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German Pages 320 Year 2001
Lateinamerika-Studien Band 44
Lateinamerika-Studien Herausgegeben von Walther L. Bernecker Titus Heydenreich Gustav Siebenmann
Hanns-Albert Steger Franz Tichy Hermann Kellenbenz H"
Schriftleitung: Titus Heydenreich Band 44
Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten in Lateinamerika Historische Erfahrungen und aktuelle Tendenzen
Thomas Fischer (Hrsg.)
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 2001
Anschrift der Schriftleitung: Universität Erlangen-Nürnberg Zentralinstitut für Regionalforschung Sektion Lateinamerika Kochstraße 4 D-91054 Erlangen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten in Lateinamerika: historische Erfahrungen und aktuelle Tendenzen / Thomas Fischer (Hrsg.). Frankfurt am Main: Vervuert, 2001 (Lateinamerika-Studien; Bd. 44) ISBN 3-89354-744-4 © b y the Editors 2001 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany: Difo-Druck, Bamberg
Inhalt Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten in Lateinamerika: Ansätze zur Interpretation historischer Erfahrungen und aktueller Tendenzen Thomas Fischer
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Teil I: Von der Unabhängigkeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Las élites nacionales, el estado y la empresa extranjera en Centroamérica (siglo XIX) Ralph Lee Woodward Jr
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Einheimische Eliten und deutsche Kaufleute in Lateinamerika (1815-1870) Jürgen Müller
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Die deutschen Handelsaktivitäten in Maracaibo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Heike Härtel
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Kein El Dorado - ausländische Investoren und lokale Eliten in Kolumbien 1850-1910 Thomas Fischer
93
Teil II: Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu den 1970er Jahren La oligarquía cafetalera y las élites políticas en Guatemala de 1920 a 1944 Peter Fleer
119
Élites, empresas extranjeras y modernización oligárquica del Estado: El Salvador, 1920-1945 Jan Suter
129
Panamas Wirtschaft und der US-amerikanische Kanal in der Zwischenkriegszeit Holger M. Meding
151
Estado, élites e inversion extranjera en Colombia durante la primera mitad del siglo XX Eduardo Sâenz Rovner
177
Die chilenische Salpeterwirtschaft zwischen ausländischem Kapital, wirtschaftlichen Eliten und Staat, 1880-1930 Stefan Rinke
199
Teil III: Von den 1980er Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Indirekte Macht. Zum Einfluß der USA auf den wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel in Mexiko 1982-1992 Stefan A. Schirm
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Interkulturelles Management und Unternehmensethik am Beispiel Kolumbiens Jochen Plötz
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Elites, Estado e Empresas Transnacionais no Brasil Reinaldo Gonçalves
269
Ausländische Banken im MERCOSUR Michael Roschmann
289
Periodo Especial und ausländische Investitionen in Kuba Marcus Meyer
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Die Autoren
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THOMAS FISCHER
Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten in Lateinamerika: Ansätze zur Interpretation historischer Erfahrungen und aktueller Tendenzen In Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Öffnung Lateinamerikas,1 die in den 1980er Jahren begonnen hat, und der damit einhergehenden sprunghaften Zunahme des Außenhandels sowie der ausländischen Investitionstätigkeit ist das Interesse an der wissenschaftlichen Beschäftigung mit internationalen Wirtschaftsakteuren in dieser Weltregion merklich gestiegen. Dabei wird manchmal übersehen, daß ausländische Unternehmen in Lateinamerika eine lange, bis in die Unabhängigkeitsphase zurückreichende Tradition haben. Der vorliegende Sammelband - es handelt sich um die überarbeiteten Beiträge einer Tagung lateinamerikanischer, US-amerikanischer und deutscher Wissenschaftler, die 1997 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nümberg stattfand - stellt Ergebnisse und Ansätze der jüngeren Forschung über ausländische Firmen in Lateinamerika vor. Den Schwerpunkt bildet dabei die historische Forschung; aber auch aktuelle Tendenzen werden aufgezeigt. Als verbindendes Element liegt allen Beiträgen eine Zusammenschau des Handelns einheimischer Eliten (sowie der von ihnen errichteten staatlichen Institutionen) und ausländischer Unternehmen zugrunde. Darüber hinaus wird gefragt, welchen Einfluß die ausländische Präsenz auf lokale und nationale Entwicklungen hatte. Anders als die angloamerikanische New Economic History, die die statistisch quantifizierenden Verfahrensweisen zum methodischen Imperativ gemacht hat, wird in den meisten Beiträgen die Beweisführung durch Auswertung von qualitativen Quellen bevorzugt. Ein Grund dafür ist die mangelnde Vollkommenheit des vorhandenen Datenmaterials. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sind Zahlenreihen oft nicht rekonstruierbar, so daß Interpretationen nach den Modellen der theoretischen Nationalökonomie illusorisch sind. Im Unterschied zur quantitativ ausgerichteten Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte sind die Autoren dieses Sammelbandes der Meinung, daß auch über Vgl. hierzu die Überblicