Journalisten dabei oftmals schwer verletzt wurde und die kontinuierliche Arbeit der Gruppen gefährdete bzw. möglicherweise schwere Repressionen durch das MfS gegen diese provozierte, wird von Frau Simon wiederholt angemerkt.764 Das MfS jedoch schien kurzfristig nicht zu reagieren, es befürchtete eine Lawine des öffentlichen Protests in der westlichen Presse loszutreten. Diese außenpolitische Situation, die das MfS in eine „operative“ Zwangslage brachte, wusste Frau Simon in der damaligen Situation lediglich intuitiv ausnutzen, in den Äußerungen von Frau Manzel hingegen ist die Kalkulation dieser für das politische Handeln bereits eindeutig angesprochen worden. Sie spricht für die letzte Phase der DDR von einer regelrechten „Narrenfreiheit“ gegenüber staatlich-repressiven Eingriffen, erlangt durch den Schutz des öffentlichen westlichen Interesses und deren populärer Fürsprecher.765 Verhinderung öffentlicher Aktionen und „Zuführung“: Vor allem in der Disziplinierung von politisch alternativen Gruppen fallen zunehmend MfS-Maßnahmen ins Auge, die das Agieren des MfS öffentlich erkenn- und greifbar machen. Während die Kombination der IM-Arbeit mit Post- bzw. Telefonkontrolle, 763 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 30. 764 Diese Aussage steht im Gegensatz zu den Ausführungen von Fricke, der als langjähriger Leiter der „Ost-West-Redaktion“ des DLF beteuert, dass bei der „Berichterstattung und Kommentierung zur DDR-Opposition [...] die Beachtung journalistischer Sorgfaltspflicht besonders ausgeprägt“ war. Möglicherweise trugen aber die Umstände am Ende der 80er Jahre dazu bei, dass das Risiko der Gefährdung geringer eingeschätzt wurde, weil viele Oppositionelle nun ganz offensiv den Kontakt zum DLF suchten. Vgl. Fricke, Deutschlandfunk, Zitat S. 191. 765 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 18 f. Vgl. erneut Kap. 6.2.2.2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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konspirativen Hausdurchsuchungen und gezielten Observationen in ihrer „zersetzenden“ Intention nur indirekt für die betroffenen Gruppen wahrnehmbar wurden, äußerte sich die Strategie gegenüber denjenigen, die wie die „Frauen für den Frieden“ oder später die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ wagten im öffentlichen Raum Formen des Protests zu proben, auf offensivere Art und Weise. Deutlich wird dieses Verfahren innerhalb einer Aktion, zu welcher die Berliner Friedensfrauen im Gefolge des neuen Wehrdienstgesetzes aufriefen und die grenzüberschreitenden Charakter hatte, indem sie sich in die bundesrepublikanische Aktionswoche der Friedensbewegung am 17. Oktober 1983 zum Frauenaktionstag eingliederte. Einem internen Aufruf folgend, wollte man sich kollektiv schwarz gekleidet im Hauptpostamt am Berliner Alexanderplatz treffen, um dort die Verweigerung einer möglichen Einberufung zur NVA zu demonstrieren. Dies erfolgte per Einschreiben an die zuständigen Wehrkreisdienstkommandos. Bereits zuvor, am 12. Oktober, fand im Atelier von Bärbel Bohley die vorbereitende Zusammenkunft statt, bei der alle teilnehmenden Personen, ebenso Frau Manzel, von der BV Berlin durch Abt. VIII observiert und von Abt. XX /2 registriert wurden.766 „Inoffiziell“ wurde hierin bekannt gemacht, dass unmittelbar eine „öffentlichkeitswirksame Provokation“ bevorstünde. Am Aktionstag ist das MfS bereits rechtzeitig vor Ort, um die Demonstration später mit Hilfe zahlreicher Sicherheitskräfte gewaltsam aufzulösen. Die Teilnehmerinnen, die einen mit Trauerflor umrandeten Einschreibebrief aufgeben oder sich in Trauerkleidung im Bereich des Alexanderplatzes aufhalten, werden personifiziert und fotografisch erfasst, die Briefe über eine Schlüsselposition von der BV Berlin, Abt. XX, eingezogen; auch das von Frau Manzel verfasste Schreiben, dass sich später in ihrer MfS-Akte wiederfindet.767 Am Morgen des 22. Oktober wird Frau Manzel schließlich durch die Abt. VIII zugeführt und mehrere Stunden zur Aktion am 17. Oktober befragt, hierin soll sie auch über geplante Aktionen und damit in Verbindung stehende Personen Auskunft geben, was sie beharrlich verweigert.768 Mit dem Vermerk „Schriftliche Belehrung u. Entlassung um 11.45 Uhr“ wird die „Aussprache“ beendet. Nach dem 4. November aber findet man Frau Manzel mit allen erkennungsdienstlichen Detailinformationen (Fotos, Personenbeschreibung etc.) in einer Liste 766 Vgl. MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Zusammenkunft operativ bekannter Personen – Mitglieder der Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“ (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 3, Bl. 132–133); nachfolg. Zitate ebd. 767 Zum Inhalt: „Betr.: Erklärung zur Wehrdienstverweigerung. Mir wurde bekannt, dass in verschiedenen Städten der DDR Frauen für den Wehrdienst gemustert wurden und demnächst Wehrdienstausweise erhalten werden. Hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich mich nicht zum Wehrdienst mustern lasse, keinen Wehrdienstausweis in Empfang nehme, keinen Wehrdienst leisten werde und auch Wehrersatzdienst [...] ablehne.“ MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6023/82, Band 4, Bl. 113). 768 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Befragungsprotokoll vom 22.10.1983 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6023/82, Band 4, Bl. 145–146). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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der HA II (Spionageabwehr) von „Personen, die im Zusammenhang mit so genannten ‚gewaltfreien Aktionen‘ operativ in Erscheinung getreten sind“, unter der Legende „Politischer Untergrund mit kirchlicher Bindung“ wieder.769 Erfolgreich entzieht sich Frau Manzel in dieser Zuführung den die Gruppe kompromittierenden Fragen. Als Richtlinie für das richtige Verhalten in einer solchen hatten die Berliner Friedensfrauen unter Anleitung eines Psychologen ein Verhörtraining absolviert.770 In weiterführenden gemeinsamen Seminaren lotete man die strafrechtlichen Relevanzen aus und erprobte in szenischen Rollenspielen das entsprechende Agieren für den Notfall. Jederzeit mussten die Mitglieder der Gruppe schließlich mit einer „Zuführung“ bzw. nachfolgenden Inhaftierung durch das MfS rechnen. „Wie benehme ich mich in einer Vernehmung? Da gab ’s so Lehrgänge, wo man das lernen konnte, die im Übrigen äußerst hilfreich waren. [...] Wie gesagt, ener hat Vernehmer gemacht, der andere war der Vernommene und alle anderen saßen drum rum und ham zugehört. Und dann wurde das ausprobiert und dann wurden die Fehler ausgewertet und dann noch mal. Also wir ham das wirklich trainiert. [...] Also was im Strafgesetzbuch steht und in der Strafprozessordnung und was man darf und was man nicht darf. Also, wir wussten da schon ziemlich genau Bescheid, so dass, wenn dann jemand sagte, äh, »Dafür kann man aber sonst wie lange ...«, also wenn man dann weiß, dass es nicht stimmt, dann juckt es einen ooch nicht.“771

Der Ehemann von Frau Manzel, der zu den Gründungsmitgliedern der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ gehörte und dort die Arbeitsgruppe „Menschenrechte und Justiz“ leitete, ging ihren Angaben nach sogar so weit, „Zuführungen“ durch das MfS zu provozieren, um das entsprechende ‚Schulungsmaterial‘ für die gemeinsamen Zusammenkünfte zu erproben, auszutesten und so neue Schwerpunkte für die interne Rechtsberatung hinzuzugewinnen.772 Diese Erfahrungen wurden nicht nur in konspirativen Schulungen weitervermittelt, man nutzte die DDR-weiten Kommunikationsnetze über die selbstveröffentlichten Zeitschriften wie den „Grenzfall“ ebenfalls aus, um über die möglichen Maßnahmen bei geplanten Aktivitäten aufzuklären sowie über strafrechtliche Gegebenheiten und Vernehmungstaktiken bei erzwungenen Zusammentreffen mit dem MfS zu informieren.773 Insofern konnte die bei Zuführungen und Vernehmungen praktizierte Einschüchterungstaktik, die sich beispielsweise auf die Androhung eines rechtlich völlig ungerechtfertigten Straf769 Politischer Untergrund mit kirchlicher Bindung (BStU, ZA Berlin, HA II 20390, Bl. 1– 2 und Bl. 5.) 770 Neubert, Geschichte der Opposition, S. 512. 771 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 16 f. 772 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 30. 773 Auf diese institutionalisierten Formen der öffentlichkeitswirksamen Gegenwehr wurde das MfS durch integrierte IM aufmerksam: „Durch eine zuverlässige inoffizielle Quelle wurde bekannt, dass [Manzel] eine Zusammenstellung von Auszügen aus der StPO und dem VP-Gesetz erarbeitet hat, die als Schulungsmaterial im „Grenzfall“ veröffentlicht werden soll.“ MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 44). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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maßes stützte, in immer geringerem Maße zur Disziplinierung beitragen. Im Hinblick auf das zukünftige gezielte operative Vorgehen gegen Herrn Manzel konnte bald auch das MfS – aufgrund ausführlicher Berichte eingeschleuster IM – mit wachsendem Interesse die „Trainingsprogramme“ im „Justizzirkel“ um das Ehepaar Manzel verfolgen: „Insgesamt kann eingeschätzt werden, dass das Training die Gesamtzielstellung verfolgte, sich auf Konfrontationen mit Sicherheitsorganen gezielt vorzubereiten, um die Möglichkeiten der Sicherheitsorgane gegen sich soweit als möglich zu reduzieren.“774 Auf die vom MfS beabsichtigte Signalwirkung, die bei der Abschiebung von einzelnen Gruppenmitgliedern in die Bundesrepublik erreicht werden sollte bzw. wurde, ist schon zuvor, im Kontext der allgemeinen Handlungsmotive und der internen Differenzen mit der „Ausreisebewegung“, angedeutet worden. Auch im Falle der Berliner „Frauen für den Frieden“ bzw. im direkten familiären Umfeld der Manzels ist diese in den Gruppen in vielen Fällen ‚effektiv‘ gewordene „Ventiltaktik“775 des MfS wiederholt zum Einsatz gekommen. Die DDR-Regierung erkannte in dieser Methode eine Möglichkeit, sich vermehrt einerseits des kritischen Potenzials innerhalb des Landes zu entledigen, andererseits die in der DDR verbleibenden Gruppenstrukturen personell und ideell zu schwächen. Die meist durch ein Ermittlungsverfahren eingeleiteten Abschiebeverfahren bzw. das Angebot die DDR per „ständiger Ausreise“ zu verlassen, wurden aber von den aktiven Gruppenmitgliedern – entsprechend der vorangestellten Handlungsziele und Überzeugungen – zunächst abgelehnt, der psychische Druck beim MfS veränderte die Situation jedoch oftmals grundlegend. Wie bereits im Vorausgehenden belegt, erwies sich diese Taktik für das MfS mittelfristig als äußerst wirksam776. In der Aktenlage Manzel bestätigt sich diese Annahme jedoch nur in kurzfristiger Form. Zwar wird auch hier innerhalb der Reaktionen auf die Ausweisung von Stephan Krawczyk, Freya Klier, Wolfgang Templin und Bärbel Bohley im Januar 1988 durch IMB „Paule“ bestätigt, dass unter den Mitgliedern der IFM „eine gewisse Verunsicherung und Resignation zu verzeichnen“ sei, sich diese Situation jedoch schnell entspannte. Stattdessen wird im folgenden Teil der Operativinformation festgehalten: „[E]s sind jetzt neue Aktivitäten zur Sammlung aller Kräfte festzustellen. Die Mitglieder des Hauskreises von [Herrn Manzel] haben sich der Initiative angeschlossen.“777 Sowohl den eben zitierten als auch den folgenden Ausführungen des IMB ist zu entnehmen, dass die bewusste Diskreditierung und Zersplitterung der Gruppe durch die Ausweisung der betreffenden Personen langfristig eher eine gegen774

MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 171). 775 Vgl. die Beispiele populär gewordener Präzedenzfälle (u. a. Wolf Biermann) bei Choi, Dissidenz, S. 169 f. 776 Vgl. erneut den Bericht der BV Berlin/Abt. XX am 16. 2.1988 zitiert in Wolle, Flucht als Widerstand, S. 322. 777 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Operativinformation zu Führungsmitgliedern der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ vom 16. 2.1988; Abt. XX/2 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 93). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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teilige, nämlich stark mobilisierende und solidarische Komponente enthielt, welche die Arbeit der IFM aufs Neue motivierte. Der Gefahr einer allmählichen Auflösung einzelner kleiner Gruppen versuchte Herr Manzel auch insofern entgegenzuwirken, indem er die Bildung einer „Dachorganisation“ anregte. Sie sollte als „eine Art unabhängige Friedensgesellschaft der DDR“778 auf eine gemeinsame Aktionsbasis, Strukturen und Netzwerke zurückgreifen und so repressive Eingriffe solcher Art durch eine kollektiv-übergeordnete garantierte Handlungsfähigkeit abfedern und ausgleichen. Bereits fünf Jahre zuvor sind auch im Falle des Ehepaars Manzel Situationen belegt, die auf eine mögliche Ausweisung der Familie hindeuten und die eine weitere Etablierung der oppositionellen Arbeit des Ehepaars Manzel in der Frühphase ihres politisch alternativen Engagements bereits verhindern sollten779. Mehrmalige „Zuführungen“ zur „Klärung eines Sachverhalts“ vor allem des Ehemanns von Frau Manzel hatten dazu geführt, dass die Familie gezielte Absprachen für eine zu befürchtende längerfristige Inhaftierung traf. Für den Fall einer rechtskräftigen Verurteilung hatte man eine zeitliche Grenze festgelegt, ab welcher man das staatliche Angebot einer Ausreise annehmen würde: „Also wir durften bloß noch in der DDR bleiben, natürlich mit dem immer frei bleibenden Angebot, sofort in ’n Westen ausreisen zu können. Also das ham wir gehabt. Da heißt, wir hätten eigentlich nur anzurufen zu brauchen und dann hätten wir mit dem Umzugswagen in den Westen gekonnt. Also das konnten wir immer. [...] Irgendene bestimmte Zeit der Inhaftierung, wenn die überschritten is’, dann würde man en Ausreiseantrag stellen. [...] Wenn das und das sein sollte, aber ansonsten war das keen Thema.“780 Den schweren inneren Zwiespalt, den diese „zersetzende“ Methode infolge der Verhaftung Herrn Manzels im September 1983 auszulösen vermochte, spiegelt das vom MfS erstellte Protokoll eines Telefongesprächs zwischen Frau Manzel und einer bereits 1981 unter starkem politischen Druck nach Westberlin ausgereisten politisch aktiven Freundin wider.781 Die handschriftlichen Notizen 778 MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 93). 779 „Die Zielstellung der Bearbeitung besteht darin, den weiteren Ausbau der Position des [Manzel] als Oppositioneller zu verhindern, seine Wirksamkeit als Oppositioneller zu zerschlagen sowie Inspiration und Organisation anderer Personen zu oppositionellen Handlungen zu verhindern. Entsprechend dieser Zielstellung macht es sich notwendig, den Nachweis der Begehung einer Straftat durch den [Manzel] anzutreten, als auch eine Diskreditierung seiner Person in seinem Freundes- und Bekanntenkreis zu erreichen.“ MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Operativplan vom 19.11.1982 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 25). 780 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 28. 781 „[Freundin]: Wenn es so etwas wird, mit Strafantrag von 5–8 Jahren und solche Scherze, dann würde ich mir die Sache mit der Ausreise noch einmal überlegen. [Frau Manzel]: Natürlich, wir müssen aber erst einmal abwarten. Dem Rechtsanwalt Gysi habe ich erst einmal gesagt, dass wir hier bleiben. Sonst hätte man ja gleich zu dem Rechtsanwalt Dr. Vogel gehen können. [Freundin]: Wenn etwas mit Ausreise ist, dann könnten wir versuchen, etwas zu machen. [...] [Frau Manzel]: Da brauchst Du nichts zu machen, das geht dann von ganz allein, wenn wir es wollen. Wenn [mein Mann] sagt, wir gehen, dann geht es binnen weniger Wochen. Ich glaub nicht, dass ich packe hier © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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des zuständigen hauptamtlichen Mitarbeiters auf der Abschrift des Gesprächs deuten zudem an, welche Passagen der Äußerungen von Frau Manzel (im Original zahlreiche Unterstreichungen bei Nennung unterstützender Personen) zu forcierten IM-Maßnahmen gegen sie führten: „IM-Einsatz an der [Manzel] organisieren um ‚Solidaritätsbekundungen‘ in Erfahrung zu bringen“782. Andererseits deutet sich schon hier aus dem Inhalt des Gesprächs der beiden Frauen selbst und den Randnotizen des zuständigen MfS-Mitarbeiters die wichtige Funktion der bereits in den Westen ausgereisten bzw. abgeschobenen aktiven Personen an, die ehemalige Mitglieder der politisch aktiven Gruppen waren. Sie konnten von nun an aus dem Westen nicht nur gemeinsame Aktivitäten organisieren, technische Hilfsmittel und Material für die Herstellung von Flugblättern und Zeitschriften beschaffen, in der DDR unzugängliche Sachliteratur einführen und eine stärkere Medienpräsenz, was die Arbeit und Situation der Gruppen in der DDR anbetraf, in der BRD zu Wege bringen, sondern sie wussten zugleich genau um die Hindernisse des realsozialistischen Alltags wie um die für engagierte oppositionelle Arbeit permanente Gefahr repressiver Maßnahmen. Insofern konnten sie einschätzen, in welchen Momenten aktive grenzüberschreitende Hilfe notwendig wurde, auch unter Einschaltung politisch bedeutsamer Persönlichkeiten. Bei der vorhin bereits thematisierten Inhaftierung von Herrn Manzel am 1. September 1983, zu welcher es wegen seiner Teilnahme an einer Menschenkette zum Weltfriedenstag gekommen war und die ein Ermittlungsverfahren gemäß § 214 StGB (Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit) provozierte, war es vor allem das Verdienst der engen persönlichen Kontakte in die Bundesrepublik, dass es zur Intervention des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Westberlin, Richard von Weizsäcker, bei Honecker kam, wodurch die Freilassung Herrn Manzels aus der Untersuchungshaft erwirkt werden konnte.783 Dieses bedeutsame Kommunikationsnetz hatte das MfS als beeinflussenden ‚Negativfaktor‘ auf die Wirksamkeit seiner „Ventiltaktik“ im Falle Manzel nur geringe Bedeutung beigemessen bzw. vernachlässigt. Infolge dieser Erkenntnis aber wurde im aktuellen Operativplan gezielt auf eine Bearbeitung zum Nachweis der Straftaten §§ 106 bzw. 219 StGB (Staatsfeindliche Hetze bzw. Ungesetzliche Verbindungsaufnahme) hingearbeitet, insbesondere sollte also durch intensivere Nachforschungen der eingesetzten IM und gesteigerte Observation der Abt. VIII ein „Nachweis der Inspiration aus dem Operationsgebiet“ unter Feststellung der „postalischen und persönlichen Kontakte in Bezug auf Verbindungen zu politischen Organisatiowegzukommen. Ich war darauf vorbereitet, dass es eines Tages [...] knallen wird.“ MfSAkte Herr und Frau Manzel (BStU, ZA Berlin, XX 1343/83, Band 1, Bl. 62). 782 MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ZA Berlin, XX 1343/83, Band 1, Bl. 61; handschriftl. Randnotiz). 783 „Während der Haftzeit [M.s] setzte sich eine Reihe politischer Kräfte für die Freilassung [M.s] ein (u. a. Abgeordnetenhaus, WB-Fraktion der Grünen, SPD-Westberlins sowie von Weizäcker [sic] CDU/WB).“ MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 39); V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 32; Vgl. zum Hergang der Verhaftung, Neubert, Geschichte der Opposition, S. 492. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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nen der westeurop. Friedensbewegung“784 erfolgen und hiervon ausgehend eine strafrechtliche Relevanz entwickelt werden. Das MfS operierte aber erst einmal ganz traditionell, um die Kontakte ins „Operationsgebiet“ zu stören, das heißt es schaltete sich nicht nur verhindernd in die postalischen und telefonischen Korrespondenzen ein785, sondern verhängte gegen die bundesdeutschen Vertrauenspersonen außerdem gezielte Einreisesperren. Das Ehepaar Manzel pflegte bereits seit Mitte der achtziger Jahre einen engen Austausch mit den Bundestagsabgeordneten der „Grünen“, Petra Kelly, Gert Bastian, Otto Schily und Antje Vollmer. In den Zusammenkünften mit weiteren Gruppenmitgliedern der „Frauen für den Frieden“ und der IFM wurden zu Themen der globalen Atomwaffenbedrohung und Atomenergie, aber beispielsweise ebenso der Bildung einer „DDR-Sektion der Grünen“ konkrete Arbeitskonzepte entwickelt, gemeinsame Aktivitäten geplant, Schriftmaterialien und Fachliteratur ausgetauscht. Durch Observationen und detaillierte IM-Berichte wurden die „feindlich-negativen“ Möglichkeiten dieser engen Zusammenarbeit, vor allem mit Kelly und Bastian, genauestens analysiert und ausgewertet, am Ende dieser Analyse stand der Vorschlag „gegen beide Personen erneut Einreisesperren zu verfügen.“786 Ein Jahr später wurden diese zwar durch zentrale Weisung aufgehoben, aber parallel durch „operative Beobachtungs- und Kontrollmaßnahmen“787 ersetzt. Dies hatte schließlich zur Folge, dass die in der DDR mit ihnen kooperierenden Personen wie das Ehepaar Manzel nun gleichzeitig einer intensiveren, quasi doppelt motivierten Überwachung und Bearbeitung unterstanden.788 „Maßnahmen zur Diskreditierung der bearbeiteten Personen“789 : Das MfS hatte die westliche Fürsprache und den unbedingten Willen des Ehepaar Manzel, ihre oppositionelle Arbeit kompromisslos in der DDR fortzusetzen, unterschätzt. So gelang des dem MfS nicht, durch Ausweisung sich seiner oppositionellen Kräfte zu entledigen. Ab nun setzte man vor allem auf die Kombination 784 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Operativplan zum OV vom 25.11.1983 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 44). 785 Vgl. bspw. die Verstärkung gegenseitigen Misstrauens durch das MfS in der Beziehung zwischen Bärbel Bohley (FfdF / IFM) und Antje Vollmer (Grüne), deren Briefe zur Klarstellung eines internen Streits an die Gruppe IFM abgefangen wurden, geschildert bei Knabe, Westparteien, S. 1171. 786 Vgl. MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Information über ein Treffen von Petra Kelly und Gert Bastian am 4.12.1984 mit feindlich-negativen Kräften aus der DDR (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 67–72, Zitat Bl. 72). 787 Vgl. Knabe, Westparteien, S. 1157. 788 Die Aufhebung der Einreisesperren beruhte zudem auf der grundsätzlichen Absicht des MfS, Kelly und Bastian für staatseigene Interessen gegen die Bundesrepublik zu instrumentalisieren. Kelly gehörte bspw. zu den Erstunterzeichnern des Krefelder Appells für die Forcierung der Anti-Raketen-Proteste in der BRD. Durch die zugelassene Unterstützung politisch alternativer Gruppen in der DDR wurde sie zugleich unmerklich von eingeschleusten IM beeinflusst und in ihrer eigenen Fraktion isoliert. Vgl. Knabe, Das MfS, S. 388–390. 789 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Operativplan vom 7. 2.1985 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 86). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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verschiedener Zersetzungsmethoden, die vorrangig durch Schaffung eines latenten Misstrauens bei den Mitgliedern der IFM und der „Frauen für den Frieden“ das Ziel der Diskreditierung und Isolierung der Manzels verfolgten und langfristig auf die Schwächung ihrer vorrangigen Stellung und zugleich Auflösung der Gruppenstrukturen hofften. Das MfS verfügte zu diesem Zwecke Maßnahmen, die in ihrer Komplexität, das heißt auch unter vermehrtem Einsatz operativ-technischer Mittel, zunahmen, einmal weil die erhofften Zielstellungen nur in geringem Maße erreicht werden konnten, zum anderen weil sich im Gegensatz dazu die öffentlichkeitswirksame und systemgefährdende Arbeit des Ehepaars Manzel eher forciert statt verringert hatte. Folgende individuell auf Herrn Manzel ausgerichtete Zielstellungen und einzusetzende Mittel790 sind dabei deutlich geworden: Untergraben von gruppeninternen Überzeugungen, Auslösung von politischen Differenzen und Verdächtigungen, die auf eine staatliche Zusammenarbeit schließen, Erzeugung von internen Rivalitäten und Profilierungskämpfen, Korrumpierung durch staatliche Zugeständnisse, Zurückdrängung und Desorganisation von Gruppenaktivitäten und öffentlichen Aktionen durch massiven IM-Einsatz, systematische Unterbindung von Kontakten (vor allem in die BRD) durch Trennung von Verbindungslinien: „Erarbeitung einer Konzeption für einen lancierten offenen Brief des Hauptverdächtigen zu Fragen der Friedenssicherung, in denen er von seinen bisherigen Positionen abweicht und sich staatlichen Positionen nähert und sich zum ‚Sprecher‘ der ‚DDR-Friedensbewegung‘ macht. [...] Dazu ist geplant, durch die Genehmigung privater Ausreisen ins NSA [...] den Hauptverdächtigen in eine Defensivposition zu seinen Bekannten zu bringen.“791 „In der Weiterentwicklung des Kontaktes ist eine regelmäßige Einbeziehung des IMB in die Beratung des engsten Kreises der „politisch Vertrauten“ des Hauptverdächtigen anzustreben, die das rechtzeitige Erkennen von Plänen und Absichten des Hauptverdächtigen ermöglichen, öffentlichkeitswirksame wie auch andere feindliche Aktivitäten zu organisieren.“792 „Briefe mit westlichen Presseerzeugnissen wurden eingezogen.“793

Die Wirksamkeit gruppenspezifischer Zersetzungsmethoden wurde in den jeweiligen, äußerst ausführlichen Sachstandsberichten in einer „Einschätzung der Effektivität der Mittel und Methoden“ von der BV Berlin, Abt. XX/2 kontinuierlich, und wie es den Anschein hat, sehr realistisch analysiert und eingeschätzt. Infolge der Kenntnisnahme durch den Leiter der BV wurden differenziertere und offensivere Ziele formuliert, die zunehmend von der alleinigen Strategie 790 Vgl. eingerückte Zitate unterhalb. 791 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Operativplan vom 7. 2.1985 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 86). 792 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Operativplan vom 10.10.1985 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 102). 793 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Zwischenbericht zum OV vom 30.12.1986 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 133). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gruppenspezifischer Bearbeitung abwichen. Stattdessen setzte man verstärkt auf individuell zugeschnittene Bearbeitungsstrategien, die 1. auf eine gesteigerte Bindung und Kontrolle am Arbeitsplatz abhoben, um systematisch die zeitlichen und physischen Ressourcen für die politische Arbeit einzuschränken und die 2. auf den Einsatz „operativ-psychologischer“ Maßnahmen angelegt waren: „Fortsetzung der Bemühungen zur politischen Neutralisierung des [M.] durch Nutzung von Differenzen zwischen PUT-Personen bzw. Schaffen von Differenzen, Ausschöpfung fachlicher Entwicklungsmöglichkeiten für [M.] an seinem Arbeitsplatz, Erhöhung des psychischen Drucks auf [M.].“794 Formen spezifischer Zersetzungsmethoden gegen Frauengruppen: Im Juni 1985 startete die Hauptabteilung XX/2 des MfS eine Großoffensive gegen bis dato 15 unabhängige Frauengruppen innerhalb der DDR. Im so genannten Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) „Wespen“ sollten die Erkenntnisse aus den einzelnen Verantwortungsbereichen der Diensteinheiten gebündelt und zusammengetragen werden, um dann eine komplexe, aufeinander abgestimmte Strategie der operativen Bearbeitung zu ermöglichen. Zielstellung war es, „die geheimdienstliche Steuerung der Frauengruppen nachzuweisen, Beweise zu erarbeiten, um die Frauen strafrechtlich zu belangen, die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten zurückzudrängen, die Organisationsstrukturen zu zersetzen“795. Der Berliner Initiativgruppe kam hierbei besondere Aufmerksamkeit zu, weil sie als „inspirierend und organisierend hinsichtlich der Bildung neuer Frauengruppen in der DDR“796 erkannt wurde. Das kontinuierliche Engagement der Frauen in dieser Gruppe sowie in anderen Gruppierungen – wie das bei Frau Manzel beispielhaft geworden ist – bedurfte neben Berufstätigkeit und Erziehung der Kinder eines hohen zeitlichen Einsatzes; fast alle Frauen waren berufstätige Mütter. An dieser Dreifachbelastung setzte die zielgerichtete „Zersetzung“ der Friedensfrauen durch das MfS an. Systematisch wurden zuerst das berufliche Umfeld, dann die spezifischfamiliären Umstände mit Hilfe der Partner des POZW bzw. durch vermehrten Einsatz von IM erkundet. Durch Observationen und auch so genannte Abschöpfung von Vertrauenspersonen verschaffte man sich genauen Einblick in die individuellen Lebensgewohnheiten der Frauen und den Alltag der Familien. Gegen Frau Manzel selbst werden insbesondere ab Anfang 1988 Maßnahmen greifbar, die auf einen Nachweis der „Vernachlässigung der Kinder“797 ausgerichtet sind: „Der IM hat die Leiterin der Jugendhilfe von Mitte beauftragt an 794 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Sachstandsbericht vom 5. 5.1988 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 206). 795 Kuckutz, „Frauen für den Frieden“, S. 1325. 796 Vorschlag zum Anlegen des ZOV „Wespen“, HA XX/2 vom 12. 6.1985, zitiert ebd. 797 Man wollte die Verletzung elterlicher Mindestpflichten (§ 43 FGB) beweisen, d. h. hier die Verletzung der Betreuungs- und Aufsichtspflicht, welche im schweren Falle zum Entzug des elterlichen Erziehungsrechts gemäß § 51 FGB führen konnte. Vgl. ausführlicher, insbesondere bezüglich der Feinheiten gesetzlicher Bestimmungen im FGB und StGB Typus I, hier Kapitel 6.1.3.2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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der Schule, in die zwei Kinder von [Manzel] gehen, Ermittlungen zum Verhalten der Kinder und der Eltern zu führen [...]. Sollten bei diesen Ermittlungen keine Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten der Kinder erarbeitet werden, müsste bei Aufrechterhaltung des Gedankens der operativen Kombination, Möglichkeiten einer ‚offiziellen‘ Benachrichtigung der Jugendhilfe geschaffen werden.“798 Zugleich werden in der Folge Auflistungen angefügt, die detailliert zeitliche und örtliche Auskunft über Zusammenkünfte und Aktivitäten der Friedensfrauen, an denen Frau Manzel beteiligt war, geben; ein detaillierter Observationsbericht der Abt. VIII eines nachmittäglichen Einkaufs übertrifft diese Angaben aber durch seine bornierte Akribie noch um ein Vielfaches. Auf eine inoffizielle Information hin versuchte man schließlich eine Kollegin von Frau Manzel als IM im beruflichen Umfeld anzuwerben.799 Dies misslang insofern, als dass sie letztlich ‚lediglich‘ als ahnungslose Informantin eines IM für das MfS fungierte; die Relevanz dieser impliziten Informationen im Hinblick auf die Tatsache, dass dadurch eine Verletzung der Erziehungspflicht nachgewiesen werden sollte, ist dabei nicht zu unterschätzen. „Also es war nur EINE Freundin und die is’ aber nur [...] abgeschöpft worden. Das heißt, die hatte wieder jemanden zugeordnet, also der war IM und hat SIE über uns ausgefragt. Sie wusste das aber alles nich’. Also sie war selber nich’ IM, sondern kannte den bloß. Und hatte natürlich, klar, hat se dann erzählt über die Kinder und Lebensweise und so alles Mögliche. [...] Die war so ’ne Freundin, die war ooch Krankenschwester und kam so zum Schwatzen immer und hat Kinder gehütet und das alles. Aber Politik hat se nie gemacht, so dass also so ’ne Informationen über die nich’ zu erlangen waren, aber man hat ja, da es ja wie gesagt immer darum ging, über die Kinder irgend’nen Fehler zu finden, hat man sie dazu benutzt.“800

Dass das MfS auch über die Kinder politisch aktiver Eltern Druck auszuüben versuchte, war den Frauen bereits durch die zahlreichen Fälle von Inhaftierungen im engsten Umfeld klar geworden, wo Kinder – wie dies auch in Typus I deutlich geworden ist – zumindest vorübergehend in staatliche Erziehungsheime eingewiesen wurden. In diesen Fällen erwies sich das DDR-weite Zusammenwirken der „Frauen für den Frieden“ als hilfreich, man wusste um mögliche Eingriffe des MfS und konnte entsprechend frühzeitig Gegenmaßnahmen, das heißt etwaige Vormundschaften oder Pflegschaften durch Freunde und Verwandte festlegen und die Kinder entsprechend instruieren.801 Diese unweiger798 MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 88). 799 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Teilnahme an Zusammenkünften (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 92); MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Beobachtungsbericht (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 130–131); MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Anwerbung IM (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 95). 800 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 29 f. 801 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 18; „Ich musste damit rechnen, dass ich auch eines Tages weggefangen werde einfach mal. Also meine Kinder WUSSTEN, da gibt ’s einen Briefumschlag, wenn die Mama vom Einkaufen nich’ wiederkommt, nehmt ihr den Briefumschlag und geht damit zu den oder den Leuten. Und da hatt’ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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liche, wenn auch passive Einbindung der Kinder in die konspirative oppositionelle Arbeit, die ja zumeist in den Privatwohnungen der Mitglieder stattfand, schätzte vor allem Frau Manzel schon bald als zu hohes Risiko einerseits für die Kinder, andererseits für die erfolgreiche Fortführung ihrer FriedensfrauenArbeit ein. Der Versuch sich in die Wahrnehmungen der Kinder zu versetzen, veranlasste sie schließlich aus Verantwortung gegenüber Familie und Gruppe „aus der Politik“ auszusteigen: „Als die Kinder klein waren, ging das noch. Aber IRGENDWANN wurden se größer und dann wäre ihnen IRGENDWANN aufgefallen, dass da Lücken sind. Und das wurde zu gefährlich. [...] Und deswegen habe ich gesagt, »Ich zieh’ mich zurück und [mein Ehemann] kann ja in Gottes Namen noch weiter machen, aber ich nich’ mehr«. Weil es, wie gesagt, einfach durch die Torheit der Kinder, die ham dann ooch zu viele, die ham dann angefangen ooch Zusammenhänge zu erkennen. Also erst kommen ja immer irgendwelche Leute und der eene bringt Bonbons mit und der andere bringt NIE Bonbons mit und so kann man se dann unterscheiden und irgendwann ham se dann aber gemerkt, dass immer die gleichen Leute zusammenkommen oder sich welche kennen und sich welche nich’ kennen. Und das wurde dann einfach für die Arbeit dann zu gefährlich.“802

Letztlich kam es aber nicht dazu, weil sich die Ereignisse im Sommer 1989 derartig überschlugen, dass an einen Rückzug ‚ins Unpolitische‘ vorerst nicht zu denken war.803 Die beabsichtigten Maßnahmen zur Verhinderung der Aktivitäten Frau Manzels, die aufgrund ihres hohen Informationsniveaus die Eventualitäten staatssicherheitsdienstlicher Maßnahmen gegen ihre Familie stets in ihr Handeln einbeziehen konnte, erfüllten letztlich nicht einen familien- bzw. strafrechtlichen Tatbestand, der es dem MfS ermöglicht hätte, in die intrafamiliäre Struktur der Manzels einzugreifen. Die latente Angst, die Kinder könnten Opfer solcher Repressionen werden, war letztlich ausschlaggebendes Moment für die Entscheidung von Frau Manzel, sich aus dem politisch-aktiven Feld zurückzuziehen. Insofern hätten Vermittlung von Angst und Einschüchterung sowohl ich also aufgelistet, wer berechtigt ist meine Kinder zu versorgen, falls ich im Knast bin. [...] aber ich musste mit dieser Geschichte da ooch schon so ’n bisschen leben und das war nich’ so ganz einfach. Ich hab’ ooch manchmal nich’ so genau gewusst, wie das auf die Kinder wirkt, was sie da erleben.“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 28. 802 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 13. 803 „Also das heißt, ich bin mit dem festen Vorsatz mich aus der Politik zurückzuziehen auf ’s Land gezogen. Na ja und dann wurde ja das ‘Neue Forum’ gegründet und da musst’ ich ja wieder, weil [...] mein Mann, der hatte als Einziger aus ’m Bezirk [Ortsname] das ‘Neue Forum’ mit begründet. Das heißt also wir waren hier für die ganze Gegend die einzige Kontaktadresse. Und dann können Se sich vielleicht vorstellen, also es ging hier zu wie im Taubenschlag. Es war UNGLAUBLICH, wirklich. Und dann zu der Zeit hab’ ich dann wieder mitgemacht, der wär’ ja gestorben, wenn der das alles alleine gemacht hätte. Dann hab’ ich aber, wirklich ganz konsequent, es nur so lange gemacht, bis ich in jeder Kreisstadt, glaub’ ich, ich glaub’, es waren die Kreisstädte oder jede größere Stadt, jedenfalls so ’ne Art ja Büro oder Kontaktstelle eingerichtet hatte [...].“ V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 4 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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quantitativ als auch organisatorisch zur Veränderung der Gruppenstruktur bei den Friedensfrauen beigetragen und damit das erklärte Ziel des MfS im OV „Wespen“ erfüllt. Diese Entwicklung dokumentierte IMB „Paule“ zuverlässig für das MfS: „Im Zusammenhang mit der Religierung [sic] der Schüler von der Ossietzky-EOS Pankow, gab es eine Diskussion zur Frage: ‚Wie weit darf man sich exponieren, um die eigenen Kinder nicht zu gefährden?‘ [Frau Manzel] vertrat die Auffassung, dass ihre Kinder [...] nicht zur EOS kommen werden. [Herr Manzel] brachte zum Ausdruck: ‚Durch die eigenen Kinder ist man erpressbar.‘ Aus den Darlegungen beider war zu entnehmen, dass sie sich sehr große Sorgen um die Entwicklung ihrer Kinder machen.“804 „Die Erhöhung der Intensität der PUT seiner Ehefrau [...] setzte sich im Berichtszeitraum nicht fort. Sie beteiligt sich zwar an den Zusammenkünften [...], bringt jedoch keine eigenen inhaltlich relevanten Beiträge ein [...]. Nach wie vor unterstützt sie jedoch die PUT ihres Ehemannes voll inhaltlich.“805

Kollektive Gegenstrategien zur Abwehr gezielter Zersetzungsmechanismen: Einsatz (gruppen-) spezifisch entwickelter Handlungsmittel und Mobilisierung externer Ressourcen: Welche Strategien, insbesondere auch in geschlechtsspezifischer Hinsicht, haben zur erfolgreichen Abwehr von MfS-Maßnahmen geführt oder sind nachvollziehbar geworden, welche scheiterten? Welches sind die erkennbaren Defizite auf Seiten des MfS, welche die „Effektivität der Mittel und Methoden“806 gegenüber politisch alternativen Gruppen minimierten? Bereits im Zuge der Darstellung gruppenspezifischer MfS-Zersetzungsmechanismen wurde exemplarisch auf Strategien gelungener Abwehr seitens der Gruppen hingewiesen, nun soll eine eher vom konkreten Konfrontationsbeispiel losgelöste zusammenfassende Darstellung und Einordnung verschiedener Handlungsstrategien erfolgen. Ins Zentrum dieser Betrachtungen gelangen außerdem die jeweils eingesetzten Handlungsmittel, welche ein (Re-)Agieren auf die Staatssicherheit ermöglichten und parallel die Wirkungsweise der politischen Arbeit im begrenzten Handlungsrahmen garantierten sollten. Sie hatten demnach zugleich zwei Funktionen zu erfüllen, eine offensive sowie eine defensive: 1. mussten sie Zugang zu einer breiteren Öffentlichkeit schaffen, welche mit den Ideen und Themen gesamtgesellschaftlicher Reform konfrontiert wurde und 2. benötigte man deren „Schutzfunktion“ im Hinblick auf Zersetzungsmechanismen des MfS.

804 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Operativinformation vom 7.11.1988 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 8, Bl. 118). 805 MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Sachstandsbericht vom 19. 6.1989 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 249). 806 Wiederkehrende Formulierung zur Auswertung der erfolgten Maßnahmen in den jeweiligen, durchschnittlich alle sechs Monate erstellten „Sachstandsberichten“ zum Operativen Vorgang des Ehepaars Manzel, vgl. bspw. MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 180, Bl. 204, Bl. 230). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Inanspruchnahme geschlechtsspezifischer Aktionsräume zur Ausbildung einer „weiblichen“ Informations-, Kommunikations- und Solidaritätskultur: Die Wohnung der Familie Manzel wurde zum Mittelpunkt sowohl der Aktivitäten der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ als auch der Zusammenkünfte der Berliner Friedensfrauen.807 Politisch alternative Arbeit konnte sich nicht, trat sie aus dem kirchlichen Raum heraus, im „öffentlichen“ Raum aufgrund der staatlich begrenzten Handlungsmöglichkeiten institutionalisieren, sondern musste sich in den privaten Bereich ihrer Akteure zurückziehen. „Damit fand die politische Arbeit in einem Raum statt, der [...] bereits einen traditionell weiblich geprägten Bereich darstellt.“808 Aufgrund des Ausweichens ins Private fehlte eine konkrete Trennung von politischer Arbeit und Privatleben; beides war stets miteinander verwoben und führte letztlich zu einer (fast selbstverständlichen) Inkorporierung des Politischen in die private Lebenswelt: „Weil ich ja auch durch die Kinder sehr häuslich veranlagt war, das heißt ja, ich musste ja zwangsläufig auch oft zu Hause sein, so dass viele wussten, man kann einfach kommen, da is’ immer jemand da. Und dann ham sich ooch ganz viele bei mir immer verabredet. Wir hatten ene große Wohnung und denn ham die sich bei mir getroffen [...].“809 In ihrer Rolle als fürsorgliche Mütter, die aus Vorsicht vor staatssicherheitsdienstlichen Zugriffen auch auf ihre Kinder sich im häuslichen Bereich organisierten, bildeten Frau Manzel ebenso wie Frau Simon einen zentralen Knotenpunkt, einen quasi informell-institutionalisierten Raum aus, der das Netzwerk der einzelnen Gruppen miteinander zu verknüpfen vermochte. Dabei war es auch die Aufgabe von Frau Manzel die Verteilung der illegal gedruckten Untergrundliteratur und Informationsmaterialien zu koordinieren. Ihr privater Bereich wurde zugleich zu einer wichtigen Anlaufstelle für die ‚produzierenden Hauptakteure‘ wie für die ‚politisch alternativen Multiplikatoren‘ in der gesamten DDR. „Und mein Abteil war dann zum Beispiel diese ganzen Zeitungen, die gedruckt wurden, dann weiter zu verteilen in die ganze DDR. [...] Also ich hab’ von, also eigentlich alle Zeitungen, die überhaupt gedruckt wurden, also von diesen, wo immer drauf stand »Für innerkirchlichen Dienstgebrauch« oder sie waren dann eben überhaupt illegal gedruckt. Und die hatte ich denn zu Hause liegen und hab’ die dann immer weiter verteilt. Also da kamen dann die Menschen und ham sich das dann bei mir abgeholt. Also es war ’n ziemlich aufwendiges System, aber man wollte es ja nun ooch nich’ mit der Post schicken. Aber letztlich hab’ ich doch dann immer richtig viele Exemplare verteilt.“810

807 Vgl. MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Justizkreis in der Wohnung des [M.] (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 170); MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Eröffnung einer illegalen Ausstellung in der Wohnung des Hauptverdächtigen (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 174). 808 Miethe, Politikverständnis, S. 92. 809 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 9. 810 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 9. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Dieses aus dem staatlichen Informationsdefizit entwickelte alternative Gegenmodell bildete eine ganz besondere Form von Solidaritäts- und Kommunikationskultur aus, die auf das gegenseitige Vertrauen der politischen Freundschaften stark angewiesen war und eine klare Absage an die vom MfS provozierte ‚Pestilenz‘ gesellschaftlichen Misstrauens darstellte, wenngleich sie von eingeschleusten IM zuweilen durchbrochen werden sollte. Aber auch in dieser Hinsicht entwickelte man frühzeitig entsprechende, die Arbeit schützende Gegenstrategien811 : „Und äh da war so ’ne eigene Kultur in diesen Gruppen. [...] ich hab’ meine Tür zum Beispiel NIE zugeschlossen. Alle Leute wussten, dass meine Wohnungstür IMMER auf is’. Das konnte also und es passierte sehr oft, ich kam in meine Wohnung rein, von der Arbeit, weil das war ja gleich mit, dann saßen irgendwelche Leute in meiner Wohnung drin und tranken Kaffee und sagten, »Wir ham grad’ Kaffee gekocht. Möchste auch ’ne Tasse?« [...] Und da sagt’ ich, »Is’ gut und wer bist du?«. Und dann wurde gesagt, »Der und der hat mir gesagt, dass du da und da bist und ich würde jetzt mal gerne mit dir das und das bereden.«“812 Für die politisch alternativen Frauengruppen in der DDR wird dieses Phänomen der Vernetzungsstrukturen gemeinhin als „Flüsterpropaganda“ bezeichnet, Kenawi und Miethe813 haben in ihren Studien auf diese ‚organisierten Küchentischmilieus‘ ebenfalls hingewiesen. Der Begriff „Flüsterpropaganda“ wurde aber bereits zeitgenössisch von den Akteurinnen selbst zur Umschreibung ihrer politischen Arbeitsformen eingeführt, wie das Vernehmungsprotokoll von Frau Manzel im Zuge der bereits zitierten Friedensfrauen-Aktion im Hauptpostamt Berlin Mitte, November 1983, bestätigt hat.814 Dieses Moment spezifisch weiblichen politischen Agierens beinhaltete zudem ein zweites typisches Element, was insbesondere in den Ausführungen von Frau Simon hervorgetreten ist und sich für das MfS ebenso zum unkalkulierbaren Faktor entwickelte: Es war die äußerst pragmatische, das heißt an den konkreten Bedürfnissen und Problemen der Bevölkerung orientierte gesellschaftliche Arbeit der Frauen, die ihnen einen ganz besonderen Wirkungsgrad in der zu erschließenden Öffentlichkeit bescherte. Frauen wie Frau Simon zeichneten sich zum einen durch eine hohe Sachkompetenz in (umwelt-)technischen Fragen aus, zum anderen gelang es ihnen unter Einsatz diese verständlich zu transportieren, so dass die Brisanz umweltpolitischer Probleme von der Bevölkerung für ihre eigene Lebenswirklichkeit als relevant erkannt wurde. „Und da hab’ ich mit diesem Herrn da über Atomkraft gesprochen und wie gesagt, das war einer vom Fach. Aber ich hatte das drauf und hab’ das dem vorgerechnet. [...] Also dass es immer so ’n Restrisiko gibt, eigentlich sind se ja GANZ GANZ sicher, aber es ist 811

Vgl. im Folgenden unter: Gruppeninterne Schulung und Aufklärung sowie Training mentaler Verdrängungsleistungen. 812 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 11. 813 Vgl. Kenawi, Caféhaustratsch, S. 190–197; Miethe, Politikverständnis, S. 92 f. 814 Vgl. MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 4, Bl. 144). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ein Restrisiko von so und so viel Prozent. Und da hab’ ich ihm mal das umgerechnet, wie viel das auf die Bevölkerung des Bezirkes [Ortsname] das Restrisiko ausmacht. Also an jährlich dazukommenden Krebspatienten. Also Krebserkrankungen. Und das war=das lag so bei Dreißigtausend. Und dann hab’ ich ihm, und das ist immer so das, wo ich sage, da war ich als Mutter, hab’ ich gesagt, »Und wenn da eins von ihren Enkelkindern dabei is’?« [...] Der war VOLLkommen platt. Die hatten sowieso nich’ damit gerechnet, dass ’ne Frau kommt, das sowieso nich’. [...] also dass die SACHLICH was weiß, ja also das hat die immer voll=vollkommen geplättet.“815

In der Gesamtschau der Äußerungen von Frau Simon und Frau Manzel ist äußerst auffällig, dass Frauen in ihrer politisch alternativen Arbeit immer und zugleich viel stärker den Bezug zum Alltag der Bevölkerung in der DDR und damit einen viel größeren gesamtbevölkerungspolitischen Integrations- und Partizipationsansatz hatten, als es in der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, einer vor allem von Männern geleiteten Gruppe der Fall war. Bereits in Kapitel 6.2.2, welches die Motivationen für ein Engagement in geschlechtsspezifischen Gruppen darlegte, ist dieses Moment, nämlich der pragmatische alltagsbezogene Ansatz ihrer Arbeit, bereits deutlich geworden. Für das MfS stellte überhaupt das politische Agieren von Frauen ein Kuriosum dar. Bereits der Umgang mit Frauen, die ihr Gesicht wahrten, wie es Kapitel 6.1.4 anhand der Verhörsituationen des Typus I gezeigt hat, bereitete den Mitarbeitern des MfS, resultierend aus seiner Struktur und seinem Selbstverständnis äußerte Probleme.816 Aus überkommenen Vorstellungen traditioneller Geschlechterrollen folgerte man, dass von Frauen per se keine staatsgefährdende politische Gefahr ausgehen könne. Im MfS selbst (be-)nutzte man Frauen demzufolge vorwiegend auch lediglich für Tätigkeiten, die man abfällig mit der Formel der „Operativen Betten“ zu umschreiben wusste.817 Die Übertragung dieses Frauenbildes bedeutete, dass die politische Kraft und Motivation der Frauen in oppositionellen Gruppen vom MfS weitestgehend unterschätzt blieb. Das Feindbild der PUT war männlich konnotiert, falls es sich doch auf Frauen bezog, baute es entweder auf ein traditionelles Geschlechterbild mit der Taktik „Euch nehmen wir doch gar nicht ernst“ auf, zeichnete ein dämonisierendes androgynes Bild der aktiven Personen818 oder reüssierte letztlich darin, dass hinter den Frauengruppen männliche Rädelsführer standen, die für westliche Geheimdienste agierten. 815 816 817 818

V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 41. Vgl. Kap. 6.1.4. Vgl. Schmole, Frauen und MfS, S. 520. Vgl. nähere Ausführungen zur Begrifflichkeit „Operative Betten“ erneut Kap. 6.1.4.2. „Dadurch kam ’s auch, dass zum Beispiel in [Ortsname] der Stasichef, der mich hat bearbeiten lassen, nich’ wusste wie ich aussehe. Und da muss es eine Situation gegeben ham, die kenn’ ich aber nur aus der Erzählung dieses IMs, ja. Irgend’ne öffentliche Geschichte, wo ich anwesend war und vielleicht auch gesprochen hab’, weiß ich jetzt ni’ mehr. Dieser IM war anwesend und dieser Stasioffizier waren anwesend. [...] Und dann hat äh der Führungsoffizier VÖLLIG entgeistert zu dem IM gesagt, sagt’ er, »WAS, das ist die [Simon], das ist DIE [Simon]? Ja die sieht ja aus wie ’ne richtige Frau.«“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 44. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Den Frauen selbst gestand man weder ein eigenes politisches Selbstbewusstsein zu, noch räumte man ihnen politische Eigenständigkeit, Durchsetzungs- und Organisationsfähigkeit ein. „Es gab da auch einen Pfarrer hier in der Stadt, der, sag’ mer mal so, sich gerne so selbst produziert hat. Aber äh ohne Substanz, nix dahinter. [...] Der is’ zum Beispiel von der Stasi als der Gründer der Umwelt-Bibliothek eingetragen worden. Den ham die so ernst genommen wegen sei’m dubblichen Gequatsche ((lacht)). Und äh weil die sich gar nich’ vorstellen konnten, dass das also IRGENDJEMAND macht. Und noch dazu so ’ne dahergelaufene Krankenschwester. [...] Weil also, dass das ’ne FRAU macht, das war für die nicht vorstellbar. Deswegen schlich___ äh schlägt sich das in den Stasiakten ooch gar nich’ SO wieder. Weil sie ham ’s nich’ verstanden. ((lacht)) Und ja der Herr, dieser Pfarrer war eben dann der Initiator. Und der hatte mit der Umwelt-Bibliothek so viel zu tun, wie die Kuh mit ’m Fronleichnamstag. NICHTS. Ja.“819

Dieses undifferenzierte Bild politischen Handelns von Frauen konnte selbst von einer „Operativen Psychologie“ nicht ausgeglichen werden. Sie selbst profitierten daher von der geringen Auseinandersetzung des MfS mit ihren spezifischen Handlungsformen und –mitteln. Dem MfS gelang es demnach nicht, die Denkstrukturen des weiblich-organisierten politischen Arbeitens zu erfassen. Indoktriniert von der Vorstellung, dass hier im Hintergrund der Klassenfeind agierte, gelang es dem MfS deswegen kaum die alternativen, spezifisch weiblichen Organisationsstrukturen und Aktionsformen zu durchdringen bzw. zu „zersetzen“. „[...] das war hier ooch so ’n bisschen so ’n Katz-und-Maus-Spiel, so Räuber und Gendarm. Also schaff’ mer ’s oder schaff’ mer ’s nich’. Aber wir wussten ja gar nich’, was da is’. Und die haben sich einfach nich’ reindenken können in das, was wir=was uns bewegte. Und bei uns war ja auch, außer dass wir das ooch sehr ernst und thematisch ooch sehr ernst genommen ham und sehr politisch, aber es sollte ooch immer bissl Spaß machen. Und dieser zivile Ungehorsam musste möglichst bunt sein. [...] Und wie gesagt, dem war die Stasi an der Stelle nich’ gewachsen. Das fand ich immer ganz lustig, die ham ’s immer nich’ gerafft, wer und WIESO denn jetzt was zustande kam.“820

Das Feindbild blieb eindimensional, die Frauen jedoch hatten ein differenzierteres, nämlich „buntes“ Modell „politischer Untergrundtätigkeit“ entwickelt, das sich nicht ohne Weiteres in das Schwarz-Weiß-Denken des MfS und die ‚graue‘ realsozialistische Lebensweise „operativ“ einbinden ließ. Diese Ausführungen stehen hier zugleich für eine kritischere Einordnung des im Zuge des „Ostalgiephänomens“ sich etablierenden Mythos’ einer vom Patriarchalismus freien, emanzipierten DDR-Gesellschaft. Im übergeordneten Zusammenhang geht es hierbei auch um die in der neuesten DDR-Forschung eröffnete problematische Debatte einer besonderen Wertschätzung „soziokultureller Errungenschaften“ in der ehemaligen DDR.821 819 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 20 f. 820 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 32. 821 Die Forschungsgruppe „Kritische Analyse der Vereinigungspolitik“ der FU Berlin möchte mit ihrer Veröffentlichung „Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gruppeninterne Schulung und Aufklärung sowie Training mentaler Verdrängungsleistungen: Auf die Existenz so genannter Schulungsseminare innerhalb der Gruppierungen zur Vermeidung von Konfrontationen mit und Inhaftierungen durch das MfS wurde im Vorausgehenden, im Kontext der gruppenspezifischen MfS-Maßnahmen, hingewiesen. Ebenso ist auf die Verbreitung des poltisch-kritischen Ideen- und Gedankenguts in einem DDR-weiten Radius mit Hilfe eigener, selbst herausgegebener Sprachrohre, das heißt Printerzeugnissen wie Flugblättern, Zeitschriften und kritischer Literatur hinzuweisen. Diese konnten in eigens geschaffenen Handlungs- und Kommunikationsräumen hergestellt, vervielfältigt und verteilt werden, ohne dass das MfS wirksam einschritt.822 Im Kontext des Phänomens „kollektives Misstrauen“ setzte das MfS auf die in Richtlinie 1/76 angeführte Methode zur Diskreditierung einzelner Personen und auf eine forcierte „Zersetzung“ von Gruppenverbänden durch die Unterstellung einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS823. Das Schüren von Misstrauen an der Basis der Gruppen konnte deren konspirative politische Arbeit stark lähmen, vor allem dann, wenn die Gruppe nicht mehr primär die politischen Dinge selbst zentrierte sondern vielmehr mit gegenseitigen Verdächtigungen ausgefüllt war, so wie es die Richtlinie 1/76 vorsah: „Beschäftigung von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen mit ihren internen Problemen mit dem Ziel der Einschränkung ihrer feindlich-negativen Handlungen.“824 Die grundsätzliche Annahme aber, dass in den eigenen Reihen Spitzel agieren könnihrer sozialkulturellen Einrichtungen“ Alternativen zur vorherrschenden „Hofgeschichtsschreibung“ aufzeigen, die belegen, dass auf diesen Gebieten „trotz des repressiven Systems bedeutende Leistungen“ in der DDR erbracht wurden. Es bleibt dennoch fraglich, inwiefern es gelingt, in repressiven Systemen generierte soziokulturelle „Errungenschaften“ losgelöst von der ideologischen Doktrin und seiner realen Ausformungen zu betrachten und positiv zu werten. Vgl. Bollinger (Hg.), Die DDR war anders. 822 Das MfS registrierte zwar die „Herausgabe des antisozialistischen Pamphlets ‚Grenzfall‘“, indem man beobachtete, dass Manzels „in der St. Marienkirche [...] offen Exemplare des ‚Grenzfall‘“ verkauften und ebenso „Exemplare des ‚Grenzfall‘ postalisch in andere Orte der DDR verschickt[en]“, aber ordnete lediglich eine Aussprache zwischen Herrn Manzel und der Kombinatsleitung am seinem Arbeitsplatz an. MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 173). 823 Knabe, Feine Waffen, S. 206. Im Falle der IFM versuchte man diese Methode im Operativen Vorgang „Verräter“ auch gegen Wolfgang Templin zu verwirklichen, der im IFM als „Provokateur“ auftreten und „der Zusammenarbeit mit dem MfS verdächtigt“ werden sollte. Die Maßnahmen wurden wie folgt eingeleitet, blieben jedoch im engen politisch alternativen Kreis um Templin weitgehend erfolglos: „Aus staatlichen Verwaltungsbereichen ist zu organisieren, dass Fakten und Hinweise in Untergrundkreisen publik gemacht werden, die geeignet sind, dass Personen des politischen Untergrundes zu der ‚Erkenntnis‘ gelangen, dass Templin von einflussreichen Stellen unterstützt wird. Dabei ist die Tatsache zugrunde zu legen, dass Templin eine geräumige 4-Raum-Wohnung erhalten hat, eine Etagenheizung ohne eigene finanzielle Beteiligung installiert [...].“ Auszüge aus der MfS-Akte Wolfgang Templins. Dokumentiert in: Behnke/Fuchs, Zersetzung der Seele, S. 30. 824 MfS-Richtlinie 1/76. Dokumentiert in: Gill/Schröter, MfS, S. 391. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ten, zwang die Gruppen zu einem äußerst konzentrierten und organisierten Agieren.825 Prophylaktisch institutionalisierte deshalb die IFM verschiedenste Vorsichtsmaßnahmen. In gewissen Abständen fanden interne Gruppenbefragungen statt, die einzelne Kandidaten aus der Gruppe für ein „Interview“ gemäß einem „Fragespiegel“ verpflichteten, man sprach sich lediglich mit Vornamen an und über konkrete Vorbereitungen von Aktionen wurde ein immer kleinerer Kreis von Personen informiert, um einerseits eine Vereitelung der Aktionen zu umgehen, andererseits um eine höhere Trefferquote bei der Enttarnung möglicher Spitzel zu ermöglichen. Das MfS erhielt Bericht über diese internen Sicherheitsmaßnahmen und sah folglich auch seine eingeschleusten inoffiziellen Quellen gefährdet: „Das Ergebnis des Interviews musste wie festgelegt am nächsten Tag bei [Manzel] schriftlich mit dem erhaltenen Fragespiegel abgeliefert werden. Diese Sicherheitsmaßnahmen spielen auch bei den regelmäßigen Zusammenkünften in der Wohnung von [Manzel] eine gewisse Rolle. Die Teilnehmer reden sich nur mit Vornamen an. [...] Bei der Auswertung der Information ist unbedingter Quellenschutz zu beachten, da der IMB einige Gespräche mit [Manzel] persönlich führte und Überprüfungsmaßnahmen nicht ausgeschlossen werden können.“826 In der Folge solcher „inoffizieller“ Sabotagearbeit wird eine geplante Aktion zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10.12.1987 durch das frühzeitige Eingreifen von Sicherheitskräften verhindert, Herr Manzel und Wolfgang Templin werden schon auf dem Weg zur Grotewohlstraße „zugeführt“, daraufhin kurzzeitig inhaftiert. Die zuvor zwischen dem Ehepaar besprochenen Vorkehrungen finden in der Wohnung der Manzels Umsetzung827, das heißt alle „Materialien, die als Beweismaterial verwendet werden könnten, außer Haus gebracht.“828 Die Methode der gegenseitigen Überprüfung sollte sich bewähren. Zwar provozierte sie anfangs interne Querelen und Zerreißproben, an denen sich auch Frau Manzel aktiv beteiligte – „Die [Manzel] brachte zum Ausdruck, dass es schlimm sei, einen Verräter in den eigenen Reihen zu haben und man alles unternehmen muss, um diese Person zu entlarven.“829 – , aber die letztlich eine eigene Methode für die Gruppen darstellte, um sich erfolgreich gegen eingeschleuste IM zur Wehr zu setzen. Basisdemokratisch wird tatsächlich einer der eingeschleusten IMB aufgrund seiner offensichtlichen Indiskretion und wider-

825 „Ja, dann ist man ja immer davon ausgegangen, dass, wenn zehn Leute zusammen sind, dass einer von der Stasi is’, das war immer die Regel. Und wenn ’s die zehn liebsten Freunde sind. Also das war sozusagen immer ... Man hat da nich’ drüber gesprochen, das war es nich’, aber man hat es sozusagen immer im Hinterkopf gehabt.“ VTranskript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 13. 826 MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 6, Bl. 51). 827 Vgl. V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 30 f. 828 MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 59). 829 MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 59). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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sprüchlichen Aussagen in der Befragung infolge eines Misstrauensantrags und „nach Abstimmung (8:6) aus dem Gesprächskreis“830 ausgeschlossen. Die mögliche Gefährdung der konspirativen Arbeit durch interne IM und das in diesem Zusammenhang vom MfS aufgebotene Konglomerat der Überwachungs- und Kontrollmechanismen forderte individuell zusätzlich ein mentales Training, das Verhaltensmuster inkorporierte, die sich an die Gegebenheiten der Diktatur assimilieren mussten. Detailliert erinnert sich Frau Manzel an den von diesen Strategien durchdrungenen Alltag. „Und dann musste man in den Wohnungen aufpassen, das heißt man konnte sich nie sicher sein, wo Abhörgeräte in den Wohnungen sind, das heißt, dass vieles aufgeschrieben werden musste. Ich hab’ mir zum Beispiel niemals Namen gemerkt und Adressen, das war was, was ich mir nach der Wende wirklich richtig mühselig wieder antrainieren musste. Ich wusste wirklich von den allermeisten Leuten nur die Vornamen und die Spitznamen und na ja dann wusst’ ich die Straße und die grüne Haustür und die drei Treppen, aber ich hab’ mir mit Absicht keine Adressen gemerkt, keine Telefonnummern, ich hab’ mir die nich’ aufgeschrieben. Ich hab’ meine Briefe zensiert. Da hab’ ich Jahre dafür gebraucht, mir das abzugewöhnen. [...] Im Grunde habe ich nur vollkommen belanglose Briefe geschrieben, also nich’ mal über meine eigenen Befindlichkeiten, weil ja auch das gefährlich war. Man konnte ja nie wissen, wenn man dann doch mal bei irgend’ner Vernehmung landet, wie es dann verwendet wird. [...] Nee, also was man alles nich’ wissen wollte, das war schon erstaunlich.“831

Ihre Äußerungen belegen erneut die psychischen Auswirkungen repressiv agierender, diktatorischer Systeme, die aufgrund der Besetzung selbst privatester Räume Menschen die Möglichkeit rauben, Individualität zu leben. Im psychoanalytischen Sinne spricht Frau Manzel insofern zurecht von einer verordneten „Verdrängungsarbeit“832, die aber weit bis in den Transformationsprozess wirken sollte, das heißt noch Jahre später ihren Lebensalltag zu beeinflussen vermochte. Das an die Zustände eines repressiven Systems angepasste, fast konditionierte Verhalten musste mühsam aus dem täglichen Handeln getilgt werden, zurück blieben Spuren, die in welchem Maße auch immer, Sphären ihrer Identität und Felder ihrer individuellen Entfaltung längerfristig einengen können: „Na, na, ich hab ’s mir wie gesagt richtig mit ’m Trainingsprogramm versucht abzutrainieren. Also ich glaube Tagebuch schreiben, das werde ich nie in meinem Leben können. Also das (1), ich gloobe, das geht nich’. Da hab’ ich immer noch, also es— is’ völliger Quatsch, trotzdem, man hat dann ... Briefe schreiben, das ist so allmählich geworden, telefonieren auch. Ich hab’ wie gesagt Jahre dafür gebraucht und musste immer streng mit mir sprechen, »[...] man kann jetzt einfach so telefonieren.«“833 Die hier aufgezeigten, vor allem psychosozialen Dimensionen postdiktatorischer Realitäten bestätigen erneut eine Form der Aufarbeitung von Zeitge830 831 832 833

MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 7, Bl. 63). V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 13 f. Vgl. V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 14. V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 30. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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schichte, welche gegenwärtige individuell-lebensgeschichtlich bedeutsame Wirkungen der Vergangenheit in die Betrachtung einbezieht.834 Nutzbarmachung externer Faktoren: Mobilisierung westlicher Medien und enge Kooperation mit den „Grünen“: „Die westdeutschen Medien haben die innenpolitische Entwicklung in der DDR aufmerksam verfolgt und auch die wesentlichen Ereignisse des Widerstandes und der Opposition registriert. Veröffentlichungen in der Presse gelangten auch in die DDR und spielten für die inhaltliche Arbeit der Opposition eine beachtliche Rolle.“835 Gleichwohl darf ihre systemgefährdende Rolle – wie es die Perspektive des MfS in den Auswertungen zur Arbeit des Deutschlandfunks immer wieder bestätigt836 – auch für den Herbst 1989 nicht überschätzt werden. Richtig ist, dass in den achtziger Jahren politisch alternative Gruppen vermehrt Kontakte zu westdeutschen Medien suchten, um auf diesem Wege ihre Basisarbeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen; konnten sie sich doch der Rezeption im eigenen Lande durch die DDR-Bevölkerung sicher sein.837 Frau Simon hat in diesem Kontext davon gesprochen, dass Interviews im DLF wie das ihrige der „ganzen Bewegung ooch ’n Schub“ gegeben haben. Die lähmende Angst vieler Bevölkerungsteile sich kritisch zu äußern – vor allem im Hinblick auf repressive MfSKonfrontationen – wurde durch vereinzelte beispielhafte öffentliche Bekenntnisse allmählich abgebaut und möglicherweise zu einem Grundstein für die Entwicklung einer massenhaften sozialen Bewegung im Herbst 1989. Unter der Schirmherrschaft der westlichen Medien wurde aber zuerst ein offensiveres Agieren für die Gruppen möglich, das zugleich eine symmetrische Zusammenarbeit für beide Seiten begründete: „Und ich meine, die Situation war ja wirklich goldig, da kann ja heute nur jeder davon träumen, der Politik macht. Man brauchte wirklich nur anzurufen und ’ne Stunde später ist die Meldung gekommen, so wie man sie gesagt hat. Und ähm das hat uns schon geschützt. Also das war ganz wichtig, diese Kontakte zu den Korrespondenten. Und für die waren die Kontakte auch wichtig, also das beruhte sozusagen auf Gegenseitigkeit. Wir haben ihnen die Informationen geliefert und sie haben uns auch die Informationen gebracht, sie waren unser Postweg. Dass man Sachen mitgeben konnte, Briefe, die man nich’ schicken wollte und äh na ja und dann 834 Vgl. Kap. 6.1.6.1. 835 Neubert, Geschichte der Opposition, S. 324. 836 „Der DLF ist einer der Auslandspropagandasender der BRD [...]. Sein Sendeauftrag besteht im Wesentlichen in der Durchführung der PID gegen die DDR, um der ‚Wiedervereinigung Deutschlands‘ im imperialistischen Sinne zu dienen. [...] Der DLF war an der Vorbereitung und Durchführung konterrevolutionärer Ereignisse in sozialistischen Ländern, zum Beispiel 1981 in Polen, maßgeblich beteiligt.“ Lehrbuch. Die politisch-ideologische Diversion gegen die DDR. Hg. von der JHS, zitiert in Fricke, Deutschlandfunk, S. 192. 837 Die starke Rezeption westlicher Medien in der DDR-Bevölkerung, vor allem des DLF, haben bereits (Stellvertreter-)Befragungen von DDR-BürgerInnen (Ausreisern, Flüchtlingen, ehemaligen polit. Häftlingen und Besuchern) in den 80er Jahren ergeben, vgl. Hesse, Westmedien, S. 70–73. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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konnten se eben alles öffentlich machen, was für uns wichtig war. Manchmal, das war schon wichtig, auch die Abgeordneten eben.“838 Eine wichtige Rolle für die Etablierung und Verbreitung der zunehmend öffentlich werdenden politischen Arbeit spielten auch – wie bereits beispielhaft hier und in Kapitel 6.2.2.2 aufgezeigt – westdeutsche Bundestagsabgeordnete, vor allem der „Grünen“ Partei. Über diese wurden sie mit neuesten Informationen zu Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsfragen versorgt und mit technischen Hilfsmitteln und Materialien für die Produktion der Zeitschriften ausgerüstet: „[...] weil wir nämlich ganz intensive Kontakte hatten zu ‘Grünen’ Bundestagsabgeordneten. Und wenn die auf Besuch kamen, da konnte man nämlich immer Bücher bestellen, weil die ’n diplomatischen Status hatten und nich’ kontrolliert wurden. Und dann wirklich HEMMUNGSLOS mitgebracht haben, also Koffer voll Zeug. Und was man dann wieder weitergeben konnte.“839 Nicht nur dies, mit Hilfe ihrer populären Sprecher wie Petra Kelly und Gert Bastian, die insbesondere zu den Berliner Friedensfrauen und der IFM enge Kontakte pflegten, aber auch unter Mitwirkung anderer etablierter Parteien gelang es wie im Falle von Herrn Manzel durch öffentliche Fürsprache bzw. auf diplomatischem Wege Haftentlassungen zu erwirken. Die Gewissheit, dass diese Personen ihre gesamte öffentliche Wirksamkeit und ihren diplomatischen Status dafür einsetzen würden, um den Aufbau einer blockübergreifenden Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsarbeit und den Schutz der Akteure und Freunde in der DDR zu gewährleisten, eröffnete den oppositionellen Gruppen einen weitaus größeren Handlungsspielraum. Die engen politischen wie freundschaftlichen Beziehungen sind in den MfS-Akten durch zahlreiche Besuche von Kelly und Bastian, die in der Wohnung des Ehepaars Manzel auftauchen, belegt. Die IMB bzw. die observierenden MfS-Mitarbeiter der Abt. VIII haben dabei akribisch die Aufenthalte und Inhalte der gemeinsamen Gespräche dokumentiert.840 Intensiv bemühte sich das MfS auch hier die Verbindungen durch immer neu verhängte Einreisesperren zu durchkreuzen. Letztlich gelang es aber nicht, die Stabilität der Beziehungen effektiv ins Wanken zu bringen. Umgekehrt ist zu betonen, dass ebenso die Deutschlandpolitik der „Grünen“ in besonderem Maße durch die Zusammenarbeit mit den Gruppen beeinflusst und forciert wurde, hier also eine Gegenseitigkeit der Interessen auf ihre damaligen Themenschwerpunkte zu verzeichnen ist, weil sie eine grenzübergreifende Re838 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 19. Vgl. bspw. auch die Notizen des MfS zu den Kontakten der Manzels zur westlichen Presse: „Die Kontakte von [M.] zu feindlich in Erscheinung tretenden Ausländern konzentrierten sich im Berichtszeitraum auf [...] Kontakte zu in der DDR akkreditierten Journalisten westeuropäischer Medien. Diese Kontakte waren dazu geeignet, die politisch-ideologische Grundhaltung des Hauptverdächtigen zu festigen und ihn in der weiteren Durchführung der PUT zu unterstützen.“ MfS-Akte Herr und Frau Manzel, Sachstandsbericht vom 5. 5.1988 (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 189). 839 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 8. 840 Vgl. bspw. MfS-Akte Herr und Frau Manzel (BStU, ASt. Chemnitz, XV 6028/82, Band 1, Bl. 67–72). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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levanz und Brisanz beinhalteten. Das führte zwar primär und kurzfristig zuerst zu einer thematisch orientierten innerdeutschen Zusammenarbeit, deren mittel- und langfristige Bedeutung jedoch für die Verstärkung „deutschlandpolitischer Tendenzen“ bei den „Grünen“, welche „die Selbstanerkennungs- und Anerkennungspolitik der Vorjahre weiterentwickelten“841, und ebenso für die Kooperation mit der DDR-Opposition im Herbst 1989 große Bedeutsamkeit erlangte. Beide Seiten hatten schließlich wahrgenommen, „dass die Blocklogik nicht stimmen könne, dass etwas Neues an die Stelle der Konfrontation treten müsse, dass Frieden und Ökologie wichtiger seien als das Trennende zwischen den Blöcken.“842 Westdeutsche Medien wie politische Freunde erfüllten insofern gleichzeitig eine wichtige moralisch stützende Rolle, wenn sie sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischten, um den oppositionellen Gruppen den Rücken freizuhalten, damit sich diese effektiver als zuvor zur Wehr setzen, die verordnete Öffentlichkeit schrittweise erschließen und dabei immer weiter aus den schützenden Räumen der Gegenöffentlichkeit ausbrechen konnten. Diese westlichen Beziehungen und Freundschaften wurden ebenso zum Katalysator für die zu entfachende gesellschaftliche soziale Bewegung in der DDR, konnte man doch darauf vertrauen, dass die politisch alternative und später oppositionelle Arbeit auch jenseits der DDR-Grenzen Resonanz, Unterstützung und im gegebenen Falle existenzielle Hilfe erfahren würde. Die am empirischen Material dargelegten und durch die personenbezogenen Aktenlagen spezifisch nachgewiesenen Formen staatssicherheitsdienstlicher Zersetzungsmaßnahmen gegen resistent auftretende Einzelpersonen gleichermaßen wie oppositionell agierende Gruppen haben deutlich aufgezeigt, inwieweit die Festlegungen der Richtlinie 1/76 „Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung“ wie der Dienstanweisung 2/85 zur Bekämpfung „politischer Untergrundarbeit“ im jeweiligen Fall ihre Entsprechung fanden. Stets ist eine Kombination verschiedener „Zersetzungsmechanismen“ zu erkennen, wobei speziell im Einzelfall insbesondere der Einsatz der Partner des POZW auffallend und äußerst wirksam wurde, vor allem wenn privater und beruflicher Bereich miteinander verknüpft wurden. Die Maßnahmen sowohl gegenüber der evangelischen Kirche als auch der hier im Fokus stehenden Friedens- und Umweltgruppen waren aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen politischen Brisanz verschiedenartig ausgerichtet. Während die Kirche wie die Umweltgruppen aufgrund ihres gesellschaftsintegrativen Charakters im Wesentlichen mit einer Taktik von „Entpolitisierung und Theologisierung“ bzw. „Vereinnahmung und Umarmung“ diszipliniert wurden, zog man gegen die als durchweg „feindlich-negativ“ eingestuften Friedens- und Menschrechtsgruppen, die sich zudem mehr und mehr aus dem für das MfS zumindest einordbaren kirchlichen Bereich lösten und in den öffentlichen staat841 Neubert, Geschichte der Opposition, S. 668. 842 Aussage des SPD-Abgeordneten Gert Weisskirchen, zitiert in Knabe, Westparteien, S. 1186. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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lich besetzten Bereich vordrangen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in der direkten Konfrontation mit den Gruppen, alle Register staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle und Unterdrückung bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung, Inhaftierung oder Ausweisung. Das MfS operierte hierbei unter Ausnutzung der Charakteristika des soziologischen Gruppenbegriffs: Im Hinblick auf die innere psychische wie emotionale Verbundenheit, das Vorhandensein eines Wir-Gefühls, die essenzielle Vertrauensbasis und gegenseitige Verantwortung setzte man beispielsweise auch hier bewusst Maßnahmen zur Diskreditierung und Kompromittierung einzelner Personen ein und versuchte so internes Misstrauen, inhaltliche wie personale Orientierungskämpfe usw. zu verursachen und letztlich zu gruppendynamischen Auflösungsprozessen zu reüssieren. Die Versuche des MfS in Familienstrukturen einzuwirken, verdeutlichte sich besonders an der dargestellten Zusammenarbeit des MfS mit der staatlichen Jugendhilfe, indem man diese anwies, Gründe für eine mögliche Aberkennung des Erziehungsrechts beim Ehepaar Manzel für ihre Kinder zu fingieren. Das „politisch-operative Zusammenwirken“ des MfS mit staatlichen Behörden zeigte sich auch an anderen Stellen. Durch polizeiliche Verbote öffentlicher Veranstaltungen, Verhinderung von postalischen Kontakten ins Ausland und insbesondere auch durch die Disziplinierung kirchenleitender Stellen vermochte man die Wirksamkeit des kollektiven Protests stark zu mindern. Gezielt operierte man in den genannten Fällen zugleich mit Hilfe eines dichtmaschigen Netzes von inoffiziellen Mitarbeitern. Die negative Infiltration der Gruppierungen war ihr übergeordnetes Ziel. „Operativ“ geschult und detailliert angewiesen, inszenierten sie unter zusätzlicher Erzeugung psychischen Drucks die Diskreditierung einzelner Personen, sabotierten bzw. verhinderten Aktivitäten und erlaubten zugleich differenzierte Einblicke in die Organisations- und Personalstrukturen der Gruppen. Die IM lieferten dem MfS insofern eine solide Informations- und Wissensbasis über deren ‚Funktionsweisen‘, die für die Zielstellung, die Binnenstrukturen des kollektiven Arbeitens aufzulösen und zu „zersetzen“ notwendig waren. Die Studie von Pingel-Schliemann bestätigt beispielhaft anhand dreier Aussagen ehemaliger Aktiver der IFM, dass „die IM den Entwicklungsprozess der Menschenrechtsgruppe behindert, gestört, verlangsamt und sabotiert haben.“843 Der Einsatz inoffizieller Mitarbeiter trat aber nicht nur in den oppositionellen Gruppen besonders massiv hervor, sondern auch zur Disziplinierung kirchenleitender Vertreter gestaltete sich das „Phänomen der Maulwürfe“844 für die evangelische Kirche zum ernsthaften Problem, hatte doch vor allem diese eine eminente Bedeutung für die Arbeit der Gruppen. Entscheidend für die Ausbildung eines erfolgreich agierenden oppositionellen und resistenten Milieus erwiesen sich aber gleichfalls die von Einzelpersonen und Gruppen planvoll entgegengesetzten Handlungsmittel und -res843 Pingel-Schliemann, Zersetzen, S. 338. 844 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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sourcen. So wurden die, wie im Fall Simon dargestellt, angewandete Vereinnahmungstaktik des MfS durch staatliche Institutionen für die eigene, kritisch aufklärende Umweltarbeit ausgenutzt sowie gruppeninterne und geschlechtsspezifische Strategien entwickelt, um die Effektivität der IM-Arbeit zu mindern und der Kontrolle und Überwachung zu entgehen. Gleichzeitig konnte unter besonderem Einsatz bundesrepublikanischer Medien und in enger Zusammenarbeit mit „Grünen“ Politikern die stetig öffentlichkeitswirksamere Arbeit fortgesetzt werden, so dass man trotz massiver Eingriffe in individuelle Bereiche und kollektive Strukturen die oppositionelle Arbeit kontinuierlich ausbaute. Den wichtigsten Beitrag in diesem Zusammenhang leisteten jedoch die von der Kirche offerierten infrastrukturellen Mittel, ohne die eine lokale Etablierung der Gruppen gar nicht erst möglich gewesen und eine DDR-weite Vernetzung ohne deren kommunikatives Netzwerk maßgeblich gescheitert wäre.845 Im Mittelpunkt des individuellen wie kollektiven Agierens stand auch nach Forcierung staatlicher Repressionen nicht, Sanktionen und Repressionen des MfS abzuwehren, sondern die Konzentration lag stets auf einer Fortführung der politischen Arbeit846, motiviert von einem hohen moralischen Anspruch847, den es auch unter Einsatz persönlichen Risikos, der Gefährdung familiärer Strukturen und psychischer Schädigungen zu behaupten galt. Diese Orientierung, welche politisches Handeln als oppositionelles Protesthandeln definierte und wie ganz deutlich wird, aus einem mit den frühen Prägungen konform gehenden sozialethischen Handeln motiviert war, wurde von den Gruppen allmählich abgelöst und zum ‚mentalen Erfolgskonzept‘ einer sich etablierenden sozialen Bewegung innerhalb der DDR-Bevölkerung, deren wesentlicher Charakter es sein sollte, sich im Zuge der Formierung der so genannten Bürgerbewegung am Ende der achtziger Jahre nahezu gesamtgesellschaftlich gegen das eigene Regierungssystem öffentlich zu mobilisieren.

845 Pollack, Politischer Protest, S. 165. 846 „Das ist ooch für mich ganz schön schwierig jetzt, ähm DIESE Geschichte jetzt, die meine Geschichte ooch ist, jetzt unter diesem Blickwinkel zu sehen, weil die Stasi für mich nich’ diese Bedeutung hatte. Das war nicht das Wesentliche, das war nur ’ne RANDerscheinung. Also das Wesentliche war ganz woanders [...].“ V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 1. 847 Vgl. die Aussage von Frau Manzel: „[...] ich hab’ das eigentlich nur aus moralischen Gründen gemacht. Das heißt, ich hab’ gedacht, wenn sich überhaupt niemand getraut, irgendjemand muss es machen, na gut, mach ich ’s eben.“ V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 21. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

6.3

Typus III – Typus IV – Typus V

Im abschließenden, drei Typen umfassenden letzten Teil des Kapitels 6 werden in einer stärker zusammenfassenden Einordnung einzelne besonders hervortretende Phänomene staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle und zugleich spezifische im DDR-Alltag erfahrene Konfrontationen von lebensgeschichtlicher Relevanz, die in den vorausgehenden Typen derart explizit noch nicht erkennbar geworden sind, veranschaulicht. Das heißt, auch hier zeigen sich Mechanismen seitens des MfS, deren Charakteristika ebenso im jeweils anderen Kontext bereits in Typus I bzw. II dargelegt wurden, nur soll aber in den jeweiligen Individualbiographien auf spezifische Phänomene hingewiesen werden, die bisher wenig in den Fokus der Betrachtung gelangt sind. Dies bezieht sich auf differenzierte Repressionsmechanismen des MfS, insbesondere jedoch auf die individuellen Handlungsmuster der betroffenen Personen. Die Betrachtungen in den folgenden drei Typen unterscheiden sich von den vorausgehenden auch insofern, als hier eine den individuellen Lebensalltag begleitende Konfrontation auftritt, die nicht spezifisch auf ein individuell äußerst bewusstes widerständiges, oppositionelles oder resistentes Handeln folgte. Während die Personen des Typus I bzw. II eine Veränderung ihrer lebensweltlichen Situation gezielt herbeiführten, um entweder ihrer Systemablehnung und der Alltagswirklichkeit in der DDR durch ein ‚illegales‘ Verlassen Ausdruck zu verleihen oder durch ein konsequentes politisch alternatives Engagement den Tabubruch in der verordneten Öffentlichkeit zu vollziehen, zeigt sich in den folgenden Fällen weniger eine ‚konkrete Konfrontationssuche‘ mit dem System. Vielmehr bricht die Auseinandersetzung mit ihm – das heißt spezifisch mit dem MfS – in eine Alltagswelt ein, die bisher innerhalb des erzwungenen Handlungsrahmens einen in welcher Form auch immer gearteten Konsens gebildet hatte, ohne diesen übertreten oder ausweiten zu wollen. Stattdessen werden die folgenden drei Typen, was zunächst das Handeln der Akteure in Bezug auf die Entstehung des Konflikts mit dem MfS anbetrifft, ein breiteres Handlungsspektrum abbilden: dieses reicht vom bewussten, aber indirekten Handeln über ein den Konflikt nicht realisierendes, quasi ahnungslos ausgelöstes nonkonformes Handeln. Schließlich treten in diesem Zusammenhang auch Einzelfälle auf, die demonstrieren, dass selbst durch ein vom MfS unangepasstes, als systemgefährdend oder zumindest systemablehnend eingeschätztes Handeln Dritter, beispielsweise von (Ehe-)Partnern, Verwandten oder Freunden, die eigene individuelle Konfrontation mit dem MfS provozieren und zumindest zu diesem Zeitpunkt biographisch tragende Relevanz in sich trugen.

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Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen

6.3.1

Typus III – Unpolitisches Dasein und erzwungene Kompromissbildung

„Aber dass wir jetzt dagegen waren, kann man ni’ sagen. Mitläufer eben.“ „Mir blieb nur, um überleben zu können, zumindest in dieser Art und Weise angepasst sein.“

6.3.1.1 Grundlegende politische Prägungen Bei den Personen des Typus wird, blickt man auf deren Primärsozialisation, entweder eine äußerst unpolitische Erziehung im Elternhaus oder eine besonders vom Antifaschismusmythos der frühen DDR-Jahre geprägte Aufbruchstimmung sichtbar, getragen von der Parole: „Für die Menschheit was andres!“848 Letzteres gilt vor allem für die hier vertretene ältere Generation der um die Mitte der dreißiger Jahre Geborenen; explizit wird aber zugleich die Fassadenhaftigkeit dieser vordergründig am Sozialismus orientierten Haltung der Eltern entlarvt und von der Nachfolgegeneration in kritische Auseinandersetzung mit deren opportunistischem Verhalten im Nationalsozialismus gestellt. Diese diskrepante, pragmatische Haltung wurde von der Vergangenheitspolitik in der SBZ bzw. frühen DDR forciert. Insbesondere die KPD, später die SED, ermöglichten im Zuge der Popularisierung des kommunistischen Antifaschismusmodells vielen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und ‚Gesinnungsgenossen‘ eine politische Rehabilitierung für eine diametral entgegengesetzte ideologische Neuorientierung, die dann mit einer Parteimitgliedschaft in der SED besiegelt wurde.849 „Und dieser, jetzt sagen wir mal Stiefvater, der hatte ganz sicher hatte der Einfluss mit auf meine Erziehung. [...] er war ja nun ooch geprägt von dem andern System und das denk’ ich mal, so im Nachhinein betrachtet, ooch ziemlich lange noch. Der wurde aber von seiner Tätigkeit her mal zu ’ner Friedenskonferenz delegiert, [...] da hat er mal interessiert zugehört und da hat er jesagt, »Das is’ ooch o.k., was die da erzählt ham.« Und er hatte nun ooch so en Charakter: »Was ich jefressen hab’, müssen die andern ooch fressen.« [...] Und da wurden wir dann auch so geprägt.“850 „Ähm meine Mutter war stark engagiert. Meine Mutter ist sofort irgendwann nach ’45 in irgendeine Partei eingetreten [...] NUR das war ja genau das, was ich auch wieder entgegengesetzt zu meiner Mutter gemacht habe, ich kannte sie ja noch, wie sie »Heil« geschrieen hat. Ich kannte sie ja noch, wie sie ganz bestimmte Dinge mitgemacht hat, die ich als Kind zwar registriert habe ... Ja. Aber ich kannte auch ihre Anbiederung an ganz bestimmte Chargen und plötzlich machte sie eine Drehung um 180 Grad und trat in die SPD oder was weiß ich, KPD glaub’ ich nicht, und dann in die SED ein und machte genau das Gegenteil.“851 848 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 12; vgl. zum ersten Punkt V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 1. 849 Vgl. zur Problematik des kommunistischen Antifaschismus (Ende der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre) und seines integrationsorientierten Pragmatismus’ gegenüber ehemaligen NSDAP-Mitgliedern Melis, ‚Der große Freund ...‘. 850 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 20. 851 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 51 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus III – Unpolitisches Denken und Kompromissbildung

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Erst die Sekundärsozialisation wurde hier zum richtungsweisenden Moment für die später im Erwachsenenalter überwiegend bestimmende eher unpolitische, aber nicht unbedingt ablehnende Einstellung zum Staatssozialismus der DDR. Sozialisation bedeutete in der DDR schließlich ein „Hineinwachsen in die sozialistische Persönlichkeit“852, die vor allem kollektiv geprägt sein sollte. Die nahezu lückenlose Einbindung in die Jugendorganisationen trug außerfamilial dazu bei, die Interviewpartnerinnen ideologisch-gesellschaftlich entsprechend zu ‚konditionieren‘, war es auch ein ihren Aussagen nach lediglich vorgegebenen Mustern folgendes, erzwungenes Organisiertsein, das aber individuell ebenso gemeinschaftliche und kulturelle Funktionen zu erfüllen vermochte: „die Mitgliedschaft konstituierte sich zu sozialen und damit interessenproduzierenden Räumen.“853 Herr Arndt: „Na die FDJ hat uns ja auch damals was jeboten. Das war doch frohes Jugendleben ...“ Frau Arndt: „Ja, kulturell. Ja, kann man sagen. Is’ nie wieder da gewesen, was die alles jemacht ham. Das stimmt. Was dann nun so e für ’n politischer Hintergrund war in den einzelnen Gruppen, das weiß ich nicht. [...] Ich sag’ doch, nicht engagiert in der Richtung und so. Da war ich eigentlich ’n unbeschriebenes Blatt.“854 Eine aus dem Elternhaus geprägte kritische Distanz gegenüber der FDJ wird – diesem Grundverständnis der Jugendorganisation folgend – deswegen für das Jugendalter in den vorliegenden Fällen nicht deutlich, das fehlende Engagement erklärt sich lediglich aus einem vom Elternhaus sicherlich initiierten allgemeinen politischen Desinteresse.855 Das Bewusstsein jedoch, dass eine zugegebenermaßen unpolitische Haltung offiziell bereits als kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Staat und Sozialismus gedeutet werden würde, findet sich ansatzweise.856 Sofern also eine staatsloyale Erziehung in den einzelnen Familien nicht stattfindet, bilden sich vor allem im Jugendalter über die gesellschaftlichen Organisationen und innerhalb des Schulsystems sehr signifikant die ideologischen Grundüberzeugungen und Identifikationen mit der DDR als sozialistische Heimat aus, die zumindest von Formen der Zustimmung und sich entwickelnder Konformität begleitet sind, wenn auch größtenteils unreflektiert und unkritisch.

852 Trommsdorf, Geschlechtsspezifische Sozialisation, S. 389. Vgl. entsprechend die sozialistischen Erziehungsziele nach § 42 Abs. 2 FGB. 853 Hübner, Peter, Die FDJ als politische Organisation, S. 68. 854 V-Transkript Nr. 12/1+2, Herr und Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 47. 855 „Diese Veranstaltungen, die ’s da gab, wo der Sigmund Jähn, ja ((lachend)) hier durch [Ortsname] is’. Da sollten wir mit ’m FDJ-Hemd am Straßenrand winken und solche Sachen. Da hat meine Mutti gesagt, »Wenn de keene Lust hast, gehste ni’ hin.« [...] Aber dass wir jetzt dagegen waren, kann man ni’ sagen. Mitläufer eben.“ V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 27 f. 856 Sie wäre beispielsweise schon in Konfrontation zum Familiengesetzbuch gestanden. Dies sah eine Erfüllung der sozialistischen Erziehungsaufgaben lediglich in der gemeinsamen Erziehungsarbeit von Eltern und staatlichen Erziehungsanstalten sowie den Pionierorganisationen und der FDJ gewährleistet. Vgl. § 42 Abs. 4 FGB. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen

„Wie gesagt, ich hatte einen ziemlich naiven und auch blauäugigen Blick auf diese ganzen Dinge [...] Vieles war auch positiv, also, aber ich hab’ das nie politisch gesehen, ja. Ich hab ’s nie politisch gesehen, sondern ich hab ’s immer in irgendeiner Form beruflich gesehen. Das heißt also, äh ich hab’ mich nie, wie soll ich sagen, mit der FDJ irgendwie dort beschäftigt, um FDJ-Mitglied zu sein, sondern ich war es [...] Man war das, aber ich war nie äh eingebunden mit Engagement. Es gehörte dazu, es gehörte zum alltäglichen Leben dazu.“857 „Fällt mir grad’ so mein erstes, mein erstes politisches Erlebnis ein, würd’ ich mal sagen, BEWUSST, bewusstes politisches Erlebnis ein. [...] Jedenfalls äh kommt der SCHULRAT [...] Und da stellte der die Frage, »Wer is’ in der FDJ? Der steht auf«, alles stand auf und ich blieb sitzen. (2) Der hat mich aber Maß genommen, warum ich da nich’ drinne wär’. [...] »SETZE DICH MIT EIN UND GEH’ DU REIN UND TU’ AUCH WAS.« So sinngemäß. Aber das war ’n Jefühl, alles stand auf und ich blieb sitzen. ((lacht)) Ich war de EINZIGE.“858

Die vorwiegend weiblichen Personen des Typus orientierten sich auffallend an einer den sozialistischen Erziehungszielen angepassten Lebensweise, die nahezu einhellig den „Grundsätzen der sozialistischen Jugendpolitik“ insbesondere dem Grundsatz 7, der die gesellschaftliche Aufgabe und Einbindung von Mädchen und Frauen definierte, zu folgen schien: Ziel ist es „ihnen nach ihrem Wissen und Können im Beruf und im gesellschaftlichen Leben Aufgaben an verantwortlicher Stelle zu übertragen und ihnen noch stärker das Bewusstsein zu geben, dass sie die in unserer Republik verwirklichte Gleichberechtigung der Frau im Interesse ihrer eigenen Entwicklung und der gesamten Gesellschaft voll nutzen müssen.“859 Diesem Grundsatz folgend, vollzieht sich die Einbindung der Interviewpartnerinnen auch in ihrer beruflichen Orientierung. Die bis dato angepasste politische Haltung beinhaltete zumindest eine den eigenen Wünschen entsprechende berufliche Orientierung. In diesem Stadium sind bei den Interviewpartnerinnen nahezu keine politischen Reglementierungen zu verzeichnen, die auf die familiale Herkunft oder religiöse Verankerung zurückzuführen sind, wie dies im Gegensatz in Typus I und II kontrastierend deutlich wurde. Auffallend ist entweder die Hinwendung zu klassischen Frauenberufen auf pädagogischem Gebiet, das heißt vor allem in den im Erziehungsbereich einzuordnenden Berufen oder – wie in zwei Fällen – eine besondere Einbindung in die beruflichen Frauenförderungsregeln der SED. Eine Ausbildung innerhalb eines „Sonderstudiums an Hoch- und Fachschulen“, das spezifisch auf junge Frauen und Mütter abgestimmt war und zu einem fachakademischen Abschluss führte, band diese Frauen während ihrer beruflichen Orientierung stark in die paternalistische ‚Obhut‘ des Staates ein; schließlich nahm dieses Programm insbesondere diejenigen Frauen, die „sich beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft bewährt haben und die durch die Versorgung der im Haushalt lebenden Kinder 857 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 50 f. 858 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 46 f. 859 „Zehn Grundsätze unserer sozialistischen Jugendpolitik“ (1967), zitiert in Trommsdorf, Geschlechtsspezifische Sozialisation, S. 389. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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besondere familiäre Pflichten tragen, in Studienformen auf, die ihre Arbeitsund Lebensbedingungen berücksichtig[t]en und die erfolgreiche Durchführung des Hoch- und Fachschulstudiums gewährleiste[t]en.“860 In den Fällen von Frau Arndt und Frau Rudolph reüssierte dies jeweils in einer Qualifikation als Diplom-Ökonomin. An den Pädagogischen Fachschulen der Volksbildung bestimmte ein stark politisch-ideologisiertes Studium den Ausbildungsweg der Erzieherinnen. Es beinhaltete neben der Vermittlung fachwissenschaftlicher Theorie, pädagogischer, psychologischer wie physiologischer Fähigkeiten und der Methoden zur Vorschulerziehung in einem überproportional hohen Verhältnis die ideologische Schulung im Lehrfach Marxismus-Leninismus. Während junge Frauen wie Frau Stegmann an die Fachschule gegangen waren, weil sie mit Kindern ‚arbeiten‘ und sich dort entsprechende pädagogische und didaktische Kenntnisse aneignen wollten861, gestaltete sich das Lehrangebot in der Ausbildung auf einer äußerst theoretischen Ebene, dessen praktische Umsetzung im späteren Berufsleben große Schwierigkeiten mit sich brachte.862 Die Ausbildung der Kindergärtnerinnen war auf die sozialistische Persönlichkeitsbildung der Kinder konzentriert, für die Kindergartenpädagogik und Ausbildungskonzeption offenbarte sich „ein Konglomerat von einengenden Faktoren in der didaktischen Konzeption und ein ethisch definiertes Manipulationsverständnis“, das schließlich „auf festgefügten Annahmen über die Erziehbarkeit und Bildbarkeit der Persönlichkeit“863 aufbaute. „Die ham eben genau nach dem Bildungs- und Erziehungsplan gearbeitet. [...] Da stand ja wirklich jeder Schritt, alles genau drinne. Und dieses Gesellschaftliche, was man dann übern Thälmann und über de NVA und das hab’ ich dann immer bissel abgeändert und das fand man ja nun überhaupt nich’ gut. ((lacht)) Genauso diese, um sieben wird halt=werden sich de Hände gewaschen, zehn nach sieben sitzt man am Tisch, tun mer Kaffee trinken und ... Diese Zeitangaben. Wenn halt e Kind musste, da MUSS es halt aufs Klo gehen, da kann ich doch ni’ sagen, »Du musst noch ’ne halbe Stunde warten, da is’ de Klozeit«, also. ((lacht)) [...] Das gehört alles in geordnete Bahnen, alles geplant.“864

Das Zitat von Frau Stegmann verdeutlicht am Beispiel des Kindergartenalltags das Hauptelement sozialistischen Erziehungsanspruchs, das – dem kollektivistischen Persönlichkeitsansatz verpflichtet – jegliches Bedürfnis und Zugeständnis individueller Entfaltung bereits im Kindergartenalter negierte. Getragen wurde diese Erziehungsideologie von inhaltlich stark politisch ausgerichteten 860 Anordnung zur Durchführung der Ausbildung von Frauen im Sonderstudium an den Hoch- und Fachschulen vom 15. 5.1970. Dokumentiert in: Staatliche Dokumente zur Förderung der Frau, S. 273 (§ 1 Abs. 1). Vgl. die staatliche Sozialpolitik der DDR in besonderer Konzentration auf die Frauen zu Beginn der siebziger Jahre, Kap. 6.1.2.1 bzw. erneut Schäfgen, Verdoppelung der Ungleichheit, v. a. S. 110–113. 861 Vgl. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 9. 862 Vgl. Höltershinken/Hoffmann/Prüfer, Gesamtprojekt, S. 459 f. 863 Ebd., S. 381. 864 V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 9. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erziehungs- und Bildungsinhalten sowie einem autoritären Erziehungsstil, der sich durch Reglementierungen jeglicher Art beispielsweise durch zeitliche Fixierungen des Tagesablaufs charakterisierte. Diese konnten, wie hier aufgezeigt, noch nicht einmal den primären Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. Bereits zu Beginn ihrer Tätigkeit als Kindergärtnerin entwickelte Frau Stegmann ein gewisses Unverständnis hinsichtlich der alltäglichen Formen der Bildungsund Erziehungsarbeit. Sie band ihre Kritik lediglich implizit in einen beruflichen Kontext ein, ignorierte allerdings die politische Dimension, die damit quasi eine Infragestellung des in der DDR damals vorherrschenden mechanistischen Sozialisationsmodells bzw. seiner Umsetzung in den öffentlichen Erziehungsanstalten im Bereich der staatlichen Volksbildung für sie persönlich mit sich brachte. Diese Lebensphase – jene der beruflichen Orientierung – wurde im von der SED geförderten Frauenprogramm von einer starken politischen Beeinflussung begleitet. Insbesondere die Teilnahme am „Sonderstudium“ ‚verpflichtete‘ zu einer ‚äußerlich sichtbaren‘ Identifikation (siehe folgendes Zitat). Auch wenn die eigentliche Motivation wenig politisch orientiert gewesen zu sein scheint, vollzieht sich hier dennoch ein nachweisbarer „Introjektionsprozess“ von staatlich vorgegebenen, ideologisch gefärbten, also sozialistischen Lebensweisemustern, der sich augenscheinlich an einer Mitgliedschaft in der SED ablesen lässt: „Aber das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, diesen Antrag, den hab’ ich noch nicht so bewusst geschrieben. [...] Bisschen mit Unterstützung von Jenossen, man musste da ja ’n Bürgen bringen. Und da war ich eigentlich nich’ so überzeugt, dass ich da was dazu beitragen kann [...].“865 „Und dann hab’ ich ’nen Antrag als Kandidat der Partei gestellt [...]. ’69 fing mer dann mit diesem Studium an (2) und da war ich dann sogar zeitweilig PARTEIGRUPPENORGANISATOR DER FRAUENSONDERKLASSE ((lachend)). Weil ’s keener machen wollte sonst und ich war ebent immer in allen Richtungen, sag’ mer mal aktiv. ’was organisieren und so ...“866 Der hier als solcher beschriebene dominierende formale Erziehungseinfluss von Schule, Jugendorganisation und Berufsbildung konzentrierte sich in der Darlegung vorwiegend daran, die Grundlegung eines stark internalisierten politischen Bewusstseins darzustellen, das heißt die Übernahme bestimmter vorgegebener politischer Einstellungen, Auffassungen und Überzeugungen in den eigenen primärsozialisierten Werte- und Normenkanon. Inwieweit die politischideologisierenden formalen Einflüsse in der familiären Umgebung kompensiert oder verstärkt wurden, ließ sich aus den Aussagen der Interviewpartnerinnen dabei lediglich bruchstückhaft nachvollziehen.

865 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 21. 866 V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 4 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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6.3.1.2 Konfrontationsauslösende Momente: Politische Naivität und Sippenhaftung Die InterviewpartnerInnen dieses Typus geraten – bis auf Frau Stegmann, die aufgrund einer politisch inkorrekten Äußerung im Arbeitsfeld staatssicherheitsdienstlich verfolgt wird und hier zuerst nähere Betrachtung findet – durch das politisch nonkonforme Handeln nahestehender Partner bzw. Freunde ins Visier des Staatssicherheitsdienstes. Diese auslösenden Konfrontationsmomente liegen bei Frau Giesen und Frau Arndt zunächst außerhalb des hier im Fokus stehenden zeitlichen Rahmens der Ära Honecker, dennoch werden ihre individualbiographischen Erfahrungen mit dem MfS im Erkenntniszusammenhang relevant, weil sich Kontrolle und Repression dieser beiden Personen bis zum Ende der achtziger Jahre kontinuierlich fortsetzen. Insofern werden die im Kontext dieser Arbeit stehenden Methoden der siebziger und achtziger Jahre in den Ausführungen von Kapitel 5.2 zwar Hervorhebung erfahren, für ein Verständnis der inneren Zusammenhänge darf die Darstellung aber nicht auf die frühen Erfahrungen mit dem MfS in den fünfziger Jahren verzichten. Zugleich kann die in Kapitel 5.1 dargelegte Verschiebung der repressiven Methoden und Arbeitsweisen des Staatssicherheitsdienstes in der DDR mit Beginn der siebziger Jahre exemplarisch aufgezeigt werden. „Und das wurde mir dann so ausgelegt, dass ich die Eltern aufgefordert hätte, Westfernsehen anzuschauen.“: In der nun vorliegenden Einzelfallschilderung eröffnet sich erneut eine Konfliktsituation – wie sie parallel in Typus II am Beispiel der Auseinandersetzungen Herrn Kunzes mit dem MfS aufgetreten war – innerhalb des Berufsfeldes der staatlichen Volksbildung. Auch hier barg eine politisch unkorrekte Meinungsäußerung in Zusammenhang mit einem besonders motivierten beruflichen Engagement als Erzieherin, das zuweilen auch kritische pädagogische Reflexionen beinhaltete und die theoretische Gesamtheit und praktische Umsetzung des sozialistischen Erziehungskonzepts kritisch sah, die Gefahr in sich, einen weitreichenden Konflikt mit dem Staatssicherheitsdienst zu provozieren. Zum Auslöser für diesen wurde ein Elternabend, bei dem Frau Stegmann als Leiterin einer Kindergartengruppe die Eltern darauf hinwies, dass die aggressiven Verhaltensweisen der Kinder untereinander und im Umgang mit Spielzeug vermutlich auch aus der starken Rezeption gewisser amerikanischer Action-Fernsehsendungen herrühren könnten. Aus diesem Grund verwies sie die Eltern nun selbst auf derartige Sendungen, um zukünftig einen kritischeren Umgang mit den Verhaltensweisen ihrer Kinder pflegen zu können. „Und zwar zu dem Elternabend sollt’ ich darauf einwirken, dass die Kinder nicht mehr alle Autos kaputt machen. Weil meine Leiterin hatte festgestellt, dass bei mir im Zimmer alle Autos kaputt waren. Und das kam DAHER, dass die immer ‘Colt Seavers’ gespielt haben. [...] Und meine Leiterin sagte, ich solle da drauf einwirken. Und als ich nun zu diesem Thema dann kam, hab’ ich gesagt, so sinngemäß, äh dass die Kinder diese Sendung eigentlich nicht anschauen sollten, weil se überhaupt nicht für Kinder ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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eignet ist und— wenn se sie doch ansehen, da würde es vielleicht mal gut sein, wenn se die Eltern mal mitschauen, um zu sehen, WAS die Kinder sich da anschauen. Und das wurde mir dann so ausgelegt, dass ich Eltern aufgefordert hätte, Westfernsehen anzuschauen. ((lacht)) [...] Und diese Frau hat mich dann natürlich gleich angegriffen. Ich sag’ jetzt mal die Frau G., damit Se wissen, was=wo die hingehört. Na ja, weil ihr Mann ist eben der Vorsitzende von der Stasi gewesen in [Ortsname] und der Vater, der Herr G., der war in [Ortsname] irgendwie ’n oberster Stasi [...]. Was ich allerdings zu dem Zeitpunkt nicht gewusst hab’, also.“867

Im Vorfeld des offiziellen Teils dieses Elternabends wechselte Frau Stegmann zudem mit einigen Eltern private Worte und berichtete hierbei von ihrer zurückliegenden Reise nach Georgien. Besagte Mutter eines Kindes, Ehefrau des ansässigen Kreisdienststellenleiters des MfS und zugleich Schwiegertochter des Leiters der Bezirksverwaltung belauscht diese Gespräche, wie die MfS-Aktenlage widerspiegelt.868 Die Aussagen von Frau Stegmann bezüglich ihrer Eindrücke aus Georgien, die quasi als „Verleumdung des sowjetischen Bruderlandes“ eingestuft wurden und zusätzlich die ‚Aufforderung‘ an die Eltern ‚Westfernsehen‘ anzusehen, führten zu einer „MfS-Eigeninformation“ der Familie G. und infolge zur Einleitung sofortiger Maßnahmen der beruflichen Disziplinierung. Die Abläufe entsprechen hier vergleichbar dem Vorgehen gegen Herrn Kunze. Es wird ein einheitliches Muster der beruflichen Disziplinierung in der Zusammenarbeit mit den Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens erkennbar. Auch Frau Stegmann fand sich am Morgen nach dem Elternabend in einer Dienstbesprechung mit der Kindergartenleiterin und der gesamten Belegschaft wieder, um Rechenschaft über den Verlauf des Elternabends abzugeben. In diesem Zusammenhang verbalisierte die Leiterin des Kindergartens das Einwirken des MfS in die Angelegenheit, mitgeteilt wurde dabei jedoch lediglich, „dass weitere Maßnahmen eingeleitet werden“. Sofortige Maßnahme aber sei das Verbot jeglicher Fortsetzung ihrer Arbeit.869 Nach einer weiteren Vorladung beim Schulrat, bei welcher auch Mitarbeiter der Staatssicherheit anwesend waren, eröffnete man ihr, als Pädagogin politisch „untragbar“ geworden zu sein, weshalb sie als Erzieherin nicht weiter arbeiten könne.870 Bei Frau Stegmann wird im Moment der Konfrontationsauslösung, ebenso wie bei Herrn Kunze, eine sofortige und massive Ausgrenzung im beruflichen 867 V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 3 f. 868 „In diesem Zusammenhang [Auftreten der Kopfläuse im Kindergarten] sprach sie von ihrem Urlaub: ‚Bei den Russen ist es Gang und Gebe. Im Bus stand mir einer gegenüber, bei ihm sind die richtig auf dem Kopf rumgerannt. Ich war direkt an der türkischen Grenze, dort kennen sie sowieso keinen Gorbatschow, bei denen gibt es immer noch Stalin.‘“ MfS-Akte Frau Stegmann (BStU, ASt. Chemnitz, 1303/87, Bl. 3). 869 „An dem Tag durft’ ich nach der Dienstberatung dann gehen. Nicht mehr in meine Gruppe. Also ich durfte nicht mal meine Tasche rausholen aus der Gruppe.“ V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 4. 870 Vgl. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 4 f. bzw. MfS-Akte Frau Stegmann, Maßnahmen (BStU, ASt. Chemnitz, 1303/87, Bl. 4). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Umfeld deutlich, dennoch scheinen die Methoden ihrer Disziplinierung subtiler und weniger konkret greifbar. Von Anfang an lässt sich eine Taktik der Verschleppung und Verschleierung, was die eigentlichen Ursachen und Gründe für die sich nun abzeichnende berufliche Degradierung anbelangt, erkennen. Man legt ihr weder Kündigung noch Unterlagen vor, die eine Anzeige von Frau G. bestätigen würden. Auch das Zusammenwirken von POZW und MfS erschließt sich ihr nicht. Im Gegensatz zu Herrn Kunze eröffnet sich für Frau Stegmann auch keine wirkliche Angriffsfläche, gegen die sie aktiv agieren bzw. sich zur Wehr setzten kann. Sicherlich auch weil sie quasi unbewusst und unbeabsichtigt mit einem alltagspraktischen pädagogischen Sachverhalt einen politischen Konflikt ausgelöst hatte, ohne auch nur im geringsten eine Vorstellung seiner persönlichen Tragweite zu haben; zumindest wurden aus ihren Äußerungen für den Verlauf der weiteren Disziplinierungsmaßnahmen keine konkreten Formen von Resistenz bzw. Gegenwehr erkennbar. „Da stand der im Trainingsanzug da und da sagt’ er, Ich hab’ ’n Schwur verweigert.“: Wie bereits angedeutet, ergab sich bei der Mehrzahl der hier typisierten Personen ein besonders übereinstimmendes Merkmal, was die Auslösung des Konflikts mit dem MfS anbelangt. Einheitlich trifft für sie zu, dass sie allein durch das ‚staatsfeindliche Agieren‘ von Freunden und Bekannten bzw. Lebensoder Ehepartnern, an dem sie selbst völlig unbeteiligt sind, in eine Konfrontation mit dem MfS gelangen. Lediglich die enge freundschaftliche bzw. enge persönliche Bindung löst eine Bearbeitung durch das MfS aus und wird in einigen Fällen zum lebensbegleitenden und bestimmenden Moment der Biographie in der DDR. Frau Arndt, verheiratet mit einem angehenden Offizier der NVA und überzeugten Kommunisten, gerät ins Visier der Staatssicherheit, weil dieser am Tage seiner Vereidigung die Erfahrungen im Grenztruppendienst mit den theoretischen Zielstellungen des Sozialismus in der DDR aufrechnet, seiner Kritik am Vorgehen der staatlichen Gewalten in Ungarn Ausdruck verleiht und seine negative Einstellung zur Oder-Neiße-Grenze demonstriert, um schließlich kurzschlussartig den Dienst als Offizier bei den Grenztruppen zu verweigern.871 Seine plötzlich auftretende politische Illoyalität wird dabei eng in Zusammenhang mit seiner Freundin und baldigen Ehefrau gesehen, er soll demnach erst „seit er Verbindung mit einem Mädchen aus [Ortsname] hat negativ in Erscheinung“872 getreten sein. „Es war der 28. oder 30. Mai 1958, da klingelt ’s an der Tür und mein Mann stand im Trainingsanzug da. Ich sag’, »Was is’ ’n nu’ los?« [...] Da stand der im Trainingsanzug da und da sagt’ er, »Ich hab’ ’n Schwur verweigert.« Und das, also wissen Se, das is’ wie e Blitz BEI EINEM Menschen, der überzeugt ist und damals freiwillig, damals war das noch freiwillig, dazu gegangen is’, da hab’ ich gedacht, das kann nich’ wahr sein. Ich hab’ aber den politischen Hintergrund gar nich’ so begriffen. War ja noch recht jung, 871

Vgl. die Schilderung des Hergangs und der Beweggründe in den Äußerungen von Herrn Arndt in Kap. 6.3.2.2. 872 MfS-Akte Herr Arndt, Maßnahmeplan (BStU, ASt. Halle, ZMA-Nr. 7444, Bl. 9). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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23. Und meine Mutti sagte, »Junge, wie kannst du so was machen? Da kannste aber froh sein, dass die dich nicht eingesteckt haben.« Das hatt’ ich ooh noch nicht kapiert, NE. Und da ging ’s eigentlich los. Im Nachhinein jetzt, sehe ich das so.“873

Aus einer ähnlichen Konstellation entzündet sich auch die Konfrontation von Frau Giesen, die ohne eigenes Zutun in eine hochbrisante politische Angelegenheit verwickelt wird, die für sie selbst politisch wie zwischenmenschlich nicht nachvollziehbar wird, die aber ab diesem Moment ihr gesamtes bisheriges Leben verändern soll. Während ihres Studiums zur Berufsschullehrerin für Deutsch und Literatur in S. befindet sie sich in einem studentischen Freundeskreis, aus welchem eine Person im Jahre 1955 ausbricht und ohne jegliche Vorankündigung die DDR durch Flucht verlässt, weil sie aufgrund der Bildung einer staatsfeindlichen Organisation bereits strafrechtlich verfolgt wurde. „Das wurde dann direkt, wir waren eine Vierergruppe, also zwei junge Männer und zwei junge Mädchen. [...] So und ich weiß noch heute, dass äh, dass wir abends zum Film verabredet waren, Kinokarten hatten und ich weiß sogar noch den Film: »Die Fledermaus.« ((Lachen)) Und irgendwann kam der Freund meines Studienfreundes und sagt, »H. kann nich’ kommen. Er ist weg.« Das heißt, ich bin DORT das erste Mal MITTEN hineinGEFALLEN, gestoßen, ich weiß nich’, wie ich das ausdrücken soll. Ich bin irgendwie in ein Loch gefallen, ich=ich konnte mir das überhaupt nich’ vorstellen. Ich wusste nich’ warum, ich wusste nicht den Grund, ich wusste nicht, warum man nicht Auf Wiedersehen gesagt hatte oder irgendetwas. [...] Und am nächsten Morgen holte mich die Stasi.“874

Von diesem Moment an setzten kontinuierliche, ohne Vorankündigung praktizierte Verhöre der Staatssicherheit gegen Frau Giesen ein. Ihr wird klar, dass sie unverschuldet in eine Situation „MITTEN hineinGEFALLEN“ war, die von nun an eine große persönliche Gefahr für sie beinhalten sollte. Sie wird zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS als inoffizielle Mitarbeiterin genötigt. Sie soll sich als aufrechte Staatsbürgerin beweisen, da sie eine Tätigkeit in der staatlichen Volksbildung anstrebt. Infolge dieser ersten Auseinandersetzungen werden Wahrnehmungen und Denkstrategien deutlich, die wiederum Handlungsweisen provozierten, welche sie für das MfS nun selbst zur „feindlich-negativen Person“ erwachsen ließen. „Und ich war FASSUNGSLOS, ja. [...] Und äh— man hat mich dazu befragt und ich konnte also zu diesem Vorgang, zu seiner Flucht, zu irgendetwas überhaupt keine Aussage ... Ich WUSSTE ja im Prinzip auch nichts. Und dann fingen, wie gesagt, diese Verhöre an, ich wurde also aus der Vorlesung geholt, ich wurde wieder vom Internat geholt und ich sollte eben sagen und ... Die wurden immer drastischer, diese Verhöre, die wurden immer, wie soll ich sagen, man legte immer einen Zahn zu. Und ich wusste nich’, wann kommt ein Verhör, was kommt auf mich zu, ich lebte in einer permanenten Angespanntheit, ja. Ich wusste nicht, was passiert. Auf der einen Seite wusste ich nicht WARUM und auf der anderen Seite war diese Gefahr da. Und immer zwei Stasioffiziere, in den meis873 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 1. 874 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 2 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ten Fällen war auch noch der äh Direktor dabei. [...] Und dann wurde mir also gesagt warum. Er hätte also mit einer äh Gruppe, eine Gruppe gegründet [...] die Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden hätten und die ablieferbar gewesen wären [...]. Und ähm, ich hätte also, in dem Sinne wäre er ein Staatsfeind und ICH habe also mit einem Staatsfeind sympathisiert und ich sollte mir doch äh überlegen, was mir für Konsequenzen erwachsen. Und ähm ich sollte eben für die Stasi arbeiten.“875

Waren die weiteren Begründungszusammenhänge dieses Typus vor allem die Aktivitäten bzw. die Einflussnahme von Bundesbürgern, die für die DDR-Bürgerinnen zu Disziplinierungsmaßnahmen des MfS führten, so sind es nun lediglich Brieffreundschaften, die durch ihren jugendlich unbekümmerten, aber provozierend politisierten Inhalt staatssicherheitsdienstliche Relevanz erlangten876 oder auf der anderen Seite der von jeglicher politischer Gesinnung freie, ganz dem individuellen Lebensglück ausgerichtete Wunsch eine Ehe mit einem Bundesbürger zu schließen: „Aber es war ebent ooch so rein menschlich [...].“877 Im letzteren Fall zeigte sich folgende Problematik: Von ihrem Verlobten gedrängt und auch aus eigener Überzeugung ermutigt, stellt Frau Rudolph einen Antrag auf ständige Ausreise in die BRD (im Sinne einer Familienzusammenführung gemäß der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975), ohne sich der möglichen Konfrontationssituation im angemessenen Maße bewusst zu sein. Besonders aussagekräftig und im Prinzip für alle Fälle zutreffend ist eine sehr typische Arglosigkeit gegenüber möglichen staatlichen bzw. staatssicherheitsdienstlichen Eingriffen. Im Falle von Frau Rudolph gestaltet sich diese wie folgt: Noch vor der eigentlichen Antragstellung offenbart sie ihre zukünftige Lebensplanung ihrem Vorgesetzten, der als Mitglied beim Rat des Bezirkes eine hohe parteipolitische Position inne hatte, in einem vermeintlich privaten Gespräch. Bevor dieser die Informationen umgehend an die zuständige Kreisdienststelle des MfS weiterleitet, macht er sie selbst auf ihr gesellschaftsschädigendes Verhalten aufmerksam, insofern er ihr vorwirft, „dass ihre Handlungsweise mit der Grundhaltung einer Kommunistin nicht in Übereinstimmung“ stehe. Sie jedoch „geht auf keine Argumente ein. Sie sieht nur eine Frage. Sie wird diesen Mann heiraten und in die BRD gehen. Selbst auf die Argumente, dass sie das Kollektiv verrät, ihre Kinder in die imperialistische Welt mitführen will, geht sie nicht ein.“878 875 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 3 f. 876 „[...] das war eigentlich diese, wie nennen se ’s, postalische Verbindung zu diesem F. [...] Ja und dann hab’ ich das von meiner Studienablehnung, hab’ ich ihm das geschrieben und— er hat dann, war ooch e lustiger Typ ((lachend)), er hat dann halt solche Sachen geschrieben äh, wie hat er gesagt, (10) ((blättert in den Akten)), »Soll ich meine Beziehungen zu Genscher, Kohl und Schmidt spielen lassen? [...] Oder wie wär ’s mit einem Fall [Friedrich] – Zukunftschancen eines Mädchens in der DDR’ bei Löwenthals ZDF-Magazin. Bei uns ist alles machbar.« [...] Das denk’ ich=das denk’ ich war vielleicht der Anlass.“ V-Transkript Nr. 28, Frau Friedrich, 30. 5. 2001, S. 4 f. bzw. der gleiche Wortlaut vgl. MfS-Akte Frau Friedrich (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 153). 877 V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 7. 878 MfS-Akte Frau Rudolph (BStU, ASt. Leipzig, 4500/76, Bl. 16–17). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Bereits am nächsten Tag, ohne dass sie bis dato tatsächlich einen Antrag gestellt hat, wird sie ihrer Tätigkeit als Sektorenleiterin für Ökonomie enthoben, das heißt fristlos entlassen, und zudem wird sofort ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet.879 Die Anlässe der jeweiligen MfS-Konfrontationen mündeten in den hier zu betrachtenden Fällen vor allem in einer starken beruflichen Disziplinierung. Von zahlreichen Schikanen, Degradierung, kontinuierlichen Misserfolgen, Auflösung der sozialen Bindungen und bewusster Ausgrenzung aus dem Arbeitsfeld bis hin zur Zerstörung beruflicher Existenz ist im Folgenden die Rede. Für die DDR-Gesellschaft sind in diesem Kontext die engen sozialen Bindungen von individueller Lebenswelt und Arbeitsbereich wesentlich. In der Praxis existierten in Betrieben stets „formale und informelle Strukturen, die unter planwirtschaftlichen Bedingungen nur andere Ausformungen [...] aufweisen“.880 Insofern war jeder staatliche Betrieb in der DDR ebenso ökonomisch wie parteilich bzw. durch die gesellschaftlichen Organisationen in sich strukturiert. In unterschiedlichem Maße wirkten die Betriebsparteileitungen der SED, die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) sowie die Leitungen der FDJ politischen Einfluss auf die jeweiligen Angestellten und Arbeiter aus, banden sie in betriebliche Aktivitäten ein und übten im gegebenen Falle am Arbeitsplatz als Partner des POZW für das MfS eine ausgewiesen effektive Kontroll- und Disziplinierungsfunktion aus. Dieses realsozialistische Integrationsmuster erlangte für die Werktätigen in der DDR eine nicht nur ökonomische, sondern ebenso gleichwertige soziale Bedeutsamkeit, die stets einem parteipolitisch-agitatorischen Einfluss unterstand. Die in den Betrieben gebildeten Arbeitskollektive und Brigaden wertete man insofern auch als „soziale Grundeinheiten der sozialistischen Gesellschaft“, die „aktiven auf die Gestaltung der ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungsprozesse Einfluss“881 nehmen sollten. Spezifisch der Arbeitsplatz im VEB, letztlich aber die berufliche Tätigkeit in der DDR im Allgemeinen beinhaltete, also stets immense soziale Wertigkeiten882; sie formte einen „soziale[n] Raum“ und ein „konkretes Handlungssystem“ als integralen Bestandteil der individuellen Lebenswelt aus.883 Im Sinne der Definition von MARZ wurde bereits in diesem Zusammenhang terminologisch von so genannter Beziehungsarbeit gesprochen.884 Dieses sich aus einer 879 Vgl. V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 6 f. 880 Weil, Betrieb als sozialer Raum, S. 307. 881 Vgl. Ökonomisches Lexikon der DDR, Band 2, zitiert in Kreißig, „Realsozialistische“ betriebliche Machtstrukturen, S. 116. 882 „Die soziale Betreuung der Werktätigen ist Aufgabe der Betriebe. Sie ist gemeinsam mit der Betriebsgewerkschaftsleitung und den Leitungen anderer gesellschaftlicher Organisationen planmäßig entsprechend den sozialpolitischen Erfordernissen [...] zu verwirklichen.“ § 58, Arbeitsgesetzbuch der DDR, S. 58. 883 Welskopp, Betrieb als soziales Handlungsfeld, S. 130. Vgl. ebenso die empirische Auswertung der äußerst kritischen Bewertungen und Äußerungen zu diesem Komplex in Typus I, Kap. 6.1.2.1. 884 Vgl. ebd. Kap. 6.1.2.1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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spezifischen betrieblichen Sozialpolitik ausbildende, durch die veränderte Form der Erwerbsarbeit intragesellschaftlich homogene Beziehungsgeflecht entsprach primär der theoretischen gesamtgesellschaftlichen Konzeption in der DDR, wurde jedoch schließlich sekundär für staatssicherheitsdienstliche Eingriffe kontradiktorisch, also seiner eigentlichen integrativen Intention entgegen, für die operative Arbeit des MfS missbraucht.

6.3.1.3 Berufliche Degradierung und Erzeugung kontinuierlichen Misserfolgs – Zerstörung beruflicher Perspektiven sowie sozialer Beziehungsgeflechte Existenzielle Isolierung und Etablierung „latenter Angst“ durch konspirative Verpflichtung zur IM-Tätigkeit: Frau Giesens Konfrontation mit dem MfS begann wie bereits geschildert im Jahre 1955 mit der Flucht des Studienfreundes in die Bundesrepublik. Ab diesem Zeitpunkt befand sie sich als „Sympathisantin des Klassenfeindes“ im Visier der Staatssicherheit. Die über lange Zeit andauernden ‚Aussprachen‘ mit dem Direktor der Fachakademie und den beisitzenden Mitarbeitern des MfS reüssierten letztlich in der – zunächst – ‚erfolgreichen‘ Anwerbung von Frau Giesen als inoffizielle Mitarbeiterin; schließlich drohte man ihr bei Ablehnung dieser ‚Tätigkeit‘ mit sofortiger Exmatrikulation. „Jedenfalls ich habe dann, wofür ich mich JahrZEHNTE geschämt hab’ und worüber ich NIE— gesprochen habe, aus dieser Angst heraus, habe ich ’ne Verpflichtungserklärung [als IM] unterschrieben. Und auch ’ne Schweigeverpflichtung. Und ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass ich das NIE tun würde. [...] Ich meine in der damaligen Zeit war das ja alles noch viel, viel prägnanter, das war ja ein Terror. Unvergleichlich, was ich dann eben später auch wiedergefunden habe, [...] dass es ein SYSTEM war. Und das ist mir damals überhaupt nicht bewusst geworden, ich hab’ mit NIEmandem darüber gesprochen, mit NIEmanden. [...] Ich war SO allein mit diesen Entscheidungen und ich hatte SO wahnsinnige Angst. Also das ist ... Und ja jedenfalls ich hab’ mich eben geweigert und irgendwann wurde ich wieder geholt und wieder gefragt und dann kamen natürlich massive Drohungen und dann wurde ... Hab’ ich gesagt, »Ich mache das nicht«, und dann sagt er, ich bin nicht tragbar als zukünftige Pädagogin. Und— sie würden (1) mich exen. Ja. Also der Direktor sagte das und IMMER im Beisein dieser Stasioffiziere. Ein Bild könnte ich heute noch als Phantombild zeichnen. (2) So, da war ein verlängertes Wochenende. [...] Und ich hab’ nur meinen Handkoffer genommen, nur das Nötigste eingepackt, NICHTS weiter mitgenommen. [...] Bin in Berlin ausgestiegen, (2) bin irgendwann, wo weiß nich’ mehr, über die Sektorengrenze gegangen, hab’ mich bei einem Polizeirevier gemeldet, hab’ gesagt, »Ich bin politischer Flüchtling«, ich weiß noch, ich hab’ mich geschämt, aber ich musste ja irgendwo bleiben [...].“885

Unbeirrt verweigerte sie sich der effektiven Zusammenarbeit mit dem MfS. Bevor die massiven Androhungen einer möglichen Exmatrikulation jedoch Realität werden sollten, entschied sich Frau Giesen für einen letzten Ausweg. Das 885 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 4 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Phänomen einer permanenten Angstsituation spielte hierbei eine große Rolle, ebenso die damit in direktem Zusammenhang stehende soziale Vereinzelung, die sich nach der Unterzeichnung der Schweigepflichterklärung für sie selbst einstellen sollte. Ein letzter Ausweg fand sich für sie damit lediglich in der Nachahmung des Fluchtmodells; sie gab ihre materielle und soziale Existenz auf, um dieser für sie aussichtslosen Situation zu entkommen und flüchtete 1955 über die Berliner Sektorengrenze in die Bundesrepublik. Deutlich wird aus diesen Schilderungen zugleich, dass für die Betroffenen das MfS ein quasi nicht einzuordnender Faktor blieb: Das „SYSTEM“ hinter den Maßnahmen wird nicht greifbar. Die Partner des POZW fungierten als Erfüllungsgehilfen der von der Staatssicherheit angewiesenen Sanktionen; wobei im vorliegenden Falle die MfSMitarbeiter sogar konkret in Erscheinung traten, um den psychischen Druck auf Frau Giesen wohl zusätzlich zu erhöhen. Nun tritt ein allein für die fünfziger Jahre typisches Phänomen staatssicherheitsdienstlichen Agierens in Erscheinung, das zuständig war für die Rückholung abtrünniger DDR-BürgerInnen aus dem westdeutschen Bundesgebiet. Dies geschah in manchen Fällen unter Gewalteinwirkung und ohne den Willen der Betroffenen. Dem Druck der eigenen Familie nicht gewachsen, kehrte Frau Giesen unter ‚freiwilligen Zwang‘ und mündlicher Garantie einer Reintegration in die DDR-Gesellschaft zurück. Die von Frau Giesen als den staatlichen Stellen und der Partei linientreu beschriebene Mutter gelang es unter starkem psychischen Familiendruck, die Tochter zu einer Rückkehr in die DDR zu bewegen. Ob der Staatssicherheitsdienst tatsächlich an dieser Rückholaktion beteiligt war, wie Frau Giesen mit Hinweis auf eine „Rückhol-DA Nr. 1/54“ argwöhnte, wird aus ihren Aktenlagen nicht ersichtlich.886 „[...] bin zu meinem Onkel nach äh, in der Nähe von Mannheim gefahren. Und der hatte nichts Eiligeres zu tun, als meiner Mutter, ich weiß nicht, ob er telegrafiert hat, ob er geschrieben hat und meine Mutter wieder. Sie war in [Ortsname] und sie hat mit IHNEN gesprochen, sie hat nicht gesagt mit wem. Sie hat mit ihnen gesprochen, mir passiert nichts, ich soll zurückkommen. Ich hab’ gesagt, »Nein«, ich hab’ mich also geweigert. [...] Ich war wieder geschockt, ich war fassungslos, ich wollte nicht weg, ich hatte wieder Angst mmh zurückzugehen nach diesen DROHUNGEN. Und wenn ich einen Tag in meinem Leben ungeschehen machen könnte, und ich seh’ mich heute noch in diesem=in diesen Zug VERFRACHTET, dann ist es dieser Tag. Ich hätte an der nächsten Station aus886 Die Recherchen der Verfasserin zu der von Frau Giesen in diesem Zusammenhang erwähnten MfS-DA Nr. 1/54 (vgl. V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 45), deren Gegenstand es angeblich war, aus der DDR geflüchtete BürgerInnen mit Hilfe von Verwandten ausfindig zu machen und in die DDR zurückzuholen, gelangten bisher innerhalb der allgemeinen Nachforschungen und eines noch laufenden Antrags bei der BStU Berlin/Abt. Bildung und Forschung zu keinem Ergebnis. Damit konnte die Existenz der „Rückhol-DA“ bis dato nicht bestätigt werden. Nachweisbar sind allein verstärkte Maßnahmen auf Regierungsseite, die eine Reaktion auf die ansteigende Zahl der Flüchtlinge in den Jahren 1954 und 1955 darstellten. Eine Beschlussvorlage für das Politbüro im Juni 1956 sah beispielsweise „Zivilamtliche Kommissionen“ bei den Räten der Kreise vor, die u. a. Eingliederungsprobleme von Rückkehrern prüfen und begleiten sollten. Vgl. Lemke, Einheit oder Sozialismus?, S. 364 (FN 96). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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steigen müssen und hätte sagen müssen, »Nein, ich=ich geh’ nicht zurück.« [...] Und ich habe wirklich meiner Mutter vertraut, »Dir passiert nichts, dir passiert nichts!« Was mir passiert ist, is’ ’ne kaputte Biographie. Und eine über Jahrzehnte manipulierte. Und das is’ äh ... Ich bin zurückgekommen, musst’ ich natürlich in de Produktion. Ich hatte damals schon ’n BRD-Ausweis. Mich in der Produktion bewähren, das heißt also erst war ich in der Küche und dann wurd’ ich ins Drei-Schicht-System gesteckt und ja [...] Meine Mutter hat mich AUF der Stelle fallen gelassen. Das heißt also, sie hatte ... Und heute bin ich mit ABSOLUTER Sicherheit davon überzeugt, dass sie mich damals im Auftrag der Stasi zurückgeholt hat.“887

Ab diesem Zeitpunkt begann für Frau Giesen eine berufliche Odyssee, das Studium durfte sie nicht erneut aufnehmen, schließlich war sie exmatrikuliert worden. Jede Stelle, die sie nach der ‚Bewährungsphase‘ in der Produktion antrat, begann jeweils mit „Aussprachen“ bei den Betriebsdirektoren und Kaderleitern: „Immer wieder und immer wieder und immer wieder und warum ham sie das Studium abgebrochen [...]“?888 Allerdings nun nicht mehr mit ersichtlichem Auftreten der Staatssicherheit und ohne eine direkte Anknüpfung an ihre damalige IM-Tätigkeit, wohl aber in Anspielung auf ihre Schweigepflicht und damit implizit dennoch als Form einer permanenten Disziplinierung des MfS durch die Kaderleitung der jeweiligen Betriebe. Ihre berufliche Beurteilung nach ihrer Tätigkeit am Theater in W., gerichtet an die Intendanz des FDGBEnsembles in einer anderen Kreisstadt, wo Frau Giesen eine neue Stelle als Tänzerin antreten sollte, bestätigt diese Befürchtungen: In der Kaderakte ist ihr zeitweiliger Aufenthalt in der Bundesrepublik negativ verzeichnet. Zudem wird er zum Anlass genommen – diese Stigmatisierung soll ab diesem Zeitpunkt biographisch begleitend werden –, ihr eine unmoralische Lebensweise, insbesondere im Sinne promiskuitiver Handlungen, zu unterstellen.889

887 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 8 f. 888 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 9.; vgl. dieselben Erfahrungen bei den folgenden Arbeitsstellen, ebd., S. 11–14. Vgl. dazu die Ausführungen zum Phänomen der Rückkehrer in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre und ihrer staatlichen Integration: „Kehrten doch einige von ihnen zurück, begegnete man ihnen mit Misstrauen. Eine Konzentration von Rückkehrern in bestimmte Gebiete und Betriebe und deren Zuzug in ‚Grenzkreise‘ verhinderten die staatlichen Organe aus Sicherheitsgründen. Der Rückkehr ‚krimineller und asozialer Elemente‘ glaubte man durch das Anlegen einer zentralen Kartei begegnen zu können.“ Lemke, Einheit oder Sozialismus?, S. 364. 889 „Kollegin [Giesen] wurde am 1. 8.1956 in unserer Tanzgruppe eingestellt. Sie kam aus der Produktion und hat von dort eine kritische Beurteilung. [...] Erotisch etwas leicht veranlagt, wobei sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn ihre Neigung soweit steigerte, ihrem Freund nach Westdeutschland nachzureisen.“ Kaderakte Frau Giesen, Beurteilung vom 26. 4.1958, Bl. 17; Kopie bei der Verfasserin. Diese Stigmatisierung bezüglich einer „unmoralischen Lebensweise“ findet sich in den chronologisch ab dato durchgehenden Ermittlungsberichten zur OPK. Vgl. beispielsweise die Eintragungen im Ermittlungsbericht der OPK der Abt. XX/7 des MfS in L.[eipzig] vom 24.1.1984: „Ihr Leumund wird aufgrund ihres moralischen Verhaltens als nicht gut beurteilt. So ist bekannt, dass sie öfters wechselnde Männerbekanntschaften hat.“ MfS-Akte Frau Giesen (BStU, ASt. Leipzig, 1860/84, Bl. 34). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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In diesem Kontext, insbesondere in der Biographie von Frau Giesen erscheint als ein signifikantes Unterdrückungsprinzip des MfS die Erzeugung und Grundlegung permanenter seelischer Angstzustände. Angst definiert sich hier zunächst im allgemeinpsychologischen unspezifischen Sinne, das heißt im Gegensatz zur Furcht, die als ein eindeutig lokalisierbares Phänomen wahrgenommen wird, als eine Emotion, welche eine negativ getönte Befindlichkeit im Sinne von Unbehagen, Unsicherheit, Grauen oder Schrecken verursacht. Spezifischer, in diesem Zusammenhang definiert, bedeutet Angst, dass der Verursacher oder die Ursache an sich nicht lokalisierbar werden, betont man hierbei insbesondere den kognitiven Charakter von Angst, so zentriert sie schließlich ein Gefühl von Machtlosigkeit. Für die indifferent erscheinende Angst können insofern auch keine adäquaten Handlungsmöglichkeiten gefunden werden. Diese dabei auftretende Stimulus- oder Reaktionsunsicherheit beschreibt Frau Giesen als stetiges Erfahrungsmoment ihrer damaligen MfS-Konfrontationssituation.890 „Dieses innerliche GESPÜR von Situationen für GEFAHR, von »Hier stimmt etwas nicht«, das hat mich NIE losgelassen. Und äh die Recherchen, die ich gemacht habe und die Antworten, die ich gekriegt habe, also von— der gefledderten Kaderakte bis zur Stasiakte, hat eigentlich DAS bestätigt, was mich seit dieser FRÜHEN Zeit, mein ganzes Leben lang verfolgt hat. Ich sage mit Absicht verf__ ja verfolgt, weil es, wie soll ich sagen, es gab ja nicht nur diese in Anführungsstricheln Verfolgungszeiten, es gab ja auch gute Zeiten, wo man sich wohl gefühlt hat, wo man sich nicht verfolgt fühlte, wo keine Angst da gewesen war ähm da gewesen ist. [...] aber es wurde immer, wie als wenn ’ne Tatze kam, zack, kam wieder irgendetwas dazwischen.“891

DDR-BürgerInnen wie Frau Giesen, welche ebensolchen staatssicherheitsdienstlichen Repressionen ausgeliefert waren, deren Handlanger über berufliche Strukturen agierten und das MfS als das im Hintergrund Fäden ziehende System nicht erkennbar machten, erfuhren den Aussagen folgend Züge einer solchen Angstform. Daher ist für die psychologische Situation solcher Menschen vor allem in der psychoanalytischen Forschung, die sich mit den Bedingungen des DDR-Staatssystems für den Einzelnen dezidiert auseinandergesetzt hat, vom Terminus der „latenten Angst“ die Rede, der sich wie folgt darstellt: „Latente Angst braucht Unterdrückung, Kontrolle und Beherrschung, sonst wird sie manifest und verursacht bedrohliche Zustände. Die Staatssicherheit gab diesem Unterdrückungsbedürfnis die Form und formte zugleich das eigene latente Angstpotential zum Ängstigen um.“892 Berufliche Degradierung durch verordnete Zuweisung unterprivilegierter Tätigkeiten – Soziale Marginalisierung und Erschütterung des Selbstwertgefühls: Von beruflichen Repressalien waren – wie bisher an diesem Typus aufgezeigt 890 Vgl. einführend zur kognitivistischen bzw. interaktionistischen Definition von Angst (auch i. S. von Stress) v. a. in Anlehnung an die Theorien von Epstein und Lazarus bspw. Krohne, Angst und Angstbewältigung, S. 4–18. 891 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 6 f. 892 Maaz, Gefühlsstau, S. 19 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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werden konnte – nicht nur aktiv bzw. öffentlich wahrnehmbare, gegen das DDR-System agierende Personen (Typus II) bzw. diejenigen, die es von Grund auf ablehnten und verlassen wollten (Typus I), betroffen, sondern ebenso jene, welche aufgrund kleinster lapidarer politisch inkorrekter Äußerungen auffielen. Derartige berufliche Disziplinierungen, wie sie Frau Stegmann schilderte, gründeten – zwar im negativ umgekehrten Sinne – ebenso auf die „politische Personalpolitik der SED: Berufliches Fortkommen war in der DDR vor allem durch politisches Wohlverhalten möglich.“893 In politische Dissonanz am Arbeitsplatz zu geraten, bedeutete aus staatssicherheitsdienstlicher Perspektive für die Betroffenen, dass zumindest eine gezielte Verhinderung des beruflichen Aufstiegs angewiesen wurde, eher aber eine mehr oder weniger subtil organisierte Erzeugung beruflicher Misserfolge mit Hilfe der Partner des POZW erfolgen musste. Auch Frau Stegmann war in ihrer Funktion als Erzieherin aufgrund ihrer Äußerungen während des Elternabends als staatlich nonkonforme Person negativ aufgefallen. Die besondere Konstellation, dass hier die Ehefrau eines Kreisdienststellenleiters als Mutter anwesend war, bedeutete für sie letztlich das berufliche Aus. In Unklarheit über den weiteren Fortgang des ausgelösten Verfahrens gelassen, begann ihre berufliche Degradierung, deren Wirkung – wie die „Operative Psychologie“ des MfS in einer ihrer wissenschaftlichen Arbeiten ausführte – darauf beruhen sollte, „dass ein Verdächtiger, der über längere Zeit berufliche Misserfolge erlebt, psychisch stark belastet und beeinflusst wird. Das kann schließlich zur Erschütterung des Selbstvertrauens führen.“894 „Da wurde mir mitgeteilt, dass ich äh Reinigungsarbeiten durchführen sollte, also als Putzfrau sozusagen arbeiten. Das hab’ ich ungefähr ’n Monat lang gemacht. Dann hat sich die Stellvertreterin dafür eingesetzt, dass ich praktisch Inventur machen könnte, dass ich nicht ganz so tief ... Ich meen, es ist ja ooch irgendwie peinlich für mich gewesen, na peinlich nich’, aber es war ’ne Belastung für mich. Aber ich durfte sauber machen und sobald irgende’ Kind in der Nähe war, musst’ ich gehen. Also ich durfte überhaupt kein’ Kontakt mehr zu de Kinder ham. [...] Also das war praktisch wie e Gefängnis, wo de dann immer gehen musstest, sobald de irgendjemanden gesehen hast.“895

Frau Stegmann wurde infolge dieser Arbeitsplatzbindung, zusätzlich durch ein auferlegtes Kontaktverbot zu den ehemaligen Kolleginnen, die sich merklich von ihr distanzierten und nicht den Mut der Solidarität aufbrachten896, und den Kindern aus ihrem beruflichen Umfeld isoliert. Zugleich eröffnete eine gezielt angewiesene soziale Marginalisierung Anzeichen sozialen Abstiegs und individueller Vereinzelung, denn selbst der Kontakt zu den mit ihr auf einer Ebene 893 894 895 896

Pingel-Schliemann, Zersetzen, S. 214 f. JHS GVS 001–11/78, S. 23, zitiert ebd., S. 218. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 5. „Ich mein’, da hat dann jeder Staatssicherheit gehört [...], wo se, so alt wie manche auch waren, auch wirklich eingeschüchtert waren. [...] Also direkt, dass jetzt jemand zu mir stand, kann ich jetzt nich’ sagen.“ V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 14. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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arbeitenden Frauen untersagte man ihr letztlich, zugleich unterstand sie nun personell einer anderen Reinigungskraft: „[...] ich wurde dann ’ner Reinigungskraft unterstellt. Und das war ja dann doch schon ... Ich mein’, ich hab’ nichts gegen diese Reinigungskraft gehabt und durch diese Arbeit mit diesen Reinigungskräften war ich dann ooch viel mit denen zusammen. Und das hat se [die Leiterin des Kindergartens] dann eben auch angemen__ angemahnt [...].“897 Zur damaligen Zeit wurde die Fülle der Maßnahmen gegen Frau Stegmann für sie nur schwer erklär- bzw. greifbar. Die Verschleierung der eigentlichen Gründe, die ihre berufliche Disziplinierung sowie die zeitliche Unbestimmtheit und das Ausmaß möglicher noch folgender Konsequenzen erwuchsen für Frau Stegmann zum lähmenden Faktor. Die geringe Reibungs- und Angriffsfläche, die ihr die ausführenden Stellen wie die Kindergartenleitung und der Schulrat boten, hinderten sie an einem aktiven Vorgehen gegen ihre berufliche Diskriminierung: „Ja, es kam dann nie richtig, dass jetzt mal gesagt wurde äh, »Sie ham jetzt diese Strafmaßnahme gekriegt, weil deswegen, deswegen, deswegen ...« Also das war alles so fließend, so ... Es wurde nie ’ne richtige Beschuldigung festgestellt. Oder direkt dass man mit dem, dass der Herr G. mir gegenüber saß und gesagt hätte, »Also, was Sie da gesagt ham, damit sind wir nicht einverstanden«, oder ... Also das war eigentlich so ’n bissel verschleiert.“898 Stattdessen zog sie sich mehr auf sich selbst zurück, denn auch in der Familie fehlte die Bereitschaft, sich ernsthaft mit politischen Dimensionen auseinander zu setzen, und zugleich waren hierfür auch die vertrauten kommunikativen Strukturen nicht gewachsen.899 Aus Angst vor weiteren Sanktionen arrangiert sie sich vorerst mit der Situation als Reinigungskraft. Wiederum wenig nachvollziehbar fiel nach einem halben Jahr durch Veranlassung des Schulrats die Entscheidung, dass Frau Stegmann nun als Gruppenhelferin im Kindergarten tätig sein dürfte, „weil se gesagt ham, ich bin noch jung und könnte mich noch ändern und Erfahrungen sammeln. Und sie hoffen, dass ich eines Besseren belehrt worden bin und wie man nun halt sozialistische Persönlichkeiten erzieht, müsst’ ich ja nu’ gelernt ham.“900 Aus ihrer Kaderakte jedoch sind dazu keine Eintragungen nachvollziehbar, weil diese nicht mehr existent ist.901 Mit dieser Stellung als Hilfskraft kam sie aber psychisch nicht 897 898 899 900 901

V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 8. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 12. Vgl. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 15. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 6. Im Jahre 1997 strengte Frau Stegmann ein Ermittlungsverfahren wegen Verleumdung gegen das Ehepaar G. an, welches sie nach Einsicht ihrer MfS-Akte für ihr berufliches Ausscheiden verantwortlich macht. Sie strebte dieses Verfahren im Zuge der vollen Rehabilitierung ihrer Berufsbefähigung an. Bestätigt wird das Verschwinden der Kaderakte in ihren eigenen Aussagen der Zeugenvernehmung (ZV), wo sie diese Tatsache unter Eid zu Protokoll gibt; auch der damalige Schulrat B. wird in dieser Angelegenheit zur Zeugenvernehmung geladen, aber zur Person von Frau Stegmann bzw. den Verbleib ihrer Kaderakte kann/will er keine Angaben machen. Vgl. Zeugenvernehmungsprotokoll Frau Stegmann bzw. Herr B. vom 17. 7.1997 (LKA Sachsen, Dezernat 425, Bl. 7 bzw. Bl. 2); Kopie bei der Verfasserin. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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lange klar. Sie wurde nämlich lediglich als „Springerin“ eingesetzt, was ihr den Beziehungsaufbau zu den Kindern wie zu den Kolleginnen weiterhin erschwerte und ihr jegliche Verantwortung, Anerkennung und Freude am Beruf raubte bzw. ebenso die Reintegration ins Kollektiv nicht möglich machte. Sie zog die Konsequenz und bat um Versetzung, der man aber nur vordergründig statt gab, denn man bot ihr keine Einsatzmöglichkeit an. Sie begann nun als ungelernte Arbeiterin in einem Textilwerk eine Hilfstätigkeit. „Ich mein’, die müssen sich ja ooch auf jede Erzieherin einstellen und das ging einfach nich’. [...] Und dementsprechend brauchen se ooch ihre Bezugspersonen. Das war einfach nich’ mehr möglich. Ich mein’, ich kam damit zurecht, mir hat ’s ooch noch Spaß gemacht mit Kindern zu arbeiten, aber mich hat ’s halt ooch sehr belastet. Und da hab’ ich dann um ’ne Versetzung gebeten, die war von [Ortsname]-Stadt auf [Ortsname]Land. Der ham se auch stattgegeben, allerdings hatten se ja keine Einsatzmöglichkeit für mich. Also war ich dementsprechend dann erst mal zu Hause, arbeitslos. Was es ja zu DDR-Zeiten eigentlich nich’ gab, aber ... Hab’ mich dann privat um ’ne Stelle hier bemüht, hab’ ich erst mal in ’ner Näherei angefangen.“902

Resigniert nahm sie zunächst von ihrem Traumberuf Abschied, entzog sich aber insofern strategisch zumindest dem psychischen Druck und der Kontrolle im Arbeitsumfeld des Kindergartens. Ihr späteres Verhalten während der Ereignisse im Herbst 1989 zeigt noch einmal deutlich auf, wie sehr es dem MfS durch Maßnahmen beruflicher Diskriminierung gelungen war, sie aus Angst vor weiteren Sanktionen einerseits ‚erfolgreich‘ aus dem Berufsfeld der Volksbildung zu eliminieren und andererseits zu einer ‚angepassten Persönlichkeit zu erziehen‘, die sich in ihre private Lebenswelt unter Ausbildung extremer Existenzängste und einer mehr denn je unpolitischen Haltung zurückziehen musste. „Und wo diese Demonstrationen waren, mein Mann war ja bei jeder Demonstration, ob das in [Ortsname] war oder in [Ortsname], der war ständig dabei. Und ich hatte aber immer dieses Gefühl, »Gehste jetzt dorthin? Wirste gesehen? Und fängt jetzt wieder irgendwas an?« Also ich hatte schon immer das im Hintergrund, »Na, dich ham se schon mal so abserviert und dabei haste nichts Schlimmes gesagt und wenn se dich jetzt bei der Demonstration sehen und das kommt doch nicht alles so, wie se sich das wünschen, dann machste wieder ’n Max.« [...] Ich hatte halt immer bissel Existenzangst. Und das war dann aber nach der Wende ooch nich’ anders, weil ich dann arbeitslos geworden bin. Also war es irgendwie, es is’ jetzt alles schön und gut, aber manchmal denk’ ich jetzt, wenn ’s so geblieben wär’, hättste vielleicht doch noch Arbeit. [...] Ich denke, es wär’ ooch vielleicht ’n bissel länger gegangen, wenn se mal e bissel nachgegeben hätten, früher. Und nicht alles so streng geblieben wär’ und mal e bissel auf die Leute eingegangen wären. “903

Als ein typisches Argumentationsmuster der Personen dieses Typus und des folgenden (Kapitel 6.3.2) ist auch die zuletzt geäußerte Feststellung zu interpretieren, die jegliche übergeordnete diktatorische Dimension des vergangenen 902 V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 5 f. 903 V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 18 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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DDR-Systems in der Rückschau ausblendet, auch in Bezug auf die individuell erfahrenen Systemverletzungen. Diese Verdrängungsarbeit findet dabei auch vor dem Hintergrund eines zu DDR-Zeiten gesellschaftlich implantierten Glaubens an die kommunistische Utopie und deren mögliche Umsetzung im Realsozialismuskonzept der DDR statt. Auf diese Überlegungen ist insbesondere vor den Erfahrungen des erlebten Systemwechsels und nachfolgenden Transformationsprozesses nochmals im Schlusskapitel (Kapitel 8) im vergleichenden Kontext der anderen Typen einzugehen. Kollektiv demonstrierter Parteiausschluss und Entlassung – Sozialer Druck und berufliche Perspektivlosigkeit: Das vorhin angesprochene soziale Beziehungsgeflecht im Betrieb und die allgemeine Funktion des beruflichen Feldes als sozialer Raum in der DDR spielte auch im Falle von Frau Rudolph im Zusammenhang mit den gegen sie eingesetzten Disziplinierungsmaßnahmen eine entscheidende operative Rolle. Nachdem sie sich entschieden hatte, aufgrund einer angestrebten Heirat mit einem Bundesbürger einen Antrag auf ständige Ausreise in die Bundesrepublik zu stellen, dies aber im Vorfeld ihrem Vorgesetzten in einem privaten Gespräch mitteilte, brach zunächst über sie eine Reihe außerordentlicher Parteiversammlungen herein, in denen sie über ihr geplantes Vorhaben vor dem Parteikollektiv Rechenschaft abzulegen hatte. Als Mitglied der SED und als Abteilungsleiterin für Ökonomie beim Rat des Bezirkes war ihr im Vorfeld zumindest klar, dass ihre Entscheidung die DDR zu verlassen, auf innerparteiliche Probleme stoßen würde. Diese Befürchtung, die direkte Auseinandersetzung mit Kollegen und Genossen, formulierte sie zuvor in einem Brief an ihren westdeutschen Verlobten. Dort benannte sie relativ offen die abschätzbaren möglichen Schwierigkeiten.904 Dieser Brief aber wurde von der Abt. M (Postkontrolle) bereits abgefangen, wie die eben zitierte Stelle aufzeigte. Dem Vermerk des MfS zufolge gestaltete sich auch im Folgenden das taktische Vorgehen des MfS unter Mithilfe der Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens beim Rat des Bezirkes vornehmlich durch die betriebsinterne Parteileitung der SED. Insbesondere innerhalb der Argumentationslinie der Parteigenossen setzte man gezielt auf den kollektiven Gedanke, um Frau Rudolph einerseits persönlichen Vertrauensbruch gegenüber seinen Mitgliedern und andererseits solidarischen Verrat am Nukleus der sozialistischen Betriebsgemeinschaft vorzuwerfen. Das im Vorfeld gesicherte Wissen um diese von Frau Rudolph befürchteten Konflikte richtete man nun systematisch gegen sie selbst.905 Die Aufnahme der betriebsinternen Informationen eines GMS906 aus einer sich in der Folge einberufenen Parteiversammlung bestätigen dieses gezielte Vorge904 „Etwas Bammel habe ich nur vor der Diskussion mit meinem Chef und vor allem den ‚gesellschaftlichen Organisationen‘.“ MfS-Akte Frau Rudolph, Kopie des Briefes vom 7. 7.1975 (BStU, ASt. Leipzig, 4500/76, Bl. 14; Textausschnitt im Original vom MfS handschriftl. unterstrichen). 905 „Ihren Angaben zufolge sieht sie mit Besorgnis kommenden Aussprachen mit ihrem Vorgesetzten und gesellschaftlichen Organisationen entgegen.“ MfS-Akte Frau Rudolph, Aktennotiz vom 22. 7.1975 (BStU, ASt. Leipzig, 4500/76, Bl. 9). 906 GMS: Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit des MfS. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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hen in der innerbetrieblichen Umsetzung: „In der am 21. 7. 75 stattgefundenen Parteiversammlung sagten ihr die Genossen sehr hart und deutlich die Meinung und verurteilten ihre Absichten hinsichtlich des legalen Verzuges. [...] Am 24. 7. 75 findet die nächste Persteiversammlung [sic] statt wo der Ausschluss der [Rudolph] aus der Partei durchgeführt wird. Nur mit dem Parteiausschluss, und das ist die Meinung des GMS als auch die der anderen Genossen, ist das Problem nicht gelöst.“907 Erst nachdem am 24. 7.1975 vollzogenen Ausschluss aus der Partei und der Auflösung ihres Arbeitsrechtsvertrags begann die gezielte Bearbeitung und. Übernahme der bis dahin von den Partnern des POZW vollzogenen Maßnahmen durch das MfS.908 Die ‚übliche‘ Maschinerie setzte sich nach offiziellem Eingang des Ausreiseantrages beim Rat der Stadt und einer dort geführten Aussprache endgültig in Gang: Anwerbung weiterer inoffizieller Mitarbeiter, Überprüfung aller Personalien der Verwandten und Freunde des näheren Umfelds, Anforderung von Suchmeldungen nach etwaigen weiteren Westkontakten und Instruktionen an mögliche zukünftige Arbeitgeber. Zunächst und in der Hoffnung auf eine baldige Ausreise in die Bundesrepublik nahm Frau Rudolph eine Stelle als Kassiererin an. Schließlich musste sie weiterhin und allein erziehend den Lebensunterhalt für sich selbst und die beiden Töchter aufbringen. Die Annahme dieser Hilfstätigkeit brachte dabei weniger Probleme mit sich, doch die finanziellen Einbußen bedeuteten für die nächsten eineinhalb Jahre auch erhebliche ökonomische Probleme. „Zuerst, musste ja ooch immer Geld verdienen, ich musste ja hier die Miete bezahlen. [...] Ich hab’ mir dann gleich mal was gesucht. Hier unten war so ’ne Lebensmittelkaufhalle, [...] Na ja nach so pph ein bis anderthalb Jahren, dann stellte sich heraus, das wird nichts mit dem H., weil der hatte nich’ so lange warten können oder wollen oder was. [...] Denn nach etwa zwei oder drei Jahren hab’ ich den Antrag dann zurückgezogen, aber da hatte sich nischt getan in der Zwischenzeit, also das war sowieso nur alles auf ’n Papier, sag’ mer mal. ABER ich habe ebent beruflich da ziemlich weiter noch Ärger gehabt. In der ersten Zeit, wo ich mich ooch um Stellen bemüht hatte, die meiner Ausbildung entsprachen, da war ich zum Beispiel mal in so ’ner Firma, die äh für Schulbedarf und Schulmöbel zuständig war, da SUCHTEN SE solche Datenverarbeitungsleute. Und da hab’ ich mich dort vorgestellt bei der Kaderleiterin und dann hat se gesagt, »Ach Sie waren bei W.« Den kannte die irgendwie, diesen Kulturchef. Na ja, ja da wusst’ ich schon, krieg’ ’ne Absage, war ooch so ((lachend)), nach kurzer Zeit.“909 907 MfS-Akte Frau Rudolph (BStU, ASt. Leipzig, 4500/76, Bl. 9). Vgl. die Aussagen in diesem Sinne von Frau Rudolph: „Und— dann hatt’ ich Gespräche— mit ’m Parteigruppen__, was weeß ich, wie die alle hießen, ’s waren alles dort Arbeitskollegen und der hat mir dort gesagt, »Na ja, es KANN SEIN, dass du da wegkommst, aber es kann ooch sein, dass das viele Jahre dauert. Willstes dir nich’ noch mal überlegen?« Nee, wollt’ nich’ überlegen. Dann hatt’ ich vielleicht so— in der Woche, so zwei-, dreimal, irgendwelche Sitzungen, wo ich hinbestellt wurde, von=von der ParteiLEITUNG und von der ParteiGRUPPE, alle Mann zusammen. Und die ham da ooch off mich eingeredet, äh was ich denn meinen KINDERN antun will und so weiter.“ V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 7. 908 Vgl. MfS-Akte Frau Rudolph (BStU, ASt. Leipzig, 4500/76, Bl. 37). 909 V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 9. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Hinzu kam, dass die erhoffte emotionale und moralische Unterstützung ihres Verlobten aus der Bundesrepublik seinerseits plötzlich versagt blieb. Schließlich war er ja der ausschlaggebende Grund für die Absage an das Leben in der DDR gewesen. Frau Rudolph entschloss sich letztlich ihren Antrag auf ständige Ausreise in die BRD zurückzuziehen910, nur musste sie nun, nach der zwischenmenschlichen Enttäuschung, nach Entlassung und Parteiausschluss existenziell und sozial ganz von vorn beginnen.911 Ihre Schwierigkeiten im Arbeitsbereich eine ihren Qualifikationen entsprechende Stelle zu finden, zeigt das obige Zitat. Die jeweiligen Kaderabteilungen der Betriebe, in denen sich Frau Rudolph bewarb, erhielten zunächst Instruktionen, die Wiedereingliederung in eine höhere berufliche Position zu verhindern.912 Aber nicht allein ihr wurde die Reintegration in die zuvor mental verlassene DDR-Lebenswelt beruflich sichtlich erschwert, sondern auch ihre ältere Tochter musste drastische Repressalien erleiden, die deren berufliche Perspektiven zunächst aussichtslos machten und auch eine spätere akademische Orientierung stark einschränken sollten. „Das Schlimme war für mich auch, dass ich meinen Kindern gegenüber, vor allen Dingen der großen Tochter, hatte ich lange ein schlechtes Gewissen. Weil ich ihr ja mehr oder weniger ooch de berufliche Ausbildung erst mal vermasselt hatte durch den Ausreiseantrag. Mein erster Mann, der Vater von ihr, der wurde gefragt, ob er, das war ooch so üblich, die Dienststellen, die diese Ausreiseanträge bearbeiteten, äh, die fragten dann die VÄTER der Kinder, ob se einverstanden sind. [...]. Also 1975 hatte ich den Ausreiseantrag gestellt und ’76 hätte se Abitur machen sollen. Und der hat da nein gesagt, weil er ooch in der SED war und was weeß ich, keene Ahnung. [...] Aber ich hätte ja die beiden Mädchen hier nich’ zurückgelassen, ooch die Große nich’, die war ja noch nich’ mal achtzehn. [...] Und dann ham se die vor ’m Abitur von der Schule geschmissen. [...] Ja, da hatte die nun praktisch ja keinen Beruf lernen können, weil das ging nur nach der zehnten Klasse, da gab ’s dann solche Vermittlungskarten für Lehrstellen. Die hat man ihr nich’ mehr gegeben, sie war ja schon nach der elften Klasse. Sie hatte kein=kein Zwischenzeugnis gekriegt, also das halbe Jahr hing se ooch in der Luft [...]. ’s Abitur an der Volkshochschule nachholen, das ging nur, wenn de vorher ’ne Berufsausbildung hattest und vom Betrieb delegiert wurdest. Also es gab praktisch KEINE Möglichkeit, das Abitur mal noch abzulegen und die SCHULE damit zu beenden.“913

Paternalistisches Wohlwollen des Staates – Wiedereingliederung in die Arbeitswelt: Letztlich zeigten sich die staatlichen Stellen, nachdem sich auch ihnen das resistente Potenzial der Personen zumeist als offenbar unpolitisch und aus privaten Gründen motiviert zeigte, in den hier vorliegenden Fällen um die erfolg910 911

MfS-Akte Frau Rudolph (BStU, ASt. Leipzig, 4500/76, Bl. 39). „Das hätten wir wahrscheinlich auch durchgehalten, wenn der Mann da nich’ äh abgesprungen wär’. Das war für mich ooch en mächtiger Schlag, dass der dann nicht durchhält, nachdem er erst solche Versprechungen gemacht hat. (2) Der hat ja eigentlich mehr oder weniger dafür GESORGT, dass ich überhaupt auf den Gedanken gekommen bin. Denn von mir aus— hätt’ ich=hätte ich das nicht unternommen. Und das würd’ ich dem=hab’ ich dem ooch bis heute nich’ verziehen.“ V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 19. 912 V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 9. 913 V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 10 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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reiche Reintegration der als zeitweilig und vordergründig systemkritisch auffällig gewordenen Personen bemüht. In der Mehrzahl gelang dies insbesondere durch die Möglichkeit, eine den Qualifikationen entsprechende Rückkehr ins Berufsleben zu gestatten und damit in den jeweiligen Kollektiven und deren verbindlicher Solidaritätskultur eine soziale Einbindung über das berufliche Feld zu organisieren.914 Wenn auch über Umwege, wie beispielsweise über eine Anstellung in einer nichtstaatlichen Berufsgenossenschaft, lassen sich Entwicklungen aufzeigen, die nahe legen, dass nach der Bearbeitung durch das MfS bei den Zeitzeuginnen entweder eine neue Phase der Identifikation mit der DDR einsetzte, die durch die berufliche Reintegration teilweise staatlich forciert und aufgrund der in Kindheit und Jugend internalisierten Grundwerte für das sozialistische Staatswesen und seiner Gesellschaft reaktiviert wurde (vor allem Frau Rudolph und Frau Arndt) oder sich ein endgültiger Rückzug ins Unpolitische, der von Misstrauen und Angst begleitet blieb, trotz beruflicher Neuorientierungen abzeichnete (v.a. Frau Stegmann und Frau Giesen). Insbesondere Frau Arndt, die nach der beruflichen Odyssee ihres Mannes im Jahre 1976 zur Persönlichen Mitarbeiterin beim Bezirksstellenleiter für Statistik915 und zur Abteilungsleiterin aufstieg, kehrte so ganz dezidiert in die staatlichen wie parteilichen Strukturen und zu den von dieser an sie gestellten gesellschaftlichen Aufgaben mit innerer Überzeugung zurück: „Ich habe dann auch immer gesagt, weiß ich nich’, ob Ihnen das bekannt ist, man durfte ja, wenn man im Staatsapparat jearbeitet hat, keine Kontakte [in die BRD / ins westliche Ausland] haben. [...] Aber da hab’ ich auch immer gesagt, »Leute passt mal off, ich würde sicher anders denken, wenn ich da meinen Vater und meine Mutter hätte (1) und auch meine Geschwister. Dann würde ich hier nich’ arbeiten. Es gibt woanders genug Tätigkeit, die ich wahrnehmen kann. Da muss ich nicht im Staatsapparat arbeiten.« [...] Und da hätte ich mich so rausgezogen. JA. Das ... Ich hab’ aber auf der anderen Seite nach wie vor Verständnis, dass der Staat sich schützen muss.“916 914

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Folgende ZeitzeugInnen des Typus kehrten nach der Bearbeitung durch das MfS in ihren alten Beruf zurück, erhielten von staatlicher Seite zumindest das Angebot einer Neu- bzw. Weiterqualifikation oder eines Ersatzstudiums in einem anderen Berufsfeld: Frau Rudolph, Frau Stegmann und Frau Arndt. Frau Friedrich entschied sich nach Ablehnung ihres Studienplatzes für Medizin und einem Ersatzangebot in Pharmazie gegen ein staatliches Studium und machte stattdessen eine Ausbildung zur Krankenschwester bei einer Institution in kirchlicher Trägerschaft. Die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (SZS) hatte im Gegensatz zur mathematischen Statistik in der DDR die Aufgabe die „Rechnungsführung und Statistik“ (als Teilgebiet der sozialistischen Gesellschaftswissenschaften) unter einer spezifischen ideologischen Sicht in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Sie definierte sich als „einheitliche[s] System der Erfassung, Verarbeitung, Speicherung, Berichterstattung und Auswertung der für die Leitung, Planung, wirtschaftliche Rechnungsführung und Kontrolle notwendigen zahlenmäßigen Informationen der Volkswirtschaft entsprechend der beschlossenen Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. § 1 der Verordnung über „Rechnungsführung und Statistik“ vom 11. 7.1985, zitiert in Güttler, Grenzen der Kontrolle, S. 255. V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 22. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Im Ganzen betrachtet, konnten die Zeitzeuginnen ihre durch die Konfrontationssituation durchbrochene soziale Sicherheit wiedergewinnen; dies im Sinne von finanzieller Absicherung, der Aufnahme in ein neues Arbeitskollektiv und dem Aufbau neuer persönlicher Netzwerke. Obgleich in den meisten Fällen zunächst eine auffallende Skepsis gegenüber ehemaligen Freunden, neuen Bekanntschaften und Kollegen erkennbar wurde, gelang es den Interviewpartnerinnen bis 1989, ihre Lebenssituation in der DDR zumindest soweit zu stabilisieren, als ein Großteil die staatlich eingeschränkte Lebenswelt in einem Maße zu gestalten lernte, dass sich für ihn zumindest individuelle Perspektiven der Lebensgestaltung in der Heimat DDR eröffneten.917 Die in den meisten Fällen geschilderte vom MfS kalkulierte starke Außenwirkung der Maßnahmen, die mitunter zu einer Rufschädigung im persönlichen Umfeld führte und eine abschreckende Wirkung auf die soziale Umwelt ausüben sollte, provozierte bei den meisten Personen zuerst eine Phase der inneren Selbstzweifel, Schuldzuweisungen, von Scham und Angst.918 Die meisten Frauen benennen in diesem Zusammenhang ganz konkret das Fehlen eines vertrauten Rückzugsgebiets zur Bewältigung dieser Zeit, in der sie allein auf sich selbst zurückgeworfen und durch die berufliche Diskriminierung größtenteils gesellschaftlich isoliert waren.919 In diesen Äußerungen wird erneut ein charakteristischer Zug der DDRGesellschaft deutlich, so wie er in den vorausgehenden kritischen Alltagsbeschreibungen des Typus I bereits erkennbar wurde: kollektives Misstrauen, das auch aus den gestörten Vertrauensverhältnissen einer staatlich erzwungenen, vormundschaftlichen Solidargemeinschaft herrührte. Die Bewältigung dieses Lebensabschnitts erfolgt nach der ‚Verbüßung‘ der auferlegten Disziplinierungsmaßnahmen (wie Entlassung und Berufsverbot) und der allmählichen Reintegration ins soziale Umfeld einerseits durch einen Rückzug auf das rein Private und eines pragmatischen Sich-Einrichtens. Das heißt das Leben vollzog sich in einer gesellschaftlich konform erscheinenden Anpassung und gestaltete sich frei von jeglichem politischen Bekenntnis, Interesse oder gar Engagement, sondern mehr aus der zurückbleibenden Angst vor erneuten Restriktionen oder Bloßstellungen. Innerhalb dieser Art der Bewältigung wird in kritischen Situationen kurzzeitig die Alternative eines Verlassens der DDR benannt, aber nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Wichtige Entscheidungsmomente gegen dieses mögliche Modell sind eine starke Heimatver917

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Besonders starke Identifikation mit der DDR im Sinne von Heimat, das heißt lokaler und sozialer Verwurzelung, bringt Frau Stegmann zum Ausdruck, vgl. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 20 f. und 27; vor allem familiär motiviert waren Frau Rudolph und Frau Friedrich, vgl. V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000, S. 12f und 21 und V-Transkript Nr. 28, Frau Friedrich, 30. 5. 2001, S. 9 f. Vgl. die bereits thematisierte Verbreitung des Gerüchts „unmoralischer“ Lebensweise bei Frau Giesen (V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 11) und die offensichtliche Fingierung eines Eigentumsdelikts im VEB bei Frau Arndt (V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 9–11). Vgl. V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001, S. 15; V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 10, 16 und 26. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus III – Unpolitisches Denken und Kompromissbildung

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bundenheit, Familienbindung und extreme Zukunfts-, das heißt vor allem materielle Existenzängste, die das ungewisse Verlassen des paternalistischen Staatswesens in sich tragen könnte. Andererseits erfolgt zur ersten Abwehr bzw. späteren Bewältigung der Konfrontationserfahrung mit dem MfS und der Auswirkungen seiner Disziplinierungsmaßnahmen im Berufsfeld bei ausschließlich einer Person eine sich aus der in Kindheit und Jugend vollzogene Introjektion mit dem DDR-System, das heißt der Internalisierung seiner ideologischen Werte und Normen in die eigene Identität, eine spezifische Form der Abwehr, die – wollte man auch sie mit Hilfe psychologischer Termini umschreiben – zuerst als Identifikation und übergeordnet als Introzeption zu benennen wäre. Dem psychologischen Grundvorgang der Introjektion in Kindheit, Jugend und frühem Erwachsenenalter folgt eine erneute Identifikation mit dem System, das heißt eine innere Gleichsetzung mit den und Bejahung der staatlichen Kräfte, welche zuvor die Konfrontationssituation durch das MfS mitgetragen hatten. Man spricht insgesamt vom – in einem eher ethischen als psychologischen Sinne – sozialisierenden Gesamtvorgang der Introzeption, der nicht nur die Assimilation an bestimmte Normen und Ideale in einer Gesellschaft beinhaltet, sondern auch deren Nachahmung in das persönliche System der Motive, Interessen und Handlungen beschreibt.920 Beide Begriffe fangen die Handlungsweisen von Frau Arndt, die im Gegensatz zu den anderen Zeitzeuginnen des Typus eine Ausnahme bildet, in ihrer spezifischen Art treffend ein. Frau Arndt engagierte sich erneut gesellschaftlich und in diesem Sinne auch politisch, trotz ihrer Erfahrungen mit dem MfS respektive den Partnern des POZW. Als ständiges Parteimitglied der SED und in ihrer neuen Tätigkeit beim Staatsapparat war sie bis zum Ende der DDR von der an sie gestellten Aufgabe überzeugt, nämlich den Aufbau des Realsozialismus mitgestalten zu müssen: „[...] wir ham uns eigentlich nach wie vor als überzeugte DDR-Bürger gefühlt, da war ja der Einfluss von meinem Mann da und da wollte man ooch gar nich’, hätt’ ich auch gar nich’ gewollt, nö, (1) dass äh dass man da ooch in dem Sinne mitlebt und mitstrebt und helfen will. Es war ja immer: Wir wollen helfen. Und äh ja, wie sag’ ich das jetzt eben? Ähm, das verwischt sich jetzt vielleicht bisschen mit dem ähm, wie ich ’s jetzt heute so sehe. Wir haben die Meinung vertreten, wir sind also solche Bürger, denen man vertrauen kann, wie wir der DDR vertraut ham. Und das is’ aber bisschen anders jeworden, die Einsicht nach der Wende, wir ham ja ooch ’n Antrag jestellt auf Einsicht in die Unterlagen, Stasiunterlagen.“921 In diesem konkreten Einzelfall konnte die Konfrontation mit dem MfS und der aus dieser provozierten vor allem beruflichen Diskriminierung letztlich zu einem Abwehrmechanismus führen, der in einer unkritischen Übernahme der staatlich geforderten Anschauungen reüssierte und in eine neuerliche Phase 920 Der Terminus wurde im Zuge einer personalistischen Grundlegung der Psychologie von William Stern geprägt. Vgl. Stern, Allgemeine Psychologie, S. 102 und 124 f. 921 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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überzeugter, aber eher unreflektierter, oktroyierter Politisierung steuerte, die auch infolge der Enttäuschungen der Transformationszeit nach 1989 nicht aufgehoben werden konnte.

6.3.2

Typus IV – Kritisch-engagierte Identifikation und realsozialistischer Pragmatismus „Na ja, wenn ich draußen stehe, kann ich keine Veränderung herbeiführen. Also: Wiedereintritt in de SED.“ „Und wir gehören nicht zu der Generation, die ’ne Wende anstrebte oder ... Und insofern mein Platz war hier und ich hab’ mein Ding gemacht ...“ „Das is’ so, du lebst hier in der DDR und jetzt machste das Beste draus.“

6.3.2.1 Grundlegende politische Prägungen – Aufbaugeneration und Kinder des Realsozialismus Die Generationsverteilungen innerhalb dieses Typus weisen eine hohe Ähnlichkeit mit jenen in Typus II auf. Auch hier gelangen zuerst Personen in den Blick, die unter dem Begriff „Aufbaugeneration“ zu fassen sind, dann aber ebenso jene Gruppe der heute Dreißig- bis Vierzigjährigen, die insbesondere zu Beginn der Ära Honecker in Schule und Berufsausbildung sozialisiert wurden. Im Gegensatz zur älteren Generation, die ihren ersten biographischen Schnittpunkt im Erleben des Krieges und des Nationalsozialismus sowie seines Endes begreift und das neue System des Sozialismus aktiv mitgestaltete, wächst die jüngere den äußeren Gegebenheiten und systemimmanenten ideologischen Bedingungen entsprechend in eine zwar leidlich, aber äußerlich dennoch stabilisierte realsozialistische Gesellschaft hinein, welche die Realitäten einer anderen Gesellschaftsform bzw. eine Transformationsphase wie jene nach 1945 in der Jugend nicht durchlebte. Was diesen Typus nun trotz seiner altersspezifischen Ähnlichkeiten grundlegend von Typus II unterscheidet, ist die bereits zu Beginn der Kindheit bzw. frühen Jugend einsetzende An- und Übernahme starker ideologischer Überzeugungen vom System des Staatssozialismus. Das heißt, dass sich hier aus unterschiedlichen Ursachen und Motivationen die Grundlegungen des Kommunismus sowie Normen und Werte der staatssozialistischen Gesellschaft bereits äußert und früh durch das Elternhaus vermittelt wird. Damit wird eine biographische Kontinuität in der weiteren Sozialisation zu Grunde gelegt, die prägend für das systemimmanente Handeln werden wird. „Nie wieder Krieg! Und da ham wir uns voll dafür eingesetzt.“ – Aufbaugeneration: Herr Arndt zeichnet in seiner biographischen Schilderung eines dieser möglichen Lebensmodelle der Aufbaugeneration nach. Tragend wird hierbei, im Gegensatz zu den in Typus III geschilderten Ambivalenzen der politischen Orientierung und des Alltagshandelns der Elterngeneration, dass hier eine eindeutige Kontinuität des Handelns und der als „gefühlsmäßig“ bezeichneten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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kommunistischen Überzeugung von den Eltern umgesetzt und insofern auch glaubwürdig auf die Erziehungsrolle transformiert wurde. Dabei ging es dieser Generation – betrachtet man hier lediglich die politische Dimension dieser Rolle – um eine „moralische Neubestimmung“ gesellschaftlichen Handelns. Ihr ‚Gestaltungsanspruch‘ verstand sich vor allem aus einem sich immer tiefer verwurzelnden antifaschistischen Widerstandsverständnis verstand und insofern für eine sozialistische Prägung der SBZ/DDR votieren musste.922 „Ja, mein Stiefvater oder der zweite Mann meiner Mutter, der war alter Kommunist und äh Betriebsleiter. [...] Und äh na ja, vom heutigen Standpunkt aus muss ich sagen, er hat sich die größte Mühe gegeben. Er hat mich in dieser Richtung geprägt, wobei das ’n alter Kommunist war, alter Prägung. Nicht allzu viel Grundwissen dahinter. Rein gefühlsmäßig. Und äh das hat schon einiges ausgemacht. Wobei, ich habe natürlich auch sehr jung ‘Den stillen Don’ jelesen. [...] Und dann gehen Se davon aus, vierzehnjähriger Junge, wenn de das liest, was da drinne steht, das prägt so was. ‘Der wahre Mensch’, alle solche Bücher hab’ ich gekriegt dann. Da bin ich in diese Richtung mit jedrängt worden, jedrängt, gelenkt worden.“923

Die historische Entwicklung gab den nun Erziehenden Recht: Sie hatten zwar ebenso wenig die Dimensionen der nationalsozialistischen Katastrophe erkennen können, doch sich zumindest ideologisch bewusst vom sich etablierenden Nationalsozialismus abgegrenzt, in welcher konkreten aktiven oder passiven Orientierung auch immer. Zugleich hatten sie die Auswirkungen und Folgen des Krieges mit seinen familiären Tragödien, materiellen Nöten und psychischen Ängsten selbst miterlebt. Der Verlauf der jüngsten nationalsozialistischen Geschichte und der in der SBZ bzw. der frühen DDR nun aufkommende systemtragende antifaschistische Gründungsmythos wurden für das neue gesamtgesellschaftliche Deutungsmuster tragend, zur Rechtfertigung des sozialistischen Weges entscheidend und kollektivpsychologisch für eine heilsame Bewältigungsstrategie grundlegend. Insofern sollte er auch als richtungsweisende Perspektive für die Erziehung der eigenen Kinder werden.924 Herr Arndt gehörte in den frühen fünfziger Jahren zu jenen Jugendlichen, die diese Prägung auch heute noch als starkes Motivationsmoment auch ihres beruflichen Weges erkennen. Zu Beginn des Interviews verweist er vermehrt auf die Parole „Nie wieder Krieg!“, deren Inkorporierung in Verbindung mit

922 Vgl. die empirischen Ergebnisse der Studie von Land/Possekel, welche die beschriebenen Motivationen der Generation der „Altkommunisten“ im späteren Umfeld der SED als einen von sechs „politischen Diskursen“ als tragend für die DDR-Geschichte belegten. Land/Possekel, Fremde Welten, S. 10 f. 923 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 48 f. 924 Eine solches „altkommunistisches“ Erziehungskonzept ist auch bei Herrn Anders erkennbar geworden. Die eigene SED-Parteimitgliedschaft wird insofern als „fast ene Selbstverständlichkeit“ begründet. Vgl. T-Transkript Nr. 22, Herr Anders, 28. 5. 2001, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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der staatsideologischen Deutung des Faschismusbegriffs925 letztlich auch dazu führen sollte, dass er sich nach einer Ausbildung zum Schlosser beruflich umorientierte und sich 1956 zum freiwilligen Dienst bei der Deutschen Grenzpolizei (DGP) verpflichtete:926 „Aber unsere Generation, wir haben neunzehnund ... äh ’45 ’s Kriegsende erlebt, mehr oder weniger schwierig. Die hat so viel verloren, die hat so viel verloren, und äh wir waren, die die dann in den Arbeitsprozess reingewachsen sind ... GEGEN den Krieg war wichtig. War sehr wichtig. Nie wieder Krieg! Und da ham wir uns voll dafür eingesetzt.“927 Die DGP, die seit November 1955 erneut dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war und ab September 1961 auf Beschluss des Nationalen Verteidigungsrats als „Grenztruppe der DDR“ letztlich in die NVA überging, stellte bereits damals die militärisch wichtigste Säule in der Verteidigung der DDR an der Demarkationslinie zum „imperialistischen Klassenfeind“ dar.928 Sie unterstand einerseits stark der ideologischen Indoktrination und Weisung wie der Beobachtung und Prüfung der Partei, andererseits hatte man im MfS für die Kontrolle und Überwachung von NVA und Grenztruppen eigens die personell am stärksten mit hauptamtlichen Mitarbeitern ausgestattete Hauptabteilung I geschaffen. Sie war nicht nur für die „Militärspionageabwehr und die Gewährleistung des Geheimschutzes“ zuständig, sondern auch „für einen politisch ‚sauberen‘ Personalbestand“.929 Entsprechend dieser beidseitigen Einflussnahme von Staatspartei und MfS galt es in der neu geschaffenen NVA und bei den nationalen Grenztruppen, wie Wilhelm Pieck als erster Präsident der DDR in einer Rede formulierte, „einen Soldatentyp, einen Typ des Unteroffiziers und Offiziers heranzubilden, der unübertrefflich und jedem Soldaten und Offizier eines kapitalistischen Heeres überlegen ist.“930 Zu diesem Idealbild eines Offiziers sollte auch Herr Arndt 925 Der damalige Faschismusbegriff rekurrierte auf die marxistisch-stalinistische Deutung, welche „die aggressivsten und reaktionärsten Kreise des deutschen Finanzkapitals“ als die „Träger der faschistischen Diktatur“ verstand. Wie Messerschmidt anführt, wurde der Faschismus insofern – bis weit in die Mitte der siebziger Jahre – auch als „höchstentwickelte Voraussetzung für Militarismus und Imperialismus“ gedeutet und war propagandistischer Hauptinhalt die nationale Verantwortung für den Frieden durch eine eigene Militarisierung im Sinne des späteren Aufbaus einer Volksarmee zu rechtfertigen. Vgl. Messerschmidt, Aus der Geschichte lernen, Zitate S. 13 f. 926 Im Januar 1956 beschloss die Volkskammer der DDR im Anschluss an die Bestimmungen des Warschauer Vertrages vom Mai 1955, der auch die Integration der DDR-Streitkräfte in die Vereinigte Allianz unter Führung der SU vorsah, und nach Aufgabe der sowjetischen gesamtdeutsch orientierten Deutschlandpolitik („Souveränitäts-Vertrag“ zwischen der DDR und UdSSR vom 20. 9.1955) die Schaffung der Nationalen Volksarmee (NVA). Zu Beginn rekrutierte sich diese im Kern insbesondere aus politisch loyalen Offizieren der bis dato bestehenden Kasernierten Volkspolizei (KVP), die Grenzsicherung übernahm die aus diesen Reihen entstandene Deutsche Grenzpolizei (DGP). Vgl. Wenzke, Auf dem Wege zur Kaderarmee, S. 272. 927 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 46. 928 Vgl. Lapp, Gefechtsdienst, S. 17–31. 929 Vgl. Eisenfeld, Formen widerständigen Verhaltens, S. 231. 930 Pieck, Über das Antlitz des sozialistischen Kämpfers. In: Armee-Rundschau, 10 (1960), S. 446. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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während eines zweijährigen Lehrgangs an der eigens geschaffenen „Politschule“ heranreifen, selbstverständlich war dabei – wie für 81 Prozent der damaligen Offiziere in der DGP auch – die Mitgliedschaft in der SED.931 Seine Begeisterung für die sich vollziehende Gestaltung der sozialistischen DDR wurde aber nicht nur aufgrund seiner eigenen aktiven Beteiligung an der Friedenssicherung gegen den Aggressor Faschismus getragen sondern auch von der propagandistisch euphemistisch aufbereiteten Kunde vom volkswirtschaftlichen Aufschwung Ende der fünfziger Jahre, der im Gegensatz zur BRD aus eigenen Kräften erreicht worden war. Es galt die Vorteile des Konzepts Sozialismus auch auf die ökonomischen Prozesse hin zu betonen und deren Funktionstüchtigkeit im Wettlauf mit dem marktwirtschaftlichen System der BRD zu beweisen. Den Höhepunkt dieser Orientierung bildete schließlich zu Beginn der sechziger Jahre auch für Herrn Arndt die Umsetzung des seit 1958 angedachten ökonomischen Reformprogramms „NÖSPL“932, welches auf lange Sicht auch erstmalig für die breite Bevölkerungsmehrheit eine ausreichende Versorgung mit Konsumgütern, die ihren Bedürfnissen in Qualität und Preisniveau entsprachen, herstellen konnte: „Und was=was in der Anfangszeit, Menschenskinder, wir hatten doch jedes Jahr zwei, drei Preissenkungen und=und andere Sachen, die die BRD na ja überhaupt nich’ nachweisen konnte, nich’ aufweisen konnte. Die hatten ’n Marshall-Plan. Und die konnten ja gar nich’ mitreden in der Frage. Das ham wir=ham wir uns SELBST jeschaffen, OBWOHL WIR an de Sowjetunion Reparationskosten jezahlt haben.“933 „Und um mir den Traum nich’ zu verbauen, war ich ooch Kandidat der SED.“ – Kinder des Realsozialismus: Die von den InterviewpartnerInnen beschriebenen Passagen der Kindheit und Jugend in der DDR lassen auf eine weitgehend von den häuslichen staatsloyalen Prägungen getragene934, umfassende Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ schließen, die das Einwirken aller So931 Vgl. Lapp, Frontdienst, S. 15 f. 932 NÖSPL: Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Im Dezember 1962 forderte Ulbricht zu einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel auf, der Grundgedanke des NÖSPL stützte sich vor allem auf das Zugeständnis größerer Spielräume und Eigenverantwortlichkeiten für die unteren Wirtschaftseinheiten. Die Betriebe mussten zwar weiterhin den vorgegeben „Perspektivplänen“ der staatlichen Planungskommission Folge leisten, aber die nun zugestandene Verbindung materieller Interessiertheit mit der möglichst exakten Beobachtung ökonomischen Gesetzmäßigkeiten sollte neue Anreize für eine erhöhte Arbeitsproduktivität und ein zukünftiges Wirtschaftswachstum schaffen. Erste Schritte für eine Preisreform waren mit einer Neubewertung der Grundmittel verknüpft, so dass sich allmählich eine realistische Bezugsgröße einpendelte; auch die Verbraucherpreise konnten insofern angeglichen werden. Vgl. Schroeder, SED-Staat, S. 178–183; Staritz, Geschichte der DDR, S. 211– 217. 933 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 46; ebenso, insbesondere auch für den wirtschaftlichen Aufschwung der frühen siebziger Jahre vgl. T-Transkript Nr. 22, Herr Anders, 28. 5. 2001, S. 3. 934 Vgl. bspw. die politische Einschätzung des Vaters von Herrn Brandner: „Seine positive Grundhaltung zu unserem Staat kommt in seiner umfangreichen gesellschaftlichen Tätigkeit zum Ausdruck. [...] Organisiert ist er im FDGB, DTSB und der DSF.“ MfSAkte Herr Brandner, Auskunftsbericht (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 5). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zialisationsinstanzen von der Kinderkrippe bis zum Parteilehrjahr in der Berufsausbildung nachvollziehbar macht: „Ich war in der FDJ und ooch während des Studiums, da war ich ooch in verschiedenen Leitungsgremien. Das war aber eigentlich um mit Vernunft MITTUN zu können irgendwas oder BEEINFLUSSEN zu können oder vernünftig REGELN zu können. Ich mein’, das kann man ja nich’, wenn man völlig außen steht.“935 Einzelne Äußerungen wie diese lassen auf eine Identifikation mit Ideologie und Gesellschaftssystem schließen; entweder auf eine kritische, aber konstruktive Weise oder auch auf eine weniger kritisch reflektierende, sondern eher die Dinge als gegeben akzeptierende und pragmatisch nutzende Art: „[...] aktiv war ich äh FDJ-Gruppensekretär war ich, ham se mich gewählt, weil ich in der Schule immer der Beste mit gewesen war, weil ich im Sport immer mit der Beste gewesen war und da hab’ ich jetzt ooch nichts so Negatives gesehen darin. Und was war ich noch? Und dann mussten 1988=mussten alle, die zu ’n Olympischen Spielen gefahren sind, mussten wenigstens Kandidat der Partei sein. Und um mir den Traum nich’ zu verbauen, war ich ooch Kandidat der SED.“936 Herr Brandner erlebte eine besondere Art der schulischen Sozialisation in der DDR: Er wurde 1981 mit Beginn der siebten Klasse aufgrund seiner positiven politischen Einschätzung und schulischer, aber vor allem sportlicher Bestleistungen auf eine der 25 so genannten Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) in der DDR delegiert, die er mit dem Abitur abschloss. Die angebotene Möglichkeit eine solche „Einrichtung für den Hochleistungssport“ zu besuchen, die eine Verbindung von regulärer Allgemeinbildender Zehnklassiger Polytechnischer Oberschule bzw. Erweiterter Oberschule mit leistungssportlichem Schwerpunkt war, bedeutete auch für Herrn Brandner damals wie heute ein Privileg. Bekanntermaßen versprach die Delegierung zu einer KJS zumindest vordergründig eine breite Palette persönlicher Vorzüge: „Prestigegewinn und soziale Absicherung einschließlich des gesicherten Schul- und Hochschulabschlusses mit beruflicher Perspektive, [...] materielle Vergünstigungen“ und Zuwendungen, zum Beispiel auch die Zuteilung von „anderen der Mehrheit der Bevölkerung erst nach langen Wartefristen zugänglichen ‚Luxusgütern‘“ und „nach außen geleugnete[r], festgelegte[r] Prämienzahlungen für Erfolge“ sowie der äußerst reizvollen „Möglichkeit zu Auslandsreisen“937 : „Ich hab’ einfach versucht diese Chance, diese Nische zu nutzen. Gut, man kann sagen, Privilegierter zu sein, aber das Privilegierte muss man sich ooch hart erarbeiten.“938 Die Kinder- und Jugendsportschulen bildeten einen integralen Bestandteil des Leistungssportsystems in der DDR. Sie gehörten zu jenen Institutionen, die für die lückenlose Suche nach jungen Talenten in Kindergärten und Schulen

935 936 937 938

V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 2. V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 4. Krebs, Politische Instrumentalisierung, S. 1342. V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zuständig waren939, die dann später durch deren besondere sportliche Förderung als Aushängeschilder der sozialistischen DDR im internationalen Wettkampf mit dem „Klassenfeind“ brillieren und den Prestigeanspruch des Systems nach außen vergrößern sollten. Nach den Olympischen Spielen 1972 in München und im Zuge des Grundlagenvertrags hatte eine neue Mobilisierungsphase im DDR-Leistungssport eingesetzt, die von der obersten Parteispitze beschlossen ihren Fokus insbesondere auf den Kinder- und Jugendsport legte, da dieser „für die Entwicklung des Leistungssports eine Schlüsselposition einnehme, und verlangte den Ausbau des Talentsicherungs- und -förderungszentrums, verbesserte Qualität in den Trainingszentren für bis zu Zehnjährige als Basis der Kinder- und Jugendsportschulen“.940 Weil die Kinder und Jugendlichen sich damit zugleich im „top-secret-Status“ des DDR-Leistungssports befanden, führte dies zu einer starken Abschottung der KJS zum gesellschaftlichen Umfeld, auch hatte dies zu Folge, dass sie dem Erziehungseinfluss der Eltern entzogen wurden. Der Kontakt zu Elternhaus und ehemaligen Freunden verringerte sich auch insofern, als nahezu 70 Prozent der Schüler und Schülerinnen in angeschlossenen Internaten untergebracht werden mussten, weil die KJS oftmals zu weit vom eigentlichen Heimat939 Vgl. die Schilderungen zu diesem konkreten Vorgehen bspw. bei Frau Seestern, Kap. 6.1.2.1 unter Ideologisierung der Erziehung. Die frühe Rekrutierung von sportlich talentierten Kindern durch die KJS bzw. auch unter Mithilfe der zentral organisierten Kinder- und Jugendspartakiaden an allen Schulen der DDR bedeutete für diese eine frühe Entfremdung von Elternhaus und gewohnter Lebenswelt, eine unausweichliche ideologische Vereinnahmung innerhalb der sozialistischen Erziehungsziele. Waren die erhofften Trainings- und Wettkampferfolge nicht zu verzeichnen, konnte es 1. zum Einsatz möglicher leistungsfördernder Mittel (Doping) kommen oder 2. leicht eine Ausund Rückdelegierung erfolgen, die dann von den betroffenen Kindern und Jugendlichen psychisch und auch physisch erst einmal verarbeitet werden musste. Professionelle Hilfe von den KJS, welche auch die körperlich notwendigen Abtrainierungsprogramme hätten durchführen müssen, war infolge solcher Rückdelegierungen nicht vorgesehen, ebenso wenig für die Rückintegration in das ehemalige soziale Umfeld. Auf diese Problematik geht die unten zitierte Studie von Helfritsch/Becker in keiner Form ein. Die unweigerlich äußerst problematische politische Instrumentalisierung von Kindern und Jugendlichen und die dezidierte Rolle des MfS in den KJS wird hier weder aufgeklärt und erläutert noch findet sich der notwendige Raum, um auf deren Folgen (ernsthafte psychische und physische Verletzungen) hinzuweisen. 940 Diese Orientierung im DDR-Sport wurde auf einer Sitzung am 19.1.1973, an der Erich Honecker (1. Sekretär des ZK der SED), Paul Verner (Politbüro Sicherheit und Sport), Manfred Ewald (Präsident des DTSB) und Rudi Hellmann (Abteilungsleiter Sport im ZK der SED) beteiligt waren, neu festgeschrieben. Sie unterwies den DTSB die ‚politisch-ideologische Zielstellung‘ auf sportlichen Gebiet stärker zu verwirklichen: „Bei den Olympischen Sommerspielen und bei der Mehrzahl der Welt- und Europameisterschaften ist die BRD zu besiegen.“ Sitzungsabschrift vom 19.1.1973 zitiert in Hans-Dieter Krebs, Die Ohnmacht des „Genossen Ewald“ gegenüber Parteichef Honecker. Wie das Politbüro den Sport der DDR steuerte. In: FAZ vom 20. 8. 1993. Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit dem 1974 konzipierten Plan 14.25 zum „Aufstieg des Sportwunderlandes DDR“, der u. a. mit Hilfe eines Programms „zum flächendeckenden, konspirativen Zwangsdoping im ostdeutschen Leistungssport“ durchgesetzt werden sollte, bei Geipel, „Sportwunder“ DDR, S. 417–443, Zitate S. 417. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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ort entfernt lagen.941 Diejenigen Jugendlichen, die wie Herr Brandner zu den „ausgesprochenen Talenten“, welche in die „Weltspitze vorzustoßen“942 vermochten, gehörten, unterstanden schließlich auch einer besonders ausgeprägten ideologischen Erziehung und Unterweisung. Schließlich sollten sie die DDR im nichtsozialistischen Ausland so loyal wie selbstbewusst vertreten, dass sie ihrem Auftrag die Leistungsfähigkeit der sozialistischen Gesellschaft international zu demonstrieren gerecht wurden.943 Nicht selten gehörte wohl ebenso die einstweilige Verpflichtung zur Kandidatur in der SED zum Vertrauensbeweis für die eigene Systemkonformität, drohte doch sonst möglicherweise der Entzug von Privilegien; im oben genannten Beispiel war es die Zugehörigkeit zum Reisekader für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Calgary. Eine kontinuierliche Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit dieser Kader gehörte von Beginn an zur Sicherung des hochpolitischen Bereichs der KJS. Die für die Sicherung der zentralen Einrichtungen des Sports zuständige HA XX/3 bzw. deren entsprechende Abteilungen in den einzelnen Bezirken hatten hier ein engmaschiges Netz von IM aus einem Kreis von betreuenden Trainern, Ärzten und Physiotherapeuten, aber auch der Sportkameraden insbesondere um die international aktiven Sportler gezogen. Noch intensiver zeigte sich die Überwachsungsstrategie in den KJS, die als „SV Dynamo“ bezeichnet wurden, denn diese waren die ‚hauseigenen‘ Sportvereinigungen von Polizei und Sicherheitskräften, ihr oberster Leiter war der Minister für Staatssicherheit selbst, Erich Mielke. In einer solchen KJS musste auch Herr Brandner kontinuierlich seine „politische Entwicklung und Zuverlässigkeit“ bzw. „Bindungen an die DDR“ unter Beweis stellen. Das MfS schätzte diese aufgrund des Auskunftsberichts seines zuständigen IM und zugleich Trainers im Jahre 1985 aufgrund seines loyalen Verhaltens und der Äußerungen in den „Politischen Gesprächen“, die für die Teilnahme an einem Wettkampf in der Bundesrepublik von der zuständigen Kreisdienststelle des MfS spezifisch geführt wurden, als besonders positiv ein.944 Dass diese Einschätzung auch seiner tatsächlichen politischen Einstellung, DDR-Heimatverbundenheit und Bedeutung der familiären Bindungen entsprach, beweisen seine Äußerungen zur Thematik des „Illegalen Verlassens der DDR“ bei einem Auf941 „Sein Freundeskreis beschränkt sich auf das Trainingskollektiv, wo eine gute Atmosphäre für seine weitere Entwicklung vorhanden ist.“ MfS-Akte Herr Brandner, Kaderspiegel (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 10). 942 Beide Zitate MfS-Akte Herr Brandner, Auskunftsbericht (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 4). 943 Vgl. V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 6 und zgl. Helfritsch/Becker, Pädagogische KJS-Forschung, S. 18–30. 944 „In Diskussionen vertritt er offen die Politik von Partei und Regierung. Er ist sehr belesen und studiert regelmäßig die Presse. Er besitzt den festen Willen und Ehrgeiz, für unsere Republik bei großen internationalen Wettkämpfen zu starten. [...] Seine positive Grundeinstellung zur Partei und Regierung kann als Hauptfaktor seiner Bindung an die DDR gesehen werden.“ MfS-Akte Herr Brandner, Auskunftsbericht (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 4–5). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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enthalt im westlichen Ausland: „Ich hätte nie, ich wär’ nie im Ausland, im Westen geblieben. Erstens hatt’ ich ’ne Freundin hier, das=die hätt’ ich nie— alleene gelassen. Dann meine Eltern hätt’ ich nie alleene gelassen. Also das war, die familiären Bande hätt’ ich nie, also ich wär’ dort ni’ glücklich geworden. Ich=ich will ja ni’ als Verräter dastehen. Und so, also die hätten mir können sonst was versprechen, hätt’ ich ni’ gemacht. So. Und ich hab’ ja die Chance gesehen, wenn ich meinen Sport noch richtig, sag’ mer mal, bis zu Ende hätte machen können, da hätt’ ich mir ja können auch was aufbauen.“945 Wie an diesem Zitat zu sehen ist, konnte der Staat auf die Jugendlichen nicht allein im Vertrauen auf ihre innerliche Verbundenheit mit der DDR hoffen, sondern auch innerhalb der Proklamierung von entsprechenden Maßnahmen darauf einwirken, dass sie ihre mögliche Flucht bereits im Vorfeld selbst als ‚Verrat und Verbrechen am Staat‘ deklarierten. Insbesondere für die dann zurückbleibenden Freunde und Familien wäre dieses Verhalten schwer geahndet worden: „Verurteilung und Diffamierung der Geflohenen [...], Spurensuche nach Mitwissern, Sippenhaftung für Familienangehörige [...]. Flüchtlinge wurden mit ihren Leistungen als Unpersonen ausgelöscht“946. Während Herr Brandner seine enge Verbundenheit zur DDR und die Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ vor allem in seiner frühen Jugend erlebte, entwickelte sich bei Frau Schulz die enge und überzeugte Bindung an DDR-Gesellschaft und System insbesondere aus der sozialisierenden Integration zur Zeit ihres Studiums der Anglistik und Germanistik bzw. während ihrer dreijährigen Promotionsphase sowie der nachfolgenden Aspirantur. Ein kurzer Einblick in das allen Studierenden in der DDR verpflichtend zuteil werdende Repertoire an politischen Bildungsseminaren zeigt, dass dem Hochschulstudium in der DDR eine ausgeprägte ideologische Erziehungsfunktion innewohnte: Jedes Studienjahr eröffnete mit einer Einführungswoche, die mit eigenen Seminaren zu politischen und gesellschaftlichen Themen in den einzelnen Fachsektionen das Semester einleitete. Für alle galt zugleich neben der fachlichen Qualifikation im jeweiligen Studienfach eine dreijährige marxistischleninistische Grundausbildung, deren Benotung gleichwertig in die Bewertung der spezifischen Studienfächer beim Abschluss des Studiums einfloss, Russisch, eine weitere Fremdsprache und Sport, sowie obligatorisch die Teilnahme an der militärischen und zivilen Verteidigungsausbildung. Schloss sich an das Studium eine Promotion an, so wurden die möglichen zukünftigen Mitarbeiter staatlicher Hochschulen erneut in eine staatspolitische Schulung in Marxismus-Leninismus, Sozialistische Betriebswirtschaft etc. eingebunden.947 „Man macht das ja, wenn man in der Promotion steht, macht man ja noch drei Jahre oder MACHTE man damals noch drei Jahre, wie hieß das noch, Doktorandenseminar, wo man also politische Ökonomie, wissenschaftlicher Kommunismus, Philosophie ... Muss945 V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 6. 946 Krebs, Politische Instrumentalisierung, S. 1345. 947 Reuter, Hochschulwesen, S. 28 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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te man alles noch mal absolvieren. Aber das war für mich mehr äh ene Phase notwendiger Wissensaneignung. Ich glaube, ich hab’ das getrennt zwischen dem, was sich da abspielte und dem, was ich studiert habe. Ich mein’, das ist ja nicht uninteressant diese Dinge zu studieren. [...] Ich glaube die Klassiker haben eine gute wissenschaftliche LEISTUNG gebracht. Das ist in sich schlüssig, das ist logisch, das ist ’ne gute Wissenschaft, die dort entwickelt worden ist. Äh wir ham nur eben das versäumt der Sache den entsprechenden Stellenwert zu geben.“948

Den obligatorischen Schritt, einen Zusammenhang bzw. aus diesem die eklatante Diskrepanz zwischen den Zielen und Inhalten des Marxismus-Leninismus und der erlebten Alltagswirklichkeit in der DDR zu ziehen bzw. zu erkennen, vollzieht sie zur damaligen Zeit nicht. Sie möchte die „gute wissenschaftliche LEISTUNG“ von Marx, Engels und Lenin nicht an ihrer eigenen realsozialistischen gesamtgesellschaftlichen Realität messen. Im „Nachhinein erst bewusst geworden“949 ist ihr, dass „wir“ es versäumt hatten den Dingen den angemessenen Stellenwert zu geben. Eindeutig lassen sich hier Parallelen zu der in Typus III (Kap. 6.3.1.1) dargestellten institutionell prägenden politischen Identifikation erkennen, ist es doch unweigerlich auch im Fall von Frau Schulz die staatliche Berufsförderung zum Beispiel durch eine „Frauen-Sonderaspirantur“950, die ihre persönlichen Karrierewünsche, Promotion und Dozentinnentätigkeit an der Universität, erfüllte und insofern den hauptsächlichen Grund für die starke Identifikation mit dem System DDR darstellte. Obwohl 80 Prozent aller HochschullehrerInnen Mitglieder der SED waren, konnte sich Frau Schulz dieser Einbindung entziehen, weil sie, wie sie formuliert, hierfür „nicht die entsprechende Parteidisziplin“951 hatte und diese Begründung ihren Angaben nach auch als solche akzeptiert wurde. Gelang in ihrem Falle zwar nicht die obligatorische Parteieinbindung, so doch durch das baldige Angebot und Annahme einer Leitungsfunktion auch bei ihr jene, die einer „Politik der abgestuften, differenzierten Informiertheit“952 geschuldet war. Dieses System beruhte auf der Illusion zum privilegierten Kreis der Wissensträger wichtiger, bisweilen politisch brisanter und vor allem nichtöffentlicher inner- und außeruniversitärer Informationen zu gehören, der eine Teilhabe am „Herrschaftswissen“ suggerierte und zugleich eine gegenseitig disziplinierende und kontrollierende Funktion beinhaltete.953 „Ansonsten muss ich Ihnen sagen, ich hab’ ’ne sehr gute Ausbildung bekommen. Ich bin nicht behindert worden in meinem Vorwärtskommen in der Arbeit, bin gefördert 948 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 3. 949 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 3. 950 „Für Frauen mit Hochschulabschluss, die aktiv am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft teilnehmen, kann unter Berücksichtigung ihrer sozialen Bedingungen eine Frauen-Sonderaspirantur [...] durchgeführt werden.“ § 13, Aspirantenordnung vom 22. 9. 1972. Auszugsweise dokumentiert in: Staatliche Dokumente zur Förderung der Frau in der DDR, S. 285. 951 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 14. 952 Berg, Hochschule als Instrument, S. 209. 953 Vgl. ebd., S. 208 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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worden. Und ich weiß nicht, ob ich unter heutigen Bedingungen diesen Weg hätte nehmen können. In der Art und Weise, wie ich ihn gehen konnte. Ganz zielstrebig, ich war Absolventin, hab’ vier Jahre gearbeitet. Nach ’m ersten Jahr dann in ’ne Aspirantur also, nee das war noch ’ne unbefristete Assistenz, hab’ dann ’ne Aspirantur gekriegt zwei Jahre. Gut, da hab’ ich nich’ so viel Geld gekriegt wie die andern, konnte aber eben zwei Jahre an meiner Dissertation arbeiten und dann bin ich sofort in ’ne Leitungsfunktion gekommen. Also selbst der Tatsache geschuldet, dass ich nicht bereit war in de Partei einzutreten oder so, bin ich hier im Hause in keiner Weise behindert worden. Das ging alles seinen Gang.“954

6.3.2.2 Momente staatssicherheitsdienstlicher Bearbeitung Die ZeitzeugInnen, die in diesem Typus in eine zeitweise Bearbeitung durch das MfS gelangen, erleben diese damals nicht als eine lebensgeschichtlich einschneidende oder gar bestimmende, das heißt existenzielle Situation. Auffällig wird auch, dass sie zum damaligen Zeitpunkt diese Auseinandersetzung nicht als eine solche wahrnehmen, so ordnen sie die negativ einwirkenden Momente auf ihr berufliches Fortkommen oder privates Leben schließlich nicht eindeutig dem Ministerium für Staatssicherheit zu; um dessen Existenz und seiner gesellschaftlichen Notwendigkeit sind sie sich aber im Gegensatz zu einigen Personen des Typus III wiederum durchaus im Klaren. Die in der Jugendzeit und im frühen Erwachsenenalter auch durch theoretisches Wissen grundgelegte Identifikation mit der Idee des Sozialismus, die politische Einsatzbereitschaft und staatlich geförderte berufliche Entwicklung schloss die Vorstellung aus, von Seiten des Staates plötzlich als ein Teil der Bevölkerung betrachtet zu werden, der mit staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle aufgrund konstruktiver Kritik oder parteiinterner Offenheit gemaßregelt wurde. „Ich musste denen in der Theorie erklären wie herrlich, wie vorzüglich der Sozialismus is’ und in der Praxis war ’s großer Mist.“ – Offene Kritik an der staatssozialistischen Realität: Auf die äußeren Umstände, die zur ersten Konfrontation von Herrn bzw. zugleich auch Frau Arndt mit dem MfS führten, wurde bereits in Kapitel 6.3.1.2 anhand der Äußerungen von Frau Arndt verwiesen. Die eigentlichen Motive des Offiziersanwärters der Grenztruppen, die eine Weigerung der Vereidigung zur Folge hatten und ihn später ebenso wie seine Ehefrau in eine Beobachtung durch das MfS bringen sollte, konnte sie nicht genauer benennen. In diesem Zusammenhang verwies Frau Arndt während des Interviews gleichzeitig auf das damalige Kommunikationsdefizit zwischen beiden Ehepartnern und begründete dies mit der für sie nachfolgend schwierigen Lebenssituation, welche die Frage nach den eigentlichen Konfrontationsauslösern und

954 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 1 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Beweggründen des Ehemannes ausblenden musste, um eine ‚normale‘ Alltagspraxis zurückgewinnen zu können.955 Herrn Arndts Konfrontation mit der Staatssicherheit fand während seiner Zeit bei der DGP im ersten Konsolidierungszeitraum der noch jungen DDR statt. Weil sich aus dieser frühen Auseinandersetzung allerdings eine über Jahrzehnte erkennbare Kontinuität der Überwachung durch das MfS bis zum Jahr 1989 nachzeichnen ließ, die stets in Zusammenhang mit der Entlassung aus dem Dienst der Deutschen Grenzpolizei im Jahr 1958 stand, erhielt auch seine Lebensgeschichte Relevanz für diese vorliegende Studie. Zum damaligen Zeitpunkt existierte in der DDR noch keine allgemeine Wehrpflicht.956 Im Zuge dieser bewusst etablierten Freiwilligkeit wollte man eine leistungsfähige, aber vor allem ideologisch loyale Volksarmee schaffen, deren Rekrutierungspolitik dem Motto folgte: Den „politisch zuverlässigen gegenüber dem technologisch versierten aber politisch potentiell unzuverlässigeren Offizier“ bevorzugen. Diese der ideologischen Linie folgende Pragmatik zeigte sich als „vom Standpunkt der Loyalitätssicherung der Streitkräfte erforderlich.“957 Vor diesem Hintergrund musste es im Falle des Offiziers-Anwärters Arndt obligatorisch zu Problemen und insofern zu einer Bearbeitung durch die zuständige Operativgruppe des MfS kommen, denn dieser war – wie im Maßnahmeplan vom Februar 1957 zu lesen ist – „wegen negativer Einstellung zur Oder-Neiße Friedensgrenze“ aufgefallen und „besonders während der Zwischenfälle in Ungarn“ ablehnend in Erscheinung getreten.958 Im Zusammenhang mit den Ereignissen des Ungarnaufstands sollte die Überprüfung der Offizierskorps auf deren politische Loyalität noch größere Aufmerksamkeit und Bedeutung gewinnen; äußerte man sich beispielsweise kritisch zu den dortigen Ereignissen, konnte eine umgehende Relegierung erfolgen, so wie es großen Teilen der bis dato rekrutierten Wehrmachtsoffiziere aus ideologisch prophylaktischen Gründen im Jahre 1956 ergehen sollte.959 Herr Arndt hingegen erfuhr aufgrund seiner kritischen Bemerkungen zunächst eine konsequente Überwachung, die mit Hilfe von zwei Geheimen Informatoren (GI)960, die durch weitere Anwerbung zuverlässiger Genossen in Herrn Arndts beruflichen Um955 „Warum bist ’n von der Grenze weg? Warum hast ’n Eid ni’ jeleistet? Wir ham uns dann jar nich’ so da drüber unterhalten. [...] Deswegen is’ man so ... Das war nachher zu viel ...“ V-Transkript Nr. 12/1+2, Herr und Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 35. 956 Die allgemeine Wehrpflicht wurde in der DDR im Januar 1962 infolge der Verabschiedung des Gesetzes über die Verteidigung der DDR (September 1961) eingeführt. 957 Tiedtke, Warschauer Vertragsorganisation, zitiert in Seubert, Legitimitätsverfall, S. 109. Zurecht weist Seubert in diesem Kontext aber auch auf die diesem Prinzip diametral entgegenlaufende Rekrutierung von qualifizierten ehemaligen Wehrmachtsoffizieren in der Frühzeit der NVA hin. 958 MfS-Akte Herr Arndt, Maßnahmeplan (BStU, ASt. Halle, ZMA-Nr. 7444, Bl. 9). 959 Vgl. Seubert, Legitimitätsverfall, S. 109. 960 GI: Geheimer Informator des MfS. 1950 eingeführte Bezeichnung, die 1958 für einen inoffiziellen Mitarbeiter, der aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung Informationen für das MfS lieferte, spezifiziert und so zum Vorläufer der Kategorie IMS (ab 1968) wurde. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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feld und im Zuge der Postkontrolle aufzuklären hatten, inwieweit er „mit der Verbreitung bzw. Äußerung seiner negativen Diskussionen feindliche Tätigkeit ausüb[e]“961. In den Erzählungen vom Alltag bei der DGP spricht Herr Arndt vom Kumulieren „kleiner Nadelstiche“962, das in seiner Vehemenz kontinuierlich das Dienstverhältnis zwischen Kompaniechef und Offiziersschülern in Frage zu stellen wagte. Sein wie es scheint fast sturköpfiges Hinwegsetzen über dienstliche Befehle wie seine Eigenmächtigkeit in der Soldatenausbildung verfolgten beide das Ziel den theoretischen Grundlegungen des Sozialismus auch in der Praxis des Militärs gerecht zu werden. Diese führten aber eher zu erheblichen Problemen mit den höheren Vorgesetzten und Auskunftsberichten von GI bei der Operativ-Gruppe des MfS963 : „Wir waren frisch von der Offizierschule, vollgesteckt mit Wissen, mit allem Drum und Dran. Das wollten wir natürlich umsetzen. Und die äh Eingefleischten da, die Alteingesessenen, wie wir schon erzählt ham, ham sich dagegen gewehrt.“964 Noch bevor er aber einer „feindlichen Tätigkeit“ durch das MfS bezichtigt werden konnte, zog er die Konsequenz aus der Unvereinbarkeit der theoretischen Ideale mit seiner Tätigkeit und verließ in der Folge wegen Untragbarkeit die Grenztruppen. Inzwischen hatte er sich nämlich nicht nur verbal ‚politisch auffällig‘ gezeigt, sondern auch der Vereidigung zum Offizier entzogen. Der daraufhin erfolgende Parteiausschluss wurde zum weiteren, unerwarteten Negativmoment seiner staatssozialistischen Wirklichkeitserfahrung: Herr Arndt: „Die ganze Theorie hat mit der Praxis überhaupt nich’ übereingestimmt. Das war ’s. Hitzkopf. Das muss so ... Na ja. Da kam ’s dazu. ((lacht))“ Interviewerin: „Und die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, haben Sie die zu dem Zeitpunkt schon einschätzen ...“ Herr Arndt: „NEIN, nicht abgeschätzt, nicht abgeschätzt. Nein, nicht=nicht im Geringsten.“965 Herr Arndt jedoch ließ sich in keiner Weise von seiner ideologisch überzeugten Haltung abbringen. Er nahm die Rückstufung in den volkswirtschaftlichen Werkzeugbau als Kind der Aufbaugeneration im Sinne einer gesellschaftlich nützlichen Aufgabe an, „freilich abjestürzt ... in der Produktion bewähren“, aber „[...] Schritt für Schritt, ging das dann wieder, wie man so schön sagt, bergauf. Na ja, wenn ich draußen stehe, kann ich keine Veränderung herbeiführen. Also: Wiedereintritt in de SED.“966 Seine Entscheidung, sich nach dem Ausschlussverfahren von 1958 erneut als Kandidat der SED zu bewerben und ein zweites Mal Mitglied der Partei zu werden, verdeutlicht seinen ungebrochenen Glauben an das System Sozialismus. Er lässt sich, will man seine folgende Handlungsorientierung wiederum in die 961 962 963 964 965 966

MfS-Akte Herr Arndt, Maßnahmeplan (BStU, ASt. Halle, ZMA-Nr. 7444, Bl. 9). V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 35. V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 36. V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 35 f. V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 36. V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 38; Zitat zuvor ebd., S. 37. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Studie von Land/Possekel einordnen, auch jenen nach identischen „Codes“ der Lebensgeschichte kategorisierten Personen zuweisen, die sie unter der Kategorie „Ideale bewahren“ zusammenfasst, einordnen. Charakteristisch für diese ist vor allem, dass der Erkenntnis vom Dilemma des Sozialismus in Theorie und Praxis in der DDR die Parole: „Nur wer sich engagiert, ist zur Kritik legitimiert“ folgen muss.967 Der aus den Prägungen der Aufbaugeneration stammende, unbedingte Wille, einen ganz persönlichen Teil am Aufbau des Sozialismus zu leisten, zeigte sich stärker als die erfahrene Enttäuschung durch Partei- und Staatsführung beim eigenen beruflichen ‚Absturz‘ nach den Konflikten bei den Grenztruppen. Zum „Kopf mit Theorie“ – wie ihn seine Frau während des Interviews einmal aus dem Hintergrund benennt – entwickelte er sich dann in seiner beruflichen Neuqualifikation. Er orientierte sich im pädagogischen Bereich, absolvierte eine Erzieherausbildung und aufbauend ein so genanntes „Lehrmeisterwartstudium“ und war schließlich in der Bezirksstadt für die politische Erwachsenenbildung im Rahmen der GST und des Reichsbahnamtes zuständig: „[...] da bin ich dann ganz schnell in die Richtung Lehrer. Lehrer vor allem in ML, Politische Ökonomie, Kapitalismus wie Sozialismus, Betriebsökonomie, Sozialistisches Recht.“968 Seine Kritik in der späteren Zeit, die sich insbesondere auf den Realsozialismus Honeckers bezog, aber wird dadurch nur vehementer. Problematisch schien dies insofern dann zu werden, als er diese im Bildungsbereich zu äußern begann. Was ihn insbesondere auch von denjenigen Personen, die im Code „Sozialismus neu denken“ bei Land / Possekel ihren Niederschlag finden, unterscheidet, ist die Tatsache, dass er nicht die Stagnation im Aufbau des Sozialismus an strukturellen Fehlern des staatssozialistischen Konzepts festmachen wollte, sondern ihn allein auf personeller Ebene, das heißt auf einzelne menschliche Fehlleistungen zurückführte.969 Die Personen der obersten Führungselite wagte er gemäß dieser Sichtweise sogar öffentlich, in seinem Unterricht oder auf Parteiversammlungen, ihrer weitreichenden Irrtümer, vor allem was die staatliche Misswirtschaft Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre anbelangte, zu bezichtigen. „’71, können Se fragen, hab’ ich gesagt, »Ich wünsche dem Honecker ein schlimmeres Ende als Walter Ulbricht.« [...] Walter Ulbricht bis zu seinem Ende, wie er abgetreten is’, war die DDR schuldenfrei. Schuldenfrei nach außen UND auf unserm Tisch lag was. Wir hatten doch unsere Geschäfte, da war doch, alles, ALLES war vorhanden, was man sich nur denken konnte. Bis auf Südfrüchte. Aber das is’ sowieso ’ne Sache für sich. Die waren nich’ so ausreichend. [...] Und Erich Honecker hat weiter nichts gemacht, als diesen Tisch nach und nach abjeräumt. Der hat NICHTS für die Menschen gemacht. Nur von dem jelebt, was äh Walter jemacht hat UND dazu die Schulden jemacht. Ach ja, 967 Land/Possekel, Fremde Welten, S. 198. 968 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 39. 969 Land/Possekel, Fremde Welten, S. 198. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Walter hatte den äh Wirtschaftsexperten der DDR, Günter Mittag, in de Wüste gejagt [...]. Und Honecker hat ’n wieder geholt als Wirtschaftsexperten. [...] Das hab’ ich allerdings bei uns auch in der Parteiversammlung jesagt. Da is’ ne Delegation Verkehrswesen DDR in de ČSSR gefahren. [...] und da es um Verkehrsfragen ging, normalerweise war von der tschechischen Seite war der Verkehrsminister dort und von unsrer Seite. Wer hat das jelenkt und jeleitet und jesprochen? GÜNTER MITTAG. Obwohl der Verkehrsminister daneben saß. Das war die Einmischung der Partei. Und in der Parteiversammlung, wo ich das gesagt habe, da ging ’s dann nur, »RUHIG. Das ist richtig.«“970

Sowohl seine kontinuierliche Teilhabe am politischen Auftrag in der Partei als auch seine permanente Kritik führten dazu, dass er in seinem Berufsfeld in ständige Konflikte mit seinen Vorgesetzten geriet. Schließlich entschloss er sich, den Betrieb, der für die politische Aus- und Weiterbildung für Erwachsene zuständig war, zu verlassen und bewarb sich in einem anderen Tätigkeitsbereich. Aber seine Bewerbungen wurden ab diesem Zeitpunkt infolge der Auskunftsberichte eines IM – sein Abteilungsleiter konnte später als solcher identifiziert werden – und der Prüfung seiner Kaderakten durch das MfS letztlich nie angenommen, obwohl ihm zuvor akuter Bedarf und ehrliches Interesse von Seiten des jeweiligen Betriebes signalisiert worden waren.971 Einen beruflichen Aufstieg oder gar eine Veränderung gestand man ihm aus Gründen seiner zweifelhaften Systemloyalität also nicht mehr zu, man hielt ihn im zuständigen Betrieb, bei dem er bis 1989 tätig war, unter der entsprechenden ‚inoffiziellen‘ Kontrolle, was die Beurteilung seiner kritischen Äußerungen gegenüber Staat und Partei anbetraf. Auch diese deutliche Restriktion seines beruflichen Vorankommens nahm er als kollektiv denkender Mensch, der seine individuellen Interessen mehr in den Hintergrund zu stellen gelernt hatte, in Kauf. Im Endeffekt rechtfertigt er in den letzten Äußerungen des Interviews dieses Vorgehen an seiner Person in einer übergeordneten Aussagen. Der Eingriff staatlicher Macht, auch in die individuelle Lebensgestaltung des Einzelnen, auf dem Weg zum Sozialismus rechtfertigt sich für ihn insofern, als sie die ernsthafte Absicht der Etablierung einer klassenlosen Gesellschaft verfolgt: „[...] in einer Klassengesellschaft ist die Machtfrage immer eine Gewaltfrage. Diese Machtfrage wird ja in der Zukunft 970 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 43 f. 971 „Und ich habe so [...] ’84, ’85 so in dieser Zeit ist tatsächlich, das, was bei der Grenze anjefangen hat, dort noch [...] fortjesetzt worden. Aber noch ’n bisschen schlimmer. Theorie und Praxis. Ich musste denen in der Theorie erklären WIE HERRLICH, WIE VORZÜGLICH DER SOZIALISMUS IS’ UND IN DER PRAXIS WAR ’S GROßER MIST. Und da konnt’ ich nich’ mehr, da wollt’ ich nich’ mehr. Und da hatt’ ich mich beworben bei verschiedenen andern Betrieben, weil ich dort raus wollte. Und jeder Betrieb ((lacht)), erst himmelhochjauchzend, »JA, wir NEHMEN dich. Du kommst grade wie gerufen.« [...] Und zweimal is’ es mir passiert, [...] auf ’m Weg ZU diesem Betrieb lief mir mein Abteilungsleiter übern Weg. Da hatte der immer die Pfoten im Spiel. Wie se das rausjekriegt haben, dass ich mich da beworben habe, äh das weiß ich nich’. Da weiß ich nich’. Aber äh [...] er hat Einfluss drauf genommen, dass ich=dass ich da nicht wegkam.“ V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 40. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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keine Rolle mehr spielen, in der klassenlosen Gesellschaft. Das ist ’ne ganz normale Angelegenheit. Aber jetzt, solange es noch Klassen gibt. Und wer seine Macht nicht gebraucht, das heißt nicht Gewalt gebraucht, ist nicht wert, die Macht zu haben. Logisch. ‘Das Kapital’ beweist uns wie diese Dramen gehen.“972 Die letzten Sätze des Zitats beziehen sich auf die enttäuschten Hoffnungen, die er zu DDR-Zeiten noch in die Masse der Arbeiterklasse setzte, die als größte Kraft der Gesellschaft nicht ihr Potenzial auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft nutzte. Einen Grund dafür sieht Herr Arndt heute in ihrer unzureichenden Kenntnis der Theorien des Sozialismus, deren Vermittlung er im missionarischen Eifer als Lehrer für Marxismus-Leninismus, Politische Ökonomie und Sozialistisches Recht damals selbst in die Hand nahm, „[d]amit die Massen mit der Theorie verbunden werden können. Sobald die Theorie die Massen ergreift, wird sie zur materiellen Gewalt.“973 „Ich hatte keine Absicht zu gehen. Ich mein’, jeder hat auf der Erde seinen Platz gefunden.“ – Disziplinierung von NSA-Reisekadern974 und Unterbindung der Eheschließung mit dem Klassenfeind: Der Hochleistungssport in der DDR, vor allem in seiner internationalen Dimension, trug – wie bereits in Kapitel 6.3.2.1 angedeutet – stets instrumentellen Charakter. Er diente der Staats- und Parteiführung als eine der erfolgreichsten Speerspitzen des staatssozialistischen Systems im Ausland und fungierte dort als „Waffe und Überlegenheitsnachweis des Sozialismus in der politischen Auseinandersetzung mit dem Klassengegner“975. Junge LeistungssportlerInnen, von Ulbricht gerne als die „Diplomaten im Trainingsanzug“ gehätschelt, wurden zu Identifikationsfiguren des sozialistischen DDR-Systems stilisiert. Sie hatten durch erfolgreiche sportliche Höchstleistungen das „Sportwunder DDR“ bei internationalen Wettkämpfen zu repräsentieren und erfüllten zugleich auch innenpolitisch eine paradoxe Funktion: Sie vermochten das seit Anfang der achtziger Jahre erneut stetig anwachsende Legitimationsbedürfnis der führenden Parteielite insofern auch durch ihre sportlichen Erfolge zu stillen.976 Die internationalen Wettkämpfe, vor allem die Olympischen Spiele fungierten hierbei als „Schauplatz im sportpolitisch ausgebeuteten Wettkampf der Sys972 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 50. 973 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 58. 974 hier: LeistungssportlerInnen, die im „nichtsozialistischen Ausland“ (NSA) an internationalen Wettkämpfen teilnahmen. 975 Krebs, Politische Instrumentalisierung, S. 1317. 976 Vgl. hierzu ein Beispiel aus den DDR-Medien. Der Leitartikel in der „Jungen Welt“, erschienen nach Beendigung der Olympischen Winterspiele in Calgary/Kanada 1988, hält mit Genugtuung fest, dass man in Kanada wie im westlichen Ausland immer häufiger die DDR nicht mehr als „Ostdeutschland“ (also: „East-Germany“) bezeichne, sondern explizit von der „GDR“ spreche. „Schon immer waren unsere Sportler gute Diplomaten, und was ihnen erneut in den zurückliegenden Tagen in der kanadischen Provinz Alberta gelang, war die Eroberung der Herzen der Kanadier.“ Kluge, Volker, „GDR“ hat die Herzen der Kanadier erobert, in: Junge Welt vom 1. 3.1988. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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teme.“977 Der Hochleistungssport stellte nach diesem Verständnis eine wichtige sicherheitspolitische Größe dar. Aus diesem Grunde deklarierte ihn Mielke als „Gebiet, wo die ideologische Diversion zum Tragen kommt“, für welches galt: „Wir müssen alles erfahren. Es darf nichts an uns vorbeigehen. [...] Das ist eben die Dialekt [sic] des Klassenkampfes der Arbeit der Tschekisten.“978 Die zuständige HA XX/3 zeigte sich im internationalen Kontext von Anfang an ebenso für die Sicherheitsüberprüfung der Reisekader (auch an den KJS) wie deren spätere Überwachung im sozialistischen wie nichtsozialistischen Ausland zuständig. Vorhut dieser aktuell im Delegierungsfall wahrzunehmenden Prüfungen waren – wie bereits aufgezeigt – die permanenten Einschätzungen der politischen Zuverlässigkeit möglicher Leistungs- und Nachwuchskader durch Aktenberichte eingeschleuster IM: „Und dadurch, dass eben der Sport benutzt wurde, um Sportpolitik zu machen, war ’s natürlich klar, dass da die staatlichen Stellen oder Staatssicherheit eben dafür sorgen musste, dass die DDR-Sportler nich’ im Westen bleiben. [...] Und das hab’ ich natürlich mit 16, 17 so gewusst, [...], dass es eben Staatssicherheit gibt und ... Aber ich hab’ mich da ni’ genau damit befasst, was die nu’ jetze machen genau. Ich wusste, dass die äh— aufpassen, sag’ ich mal, und alles äh abchecken, damit ich äh damit sie über mich Bescheid wissen und damit se sicher sein können, dass ich nich’ im Westen bleibe.“979 Auch im Falle von Herrn Brandner nimmt diese Überprüfung nach seiner Delegierung zu den Olympischen Winterspielen 1988 in Calgary konkretere Formen in einem Komplexauftrag980 an, der dem zuständigen IM, seinem Trainer, zugeordnet wird. Für Herrn Brandner äußerte sich dies zunächst offensichtlich in häufigeren „Politischen Gesprächen“ und zudem im ‚freiwilligen Zwang‘ einer Kandidatur zur SED-Mitgliedschaft zuzustimmen.981 Letztere Maßnahme lässt sich weniger aus der Aktenlage des Herrn Brandner nachvollziehen, als aus einer vom DTSB982 ausgegebenen „internen Instruktion für die DDR-Olympiamannschaft in Calgary.“983 Hierin wurde „auf die erheblich veränderten politischen und sportpolitischen Kampfbedingungen“ verwiesen, die „mit Notwendigkeit ein hohes Maß an politisch-ideologischer Geschlossenheit“ 977 Krebs, Politische Instrumentalisierung, S. 1334. 978 Erich Mielke in der MfS-Kollegiumssitzung vom 19. 2.1962 (Quelle: Tonbandabschrift, BStU Berlin) zitiert in Herbert Fischer, Akten entlarven engste Vertraute als die schlimmsten Feinde. Der deutsche Sport im Stasi-Strudel. In: FAZ vom 23.11.1992. 979 V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 1. 980 „[...] Im Zuge der Aufklärung sind nachgenannte Fakten zu klären: Reaktion auf westliche Verhältnisse nach NSA-Starts; politisch-ideologischer Reifegrad; erkennbare Bindungen an die DDR; Verhalten in Konfliktsituationen. Im Rahmen Ihrer Tätigkeit ist ständig politisch-ideologisch mit [P.] zu arbeiten und auf Fehler oder Fehlverhalten hinzuweisen.“ MfS-Akte Herr Brandner, Komplexauftrag (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 28). 981 Vgl. erneut V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 4. 982 DTSB: Deutscher Turn- und Sportbund. 983 „Interne Instruktion für die DDR-Olympiamannschaft in Calgary“. Dokumentiert in Auszügen bei: Holzweißig, Sport und Politik, S. 142–144. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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forderten. Als Zeichen dieser inneren Geschlossenheit deutete man, dass „viele der noch nicht zur Partei der Arbeiterklasse gehörenden Athleten [...] den Antrag gestellt [hatten], in den Kampfbund der Kommunisten aufgenommen zu werden.“984 Dennoch hegte das MfS wie der Sportbund stets großes Misstrauen gegenüber seinen Athleten. Man kann davon ausgehen, dass jede olympische Delegation der DDR in erheblichem Maße von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern des MfS durchsetzt war,985 das heißt sich die Athleten auch während ihres Auslandsaufenthalts einer ständigen Kontrolle durch das MfS sicher sein konnten und auch sollten: „Es gab ja immer ’n Delegationsleiter, der mitgefahren is’. Also, MAN HAT GESAGT, das weeß ich ni’, dass immer jemand, der von der Staatssicherheit war, bei solchen Reisen ohnehin dabei war, um das— abzudecken.“986 Nicht nur bei den Sportwettkämpfen im Ausland, auch während der Trainingszeit in der KJS, also im Vorfeld der Delegierungen musste man mit Äußerungen auf politischem Gebiet „sehr Obacht geben“ und wissen „wie=wie weit man geht.“987 Schnell konnten unbedachte Äußerungen in negativen Auskunftsberichten der IM über das Verhalten bei internationalen Wettkämpfen oder der Rückgang der sportlichen Höchstleistungen zu massiven Sanktionen der bis dato zugestandenen Privilegien und Vorteilen führen. Allein schon deren Androhung, die Angst vor Ausgrenzung und Entzug der hart erkämpften Stellung im Sportkader funktionierte erfolgreich. Sie folgte einem ambivalenten Erziehungs- und Disziplinierungsstil von Anerkennung durch Privilegien und Ablehnung durch Entzug derselben. Auch Herr Brandner geriet vor der Olympiade 1988 in einen negativen Leumund, aufgrund der diffamierenden Berichte des Sportkameraden IM „Jens“. Bei Brandner zeigten sich laut dessen Berichtsaussagen nach dem Gewinn seines Juniorenweltmeistertitels Anzeichen von „Überheblichkeit“ gegenüber den anderen Sportkameraden, die langjährige Beziehung zu seiner Freundin schätzte er als desolat ein und es existierten Gerüchte, dass er in vermehrtem Maße dem Alkohol zugetan sei, was sich vor allem bei einem Aufenthalt in der SU auf sein respektloses Verhalten gegenüber sowjetischen Frauen gezeigt habe.988 Gravierend negativ auf seine Einschätzung wirkten sich zusätzlich die Berichte des IM „Walter“ über seine aktuellen sportlichen Leistungen aus: „Seit seinem JWM-Erfolg ist [Brandner] sehr überheblich geworden. [...] Er steht oft auch im Training nicht voll hinter seinen Aufgaben. Dies hatte zur Folge, dass er nicht mehr das Niveau in der Nationalmannschaft bestimmt.“989 Erste Maßnahmen deuten sich an. Auf die Beziehung zu seiner 984 Alle vorausgeh. Zitate ebd., S. 144. 985 Zur Orientierung liegt eine Zahl von den Olympischen Spielen in Lake Placid 1980 vor, der folgend von den 176 Mitgliedern der Delegation 35 Personen (20 %!) für das MfS im Einsatz waren. Vgl. Geiger, Sport und Staatssicherheit, S. 674. 986 V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 7. 987 Beide Zitate V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 2. 988 Vgl. MfS-Akte Herr Brandner (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 18 und 24). 989 MfS-Akte Herr Brandner (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 22). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Freundin, die als Garantin der festen Bindung an die DDR gestanden hatte, legte man nun einen weiteren Fokus der IM-Arbeit, zudem überdachte man die Nominierungen zur Olympiade. Durch die mögliche Nachnominierung seines Bruders versuchte man Herrn Brandner auf sportlicher wie sozialer Ebene zu disziplinieren, man forcierte dies mit Eingriffen im engsten freundschaftlichen Kreis und in der Familie ebenso durch die Androhung einschneidender Rückdelegierungen für Wettkampfteilnahmen im NSA sowie durch die Nutzung existenzieller Ängste vor einem „Entzug dieser Vorrangstellung“, möglicherweise dem Verlust seiner sportlichen Prominenz und eines Rückfalls in die „soziale Bedeutungslosigkeit“.990 Durch die von Anbeginn seiner sportlichen Karriere an der KJS geführten Berichte und Einschätzungen konnte man sich sicher sein, dass Disziplinierungen dieser Art für das MfS von Erfolg sein würden: „Ich wollte eben groß rauskommen, das war mein Hauptziel. Ich wollte meinen Sport ausüben und ich sah=ich hab’ in dem Sport ’ne riesengroße Chance gesehen, eben mal ins westliche Ausland zu fahren und mir dadurch ooch was leisten zu können, was sich in diesem Staat sonst nich’ jeder leisten kann. Und daran hab’ ich ALLES investiert. [...] Es konnte jeder sich de Turnschuhe anziehen, von kleen off und was werden, sag’ ich jetzt mal. Aber ich—, das hab’ ich einfach zu mir gesagt, »Das versuch’ ich jetze und da versuch’ ich meine Chance zu nutzen.«“991 Das im Vorausgehenden dargelegte Verfahren des MfS gegen aktive Hochleistungssportler in der DDR wurde durch zahlreiche Dienstanweisungen und Richtlinien koordiniert, bestimmend wurden vor allem die „Dienstanweisung Nr. 4/71 über die politisch-operative Arbeit im Bereich Körperkultur und Sport des MfS“992 und wiederum die bereits häufig benannte Richtlinie 1/76 für die Zersetzungstätigkeit von IM. Diese sollten gemäß der zentralen Planvorgabe die Tätigkeit im und das Verhältnis des MfS zum Leistungssport bestimmen: „Unter Nutzung aller Potenzen und Möglichkeiten der operativen Diensteinheit sind die gegen den Leistungssport der DDR gerichteten Pläne, Absichten und Aktivitäten feindlicher Zentren, Organisationen und Kräfte sowie führender westlicher sportpolitischer Kreise aufzuklären und in geeigneter Weise zu entlarven. Ein weiterer Punkt ist, besondere Aufmerksamkeit solchen Personen zu 990 „Im Gegensatz zu [Brandner] hat sich sein Bruder [...] sehr positiv entwickelt. Er bestimmt gegenwärtig das DDR-Niveau. Durch seine hohe Leistungsbereitschaft hat er sich die Voraussetzungen geschaffen für eine Nachnominierung für die O[lympischen] Spiele 1988. Er kommt bereits am 6.1. zum WC [Weltcup] in Schonach/BRD zum Einsatz. Zeigt er hier eine gute Leistung muss sich ein bereits nominierter O[lympia]-Kader verabschieden. Es muss eingeschätzt werden, dass [sein Bruder] auch charakterlich stabiler ist [...] Sein [Herrn Brandners] Verhältnis zur Läuferin [Schwärzung] hat sich weiter gefestigt und es zeigen sich feste Bindungen an die DDR.“ MfS-Akte Herr Brandner, Aktennotiz zur Prüfung der Berichte über Eltern und Freundin (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 22–23 und Bl. 33). Zitate im Text: Krebs, Politische Instrumentalisierung, S. 1342 f. 991 V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 2 und 5. 992 MfS-DA 4/71. Dokumentiert im Anhang des Berichts: Zur Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit im Leistungssport der DDR. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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widmen, die erstens als Reisekader vorgesehen sind [...].“ Durch die IM sind „alle Unsicherheitsfaktoren rechtzeitig aufzudecken und kompromisslos zu beseitigen, vor allem ist die strikte Durchsetzung der Anforderung an die Auswahl, Überprüfung und Vorbereitung von Sportreisekadern zu gewährleisten.“993 Aufgrund ganz anderer, rein privater Lebensumstände geriet Frau Schulz in eine Bearbeitung durch das MfS. Während ihrer Dozentur für Anglistik lernte sie einen Briten kennen, der für eine geraume Zeit als Experte aus dem Ausland als Kollege an ihrer Fakultät tätig war. Zwischen beiden Personen entwickelte sich eine Liebesbeziehung, die sie, nachdem Frau Schulz ein Kind erwartete, durch eine Eheschließung in der DDR institutionalisieren wollten; der gemeinsame Wohnsitz sollte die DDR sein. Gemäß der Ordnung Nr. 175/89 des MdI lagen eindeutige Vorgaben im Falle einer solchen Eheschließung vor. Zur Bewilligung ihres Antrags war zunächst „mit den antragstellenden Bürgern der DDR eine Aussprache zu führen“ und darauf zu richten, „durch eine überzeugende politisch-ideologische Einflussnahme zu erreichen, dass als künftiger gemeinsamer Wohnsitz nach der Eheschließung die DDR gewählt“994 wurde. Dieser Vorgabe konnte Frau Schulz gänzlich entsprechen, doch wegen eines Fehlers bei der Antragsaufnahme „kam die ganze Maschinerie in Gang. Da war noch ’n Fehler passiert. Das war ’n älterer Standesbeamter, der hat sofort anstatt äh »Gemeinsamer Wohnsitz soll in der DDR sein«, hat der aus Versehen getippt, mit so ’ner alten Schreibmaschine, »Gemeinsamer Wohnsitz soll in der BRD sein.« Weil vielleicht ooch assoziativ, dass er das annahm, das muss so sein. Und dann ging ’s natürlich los. Niemand konnte begreifen, dass wir wirklich einfach hier nur leben wollten. Das wurde also völlig in Frage gestellt und nun war dieser Fehler passiert. Ich konnte das aber immer noch so richtig stellen. Und wir ham ja ooch nie oder ich hatte nie ’ne Ausreise gestellt. Wir wollten einfach nur hier leben.“995 Auch an der Universität musste sie sich für ihre zukünftige Lebensplanung rechtfertigen, denn laut Ordnung Nr. 175/89 wurden die „Betriebe, Einrichtungen [...] über die Antragstellung [...] unverzüglich“996 informiert und auch hier Aussprachen geführt. Aber Frau Schulz äußert auch hier ihr vor allem in der Studienzeit grundgelegtes Vertrauen in das System, wie es in ihrem Mikrokosmos Universität immer funktioniert hatte. Ihre politische Unbedarftheit und ihre Beurteilung als überzeugte DDR-Bürgerin ermöglichten ihr insofern mit ge993 Auszug aus der zentralen Planvorgabe des MfS für den DDR-Hochleistungssport 1986–90, zitiert in Geiger, Sport und Staatssicherheit, S. 663 f. 994 Ordnung Nr. 0175/89 des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei über Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren bei ständigen Ausreisen nach der BRD und nach Westberlin, Eheschließungen von Bürgern der DDR mit Ausländern und Staatsbürgerschaftsfragen vom 7.12.1988. Dokumentiert in: Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen, S. 547. 995 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 6. 996 MdI-Ordnung Nr. 175/89. Dokumentiert in: Lochen/Meyer-Seitz, Geheime Anweisungen, S. 547. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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radliniger Offenheit die anstehenden Konflikte zu thematisieren, ohne zum Beispiel einen Verlust des Arbeitsplatzes zu riskieren: „Und selbst dann, als das klar war, mit wem ich liiert war, ich hab’ das ooch immer sehr OFFEN gemacht, ich bin eben zum Parteisekretär gegangen und hab’ das dem GESAGT und hab’ eben die Karten off ’n Tisch gelegt. Es war besser den Stier bei den Hörnern zu packen, als dass man erst großartig im Hintergrund Vermutungen anstellte und so. Ich hab’ immer alles ganz offen gemacht und insofern bin ich eher gefördert worden als behindert, ne.“997 Die Antragsbewilligung aber wurde vom zuständigen Rat des Kreises und den MfS-Abteilungen schikanös verzögert. Die obligatorische Observation der beiden zukünftigen Ehepartner musste erst genaue Anhaltspunkte ergeben, dass hier keine Scheinehe oder feindliche Aktivitäten gegen die DDR unter dem Deckmantel einer Heirat geplant waren.998 Die nötige Aufenthaltsgenehmigung des zukünftigen Ehemannes von Frau Schulz wurde entsprechend zum nötigen Zeitpunkt nicht verlängert, so dass die Gefahr seiner Ausweisung bestand: „Ich mein’, das war immer im Hinterkopf, man hätte ja meinen Mann nur oder meinen Partner damals ausweisen können oder einfach dieses Visum oder die Aufenthaltsgenehmigung entziehen können oder so. [...] Man hat uns immerhin dann sechs Monate hingehalten und kurz vor Ablauf der Frist wurden wir bestellt und dann war eben wieder irgend’en Punkt oder e Komma nicht an dem Punkt, wo es sein muss und dann ging die Prozedur wieder von vorne los. Das war schon in gewisser Weise nervig. Und die Genehmigung ham wir dann gekriegt ... Wann war das? Anfang November ’89. Und dann ging ’s plötzlich problemlos. ABER zu DDR-Zeiten hat man das schon versucht zu verschleppen. Das wollte man im Grunde NICHT.“999 Dass ihre Ehe mit einem Partner aus dem nichtsozialistischen Ausland in der DDR nicht gewollt war, demontierte ihre bis dato kritische, aber ehrliche Überzeugung vom Realsozialismus. Das damalige Verhalten der Behörden und das in sie gehegte Misstrauen erschließt sich für sie bis heute nicht, wenn sie auf ihre eigene Biographie in der DDR zurückblickt. Dass man sie lieber ausgewiesen hätte, als ihrem Lebenspartner eine ständigen Aufenthalt in der DDR zuzugestehen, empfand sie damals, obwohl sie um die Überlegungen der staatssicherheitsdienstlichen Überwachung und Kontrolle in der damaligen DDR wusste, eher als eine persönliche Kränkung und als Vertrauensbruch ihres Staatssystems, in dem sie zutiefst beheimatet und an dessen Aufbau sie teilgenommen und mitgewirkt hatte. Erst in zweiter Linie wertete sie die Eingriffe der Behörden und der Sicherheitskräfte in ihre geplante Eheschließung als Behinderung und Unterdrückung ihres privaten Lebensglücks: 997 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 14. 998 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 6 f. Frau Schulz weist auf Eintragungen in ihrer MfS-Akte hin, die belegen, dass eine Überwachung des Paares vor der britischen Botschaft in Ostberlin stattgefunden hatte (genaue Daten und Benennung des Fahrzeugs mit amtl. KfZ-Kennzeichen etc). 999 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„Und dann hat man mir auch gesagt, »Sie können doch gehen. Heiraten Se doch in London. Sie können doch abhauen.« Ich habe dann immer gesagt, »Aber das WILL ich nicht. Warum wollen Sie mich wegschicken? Sie ham mich teuer ausgebildet. Warum soll ich gehen? Ich bring’ sogar noch jemanden, der hier was beitragen kann.« Na und das war auch ehrlich gemeint. Ich hatte hier nichts auszustehen gehabt. Es ging mir gut. Wir hatten=wir lebten in guten Verhältnissen, im Vergleich jetzt. Ich hatte keine Absicht zu gehen. Ich mein’, jeder hat auf der Erde seinen Platz gefunden. Und wenn man ene Weile in London lebt, dann is’ es ooch bloß London, da kann man ooch in [Ort in Sachsen] leben. [...] Ich brauch’ nicht woanders hinzugehen. Das war schon damals meine Meinung.“1000

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lebensgeschichten der ZeitzeugInnen dieses Typus zuerst von ihrem Aufwachsen in völliger Übereinstimmung mit den Grundgegebenheiten des Sozialismus in seiner frühen Phase bzw. seiner realsozialistischen Umsetzung bestimmt sind. Diese zunächst wenig kritische Haltung gegenüber dem Staatswesen ist durch ein dem System gegenüber systemkonformes bzw. politisch angepasstes Elternhaus zusätzlich bedingt. Entscheidend aber ist, vor allem für die „Kinder des Realsozialismus“, dass deren ideologisch-politisch äußerst integrative Sozialisation sich in Schule und Beruf individuell ganz besonders positiv durch eine spezifische staatliche Förderung fortführt und festigt. Insofern herrscht bei allen Personen eine sehr starke Identifikation und Verbundenheit mit dem System DDR vor. Die Bearbeitung durch das MfS und die dadurch ausgelöste Konfrontation geschieht deswegen nicht aus einer grundsätzlichen Kritik am System, sondern aus einer inneren Überzeugung systemimmanent am Gelingen des Aufbaus der DDR mitwirken und auf die Fehler der realsozialistischen Umsetzung hinweisen zu müssen (Herr Arndt). Bei Herrn Brandner wie bei Frau Schulz kommt es hingegen weniger zur direkten Äußerung von Kritik noch zu einem „negativ-feindlichen“ Verhalten. Die Bearbeitung durch das MfS leitet sich allein aus dem allumfassenden tiefen Misstrauen der Staatssicherheit gegenüber seiner eigenen Bevölkerung ab, selbst gegenüber denjenigen, die sich stets im Sinne „sozialistischer Persönlichkeiten“ erwiesen haben; auch wenn dies bei beiden Personen nicht allein ideologisch, sondern auch stark pragmatisch mit Motiven des Vorankommens im Beruf oder der sportlichen Karriere zusammenhing. Auch infolge der stattfindenden Konfliktsituation mit dem MfS – hier zeigt sich erneut die stark internalisierte Identifikation mit dem System als Heimat DDR – findet keine grundlegende Kritik an der Indoktrination und Nutzbarmachung durch das System statt, obwohl schließlich für alle Personen infolge ihrer Akteneinsicht erkennbar wurde, dass ihre jahrzehntelange klare Positionierung zum System letztlich allein mit Misstrauen und Vertrauensentzug ‚entlohnt‘ wurde. Eine durchgehend positive Einstellung zur DDR und zum Sozialismus als Staatskonzept bleibt insofern auch nach 1989 bestehen, denn das Scheitern der DDR erklärt sich für alle als eine rein personalpolitische Frage. Eine verklärte Sicht auf die damalige, aus ihrer Perspektive sozial gerechtere 1000 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Gesellschaft, von welcher die Personen des Typus insbesondere durch ihre spezifische Förderung profitierten, bleibt Grundtenor. Trotz persönlicher MfSKontrolle und Überwachung erfolgt keine Transformation dieser Erfahrungen auf eine abstrakte Ebene und damit eine Einordnung der DDR als autoritäres und diktatorisches System. Insgesamt wird die eigene Überwachung und Disziplinierung durch das MfS als biographisches Randereignis gewertet und verharmlost. Die jüngere Generation hat schnell gelernt sich an die neuen Gegebenheiten der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu assimilieren. Der sportliche Ehrgeiz von Herrn Brandner führte sich auf beruflicher Ebene mit denselben pragmatischen Zügen in der neuen Gesellschaft – trotz zwischenmenschlicher Verlusterfahrungen – ohne Kompromisse fort.1001 Ihre Funktionsweise wird aber allein aus einer markwirtschaftlichen Perspektive betrachtet und tendenziell, auch wenn man von ihr bisher eher profitieren konnte, negativ bewertet. Die Errungenschaften einer demokratischen Staats- und Rechtsordnung hingegen bleiben, allein auf das alleinige Benennen der Reisefreiheit beklagenswert reduziert, darum auch völlig ausgeblendet. „In meiner GANZ persönlichen Situation. Ich bin immer SEHR, SEHR ehrlich gewesen, ich hab’ nich’ alles gesagt, ich wusste, wo Schluss ist, was unvernünftig gewesen wäre. Aber ich hab’ immer meinen Standpunkt da vertreten in diesem System und der is’ immer gehört und respektiert worden. Ich habe nie Probleme diesbezüglich gehabt. Und HEUTE, wenn ich beim Kanzler oder beim Rektor bin oder so. Ich muss mir sehr gut überlegen, was ich sage. Und schauen Sie sich in den Betrieben um, die Spielregeln nicht einge=eingehalten und man fliegt raus. Das war alles früher eigentlich einfacher. Der Werktätige und der Schüler das waren die, die wirklich im Mittelpunkt standen, natürlich immer unter diesem Aspekt dieser starken ideologischen Prägung, ne.“1002

Die „Aufbaugeneration“, die hier von Herrn Arndt vertreten wird, schwankt zwischen einer Hoffnung auf eine zukünftige Chance des Sozialismus, der Frustration über die Auswüchse der ‚kapitalistischen Gesellschaft‘ und einer Realitätsleugnung der Erfahrungen, die das repressive Wirken des DDR-Sozialismus beweisen. Um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, dass man der ‚Lebenslüge des Kommunismus‘ aufgesessen ist, deutet man die Realitäten der neu1001 „‘Wir sind das Volk’ und so, der war ich ni’. Da war ich von meiner Mentalität, wie ich das schon erzählt hab’, ich hab’ mich immer, ich weeß ni’, ob ich von den Eltern so geworden bin, ich hab’ mich immer eingeordnet irgendwie und hab’ immer versucht ’s Beste draus zu machen. [...] Und ich ähm weeß ni’, ob ’s das aufwiegt, dass man jetzt mal sich ’n paar schöne Berge angucken kann oder sagt, »Morgen flieg’ ich mal dorthin.« [...] Mal abgesehen davon, dass ich natürlich beruflich ganz andere Perspektiven gekriegt habe durch die Wende, weil ich natürlich ... Das=das=das war wie ’ne Sensation beim ‘Sportecho’ als Volontär bin ich dann, hab’ ich mich in ’n Zug gesetzt gleich, kurz nach der Maueröffnung und bin zum Weltcup [...] nach Sankt Moritz gefahren. Und hab’ dort praktisch für ’s ‘Sportecho’ berichtet als Volontär aus ’m kapitalistischen Ausland. Das mussteste in der DDR zwanzig Jahre oder fünfundzwanzig Jahre parteitreu im Amt sein, vielleicht noch zugehörig, um dann mal irgendwohin fahren zu können. Als Höhepunkt des Berufslebens.“ V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000, S. 11. 1002 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001, S. 11. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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en Gesellschaft allein negativ und flüchtet sich in rückwärtsgewandte Utopien einer neuerstehenden Arbeiterklasse: „Ich sage, ich muss davon überzeugt sein, dass diese Partei die Interessen der Arbeiterklasse vertritt. Und dass was ... Wie das=wie das vonstatten gehen müsste, wir müssten heute äh wieder so anfangen wie Karl Liebknecht und August Bebel. Ja. Arbeiterbildungsvereine.1003 Seine heutige Haltung und politische Verortung bringt er schließlich folgendermaßen auf den Punkt: „Das hat sich so verändert, dass ich heute sagen kann, mit aller Klarheit: DDR möcht’ ich NICHT wiederhaben, aber die Idee des Sozialismus geht nicht unter.“1004

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Typus V – Kritische Distanz und politische Doppelexistenz

„Ich war also im Grunde immer Gegner der DDR, der Kommunisten im Normalfall, aber natürlich nie ein Revolutionär oder was auch immer, aber immer dagegen gehalten.“ „Also man hat doch zwei Gesichter manchmal gelebt, das würd’ ich schon so sehen. Das is’ ooch, was man sich heute eigentlich e bisschen vorwerfen müsste ...“

6.3.3.1 Prägungen – Wahrnehmung staatlich-autoritärer Mechanismen in Kindheit und Jugend Das Aufwachsen der ZeitzeugInnen dieses Typus in mehrheitlich mittelständischen Elternhäusern, die als Eigentümer landwirtschaftlicher und handwerklicher Kleinbetriebe sich im etablierenden DDR-System neu organisieren mussten bzw. in eine erzwungene genossenschaftliche Kollektivierung gedrängt wurden, sollte von einer Kindheit geprägt sein, die große Vorbehalte gegen das neue sozialistische Staatskonzept hegte. Alle Personen betonten ihre sich von klein auf abzeichnende, durch den Einfluss der Eltern negative Integration in die gesellschaftlichen Strukturen der DDR: „Nu’ ja, praktisch ooch ablehnend. Wie gesagt, meine Eltern waren Kapitalisten, wie das so bezeichnet wurde.“1005 Schließlich brachten die staatlichen Eingriffe in die über Jahrzehnte gewachsenen Kleinunternehmen und landwirtschaftlichen Betriebe existenzielle Probleme und dadurch erste ernsthafte Konflikte mit den staatlichen Verwaltungsund Sicherheitsbehörden mit sich.1006 Die kritische Haltung der Elternhäuser 1003 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 58. Eine ähnliche Vorstellung von der Erneuerung der heutigen SPD und wohl damit auch an die Möglichkeiten der Arbeiterklasse äußert auch Erich Loest: „Die SPD, findet Loest, hat nur eine einzige Chance. Sie müsste noch mal ganz von vorne anfangen, so ungefähr bei 1863. ‚Vielleicht sollten wir wieder einen Arbeiterbildungsverein gründen‘, sagt Loest und setzt sich ein bisschen auf.“ Evelyn Finger, Immer wieder montags. In: Die Zeit, 35 (2004). 1004 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000, S. 53. 1005 V-Transkript Nr. 27, Frau Fischer, 1. 6. 2001, S. 2. 1006 Vgl. ähnliche kindliche Erfahrungen im Kontext sozialistischer Entprivatisierungspolitik in Typus I, Kap. 6.1.1.1 (SBZ und Frühphase der DDR) bei Frau Rose und Frau Krüger. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus V – Distanz und politische Doppelexistenz

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gegenüber der DDR schaffte eine innerliche Orientierung am marktwirtschaftlichen System der Bundesrepublik, die aber auch der bestehenden nationalen Identifizierung, d. h. einer gesamtdeutschen Orientierung und ebensolchen Identitätsbildung, folgte. Vor allem die engen und intensiven verwandtschaftlichen Bindungen der einzelnen Familien in die Bundesrepublik trugen dazu bei, dass der Gedanke an ein nicht geteiltes Deutschland, nach welchem eine Nation auf der Einheit von Staatsvolk und Staat beruht, implizit in den Köpfen dieser Menschen fortlebte. Zwangskollektivierung – Erleben elterlicher Verweigerung gegenüber staatlichen Autoritäten: Im Jahre 1960 erfolgte in der DDR die Umsetzung der letzten Phase kommunistischer Agrarpolitik: Nach der Bodenreform, der Kampagne gegen die Großbauern und einer unvollständig erfolgten Vergenossenschaftlichung in LPGs und GPGs1007 setzte man wegen der begrenzten Erfolge dieser Maßnahmen nach dem V. Parteitag der SED 1958 auf eine endgültige Lösung der Frage von Privat- und Kollektivlandwirtschaft und vollzog „ohne die Rhetorik der Freiwilligkeit aufzugeben“ die Zwangskollektivierung der Einzelbauern in die Landwirtschafts- und Gärtnereigenossenschaften.1008 Der Druck der Vorjahre, der zur Massenflucht vieler Bauern in die Bundesrepublik geführt hatte, erhöhte sich trotz der offiziellen Parole von Freiwilligkeit ab 1960 erneut massiv. Auch die letzten selbstständig wirtschaftenden Bauern sollten bis Ende 1961 zwangskollektiviert sein, hatten sie sich nicht vor dem Mauerbau 1961 noch entschieden, ohne Hab und Gut die DDR gen Westen zu verlassen. Dieser Druck wurde, wie es Frau Schreiber berichtet, durch die ganz persönliche Bearbeitung so genannter staatlich eingesetzter Aufklärer aufgebaut, die in beharrlicher Kontinuität und Konstanz die einzubindenden landwirtschaftlichen Betriebe aufsuchten, um dort die Bauern unter Berufung auf ihre gesellschaftliche Verpflichtung zu überzeugen, einer Kollektivierung zuzustimmen. „Äh meine Eltern hatten selbstständig ’ne Obstplantage, ne. Hier im Nachbarort und— da kam die Zeit der LPG. Das war so ’59, ne. Meine Eltern waren eigentlich sehr tüchtig, sehr fleißig, sehr arbeitsam, wollten NICHT in die LPG, ne. Und damals kamen dann diese Aufklärer, ne. Das war so ’59, ’60, da war ich ganze acht, neun Jahre, die nu’ beknieten, »Ihr müsst kollektiv arbeiten, ihr müsst kollektiv wirtschaften. Das ist euer Wohl«, ne. Und das wollten die aber nich’. Und ich hab’ das dann mitgekriegt, meine Eltern sind dem AUSgewichen. [...] Und das hab’ ich schon sehr intensiv mitgekriegt, also mit meinen acht Jahren, ne. [...] Und dann war es aber so, dass ’61 de Mauer kam und— damit war dann praktisch alles geschehen. Ab 1. Januar ’62 waren=mussten se dann in de Gärtnergenossenschaft gehen, ne. Also gab ’s kein Entrinnen mehr, also sie mussten nun genossenschaftlich arbeiten. Aber solang’ hatten sie sich eben DOCH irgendwie gerettet. Das hat uns schon geprägt.“1009 1007 LPG: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft; GPG: Gärtnerische Produktionsgenossenschaft 1008 Vgl. Osmond, Kontinuität und Konflikt, Zitat S. 155. 1009 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Die Eltern von Frau Schreiber handelten im Sinne einer Taktik des Aussitzens, doch der 13. August 1961 wurde zum unvorhersehbaren Stichtag ihrer endgültigen Vergenossenschaftlichung; ab diesem Zeitpunkt gab es weder die Möglichkeit einer Flucht noch zur Beibehaltung privater landwirtschaftlicher Bewirtschaftung. Ähnlich negative Erfahrungen in der Bewahrung von wirtschaftlicher Eigenständigkeit machten auch die Eltern von Frau Horch und Frau Fischer.1010 Nicht selten wurden noch privat wirtschaftende Bauern von den so genannten Brigaden oder Aufklärern, „die sich aus Mitarbeitern der Gerichte, der VP, der Staatssicherheit [...] zusammensetzten“ und „Tag und Nacht mit den örtlichen Behörden im Einsatz“1011 waren, als Staatsfeinde bezeichnet. Ihre Ablehnung einer Genossenschaft beizutreten konnte – wie Mitter/Wolle beispielhaft aus den Akten des MfS zitieren – dann als „Unterstützung des Adenauer-Regimes und eines neuen Krieges“1012 diffamiert werden. Frau Horch berichtet in diesem Kontext zum Beispiel von Hakenkreuz-Schmierereien an ihrem Elternhaus.1013 Wie dies für Typus I dargestellt werden konnte, hat auch in den hier typisierten Einzelfällen das Datum des Mauerbaus die Bedeutung eines besonderen psychologischen Moments, vor allem im formal-juristischen Sinne, da dieses von staatlicher Seite zur staatlichen Zwangsenteignung legitimierte. Von diesem Zeitpunkt an mussten schließlich auch Frau Schreibers Eltern in den Auseinandersetzungen mit den Vertretern von Partei- und Staatsapparat nachgeben und die privatwirtschaftliche Autonomie aufkündigen, um sich in die Abhängigkeit genossenschaftlicher Verwaltung zu begeben. Dieser Bruch in der bisherigen Verweigerungshaltung der Eltern hin zu einem erzwungenen, existenziell notwendigen Arrangement, das aber stets kritisch und distanziert blieb, sollte sich auf die Haltung und Integration der Kinder in das System und die Gesellschaft negativ auswirken: „Das ham wir schon mitgekriegt, dass meine Eltern das so ni’ wollten. Und dass das diktatorisch dann war. Dass sie dann gesagt ham, »So jetzt gibt es für uns keene Rettung mehr, es gibt für uns kein Entrinnen mehr. Grenze auch zu, alles zu, alles dicht.«“1014 Staatlich erzwungene Abschottung – Kindliches Erleben des 17. Juni 1953 und des 13. August 1961: Bei den Interviewpartnerinnen des Typus klingt an, dass die Eltern eine Flucht in die Bundesrepublik nie ausgeschlossen hatten, den Zeitpunkt eines möglichen Verlassens aber aus verschiedenen Gründen immer wieder verschoben hatten und trotz aller politischen Schwierigkeiten letztendlich nicht der Heimat den Rücken kehrten. 1010 Vgl. V-Transkript Nr. 26, Frau Horch, 30. 5. 2001, S. 1–2 und V-Transkript Nr. 27, Frau Fischer, 1. 6. 2001, S. 1 f. 1011 Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 311. 1012 Einzelinformation über einige Überprüfungsergebnisse im Zusammenhang mit den von feindlichen Elementen verbreiteten Verleumdungen über die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft Nr. 255/60 vom 4. 4.1960 zitiert ebd. 1013 Vgl. V-Transkript Nr. 26, Frau Horch, 30. 5. 2001, S. 2. 1014 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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In allen Familien der ZeitzeugInnen dieses Typus bestanden enge familiäre Bindungen in den Westen, Elternteile oder Geschwister waren nach dem Krieg oder vor allem auch im Zuge des 17. Juni 1953 aus der SBZ/DDR geflüchtet. Insofern wird durch die Ereignisse von 1953 und 1961 die in den Familien und in Teilen ebenso in der Schule gebildete gesamtdeutsche Identität schwer erschüttert. „[...] vom Jahrgang her ne, ich bin ja ’43 geboren, äh war, damals war ja Deutschland sogar noch vereint, da gab ’s ja die Spaltung noch nich’ äh und— ooch in der Schule spielte Deutschland eigentlich als einheitliches Gebilde noch ’ne Rolle. Also wir ham ’s Ruhrgebiet und=und=und Bayern und Schleswig-Holstein genauso behandelt wie Regionen in der damals schon existierenden DDR. Es lag sicher zum Teil auch an der Lehrerin mit. Aber man konnte sich ooch in den fünfziger Jahren noch gar nich’ vorstellen, dass Deutschland so lang geteilt bleibt. Die Leute strebten doch damals noch sehr nach der Wiedervereinigung. Der Ulbricht hatte das doch aufgegriffen und hatte so ’nen (Vorschlag) ’55 gebracht , aber natürlich mit dem Hintergedanken, wenn schon Deutsche Einheit, dann ’ne Einheit in unserem Sinne, ne. [...] Und das hat mich natürlich ooch wahrscheinlich auch ’n bisschen geprägt und dann hatten wir ’ne Masse Verwandte im Westen und der Kontakt is’ immer relativ eng gewesen.“1015

Vor allem der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, dem aktuellen Forschungen zufolge eine weit größere Bedeutung im Sinne einer „Massenbewegung von einzigartiger Kraft und Spontaneität“1016 und insofern auch für das historische Bewusstsein der DDR-Bevölkerung zugestanden werden muss, hatte die Symbolkraft einer demokratischen Erhebung, welche die „Forderung nach freien Wahlen“ und damit „zwangsläufig auch die nach nationaler Selbstbestimmung beinhaltete.1017 Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands, welche allein mit Hilfe des sowjetischen Militärs gelang, sollte in der Bevölkerung neben der Frustration und Enttäuschung des Scheiterns über weite Strecken zu einer starken antisowjetischen Stimmung führen, die sich nach den Ereignissen der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 erneut manifestierte1018 : „Und so ’ne Haltung kommt natürlich aus ’m 17. Juni heraus, [...] die Abneigung gegen die Russen stammt natürlich zum Teil von meiner Mutter her. [...] Und dann hat die gesagt, »Der 17. Juni, das kann nischt werden, das geht schief auf jeden Fall [...] na, solange die 38 000 oder die Russen hier sind«, die hat die Zahl damals nich’ genannt, »wird sich hier nichts ändern.« [...] aber dass meine Mutter eben das dann so eingeschätzt hat, das hat mich dann natürlich schon beeinflusst ’n Stück, dass ich schon immer wusste, wo die Macht war und dass die DDR natür1015 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 7. 1016 Knabe, 17. Juni 1953, S. 431. Vgl. auch Kowalczuk, 17. Juni 1953, insbes. S. 284–293; spezifisch hinsichtlich des Agierens des MfS am 16./17. Juni 1953 vgl. umfassend Fricke/Engelmann, Der »Tag X«. 1017 Vgl. Knabe, 17. Juni 1953, S. 18. 1018 Vgl. zur sich stärker etablierenden antisowjetischen/-russischen Stimmung exemplarisch auch die Äußerungen von Frau Schuster in Typus I, Kap. 6.1.3.2 (Hausdurchsuchungen) und 6.1.4.2 (Verhöre – Situationsbeschreibungen). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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lich total an den Russen dranhing, das war mir äh also über die ganzen 40 Jahre lang klar.“1019 Das Versagen der DDR-Sicherheitskräfte1020 hingegen hatte nach dem 17. Juni 1953 sicherheits- und militärpolitisch den konsequenten Aufbau eines überdimensional „rigide[n] innere[n] Sicherheitssystem[s]“ zur Folge, das „als Produkt eben jenes Traumas“ zu betrachten ist, „welches die herrschende Arbeiterregierung als offenkundige Delegitimierung durch das Volk erlebte.“1021 Seine Entwicklung zu einer molochartigen Überwachungs- und Kontrollinstanz hatte hier ihren Ausgangspunkt. Die tiefen Wurzeln des bereits von den ZeitzeugInnen des Typus I beschriebenen gesamtgesellschaftlichen pathologischen Phänomens allseitigen Misstrauens wurden schon hier angelegt; ebenso das kindliche Verständnis in einem System zu leben, dass allein durch gewaltsame Machtdemonstration seine fragwürdige Legitimationsbasis zu behaupten wusste. „[...] da war ich elf Jahre alt in [Ortsname], es hatten sich zwee Deutsche [...] betrunken und äh die randalieren dann in der Wohnung. Die Frau äh weeß sich nich’ mehr zu helfen, geht raus und es kommen e paar Transportpolizisten [...] VORBEI und die bittet die, ob se ihr nich’ helfen können. [...] es kommt zu ’ner leichten Auseinandersetzung unterwegs, die Betrunkenen werfen ooch mit Steinen und so und nun dieser 21-jährige Polizist weiß sich nicht zu helfen, nimmt ’s Gewehr und schießt nach ’n Beinen und äh trifft den und äh der sackt in sich zusammen [...] Und da kommen de Leute auf de Straße und schimpfen nun natürlich gewaltig und so und die Leute, die geschimpft ham, die am meisten geschimpft ham, der eene hat vier Jahre Zuchthaus für ’s Schimpfen gekriegt. [...] Das ist etwas, was mich natürlich ooch beeindruckt hat. Wobei das nicht unbedingt=ich das nicht an der Staatssicherheit festgemacht hab’, sondern am Staat. So is’ eben die DDR.“1022

Während in Typus I und II diese Ereignisse, insbesondere der Mauerbau 1961, primär in Verbindung mit dem Streben nach persönlicher Freiheit – vor allem als selbstständig Wirtschaftende – stehen1023, dominiert in den geschilderten Erlebnissen dieses Typus das Moment staatlicher Machtdemonstration sowie das individuelle Ohnmachtgefühl, das weder ein resistentes oder oppositionelles Aufbegehren in sich trug noch die Konsequenz eines Verlassens auslöste, sondern sich im Erwachsenenalter den Weg einer kritischen inneren Distanz gegenüber Staat und Gesellschaft suchte. Die durch den Mauerbau provozierten tiefgreifenden Einschnitte in den engsten Familienkreis konnten, wie am Beispiel von Herrn Jonas deutlich wurde, zunächst eine unbestimmte Ahnung möglicher staatlicher Eingriffe in private Netze auslösen. Die betont negative Einschätzung und Bewertung dieser fand aber erst im Laufe der Jugend infolge

1019 1020 1021 1022 1023

V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 41. Knabe, 17. Juni 1953, S. 313–333. Diedrich, Waffen gegen das Volk, S. VII. V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 38. Vgl. Typus I, Kap. 6.1.2 und Typus II, Kap. 6.2.2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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individuell erlebter repressiver Erfahrungen mit den Vertretern des staatlichen Systems statt. „Meine Mutter schrieb immer, die war bis ’55 in Hamburg und dann is’ die, ’55 sind die nach Kanada ausgewandert. Meine Mutter schrieb immer, »Komm rüber auf Besuch«, und=und=und. Mein Vater hat dann wieder hier geheiratet. [...] Also war für mich das Ost und West, war immer im Spiel, war immer da. [...] Die Mauer, ich kann mich noch genau erinnern, wie Ulbricht davon sprach, dass sie nie=nie eine Mauer bauen wollen und=und=und. Da hat er ja solche Reden gelassen, drei Tage zuvor und auf einmal war die Mauer da. Es war schockierend, aber mit meinen fünfzehn Jahren hab’ ich die Tragweite ... Dass es was Schlimmes war, war mir klar. Dass ich meine Mutter, meine Geschwister nie sehen werde, das war mir klar.“1024

Die deutsche Teilung sollte für die Menschen in der DDR, vor allem für jene, die über Jahrzehnte in familiären Zerreißproben standen, zum primären Auseinandersetzungsgrund mit dem System werden. Auch interne Analysen in der DDR hatten dies bestätigt und zwangen die Parteielite, dies für die Ausarbeitung und Annahme der neuen Verfassung von 1968 zu berücksichtigen, war doch die Aktualität des 17. Juni 1953 und des Mauerbaus durch die Intervention sowjetischer Panzer am 21. August 1968 in Prag in den Köpfen der Bevölkerung ebenso wie für die deutschlandpolitische Orientierung der Regierung neu aufgebrochen.1025 Die Angst vor dem eigenen Machtverlust ließ nach den Erfahrungen der tschechoslowakischen Erhebung schließlich in der Verfassungsdiskussion keine Alternativen und Freiräume mehr zu. „[S]tärker auf ihren Repressionsapparat als auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente“1026 zu vertrauen, blieb das von Regierung und Sicherheitskräften 1953 etablierte und 1961 fortgeführte dominierende Prinzip. „Der Sozialismus – (K)eine Welt“1027 – Zwangsorganisation und Militarisierung im Jugendalter: Die geschilderten politischen Grundeinstellungen und Verhältnisse in den Elternhäusern der hier im Typus V eingeordneten Personen wirkten sich auch grundlegend auf die sekundäre Sozialisation in Schule und Berufsausbildung aus. Die obligatorische staatliche Einbindung der Kinder und Jugendlichen in die verschiedenen Organisationen sollte auch hier zu einem des-integrativen Moment werden, denn die in den Familien geförderte Erziehung zur Individualität konnte leicht Grund für eine schwierige schulische und berufliche Laufbahn werden, widerstrebte der gesellschaftlich verordnete Organisationszwang doch der eigenen Persönlichkeit: „[...] ich neig’ auch ’n bisschen dazu mich auch ’n bisschen von diesen Gruppen fernzuhalten. Ich bin 1024 V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 8. Vgl. eine ähnliche Einschätzung bei Frau Fischer, deren Bruder zuvor in die BRD geflüchtet war: V-Transkript Nr. 27, Frau Fischer, 1. 6. 2001, S. 13. 1025 Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 382–383. 1026 Ebd., S. 384. 1027 Anlehnung an den Titel des Buches: Der Sozialismus – Deine Welt. Hg. vom Zentralen Ausschuss für Jugendweihe in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1975. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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kein Mensch der Masse, ich mag auch Masse überhaupt nich’ [...] vielleicht ooch, weil ich mich nicht unterordnen wollte. Einer is’ ooch immer der Bestimmer dann, ob Jungs oder Mädchen is’ ja dann egal, aber ich mochte mich da nich’ einordnen. Vielleicht hat das ooch das ganze Leben noch ’ne Rolle gespielt, dieser Charakterzug eigentlich eben.“1028 Mit Beginn der achten Klasse verpflichteten sich Herr Jonas, Herr Steinbeck und Frau Schreiber gegen ihren eigentlichen Willen zum Eintritt in die staatlichen Jugendorganisationen. Damit waren sie vor die Entscheidung gestellt, entweder, wenn auch nur symbolisch, ihre Verbundenheit mit Staat und System zu signalisieren oder ihre Außenseiterrolle wegen ihrer politischen Haltung und damit auch entsprechende Sanktionen in Kauf zu nehmen. Während sich Frau Schreiber aufgrund ihrer christlichen Überzeugung standhaft dem Druck einer sozialistischen Jugendweihung verweigerte, deswegen aber den Zugang zur EOS riskierte1029, waren Herr Steinbeck wie Herr Jonas gezwungen in die Pionier- bzw. FDJ-Organisation einzutreten,1030 denn dies galt inoffiziell als Voraussetzung für einen adäquaten Ausbildungsplatz. Dass diese Zwangsintegration aber bald an ihre Grenzen stieß und lediglich im Jugendalter funktionieren sollte, zeigen die noch darzustellenden Handlungsorientierungen dieser Personen in ähnlichen Situationen zu späterer Zeit. Zusätzlich massive Eingriffe bezüglich seiner beruflichen Ausbildung erlebte insbesondere Herr Jonas, der noch vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR zu einer Wehrverpflichtung in seinem Lehrbetrieb gezwungen wurde. Die angedrohte Kündigung seines Lehrverhältnisses veranlasste ihn trotz eminenter Gegenwehr letztlich zur Unterzeichnung der Verpflichtung. Dass die für ihn existenzielle Extremsituation lediglich eine Prüfung seiner Haltung zum Staat darstellte und es dabei weniger um seine militärische Einbindung ging, zeigt die Reaktion des Obermeisters, nachdem Herr Jonas seine Verpflichtung unterschrieben hatte. Dieser signalisierte ihm damit eindeutig die Irrelevanz der eigentlichen ‚Sache‘. Einzig und allein sollten die Verteilungen der Macht gegenüber den wenigen Abweichlern in der Masse der Angepassten demonstriert werden. Dieses weit verbreitete Verfahren des ‚Auf-Linie-bringens‘ formte in seiner eigenen Verlogenheit eine disziplinierte, scheinbar loyale Bevölkerung, die lange schon vom realen Sozialismus enttäuscht und frustriert

1028 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 17. 1029 „Na gut, dann bin ich, 14, nach der achten Klasse in die EOS. Da ging das weiter. Ich— bin konfirmiert worden, wir sind eigentlich christlich erzogen, bin konfirmiert worden, ich wollte gerne in die EOS gehen. Da wurde ich zum Direktor bestellt, »Wer in unserem Staat lernen und studieren will, der muss sich auch zu unserm Staat bekennen.« Also Jugendweihe, so auf die Tour. Na, hab’ ich dann, ich war nun mal christlich einge__ da hab’ ich dann (gesagt), »Na, dann tut mir ’s leid.« Bin aber trotzdem auf die EOS gekommen. Aber erst mal dieser Druck.“ V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 2. 1030 Vgl. V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 18; V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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war und von der nicht Wenige schließlich zur mittragenden Masse der Bürgerbewegung im Herbst 1989 werden sollten. „Mit SIEBZEHN Jahren, das war damals 1962, ist hier die Wehrpflicht aufgekommen in der DDR, bis dorthin war ’s freiwillig. So. Aber das freiwillig, das war in Anführungsstricheln. Man hat mich mit siebzehn Jahren vor die Vollendung gestellt entweder ich unterschreibe jetzt diesen Antrag, dass ich freiwillig 1962, wenn ich ausgelernt habe, zur Armee gehe, zwei Jahre war das, oder ich fliege aus meiner Lehrstelle. Mein Vater is’ hierher gekommen, war in Stalingrad und=und=und, war also lange genug im Krieg und in der Gefangenschaft, der hat sich hier angelegt mit den Leuten [...] Weit über 300 Jugendliche, davon waren drei Jugendliche, die sich nicht freiwillig zur Armee gemeldet ham. [...] So man hat uns dann wirklich vor die Vollendung gestellt, dieser Oberlehrer S. und einer, der mich dann hier, unser Sportlehrer hat zu mir gesagt [...] »Sie sind Vaterlandsverräter.« Und wir dreie wir waren ziemlich hart, wir ham gesagt ... Wir ham den Kontra geboten, aber was will man mit 17 Jahren schon groß Kontra bieten? Aber das hab’ ich mir gemerkt. [...] So dann sind wir auseinandergegangen, wir ham Nein gesagt und dann hat uns dieser Herr Obermeister S., ich war bei ihm, hat der zu mir gesagt, »Herr [Jonas], entweder ich unterschreib’ jetzt die Kündigung oder Sie unterschreiben jetzt die Verpflichtung.« Hab’ ich die Verpflichtung unterschrieben, er hat das Ding zerknüllt und in den Papierkorb geworfen und ich durfte weiter lernen.“1031

Aufgrund solcher demütigender Erfahrungen, wegen drohender Sanktionen gegen die eigene Überzeugung gehandelt zu haben und insofern um den eigenen Selbstwert betrogen worden zu sein, lernten die Personen dieses Typus als junge Erwachsene sich konsequent und unter Wahrung einer kritischen Einstellung zur DDR der Vereinnahmung durch das System zu entziehen. Das betraf in erster Linie die fortschreitende Zwangsorganisation im Erwachsenenalter von der Kampfgruppe bis hin zum Angebot, in die SED einzutreten.1032

1031 V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 6 f. 1032 „[...] da mussten se Leute für de Kampfgruppe werben und da bin ich also ziemlich konkret angesprochen worden und na ja so inquisitorisch würde ich das dann schon bezeichnen. Jetzt weeß ich ooch, dass das ooch ’n ehemaliger Stasimitarbeiter war. Und da hab’ ich aber dann gesagt, »Nee, also so was kommt für mich nich’ in Frage, ich lehne sowieso Militär ab.« Ich brauchte ja ooch nischt zu erfinden und das— äh und, »Mit so was will ich nischt zu tun ham.«“ V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 17; ebenso Herr Jonas, der von der Verknüpfung finanzieller Anreize mit dem Beitritt in die Kampfgruppe berichtet: „Denn wenn ’s ans Gehalt, an Gehaltserhöhungen oder so was ging, hieß es, »Du kriegst Gehaltserhöhung, musst aber in de Kampfgruppe gehen.« Dass ich Ruhe hatt’, war ich dann=bin ich damals im Betrieb in de Betriebsfeuerwehr gegangen.“ V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 7; ebenso Frau Horch, die deutlich eine Kandidatur in der SED ablehnte: „Dann ging das los hier, wo man dann etwas älter wurde, Anträge hier SED und Kandidat. Ich hab’ immer nee gesagt.“ V-Transkript Nr. 26, Frau Horch, 30. 5. 2001, S. 3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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6.3.3.2 Konfliktverstärkende Alltagsmomente – Abkehr vom „Sozialismus zum Anstehen“ und imaginäre Flucht in medial-inszenierte Lebenswirklichkeiten des Westens Die Auseinandersetzung der Personen des Typus mit den Ideen des Sozialismus aus den Erfahrungen des vorgeführten sozialistischen Alltags erhärtete die Vorbehalte gegen das staatliche System. Im Gegensatz zur Perspektive von Herrn Arndt (Typus IV), der an der Realisierung des Sozialismus Kritik übte, aber zu keiner Zeit dessen theoretische Grundlegung in Frage stellte, setzte Herrn Steinbecks Kritik am DDR-Staatssozialismus ursächlich an dieser Stelle an. Für ihn entlarvte sich diese schon deshalb, weil sie seiner Meinung nach erstaunlicherweise ohne Zukunftsorientierung und ohne die Untersuchung anthropologischer Gegebenheiten auskam, als gesellschaftliche Utopie. „Darüber hab’ ich mir natürlich nun als politisch denkender Mensch ’ne ganze Masse Gedanken gemacht. In den sechziger Jahren äh hab’ ich mal so gedacht, »Na ja, das is’ schon ’ne tolle Idee.« Und die Idee an sich is’ ja ooch nich’ schlecht, dass es allen Menschen gut gehen soll. [...] bis dann so— in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, würd’ ich mal denken, äh dann doch die Überzeugung (kam), na das is’ gar nich’ umsetzbar, weil— es an den Menschen scheitert. Ich hab’ in ’ner Diskussion gesagt, »Der Marx hätte mal Freud lesen sollen.« Aber vorher hatten wir die Diskussion gehabt, dass der Marx sich mit der Zukunft ja gar nich’ befasst hat. Der Marx hat ja eigentlich bloß die Analyse der Vergangenheit betrieben, da spielt das natürlich weniger ’ne Rolle. Aber so von dem Umsetzen vielleicht, äh dann Gleichheitsideen, das wird also immer wieder scheitern.“1033

Das offensichtliche Auseinanderklaffen der Vorstellungen des begonnenen Weges zu einer gerechteren Gesellschaft mit dem in der Wirklichkeit erfahrenen repressiven Zügen des Systems zerstörte die letzten Hoffnungen und das Vertrauen in die regierende Parteielite: „Von der Idee her dachten wir schon immer, dass das an für sich so sein musste. [...] Und aber wir ham eben dann zuletzt nich’ mehr ruhig gehalten, das war das. Also wir ham versucht doch ’n paar Sachen zu nennen, die uns bewegten, weil es so war, wir sahen, dass grad mit Wehrdienstverweigerung und was da passiert is’ und so weiter. Und ich mein’, man muss das doch irgendwie achten, was ’n Mensch denkt [...].“1034 Das vor allem von den Eltern geprägte Bewusstsein für das politische Spannungsfeld zwischen Ost und West legte zusätzlich eine fortschreitende Identifikation mit der Bundesrepublik frei. Es verursachte insofern einerseits eine Distanzierung zum Leben in der DDR und evozierte andererseits Vorstellungen von einer idealisierten westdeutschen Gesellschaft, die sich allein aus der medialen westlichen Wirklichkeit imaginär zusammensetzten. Die Argumentation gegen die Zustände in der DDR nährte sich so vor allem aus der Rezeption

1033 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 14. 1034 V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000, S. 3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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westlicher Rundfunk- und Fernsehsendungen1035, wobei diese inhaltlich in zwei Richtungen orientiert war. Zum einen war sie größtenteils ökonomisch orientiert, das heißt das Scheitern des „Sozialismus zum Anstehen“1036 wurde konsumbezogen interpretiert und der vermeintlichen Überflussgesellschaft des ‚goldenen Westens‘ entgegengestellt.1037 Zum anderen wird sie auch innerhalb eines regen Interesses für westliche Kunst und Kultur deutlich, wobei hier insbesondere eine Vorbildwirkung der Protestformen gegen die bundesrepublikanische Regierung infolge der Studentenbewegung zu erkennen ist. Zuerst äußerte sich dieses Interesse auf literarischem und musikalischem Gebiet, denn die Literatur, aber vor allem die Rock- und Popmusik erfuhren Ende der sechziger Jahre eine blockübergreifende und bis dato ungekannte politische und gesellschaftliche Dimension. Eine gewisse Faszination für alternative Lebensformen bis hin zu deren Auswüchsen in linksextremistischen Gruppierungen wird, wenn auch nur vorsichtig angedeutet, ebenfalls transparent. In der folgenden zitierten Passage äußert sich in diesem Kontext zugleich das Bedürfnis nach einer von politischer Indoktrination befreiten historischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auch in der DDR, die der Nachkriegsgeneration durch den verordneten Antifaschismus verwehrt blieb und insofern keine konstruktive Aufarbeitung mit der Vätergeneration zuließ.1038 „Aber so die Terroristen äh mit ihrer Abscheu äh— gegenüber dem alten Staat und diesen Leuten, die den damals repräsentierten. Also die Leute, die Richter, die in der Nazizeit schon Todesurteile gesprochen hatten, Filbinger, der dann Ministerpräsident in Baden-Württemberg is’ und früher eben e Kriegsrichter gewesen is’ und Leute zum Tode verurteilte für Nichtigkeiten und so. Da war ich schon äh auf der Seite der Studenten im Westen, so vom Gedanken her. Rudi Dutschke oder so waren schon Leute, die mir imponiert haben. Ich hab’ diese ganzen Dinge vor allem im Radio verfolgt. Hier in Westberlin da waren (die Ausnahmesituationen) beim Schah-Besuch, so das hat mich schon sehr interessiert. [...] und äh das hat mich schon damals sehr, sehr interessiert, äh diese Bewegung, die ’s so gab. Wobei Abscheu natürlich gegenüber diesen Dingen, wenn die jetzt DIREKT Unbeteiligte eben davon betroffen sin’ [...] Aber natürlich (2) den Protest, den kann ich schon ’n Stück verstehen, von den Leuten, ne. Also da— war ich gedanklich schon ’n bisschen auf der Seite, aber natürlich zu diesen extremen Dingen [...].“1039

Wenn die westliche Bewegung der „Achtundsechziger“ in der DDR zwar vorderhand keine übergreifenden gesellschaftlichen Veränderungen hervorrufen konnte, so förderte sie dennoch in Zusammenhang mit den Ereignissen in Prag auch bei den ZeitzeugInnen dieses Typus die kontinuierliche Ausbildung einer bereits angelegten subversiv-ablehnenden Haltung. Letztlich sollte diese „neben 1035 „Grade wo das dann losging mit der Staatsbürgerkunde und solchem Käse. Ich hab’ ja immer alles widerlegen können. Ich hab’ ja durch ’s Westfernsehen immer grad ’s Gegenteil sehen können, was die uns plausibel machen wollten, hab’ ich immer wieder dazwischen gehauen.“ V-Transkript Nr. 26, Frau Horch, 30. 5. 2001, S. 1. 1036 V-Transkript Nr. 26, Frau Horch, 30. 5. 2001, S. 34. 1037 So argumentieren insbesondere Frau Horch und Herr Jonas. 1038 So vor allem Herr Steinbeck und Herr Klinger. 1039 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 11. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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einer allgemeinen Politisierung ein[en] vielschichtigen Emanzipationsprozess“1040 hervorrufen, der politisch betrachtet eine „dritte Generation“1041 formte, die langfristig den Weg in den Herbst 1989 bahnte. Zunächst aber schickte sie sich an „in der vorhandenen Gesellschaft Freiräume, anfangs vor allem kulturelle Freiräume, zu schaffen.“1042

6.3.3.3 Konfrontationen – Versuche demonstrativen Protesthandelns und konsequentes Signalisieren von Nonkonformismus Die sich auf das Erwachsenenalter auswirkenden in Kindheit und Jugend, bewusst wahrgenommenen Erfahrungen staatlicher Machtdemonstration sind bei den hier typisierten Personen angesichts ihres späteren Handelns im gesellschaftlichen Raum und der auf diese Weise ausgelösten Konfrontationen mit dem MfS innerhalb zweier Muster erkennbar geworden. Es finden sich einerseits jene, die es wagten im ‚öffentlichen Raum‘ aufzutreten, ihrem Unmut über die Staatsdoktrin in teilweise demonstrativen Akten des Protests1043 Ausdruck zu verleihen, andererseits jene, die sich dem gesellschaftlich ideologisierten Alltag im Beruf stetig und erfolgreich zu verweigern suchten.1044 „... du denkst, du bist jung, du denkst, das kann ni’ sein, du denkst dann ooch, du musst was ändern, ne.“ – Versuche demonstrativen Protesthandelns: Das von Herrn Klinger, Frau Horch und Frau Schreiber bereits in der Jugend empfundene Ungleichgewicht zwischen ideologischem Anspruch und realer Umsetzung, zusätzlich der Einfluss der medialen Bilder der bundesrepublikanischen Alternative, ebenso das dortige Aufkommen neuer sozialer Bewegungen, die von einer grundlegend demokratischen und liberalen Gesellschaft kündeten, offenbarte sich besonders drastisch im Jahr 1968, als der erst im Frühjahr sich langsam etablierende „Sozialismus mit menschlicherem Antlitz“1045 in der Tschechoslowakei durch die militärische Machtdemonstration der Sowjetunion zerschlagen wurde. So wiederholte sich nun im sozialistischen Nachbarstaat, das in der DDR erfahrene und im kollektiven Gedächtnis traumatisch verankerte Ereignis des 17. Juni 1953 aufs Neue. Wenn die Ereignisse in Prag hier zwar allein bei Frau Schreiber in einem direkten Konfrontationszusammenhang stehen, so lassen sich sowohl bei Herrn Klinger, der in pazifistischen Liedtexten Unmut und Enttäuschung über staatlich-gewaltsames Handeln zum Ausdruck 1040 1041 1042 1043

Kowalczuk, „Wer sich nicht in Gefahr begibt ...“, S. 269. Engler, Die Ostdeutschen, S. 303–340 (Titel des Kap.: Die dritte Generation). Kowalczuk, „Wer sich nicht in Gefahr begibt ...“, S. 269. Dies betrifft Frau Horch, Frau Schreiber und Herrn Klinger, wobei Letztgenannte im Folgenden einer spezifischen Einzelbetrachtung unterzogen werden. 1044 Dies betrifft Frau Fischer, insbesondere Herrn Steinbeck und Herrn Jonas. 1045 Die zeitgenössische Formel stammt von Alexander Dubček, der im Januar 1968 vom Zentralkomitee zum Parteichef der KPČ gewählt wurde und im Zuge seiner politischen Reformansätze, die den so genannten hoffnungsvollen Prager Frühling begründeten, hierin einen freiheitlichen und demokratischen Sozialismus in der ČSSR forderte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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brachte als auch bei Frau Horch, die ihrer empfundenen Unfreiheit durch einen demonstrativ gestellten Antrag auf ständige Ausreise in die BRD direkt Ausdruck zu verleihen suchte1046, zumindest indirekte Spuren der mittel- oder unmittelbaren Erfahrung dieser historischen Einschnitte im Handeln der Einzelnen sichtbar machen. Die von Sachsen aus grenznahe Lage zur Tschechoslowakei, das hautnahe Miterleben der Truppenbewegungen in den Wäldern des Erzgebirges im Sommer 1968 und schließlich die in Schulen, Betrieben und Universitäten von der Regierung initiierte provokante Aufforderung schriftlicher Zustimmungserklärungen zum Einmarsch der sowjetischen Armee löste vor allem in der südlichen DDR unter weiten Teilen der dortigen Bevölkerung eine allgemeine Ablehnung der sowjetisch-militärischen Intervention in Prag aus.1047 Diese äußerte sich aber nicht allein in der Weigerung der Unterschriftenbekundung, sondern auch in vielfältig schriftlich geäußerten Protesten in Form von Losungen an Häuserwänden, Brücken oder auf Flugblättern, die vor allem von der jüngeren Bevölkerung im Alter von 16 bis 30 Jahren, die größtenteils (84,2 Prozent) durch die Arbeiter-, aber auch zu Teilen von der Schüler- und Studentenschaft (8,5 Prozent) vertreten war, angefertigt und öffentlich sichtbar gemacht wurden.1048 Auch in der elften Klasse der Erweiterten Oberschule, die Frau Schreiber zu dieser Zeit besuchte, regte sich Protest. In einer Gruppe von Schülerinnen kam 1046 MfS-Akte Frau Horch, Antrag auf Ausreise 6.1.1976 (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.Nr., Bl. 11 und 12); MfS-Akte Frau Horch, Bestätigung Antragsrücknahme 24.11.1977 (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 44). Im Alter von 18 Jahren wollte Frau Horch die DDR per Ausreiseantrag verlassen, um sich gegen das erdrückende Gefühl des Eingeengtseins zur Wehr zu setzen. Doch nach der Bekanntschaft mit einem NVASoldaten zog sie den Antrag zurück und blieb in der DDR: „Ich hab’ ja die Ausreise ooh gekriegt. Aber irgendwie hatten die das spitzgekriegt, dass ich jemanden hatte. Und kurz danach, nachdem ich dann meinen Mann kennen gelernt hatte, kam ooch, äh dass mein Antrag bewilligt is’. War schon e bissel fies. Da saß ich dann unheimlich in der Zwickmühle drinne, weil ich dann wirklich ni’ mehr wusste, was mach’ ich denn alles. Und daraufhin hab’ ich dann da drauf verzichtet und hab’ gesagt, »Gut, ich bleib’ da.« [...] mein Vater hat gesagt, »Hau ab! Mach fort!« V-Transkript Nr. 26, Frau Horch, 30. 5. 2001, S. 6. 1047 Kowalczuk, „Wer sich nicht in Gefahr begibt ...“, S. 264. Vgl. dazu auch die Aussagen von Frau Schuster (Typus I, Kap. 6.1.2.3 – Ausschlaggebende Konfliktfelder) und hier nach dem ersten Tag der sowjetischen Intervention: „Einmarsch Tschechei. Wir mussten alle hinkommen. Und äh früh um sieben, sagt die, macht die große Durchsage. Wir mussten kommen, »WO BLEIBEN DIE ZUSTIMMUNGSERKLÄRUNGEN ?« Wir konnten die ganze Nacht ni’ schlafen, weil wir ja an der tschechischen Grenze waren und die sind ja da durchgeflogen und durchgefahren und ... Wir wussten überhaupt vorneweg, LANGE vorneweg, dass da was passiert, weil die da oben in den Wäldern lagen. Da oben M. und so weiter. Und da hab’ ich gesagt, »Na also was heeßt ’n hier Zustimmungserklärungen. Wir möchten uns erst mal von dem Schreck erholen.« ((lacht)) Und also das fand se entsetzlich. Meine Brigade hat nie eine, ich war die einzige Brigade, [...] die NIE eine Zustimmungserklärung abgegeben haben [...].“ V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 10. 1048 Vgl. die statistischen Angaben aus dem Bericht des Generalstaatsanwalts der DDR vom 15.10.1968 über straffällig gewordene Personen im Zshg. mit den Ereignissen in der ČSSR in der Tabelle bei Kowalczuk, „Wer sich nicht in Gefahr begibt ...“, S. 263. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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es zu einer spontanen schriftlichen Äußerung gegen das Vorgehen in der Tschechoslowakei. Das harmlos erscheinende politische Bekenntnis sollte schließlich von der Jugendstrafkammer zur „gröblichsten“ Staatsverleumdung stilisiert und als solche hart bestraft werden. Besonders erschwerend kam hinzu, dass Frau Schreiber der Einmarsch der sowjetischen Armee und die zugebilligte militärische Unterstützung der NVA-Truppen zu „direkte[n] Vergleiche[n] zwischen der faschistischen Aggression 1938 und diesen Hilfsmaßnahmen“1049 veranlasst hatte.1050 Die Skepsis gegenüber der im Land omnipräsenten Besatzungsmacht Sowjetunion im Verbund mit den im kollektiven Gedächtnis noch verankerten Ereignissen des Krieges und derjenigen des 17. Juni 1953 provozierten derartige Vergleiche. „Und— da war in diesem Geschichtsbuch en Faksimile aus der ‘Roten Fahne’, das war so ’ne kommunistische Zeitschrift, Zeitung, ne, und da ging ’s um die Annexion Hitlers der Tschechoslowakei und da stand dort abgedruckt, »Hände weg von der Tschechoslowakei.« Da hab’ ich daneben hingeschrieben, »Das gilt auch für 1968/69.« Ja. Die [Vorname der Mitschülerin], die Bäckerstochter, UNABHÄNGIG vone’nander hatte die ooch was hingeschrieben. [...] Mmh, die Bücher wurden wieder eingesammelt, ne und in der anderen Klasse wieder ausgegeben und der Lehrer hat das beim Durch-die-Reihen-laufen gesehen. Und wir ham dann schon mitgekriegt im Laufe der Zeit, die suchen die Zweie, ne. Mit Schriftuntersuchung und allem. Ham uns ziemlich ruhig verhalten. [...] Jedenfalls äh wir ham unser schriftliches Abitur geschrieben, wir ham de Konsultation für de mündlichen Prüfungen mitgemacht. Ich hatte donnerstags de letzte Konsultation, da kam der stellvertretende Direktor rein, ich soll Freitag früh um acht zum Direktor kommen. Ich wusste was los war, ne. Ich wusste aber noch nicht wie viel. Bei der [Name der Mitschülerin] muss das ähnlich gewesen sein. Ich war Freitag früh um acht beim Direktor, da stand e Mann dort, klappte auf, »Staatssicherheit. Kommen Sie bitte mit.« Ne. Mmh. [...] Ich hab’ damals gemerkt wie ’s is’, wenn man Gummi in den Knien hat. Ich bin die Treppen da runter in unserer Schule und bin eingeknickt, ne. Also ich wusste in dem Moment, was es für mich bedeutete, ne.“1051

Frau Schreiber wurde schließlich infolge eines mehrstündigen Verhörs1052 bei der zuständigen Kreisdienststelle/Abt. XX des MfS erpresst. Man stellte sie vor die Wahl, entweder man verweigere ihr die Teilnahme an den noch anstehenden Abiturprüfungen, relegiere sie insofern auch mit sofortiger Wirkung von der Schule und vom bereits zugestandenen Zahnmedizinstudienplatz, oder man sichere ihr zu, dass nach einem Eingeständnis ihrer staatsfeindlichen Tat und einer Verpflichtung für eine inoffizielle Mitarbeit beim MfS, „dann alles nichts gewesen ist, dass ich Montag meine erste mündliche Prüfung machen könnte 1049 Anklageschrift des Kreisgerichts (Jugendstrafkammer) vom 30. 6.1969 gegen Frau Schreiber und deren Mitschülerin, Bl. 1; Kopie bei der Verfasserin. 1050 Das Urteil zitiert den Wortlaut der Randglosse von Frau Schreiber. Vgl. Ausfertigung des Kreisgerichtsurteils gegen Frau Schreiber und deren Mitschülerin vom 4. 7.1969, Bl. 3 (Vorderseite); Kopie bei der Verfasserin. 1051 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 3 f. 1052 Vgl. MfS-Akte Frau Schreiber, Befragungsprotokoll vom 6. 6.1969 (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 37–40). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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und— dass mein Studium weiterging und das für mich beendet wäre.“1053 Frau Schreiber verweigerte zunächst aber jegliche Zusammenarbeit: „Die Schmiererei in dem Geschichtsbuch ist zwar meiner Handschrift ähnlich, aber ich habe sie nicht verursacht. Wenn ich schon so etwas schreiben würde, würde ich meine Handschrift verstellen.“1054 Mit einem inoffiziellem ‚Ultimatum‘, das man zugleich an eine schriftliche Schweigeverpflichtung band, entließ man Frau Schreiber am späten Freitagnachmittag und bestellte sie für den kommenden Montag zur Erklärung ihrer IM-Mitarbeit erneut ein. In ihrer Angst als damals Achtzehnjährige vertraute sie sich dennoch ihrer Mutter und dem ansässigen Pfarrer und Freund der Familie an. „Ich bin heimgefahren worden und meine Mutter hat mir angesehen, dass ’was nicht stimmte. [...] Und wir ham hin und her geredet und beratschlagt. Und ich hab’ dann zu ihr gesagt, »Mami, mir bleibt nichts weiter übrig, ich muss das am Montag unterschreiben. Was soll hier werden. Es geht nicht anders. Es— ... Meine Existenz is’ weg, meine Zukunft is’ weg. Ich darf halt NIE Freunde ham, die ich da irgendwie aushorchen ... Ich muss mich eben ganz zurückhalten, immer und ewig verhalten«, ne. Ich wusste ganz ehrlich keinen Ausweg, ne, muss ich so sagen. Den nächsten Tag, den Sonnabend, kam diese [Name der Mitschülerin] mit ihrem Vater, wir ham beratschlagt, wir wussten ni’, wie viel die Stasi davon wusste oder ni’. Und wir sind dann über die Felder bei uns zu unserm Pfarrer. Wir hatten ’n fantastischen Pfarrer, muss ich sagen. [...] wir ham beratschlagt und unser Pfarrer hat gesagt, »Um alles in der Welt, aber DAS nicht. Es muss irgendwie weitergehen«, ne. [...] Und— wir sind dann Montag in der Früh um neun mit ’m [Ortsname] Pfarrer zur Staatssicherheit gegangen. ((Lachen)) Das war schon, mmh ... Da gab es keine Rede mehr davon, von irgend’ner Unterschrift und so weiter. Das Ganze ging so weiter, dass die das der Kriminalpolizei [Ortsname] übergeben ham. Staatssicherheit war sofort weg, hielt sich raus, ne.“1055

Die Protektion des Pfarrers konnte die beiden jungen Frauen zwar vor einer IM-Mitarbeit bewahren, die angedrohten Maßnahmen jedoch blieben ihnen nicht erspart. Schlimmer noch, der Rückzug der Staatssicherheit und die Übergabe des Falles an die Kriminalpolizei1056 führten zu einer strafrechtlichen Verfolgung nach Paragraph 220 StGB (Staatsverleumdung). Die zuständige Jugendstrafkammer statuierte binnen eines Monats ein öffentliches Exempel: „[V]or erweiterter Öffentlichkeit in der Erweiterten Oberschule“1057 fand im Beisein der gesamten Schüler- und Lehrerschaft der Prozess gegen Frau Schreiber und ihre Mitschülerin statt. Der beabsichtigte soziale Isolationseffekt ließ nicht lange auf sich warten, die ehemaligen Freundinnen distanzierten sich zusehends 1053 1054 1055 1056

V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 4. MfS-Akte Frau Schreiber (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 39). V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 4 f. Vgl. MfS-Akte Frau Schreiber, Sofortmeldung des VP-Kreisamtes/Kriminalpolizei vom 10. 6.1968 an die Bezirksbehörde der DVP/ODH (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.Nr., Bl. 25). 1057 Ausfertigung des Kreisgerichturteils vom 4. 7.1969 gegen Frau Schreiber und deren Mitschülerin, Bl. 1 (Vorderseite); Kopie bei der Verfasserin. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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bzw. sagten zu Ungunsten der beiden in Zeugenvernehmungen aus: „Ich kann Ihnen sagen, Freunde in der Not, gehen tausend auf ein Lot. Kann man sagen. Die ham sich distanziert. Es hat jeder nur seine Haut ... Die ham ooch teilweise=sind diese Mädels eben mit denen wir zusammensaßen, [...] die mussten dann aussagen, wie und was, die ham sich distanziert.“1058 Nach zwei Prozesstagen stand das Urteil fest. Weil sich die Eltern von Frau Schreibers Mitschülerin keinen Anwalt leisten konnten und diese es zudem wagte, um „zum Ausdruck zu bringen, dass sich die Aggression Hitlerdeutschlands gegen die Tschechoslowakei 1938 und die Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten 1968 nach ihrer Meinung ähneln“1059, Hitler mit Ulbricht in direkten Vergleich zu setzen, fiel deren Strafe höher aus. Das Gericht verhängte gegen beide eine Bewährungsstrafe von einem Jahr, bei schuldhafter Verletzung dieser aber wurden Frau Schreiber sechs, ihrer Mitschülerin neun Monate Freiheitsentzug angedroht. Zusätzlich erging eine einjährige Relegation von allen Erweiterten Oberschulen der DDR, insofern auch vom bevorstehenden Studium, sowie die Auflage zur gesellschaftlich-nützlichen Arbeit in einem sozialistischen Kollektiv. Mit der Verurteilung und dem Verlust ihres Abitur- und Studienplatzes war für Frau Schreiber zunächst einmal der Traum vom Beruf der Zahnärztin geplatzt, ihr Leben hatte eine „Kehrtwendung“ genommen. Resigniert und als mit „überdurchschnittlichen Fähigkeiten“1060 zurückgesetzte ‚Achtklassabgängerin‘1061 zog sie sich zunächst auf sich selbst zurück und kultivierte dabei die provozierten Selbstzweifel, ebenso wie ihre innere Überzeugung und Selbstachtung zu zerstören drohten. Die Scham über ihre rechtskräftige Verurteilung, die öffentliche Bloßstellung und Rufschädigung ihrer Person manövrierten sie in eine zeitweise soziale Isolation. „Also innerhalb von vier Wochen schon standrechtlich erschossen, kannste sagen. ((lacht)) Also es ging flotti dann. [...] Aber es war insgesamt so, dass mein Leben ’ne Kehrtwendung genommen hat. Es WAR teilweise ooch so, du musst ja ooch sagen, ’n Teil der Leute versteht ’s ja ooch ni’ das Ganze, ich war SCHON e bissel gebrandmarkt. Ich bin den Sommer ooch nicht mehr auf de Straße gegangen und nicht mehr ’naus gekommen. Wir hatten ’n Bauerngut so bissel abseits, ne. Ich hab’ mich schon für die Sache geschämt, das muss ich sagen, ne. Äh es war schon, irgendwie ... Ich bin verurteilt worden, also ich hatte was verbrochen und so hab’ ich mich ooch gefühlt. Ich hab’ mich ni’ so gefühlt wie, »Du hast was vollbracht«, ne. Also ich hatte schon was verbrochen. Und ich bin nicht mehr naus gekommen. Ich bin dann wirklich, ich bin, ’n 1. Oktober angefangen zu arbeiten bei dem Dr. K. in=in [Ortsname] und da äh bin ich das

1058 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 13. 1059 Ausfertigung des Kreisgerichturteils vom 4. 7.1969 gegen Frau Schreiber und deren Mitschülerin, Bl. 2 (Rückseite) und Bl. 3 (Vorderseite); Kopie bei der Verfasserin. 1060 MfS-Akte Frau Schreiber, Ermittlungsbericht (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 26). 1061 „Und da bin ich dann, bin ich weg, ohne alles, ohne Abitur, ohne alles, praktisch Abgang achte Klasse, und bin dann als Hilfsschwester ins [Ortsname] Krankenhaus [...].“ V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 5. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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erste Mal wieder auf de Straße gekommen, ich muss es so SAGEN. NA JA, es war schon beschämend, ne.“1062

Das besonders harte, vor allem auch öffentliche Vorgehen gegen die beiden Schülerinnen rekurrierte auf bereits ein Jahr zuvor institutionalisierte Modelle. Im Herbst 1968 nämlich hatte es in der direkten Folge der Ereignisse von Prag eine Reihe strafrechtlicher Verfahren gegen SchülerInnen wegen staatsfeindlicher Hetze und Verleumdung gegeben. Mitter / Wolle berichten in diesem Zusammenhang eigens vom Prozess gegen sieben Berliner OberschülerInnen und StudentInnen, unter ihnen der Sohn des stellvertretenden Kulturministers Horst Brasch sowie die Söhne Robert Havemanns, die wegen der Verteilung von Flugblättern vom 22. auf den 23. August 1968 zu empfindlich hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Die Prominenz ihrer Eltern und das öffentliche Aufsehen trugen jedoch dazu bei, dass binnen weniger Tage alle Haftstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden konnten.1063 Die Kontrolle staatlicher Erziehungsinstanzen durch das MfS hatte sich seit 1966 erheblich ausgeweitet. Gemäß der Dienstanweisung Nr. 4/66 ging das MfS verstärkt dazu über, in die gesellschaftlichen Erziehungsinstitutionen nicht nur kontrollierend, sondern auch gestaltend einzugreifen und dies zusätzlich unter einer ministeriell verordneten „Zusammenarbeit“ mit Instanzen wie der „VP, den staatlichen und Wirtschaftsorganen und gesellschaftlichen Organisationen“1064 zu perfektionieren. In diesem Kontext kam es ebenfalls zur Einbindung der Staatsanwaltschaften und Kreisgerichte in den Verantwortungsbereich von MfS-Kreisdienststellen, dabei wurden sie „auf ihre für die geheimdienstliche Erziehung instrumentalisierbare Potenzen geprüft.“1065 Wie im Falle von Frau Schreiber hatten sie die Aufgabe, das MfS bei der Disziplinierung der quantitativ größten Gruppe zu observierender Jugendlicher – Oberschüler und Lehrlinge zwischen 14 und 18 Jahren – zu unterstützen. Sein besonderes Interesse an dieser Altersgruppe ‚erklärte‘ der Minister für Staatssicherheit kurzerhand damit, „dass sich unter den jugendlichen Tätern auch solche unter 18 Jahren“ befänden.1066 Insofern folgte das Vorgehen gegenüber auffälligen „feindlich-negativen“ SchülerInnen dem Duktus der oben zitieren Dienstanweisung Nr. 4/66 und gestaltete sich insbesondere durch den vermehrten und strategischen Einsatz inoffizieller Mitarbeiter in leitenden Schlüsselpositionen der Schulen und unter der Lehrerschaft. Unterschiede in vergleichbaren Fällen, die im eigentlichen Untersuchungszeitraum dieser Studie liegen, also ab dem Amtsantritt Honeckers 1062 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 12. 1063 Vgl. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 451–455. 1064 MfS-DA 4/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR. Dokumentiert in: Geißler/Wiegmann, Pädagogik und Herrschaft, S. 233. 1065 Ebd., S. 234. 1066 Erich Mielke zitiert in ebd., S. 189. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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1971, lassen sich insofern erkennen, als es im Falle von Frau Schreiber zu einem strafrechtlichen Prozess und zu einer rechtskräftigen Verurteilung durch die Jugendstrafkammer kam. Die so genannte „Ossietzky-Affäre“1067 aus dem Jahre 1988 bestätigt die Tendenzen im Vorgehen des MfS und der POZW seit 1968 gegen politisch auffällig gewordene SchülerInnen. Zwar kam es nicht mehr zu einem strafrechtlichen Schauprozess, wie er noch 1969 in der Aula der Erweiterten Oberschule von Frau Schreiber stattfand, dennoch spricht NEUBERT für den Fall von 1988 ebenso von Zuständen, die „tribunalartigen Schulversammlungen“1068 glichen. Damit wird ein stringentes Vorgehen in vergleichbaren Fällen bis zum Ende der 80-er Jahre erkennbar. Aus diesem Grunde erhält der geschilderte Einzelfall trotz seiner zeitlichen Versetztheit Relevanz für den Erkenntnisgegenstand der Arbeit; wirkten schließlich die erfahrenen repressiven Maßnahmen in der Biographie der Zeitzeugin einschneidend fort. Ab dem Zeitpunkt ihrer Verurteilung gehörte sie schließlich bis 1986 zum Kreis der kontinuierlich von IM oberservierten DDR-Bevölkerung.1069 Frau Schreiber ließ sich jedoch infolge dieser Disziplinierungsmaßnahmen zumindest im Hinblick auf ihren beruflichen Weg nicht brechen, in ihrer Zeit als Hilfsschwester reifte in ihr der Entschluss, „dass ich off Biegen und Brechen studieren wollte“1070. Auf Umwegen gelang es ihr nun dennoch, neben der begonnenen Ausbildung zur Krankenschwester, das Abitur in der Abendschule abzulegen. Auf unkonventionelle – aber dem elterlichen Modell folgende – Weise stemmte sie sich erfolgreich gegen Verbote staatlicher Autoritäten und setzte dabei weiterhin auf die direkte Auseinandersetzung mit den staatlichen Behörden. Sie bewarb sich trotz ihrer negativen Erfahrungen mit den Vertretern von Staatssicherheit, Justiz und Polizei eigenmächtig und direkt an einer Uni1067 Im Herbst 1988 kam es an der Berliner EOS „Carl von Ossietzky“ zu einer ähnlichen Situation wie sie am Beispiel von Frau Schreiber und ihrer Mitschülerin im Vorausgehenden geschildert wurde. Sieben SchülerInnen hatten an einer dafür vorgesehenen Wandtafel der Schule einen kritischen Beitrag angeheftet, der sich mit den Unruhen in Polen beschäftigte und sich vor allem gegen die Militärparade anlässlich des Republikfeiertags aussprach. Zudem hatte ein Schüler eine Unterschriftensammlung gegen die Parade initiiert. Das MfS schaltete sich in die Aufklärungs- und Disziplinierungsarbeit ein. Was sich daraus ergab, waren „Einzelverhöre vor Gremien, Diffamierung der SchülerInnen vor den Klassen, [...] tribunalähnliche Schulversammlungen in der Aula mit Sprechverbot für die Schüler“. Letzendlich kam es zur Relegation von vier SchülerInnen, drei weitere wurden an andere Schulen versetzt und mit Schulstrafen belegt. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit erlangte der Fall auch deshalb, weil sich unter den SchülerInnen der Sohn der damals bereits im westlichen Ausland lebenden Bürgerrechtlerin Vera Wollenberger (heute wieder Lengsfeld), Philipp Lengsfeld, befand. Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 774; ausführlicher zum gesamten Hergang, Kalkbrenner, Urteil ohne Prozess. 1068 Neubert, Geschichte der Opposition, S. 774. 1069 Vgl. MfS-Akte Frau Schreiber, Einleitung operativer Kontrolle vom 12.1.1971 (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 14); MfS-Akte Frau Schreiber, Information über ČSSR-Reise vom 30.10.1986 (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.-Nr., Bl. 2–3). 1070 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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versität, war ihr doch bewusst, dass sie mit ihrer Vorgeschichte innerhalb des regulären Auswahlverfahrens niemals eine faire Chance auf einen Studienplatz erhalten hätte. Mit ihrer unverhohlenen Offenheit legte sie ihre akademische Ausbildung in die Hand eines, wie sich herausstellen sollte, nur scheinbar linientreuen Staatsvertreters, der ihr tatsächlich einen Studienplatz vermittelte. „Ich bin dann eigentlich zum Studium gekommen, im Prinzip wäre es nicht gegangen, ne. Ich hab’ eins gemacht, ich bin=ich hab’ meine Unterlagen genommen und hab’ die nach [Ortsname] geschafft, bin in das Direktorat für Studienangelegenheiten und hab’ diesem Mann, der dort saß, das alles erzählt. So wie ich ’s Ihnen jetzt hier erzähl’. Und der war ooch nur dem Schein nach linientreu, muss ich sagen. Und der hat zu mir gesagt, »Ich kann nur EINES machen, ich kann Ihre Akte sofort auf den Stapel der Angenommenen legen«, ne, »und hoffen, dass es gut geht.« Dass das also gar ni’ groß zur Besprechung kommt, sondern, dass die auf diesem Stapel liegen. Und das hat der gemacht und so bin ich zum Studium gekommen.“1071

So konnte Frau Schreiber dennoch, erneut integriert in die staatlichen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, ihre berufliche Karriere beginnen. Die Zeit ihrer Disziplinierung, die öffentliche Kompromittierung, die durch das Stigma vorbestraft zu sein, langfristig an ihr hafteten, bestimmten schließlich im Erwachsenenalter immer mehr ihr Handeln, sobald sich potenzielle Auseinandersetzungen mit dem staatlichen System privat oder auch beruflich andeuteten. Vor allem als Zahnärztin im Gesundheitswesen der DDR war ihr klar, dass im kollegialen Umfeld möglicherweise die Überwachung und Kontrolle ihrer Person weiterhin bestehen könnte und dies war ja auch wirklich der Fall1072; auch deshalb zog sie sich in eine Art ländliche „Nische“ zurück.1073 Ihr kritisches Bewusstsein gegenüber Staat und System, die enge Bindung und primäre Orientierung am christlichen Glauben veränderten sich nicht, diese jedoch auch öffentlich erneut in Konfliktsituationen zu vertreten, war infolge der einschneidenden Erfahrungen der Ereignisse von 1969 – ihrer öffentlichen Aburteilung – nicht mehr möglich; selbst nach der Wende nicht mehr. Diese vorsichtige Haltung übertrug sie noch zu DDR-Zeiten auf ihre eigenen Kinder und versuchte diese vor ähnlichen Auseinandersetzungen mit dem System zu bewahren, auch wenn sie diese quasi anhielt, entgegen ihrer christlichen Überzeugung opportunistisch zu handeln. Es war klüger, zumindest nach außen hin scheinbare Zustimmung gegenüber Staat und sozialistischer Gesellschaft zu signalisieren, indem man sich zuerst der staatlichen Jugendweihe und dann der Konfirmation unterzog.

1071 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 7. 1072 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 11. 1073 „Aber ich muss Ihnen sagen, man sucht sich dann auch so seine Nischen. Ich hab’ dann mein Zahnmedizinstudium gemacht. Hab’ in [Ortsname] meine vier Jahre Assistenzzahnarzt gemacht, meinen Fachzahnarzt. Und bin dann hier nach [Ortsname] äh als Zahnärztin gekommen. [...] ABER DANN in meinem [Ortsname] hier, da hatt’ ich meine Ruhe diesbezüglich.“ V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 8 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„[...] ich muss sagen, es is’ einfach so, du wirst ruhig, ne. Du wirst vorsichtig, du wirst ruhig. Du bist froh, dass das Ganze wieder so die Entwicklung genommen hat. (2) Du sagst nichts mehr, ne. Das war dann sogar so. Bei meinem Sohn war das damals [...]. Dann hab’ ich zu unserm Pfarrer gesagt, ich schaff’ das ni’ alleine, ich war dann schon geschieden, ich hab’ gesagt, »Ich kann nicht mehr Märtyrer spielen. Mein Sohn macht erst Jugendweihe und das nächste Jahr dann konfirmiert. Ich schaff’ ’s ni’«, ne. [...] Die kriegen dich klein, will ich damit sagen, die kriegen dich ruhig, ne. Äh es war dann selbst so, dass in dem Ort der CDU-Chef [nach der Wende] kam und, »Wollen Se ni’ in de CDU«, ne. [...] Ich sagt’, »Ich nehm’ mir die Zehn Gebote für mein Leben, das reicht mir«, ne. Irgendwie schaffen se dich. Du=du wirst dann, du sagst dann, du hältst dich an deine christliche Strecke und damit gut. [...] Du weeßt schon, wo deine Seite is’, ne. Aber du sagst nichts mehr dazu.“1074

Auf einem anderen Feld, aber ebenfalls innerhalb der Verbalisierung politischer Missstände, versuchte Herr Klinger seiner Frustration über die offensichtliche Diskrepanz von Theorie und Praxis in der staatlichen Umwelt- und Friedenspolitik Ausdruck zu verleihen. Als Mitglied einer im südlichen Raum der DDR bekannten Musikband wurde er Mitte 1985 zum Gegenstand eines Operativen Vorgangs, der gegen die gesamte Formation angelegt worden war und eine Diskriminierung gemäß des Straftatbestandes „Staatsverleumdung“ (§ 220 StGB) zum Ziel hatte. Die Begründung im Eröffnungsbericht lautete: „Die Titel und Aussagen der Musikformation [Bandname] sind geeignet, die staatliche Ordnung öffentlich herabzuwürdigen und Maßnahmen des sozialistischen Staates bezüglich des Umweltschutzes verächtlich zu machen und deren Wirksamkeit zu gefährden.“1075 Im Dezember 1985 formulierte man deren künstlerisches Wirken bereits als „ideologische Diversion“ und warf der Band gewissermaßen eine Untergrabung der militärischen Verteidigungswirksamkeit der DDR vor, weil sie „mit ihren musikalischen Darlegungen und Argumentationen ihre Anhänger dazu animiert die Friedenspolitik der DDR zu untergraben und letztlich die Verteidigungskraft durch Wehrdienstverweigerer geschwächt wird.“1076 Aufmerksam war man auf die Mitglieder der Band bereits Mitte der siebziger Jahre geworden, als die aufkommende Blues- und Folkrock-Welle in der DDR „Momente einer jugendlichen Subkultur“1077 ausbildete und die Band im Zuge dieser vor allem Coverversionen westlicher Musiker in ihr Repertoire aufnahm: „Das war ja nun zu DDR-Zeiten so, die Musik, denk’ ich schon, war ’ne Insel für sich, und viele Inseln gab ’s ja nich’, also die bissel ab waren dort, ich will mal sagen, von der ganzen Staatsdoktrin. Und natürlich wurde damals in der Hauptsache Westmusik gespielt. [...] Also es waren manchmal so viel Leute haußen wie drinnen schon im Saal waren und da gab ’s Rangeleien. Wir hatten 1074 1075 1076 1077

V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 8. MfS-Akte Herr Klinger (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 1, Bl. 11). MfS-Akte Herr Klinger (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 2, Bl. 130). Kochan, Den Blues haben. Diese Entwicklungen stehen in direktem Zusammenhang mit den von Frau Simon geschilderten Veränderungen des Lebensstils alternativer Gruppen zu Beginn der achtziger Jahre in Ablehnung der staatlich verordneten sozialistischen Lebensweise. Vgl. Typus II, Kap. 6.2.2.3. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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mal in Weimar e Ding, hier das war im ‘Kassaturm’, also im Studentenclub, den ham se dann gestürmt, da is’ gar ni’ gespielt ... Das is’ naufgegange, die Meldung bis zum Zentralrat, also da war schon was los dort.“1078 Die regionalen Musikbands fungierten dabei als wichtiger Katalysator dieser Subkultur. In einer neu geschaffenen Gegenöffentlichkeit, die Rauhut als einen „quasi rechtsfreien Raum“ definiert, der sich „in privaten Kneipen und Tanzsälen im dörflichen Süden der DDR und an der Peripherie größerer Städte“1079 etablierte und dessen Betreiber anarchistische Ignoranz gegenüber staatlichen Auflagen walten ließen, suggerierten unzählige Bands in der Darbietung westlicher Musik sehr zum Ärger des MfS laut IM-Auskunft „Stimmung[en ...] wie bei einem ‚Happening‘ in den USA.“1080 So agierte ihre Musik demzufolge entgegen den kulturtheoretischen Maximen, die sich „in ihrem künstlerischen Profil von den Produkten des Westens abgrenzen“ sollte und „den politischen Auftrag“ hatte „ihre Rezipienten im Sinne der Utopie der ‚allseitig und umfassend entwickelten sozialistischen Persönlichkeit‘ zu erziehen.“1081 Mit dem Aufkommen der unabhängigen Friedens- und Umweltbewegung in der DDR änderten sich aber auch ihre Inhalte. Man legte mehr Wert auf eigene Kompositionen und Texte mit brisanten Inhalten und versuchte sich so zwar vorsichtig, aber dennoch politisch mit den Umständen in der DDR auseinander zu setzen und zu positionieren. Damit riskierte man aber den Entzug der Spielerlaubnis und sah sich mit der Überwachung durch IM und Boykottmaßnahmen des MfS während der Veranstaltungen konfrontiert.1082 Ein Ausweg bestand in der Suche nach neuen Räumen, die sich wie für die alternativen, sozialethisch engagierten Gruppen unter dem Dach der Kirche fanden. Ende der siebziger Jahre etablierten sich dort so genannte Bluesmessen, die in den Ostberliner evangelischen Kirchen ihren legendären Ursprung hatten und in vielen Teilen der DDR Nachahmung und Aufnahme in das Programm der Jugendgottesdienste fanden.1083 Das Engagement der Band von Herrn Klinger in diesem kirchlichen Rahmen wurde vom MfS registriert und infolge zur „politischen Untergrundtätigkeit“ stilisiert.1084 1078 1079 1080 1081 1082

V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000, S. 1. Rauhut, Rock in der DDR, S. 78. MfS-Akte Herr Klinger (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 1, Bl. 70). Rauhut, Entwicklung der Unterhaltungsmusik, S. 1790. „Das Ziel dieser Aussprache sollte insbesondere darin bestehen, [...] aufzuzeigen, dass weitere Verstöße zu Sanktionen in Form von ordnungsstrafrechtlichen Maßnahmen bis zum Entzug der Spielerlaubnis führen können.“ MfS-Akte Herr Klinger, Stellungnahme zum OV Abt. IX (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 1, Bl. 102). 1083 Rauhut, Ohr an der Masse, S. 35–41. 1084 „Es liegen erste Hinweise über die Herausbildung eines Zusammenschlusses ‚umweltinteressierter Bürger‘ unter Beteiligung [...] der Mitglieder der Musikformation [Name der Band Herrn Klingers] vor, die sich in Räumlichkeiten der Kirche“ organisieren. Bestandsaufnahme aktueller Erscheinungen politischer Untergrundtätigkeit im Bezirk Karl-Marx-Stadt und dabei auftretender Verflechtungsbeziehungen feindlichnegativer Personen und Personenkreise, BV KMSt, Abt. XX, GVS 152/85 vom 24. 9. 1985 (BStU, ASt. Chemnitz, C-XX-29, Bl. 69–70). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Die Ausübung und öffentliche Darbietung populärer Musik, auch im Amateurbereich – wie im Falle der Band von Herrn Klinger – war abhängig von der Kulturabteilung des jeweiligen Rats des Kreises. Diese legte fest, ob eine staatliche Spielerlaubnis, deren Vergabe sich weniger abhängig von „künstlerische[n] Kriterien“ als von undifferenzierten Bewertungsmaßstäben wie „äußeres Auftreten“ und „gesellschaftliche Wirksamkeit“ zeigte, erteilt wurde. Die Genehmigung der Spielerlaubnis war insofern dem Wohlwollen bzw. ihr Entzug der Willkür der jeweiligen staatlichen Kulturvertreter unterworfen:1085 „Und da ging das los, [...] vor allen Dingen auch paar Probleme aufgegriffen, die uns dann betroffen ham. Also, Armeegeschichten, Pazifismus und dann was jetzt hier im Erzgebirge aah mit ’m Umweltschutz [...]. Und da ging ’s los. Wir mussten, der Kapellenleiter, der G., wir mussten immer nein ins Erlaubniswesen Polizei, wir mussten unsere Termine bekannt geben und so weiter und so fort. Also du hast gemerkt, da war schon der Schatten war drüber. Das war an für sich das, was mir gemerkt ham.“1086 Speziell für Herrn Klinger, der sich als Texter der Band hervortat und als geistiger Urheber der politischen Inhalte galt, zeigte sich dies in einer äußerst intensiven Überwachung durch mehrere IM und GMS, „die in der Lage sind, vertrauliche Beziehungen zu einzelnen Mitgliedern der Musikformation herzustellen, um Beweise entsprechend der Bearbeitungsrichtung zu erarbeiten und zu dokumentieren.“1087 Auf diese Anweisung hin wurde mit Erfolg ein alter Jugendfreund von Herrn Klinger als inoffizieller Mitarbeiter angeworben. Ihm gelang es nicht nur dem MfS Aufschluss über die innere Struktur der Band zu geben sowie Persönlichkeitseinschätzungen ihrer Mitglieder zu erstellen, sondern auch unveröffentlichtes Tonmaterial neuer Kompositionen und Texte zu sichern und in Besitz zu nehmen: „Die meisten Texte der Gruppe stammen von [Klinger]. [...] Auf den Kassetten befinden sich solche Titel mit Klavier aus der Wohnung, die er später seinen Mitgliedern der Gruppe vorstellt und diese in kollektiven Entscheidungen die Übernahme bestimmen. Des Weiteren werden auch verbotene NSW-Titel gespielt, die vom Kapellenleiter G. mit entsprechenden Ankündigungsworten, die wie [Klinger] meint, entscheidend für die Auslegung des Textes wären, dem Publikum vorgestellt werden. Der teilweise staatsfeindliche Inhalt der Titel ist bekannt. [Klinger] meint dazu, was die Massen bewegt, muss auch angesprochen werden. Darin widerspiegelt sich die Grundeinstellung des [Klinger].“1088 1085 Rauhut, Entwicklung der Unterhaltungsmusik, S. 1789. Rauhut bezieht seine Ausführungen auf die „Anordnung Nr. 2 über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik“ vom 1.11.1965 (GBl. der DDR, Teil 2, 15.11.1965, S. 777–778). 1086 V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000, S. 2. Vgl. MfS-Akte Herr Klinger, Protokoll über die Befragung des Leiters der Musikformation vom 1. 8.1986 (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 1, Bl. 152–153). 1087 MfS-Akte Herr Klinger, Maßnahmeplan vom 14. 8.1985 (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.Nr. XIV 2405/85, Band 2, Bl. 19). 1088 Vgl. MfS-Akte Herr Klinger, Übergabemitteilung für ein Tonband (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 3, Bl. 207 und Band II, Bl. 166). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Im Zuge dieser intensiven IM-Bearbeitung und infolge gehäuft „feindlich-negativer“ Äußerungen bei öffentlichen Konzertauftritten1089 zu unverhohlen politischen Liedtexten erfolgte eine Änderung und damit Verschärfung des Maßnahmeplans gegen die Musikgruppe. Mit Hilfe der aktivierten inoffiziellen Mitarbeiter verschaffte sich die zuständige MfS-Abteilung 26 Zugang zu den Proberäumen der Band, fertigte Fotos der Räumlichkeiten und Skizzen der vorhandenen Telefonanschlüsse, die für den Einbau von Abhöranlagen nötig waren und verschaffte sich notwendige Fakten über den Zugang zu Schlüsseln sowie festen Probeterminen der Band.1090 Dieses ‚Unternehmen‘ wurde für die Musiker selbst nicht wahrnehmbar, dennoch konnte man nicht länger die kontinuierlich drastischer werdenden Maßnahmen der Behörden ignorieren: zahllose Gespräche mit dem Erlaubniswesen, Verbot öffentlicher Vorankündigung der Veranstaltungstermine und Plakatreklame sowie das Auftreten einer überdurchschnittlich hohen Anzahl von Sicherheitskräften bei den jeweiligen Konzertauftritten.1091 Um überhaupt weiterhin Musik machen zu können, auch aus dem Wissen heraus, welche Konsequenzen die Konfrontation mit der zuständigen Kulturabteilung und dem MfS haben konnte, war man nun eher „bestrebt, ni’ total anzuecken. Wir wussten ja, was mit Bands passiert, jetzt. Die wurden verboten, das stand ja nun aah immer im Raum und das wollten wir ja nun ooh ni’.“1092 Man hatte DDR-weit bekannt gemachte Verbote von Bands bereits aus den siebziger Jahren, die noch im Vorfeld der Ausbürgerung des Liedermachers Biermann 1976 ergingen, im Hinterkopf und wusste um die Intrigen, die dabei zwischen Bandmitgliedern gesponnen wurden. Ziel des MfS war diese wegen Verdachts der staatsfeindlichen Hetze strafrechtlich greifbar zu machen, zu verurteilen und möglicherweise gar zu inhaftieren.1093 Diese negative Dynamik wollte man schließlich in der eigenen Band vermeiden, hatte das MfS doch bereits vertrauliche Einzelgespräche mit einigen Mitgliedern der Band geführt.1094 Die immer häufiger auftretenden Probleme mit den Behörden wirkten sich auf die öffentlichen Auftritte der Band aus und veränderten ihr „feindlich-ne1089 Zitat einer Ansage des Kapellenleiters / Sängers der Band aus einem konspirativen MfS-Mitschnitt einer Tanzveranstaltung: „ ‚Noch ein deutsches Volkslied, das noch in unseren Büchern zu finden ist. Ein schönes Lied, das alle mitsingen können. Ein Lied das uns hier oben so ganz recht nach dem Herzen geschrieben ist.‘ Titel: ‚Die Gedanken sind frei‘ Textstelle: und sperrt man mich ein in finstere Kerker das alles sind vergebliche Werke Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei, die Gedanken sind frei!“ MfS-Akte Herr Klinger (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 1, Bl. 58). 1090 Vgl. MfS-Akte Herr Klinger, Ergänzung zum Maßnahmeplan vom 10. 6.1986 (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 1, Bl. 129–130). 1091 V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000, S. 6. 1092 V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000, S. 6. 1093 Vgl. bspw. die Verwicklungen des MfS in das Verbot der „Klaus Renft Combo“ (1975) bei Rauhut, Blues in Rot, S. 773–782. 1094 „Also die andern Mitglieder die hatten schon Kontakt dann mit der Stasi. Also der G., weeß ich, dass der ’n Gespräch hatte, kam aber alles dann später raus.“ V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000, S. 7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gatives“ Erscheinungsbild beim MfS, das zufriedenstellend eine politische Mäßigung festzustellen glaubte. Laut Abschlussbericht war diese auf die erfolgreiche Disziplinierung durch die zuständigen staatlichen Vertreter der Kulturabteilung, also auf die Arbeit der angewiesenen Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens zurückzuführen. Im Dezember 1988 stellte man den Operativen Vorgang ein, weil eingeschätzt wurde, „dass die Musikformation [Bandname] Lehren aus ihrer bisherigen Art und Weise der Auftritte gezogen hat“.1095 Zwar musste die Band eine taktischere Linie bei der Auswahl ihrer Lieder verfolgen, aber innerhalb einer subtilen Präsentation inhaltlich dennoch brisanter Texte konnte sie auf ein Publikum hoffen, welches die politisch-kritische Botschaft umzusetzen wusste. „Also es gab im Prinzip nischt, wo die dann nankonnten. Außer, dass wir alte Soldatenlieder gespielt ham, herrje, die gab ’s auf Platten hier. Da hätten wir ja immer sagen können, »Hert euch mal die ‘Zupfgeigenhansel-Platte’ an und so weiter.« Und die Umweltschutzlieder, na ja, da ham se ’s dann sein gelassen. Ja. Die ham wahrscheinlich drauf gewart’, dass wir die (Mühle) rühren und dass wir die Leute ... Wir ham das an und für sich nur gespielt und das dargeboten und da konnt’ jeder draus nehme, was er wollt. Das ham se dann auch gemacht, die Leut’. Also mehr war da nich’. Also wir ham nich’ agitiert dann, wollen wir mal so sagen. Oder geworben dann für irgendwelche Zwecke und so. Das war wahrscheinlich immer Glück, wenn ich ’s so les’, war ’s haarscharf.“1096

„Na, dieses ERLANGEN zivilen Selbstbewusstseins ...“ – Konsequentes Signalisieren von Nonkonformismus: Nicht im privaten Bereich, sondern im direkten beruflichen Umfeld, in besonders empfindlichen Abteilungen zweier Großbetriebe der DDR, kam es insbesondere aufgrund des ‚ambitionierten Einsatzes‘ einer Vielzahl inoffizieller Mitarbeiter auch für Herrn Steinbeck und Herrn Jonas zu drastischen Auseinandersetzungen mit dem MfS.1097 Auf den Einfluss parteipolitischer Interessen der SED auf die innerbetrieblichen Strukturen der volkseigenen Betriebe und Kombinate in der DDR wurde bereits mehrfach verwiesen. Dieser spielt auch im folgenden Abschnitt eine tragende Rolle, was die Zusammenarbeit des MfS mit den so genannten Partnern des POZW anbelangt.1098 Er war zunächst personell vor allem auf die enge und ab den siebziger Jahren fast lückenlose und gleichzeitige Einbindung der 1095 MfS-Akte Herr Klinger, Abschlussbericht zum OV vom 1.12.1988 (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 2405/85, Band 1, Bl. 177). 1096 V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000, S. 7. 1097 Auch Frau Fischer unterstand, nachdem das MfS die Flucht ihres Bruders in die BRD registriert hatte, an ihrem Arbeitsplatz im Gesundheitswesen einer solchen Überwachung. Aufgrund kritischer Äußerungen und wegen des Verdachts einer „Republikflucht“ hatte man einen Maßnahmeplan erarbeitet, der sein Hauptaugenmerk darauf richtete, „welche politischen Diskussionen [...] die [Fischer]“ vor allem auch im Arbeitsbereich führe, die für Reiseablehnungen und Personalausweisentzug geltend gemacht werden könnten. Vgl. MfS-Akte Frau Fischer (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Reg.Nr., Bl. 12, 16 und 17, Zitat Bl. 14). 1098 Vgl. Typus I, Kap. 6.1.2.1 und Typus II, Kap. 6.3.1.2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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leistungsfähigen SED-Kader in die Leitungsfunktionen der „Volkseigenen Betriebe“ zurückzuführen und zusätzlich durch das umspannende Netz instrumentalisierter Institutionen wie der innerbetrieblichen Gewerkschaftsleitung (BGL), der „Kampfgruppen“ und der Massenorganisationen von FDJ und DSF ausgedehnt worden. Eine wichtige Funktion übernahm „hinter den Kulissen“ hierbei letztlich auch das MfS, das im Auftrag der SED „mit diversen inoffiziellen Mitarbeitern“ die wichtigste Kontroll- und Überwachungsfunktion der jeweiligen leitenden und werktätigen Betriebsbelegschaft übernahm.1099 Die Einzelfälle hier verbindet vor allem die enge familiäre bzw. verwandtschaftliche Bindung ins westliche Ausland, die insbesondere für Herrn Jonas, der als Entwicklungsingenieur in der Mikroelektronik tätig war, zum entscheidend negativen Moment seiner beruflichen Karriere werden sollte. Nach einer eingeleiteten M-Maßnahme1100 des MfS bestanden Befürchtungen, dass wegen „seiner Verbindung zu einem Angehörigen eines gleichgearteten kapitalistischen Betriebes [...] politisch-operatives Interesse“1101 möglich sei. Weil sich der Verdacht erhärtete, dass Herr Jonas zum potenziellen „Stützpunkt des Gegners“ werden könnte und insofern Anhaltspunkte für eine mögliche Wirtschaftsspionage geboten waren, wurde eine Operative Personenkontrolle eingeleitet. Im arbeitgebenden Betrieb traf man erste Maßnahmen. Herr Jonas sollte einer im Maßnahmeplan verfügten so genannten VS-Verpflichtung unterworfen werden, die für Geheimnisträger in bestimmten beruflichen Positionen üblich war. Sie beinhaltete ein generelles Kontaktverbot mit dem westlichen Ausland und hätte für ihn den endgültigen Abbruch aller Beziehungen zu Verwandtschaft und Familie im westlichen Ausland bedeutet. Ziel dieser Maßnahme sollte sein, „die Ehrlichkeit des [Jonas] hinsichtlich seiner ihm damit auferlegten Kontaktmeldepflicht zu prüfen.“1102 Letztendlich war es die Absicht ihn zunächst auf dem Wege einer ‚offiziell‘ begründbaren Entlassung aus seiner Position als Entwicklungsingenieur zu entfernen, ihm die Verletzung des Kontaktverbots zu beweisen und damit den Weg zu einer Kriminalisierung wegen Wirtschaftsspionage vorzubereiten. Aber Herr Jonas reagierte anders, als es das MfS erwartet hatte. Er stellte die Beziehung zu seiner Familie über seine berufliche 1099 Vgl. Reichel, „Durchherrschte Arbeitsgesellschaft“, S. 90 (Zitat) und 92. 1100 M-Maßnahme: Materialsammlungsmaßnahme. Die eingeleitete postalische, telefonische und IM-Überwachung von Herrn Jonas begründete sich spezifisch aus der engen Verbindung zu einem in die BRD übergesiedelten Ehepaar, mit dem weiterhin enger Kontakt durch Briefe, Telefonate und geheime Treffen in der ČSSR bestand. Der Mann des Paars arbeitete in der Bundesrepublik bei einem Unternehmen, das in derselben Branche wie der VEB von Herrn Jonas angesiedelt war. Außerdem befürchtete man etwaige Fluchtgedanken bei Herrn Jonas, da es wiederholt zu Schwierigkeiten bei der Genehmigung von Reisen ins westliche Ausland gegeben hatte, die Herr Jonas wegen der schweren Erkrankung seiner Mutter beantragte. Vgl. MfS-Akte Herr Jonas, OMMaßnahmeplan (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 629/85, Bl. 80–81). 1101 Vgl. MfS-Akte Herr Jonas, Einleitungsbericht OPK vom 11. 3.1985 (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 629/85, Bl. 92). 1102 MfS-Akte Herr Jonas, Maßnahmeplan zur OPK (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 629/85, Bl. 94). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Laufbahn und verweigerte die Unterzeichnung. Ein weiteres Mal wurde er damit von staatlichen Autoritäten in seinem Berufsleben politisch erpresst, nur in diesem Falle erschien ihm der moralische Preis zu hoch, als dass er wie bei seiner damaligen NVA-Verpflichtung und trotz des abermalig massiven Drucks nun hätte zustimmen wollen. „Es kam dann die Zeit, dass alle Entwicklungsingenieure und so, die Einblick hatten in Forschungsthemen und so was, VS-verpflichtet werden sollten. Vertrauliche Verschlusssache. Diese VS-Verpflichtung war aber das Todesurteil für meine Verwandtschaft gewesen. Ich hätte dürfen nich’ mehr schreiben und nich’ mehr anrufen. So, also das musste man unterschreiben, dass man jeglichen Kontakt zum Westen abbricht. Auch zu meiner Mutter. So. [...] Bin zu meinem Direktor R., dieser GMS K., und hab’ gesagt, »[...] würdest du das machen?« »Nein, aber entweder du unterschreibst diese VS-Verpflichtung«, aber im wirklich lauten, zornigen Ton, also da waren auch mehrere Seelen bei dem drinne‚ »entweder du unterschreibst das oder ich muss dich rausschmeißen.« Hab’ ich gesagt, »Da musste mich rausschmeißen«, da hat er gesagt, »ÜBERLEG’ DIR DAS. DAS IS’ AUCH ’NE FINANZIELLE SACHE«, »Das interessiert mich nich’. SCHMEIßT MICH RAUS.«“1103

Das MfS beschloss auf die eingehende Aktennotiz über die „Ablehnung der VSVerpflichtung des [Jonas]“ hin und trotz der ungewöhnlichen Initiative des GMS für Herrn Jonas, der auf die innerbetrieblichen Probleme einer Entlassung hinweist, „die Notwendigkeit dieser Konsequenz“: Herr Jonas sollte unverzüglich aus der Abteilung Forschung des VEB ausscheiden.1104 Die Aktennotiz lässt insofern ein zwiespältiges Verhalten des GMS und zugleich Betriebsdirektors erkennen, welches von Herrn Jonas mit der Wendung „da waren auch mehrere Seelen bei dem drinne“ umschrieben wird und sich kontinuierlich fortsetzte. Über ein Jahr lang gelang es diesem, seinen Entwicklungsingenieur vor einem endgültigen Ausschluss aus dem Forschungsprojekt zu ‚bewahren‘, denn die hohe Priorität der volkswirtschaftlichen Forschung und Entwicklung so genannter Z-Themen ließ seine Entlassung vorerst nicht zu: „Dann waren aber ganz schwerwiegende Entwicklungsthemen, das nannte sich ‘Z-Themen’, das waren ‘Zentrale Themen’, die gingen also über das ZK. So. Das waren Themen, da konnten ... Wenn die da ... Ich war Themenleiter, wenn die mich rausgeschmissen hätten, hätt’ ’s können sein, es wäre, es hätte Verzögerungen gegeben. Mit diesen Dingen sind die dann immer geritten. Also meine Bereichsleiterin und mein Direktor ham mich etwa noch ’n anderthalbes Jahr in der Entwicklung gehalten. [...] aber der [Direktor/GMS] war ziemlich weit dran an den Leuten, also der hat schon gewusst, um was es geht.“1105 „Derartige innerbetriebliche informelle Arrangements, bei denen sich die Akteure in rechtlichen Grauzonen bewegten oder klare Gesetzesverstöße in Kauf nahmen“, konnte Reichel in seiner Untersuchung von Machtverhältnissen in 1103 V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 17. 1104 MfS-Akte Herr Jonas (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 629/85, Bl. 114). 1105 V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 17. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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DDR-Betrieben sichtbar machen. Auch wenn in seinen Beispielen die Dominanz des MfS in den einzelnen Konflikten weniger zum Tragen kommt, ist wohl auch die Entwicklung bzw. Verzögerung des Falles Jonas durch den Betriebsdirektor in Reichels Schlussfolgerung einzubeziehen, welche konstatiert, dass solche Arrangements „ganz offensichtlich eher die Regel als die Ausnahme“ darstellten.1106 Aber die auf einer persönlichen Bekanntschaft und wohl auch Zuneigung beruhende Protektion der Betriebsleitung konnte nicht von Dauer sein, denn das MfS übte auf die beiden koordinierten GMS bzw. IM Druck aus und forderte eine konsequente Entscheidung. „So und das Ende vom Lied war also, also die ham mich [...] dann irgendwann hat mich die Kaderleitung wieder bestellt, [...] sagte zu mir, »[Jonas], was machst ’n nu’, ich hab’ hier ’ne Arbeitsstelle für dich, in der Materialwirtschaft, Leiter Materialwirtschaft«, und was in der DDR Materialwirtschaft war, das wissen Sie ja, es gab’ ja nichts, null, nichts. »[...] Wenn du das nicht annimmst, weiß ich nicht mehr, was ich mit dir machen soll. Wir ham schon SO LANGE die Augen zugedrückt und der R.«, der also mein Direktor war, »der kann das auch nich’ mehr verantworten«. [...] Also den beiden ham die ECHT, se waren ja IMs, und dann ham die [das MfS] gesagt, »Also mein lieber Freund, wenn du das jetzt nich’ durchdrückst ...«, ob die das dann gemacht hätten, denen Repressalien irgendwie auferlegt, weiß ich nich’. Die ham auch den IMs gedroht, das weiß man im Nachgang. [...] Gut, hab’ ich meinen Arbeitsvertrag unterschrieben. Mit diesem Unterschreiben des Arbeitsvertrages [...] ham die die OPK geschlossen“.1107

Herr Jonas verlor innerhalb der erfolgten Maßnahme „Herauslösung der OPKPerson aus dem Bereich Forschung und Entwicklung und damit Ausschaltung eines Unsicherheitsfaktors“ seine Arbeitsstelle, gleichzeitig blieb er in einem neuen, seiner Qualifikation nicht entsprechenden Arbeitsbereich der Kontrolle von weiteren IM „im Rahmen der politisch-op. Sicherung volkswirtschaftlicher Prozesse im VEB“1108 unterstellt. Doch bereits nach kurzer Zeit entschied er sich die vollzogene berufliche Degradierung nicht länger zu ertragen: „[...] dann bin ich dort ausgerissen, konnte man nervlich nich’.“1109 So wie Herr Jonas war auch Herr Steinbeck einer von jenen, die stetig versuchten, sich dem System zu entziehen und der alltäglichen, oft auch unbewussten Anpassung zu widerstehen. Auch er bewahrte sich vor einer VS-Verpflichtung eines VEB Kombinats, weil er ebenso wenig wie Herr Jonas die engen Kontakte zu seinen Verwandten im Westen aufs Spiel setzen wollte. In diesem Falle das Risiko einer Weigerung einzugehen war auch insofern möglich, da er sich seiner Position als Archivar im Betrieb sehr sicher sein konnte1110. Zumal 1106 1107 1108 1109 1110

Reichel, „Durchherrschte Arbeitsgesellschaft“, S. 106; Hervorhebung im Original. V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 22. MfS-Akte Herr Jonas (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. XIV 629/85, Bl. 128). V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 23. „[...] normalerweise wurden sie als Archivar VS-verpflichtet, das is’ aber nie gemacht worden, ooch hier bei [Betriebsname] nich’, weil ’s nich’ ging. Die wussten, ich werd’ nie meine Westkontakte abbrechen. Sie brauchten mich aber auch als Archivar [...].“ V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 31. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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konnte er daneben ebenfalls wie Herr Jonas auf die „innerbetrieblichen informellen Arrangements“ setzen, die wiederum aufzeigen, dass die sozialen Bindungen und zwischenmenschlichen Beziehungen in den Betrieben den behördlichen Anweisungen im Einzelfall oftmals entgegenstanden. Auch bei Herrn Steinbeck gewannen sie zusätzlich an Skurrilität, da sie von seinem Chef, der inoffizieller Mitarbeiter des MfS war, initiiert wurden. „Dann sind die vom Ministerium da gewesen, ham eine Kontrolle gemacht, von der staatlichen Archivverwaltung, die waren eigentlich de Offsichtsbehörde für de Archive, ob man seine Arbeit ordentlich macht. Und die ham dann eben ooh gesagt, »Sie ham ’ne gute Archivarbeit, nur äh äh für de politische Bildung von Herrn [Steinbeck] [...] muss noch etwas getan werden.« Und is’ eben ’was Bemerkenswertes, dieser Chef, der bei der Stasi war, sagte dann zu mir, »Na, ich gloobe, du hast keene richtige Lust am Parteilehrgang teilzunehmen«, das ging nämlich, dass man nich’ am Parteilehrgang teilnahm, was die irgendwie empfohlen hatten. ((lacht)) Der sagte ... Der wusste natürlich, wie ich denke, ne. Und da war das Thema erledigt dann, also die ham äh in der Weise schon berücksichtigt, dass ich das nich’ mochte. Und es war=is’ schon ’n bisschen komisch in der DDR dann schon wieder.“1111

Dennoch wurde er nicht müde, stets weiterhin seinem Unmut über die volkswirtschaftlichen Missstände Ausdruck zu verleihen, indem er das zugestandene Eingabenrecht offiziell in Anspruch nahm.1112 Weil er seine Beschwerden über die wirtschaftlichen Mangelzustände an politische Fehlleistungen von Staat und Regierung knüpfte und diese Haltung auch offen im Arbeitsbereich unter Kollegen äußerste, fiel er im Betrieb und bei den Behörden „feindlich-negativ“ auf. Erste Informationen, die das MfS aus seinem Arbeitsbereich im Jahre 1984 anforderte, betonen seine „ablehnende Haltung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR. [...] In Diskussionen im Arbeitsbereich stellt sich [Steinbeck] immer wieder auf die Position der Nörgler und Negierer.“1113 Seine Offenheit brachte ihn schließlich in eine sehr ernsthafte Situation, denn er wurde vom MfS im so genannten Sicherungsvorgang (SVG) 1000/68 registriert. Er gehörte damit zu jenen im April 1985 in der Übung „Meisterschaft 85“ erfassten 8 495 Personen in diesem Bezirk der DDR, die ernsthaft für die Einweisung in ein „Isolierungslager“ vorgesehen waren.1114 Grundlage dieser Maßnahmen war die im Jahre 1967 erlassene Direktive 1/671115 des Ministers für Staatssicher1111 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 31 f. 1112 Kopie einer Eingabe Herrn Steinbecks an das Ministerium für Kohle und Energie, wo er auf den Versorgungsnotstand mit Brennmaterial aufmerksam macht. Das MfS notiert, dass seine direkten Angriffe als „gefährlich“ einzuschätzen seien. MfS-Akte Herr Steinbeck (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. SVG XIV 1000/68 Nr. 381, Bl. 3). 1113 MfS-Akte Herr Steinbeck (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. SVG XIV 1000/68 Nr. 381, Bl. 2). 1114 Meldung des Leiters der BV Karl-Marx-Stadt zur Übung „Meisterschaft 85“, zitiert in Auerbach, Vorbereitung, S. 104. 1115 Direktive 1/67 über Inhalt und Ziel der Mobilmachungsarbeit im Ministerium für Staatssicherheit, die Planung und Organisation der Mobilmachungsaufgaben und besonderer Maßnahmen der Vorbereitung des Ministerium für Staatssicherheit auf den Verteidigungszustand (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Dokumentennummer). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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heit, die im Zuge von Vorbereitungen „im Verteidigungszustand und in Spannungsperioden“ besondere Vorbeugungsmaßnahmen anwies. In der Durchführungsbestimmung Nr. 1 zur Direktive wird daher festgehalten, dass „schlagartig und in kürzester Frist“ solche Personen „zu isolieren bzw. unter Kontrolle zu halten“ seien, „die unter dem begründeten Verdacht stehen, staatsfeindliche Handlungen zu begehen“. Dies betraf unter Punkt 4.1.3 spezifisch diejenigen, die „auf Grund ihres Gesamtverhaltens und ihrer Möglichkeiten negativen politischen und ideologischen Einfluss auf bestimmte Bevölkerungskreise ausüben“1116 könnten. Inwieweit diese Vorbereitungen tatsächlich zu einer realen Umsetzung gereichten und inwiefern die Gültigkeit der Direktive bis 1989 anzunehmen ist, zeigt und beweist eine Anweisung der Arbeitsgruppe des Ministers vom Juni 1989, welche ausdrücklich darauf hinwirkte, in den einzelnen Bezirken besonderes Augenmerk auf „die Prüfung der Praktikabilität getroffener Entscheidungen und Zwischenlösungen im Rahmen von Übungen und Überprüfungen der Verteidigungsbereitschaft“1117 zu legen. Die im „Vorbeugekomplex“ erfassten Personen sollten im zu befürchtenden Spannungsfall in „X + 24 Stunden [in] geeignete und konspirativ aufgeklärte Objekte mit Stacheldraht und Wachtürmen“ verbracht und überwacht werden. Die Befehlsgewalt über diese Entscheidung oblag letztlich aber Erich Honecker als Vorsitzendem des Nationalen Verteidigungsrates.1118 Im Zuge der Entwicklungen des Herbstes 1989 erhalten auch die im Arbeitsbereich immer kritischer und unvorsichtiger werdenden Äußerungen Herrn Steinbecks immer mehr Gewicht, wie man anhand der IM-Berichte erkennen kann. Die gesamtstaatliche Krisensituation war sicherlich der Grund, warum Herr Steinbeck nicht in ernsthafte Konfrontationen mit dem MfS kam, obwohl er nun als „konterrevolutionärer Sympathisant“ und als zu „Demonstrativhandlungen neigende“1119 Person eingeschätzt wurde. Schließlich stellte er die Führungsschicht des Systems offen in Frage, verleumdete damit Partei und Regierung öffentlich. Der IM formulierte in seinem Bericht die „Hauptgedankengänge“ von Herrn Steinbeck folgendermaßen: „Endlich anfangen als erstes Funktionen und Funktionäre abzuschaffen, die überflüssig sind. [...] Mit Personaländerungen in Berlin muss es wohl bald losgehen. [...] Ich bin mir sicher, man ist nicht aus der Branche, aber mein Gefühl sagt mir, dass, wenn sich nicht

1116 Alle vorausgehenden Zitate Durchführungsbestimmung Nr. 1 zur Direktive 1/67 über die spezifisch-operative Mobilmachungsarbeit im Ministerium für Staatssicherheit und in den nachgeordneten Diensteinheiten zur Direktive Nr. 1/67 des Ministers für Staatssicherheit (BStU, ASt. Chemnitz, ohne Dokumentennummer). 1117 Hinweise für die Vorbereitungsarbeit des MfS zur Realisierung der Ziel- und Aufgabenstellung des Genossen Minister auf der Dienstbesprechung am 26. 2.1988 zur Durchsetzung des Territorialprinzips im Verteidigungszustand vom 15. 6.1989 zitiert in Auerbach, Vorbereitung, S. 102. 1118 Vgl. ebd., S. 3. 1119 MfS-Akte Herr Steinbeck (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. SVG XIV 1000/68 Nr. 381, Bl. 277 und 393). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen

ganz schnell was ändert, die Leute auf die Barrikaden gehen.“1120 Über die kompromittierenden Ausführungen seines Kollegen ist Herr Steinbeck sehr erschüttert, insbesondere darüber, welche biographisch einschneidenden Konsequenzen dessen Denunziantentums möglicherweise für ihn nach sich gezogen hätten. „Aber in der DDR war eben alles wesentlich, das ist ja das gewesen. Und haut mich in de PFANNE, kann man wirklich sagen, wenn man wirklich das mal ganz objektiv betrachtet, mit der letzten Konsequenz, was ich natürlich damals nun nich’ gewusst habe und was mich nun doch ’n bisschen erschreckt hat, dass ich dann eventuell— für so ’n Isolierlager mit vorgesehen gewesen wäre. Na, ’s gab ja so ’nen ‘Vorgang 1000/68’, nennt der sich [...]. Und alle die=die eventuell dafür in Frage gekommen wären, die wären sicher nich’ alle reingekommen, weil der Platz nich’ gereicht hätte, aber die eben so e bisschen in diese Richtung tendierten, also wo se wussten, die mögen de DDR nich’ so sehr und vielleicht eben, was ich vorhin sagt’, dass ich viel politisch geredet habe, die vielleicht in solchen Sondersituationen wie 17. Juni oder so, äh vielleicht ’ne Rolle spielen könnten, die man dann wegnehmen muss. Und deshalb ham se mich dann eben so eingestuft. Man überlegt dann hinterher schon, wie kommste nu’ in diese Situation, mehr oder weniger in so ’n KZ zu kommen. ’s wär’ ja ’n Arbeitslager gewesen, dann in dem Moment. [...] Und das hat mich dann schon betroffen gemacht. Ich hab’ erst überlegt, ob ich mit dem Kollegen da mal drüber rede, aber das hat überhaupt keen Sinn. Auch über ihn ’n Kopf gemacht, das bringt überhaupt nischt. Der ist eben charakterlich so veranlagt, wenn ich ihn in der Stadt von weitem mal sehe, grüß’ ich trotzdem. Na ja, ’s is’ im Nachhinein jetzt, na, der is’ eben so ’n Typ, der eben so is’ und hat sich eben so verhalten. Na man muss eben dann doch mal sehen, was für Konsequenzen solche Sachen ham. Und die IMs behaupten ja immer, dass sie eben keinem geschadet ham, na er HAT eben geschadet. Und das is’ ganz zweifellos so und das muss man ihm ’n Stück natürlich ooch übel nehmen, dass es so is’.“1121

Durch diese Äußerung nimmt er zugleich Bezug auf die seit über einem Jahrzehnt geführte Debatte um die Rolle der „Hauptwaffe gegen den Feind“ im Kontext der Aufarbeitung der Geschichte des Staatssicherheitsdienstes und ihrer Bedeutung für die Darstellung von DDR-Geschichte im Allgemeinen. Denn in seinem wie Herrn Jonas Fall wird erneut vorgeführt, dass die Unterlagen der Staatssicherheit einerseits Zeugnisse von Zivilcourage und dem „Mut zum Nein“, andererseits aber auch gleichzeitig Zeugnisse des Scheiterns sind, für jene, die diesen Mut zurückzuweisen nicht aufbrachten und damit in der Eigenschaft als IM und Informanten des MfS Mitmenschen in (lebens-)gefährliche Situationen brachten. Diese sind jene, die das Bild der DDR-Bevölkerung verzerren und sie als eine vom MfS durchsetzte Masse erscheinen lassen. Dabei hat die bisherige Aufarbeitung der Akten des MfS im Gegenzug dazu belegen können, dass sich jeder fünfte der circa zehntausend Personen, die das MfS jedes Jahr als IM zu werben suchte, erfolgreich verweigerte.1122 Die Beispiele von 1120 MfS-Akte Herr Steinbeck, Info vom 25. 9.1989 (BStU, ASt. Chemnitz, Reg.-Nr. SVG XIV 1000/68 Nr. 381, Bl. 17). 1121 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 27 f. 1122 Kleinschmid, Mut zum Nein, S. 349. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Frau Schreiber und Frau Giesen in Typus III haben gleichermaßen aufgezeigt, dass ein solches „Nein“ immense Ängste zu überwinden hatte und manchmal ohne den Zuspruch und die Protektion anderer nicht möglich gewesen wäre. Zugleich machten sie deutlich, wie negativ sich ihre Entscheidung, dem Druck des MfS zu widerstehen, auf ihren weiteren Lebensweg in der DDR auswirken konnte: „Ich hätte ooch IM sein können, das muss ich sagen. Ich hab’ ’s unserm Pfarrer zu verdanken, ne. [...] Es wäre auch für meine Psyche verheerend gewesen [...] Das war vielleicht das einschneidendste Erlebnis überhaupt. Oder das prägendste Erlebnis in meinem Leben, ne.“1123 Heute jedoch sind es selten diejenigen, die damals nicht den Mut und die Kraft für ein Nein aufbrachten, die sich hinterfragen oder zumindest die Umstände ihres damaligen Verhaltens reflektieren, sondern eher Menschen wie Herr Jonas die konsequent Verweigerung übten, „immer dagegengehalten“ haben, „aber natürlich NIE ein Revolutionär“1124 waren. Auch Herr Steinbeck macht sich Gedanken darüber, „dass man vielleicht nich’ genug gesagt“ hat, weil man aus seiner heutigen Sicht eigentlich doch „recht angepasst im Verhalten“ gewesen ist und „mehr oder weniger ooch mitgemacht hat.“1125 Es überwiegt in den Aussagen damit nicht ein für die ostdeutsche Bevölkerung häufig zu beobachtendes Argumentationsmuster, welches das individuelle Denken und Handeln im Arrangement mit dem System von damals gegenwärtig kollektiv zu entlasten sucht. Das eigene Handeln wird in der Retrospektive in einem Maße beleuchtet, dass Momente von Verweigerung und Anpassung erkennbar werden. Deswegen verblassen die als beispielhaft geltenden Versuche und Erfolge nonkonformen Verhaltens bei einigen zu Unrecht in ihren selbstkritischen Analysen. Das Fazit der in diesem Typus vorgestellten Personen fällt, was ihr eigenes Verhalten in der ehemaligen DDR anbelangt, damit äußert durchdacht und differenziert aus: „Ich mag ooch nich’ die, die heute sich ene Widerstandsbiographie zusammenbasteln [...] man muss nun nich’ äh darüber referieren, wo man vielleicht ooch mal versagt hat, wo man mal mehr nein hätte sagen können, das weiß man normalerweise selber und=und äh dass man sich mit sich selber auseinandersetzt, das sag’ ich nich’ für ’s Band, sondern insgesamt gesehen, das halt ich schon für wichtig [...].“1126 Selbst eine innere Enttäuschung über die eigene Inkonsequenz des Verhaltens wird stellenweise vernehmbar. Die Gründe dafür, familiäre wie existenzielle Zwänge,1127 erneut zu befürchtende Repressionen durch das MfS und ebenso starke Zweifel, dass stärkeres politisches Engagement oder gar oppositionelles Handeln schließlich ja doch keine Bewegung und letztendlich „Gerech1123 1124 1125 1126 1127

V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 17 f. V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000, S. 1. V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 14 und 36. V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 42 f. V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 14; V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001, S. 8: „[...] ich hab’ gesagt, »Ich kann nicht mehr Märtyrer spielen.«“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen

tigkeit“ gebracht hätten, werden hier unterschiedlich nachvollziehbar gemacht. Derart pessimistische Äußerungen zeigen sich ebenso in den Erfahrungen der Kindheit zum Zeitpunkt des 17. Juni 1953 begründet.1128 „Also dass es ene Gerechtigkeit gibt, daran glaube ich auch nich’ so richtig. Mmh, wenn man sich dann so ’n bisschen engagiert und Sie wissen natürlich, dass Sie noch ’ne gewisse Anzahl Jahre zu leben ham, dann war ’s das eben. An dem Bild vom Bonhoeffer in der Geschichte, äh für das Bild kann sich Bonhoeffer ooch nischt kaufen, der is’ ja ooch hingerichtet worden. [...] Das is’ ooch so ’ne Sache sich dann äh aufhängen zu lassen oder erschießen zu lassen, und an was man sich dann immer so erinnert, das ist womöglich sehr schön, ich hab’ mir mal so überlegt, derjenige hat eigentlich nich’ mehr viel davon, für den (bringt) das eigentlich gar nichts, dass er Anerkennung in der Zukunft findet. Und das ist ooch so ’n Stück Realismus dabei, der dann eben ooch besagt, das kommt eben daher, dass ich eben nich’ glaube und nich’ glauben kann, das ist eben ’ne Veranlagung [...].“1129

Der nüchterne Realismus, der im Zusammenhang des staatlich verordneten Atheismus auftaucht und der eine christliche „Veranlagung“ negiert, eröffnet eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Das in Typus II als besonders tragend hervorgehobene Moment des „zivilen Ungehorsams“ vor allem aus einer christlichen (häufig protestantischen) Motivation heraus, bildet in diesem Typus eine allein auf den Einzelnen beziehbare Größe aus und kann daher nicht vom individuellen Anspruch auf das kollektive Wirken übertragen werden. Letztlich also in einer zwar bemerkenswerten Verweigerung zu widerstehen, aber darin zu verharren und den Schritt zur gesellschaftlichen Dimension jedoch nicht schon früher – vor dem Herbst 1989 – gewagt zu haben, unterscheidet die Personen hier von jenen in Typus II. Es erklärt in diesem Punkt möglicherweise gleichfalls das verschiedenartige Handeln, das aber auf einer gemeinsamen Basis, nämlich einer grundsätzlich äußerst kritischen bis ablehnenden Haltung gegenüber Staat und System, beruhte. In diesem Typus charakterisierte es sich vor allem in einer individuell sehr differenziert gestalteten innerlich eindeutigen und äußerlich subtil bis sehr provokant signalisierten Abkehr von der unmittelbar erfahrenen Lächerlichkeit und Fassadenhaftigkeit des realsozialistischen Alltags: „Das ganze System war unsinnig. Doch.“1130

1128 „Klar, hab’ ich immer gedacht, 38 000 Russen im Land, da wird=da tut sich nichts. Das äh da schon was möglich war, hat man vielleicht zu wenig wahrgenommen. Mit Gorbatschow hat natürlich ... No, das Buch hab’ ich ooch gelesen, das hat uns schon interessiert, aber man hat sich noch nich’ so engagiert [...].“ V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 40. 1129 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 43 f. 1130 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000, S. 15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

7.

Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale, kontrastiver Vergleich und zentrale Charakteristika der Typologie

Die vorausgehende Darstellung suchte innerhalb einer Klassifizierung von fünf Typen, Antworten auf die erkenntnisleitende Fragestellung der Studie zu geben, welche in einem gefächerten Spektrum des Konfrontationsgrades das Eindringen staatssicherheitsdienstlicher Maßnahmen in die Lebenswirklichkeiten der ZeitzeugInnen darlegte. Inwieweit sich die lebensweltlichen Zusammenhänge veränderten, welche Handlungsspielräume im Kontext der konkreten Auseinandersetzung mit dem MfS erkennbar wurden, insbesondere aus einem Blickwinkel, der spezifisch individuelle und sozialisationsbedingte Voraussetzungen sowie gesellschaftliche und politische Strukturen in die biographische Entwicklung einbezog, war grundlegendes Anliegen der Interpretationsleistung. Das fortschreitende analytische Vorgehen, welches gleichfalls die subjektive Bedeutung und biographische Relevanz erfahrener staatlicher Kontrolle und Repression zu veranschaulichen suchte, musste somit stets auf den jeweiligen gesamtbiographischen Rahmen zurückgreifen. Nur auf diesem Wege konnte die lebensgeschichtliche Dimension der erlebten staatssicherheitsdienstlichen Konfrontation auf einer übergeordneten individuellen Ebene ausgearbeitet werden, um sie alsdann im intersubjektiven Vergleich einzufangen. Die vorliegende Typologie klassifizierte auf diese Weise auf der Grundlage erzählend abgebildeter Konfrontationssituationen mit dem MfS entsprechende Wahrnehmungsund Handlungsmuster, die explizit auf ihre individualbiographische Einbettung verwiesen. Die spezifischen Merkmalskombinationen der einzelnen Typen und ihre Kontrastierung in vergleichender Perspektive sollen abschließend nochmals einen Überblick der bereits dargelegten Ergebnisse in abstrahierender Absicht leisten. Während ersteres in den Kapiteln 7.1 bis 7.3 resümierend erfolgt, soll Kapitel 7.4 diese vergleichend betrachten und ihre Bedeutung innerhalb der entwickelten Typologie deutlich machen.

7.1

Typus I – Konsequente Systemablehnung im Familienmodell „Flucht“ und Aussetzung der biographischen Selbstbestimmung durch Inhaftierung

Die kennzeichnenden Merkmale des Typus I, welche für die lebensgeschichtliche und vor allem insgesamt politische Orientierung weitreichende Bedeutung haben, konstituieren sich hier bereits nachvollziehbar in der kindlichen Erfahrung. Zunächst wird das Auftreten einer immensen Diskrepanz der politischgeistigen und ‚individualistischen‘ Erziehung in der Familie einerseits und den Sozialisationsinstanzen eines kollektivistisch-autoritären staatlichen Erziehungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

konzepts andererseits greifbar. Das Aufwachsen in einer weltanschaulichen Doppelexistenz, einer explizit formulierten „praktischen Bewusstseinsspaltung“1, wird zugleich zum Synonym der subjektiven Alltagserfahrung einer Diktatur. Die bereits im Kindesalter gemachten Erfahrungen der ZeitzeugInnen mit Gewalt und Willkür im Nationalsozialismus steigern die Sensibilität für die Mechanismen des neuen Systems in der DDR und hinterlassen zugleich Wachsamkeit und Vorsicht, aber auch Aufrichtigkeit und Kompromisslosigkeit in den Formen des subjektiven politischen Handelns, die im Hinblick auf die doppelte Diktaturerfahrung erwachsen. Der Versuch den inneren Widerspruch in der DDR zu leben, um sich Lebensperspektiven zu schaffen, muss auch aufgrund primär internalisierter Handlungsmuster scheitern. Das in allen Familien des Typus existente Modell des „Sich-Entziehens“2 aus der sozialistischen Lebenswirklichkeit durch Flucht wird in das Lebenskonzept des Erwachsenenalters übertragen. Die Erziehung in den zumeist akademischen oder mittelständischen Elternhäusern zum Nonkonformismus im Kontext eines moralisch eigenverantwortlichen Handelns des Individuums steht dabei in starker Opposition zu den in der Sekundärsozialisation vermittelten und gelernten Handlungsstrategien im sozialistischen Kollektiv. Aufgrund der familiären Herkunft, Religiosität bzw. einer offenkundig kritischen, aber nicht immer generell ablehnenden Haltung werden erste politisch motivierte Reglementierungen und Restriktionen greifbar; z. B. die Nichtzulassung zur EOS und zum Studium. Im Zuge solcher desintegrativer Elemente staatlich-autoritärer Machtdemonstration zeigt sich bei den ZeitzeugInnen des Typus I eine kontinuierlich fortschreitende Abkehr vom hermetisch geschlossenen Weltbild der sozialistischen Jugendpolitik. Die Frustration über die politisierte Berufsorientierung entwickelt sich zum Katalysator für eine Verstärkung der Ablehnung des gesamtstaatlichen Systems wie seiner Gesellschaft. Diese Erfahrungen in der Jugend sollen insbesondere für die Selbstwahrnehmung und das daraus resultierende Handeln bei der Erziehung der eigenen Kinder bestimmend werden. Vor allem bei den Zeitzeuginnen des Typus gewinnt sie eine bedeutsame Dynamik, die konsequente Systemablehnung kompromisslos umzusetzen. Sie stellen ein zentrales Motiv für die endgültige Entscheidung, die DDR zu verlassen, dar. Die noch im Jugendalter fortschreitende Wahrnehmung der zunehmenden Politisierung und Ideologisierung einerseits und Entkirchlichung sowie Enttraditionalisierung der persönlichen und intimsten Lebensbereiche andererseits ruft zudem eine anwachsende Distanzierung von der DDR im Allgemeinen hervor. In dieser frühen Lebensphase bildet sich damit ein System von Dispositionen innerhalb eines Typus, der erstens – zumeist bereits in seiner elterlichen Erziehung angelegt – nach individualistischer Selbstverwirklichung, vor allem 1 2

V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 12. Raschka, Ausreisebewegung, S. 273. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus I – Konsequente Systemablehnung

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auch im politisch ideellen Sinne strebt, der zweitens das eigene individuelle Denken und Handeln dem sozialistisch-kollektiven nicht zu unterwerfen vermochte, insofern die Widersprüche des Decodierungsschemas der sozialistischen Gesellschaft mit den immer offenkundiger werdenden Absurditäten nicht ausgleichen konnte, und der drittens die Zustände als scheinbar unabänderlich erkannte und deshalb orientiert am gelernten Familienmodell einen Ausweg außerhalb des Systems suchte. In der weiteren Analyse des Typus I eröffnen sich nun folgende Fragen: In welchem langfristig entwickelten und konkreten aktuellen Zusammenhang fällt die Entscheidung die DDR zu verlassen? Welche Erfahrungen des DDR-Alltags sind dafür tragend? Gibt es bereits vor der eigentlichen Konfrontationssituation mit dem MfS bestimmende Begegnungen mit staatlicher Kontrolle und Überwachung, welche dieser Entscheidung zugrunde liegen? Existieren insofern auch konkrete Fremdkonzepte vom Instrumentarium Staatssicherheit und werden diese auf eine mögliche Selbsterfahrung hin negativ übertragen? Wie wird aus diesen Überlegungen die Verfasstheit des Staatssystems und seiner Gesellschaft insgesamt reflektiert und haben solche Erfahrungen und Gedankenwelten die aus den Erfahrungen des Kindheits- und Jugendalters hervorgegangen sind Einfluss auf die geäußerte Unbedingtheit des Verlassens der DDR? Aus diesen Fragen eröffnet sich in der Analyse ein Spektrum identitätsstiftender Momente und Konfliktfelder, welche als Beweggründe für eine kompromisslose Absage an das Leben in der DDR verantwortlich zu machen sind. Die Retrospektive auf den DDR-Alltag präsentiert sich tendenziell (und erwartungsgemäß) negativ, da sich die Beschreibung stets auf der Folie des biographischen Gesamtkontexts ‚Flucht aus der DDR‘ und ‚Politische Inhaftierung‘ konzentriert. Die Bündelung der von den ZeitzeugInnen benannten Alltagserfahrungen, die sich allein als Konfliktfelder präsentieren, fokussiert einerseits deren Sicht auf die gesellschaftliche Alltagspraxis in der DDR im Allgemeinen, andererseits auf spezifische überwachungsstaatliche Ausformungen. Die Erfahrung der politisierten Reglementierung des beruflichen Aufstiegs, der Auswüchse der ideologisierten ‚Erziehungsdiktatur‘, die zudem das Moment des Aufwachsens in einer weltanschaulichen Doppelexistenz bei den eigenen Kindern wiederholte, führt im Verbund mit der Wahrnehmung des gesellschaftlich etablierten kollektiven Misstrauens, erster Erfahrungen von Ohnmacht gegenüber staatssicherheitsdienstlicher Überwachung und der fortschreitenden Erkenntnis, unvermeidlich in die staatlichen Netzwerke der Kontrolle integriert zu sein, ebenso auf Begründungszusammenhänge, die eine Ablehnung des DDR-Systems auf einer übergeordneten moralischen Ebene stützen. Die Frage nach dem Mitschuldigwerden am Bestand einer Diktatur steht am Ende solcher Überlegungen. Eine Verstärkung erhält dieses Rechtfertigungsmuster gerade auch durch die subjektiv wahrgenommenen Tendenzen einer westdeutschen Akzeptanz und Legitimierung der diktatorischen Zustände in der DDR. Diese Tendenzen verfestigen bei den ZeitzeugInnen nicht nur ein Gefühl der nationalen Spaltung und Entmündigung, das sich in diesem Kontext als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Phänomen der Subalternität widerspiegelt, sondern auch eine Irritation ihrer von früher Kindheit an gesamtdeutsch gebildeten nationalen Identität. Die Mitte der siebziger Jahre aufkommenden westdeutschen, vor allem aus dem linken Lager stammenden idyllischen Orientierungen, die „einem das Leben in der DDR schmackhaft machen wollten“3, negieren damit ihre eigenen freiheitlichdemokratischen Grundprinzipen und verwehren innerhalb einer solchen Haltung den Ostdeutschen Grundrechte wie die Teilhabe an der Mitbestimmung ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Diese in der westdeutschen Bevölkerung weit verbreitete Grundhaltung, die seit den siebziger Jahren aus der vermeintlich wahrgenommenen Liberalisierung in der DDR, im Zusammenhang mit einer veränderten bundesrepublikanischen Deutschlandpolitik und der internationalen Anerkennungsphase der DDR, aufkam, zeigt jedoch innenpolitisch ihre Doppelgesichtigkeit. Sie konterkariert diese im massiven Ausbau eines subtileren, aber nicht weniger repressiv wirkenden Unterdrückungs- und Kontrollapparats.4 Von westlichen Orientierungen dieser Art fühlen sich die ZeitzeugInnen des Typus fast zu einem Verhalten genötigt, welches denjenigen, die in der DDR blieben, heute zuweilen vorgehalten wird, nämlich sich mit den Zuständen in einer „aufgeklärten Diktatur“5 pragmatisch zu arrangieren und einzurichten. Eine solche Haltung beinhaltet für die hier typisierten ZeitzeugInnen eine Anleitung zum schizophrenen Handeln und vermittelt noch tiefgreifender ein Gefühl von Subalternität, also: Deutsche zweiter Klasse zu sein. Dieses von außen vermittelte gebrochene Selbstverständnis etabliert die Anfänge einer Erfahrungsdimension, die sich Mitte der siebziger Jahre bei großen Teilen der DDR-Bevölkerung etablierte, bis 1989 tief verwurzelte und im Zuge der Wiedervereinigung wie im fortschreitenden Transformationsprozess gefährlich aufgebrochen ist. Die Reaktionen der Personen des Typus, welche die staatlich verordnete und vom Westen mitgetragene, teilweise zumindest akzeptierte gesellschaftliche Quarantänesituation als unabänderlich interpretieren, realisieren die Beschneidung ihrer individuellen Freiheit als identitäts- und bewusstseinsverändernde Existenzform und wollen diese nicht länger zulassen. Diese Erkenntnis enthüllte schließlich den unbedingten Willen zum vollzogenen Ausbruch aus der ‚geschlossenen Gesellschaft‘. Die schwere Gewissheit von der Perspektivlosigkeit und Unabänderlichkeit des Systems scheut – vor dem Hintergrund der psychologischen Momente der Jahre 1953, 1961 und 1968 – zwar die direkte Auseinandersetzung, sie kann sich innerhalb des Typus aber zumindest in Form einer passiven Verweigerung, konkret also im Zuge einer eigenmächtigen Befreiung aus der „kollektiven Absperrungsneurose“6 entfalten und insofern eine Alternative innerhalb des Familienmodells „Flucht“ finden. Der innere Zwiespalt dieser existenziellen Entscheidung, seine aktuellen 3 4 5 6

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 31. Vgl. zu den historischen Rahmenbedingungen und konkreten Entwicklungen die Ausführungen in Kap. 5. Knabe, Die feinen Waffen, S. 193. Wolle, Flucht als Widerstand?, S. 308. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Antriebsmomente, die immer wieder von Zweifeln und Ängsten durchbrochen waren, wurde vor allem auf psychologischer Ebene analysiert. Welche Handlungsstrategien erwuchsen schließlich nach Auslösung der eigentlichen Konfrontationssituation mit dem MfS? Innerhalb der konkreten Überlegungen für eine Fluchtplanung spaltet sich der Typus in zwei Untertypen auf: 1) Flucht mit Hilfe einer bundesdeutschen Fluchthilfeorganisation und 2) durch Durchbrechen der Grenzanlagen im Alleingang. Die Entscheidungsgrundlagen lassen sich konkret nachvollziehen, Familien mit Kindern ziehen eine professionelle Organisation vor, um das lebensgefährliche Risiko insgesamt einzuschränken, die Variante eines Grenzdurchbruchs wird von jenen Paaren und Personen favorisiert, die kinderlos sind und denen zudem die familiäre finanzielle und logistische Unterstützung für eine Fluchthilfe aus der Bundesrepublik fehlt. Die Planungen und deren ansatzweise Umsetzung erregt in allen Fällen bereits im Vorfeld der jeweiligen Flucht die Aufmerksamkeit des MfS, die frühzeitig eingeleitete Observation aller Personen führt zu deren „Zuführung“ bzw. Verhaftung noch vor oder während des eigentlichen Fluchtversuchs. Spezifische Aufmerksamkeit kommt in der Illustration dieser dramatisch geschilderten Momente dem Verbleib der zurückgelassenen Kinder zu. Das auf den Einzelfall unterschiedlich ausgerichtete Vorgehen des MfS bei deren Einweisung in staatliche Kinderheime, das keinem allgemein geregelten Vorgehen folgt und die Willkür staatssicherheitsdienstlichen Vorgehens in der Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden beleuchtet, wird ebenso aufgezeigt wie dessen instrumentalisierte Rolle. In den ersten Verhören setzt das MfS kalkuliert den ungeklärten Verbleib der Kinder, die wochen- bis monatelange Kontaktsperre und die bisweilen auch angedrohte Entziehung des Erziehungsrechts für eine bereitwilligere Aussagebereitschaft bei den inhaftierten Eltern ein. Die Erzählungen über die sich anschließende Untersuchungs- und Strafhaft dokumentieren differenziert ihre einzelnen Stationen, vollziehen individuell die Entwicklungen, die zum biographischen ‚Wendepunkt‘ der ZeitzeugInnen des Typus, der unmittelbaren Aussetzung biographischer Kontinuität und Selbstbestimmung führen, nach. Dabei werden auf Seiten des MfS die bereits empirisch belegten und klassifizierten Modalitäten staatssicherheitsdienstlicher Untersuchungshaftmethoden in der DDR erneut greifbar und untermauert. Die Analyse konzentriert sich jedoch weniger auf eine erweiterte Klassifizierung als auf eine intensivierte Darstellung der Selbst- und Fremdwahrnehmung der ZeitzeugInnen wie ihrer Handlungsstrategien. Im Umgang mit den Vernehmungspraktiken präsentiert sich zunächst ein kongruentes Bild der ausgelösten Handlungsmuster, ihre Differenzierung findet dann auf einer geschlechtsspezifischen Ebene statt. Aus den vorliegenden Verhörprotokollen, welche die Hauptziele des MfS im Einzelnen nachvollziehbar machen, sowie den Äußerungen der ZeitzeugInnen im Interview ergibt sich folgendes Muster: Bei den Frauen des Typus zeigt sich eine ausgesprochen hohe Auffälligkeit an resistentem Verhalten innerhalb des Fortgangs der einzelnen Verhöre, des Strafprozesses wie in der Strafhaft. Die in den ersten Verhören © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

protokollierte Passivität, die vor allem auf die unvermittelt herbeigeführte Situation, ausgelöste Angst und Ungewissheit um das Schicksal der zurückgelassenen Kinder zurückzuführen ist, weicht einer direkten konfrontierenden Konfliktlösung. Eine Form der Bewältigung, die sich zum einen auf ein hohes Informationsniveau zur Einschätzung der Situation und deren rechtliche Modalitäten stützen kann, zum anderen auf ein geringes Maß an Selbsterniedrigung und staatlichen Autoritätsgehorsam verweist. Es lassen sich Formen verbaler Devianz, die direkt auf die seit der Kindheit als bedrückend erlebte „praktische Bewusstseinsspaltung“ verweisen, erkennen. Die harten Haftbedingungen sowie die physischen und psychischen Umstände einer Inhaftierung im Allgemeinen intensivieren mehr und mehr diese Haltung. Die Frauen fühlen sich in ihrem Handeln gegen das diktatorische System bereits nach kurzer Zeit auch in der Haft bestätigt, was sie letztlich in ihrem resistenten Verhalten positiv verstärkt und rechtfertigt. ‚Kathartische‘ Befreiungsakte wie diese eröffnen den Raum für eine starke Perspektivität in Konzentration auf das Ende der Haft. Sie beeinflussen auch die Aussagebereitschaft in den Verhören, neigen sie dabei auch zuweilen einem gesunden Pragmatismus zu, der das strafrechtliche Verfahren auf eine richterliche Entscheidung hin forciert. Dieses pragmatische Agieren wird auffällig bei jenen Frauen, die in ihrer Eigenschaft als Mütter eine zusätzliche Bürde während der Inhaftierung tragen. Die Frauen nutzen ihre Inhaftierung aber auch als Gelegenheit einer persönlichen Abrechnung mit dem System, indem sie die persönlich erlittenen Verletzungen durch dieses in einer unmissverständlichen Absage an die DDR formulieren. Eine solche offen signalisierte resistente Haltung innerhalb aggressiver verbaler Devianz ‚irritiert‘ insbesondere das sich allein aus Männern zusammensetzende MfS-Vernehmungspersonal und hat für die Frauen vor allem in der Untersuchungshaft harte Bedingungen (lange Isolationszeiten), sexistische Demütigungen, vereinzelt regelrecht die Provokation von Todesängsten (hier vor allem bei der medizinischen Betreuung und Androhung von Höchststrafen im Prozess) zur Folge. Die Festsetzung ungewöhnlich hoher Freiheitsstrafen und schließlich „strengen Vollzugs“ während der Strafhaft setzt dieses Verfahren fort. Die Bewältigungsstrategien der Männer während ihrer Haftsituation deuten hingegen mehrheitlich auf Formen der allgemeinen Verweigerung. Im Gegensatz zu den Frauen wird demnach eine derart aktive und direkte Konfrontationssuche nicht erkennbar. In einem Einzelfall kann eine Besonderheit innerhalb dieser Verweigerungshaltung erkennbar werden, die sich als ein reflektiert gesteuertes Absetzen von der aktuellen Realität äußert, das mit Hilfe einer eigens konstruierten Rolle des unbeteiligten Beobachters funktioniert und jene Person vor der bewussten Wahrnehmung der gegenwärtigen Grenzsituation psychisch befreit. Das explizit an Verlauf und Ausgang der geschilderten politischen Strafprozesse erkennbar gewordene staatssicherheitsdienstliche repressive Agieren im Zusammenwirken mit einer fragwürdigen Rolle von Staatsanwaltschaft und Gericht gegen politisch Inhaftierte folgt stets dem Muster von Einschüchterung, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus I – Konsequente Systemablehnung

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Erniedrigung und Entmündigung. Dieses Prinzip erlebt seine Fortsetzung auch im vom MfS weiterhin unter Einfluss stehenden politischen Strafvollzug, dessen ‚Alltagswirklichkeiten‘ anhand der Strafvollzugsanstalt Hoheneck veranschaulicht wurden. Während einerseits die Erzählungen der Zeitzeuginnen differenziert die Disziplinierungs- und Erziehungsmaßnahmen gegen politische Häftlinge schildern, kann deren dezidierte Funktion auch anhand vorliegender behördlicher Aktenbestände nachgezeichnet werden. Unzumutbare Bedingungen, was die räumlichen Verhältnisse, Ernährung, hygienischen Zustände und medizinische Versorgung anbelangt, bilden die Basis des grundlegend diskriminierend angelegten Rahmens der politischen Strafhaft. Diese Grundgegebenheiten verschärfen sich in einem spezifisch für politische Häftlinge ausgeklügelten Systems fortwährender Disziplinierung: Gemeinsame Verwahrung mit ‚kriminellen‘ Strafgefangenen, Arbeitseinsatz im Dreischichtsystem, Entzug existenzieller Grundbedürfnisse, sogar Androhung von Arrestmaßnahmen und physischer Folter (beispielsweise bei Unterschreitung der Arbeitsnorm) sowie eine seit der Untersuchungshaft fortbestehende Kontaktsperre zu Kindern, Ehepartnern und Verwandten. Dennoch werden differenzierte Strategien der konstruktiven Bewältigung deutlich, die vor allem durch die gegenseitige Solidarität unter den politischen Häftlingen, die soziale Unterstützung der familiären Netzwerke und die stetige Hoffnung auf ein frühzeitiges Ende der Haft durch eine Entlassung in die Bundesrepublik genährt werden. In diesem Kontext zeigt sich, dass die Interventionen westdeutscher Verwandter bei der Bundesregierung und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ein entscheidendes Moment für eine frühzeitige Entlassung in die BRD darstellen. Diese Erkenntnis begründet sich auch aus der Tatsache, dass nur eine der ZeitzeugInnen in Typus I ihre gesamte Haftstrafe verbüßen muss und danach in die DDR entlassen wird, jene Person nämlich, die keine verwandtschaftlichen Verbindungen in die Bundesrepublik besitzt. Vor diesem Hintergrund ist aber darauf hinzuweisen, dass ein feststehendes Muster des jeweiligen Verfahrens auch in der bisher vorliegenden Literatur nicht durchgängig erkennbar geworden ist. Ausschlaggebende Orientierung in diesem Zusammenhang ist sicherlich das Faktum, dass der vom MfS organisierte ‚Menschenhandel‘ mit politischen Gefangenen spätestens seit 1977 zur einträglichen, fest kalkulierten Deviseneinnahmequelle der DDR-Regierung wird. Die Entlassung in die Bundesrepublik bedeutet für einige der ZeitzeugInnen nur ein vorfristiges Ende ihres ‚Martyriums‘, ist dies doch der Tatsache geschuldet, dass die in der DDR zurückgelassenen Kinder der Willkür des MfS zunächst unterworfen bleiben, bis ihre Ausreise zu den Eltern erfolgen kann. Fälle von Zwangsadoptionen treten in den hier vorliegenden Lebensgeschichten glücklicherweise nicht auf, doch gelingt es dem MfS durch monatelange Verzögerung erneut, Verunsicherung und psychische Ängste auszulösen und insofern kontinuierlich starke Eingriffe in die Familienbindungen zu tätigen. Manche der zum Teil erst nach fast einem Jahr übergesiedelten Kinder sind somit bis zu vier Jahren von ihren Eltern getrennt gewesen. Dass diese familiäre Trennung unter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

den beschriebenen Voraussetzungen einschneidende Nachwirkungen haben kann, bilden schließlich auch die nachfolgenden Beschreibungen des Lebens in der Bundesrepublik nach der Inhaftierung ab, die Einblicke in den Existenzaufbau, in die beruflichen, persönlichen und familiären Entwicklungen sowie in die resultierenden Verarbeitungsstrategien der betroffenen ZeitzeugInnen wie ihrer Kinder geben. Grundsätzlich ist es allen Personen gelungen, sich innerhalb weniger Jahre eine sozial gefestigte und materiell gesicherte Lebenssituation zu schaffen. Die starke Motivation für ein berufliches und persönliches Fortkommen wird auch unter Rückbezug auf die erfahrene Extremsituation der Inhaftierung erschließbar. Die bereits in der Haftzeit stark ausgebildeten Selbstbehauptungsmuster setzen sich auch in der Bewältigung der neuen Lebensumstände und Lebenswirklichkeiten fort. Die familiären und sozialen Strukturen entwickeln sich unterschiedlich, zumeist aber hat die erfahrene Inhaftierung und Trennung die Ehen, Partnerschaften und Bindungen zu den Kindern letztlich gestärkt. Vereinzelt zeigen sich vor allem in den frühen Phasen des gemeinsamen Lebens in der Bundesrepublik Probleme mit den für längere Zeit in staatlichen Heimen der DDR untergebrachten Kindern. Die unter den Extrembedingungen einer politischen Haft errungene Freiheit setzt nach Aufnahme der lebensweltlichen Kontinuität Mechanismen frei, die sich zunächst nicht von den Erfahrungen der Inhaftierung trennen lassen. Nur innerhalb eines von der DDR abgeschirmten Schutzraums – ‚im Kokon‘ der Bundesrepublik – kann sich eine neue selbstbestimmte Lebenswirklichkeit ausbilden. Somit stellt sich die bis 1989 gegebene räumliche Distanz, also die nationale Trennung zur DDR, zur Überwindung der erfahrenen psychischen Verletzungen und neuen Lebensweltgestaltung als schützende Quarantänesituation und Karenzphase dar. Sie muss hier als positives Moment der sich abbildenden zunächst emotions- und dann problemzentrierten Verarbeitung betrachtet werden. In diesem Kontext findet bei allen Personen eine aktive Beschäftigung mit der eigenen Haftgeschichte bereits vor 1989 statt. Der anfänglichen Auseinandersetzung mit den subjektiv erfahrenen Belastungsmomenten folgt jene konstruktive Ausrichtung, die sich im sozialen Verbund, also gemeinschaftlich am Konfrontationsauslöser, das heißt gegen das bestehende diktatorische System in der DDR ausrichtet. Privates Engagement für ebenfalls ehemalige politische Häftlinge bzw. die Teilhabe an der Arbeit von Opferverbänden werden zum Muster der aktiven Bewältigung und konstruktiven Aufarbeitung. So bildet sich außerhalb des eigentlichen Handlungsrahmens eine erneute ‚Konfrontationssuche‘ und Auseinandersetzung mit dem DDR-System aus, das sich von nun an von einer bis dato individuell ausgerichteten zu einer gesellschaftlich orientierten Dimension wandelt. Dieses Handeln kann jedoch allein aus einem gesellschaftlichen System, das rechtsstaatliche Prinzipien und freiheitlich-demokratische Grundsätze für den einzelnen Menschen garantiert, erfolgen. Es sichert insofern Freisetzungsprozesse zu, die eine Wiederaufnahme der eigenen bio© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus II – Resistenz und Systemopposition

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graphischen Selbstbestimmung und die Ausbildung individueller Selbstbehauptungsmuster zulässt, die in der DDR infolge der eigenen Inhaftierung durchbrochen wurden. Die gesundheitlichen Folgeschädigungen der Haft können anhand der Aussagen in den Interviews in bis dato vorliegende psychologische Studien zur Symptomatik posttraumatischer Belastungsstörungen infolge politischer Inhaftierung eingeordnet werden. Diese Einordnung veranschaulicht, in welch erschreckendem Ausmaß staatssicherheitsdienstliche Repressionsmechanismen als bleibende psychische, psychosoziale und physische Schädigungen beim Einzelnen fortwirken und sich rezent als negative biographiebeeinflussende Phänomene konstant fort- und festsetzen können.

7.2

Typus II – Individuelle Resistenz zur Erlangung persönlicher Selbstbehauptung und kollektive Systemopposition im Hinblick auf gesellschaftliche Reform

Einen grundlegenden Parameter des kindlichen und jugendlichen Aufwachsens der ZeitzeugInnen in Typus II (wie auch in Typus I) stellt ein früh entwickeltes Diktaturbewusstsein dar. Dieses wird einerseits durch die politisch nonkonform ausgerichtete elterliche Erziehung gegenüber dem System, andererseits insbesondere durch eine starke christliche Prägung und Einbindung in evangelische Kirchenstrukturen gestiftet. Die Ausbildung des Diktaturverständnisses intensiviert sich in der frühen Jugend ebenso durch erste Erlebnisse mit Formen überwachungsstaatlichen Agierens im familiären Umfeld wie durch die im institutionellen Rahmen der evangelischen Kirche erfahrene kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus; zugleich durch die dort vermittelte Auseinandersetzung mit alternativen Werten und Ideen sowie mit alternativen sozialen Beziehungen und Lebensweisen, die dem Konformitätsdruck der DDR-Gesellschaft entgegenstehen. Der innere Widerspruch zwischen den Aufarbeitungstendenzen in der evangelischen Kirche und den in den staatlichen Institutionen vermittelten Antifaschismusdeutungen der jüngsten deutschen Geschichte legt ein politisch-kritisches Grundverständnis grund, das – öffentlich kundgetan – erste individuell erfahrene politische Reglementierungen in der schulischen und beruflichen Ausbildung nach sich zieht. Diese vor allem durch die „Offene Arbeit“ der evangelischen Kirchen geprägte Orientierung wird als wichtiges Element der eigenen Identitätsstiftung erlebt. Das sich ausbildende Selbstkonzept entwickelt auf dieser Grundlage ein Selbstverständnis, welches gesellschaftliches Handeln an den internalisierten freiheitlichen Wertkategorien und einer sozialethisch-christlich gebildeten Verantwortung orientiert. Die stark religiös verankerte Motivation sozialethischen, ferner politisch alternativen Handlungswillens, der sich vor dem Hintergrund eines etablierten zivilen Ungehorsams manifestiert, findet im Widerspruch zum staatlichen System statt, auch im Bewusstsein staatlich disziplinierende Maßnahmen und Sanktionen zu provozie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

ren. Das Wissen um die Grenzen des öffentlichen Handlungsrahmens, um überwachungsstaatliche und repressive Strukturen im System entwickelt spezifische Strategien effektiven alternativen politisch partizipierenden Handelns, das die monolithisch festgesetzten Strukturen in der Erschließung informeller Informations- und Kommunikationsfelder aufzubrechen sucht. Dieses wird vor allem auf dem Wege einer emanzipativen Frauen-, Friedens- und Umweltarbeit, die sich unter dem Dach der Kirche formiert und hier einen gegenöffentlichen Raum etabliert, verwirklicht. Die lebensbegleitende und offen wahrgenommene Erfahrung des Diktaturcharakters der DDR löst innerhalb des Typus II ein vor allem gesellschaftliches, in Bezug zur christlichen Motivation am Nächsten orientiertes sozialethisch und später übergeordnet politisch alternatives Handeln aus. Dieses soll sich zu einem gruppendynamischen Protesthandeln ausbauen und letztlich konkret organisierten oppositionellen Charakter tragen. Ersten Konfrontationen mit dem MfS kann man hier aufgrund des bereits früh geschaffenen hohen Informationsniveaus, infrastruktureller und schützender Netzwerke in ihrer Negativwirkung für die eigene Lebenspraxis und Alltagswirklichkeit frühzeitig begegnen. Sowohl die vollzogene Distanzierung von einer staatlich verfügten sozialistischen Lebensweise in das Milieu der sozialethisch und politisch agierenden Gruppierungen, die „Existenzformen des eigenen Lebens“7 ausbilden und praktizieren als auch das gesellschaftliche Engagement, das sich individuell-resistent und kollektiv-oppositionell äußert, bilden eine Einheit auf dem Weg zu individuell und gesellschaftlich angestrebter Autonomie und Selbstbestimmung. Diese Orientierung wird von Seiten des Staates als hochgradig systemgefährdend eingeschätzt und provoziert deswegen bei allen ZeitzeugInnen des Typus II erhebliche Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen durch das MfS. Die sich in den Aktenlagen abzeichnenden operativen Maßnahmen enthüllen hierbei das gesamte Spektrum bisher klassifizierter staatssicherheitsdienstlicher („Zersetzungs“-)Methoden. Ziel der Maßnahmen ist es, den Handlungsrahmen der politisch alternativ engagierten ZeitzeugInnen weiter zu verengen, um ihrer wachsenden Präsenz im offiziellen öffentlichen Raum, die gleichzeitig mit der Demonstration von Systemkritik und Reformwillen übergeordnet politische Teilhabe an gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsprozessen fordert, entschieden und kompromisslos zu begegnen. Die Gefährlichkeit des sich äußernden Engagements liegt in seiner direkten Konfrontationssuche mit und der konkreten Kritik am DDR-System, die in der sozialistischen Gesellschaft demokratische Wirkungen auslösen soll. Das politisch engagierte Handeln liegt insofern innerhalb des staatlich vorgegebenen Handlungsrahmens, den es jedoch fortwährend bis an den Rand der Legalität auszuschöpfen gilt. Die Einbindung individueller Resistenz und kollektiv politisch alternativen Agierens in das Subsystem Kirche, welches die Leitlinien des kritischen Denkens und das Verständnis eines zivilen Ungehorsams grundgelegt hat, provoziert auch das Eindringen 7

Beck, Eigenes Leben, S. 114. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus II – Resistenz und Systemopposition

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staatssicherheitsdienstlicher Disziplinierungsmaßnahmen in dieses ursächliche Etablierungsfeld systemkritischen Widerspruchs. Die Akquirierung kircheninterner Mitarbeiter als IM, so genannte Theologisierung mit dem Ziel der Entpolitisierung des im kirchlichen Raum diskutierten Gedankenguts, Disziplinierung der engagierten Kirchenvertreter durch Anleitung der Kirchenoberen, auch infolge von Kompromittierung, Diskriminierung und öffentlicher Rufschädigung, sind von den ZeitzeugInnen benannte und erkennbare MfS-Methoden. Als ‚erfolgreich‘ können diese Strategien insofern eingeschätzt werden, als dass sich tatsächlich die oberste Kirchenleitung von einzelnen besonders aktiven Kirchenmitarbeitern und Pfarrern wie den intern gebildeten Gruppen distanziert. Menschen wie Herr Spengler lassen sich nicht entmutigen und führen ihre begonnene Arbeit aufgrund ihres Wissens um den aktuellen rechtlichen Spielraum unter der gebotenen Achtsamkeit dennoch fort. Paradoxerweise beinhaltet die wahrgenommene MfS-Disziplinierung und Unterwanderung des Freiund Schutzraums Kirche in der Folge ebenso ein progressives Moment für die hier betrachteten politisch alternativen Gruppen, in denen die typisierten ZeitzeugInnen aktiv sind: Sie fühlen sich durch das Eingreifen des MfS letztlich gezwungen räumlich, infrastrukturell und thematisch den begrenzten Raum zu verlassen, aus den kirchlichen Strukturen schrittweise auszubrechen und sich ihrem gesellschaftlich orientierten Ansatz, der in der Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit und politischer Partizipation angesiedelt ist, kontinuierlich zu nähern. Auf diese Weise aber wird ihre Arbeit für negative Eingriffe und staatlichen Einfluss angreifbarer. Vor allem die alternative, noch eng an die Kirche gebundene Umweltarbeit – weil sie im Sinne des ursächlichen Gedankens der Schöpfungsverantwortung entstanden ist und auch fortbesteht – versucht man subtil in die staatliche Umweltpolitik zu integrieren und in ihrer spezifischen Ausrichtung zu absorbieren. In enger Zusammenarbeit mit den Partnern des politischoperativen Zusammenwirkens bemüht sich das MfS umweltpolitisches Engagement im Sinne des herkömmlichen Naturschutzgedankens zu kanalisieren und damit zu entpolitisieren. In den Äußerungen der ZeitzeugInnen des Typus II ist jedoch ebenso die Rede von öffentlich wahrnehmbarem und massiv disziplinierendem Auftreten staatlicher Sicherheitskräfte, die einerseits zu „Zuführungen“ der aktiven Personen führt und andererseits mit der Intention allgemeiner Abschreckung verknüpft ist. Innerhalb der einzelnen Gruppen, deren Analyse sich vor allem anhand einer Frauenfriedens- und Menschenrechtsgruppe gestaltet, setzt das MfS gezielt Maßnahmen zu deren innerer Zersetzung, Spaltung bzw. Auflösung ein: Abschiebung einzelner Gruppenmitglieder bzw. Offerierung „ständiger Ausreise“ ins westliche Ausland, Einschleusung diskreditierender Informationen gegen Mitglieder mit Hilfe von IM, durch diese gleichzeitig Schaffung von Misstrauen, Auslösung politischer und persönlicher Differenzen sowie von Kompetenzstreitigkeiten, Instrumentalisierung der Elternschaft durch Einschaltung der staatlichen Jugendhilfe, Erhöhung des psychischen Drucks durch berufliche Misserfolge und Marginalisierung – teilweise durch Berufsverbot – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

Unterbindung stützender Kontakte und Störung kommunikativer Verbindungslinien mit Hilfe permanenter Kontrolle des Post-, Fernmelde- und Grenzsicherungswesens und fortdauernder Observationsmaßnahmen. Die Interpretation der Interviewaussagen sowie der vorliegenden personenbezogenen Aktenlagen bezüglich der eingesetzten Gegenstrategien individueller wie gruppenspezifischer Art zur Abwehr von „Zersetzungsmechanismen“ veranschaulicht in den vorliegenden Fällen ebenso, dass das breite Spektrum staatssicherheitsdienstlicher Methoden gleichsam ‚ineffektiv‘ auf die Hemmung des politisch alternativen Denkens und Handelns wirkt, kann es die gruppenspezifische Dynamik, das alternativ politische Denken der einzelnen Menschen und deren Motivationsmomente doch weder erfassen noch nachvollziehen. Im Falle der vorgestellten Gruppierungen gelingt es schließlich aufgrund eines besonders hohen Informationsniveaus über die Arbeitsweisen und Methoden des MfS, eines inkorporierten Bewusstseins im eigenen Tun unter ständiger staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle zu stehen sowie einer hohen Sachkompetenz in den politisch thematisierten, strafrechtlichen und allgemein juristischen Fragen bezüglich der geltenden DDR-Gesetze geeignete, das heißt erfolgreich kalkulierte ‚Ausweichmanöver‘ und Gegenstrategien in der Konfrontation mit dem MfS zu entwickeln. Das jeweilige Handlungsspektrum kann allein im konkreten Kontext erschließbar werden, auf einer resümierenden Ebene soll eine allgemeine Benennung die geschaffene individuelle und kollektive Vielfalt veranschaulichen: Inanspruchnahme geschlechtsspezifischer Aktionsräume zur Ausbildung einer spezifischen Informations-, Kommunikations- und Solidaritätskultur, gruppeninterne Schulung und offene Maßnahmen der IM-Aufklärung, Training mentaler Verdrängungsleistungen bei etwaiger „Zuführung“ oder Inhaftierung, Absage an das instrumentalisierte kollektive Misstrauen der Gesellschaft. Zudem werden vor dem Hintergrund einer aus den personenbezogenen Aktenlagen nachvollziehbaren kontinuierlichen MfS-Überwachung erstaunliche Formen der Mobilisierung externer Ressourcen und Netzwerke erkennbar, die sich auf die Unterstützung bundesrepublikanischer Medien, prominenter Politiker, Parteien (besonders der „Grünen“) und Organisationen stützen kann. Die entwickelten Strategien dienen primär der Fortführung und konstanten Gewährleistung der politisch alternativen Arbeit. Insofern stellen die Maßnahmen des MfS einen gefährlichen, aber im weitesten Sinne kalkulierbaren Störfaktor des eigentlichen Tuns dar. Eine Omnipräsenz des MfS in dem Sinne, dass es die Arbeit der Gruppen bestimmte und damit als hemmende disziplinierende Instanz deren Wirken kontinuierlich stört, wird aus den Aussagen der InterviewpartnerInnen nicht deutlich. Die Inkorporierung des Politischen in das identitätsstiftende Selbstkonzept der typisierten Personen charakterisiert auch ihren Umgang mit dem Staatssicherheitsdienst. Sie messen dem MfS eine sekundäre Rolle zu, nämlich als Risiko- und Hemmfaktor für ihre politische Wirksamkeit. Um jedoch das eigentliche Ziel, die Ausübung gesellschaftlich verantwortlichen Handelns, sicherzustellen, gilt es die durchschlagende Kraft dieses © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus III, Typus IV und Typus V

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Faktors so weit als möglich auszuschalten; auch auf die Gefahr eines hohen persönlichen und familiären Risikos hin, das heißt in der Zurückstellung der privaten Interessen hinter die kollektiven Ziele. Diese Orientierung spiegelt sich in der individuellen Sicht der ZeitzeugInnen des Typus II auf das Phänomen Staatssicherheit in der Retrospektive wider: Der Fokus der lebensgeschichtlichen Erzählung wird nicht auf die Konfrontation mit dem MfS gelegt, sondern auf die Beschreibung individueller Resistenz und kollektiv oppositionellen Handelns im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Um politische Handlungsfähigkeit zu erlangen, zuerst im Sinne eines reaktiven Protesthandelns, das schließlich im Fortgang einen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch zu formulieren wagt, gilt es sich von staatssicherheitsdienstlicher Überwachung und Repression abzuschirmen.

7.3

Typus III, Typus IV und Typus V

Die im Kapitel 6.3 subsumierten Typen III, IV und V heben vor allem innerhalb des dargestellten Spektrums ihrer Unterschiedlichkeit und Differenziertheit, was die jeweiligen Konfrontationssituationen und ausgelösten Handlungsstrategien anbetrifft, neue Aspekte für die erkenntnisleitende Fragestellung der Studie hervor. In hohem Maße unterschiedlich zeigen sich auch die jeweiligen Prägungen, politischen Einstellungen und Wertigkeiten, die ebenso Besonderheiten der verschiedenen Generationen in den nachvollzogenen Handlungsmustern darlegen und erklären können. Im Gegensatz zu den Typen I und II eröffnet sich innerhalb dieser drei letzten Typen jeweils ein weiter Bogen für eine generationsspezifische Betrachtung, die von der Aufbaugeneration bis zu den „Kindern des Realsozialismus“ in der DDR reicht. Für die im Fokus stehende Nachzeichnung der ausgelösten Handlungsstrategien und zu klassifizierenden Handlungsmuster ist zudem die Tatsache bedeutend – die auch die Subsummierung der drei Typen trotz ihrer Unterschiedlichkeit in einem Kapitel erklärt –, dass hier die direkte Konfrontation mit dem MfS, wie dies in Typus I bzw. II deutlich wird, in diesem Sinne nicht ‚bewusst‘ und ‚wissentlich‘ geführt wird. Im Grunde lassen sich die dargestellten Auseinandersetzungen mit dem MfS, die in äußerst unterschiedliche und vielgestaltige Alltagspraktiken eindringen, die mehr oder weniger im Konsens mit dem System stehen, in Form dreier Muster typisieren. Diese charakterisieren sich – zentriert man vor allem die konfrontationsauslösenden Momente, welche ferner partiell auch für die reaktive Handlungsrationalität im Verlauf des Konflikts bestimmend werden – einerseits durch politische Naivität und politisches Desinteresse (Typus III), werden andererseits wegen eines kritisch-engagierten Reformbewusstseins und egozentrierten, ideologisch selbstgerechten Pragmatismus‘ hervorgerufen (Typus IV), ebenso durch vereinzelte Versuche demonstrativen Protesthandelns oder aufgrund der Symbolisierung systemkritischer Distanz und nonkonformen Verhaltens (Typus V). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

Bereits an das Ende der Ausführungen eines jeden Typus wurde eine zusammenfassende Darstellung seiner charakteristischen Merkmale gestellt. Um Redundanzen zu vermeiden, soll sich das nun folgende Resümee der Typen III, IV und V deswegen in aller Kürze gestalten. Typus III – Unpolitisches Dasein und erzwungene Kompromissbildung kennzeichnet sich in erster Linie innerhalb eines gemeinsamen Phänomens der Konfrontationsauslösung. Diese vollzieht sich fast durchgängig infolge des Handelns oder Einwirkens einer dritten, meist privat nahestehenden Person. Die Konfrontation äußert sich innerhalb einer starken beruflichen Degradierung, durch Versetzung oder Berufsverbot, ebenso innerhalb existenziell gefährdender materieller (infolge der Entlassung) wie sozialer Einschnitte (Rufschädigung und Verleumdung). Ausführende Organe dieser Repressionen sind in allen Fällen die Partner des operativ-politischen Zusammenwirkens; das MfS tritt für die ZeitzeugInnen dabei in keine erkennbare Erscheinung. Diese Tatsache leitet sich für diese vor allem auch aus der in Kindheit und Jugend erfolgten Internalisierung der und Identifikation mit den Ideen des Sozialismus ab, denn explizit wird beispielsweise in keinem Einzelfall ein frühes Diktaturbewusstsein für die DDR erkennbar. Für den Großteil der ZeitzeugInnen wird insofern das MfS auch als eigentlicher Verursacher des (primär beruflichen) Konflikts nicht deutlich, vorausgesetzt zudem, dass dessen Existenz überhaupt im Bewusstsein der Personen verankert ist. Die Auswirkungen des Konflikts folgen zum einen den bereits etablierten individuellen Verhaltensweisen in der DDR-Gesellschaft, die sich infolgedessen in äußerlich erzwungener Anpassung und Kompromissbildung („Man musste sich ins System einpassen ...“8) ausdrücken. Das Absetzen in eine eigene Wirklichkeit, die von Misstrauen, beruflicher Frustration und sozialer Einsamkeit gestaltet ist, zeichnet einen extremen Weg der Abwehr und Bewältigung. Zum anderen provoziert die Auseinandersetzung mit dem System zuweilen auch eine Rückkehr in die Strukturen der paternalistischen Fürsorgediktatur, die sicherlich auch Züge eines existenziell begründeten Pragmatismus beinhaltet. Das bedeutet im Kontext des Typus III vor allem die wohlwollende Wiederaufnahme in den ehemaligen beruflichen Wirkungsbereich und beispielsweise auch die Erneuerung der Mitgliedschaft in der SED. Diese Rückkehr ist an ein unbedingtes und kontinuierliches politisch-ideologisches Einvernehmen gebunden und deswegen von einer erneuten stark ideologisierten Politisierung begleitet, die sich im Sinne so genannter Introzeption vollzieht. Kennzeichnend für diese ist die Angleichung eigener Einstellungen und Wertigkeiten an jene des staatlich verordneten ideologischen Gedankenguts in seiner realsozialistischen Umsetzung und zugleich deren unumschränkte Einbindung in das individuelle Wertesystem wie in die eigene Alltagspraxis. Das Aufwachsen in einer umfassenden Identifikation mit Staatssystem und Gesellschaft der DDR ist grundlegendes Moment für die ZeitzeugInnen des Typus IV – Kritisch-engagierte Identifikation und realsozialistischer Pragmatis8

V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 38. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Typus III, Typus IV und Typus V

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mus. Dieses basale Moment äußert sich innerhalb zweier Generationen: Der Aufbaugeneration, die im Sozialismus die Hoffnung auf und später den Garanten für ein menschlicheres und freiheitliches Gegenmodell zum zuvor erfahrenen Nationalsozialismus sieht sowie der Generation der „Kinder des Realsozialismus“, die während der Ära Honecker in den staatlichen Institutionen sekundär sozialisiert werden, das staatssozialistische Konzept als ursächlich gegeben annehmen und dieses ihren eigenen persönlichen und beruflichen Lebensgestaltungswünschen entsprechend subtil zu transformieren lernen. Die Kontrolle und Überwachung durch das MfS erfolgt in den analysierten Fällen nicht aufgrund einer geäußerten grundsätzlichen Kritik oder Absage an das System, sondern entweder aus einer inneren Haltung konstruktiv und engagiert am Aufbau des Sozialismus mitzutun oder allein aus dem staatlich institutionalisierten kollektiven Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung. Die Bearbeitung durch das MfS wird jedoch für die ZeitzeugInnen selbst zur damaligen Zeit nicht greifbar, weil sie der seit Kindheit und Jugend an bestehenden Identifikation mit der DDR als Heimat, auch im politischen Zusammenhang, entgegenstehen würde. So werden die massiven Einschnitte des MfS im privaten und beruflichen Bereich zumeist mit den strukturellen Zwängen des Staatswesens erklärt und gerechtfertigt, als solche schließlich mehr oder weniger akzeptiert. Sie erregen zumindest keinen wirklichen Zweifel oder offensive Kritik an den Grundpfeilern des bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Systems, dessen Vorteile auch gegenwärtig noch im Vordergrund in der Auseinandersetzung des Typus II mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft stehen. Trotz der erkennbar gewordenen Eingriffe des MfS in die frühere individuelle Lebensgestaltung, die sich aus der Einsicht in die Aktenlagen ergeben hat, wird die Konfrontation mit dem MfS insgesamt als biographisches Randereignis gewertet. Sie gewinnt in der Retrospektive keine lebensgeschichtlich bedeutsame Relevanz, müsste man sich, insbesondere hier im Falle von Herrn Arndt doch beispielsweise eingestehen, dass man der ‚Lebenslüge des Kommunismus‘ aufgesessen ist. Ließe man dieses Eingeständnis zu, könnte es von einer starken Erschütterung der eigenen Identität begleitet sein, deren psychische Auswirkungen im äußersten Falle eine Identitätsaussetzung beinhalten könnte, grundsätzlich jedoch eine Neuverortung der eigenen Biographie fordern würde. Inwieweit die Folgen einer solchen Erinnerungsarbeit an der eigenen Lebensgeschichte bewusst erkannt werden und deswegen diese (noch) negiert wird, ist aus den Äußerungen der betreffenden ZeitzeugInnen nicht erkennbar geworden. Im Gegensatz zu Typus IV tritt für die ZeitzeugInnen des Typus V – Kritische Distanz und politische Doppelexistenz ein seit der Kindheit bzw. Jugend vor allem durch die Familiengeschichte geprägtes Bewusstsein über den autoritären bzw. auch diktatorischen Charakter des DDR-Systems deutlich hervor. Dieses Verständnis äußert sich bereits im Jugendalter in Akten demonstrativen Protest- und nonkonformen Alltagshandelns gegen die staatlich vollzogenen Machtdemonstrationen wie der verordneten individuellen Zwangsorganisation und Militarisierung. Zugleich beinhaltet die Abgrenzung von den gesellschaft© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

lichen Zuständen in der DDR eine imaginäre Hinwendung zu den Lebenswirklichkeiten des Westens, die durch enge verwandtschaftliche Beziehungen sowie mediale Inszenierungen verstärkt und durch das als schmerzlich erlebte Faktum der nationalen Teilung genährt werden. Diese dem DDR-System ablehnend gegenüber stehende politische Grundhaltung wird auf das eigene Selbstkonzept übertragen. Ihr sich als identitätsbildend äußernder Charakter formt die Ausbildung einer kontinuierlich distanzierten und kritischen Haltung, die sich mehrheitlich im Signalisieren konsequenten Nonkonformismus’ ausdrückt. Dieses gestaltet sich im Sinne einer konstanten Verweigerungshaltung im privaten und beruflichen Alltag gegenüber staatlich-politisierten Kollektivierungsansprüchen, was politische Meinungsbildung und Organisation wie individuelle Lebensstile anbetrifft. Die von den ZeitzeugInnen des Typus V hierbei signalisierte Weigerung zieht einschneidende repressive MfS-Maßnahmen nach sich, die wiederum verstärkt mit Hilfe der Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens gesteuert werden (vgl. Typus III). Dennoch kann auch infolge der offen geführten Auseinandersetzung mit den durch das MfS instrumentalisierten Vertretern in Schulen, Behörden und der Justiz keine staatlich konforme Gesinnungsänderung der ZeitzeugInnen erzwungen werden. Massive Formen der Repression wie die Relegation von EOS und Studium nach einem öffentlichem Prozess, die berufliche Degradierung infolge fingierter Kriminalisierung zur Wirtschaftsspionage oder die aufgrund „feindlich-negativer“ Rädelsführerschaft beabsichtigte Einweisung in ein „Isolierungslager“ sollen Anlass geben, sich dennoch zumindest formal staatskonform zu verhalten. Die innerliche Verweigerung bleibt jedoch konstant, sie ist aber infolge der erfahrenen MfS-Maßnahmen nun stärker gehemmt, sich letztendlich vom individuellen Nonkonformismus zum kollektiven Protest, das heißt gesamtgesellschaftlich orientiert, zu entfalten. Diese in den Biographien durchgängige Erfahrung wird in einigen Fällen aus der Retrospektive selbstkritisch als persönliche Inkonsequenz gedeutet. Die Betreffenden begegnen ihrer teilweise geäußerten Frustration darüber, die eigene freiheitlich-demokratische Grundüberzeugung sowie das Wissen um das Agieren diktatorischer Herrschaftsmechanismen damals nicht frühzeitig kundgetan zu haben, mit Bewältigungsstrategien, die heute gesellschaftlich orientiert sind. Anhand der derzeitigen beruflichen Orientierung und des privaten Engagements der ZeitzeugInnen des Typus V im Umfeld der Aufarbeitung von DDR-Geschichte sind diese Strategien deutlich fassbar.

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Zentrale Charakteristika der Typologie

7.4

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Kontrastiver Vergleich der Typen und zentrale Charakteristika der Typologie

Auf welche subjektiven und objektiven Sozialisationsbedingungen, die sich vor dem Hintergrund der dargestellten Herrschafts- und Lebenswirklichkeiten des DDR-Staatssozialismus ausbildeten, lassen sich Wahrnehmungen und Deutungen staatlich-autoritären Agierens und spezifische Handlungsstrategien in der Konfrontation mit diesem zurückführen? Wie gestaltet sich dieses Handeln im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem MfS? Wie ist es demnach motiviert und wie kann es die Konfrontationssituation und ihre individuell unterschiedlichen Folgen und Auswirkungen bewältigen? Inwiefern werden diese schließlich, noch dazu im Zuge eines politischen Systemwechsels, das heißt im darauffolgenden Transformationsprozess, verarbeitet? Welche lebensgeschichtliche Relevanz gewinnt – im übergeordneten Zusammenhang – damit die konkrete Diktaturerfahrung für die Bildung von Identität? Inwieweit lassen sich diese auf individualbiographisch-empirischer Grundlage entwickelten Erkenntnisse im Zuge ihrer Typologisierung veranschaulichen, dass Aussagen über gemeinsame klassifizierbare Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die vom Lebensalltag in einer Diktatur bestimmt wurden, getroffen werden können? Ein solcher theoretisierender Versuch kann sich allein innerhalb der zugrundegelegten Parameter, die sich in der Fixierung auf das Agieren des Instrumentariums MfS und das Handeln der mit diesem in Konfrontation geratenen BürgerInnen im sozialen Raum des Staatsgebildes DDR definierten, vollziehen. Die Klassifizierung der erkennbar gewordenen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bildet sich innerhalb der Darstellung von fünf Typen ab. In dieser werden somit – auf der Ebene des zugrundeliegenden Samples – fünf identifizierbare Muster des Umgangs mit staatlicher Kontrolle und Repression im gesamtbiographischen Kontext entwickelt. Die Ausführungen zuvor haben bereits deren kennzeichnende Charakteristika zusammenfassend aufgezeigt. Nun sollen intertypische Merkmale, das heißt wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in einem kontrastiven Vergleich auf typologischer Ebene beleuchtet werden. Die Wege in die Konfrontation mit dem MfS gestalten sich bereits aufgrund der differenten primären Sozialisationsbedingungen äußert unterschiedlich. Für alle Typen stellte sich schließlich das elterlich geprägte politische Bewusstsein als grundlegend heraus. In den einzelnen Typen wird dieses unter dem Aspekt des Diktaturbewusstseins, im generationsspezifischen Zusammenhang zusätzlich im Beschreiben einer „doppelten Diktaturerfahrung“ definiert. Typus I wie Typus II sind von dieser ursächlichen Haltung im Elternhaus bestimmt, die zugleich übergeordnete Wertkategorien demokratisch freiheitlichen Denkens und Handelns impliziert. Während Typus I altersmäßig durch jene Generation bestimmt ist, die konkrete Erlebnisse in beiden deutschen Diktaturen erinnern kann oder zumindest eine unmittelbare familienbiographische kommunikative Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vollzieht, spaltet sich Typus II © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Erfahrungsmuster – Typisierende Strukturmerkmale

innerhalb dieses Zusammenhangs nochmals auf. Er wird zugleich von der nachfolgenden Generation, der um die Mitte der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre Geborenen, repräsentiert. Bei diesen Personen spielt neben der elterlichen Prägung vor allem die starke Einbindung in die evangelische Kirche eine tragende Rolle zur Ausbildung einer freiheitlich-demokratischen Grundhaltung und ihrer Abgrenzung vom autoritär erfahrenen DDR-Staatswesen. Sie differenzieren sich insofern zusätzlich von den übrigen Personen ihres Typus, von jenen des Typus I und Typus V, als ein gesamtdeutsches nationales Bewusstsein bei ihnen nicht ausgebildet ist. Die sich davon unterscheidenden benannten Typen artikulieren hingegen im Kontext der historischen Daten des Volksaufstands 1953, des Mauerbaus 1961 und des Mauerfalls 1989 den innerhalb ihrer persönlichen und familiären Erlebnisse empfundenen Widerspruch zwischen ihrem bereits in der Kindheit gestifteten Verständnis von der eigenen Nation, welches die Einheit von Staat und Volk integriert, und der erzwungenen Teilung in zwei Staaten im übergeordneten globalen Ost-West-Konflikt. Das in den Typen I, II und V erkennbar artikulierte, seit der Kindheit und frühen Jugend vorhandene Diktaturbewusstsein für die DDR findet sich bei den Typen III und IV nicht. Es zeigt sich, dass dies jedoch ein wichtiges Moment für die Motivation des Handelns im Konflikt mit dem System und konkret dem MfS darstellt. Denn im Gegensatz zu den Typen I, II und V erfolgte in Typus III und IV eine politische Prägung, die sich vor allem durch die sekundäre Sozialisation festigt, also auf der Grundlage der durch die staatlichen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen vermittelten ideologischen Ideen und Werte des Sozialismus. Als besonders identifikationsfördernd stellt sich die staatlich instrumentalisierte Aufarbeitung der NS-Zeit im Sinne einer Selbstetikettierung der DDR als antifaschistischer Staat heraus. In der Identifikation mit der ahistorischen Mythisierung der gesellschaftlichen Vergangenheit eröffnet sich für Typus III und IV weder die Frage nach kollektiver Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit in der DDR noch wird eine kritische Wahrnehmung der autoritären und diktatorischen Verfasstheit des DDR-Staatssozialismus erreicht. Insbesondere für Typus I (familienbiographisch) und II (christlich-protestantisch) wird im Gegensatz dazu das Moment der bewussten Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit deutlich. Diese bedingt sich durch die Ausbildung des Diktaturbewusstseins für die DDR und ist als ein wesentliches Movens des sich in Typus II ausbildenden Willens zu demonstrativem Protest gegen das herrschende System bzw. für das in Typus I und V unterschiedlich ausgeformte Austreten aus dem gesamtgesellschaftlichen Arrangement in Gestalt von Nonkonformismus, Verweigerung, Widerspruch und Abgrenzung zu betrachten. Als bedeutend für die Ausformung politischen Handelns zeigt sich – wie erläutert – die religiöse bzw. kirchliche Bindung der ZeitzeugInnen. In diesem Zusammenhang eröffnet sich auch aus der Betrachtung der Sozialdaten der ZeitzeugInnen eine Wechselbeziehung zwischen (akademisch-)bürgerlicher und vor allem (handwerklich-)mittelständischer (Typus I, II und teilweise V) bzw. proletarischer (Typus III und IV, teilweise V) Herkunft und den in den Eltern© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Zentrale Charakteristika der Typologie

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häusern von Typus I und II (in Typus V nur Frau Schreiber) vermittelten und gelebten christlich-moralischen Wertkategorien bzw. der vorherrschenden atheistischen Grundhaltung in den Familien von Typus III, IV und V. Der im Fokus der Untersuchung stehende ausgelöste Konflikt mit dem MfS gestaltet sich auf unterschiedliche Weise. Während sich für Typus I und II die Auslösung der Konfrontationssituation aktiv und bewusst seitens der ZeitzeugInnen gestaltete, der Konflikt im Wissen um das repressive Agieren und die Verfasstheit überwachungsstaatlicher Mechanismen kalkuliert und in Kauf genommen wird, kommt es für Typus III und IV infolge des Handelns Dritter bzw. in vermeintlicher Übereinstimmung mit dem System zu einer unbewusst ausgelösten Konfrontation. Im Gegensatz zu Typus I und II (hier hingegen äußerst differenziert) keine konkrete Vorstellung von überwachungsstaatlichen Strukturen vorhanden. Typus V hingegen entwickelt im Verlauf erster Auseinandersetzungen mit staatlichen Autoritäten ein Bewusstsein für die mögliche Gefahr einer Konfrontation mit staatlichen Behörden (vom MfS ist im damaligen Verständnis explizit selten die Rede); im Signalisieren von Verweigerung und Nonkonformismus schätzt man eine mögliche individuelle existenzielle Gefährdung eher gering ein, da die erfahrenen Konfrontationen vom MfS über die Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens gesteuert werden. Das Funktionieren des Instrumentariums Staatssicherheit wird hier auch nicht derart eindringlich wie für Typus I und II in der Kindheit und Jugend internalisiert, insofern auch nicht als Bestandteil der Diktatur erkannt. Die Motivationen der Typen I, II und V, mit dem System in Konflikt zu treten, sind im Einzelnen ausführlich dargelegt worden. Ausgelöst werden sie bei diesen Typen durch ähnliche Momente, die sich jedoch als unterschiedlich stark ausgeprägt zeigen und insofern bereits die Reichweite und Ausformung des erkennbaren (politischen) Handelns im Konflikt andeuten: Hierbei geht es vor allem um die Aussetzung des Widerspruchs zwischen innerer Überzeugung und einem äußerlich erzwungenem Alltagskonformismus. Typus I formulierte dieses auf alle drei Typen zutreffende Motiv unmissverständlich als das Ausbrechen aus einer „praktischen Bewusstseinsspaltung“. Die Vergegenwärtigung dieses Moments, das heißt konkret die Infragestellung der herrschenden Definition realsozialistischer Lebenswirklichkeit im eigenen Denken, fordert in der Konsequenz eine Veränderung des individuell und kollektiv ausgerichteten politisch motivierten Handelns. Die Infragestellung des Alltags in der DDR entwickelt sich im Falle des Typus I fortschreitend zu einer vollständigen Ablehnung des gesamten Systems. Zum einen kapituliert dieser vor der Hoffnung auf eine Veränderung bzw. Verbesserung der Zustände innerhalb des vorgegebenen Handlungsrahmens, zum anderen widerspricht vor allem das Mittragen diktatorischer Zustände auch unter moralischen Aspekten der eigenen freiheitlich-demokratischen Orientierung. Die Konsequenz aus dieser Zwangssituation gestaltet sich für Typus I im Verlassen des politischen und sozialen Rahmens innerhalb des Familienmodells Flucht. Hierbei zeigt sich politisches Handeln per se in erster Linie privat, als Akt subjektiver Befreiung aus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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den Zwängen repressiv erkannter Strukturen, diesem innewohnend aber ebenso als staatsbezogener, der im Zuge des Verlassens der DDR die konsequente Absage an das System formuliert. Dieser wendet sich somit auch gegen die staatlich praktizierte Tabuisierung der deutschen Frage und innerdeutsche ‚Feindbildkultur‘ (innerhalb der internationalen Blockstaatenbildung). Indem man sich im Einklang mit dem im Grundgesetz langfristig festgeschriebenen Ziel der Wiedervereinigung identifiziert, fühlt man sich zusätzlich motiviert. Typus II indessen vollzieht den Weg aus der beschriebenen inneren und äußeren Diskrepanz in der Ausbildung einer grundlegenden Protesthaltung, die gleichermaßen wie Typus I den Konflikt mit dem System bewusst herbeiführte, sich in Gegensatz zu ihm aber im gesellschaftlich vorgegebenen Handlungsrahmen kollektiv gestalten wird. Diesen versucht Typus II vor allem im Hinblick auf die Herstellung einer alternativen Öffentlichkeit auszuweiten. Die Ausbildung politischen Protests zeigt sich dabei stets gekoppelt an das sukzessive Erlangen politischer Handlungsautonomie, hier im Sinne eines Handelns, das von Eigenständigkeit im Bewusstsein einer individuell gebildeten Verantwortung für die aktuellen Zustände in der Gesellschaft, insofern also kollektiv und frei von Selbstzweck motiviert ist. Dieses gestaltet sich fortschreitend ebenfalls in einem kollektiven Rahmen, weil das in den gemeinschaftlichen solidarischen Verbänden institutionalisierte eigenverantwortliche politische Handeln erst hier seine gesellschaftliche Reichweite entfalten kann, dieses aber zugleich eine Entwicklung von Individualität entgegen dem politischen und sozialen Konformitätsdruck des Systems gewährleistet. Die generelle Hoffnung eine Veränderung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände zu erreichen, wird als wesentlicher Zug und Motor dieses Handelns deutlich. Das politische Protesthandeln repräsentiert sich in diesem Sinne unter Typus II als Handeln, das seine Legitimation von hohen ethischen Grundsätzen ableitet9, um als Teil des transformierten politischen Systems „gesamtgesellschaftlich verbindliche Wirkungen“10 hervorzubringen. Diesen Überlegungen zufolge ist für Typus II in seiner Entwicklung, entsprechend der grundgelegten Definition, von oppositionellem Handeln zu sprechen, das sich als ein Streben nach Veränderung bzw. Reform der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände im Zuge der Äußerung von Protest begreift. In Typus II lässt sich dieses Streben durchaus – wie bereits verdeutlicht – aus den verinnerlichten Grundzügen der christlichen (insbesondere protestantischen) Erziehung analysieren. Dieses Moment tritt auch in Abgrenzung zu Typus V hervor, in welchem die grundlegend atheistische Prägung als Hindernis für eine Ausbildung politischen Protests verbalisiert wird. Die insgesamt ideologische wie gleichsam religiöse Entwurzelung des Typus V äußert sich auch im individuellen Unvermögen an eine Umsetzung von Idealen und Visionen zu ‚glauben‘ und kann insofern im Vergleich zu Typus II kein ‚idealistisches‘ 9 Vgl. Luhmann, Protestbewegungen, S. 206. 10 Ders., Opportunismus, S. 165. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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gesellschaftliches Engagement freisetzen; es bildet sich im Gegensatz dazu als politischer Nonkonformismus aus, der in der ‚inneren Emigration‘ eine politische Doppelexistenz begründet. Weil Typus III und IV in eine Konfrontation mit dem System bzw. MfS geraten, die sich weder als reaktives Moment äußert noch in der eigentlichen Auseinandersetzung wahrgenommen wird, gestalten sich die entwickelten Handlungsstrategien auf die jeweilige Situation beschränkt individuell sehr differenziert. Beide Typen zeichnen sich durch eine enge emotionale wie rationale Bindung an die Denkmuster der Gesellschaft aus, vor allem in Typus III äußern sich diese nahezu unreflektiert und kritiklos. Die Konfrontation mit den Strukturen, hier auf beruflicher Ebene, die eine Erschütterung sowohl dieser als auch der sozialen Netze und persönlichen Perspektiven in sich birgt, äußert sich einerseits in einer gesteigerten Form der Anpassungsleistung an ideologische und gesellschaftliche Denkmuster und damit teilweise nach der Konfrontation in einer beruflichen und sozialen Reintegration auch auf beruflicher Ebene, andererseits in unpolitischen Formen der Kompromissbildung, die kollektive Orientierungslosigkeit und gesellschaftliches Misstrauen mit sich bringen. In Abgrenzung zu allen anderen Typen zeigt sich in Typus III ein besonders ausgeprägtes nicht-partizipatorisches, insofern auch äußerst unpolitisches Gesellschaftsverständnis, gleichfalls vor wie nach der Konfrontation mit dem MfS. Der individuelle Handlungsspielraum wird von den ZeitzeugInnen deswegen jenseits der politischen und gesellschaftlichen Ebene betrachtet und reduziert sich deshalb auf den privaten Bereich. Aus diesem Grunde werden die damaligen Restriktionen und Eingriffe in die individuelle Lebenswirklichkeit im Sinne des Konzepts der persönlichen Verursachung11 gedeutet. Das heißt, das eigene politische Handeln und Selbsterleben im DDR-Staatssozialismus wird insbesondere in und nach der Konfrontationssituation als durch externe Kräfte bestimmt und von diesen determiniert erkannt. Diese Haltung potenziert sich infolge dieser Situation und verbalisiert sich ebenso in der Beschreibung eines gegenwärtigen politischen Handelns. Im Gegensatz zu Typus III erlebt Typus IV die beschriebenen Konflikte mit dem MfS respektive den Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens aus dem grundsätzlichen Empfinden einer symmetrischen politischen Handlungssituation, welche die Macht der herrschenden Parteielite ursächlich als legitim anerkennt und mit dieser konform geht. Die jüngere Generation charakterisiert sich jedoch innerhalb ihres politischen Handelns mehr im Sinne einer apolitisch-pragmatischen Loyalität zum System, die Aufbaugeneration hingegen auf der Grundlage selbstverständlicher Identifikation mit diesem, welche ein konstruktiv-kritisches partizipatorisches politisches Handeln impliziert. Aus diesem Grunde finden die überwachungsstaatlichen Eingriffe in das biographische 11

Das eigene Handeln wird hier im Sinne der von De Charms erforschten origin-pawnVariable als ein allein durch externes Handeln determiniertes verstanden. Vgl. De Charms, Personal causation, S. 273 f. und 315–318. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Muster weniger eine Bedeutung innerhalb individueller Krisen oder gar durch einen fortschreitenden Rückzug aus den gesellschaftlichen Verbindlichkeiten wie in Typus III. Für die Personen dieses Typus lassen sich infolge der repressiven Eingriffe des MfS in berufliche wie private Lebenswirklichkeiten keine wesentlichen Rückschlüsse auf eine veränderte Wahrnehmung und Neubewertung des Realsozialismus erkennen. Das heißt die Momente staatlicher Repression gestalten sich in Typus IV nicht im Sinne einer konstituierenden Verschiebung der individuellen Lebenswirklichkeit, so dass der individuellen Einschätzung zufolge keine wesentlichen Parameter der politisch-ideologischen Grundüberzeugung hinsichtlich der DDR verletzt bzw. erschüttert wurden. Insofern erhält die Auseinandersetzung mit dem MfS nahezu keine Relevanz in der Bewertung für die eigene Lebensgeschichte. In dieser Hinsicht grenzt sich Typus IV von allen anderen Typen entscheidend ab, lassen sich doch durchgehend differierende Auswirkungen der Erfahrung staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle und Überwachung im Sinne biographiekonstituierender Momente abbilden. Das jeweilige individuelle (politische) Handeln, welches sich innerhalb der Klassifizierung der einzelnen Typen erfassen lässt, ist für Typus I, II und V von der ursächlichen Erfahrung einer asymmetrischen Beziehungskonstellation innerhalb des Staates geprägt. Typus II begreift diesen jedoch nicht allein als übergeordnetes autoritäres Gebilde, sondern betrachtet sich als Teilhaber am zu gestaltenden Staatswesen und dessen Gesellschaft. Dieses Verständnis bezieht seine Legitimation aus einem freiheitlich-demokratischen Grundverständnis, das gesellschaftliche Partizipation impliziert. Die sich in Typus I, II und V äußernden Formen kollektiver Opposition, individueller Dissidenz und Resistenz, von Nonkonformismus und demonstrativen Protesthandelns zeigen sich als äußerst unterschiedliche, stets jedoch progressive Prozesse der eigenen Sinnstiftung. Sie führen, in welcher Form auch immer, zur individuellen (Typus I, II und V) bzw. kollektiven (zugleich Typus II) Veränderung der staatlich vorgegebenen Grenzen des Handelns. Die Verneinung der gegebenen Konstitutionen der Gesellschaft für die Veränderung der eigenen Lebenswirklichkeit gestaltet sich von Typus V über Typus I zu Typus II aufsteigend, im Sinne sich äußernder individueller Selbstbehauptungsmuster und Freisetzungsprozesse im diktatorischen Gesamtkontext, explizit in der jeweiligen Auseinandersetzung mit dem MfS. Typus II nimmt in diesem Zusammenhang erneut eine Sonderstellung ein, tritt doch hier die gesellschaftliche Dimension des politischen Handelns vor jene der individuellen. Besonders im Falle der Typen I und II strukturiert sich das Handeln im übergeordneten Sinne im Zuge des fortschreitenden Erlangens von Freiheit. Dabei bildet sich das Verständnis eines Freiheitsbegriffs aus, dessen Definition auf der Einheit von Idee (politisches Denken) und empirisch sinnlicher Erfahrung (politisches Handeln) gründet. Freiheit als solche verstanden, lässt sich für die ZeitzeugInnen des Typus I und II allein im Einklang ihres inneren Denkens und äußerlichen Handelns erringen. Diese nachvollzogene innere wie äußerliche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Zentrale Charakteristika der Typologie

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Entwicklung ließe sich insofern auch als ein identitätsbildender Prozess begreifen, der die innere Harmonie des Einzelnen fördert und ihn (vor allem Typus II) dazu motiviert, eine annähernde Harmonisierung des gesellschaftlichen Ganzen gemäß seiner inneren Überzeugung im kollektiven Engagement zu erlangen.12 Der Grad der errungenen Freiheit misst sich letztlich für alle Typen daran, inwieweit freie und eigenständig gebildete Überzeugungen, aus welcher politischen, gesellschaftlichen oder individuellen Orientierung hervorgerufen, in den Akten des individuellen bzw. kollektiven Handelns umgesetzt, also bis zu welchem Grad eine Einheit im Denken und Handeln unter den Bedingungen des spezifischen Denk- und Handlungshorizontes sowie des vorgegebenen Handlungsrahmens hergestellt werden kann.

12 Schiller spricht – wollte man diesen Gedanken auf seine Ausführungen in den Ästhetischen Briefen übertragen – von „ästhetisch“ errungener Freiheit. An deren Ende steht die „Konstitution“ des ästhetischen Staates, jene deutlichere Formel der „innern Gesetzgebung“ des ästhetisch gebildeten Menschen: „Freiheit zu geben durch Freiheit“. Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 674. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Resümee und Ausblick

Die vorliegende Studie bildet in Bezug auf die Frage nach staatssicherheitsdienstlichen Kontroll- und Überwachungserfahrungen und den damit verbundenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern eine Typologie von fünf entwickelten Typen ab. Sie vertieft damit zugleich das historische Wissen um differenzierte Formen und den Wandel staatssicherheitsdienstlicher Kontrolle und Repression in den siebziger und achtziger Jahren der DDR. Die zentrale Erkenntnis der Typologie, die sich in der interdependenten Betrachtung von MfS-Mechanismen und intersubjektiven Erfahrungen vollzog, entwickelte sich aus den gewonnenen Antworten auf die Frage, wie Konfrontationssituationen mit dem MfS entsprechende Handlungsmuster und Formen zur Bewältigung individueller Krisen hervorbrachten. Durch die Erweiterung des empirischen Ansatzes um die dispositionelle Handlungstheorie Bourdieus konnte dargelegt werden, inwiefern sich aus den erfahrenen objektiven Strukturen einer diktatorisch verfassten Gesellschaft bei den handelnden ZeitzeugInnen Dispositionen festigten, die sich in deren innerer Struktur als zweite Natur inkorporierten und ihr Handeln in gleicher Weise zielgerichtet wie auch unbewusst bestimmten und fortwährend rezent bestimmen. Das heißt es konnten Dimensionen von Handlungszusammenhängen abgebildet werden, die über individualistische Handlungstheorien, die das Handeln als allein intentional generiert betrachten, hinausweisen. So führte die Darstellung der empirischen Untersuchung im zugrundeliegenden theoretischen Konzept letztendlich über die Beschäftigung mit klassischen Handlungstheorien zu spezifisch individualistisch-volontaristischen Positionen hin zur Entscheidung für eine dispositionelle Anschauung, welche die Dialektik und Interdependenz von Wahrnehmen und Handeln berücksichtigt und den Individuen innerhalb ihrer habituellen Welt intentionales, freies und vor allem auch unbewusstes Tun gewährt, jedoch die im Handlungsvollzug prägenden und entscheidungsbestimmenden Strukturen der Inkorporiertheit (des Habitus) und objektiven Anordnungen von Gesellschaft und politischem System ernstlich berücksichtigt. Die so gebildeten Handlungstypen können insofern das gesellschaftliche Wesen und seine soziale Realität an charakteristischen Eckpfeilern widerspiegeln, die auf der Grundlage von Einzelfallbetrachtungen und deren jeweils individueller Komplexität, Tiefe und Trennschärfe beruhen. Damit sind Reichweite und Geltungsanspruch der gewonnenen Erkenntnisse im spezifischen Kontext der Fragestellung und ihres Merkmalsraums definiert. Dies jedoch lässt nicht – wie dies beispielsweise aus einer quantifizierenden Perspektive innerhalb der Sozialgeschichte einwendend geäußert wird – die Schlussfolgerung zu, „dass eine zahlenmäßige Häufung die soziale Wirklichkeit besser erklären [könnte] als die Rekonstruktion gezielt ausgewählter Einzelfälle, die das soziale Feld nicht von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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einem vermeintlichen Durchschnitt, sondern von den jeweiligen Besonderheiten her aufspannt.“1 Kapitel 7 (7.1 bis 7.3) hat bereits die in der Typologie klassifizierten konkreten Repressionserfahrungen innerhalb des diktatorischen Systems der DDR dargelegt und in einem Vergleich der fünf einzelnen Typen unterschiedliche Handlungscharakteristika festmachen können, die gleichzeitig enge Parallelen und weite Differenzierungen aufzeigten (Kapitel 7.4). Die Intensität der jeweiligen Konfrontationssituation und das aus ihr hervorgegangene Handeln – so wurde deutlich – hatten ihre jeweils entsprechende Auswirkung auf die biographische Dimension. Sie bedingten sich ebenso typologisch aus den – in die Darstellung einbezogenen – Mustern der jeweiligen Primär- und Sekundärsozialisation. Die dieser Studie damit innewohnende kontinuierliche Orientierung an der gesamtbiographischen Dimension stellt nun insofern eine abschließende Frage, die sich im Konnex einer Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart der ZeitzeugInnen erhebt: Lässt sich die konkret erlebte und hier spezifisch untersuchte Diktaturerfahrung innerhalb des gesellschaftlichen Transformationsprozesses nach 1990 in den Biographien der ZeitzeugInnen auffinden und in welchen Formen äußert sich diese nachvollziehbar? Die damit im Raum stehende Fragestellung nach einem Zusammenhang von Identität und Diktaturerfahrung und dessen Bedeutung für die bereits vorliegende Typologie soll zuerst in Konzentration auf das konkrete Moment der Akteneinsicht untersucht werden. Dann richtet sich der Blick auf das in ihr angelegte übergeordnete Moment der individuellen Aufarbeitung. In einem letzten Schritt soll ihr Niederschlag in der Kontinuität der jeweiligen Lebensmuster analysiert werden. Modifikation typologischer Einordnungen? – Entwicklungen im Transformationsprozess: Ausgangspunkt für die folgenden Ausführungen ist das historische Faktum des Zusammenbruchs der DDR. Aufgrund des gesellschaftlichen Umbruchs kam es schließlich auch zur Öffnung der Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes, was für die beteiligten ZeitzeugInnen der Studie eine Einsicht ihrer personenbezogenen Aktenlagen möglich machte. Grundsätzlich muss für die Interpretation der vorliegenden Äußerungen und ihrer demzufolge nachvollziehbaren Handlungs- und Bewertungsmuster im Transformationsprozess zwischen jenen Personen unterschieden werden, die seit dem Ende ihrer politischen Haft (Typus I) – also seit Anfang bzw. Mitte der achtziger Jahre – in der Bundesrepublik leben und jenen, welche zum Zeitpunkt des Umbruchs in der DDR lebten und bis heute dort leben (Typus II bis V). Den gesellschaftlichen Wandel haben erstgenannte bereits nach ihrer Haftentlassung vor 1989 in die Bundesrepublik vollzogen (Kap. 6.1.6). Deren Lebenswirklichkeit wurden infolge der Ereignisse des Jahres 1989 und des nachfolgenden Transformationsprozesses in der wiedererlangten deutschen Einheit in ganz anderer Weise berührt als diejenige der ZeitzeugInnen, die unter Typus II bis V klassifiziert wurden. Diese Entwicklungen sollen nun in aller gebotenen Dichte – mit ein1

Miethe, Frauen in der DDR-Opposition, S. 71. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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zelnen Verweisen auf zentrale Aussagen – abschließend veranschaulicht werden. Die ZeitzeugInnen des Typus I schildern in diesem Kontext zunächst ihre Wahrnehmungen und Eindrücke, die sie infolge der Demonstrationen im Herbst 1989 und schließlich des Endes der DDR erlebt haben. In erster Linie wird gleichermaßen die Befreiung und Genugtuung über den Zusammenbruch des diktatorischen Systems geäußert. Die historische Entwicklung gibt ihrer bereits damaligen freiheitlich-demokratischen Orientierung schließlich recht, so dass eine öffentliche Wertschätzung des damaligen Handelns und rechtsstaatliche Rehabilitierung der strafrechtlichen Verfolgung nun posthum gesamtgesellschaftlich erfolgen konnte. Verbunden sind diese Äußerungen jedoch auch mit Überlegungen, welche die Frage nach der Sinnhaftigkeit der erlebten Repressionen und deren subjektiven und familiären Auswirkungen anbelangt: „[...] sicherlich spielte da auch der Gedanke ’ne Rolle: »War denn das nun wirklich alles nötig, dass das nun grade in unserem Leben, wir leben ja nicht zweimal, passieren musste, dass da uns eben__ dass da so ’ne Diktatur war?« Das war da sicher auch drin. Wie absurd. Jetzt ist das in sich zusammengefallen und es ist nix, nix. Wir hätten eigentlich gar nicht eingesperrt werden müssen.“2 In diesem Zusammenhang stellt sich nun auch die Frage nach einer erneuten Konfrontation mit den Erlebnissen in der Haft und den ‚Tätern‘. Diese wird jedoch allgemein als Chance begriffen. Erstens als einzigartige Möglichkeit die individuellen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem MfS, die sich heute vor allem innerhalb der Inhaftierungszeit vergegenwärtigen, auch auf Grundlage der Akten zu sichern. Es geht darum, die Entstehungszusammenhänge der damaligen Konfrontation nachzuvollziehen, um die Fragen nach dem Warum zu beantworten und für sich selbst und die Familien eine zweite herrschaftliche Perspektive auf die Geschehnisse, die in der politischen Inhaftierung gipfelten, zu erhalten. Nicht nur in der konkreten individuellen Auseinandersetzung mit den ‚Tätern‘, das heißt mit den jeweilig beteiligten IM, wird die Akteneinsicht als Chance verstanden, sondern ebenso in einer übergeordneten Übertragung auf die kollektive Ebene.3 In diesem Kontext eröffnet sich – nach Meinung der ZeitzeugInnen – damit zugleich die Möglichkeit, das neu entstandene kollektive Misstrauens in den neuen Bundesländern, was die gegenseitigen Verdächtigungen potenzieller staatssicherheitsdienstlicher Mitarbeit anbetrifft, zu entkräften und abzubauen.

2 3

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 70. Vgl. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 42: „Also ich sehe das ja eigentlich konstruktiv, dass man ’ne Stasiakte hat, dass man betroffen ist und dass man mit dem Menschen sich auseinander setzt und äh die vielleicht entlastet.“ sowie V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001, S. 40: „Und dann ham wir uns gesagt, ach wer uns auch immer verpfiffen haben mag, wenn ’s Bekannte und Verwandte sind, wir werden ’s ihnen verzeihen, einfach, die konnten vielleicht ni’ anders.“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Mehrheitlich treten die hier typologisierten Personen nach ihrer Akteneinsicht in direkten Kontakt mit den in ihren Akten identifizierten inoffiziellen Mitarbeitern. Dieses unbedingte und aktionistische Handeln begründet sich auch aus der Tatsache, dass sich die ehemaligen IM oftmals als ehemalige, sehr enge Freunde oder gar Verwandte demaskierten. Solche Einsichten bringen große zwischenmenschliche Enttäuschungen mit sich, die Begegnungen mit diesen Personen erweisen sich zudem als insgesamt negativ. Der von den ‚Opfern‘ ausgehende positive Aufarbeitungswille wird von den ‚Tätern‘ ignoriert oder abgewiesen, obwohl im Kontext dieser Begegnungen von den ZeitzeugInnen stets der Wille zu einem Gespräch, das gegenseitiges Verstehen fördern soll, signalisiert wird. Momente einer Verbalisierung moralischer Überlegenheit oder eventuelle Rachegedanken spielen in keinem Fall eine Rolle. Das Verhalten der ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiter lässt sich in den vorliegenden Fällen so zusammenfassen: vielfältige Formen von Verleugnungsmechanismen, Verweigerung eigener Mitverantwortung durch Delegieren an übergeordnete Personen und Strukturen, aber auch unzumutbare Abwertung und Bagatellisierung der damaligen Ereignisse. Die Problematik einer solchen teilweise misslungenen zweiten Aufarbeitung („Das BELASTET uns aber.“4), die eigentlich innerhalb so genannter Trauerarbeit den erhofften Abschluss belastender Momente herbeiführen sollte, hat bei den ZeitzeugInnen des Typus I zu einer klaren Abgrenzung von der ‚ostdeutschen Mentalität‘, vor allem von ihrem „Kadavergehorsam“5, und Distanzierung von der alten Heimat geführt. Darüber hinaus provozieren neue Berührungsängste gegenüber den ehemaligen ‚Tätern‘, die auch in ihrer Überzeugung begründet liegen, dass von Seiten des Staates eine nur unzureichende rechtliche Aufarbeitung der DDR-Diktatur stattgefunden hat. Infolgedessen herrscht bei den ZeitzeugInnen die Meinung vor, dass die Netze der ehemaligen Machthabenden noch immer fortwirken. Es ist festzuhalten, dass bei den ZeitzeugInnen des Typus I – der sich insbesondere im gemeinsamen Merkmal der politischen Inhaftierung charakterisiert – die mühsam erarbeitete psychische Stabilität infolge der Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen der individuelle einschneidenden biographischen Krisen vor allem aufgrund deren Weigerung zu einer gemeinsamen konstruktiven Aufarbeitung kurzzeitig angegriffen wurde. Das aus der Aufarbeitungsbereitschaft individuell erhoffte closure wurde nicht möglich. Die ihrem Wesen innewohnende unauflösbare Dissonanz einer ‚Täter-Opfer-Konstellation‘ und ihrer kontinuierlich andauernden Problematik für die Betroffenen verdichtet sich im folgenden Zitat: „Closure, das meint den Abschluss eines Prozesses, der damit dann auch begraben werden kann. [...] Das enthebt uns aber nicht der Tatsache, dass closure natürlich nicht möglich ist, dass es aber eine wunderbare Möglichkeit für die Täter ist, sich ihrer Taten zu entledigen. Und das können sie, während sich bei den Opfern ihre Taten für die Ewigkeit eingeschrieben haben, 4 5

V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 41. V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001, S. 42. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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durch ein Achselzucken, durch ein Umarmen. [...] Indes die Möglichkeit, zu vergessen, hat immer nur der Täter. Dem Opfer ist die Tat eingeschrieben, was bedeuten würde, dass das Opfer sich selbst vergessen sollte.“6 Insgesamt lässt sich dennoch für Typus I konstatieren, dass das durch den Transformationsprozess ausgelöste Moment einer zweiten Trauerarbeit sowie die aktiven Aufarbeitungsversuche in der konkreten Auseinandersetzung mit den ‚Tätern‘ die biographische Kontinuität nicht grundlegend negativ beeinflussen konnten, sondern im Gegenteil das Fortbestehen bereits festgestellter Selbstbehauptungsmuster und vollzogener Freisetzungsprozesse letztlich noch verstärkten. Damit sind schon die in der Phase nach der Inhaftierung festgestellten Bewältigungsmuster (vgl. Kap. 6.1.6 und 7.4) ebenso für den Verlauf des Transformationsprozesses zu bestätigen. Das für die Analyse der Typologie zentrale emanzipative Moment ‚selbst errungener Freiheit‘ spielt insbesondere für Typus II in der Beurteilung der Ereignisse des Jahres 1989 und seiner Folgen eine herausragende Rolle. Diese Freiheit – welche für Typus I in doppelter Weise bereits nach der politischen Inhaftierung erworben werden konnte – steht hier als Endpunkt einer emanzipatorischen Entwicklung der Personen des Typus II, die in ihrem Gefolge den Zusammenbruch der Diktatur durchweg positiv werten. Die Ereignisse des Herbstes 1989 werden bewusst innerhalb des Terminus „Revolution“7 definiert, auch wenn dazu angemerkt wird, dass dieser „was zu Vollmundiges“8 in sich trage. In der Bewertung der sich anschließenden Wiedervereinigung, die stets von den Ereignissen 1989 genau differenziert und getrennt betrachtet wird, wirft sich die in Typus II – im Zusammenhang mit dem Mauerbau (Kap. 6.2.1.2) – bereits festgestellte generationenspezifische Trennungslinie erneut auf. Die Wiedervereinigung wird von der älteren Generation – „auch wenn nicht alles so ideal gekommen ist“ – als „Geschenk des Himmels“9 bezeichnet, welche die langgehegte „Sehnsucht nach Vaterland“10 erfüllen konnte. Die jüngere Generation hingegen spricht der vollzogenen deutschen Einheit nicht mehr als den Status eines ‚Abfallprodukts‘ zu, das aus der zuvor geleisteten oppositionellen Arbeit und einer abgebrochenen Revolution hervorgegangen ist. Die Interpretation einer überhasteten, von westdeutscher Seite oktroyierten Einheit verweist zugleich auf das als Defizit erkannte Versäumnis des kollektiven Austrauerns. Die Schwierigkeiten der Wiedervereinigung liegen demnach nicht allein in ihren infrastrukturellen und wirtschaftlichen Problemlagen begründet, 6 Streeruwitz, Jetzt der Existenz, S. 29 f. Die Überlegungen innerhalb dieses Zitats bilden einen Zirkelschluss mit dem für diese Studie eminent wichtigen Begriff der inkorporierten Strukturen im Sinne Bourdieus. 7 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 28; vgl. V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 24; V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 52. 8 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 28. 9 Beide Zitate V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 28; dieses bewusst verbalisierte religiöse Moment bezieht auch Herr Kunze ein, der von einer „Revolution, die Gott geführt hat“, spricht. V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000, S. 24. 10 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000, S. 28. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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sondern ebenso im versäumten mentalen Vereinigungsprozess: „Wo komm’ ich eigentlich her? Was war da? Wieso is’ es dazu gekommen? [...] Und dann kann ich weitergehen. Nein, wir ham das Alte gar nicht angucken können, sondern es musste gleich irgendwas Großes aufgebaut werden. Und das hat nich’ funktioniert.“11 Nichtsdestotrotz wird das damalige politische Engagement als erfolgreiches, gegen die Diktatur gerichtetes und zugleich an einer Veränderung der gesellschaftlichen Zustände orientiertes Handeln gewertet, ohne dass eine ahistorische Perspektive eingenommen würde, indem man äußerte, dass allein „durch die Arbeit der Gruppen diese Veränderung eingetreten is’. [...] ich kann aber sagen, ich wollte, dass was anders wird und es ist anders geworden. Das heißt natürlich ... Das ist biographisch ’n unglaublich tolles Gefühl.“12 In der Beschäftigung mit den eigenen MfS-Akten zeichnen sich ähnliche Muster der Aufarbeitung wie in Typus I ab. Desgleichen ist man bemüht, den Weg der Aussöhnung im Gespräch mit den identifizierten IM zu suchen. Zuerst um sich selbst die Möglichkeit des ‚Verstehens‘ der damaligen Entstehungszusammenhänge zu geben und daneben ebenso den Verursachern die Chance zur Rechtfertigung zu eröffnen. Diesen Weg der individuellen Aufarbeitung vollziehen ebenso die Personen des Typus V und gleichermaßen machen sie die ernüchternde Erfahrung, die Frau Simon beschreibt: „Es ist immer genau umgedreht. Es sind immer eigentlich die Opfer, die hingehen, die drunter leiden und sagen, »Mensch, was war da und wie könn’ mer da ...« Und erst dann kommt das Eingeständnis.“13 Innerhalb der Akteneinsicht, die zugleich allgemeine Methoden und Arbeitsweisen des MfS im individuellen Kontext aufzeigt, kommt es zu weiteren Einordnungen. Einerseits muss erkannt werden, dass das allgemeine Phänomen der Kontrolle und Überwachung im engsten Umfeld sowie im Beruf (vor allem in der evangelischen Kirche) wohl zu gering eingeschätzt worden ist, andererseits werden aus den Akten ebenso die Unzulänglichkeiten des staatssicherheitsdienstlichen Arbeitens für sie deutlich, bestätigen die genutzten Handlungsspielräume und die nicht nur einseitige, sondern wechselseitige Beeinflussung zwischen MfS auf der einen und Opposition und Kirche auf der anderen Seite. Diese Erkenntnisse widersprechen ebenso der durch die öffentliche und vor allem mediale Debatte posthumen Mystifizierung des molochartigen Instrumentariums Staatssicherheit als Staat im Staate und fordern zu einer differenzierteren Sicht auf. Bei den Personen des Typus II wird deren bereits für die DDR-Zeit konstatierte biographische Kontinuität ebenso in ihren Orientierungen im Transformationsprozess deutlich. In der heutigen Auseinandersetzung mit der ehemaligen DDR stehen nicht allein die Konfrontationen mit dem MfS im Vordergrund, 11 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 52. 12 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000, S. 26. 13 V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 43. Dies bestätigt das zuvor eingefügte Zitat von Streeruwitz innerhalb der konkreten Erfahrung einer Zeitzeugin. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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„weil die Stasi [...] nicht diese Bedeutung hatte. Das war nicht das Wesentliche, das war nur ’ne RANDerscheinung.“14 Die identitätsbildenden, also „wesentlichen“ Momente waren letztlich im individuell resistenten und kollektiv organisierten oppositionellen Handeln begründet und diese tragen sich als lebenslange Prägungen gegenwärtig weiter, wobei die obige Aussage nicht impliziert, dass die Eingriffe des MfS in ihrer individuellen Dimension relativiert und unterschätzt werden (Kap. 7.2). Auch heute existieren gesellschaftlich drängende Probleme, die es zu lösen gibt. Die Personen dieses Typus engagieren sich demzufolge weiterhin gesellschaftlich und politisch. Sie haben innerhalb des neuen Systems keinen existenziellen Bedeutungsverlust erlebt, sondern können sich auch hier neue aktuelle Bedeutungsgehalte zur Verwirklichung ihrer individuellen Überzeugungen und Wertigkeiten schaffen. Für die Typen III bis V wurden die jeweiligen Entwicklungen des Transformationsprozesses teilweise bereits in die resümierende Darstellung einbezogen (7.3/7.4). Sehr enge Parallelen zu den Typen I und II weisen – wie angedeutet – die Personen des Typus V in ihrer Auseinandersetzung mit den ehemaligen inoffiziellen Mitarbeitern ihres persönlichen Umfelds auf. Auch hier gestalten sich die Erfahrungen als äußerst negativ, Eingeständnisse der IM sind eher eine Seltenheit. Typus V vollzieht daneben eine äußert selbstkritische Analyse seines damaligen Verhaltens, das von kritischer Distanz und konsequentem Signalisieren von Nonkonformismus geprägt war, jedoch nicht den Schritt zum kollektiven politischen Protest wagte. Er nutzt die sich nun eröffnenden freiheitlichdemokratischen Zustände zu einer gesellschaftlich verantwortlichen Aufarbeitung der DDR-Geschichte, der Frustration über die eigene politische Inkonsequenz wird gegenwärtig auf diese Weise positiv entgegengewirkt. Die neu gewonnenen Einsichten bezüglich der systematischen Eingriffe des MfS in die eigene Lebenswirklichkeit stellen trotz der auch hier geäußerten Ängste sozialer Unsicherheit keinen Grund dar in „ostalgische“ Argumentationsmuster – wie dies für Typus III und IV deutlich wird – auszuweichen. Die Akteneinsicht hat bereits bestehende Vorbehalte gegen die DDR, besonders ihrer permanenten Überwachung und Disziplinierung jeglichen Abweichens vom staatlich verordneten Denken, bestätigt, deswegen erfährt die neu gewonnene demokratische rechtsstaatliche Ordnung auch in Bezug auf deren grundlegende freiheitlichen Grundwerte eine besondere Wertschätzung. Auch für die Typen III und IV können erst innerhalb ihrer Akteneinsicht die besonders stark getätigten Eingriffe und Disziplinierungen des MfS im beruflichen Bereich nachvollzogen werden. Die eigentliche Dimension der individuellen Überwachung wird erkennbar und diese steht nun in erheblicher Diskrepanz zum eigenen Vertrauensverhältnis gegenüber dem sozialistischen Staatssystem (Typus IV). Vor allem in Typus IV wird deswegen das ‚missglückte Experiment‘ des Realsozialismus zumeist personalpolitisch begründet, seine staatssozialistischen Strukturen werden bis heute nicht als diktatorisch oder 14

V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 20. 9. 2000, S. 1. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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autoritär eingestuft, sondern auf seine vor allem sozialen Vorteile hin gerechtfertigt und verteidigt. Ein grundlegendes Bewusstsein für dessen Verwerflichkeit und für die Frage, inwieweit durch das eigene Mittragen der staatlichen Strukturen Selbstkritik angezeigt werden sollte, findet sich bei den Typen III und IV nicht einmal ansatzweise. Aus der Enttäuschung über den unvermittelten Zusammenbruch der DDR und der zurückgebliebenen Lebensentwürfe und Muster sozialistischer Lebensweise ist heute ein generelles Misstrauen gegenüber der Politik und staatlichen Institutionen im Allgemeinen erwachsen. Deswegen ist das früher vorhandene politische Interesse (nur Typus IV) einer Distanzierung vom öffentlich-politischen Leben gewichen, das apolitische Verhalten und Bewusstsein des Typus III bestätigt sich auch im Transformationsprozess. Zugleich tauchen angesichts aktuell zunehmender Alltags- und Existenzprobleme vermehrt unkritische und verklärende Darstellungen der DDRWirklichkeit auf. Sie signalisieren ebenso die Abwehr einer völligen Entwertung des selbst gelebten Lebens in der DDR, seiner individuell erbrachten Leistungen und geschaffenen Wertesysteme. Insgesamt wird deswegen für beide Typen, Typus III wie Typus IV, eine tendenzielle Abwertung der neuen gesellschaftlichen Veränderungen deutlich. Eine aktive Auseinandersetzung mit dem neuen Gesellschaftssystem findet deswegen nicht statt, es wird allein auf seine die ZeitzeugInnen betreffenden unmittelbaren (negativen) Auswirkungen, das heißt auf seine marktwirtschaftlichen Elemente reduziert (Typus III und IV). Die sich innerhalb der gewonnenen Freiheit darbietende Selbstverantwortlichkeit kann nicht adäquat genutzt werden, da die nötigen Ressourcen nicht gleichzeitig geschaffen werden können und mit der Zunahme an Selbstbestimmung nicht zugleich eine Zunahme an Autonomie verbunden ist. Selbstverantwortliche Teilhabe und das Angebot freier Willensbildung, die eine Gestaltung des eigenen Lebens in der Gesellschaft offerieren, werden mehrheitlich eher als Bürde denn als Chance einer eigeninitiativen Lebensgestaltung empfunden.15 Der Wegfall des „sozialistischen Paternalismus, der eine umfassende politisch-ideologische Bevormundung und Unterdrückung [...] mit einer quasi-wohlfahrtsstaatlichen Fürsorge [...] und einem sehr hohen Maß an sozialer Sicherheit“16 verband, hat insbesondere für Typus III zu erkennbarer ideologischer Entwurzelung und beruflicher Orientierungs- und Perspektivlosigkeit im neuen politischen System und seiner Gesellschaft geführt. In einigen wenigen Fällen haben die individuellen Ausformungen der erlebten Übergangsphase vom Realsozialismus zu einer demokratisch verfassten Risikogesellschaft zeitweise eine drohende Destruktion biographischer Legitimität hervorgerufen, welche in Sätzen wie „Was haste denn nun eigentlich jelebt?“17 oder „Was mir passiert ist, is’ ’ne kaputte Bio15 Dies betrifft vor allem die ältere Generation („Aufbaugeneration“) in den Typen III und IV. Die „Pragmatiker“ des Typus IV hingegen haben sich auch innerhalb des neuen Systems erfolgreich arrangiert. Somit findet diese typologische Einordnung auch im Transformationsprozess ihre Fortführung und Bestätigung. 16 Meyer, Haben und Sein, S. 18. 17 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000, S. 30. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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graphie. Und eine über Jahrzehnte manipulierte“18 seinen unmissverständlichen Ausdruck findet. Ursache dieser tiefen Verunsicherung ist die von Typus II angemahnte versäumte Phase der Selbstreflexion und Selbstverortung, die Übernahme von Verantwortung für die persönliche Entfremdung und für eine emotionale Verarbeitung wird im Verlauf des Transformationsprozesses (vor allem in Typus IV aber auch in Typus III) vermieden, stattdessen wird sie allein den äußeren Verhältnissen zugeschrieben. Damit bestätigen sich vor allem die für Typus III erkennbar gewordenen Handlungsmuster auch für die gegenwärtige Lebensphase, die sich im Sinne des psychologischen Phänomens der persönlichen Verursachung darstellten (Kap. 7.3). Zusammenfassend konnten – folgt man der vorausgehenden Darstellung – die Einordnungen der Typologie unter dem Aspekt des Transformationsprozesses verifiziert werden. Bezieht man den aktiven Aufarbeitungsprozess in eine gesonderte Betrachtung ein, so ist nun eine Aufteilung der Typen in zwei Gruppierungen möglich. Für die Typen III und IV lässt sich eine klare Vermeidung von Aufarbeitung, von Trauer und Bekenntnissen möglicher Mitschuld festlegen. Eine besonders in Typus III deutlich gewordene Passivität für die derzeitige Lebensweise ist zu erkennen, die allein auf von außen kommende wirtschaftliche und politische Veränderungen reagiert und im Zirkelschluss zugleich Anspruch auf individuelle Zufriedenheit und Lebensglück einfordert. Die Typen I, II und V bilden ebenso ein gemeinsames Muster in den Formen ihrer Aufarbeitung ab. Vergangenheit muss bewusst gemacht werden, um deren Wiederholung zu vermeiden. Die genuine Frage nach den ‚Tätern‘ und ihres Handelns sowie die eröffnete Chance einer möglichen Aussöhnung und kollektiven Trauerarbeit dient dabei nicht nur der individuellen Vermeidung von Angst, Ohnmachtgefühlen und dem persönlichen closure, sondern dem nationalen gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess zumindest auf einer unteren Ebene, welche die Menschen miteinander ins Gespräch zwingt. Dieses implizite Moment vereint damit eine zutiefst historische und gegenwärtige Dimension: Erinnern heißt verändern. Letztendlich konnte die Erhebung und Sicherung der Erfahrungen ehemaliger DDR-BürgerInnen einen Beitrag zu einer weitreichenderen Erfassung von Lebenswirklichkeiten in der DDR im Spiegel individueller Erfahrungen ermöglichen, die sich zudem spezifisch im Hinblick auf die Einwirkung staatssicherheitsdienstlicher Repression und staatlicher Lebenskonditionierung darstellten. Dies vollzog sich innerhalb eines Musters autobiographischen Erinnerns. In dieser Fähigkeit des Erinnerns „bildet sich unter anderem der Faktor ‚Identität‘ aus, der ein Abbild zeichnet von dem, wie wir unsere Vergangenheit auf existenzielle Weise nutzen, um wichtige Dimensionen dessen, was wir unserer Auffassung nach sind, aufzuspüren und zu klären.“19

18 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000, S. 8. 19 Keller, Umgang, S. 97. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Aus diesem Grunde erhebt diese Studie auch einen emanzipatorischen Anspruch, nämlich Menschen aus der ehemaligen DDR und ihren erlebten Erfahrungen in einer modernen Diktatur die Chance zu geben, sich in der Geschichtsschreibung als Teil des kollektiven Gedächtnisses einen Platz zu sichern, um als Integrationsfiguren der deutschen Wiedervereinigung einen wichtigen Beitrag für eine gemeinsam verstandene Vergangenheit und Zukunft leisten zu können. Die Forschungsarbeit versteht sich somit als ein Beitrag zur historischen Gedächtnisbildung und Identitätsstiftung im wiedervereinigten Deutschland. Sie möchte den neuerlichen verklärenden Tendenzen des öffentlichen Diskurses in der Erinnerung an die DDR widerstehen und den Ängsten derjenigen entgegenwirken, die befürchten, „dass die gute alte DDR irgendwann, wahrscheinlich noch zu meinen Lebzeiten, in keiner Erinnerung mehr aufzufinden sein wird. Man wird sie in völlig absurde Geschichten zerträumt haben, die alle irgendwie lustig sind. Dann wird man sich fragen, warum es überhaupt zur Wende kommen musste, wo doch alles so unterhaltsam war, und man aus dem Lachen gar nicht rauskam.“20

20 Stephan Krawczyk, Erinnerungen an die DDR – zerträumt in absurde Geschichten. In: Politisches Feuilleton vom 13. 3. 2003, DeutschlandRadio Berlin. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

9.

Anhang

9.1

Abbildungen

Abb. 1: Organisation des Ministeriums für Staatssicherheit 1989 Abb. 2: Gesellschaft und politisches System der DDR: Ursächliche Bedingungen und allgemeiner Handlungsrahmen

9.2

S. 460 S. 462

InterviewpartnerInnen – Pseudonyme

(Angaben zu Geburtsjahr und Berufsausbildung)

Interview Nr. 1: Interview Nr. 2: Interview Nr. 3: Interview Nr. 4: Interview Nr. 5: Interview Nr. 6: Interview Nr. 7: Interview Nr. 8: Interview Nr. 9: Interview Nr. 10: Interview Nr. 11: Interview Nr. 12/1: Interview Nr. 12/2: Interview Nr. 13: Interview Nr. 14: Interview Nr. 15: Interview Nr. 16: Interview Nr. 17: Interview Nr. 18/1: Interview Nr. 18/2: Interview Nr. 19: Interview Nr. 20: Interview Nr. 21: Interview Nr. 22: Interview Nr. 23: Interview Nr. 24: Interview Nr. 25: Interview Nr. 26: Interview Nr. 27:

Frau Simon, geb. 1958, Krankenschwester Frau Seber, geb. 1954, Kunstblumenfacharbeiterin/Altenpflegerin Herr Steinbeck, geb. 1943, Elektromonteur/Archivar Herr Kunze, geb. 1933, Lehrer Herr Klinger, geb. 1952, Maschinenbauer/Instrumentallehrer Herr Spengler, geb. 1944, Jurist der EKD Frau Manzel, geb. 1958, Krankenschwester Herr Jonas, geb. 1945, Entwicklungsingenieur Herr Brandner, geb. 1968, Journalist Herr Felder, geb. 1934, Tischler Frau Giesen, geb. 1935, Wirtschaftspflegerin/Schwesternhelferin Frau Arndt, geb. 1935, Zahnarzthelferin/Ökonomin Herr Arndt, geb. 1936, Schlosser/Ingenieurökonom Frau Rudolph, geb. 1936, Buchhändlerin/Ökonomin Frau Waldmann, geb. 1953, Teilfacharbeiterin Frau Wetzel, geb. 1956, Sozialarbeiterin Frau Löffler, geb. 1944, Krankenschwester/Ärztin Frau Seestern, geb. 1949, Krankenschwester/Ökonomin Frau Schuster, geb. 1942, Diätassistentin/Berufsfachschullehrerin Herr Schuster, geb. 1940, Schlosser/Handwerksmeister Frau Rose, geb. 1937, Fotografin Frau Krüger, geb. 1943, Diätassistentin Frau Schreiber, geb. 1951, Schwesternhelferin/Zahnärztin Herr Anders, geb. 1945, Berufskraftfahrer/Elektromonteur Frau Anders, geb. 1945, Ökonomin Frau Schulz, geb. 1954, Universitätsdozentin Frau Stegmann, geb. 1966, Kindergärtnerin Frau Horch, geb. 1957, Fachverkäuferin Frau Fischer, geb. 1940, Zahnärztin

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Anhang

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Abbildungen

Organisation des Ministeriums für Staatssicherheit 1989 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Selbst- und Fremdkonzept

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Typologie

Empirisch begründete Entwicklung von Typen

Explizite und implizite Intentionen und Ziele

Handlungsstrategien

Konfrontationssituation

Konfliktfelder

Konflikt

Wahrnehmungen

„Inkorporierte Strukturen“ – Habitus –

Prägungen – Einstellungen – Wertigkeiten

„Subjektive Lebenswelt“

– Institutionelles Selbst- und Fremdkonzept – Formen der Repression – Methoden und Mittel

MfS

Fundament des Staatssozialismus Repressiver Apparat

„Objektive Strukturen“

Gesellschaft und politisches System der DDR: Ursächliche Bedingungen und allgemeiner Handlungsrahmen

462 Anhang

Transkriptionsnotation Interview Nr. 28:

463

Frau Friedrich, geb. 1940, Krankenschwester/Betriebswirtin

Aufgrund der gemeinsamen Aktenlage in der Analyse berücksichtigte Ehepartner: Herr Manzel, geb. 1947, Physiker Herr Seestern, geb. 1946, Ökonom Herr Rose, geb. 1932, Arzt

9.3

Transkriptionsnotation

Notationszeichen für verbale Redemerkmale und nicht verbale Begleiterscheinungen des Sprechens NEIN nein Ja— Lei__ ... Ja=ja [...] [ihr Vater]

= = = = = = = = =

F. in [Ortsname] (1 Wort)

= = =

(sagte er) (4) ((lachend))

= = =

»...«

=

‘...’

=

NEIN

laut leise betont Dehnung Wortabbruch abgebrochener Satz schneller Anschluss Auslassung im Zitat Erläuterung der Transkribierenden zur Erschließung semantischer Unklarheiten im Zitatausschnitt Anonymisierung für Personennamen Dritter Anonymisierung für Ortsnamen, Eigennamen etc. Inhalt der Äußerung ist unverständlich; Länge wird angegeben in Wortzahl oder Satzart unsichere Transkription Dauer einer Sprechpause in Sekunden Kommentar der Transkribierenden zu Gestik, Mimik Sprechverhalten, Sprechhandlungen (z. B. Geräusche), situationsgebundene Geräusche (z. B. Telefonläuten) Wiedergabe von erzählter wörtlicher Rede, innerem Monolog, Zitaten Eigennamen, Zitate innerhalb Wiedergabe von wörtlicher Rede etc.

Notationen für umgangssprachliches (ugs.) Sprechen denkste, haste usw. = se/Se

=

de

=

denkst du, hast du usw. (bei ugs. lautlich engen Verbformverbindungen (v. a. 2.P.Sg.) mit dem Pronomen keine Apostrophierung) sie/Sie (Pronomen für Sg. wie Pl. bzw. Höflichkeitsform) du/die

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Anhang

mer

=

’n – e - a en – een - an ene/r; eene/r so ’n - ’ne - ’ner in ’nem nee - nö nich’ - ni’ - net ne - no euja

= = = = = = = = =

mir = wir (die zusätzliche, ugs. Färbung von ‚wir‘ zu ‚wer‘ wird aus Gründen der Verwechslung mit dem fragenden, bezüglichen Pronomen ‚wer‘ nicht transkribiert, das Gleiche gilt für die ugs. Färbung von ‚das‘ zu ‚des‘, aus Gründen der Verwechslung mit dem Genitivartikel) ein (je nach Satzstellung) einen (je nach Betonung und Färbung siehe auch keen) eine/r (je nach Betonung und Färbung) so ein/eine/einer etc. in einem etc. nein nicht Ausruf im Sinne von ‚nicht wahr‘ bejahender Ausruf im Sinne von ‚doch‘ oder ‚schon‘

Interjektionen (paraverbale Äußerungen) äh ähm hach hah häh(ähä) he hoi huch mei mmh oh ooah poah peng pff pph

9.4

Unveröffentlichte Quellen

Empirisch erhobene Quellen – Erinnerungsinterviews/Transkripte V-Transkript Nr. 1, Frau Simon, 22. 9. 2000 T-Transkript Nr. 2, Frau Seber, 29. 9. 2000 V-Transkript Nr. 3, Herr Steinbeck, 22. 9. 2000 V-Transkript Nr. 4, Herr Kunze, 26. 9. 2000 V-Transkript Nr. 5, Herr Klinger, 28. 9. 2000 V-Transkript Nr. 6, Herr Spengler, 28. 9. 2000 V-Transkript Nr. 7, Frau Manzel, 29. 9. 2000 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Unveröffentlichte Quelllen

465

V-Transkript Nr. 8, Herr Jonas, 2.10. 2000 V-Transkript Nr. 9, Herr Brandner, 5.10. 2000 T-Transkript Nr. 10, Herr Felder, 9.10. 2000 V-Transkript Nr. 11, Frau Giesen, 10.10. 2000 V-Transkript Nr. 12/1, Frau Arndt, 11.10. 2000 V-Transkript Nr. 12/2, Herr Arndt, 11.10. 2000 V-Transkript Nr. 13, Frau Rudolph, 12.10. 2000 V-Transkript Nr. 14, Frau Waldmann, 12.10. 2000 V-Transkript Nr. 15, Frau Wetzel, 23.10. 2000 V-Transkript Nr. 16, Frau Löffler, 24.10. 2000 V-Transkript Nr. 17, Frau Seestern, 24.10. 2000 V-Transkript Nr. 18/1, Frau Schuster, 31.1. 2001 V-Transkript Nr. 18/2, Herr Schuster, 31.1. 2001 V-Transkript Nr. 19, Frau Rose, 7. 2. 2001 V-Transkript Nr. 20, Frau Krüger, 7. 2. 2001 V-Transkript Nr. 21, Frau Schreiber, 27. 5. 2001 T-Transkript Nr. 22, Herr Anders, 28. 5. 2001 T-Transkript Nr. 23, Frau Anders, 28. 5. 2001 V-Transkript Nr. 24, Frau Schulz, 28. 5. 2001 V-Transkript Nr. 25, Frau Stegmann, 29. 5. 2001 V-Transkript Nr. 26, Frau Horch, 30. 5. 2001 V-Transkript Nr. 27, Frau Fischer, 1. 6. 2001 V-Transkript Nr. 28, Frau Friedrich, 30. 5. 2001

Archivalien Anklageschriften, Urteile und Auszüge aus Kaderakten der InterviewpartnerInnen Behörde der Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, entsprechende Außenstellen (BStU, ASt.) Personenbezogene MfS-Aktenlagen der InterviewpartnerInnen Behörde der Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Außenstelle Chemnitz (BStU, ASt. Chemnitz) Abteilung XX: C-XX-39; C-XX-30; C-XX-29 Dienstanweisung Nr. 2/85 (Dokument 594) Dienstanweisung Nr. 6/82 des Leiters der BV KMSt (C-XX-688) Direktive 1/67 Durchführungsbestimmung Nr. 1 zur Direktive 1/67 Befehl Nr. 6/77 (Dokument 102331) Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz (SäStA Chemnitz) Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Karl-Marx-Stadt (Bezirksbehörde der DVP KMSt): 25.2 Nr. I 0346 B SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt (SäStA Chemnitz, SED BL KMSt), Abt. Agitation und Propaganda: Nr. C-2/2/035; Nr. IV C-2/5/343; Nr. IV E 2/9.01/447; Nr. IV F-2/3/96; Nr. IV F-2/3/96a

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Anhang

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (SAPMO-BArch) ZK der SED – Büro Egon Krenz: DY 30/IV 2/2.039/218 ZK der SED – Büro Erich Honecker: DY 39/2195

9.5

Literatur

Adler, Frank: Zur Rekonstruktion des DDR-Realsozialismus. Strukturmerkmale, Erosion, Zusammenbruch. In: Thomas (Hg.): Abbruch und Aufbruch, S. 36– 49. Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1973. Ammer, Thomas: Anmerkungen zu den Methoden des MfS in politischen Strafverfahren. In: Baumann/Kury (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung, S. 75–87. Andert, Reinhold/Herzberg, Wolfgang: Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör, Berlin 1990. Arbeitsgesetzbuch der DDR, Berlin (Ost) 1978. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung, München 1976. Arnold, Jörg u. a.: Die Normalität des Strafrechts der DDR, Band 1, Freiburg i. Brsg. 1995. –: Strafgesetzgebung und -rechtssprechung als Mittel der Politik in der DDR. In: Arnold: Die Normalität des Strafrechts der DDR, S. 63–78. –: Strafvollzug in der DDR: Ein Gegenstand gegenwärtiger und zukünftiger Forschung. In: Arnold: Die Normalität des Strafrechts der DDR, S. 197–219. Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Fakten der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991. Auerbach, Thomas: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS. Hg. vom BStU, Berlin 1994. Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, erw. und aktual. Ausgabe, 1. Auflage Hamburg 1997. Baberowski, Jörg/Conze, Eckart/Gassert, Philipp/Sabrow, Martin: Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart 2001. Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977. Bald, Detlef (Hg.): Die Nationale Volksarmee. Beiträge zu Selbstverständnis und Geschichte des deutschen Militärs von 1945–1990, Baden-Baden 1992. Baumann, Ulrich/Kury, Helmut (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung: Opfer von SED-Unrecht, Freiburg i. Brsg. 1998. Bechler, Margret: Warten auf Antwort. Ein deutsches Schicksal, München 1978. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. –: Eigenes Leben im Sozialismus – oder die Kunst des Informellen. In: ders./ Erdmann Ziegler: Eigenes Leben, S. 110–115. –/ Erdmann Ziegler, Ulf: Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1997.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Literatur

467

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Anhang

–: Die feinen Waffen der Diktatur. Nicht-strafrechtliche Formen politischer Verfolgung in der DDR. In: Timmermann (Hg.): Die DDR – Erinnerung an einen untergegangenen Staat, S. 191–219. –: West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von „Aufklärung“ und „Abwehr“, 2. Auflage Berlin 1999. –: Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, 3. Auflage Berlin 2000. –: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, München 2003. –: Das MfS und die Partei der Grünen. In: Herbstritt/Müller-Enbergs (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu..., S. 375–392. Knabe, Wilhelm: Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluss der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR. In: Materialien der Enquete-Kommission. Hg. vom Deutschen Bundestag, Band VII/2, 1995, S. 1110–1202. Kochan, Thomas: Den Blues haben. Momente einer jugendlichen Subkultur, Münster 2002. Kocka, Jürgen: Eine durchherrschte Gesellschaft. In: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, S. 547–553. Kohli, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung. In: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, S. 31–61. Koller, Hans-Christoph: Biographie als rhetorisches Konstrukt. In: BIOS, 1 (1993), S. 33–45. Koselleck, Reinhart: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. In: Müller / Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung, S. 79–97. –: Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2000, S. 19–32. Kowal, Sabine/O’Connell, Daniel C.: Psycholinguistische Aspekte der Transkription. Zur Notation von Pausen in Gesprächstranskripten. In: Linguistische Berichte, 183 (2000), S. 353–378. Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft. Ringvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1994. –: „Wer sich nicht in Gefahr begibt...“ Protestaktionen gegen die Intervention in Prag und die Folgen von 1968 für die DDR-Opposition. In: Henke/Steinbach/ Tuchel (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR, S. 256–274. –: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR, Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003. Kraut, Gerald M.: Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates, München 1997. Krebs, Hans-Dieter: Politische Instrumentalisierung des Sports in der DDR. In: Materialien der Enquete-Kommission. Hg. vom Deutschen Bundestag, Band III /2, 1995, S. 1314–1369. Kreißig, Volkmar: „Realsozialistische“ betriebliche Machtstrukturen und industrielle Beziehungen im Transformationsprozess zur Marktwirtschaft. In: Schmidt (Hg.): Zwischenbilanz, S. 109–130. Krieger, Wolfgang (Hg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2003. Krohne, Heinz W.: Angst und Angstbewältigung, Stuttgart 1996. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Kröplin, Regina: Das Selbstbild ostdeutscher Frauen. In: Zoll (Hg.): Ostdeutsche Biographien, S. 187–216. Kuckutz, Irena: „Nicht Rädchen, sondern Sand im Getriebe, den Kreis der Gewalt zu durchbrechen“ Frauenwiderstand in der DDR in den achtziger Jahren. In: Poppe / Eckert / Kowalczuk: Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, S. 273–283. –: Die Bewegung „Frauen für den Frieden“ als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR. In: Materialien der Enquete-Kommission. Hg. vom Deutschen Bundestag, Band VII/2, 1995, S. 1285–1408. Kühnel, Wolfgang: Der Lebenszusammenhang DDR-Jugendlicher im Spannungsfeld von institutioneller Verregelung und alltagskultureller Modernisierung. In: Burkhart (Hg.): Sozialisation im Sozialismus, S. 105–113. –/ Sallomon-Metzner: Carola, Grüne Partei und Grüne Liga. Der geordnete Aufbruch der ostdeutschen Ökologiebewegung. In: Müller-Enbergs/Schulz/Wielgohs (Hg.): Von der Illegalität ins Parlament, S. 166–220. Küttler, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hg.): Geschichtsdiskurs. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Band 1, Frankfurt a. M. 1993. Lacan, Jacques: Der Sinn des Buchstabens. In: ders.: Schriften II. Hg. von Norbert Haas, Olten 1975. Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung – Methodologie, Band 1, 3. korrig. Auflage Weinheim 1995. Land, Rainer/Possekel, Ralf: Fremde Welten. Die gegensätzliche Deutung der DDR durch SED-Reformer und Bürgerbewegung in den 80er Jahren, Berlin 1998. Lapp, Peter Joachim: Frontdienst im Frieden – Die Grenztruppen der DDR. Entwicklung – Struktur – Aufgaben, 2. Auflage Koblenz 1987. –: Gefechtsdienst im Frieden – Das Grenzregime der DDR, Bonn 1999. Lazarus, Richard S./ Folkman, Susan: Stress, Appraisal, and Coping, New York 1984. –/ Lazarus, Bernice N.: Passion and reason: Making sense of our emotions, New York 1994. Lemke, Christiane: Eine politische Doppelkultur. Sozialisation im Zeichen konkurrierender Einflüsse. In: Der Bürger im Staat, 3 (1989), S. 174–178. Lemke, Christiane: Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR, Opladen 1991. Lemke, Michael: Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995. –: Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949–1961, Köln 2001. Leschinsky, Achim/Gruner, Petra/Kluchert, Gerhard (Hg.): Die Schule als moralische Anstalt. Erziehung in der Schule: Allgemeines und der ‚Fall DDR‘, Weinheim 1999. Lindenberger, Thomas (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999. –: Die Diktatur der Grenzen. In: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 13–44. Lochen, Hans-Hermann/Meyer-Seitz, Christian (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern, Köln 1992. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

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Anhang

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Literatur

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Anhang

–: Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR. In: Zeitschrift für Soziologie, 19 (1990), S. 292–307. –: Sozialethisch engagierte Gruppen in der DDR. Eine religionssoziologische Untersuchung (Juni 1989). In: ders. (Hg.): Die Legitimität der Freiheit, S. 115–154. –: Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen und der politisch alternativen Gruppe in der DDR, Stuttgart 1994. –: Funktionen von Religion und Kirche in den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Untersucht anhand der politischen Zäsuren von 1945 und 1989 in Deutschland. In: KZG, 1 (1999), S. 64–94. –: Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR, Opladen 2000. –/ Rink, Dieter (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989, Frankfurt a. M. 1997. Poppe, Ulrike: „Der Weg ist das Ziel“. Zum Selbstverständnis der politischen Rolle oppositioneller Gruppen der achtziger Jahre. In: dies./ Eckert / Kowalczuk: Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, S. 244–283. –/ Eckert, Rainer/Kowalczuk, Ilko-Sascha: Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995. Priebe, Stefan u. a.: Psychische Störungen nach politischer Inhaftierung in der DDR – Sichtweisen der Betroffenen. In: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 61 (1993), S. 55–61. –/ Denis, Doris/Bauer, Michael (Hg.): Eingesperrt und nie mehr frei. Psychische Leiden nach politischer Haft in der DDR, Darmstadt 1996. Probst, Lothar: Ostdeutsche Bürgerbewegungen und Perspektiven der Demokratie. Entstehung, Bedeutung, Zukunft, Köln 1993. Pross, Christian: Wir sind unsere eigenen Gespenster. Gesundheitliche Folgen politischer Repression in der DDR. In: Behnke/Fuchs (Hg.): Zersetzung der Seele, S. 303–315. Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 2 Bände, Berlin (Ost) 1971. Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 2 Bände, Berlin (Ost) 1976. Protokoll der Verhandlungen des XI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1986. Raschka, Johannes: „Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik“. Zur Zahl der politischen Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, Dresden 1997. –: Die Ausreisebewegung – eine Form von Widerstand gegen das SED-Regime. In: Baumann/Kury (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung, S. 257–274. –: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers. In: Engelmann/Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 273–302. –: Zwischen Überwachung und Repression – Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989, Opladen 2001. Rauhut, Michael: Ohr an der Masse. Rockmusik im Fadenkreuz der Stasi. In: Wicke /Müller (Hg.): Rockmusik und Politik, S. 28–47. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Literatur

483

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Anhang

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung, 27. Brief. In: ders.: Werke und Briefe, Band 8, S. 667–676. –: Werke und Briefe, Band 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992. Schilling, Walter: Die „Bearbeitung“ der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Vollnhals (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit, S. 211– 266. Schmidt, Rudi (Hg.): Zwischenbilanz. Analysen zum Transformationsprozess der ostdeutschen Industrie, Berlin 1993. –/ Lutz, Burkart (Hg.): Chancen und Risiken der industriellen Restrukturierung in Ostdeutschland, Berlin 1995. Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis – Erzählen – Identität. In: Assmann/Harth (Hg.): Mnemosyne, S. 378–397. Schmole, Angela: Frauen und MfS. In: DA, 29 (1996), S. 512–525. Schröder, Hans Joachim: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992. –: Interviewliteratur zum Leben in der DDR. Zur literarischen, biographischen und sozialgeschichtlichen Bedeutung einer dokumentarischen Gattung, Tübingen 2001. Schröder, Harry: Identität, Individualität und psychische Befindlichkeit des DDRBürgers im Umbruch. In: Burkhart (Hg.): Sozialisation im Sozialismus, S. 163– 176. –: Staatliche Repression und psychische Folgen (DDR-Bürger in der Wende). In: Gruppendynamik, 4 (1990), S. 341–356. Schroeder, Friedrich-Christian: Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, Opladen 1983. Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949 – 1990, 1. Auflage München 1998. Schuller, Wolfgang: Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts in der DDR bis 1968, Ebelsbach am Main 1980. –: Repression und Alltag in der DDR. In: DA, 7 (1994), S. 272–276. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Originalausgabe, Wien 1932. –/ Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1979/ 1984. Schütze, Fritz: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung, S. 159–260. –: Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, 3 (1983), S. 283–293. Schwarzer, Alice (Hg.): Man wird nicht als Frau geboren, Köln 2000. Schwarzer, Ralf/Jerusalem, Matthias (Hg.): Gesellschaftlicher Umbruch als kritisches Lebensereignis. Psychosoziale Krisenbewältigung von Übersiedlern und Ostdeutschen, Weinheim 1994. Schwenk, Otto G. (Hg.): Lebensstil zwischen Sozialstrukturanalyse und Kulturwissenschaft, Opladen 1996. Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, Hamburg 2000. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Literatur

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Anhang

Süß, Walter: Zum Verhältnis von SED und Staatssicherheit. In: Herbst/Stephan/ Winkler (Hg.): Die SED, S. 215–240. –: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999. Templin, Wolfgang/Weißhuhn, Reinhard: Initiative Frieden und Menschenrechte. Die erste unabhängige DDR-Oppositionsgruppe. In: Müller-Enbergs/Schulz/ Wielgohs (Hg.): Von der Illegalität ins Parlament, S. 148–165. Thaa, Winfried / Häuser, Iris / Schenkel, Michael / Meyer, Gerd: Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR-Sozialismus. Das Ende des anderen Weges in der Moderne, Tübingen 1992. Thaysen, Uwe (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Band II: Umbruch, Wiesbaden 2000. Thiemann, Ellen: Stell’ dich mit den Schergen gut, München 1984. Thomas, Michael: Wenn es konkret wird: Hat marxistische Klassentheorie Chancen in der modernen Unübersichtlichkeit? In: Zapf (Hg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften, S. 395–406. – (Hg.): Abbruch und Aufbruch. Sozialwissenschaften im Transformationsprozess, Berlin 1992. Thoß, Bruno (Hg.): Volksarmee schaffen – ohne Geschrei! Studien zu den Anfängen einer ‚verdeckten Aufrüstung‘ in der SBZ/DDR 1947–1952, München 1994. Tiedtke, Stephan: Die Warschauer Vertragsorganisation. Zum Verhältnis von Militär- und Entspannungspolitik in Osteuropa, München 1978. Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR – Erinnerung an einen untergegangenen Staat, Berlin 1999. – (Hg.): Deutsche Fragen. Von der Teilung zur Einheit, Berlin 2001. – (Hg.): Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates, Berlin 2001. Tippach-Schneider, Simone: „Blumen für die Hausgemeinschaft“, Kollektivformen in der DDR – ein Überblick. In: Fortschritt, Norm und Eigensinn. Hg. vom Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR e. V., S. 243–255. Trappe, Heike: Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995. Trommsdorf, Gisela: Forschung zur geschlechtsspezifischen Sozialisation in der damaligen DDR. In: Berliner Hefte für Soziologie, 2 (1992), S. 389–398. Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Lutz Raphael. In: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 63–89. Umweltprobleme und Umweltbewusstsein in der DDR. Hg. von der Redaktion Deutschland Archiv, Köln 1985. Urteil des Stadtgerichts von Groß-Berlin vom 5. November 1973. In: Neue Justiz, 23 (1973), S. 688–696. Veith, Ines: Gebt mir meine Kinder zurück, München 1991. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar von Siegfried Mampel, 2. völlig neubearb. und erw. Auflage Frankfurt a. M. 1982. Voigt, Dieter (Hg.): Qualifikationsprozesse und Arbeitssituation von Frauen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, Berlin 1989.

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488

Anhang

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Abkürzungen

489

–: Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDR-Strafvollzug. In: Neubert/Eisenfeld (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht, S. 267–292. Zapf, Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften: Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt a. M. 1991. Zehn Jahre deutsche Einheit. Wissenschaftliches Symposion am 9. Oktober 2000 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2001. Zetkin, Clara: Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart, Berlin 1889. –: Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen! Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Gotha am 16. Oktober 1896. In: dies.: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 1, S. 95–111. –: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 1, Berlin (Ost) 1957. Zimmering, Raina: Mythen in der Politik der DDR. Ein Betrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000. Zoll, Rainer (Hg.): Ostdeutsche Biographien. Lebenswelt im Umbruch, Frankfurt a. M. 1999. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen staatsfeindlichen Menschenhandels. Urteil des Stadtgerichts von Groß-Berlin vom 5. November 1973. In: Neue Justiz, 23 (1973), S. 688–696. Zur Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit im Leistungssport der DDR. Ein vorläufiges Rechercheergebnis. Hg. vom BStU, Berlin 1994.

9.6

Abkürzungen

Abt. ABV AGM AKG AOp ASt. APuZG BEK BDVP BGL BIOS BKG BL BRD BSV BStU

untergeordnete Abteilungen des MfS in den Bezirksverwaltungen/Kreisdienststellen, dem Linienprinzip der Hauptabteilungen (HA) auf oberster Ministeriumsebene folgend Abschnittsbevollmächtigter (der VP) Arbeitsgruppe des Ministers des MfS Auswertungs- und Kontrollgruppe: Funktionalorgan des Leiters einer BV bzw. HA Archivierter Operativer Vorgang (passive Erfassung) Außenstelle der BStU in den ehemaligen Bezirken der DDR Aus Politik und Zeitgeschichte Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Betriebsgewerkschaftsleitung (des FDGB) Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen Bezirkskoordinierungsgruppe Bezirksleitung (der SED) Bundesrepublik Deutschland Bund der Stalinistisch Verfolgten Die/Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

490 BV CDU DA DA DE DDR DGP DLF DSF DSB DTSB DVP EKD ELKT EOS EPD EV FAZ FDGB FDJ FfdF FGB FN GBl. GI GM

GMS GNU GPG GST GStA GVS HA HAM HIAT HO-Gaststätte HSH IFM IGfM IM IMB IMS

Anhang Bezirksverwaltung des MfS Christlich-demokratische Union Dienstanweisung (des Ministers für Staatssicherheit) Deutschland Archiv Diensteinheit des MfS Deutsche Demokratische Republik Deutsche Grenzpolizei Deutschlandfunk Deutsch-Sowjetische Freundschaft Deutscher Sportbund Deutscher Turn- und Sportbund Deutsche Volkspolizei Evangelische Kirche in Deutschland Evangelisch-Lutherische Landeskirche Thüringen Erweiterte Oberschule Evangelischer Pressedienst Ermittlungsverfahren Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Frauen für den Frieden Familiengesetzbuch Fußnote Gesetzblatt Geheimer Informator des MfS, Vorläufer der Kategorie IMS Geheimer Mitarbeiter des MfS: Bezeichnung eigentlich nur bis 1968 (dann IMB), im Bezirk Karl-Marx-Stadt aber besonderer Einsatz im Zshg. mit POZW, Bezeichnung dort bis 1989 beibehalten Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit des MfS Gesellschaft für Natur und Umwelt Gärtnerische Produktionsgenossenschaft Gesellschaft für Sport und Technik Generalstaatsanwalt Geheime Verschlusssache Hauptabteilung des MfS (nähere Aufschlüsselung siehe Abb. 1) Hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS Halbinterpretative Arbeitstranskription Gaststätte in der Vereinigung der staatlichen Handelsorganisation Zentrale Untersuchungshaftanstalt des MfS BerlinHohenschönhausen Initiative Frieden und Menschenrechte Internationale Gesellschaft für Menschenrechte Inoffizieller Mitarbeiter des MfS Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindverbindung des MfS Inoffizieller Mitarbeiter des MfS, der mit der Sicherung eines gesellschaftlichen Bereichs bzw. Objekts betraut war © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Abkürzungen IPbürgR

Konvention des Internationalen Pakts über politische und Bürgerrechte JHS Juristische Hochschule des MfS JWM Juniorenweltmeister KD Kreisdienststelle des MfS KGB Komitee für Staatssicherheit (Sowjetischer Geheimdienst) Kiga Kindergarten KJS Kinder- und Jugendsportschule KMB KMHB KMHB Kriminelle Menschenhändlerbande KMSt Karl-Marx-Stadt KoKo Kommerzielle Koordinierung KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KVP Kasernierte Volkspolizei KZG Kirchliche Zeitgeschichte LKA Landeskriminalamt LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft LStU Der/Die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR LUSIR Projekt Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet MfS Ministerium für Staatssicherheit ML Marxismus-Leninismus NF Neues Forum ndl neue deutsche literatur NÖSPL Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft NSA Nichtsozialistisches Ausland NSB Neue soziale Bewegungen NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSW Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet NVA Nationale Volksarmee OdF Opfer des Faschismus ODH Offizier des Hauses OG Operativgruppe OibE Offizier im besonderen Einsatz des MfS OM Operatives Material des MfS OPK Operative Personenkontrolle des MfS OV Operativer Vorgang des MfS PCF Parti communiste français PID Politisch ideologische Diversion POS Polytechnische Oberschule POZW Politisch-operatives Zusammenwirken des MfS PUT Politische Untergrundtätigkeit RL Richtlinie des Ministers für Staatssicherheit SAPMO-BArch Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde SäStA Sächsisches Staatsarchiv © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

491

492 SBZ SED SMAD SPD StGB StPO StÄG StUÄndG StUG StVA StVE SU SV Dynamo SVG SZS TscheKa UB UHA UN/UNO UVR V Ao VA op VAO VEB VfZ VP VPG VOS VS VSH-Kartei WB ZA ZAN ZfG ZI ZMA ZK ZKG ZOV ZSE ZV

Anhang Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration (in der SBZ) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafrechtsänderungsgesetz Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Stasi-Unterlagen-Gesetz Strafvollzugsanstalt Strafvollzugseinrichtung Sowjetunion Sportvereinigung der Polizei und der Sicherheitskräfte Sicherungsvorgang des MfS Staatliche Zentralverwaltung für Statistik Allrussische Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution, Sabotage und Spekulantentum Umwelt-Bibliothek Untersuchungshaftanstalt Organisation der Vereinten Nationen Ungarische Volksrepublik VAO VAO Vorlaufakte Operativ des MfS: Vorstufe der Bearbeitung von Personen in einem OV; bis 1976 gültige Bezeichnung Volkseigener Betrieb Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Volkspolizei Volkspolizeigesetz Vereinigung der Opfer des Stalinismus Vertrauliche Verschlusssache Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei des MfS Westberlin Zentralarchiv Zwischenarchiv Normannenstraße Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zelleninformator des MfS Zentrale Materialablage: Infospeicher in den AKG, die Angaben zu Personen und Objekten enthielt Zentralkomitee der SED Zentrale Koordinierungsgruppe des MfS Zentraler Operativer Vorgang des MfS Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie Zeugenvernehmung

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Dietmar Riemann Laufzettel Tagebuch einer Ausreise Der erfolgreiche Ost-Berliner Fotograf Dietmar Riemann und seine Familie hatten es in der DDR zu überdurchschnittlichem Wohlstand gebracht. Dennoch konnte es für ihn kein Bleiben im Land geben. Dem Ausreiseantrag folgte eine jahrelange Wartezeit, die Dietmar Riemann in diesem Tagebuch authentisch und eindrücklich dokumentiert hat: den Alltag zwischen den realen Kontrollen des MfS und der stets gegenwärtigen Angst davor, die Konflikte mit den staatlichen Organen, die Ungewissheit über die eigene Zukunft. Das Tagebuch ist ergänzt um eine ausführliche Einleitung und enthält neben zahlreichen Dokumenten aus dem Schriftwechsel mit der Staatssicherheit eine Vielzahl von Riemanns Fotos, die auf ganz besondere Weise den Alltag in der DDR der späten achtziger Jahre zeigen.

Henry Leide NS-Verbrecher und Staatssicherheit Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR Bis heute gilt die konsequente Verfolgung von NS-Tätern als »gute Seite« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Doch hinter der Fassade des antifaschistischen Musterstaats wurde ein sorgsam verhülltes, doppeltes Spiel gespielt: SED und Staatssicherheit prangerten die Bundesrepublik an und lieferten Fälle für Vorzeigeprozesse, aber zugleich stellten sie Ermittlungen gegen NS-Täter hintan, wenn sie dem Image der DDR zuwiderliefen. Henry Leide analysiert systematisch die Formen dieser Politik: Anwerbungen von früh amnestierten oder nie verurteilten NS-Verbrechern als Informanten und Agenten in Ost und West, mangelhafte Ermittlungen gegen Hunderte belastete DDR-Bürger, vereitelte Strafverfahren gegen angesehene DDR-Ärzte und verweigerte Rechtshilfe für die ausländische Justiz bei gleichzeitiger Monopolisierung vieler Akten durch die Geheimpolizei. In dieser Praxis entpuppt sich der DDR-Antifaschismus als instrumentelles Kampfprogramm in der deutschdeutschen Systemkonkurrenz.

Roger Engelmann / Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.) Volkserhebung gegen den SED-Staat Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953 Der Aufstand vom 17. Juni 1953 ist eines der Schlüsselereignisse in der deutsch-deutschen Geschichte. Die Beiträge dieses Bandes berichten über den Verlauf des Aufstands und stellen die Bezüge zum kommunistischen Machtbereich her. Die Vorgänge im Repressionsapparat, die Gefangenenbefreiungen am 17. Juni, die Entwicklung der Strafpraxis sowie der Ausbau des repressiven Instrumentariums nach der Erhebung bilden einen weiteren Schwerpunkt des Bandes. Abschließende Beiträge betrachten das »doppelte« Juni-Trauma der Machthaber und der Opposition, die intellektuelle Bewältigung des Geschehens, die Stellung des 17. Juni im nationalen Gedächtnis der alten Bundesrepublik und das Verhältnis von Juni-Aufstand und friedlicher Revolution 1989. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Gerhard Besier / Gerhard Lindemann Im Namen der Freiheit Die amerikanische Mission Der Freiheitsbegriff hat Konjunktur. Politiker jeder Couleur berufen sich auf die Freiheit, wenn sie Veränderungen in der bundesdeutschen Gesellschaft anmahnen. Die Freiheitstradition in Deutschland ist jedoch eher schwach ausgeprägt – im Unterschied zu jenem Land, dem die alte Bundesrepublik ihr Entstehen und ihre Prosperität verdankte: den Vereinigten Staaten von Amerika. In der angloamerikanischen Welt wurden alle Variationen und Konstellationen von Freiheit durchdacht und praktisch erprobt. Die aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Staat und Markt wie die nach dem Verhältnis von Religion und Rationalität in einem demokratischen Verfassungsstaat wurde in den USA von Epoche zu Epoche unterschiedlich beantwortet. Was sind die Voraussetzungen von Freiheit, wodurch wird sie bedroht? Welcher Impulse bedarf eine Gesellschaft, um Freiheit zu erreichen und immer wieder neu abzusichern? Die Autoren gehen den angloamerikanischen Freiheitsvorstellungen von den Anfängen bis in die jüngste Gegenwart nach und beschreiben die Ambivalenzen des amerikanischen Freiheitsmythos.

Philipp Heldmann Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre »Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks« ist eine herrschaftssoziologische Analyse der DDR in der entscheidenden Phase zwischen dem Mauerbau und dem Sturz Walter Ulbrichts. Am Beispiel der Konsumpolitik geht es um das Verhältnis des Regimes zur Bevölkerung und um die interne Dynamik des Regimes. In drei thematischen Kapiteln befasst sich der Autor mit der Perspektivplanung, der Jahresplanung des Konsums und mit der Preispolitik der DDR-Regierung. Sein Befund: das Regime agierte konzeptionslos, der Herrschaftsapparat und die Wirtschaft waren mit den vorhandenen Instrumenten nur unzulänglich zu steuern. Man war deshalb darauf angewiesen, eine Reihe wichtiger Fragen intern und auch extern, also mit der Bevölkerung, auszuhandeln.

Karsten Timmer Vom Aufbruch zum Umbruch Die Bürgerbewegung in der DDR 1989 In atemberaubendem Tempo ging die DDR im Herbst 1989 unter. Die treibende Kraft war eine Protestbewegung von ungeahnten Ausmaßen. Karsten Timmer untersucht erstmals die Bürgerbewegung der gesamten DDR. Einfühlsam, gleichsam erzählerisch entführt er den Leser in die spannende Geschichte des revolutionären Herbstes 1989. Die soziale Bewegung in der DDR war ein eigenständiger Akteur, der eingebunden war in politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Unter welchen Voraussetzungen entstand die Bürgerbewegung im September 1989? Was prägte und strukturierte die Protestwelle? Wie gelang es, die Massen zu mobilisieren? Wer waren die Träger der Bürgerbewegung? Im Dezember 1989 verlor die Bewegung ihre Dynamik, als mit der Gründung des »Runden Tisches« die Institutionalisierung der Proteste begann. Dieses Buch ist ein Meilenstein in der Forschung zum Umbruch in der DDR. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 29: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.) Gefährdungen der Freiheit Extremistische Ideologien im Vergleich 2006. 592 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36905-0 Die Autoren des Bandes setzen sich mit dem Niederschlag politischer Ideologien in den Diskursen, Visionen, Programmen und propagandistischen Bemühungen extremistischer Organisationen auseinander. Die Beiträger erfassen differenziert die charakteristischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der rechten und linken Extremismen, nutzen aber auch den politisch-religiösen Fundamentalismus als Vergleichsobjekt. Trotz einer Pluralität der Sichtweisen ist allen Autoren eine Definition von Extremismus gemeinsam, die sich aus der Negation von Demokratie herleitet. So geraten auch »weiche« Formen von Extremismus in den Blick, die mit dem »harten« Extremismus Gemeinsamkeiten aufweisen, ohne alle seine Merkmale zu erfüllen.

Mit Beiträgen von Kai Arzheimer, Uwe Backes, Harald Bergsdorf, Florian Hartleb, Eckhard Jesse, Steffen Kailitz, Jürgen P. Lang, Miroslav Mareš, Patrick Moreau, Cas Mudde, Herbert L. Müller, Viola Neu, Armin Pfahl-Traughber, Monika Prützel-Thomas, Eva Steinborn, Tom Thieme, Andreas Umland, Johannes Urban.

Band 28: Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hg.) Politische Religion und Religionspolitik Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit 2005. 415 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36904-2 Der Freiheitsbegriff hat Konjunktur. Politiker jeder Couleur berufen sich auf die Freiheit, wenn sie Veränderungen in der bundesdeutschen Gesellschaft anmahnen. Die Freiheitstradition in Deutschland ist jedoch eher schwach ausgeprägt – im Unterschied zu jenem Land, dem die alte Bundesrepublik ihr Entstehen und ihre Prosperität verdankte: den Vereinigten Staaten von Amerika. In der angloamerikanischen Welt wurden alle Variationen und Konstellationen von Freiheit durchdacht und praktisch erprobt. Die aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Staat und Markt wie die nach dem Verhältnis von Religion und Rationalität in einem demokratischen Verfassungsstaat wurde in den USA von Epoche zu Epoche unterschiedlich beantwortet. Was sind die Voraussetzungen von Freiheit, wodurch wird sie bedroht? Welcher Impulse bedarf eine Gesellschaft, um Freiheit zu erreichen und immer wieder neu abzusichern? Besier und Lindemann gehen den angloamerikanischen Freiheitsvorstellungen von den Anfängen bis in die jüngste Gegenwart nach und beschreiben die Ambivalenzen des amerikanischen Freiheitsmythos.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 27: Frank Hirschinger »Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter« Kommunistische Parteisäuberungen in SachsenAnhalt 1918–1953 2005. 412 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36903-4 Hirschingers Studie untersucht anhand zahlreicher, vielfach erstmals veröffentlichter Dokumente das Vorgehen der Säuberungs- und Sicherheitsorgane in Partei und Staat in Sachsen-Anhalt vor und nach 1945.

Band 26: Stefan Paul Werum Gewerkschaftlicher Niedergang im sozialistischen Aufbau Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) 1945 bis 1953 2005. 861 Seiten mit 63 Tab., gebunden ISBN 3-525-36902-6 Das Buch beschreibt den Wandel der Gewerkschaften in der SBZ/DDR zum Herrschaftsinstrument der SED und analysiert die Reaktionen der Beschäftigten auf diesen Wandel. »... schließt die vorgestellte Untersuchung eine wichtige Forschungslücke zur Frühgeschichte des FDGB und bietet zahlreiche neue Informationen zur programmatischen und organisatorischen Entwicklung des Gewerkschaftsbundes.« sehepunkte

Band 25: Thomas Widera Dresden 1945–1948 Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft 2004. 469 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36901-8 So detailliert wie noch nie: Dresdens Weg in die kommunistische Diktatur 1945–1948. »Widera gelingt es mit seiner eindrucksvollen Arbeit, das jahrzentelang von der SED propagierte Trugbild von der ›antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der SBZ‹ für sein Untersuchungsgebiet detailreich zu widerlegen.« Zeitschrift des Forschungsverbundes

Band 24: Michael Richter Die Bildung des Freistaates Sachsen Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90 2004. 1184 Seiten mit 16 Abb., 8 Karten und einem Dokumententeil auf CD, gebunden ISBN 3-525-36900-X Die Studie untersucht die Entstehung des Freistaates Sachsen im Zuge der deutschen Einheit 1989/90. »Wahrlich eine Pionierarbeit für die Erforschung des innerdeutschen Vereinigungsprozesses.« Das Parlament

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369074 — ISBN E-Book: 9783647369075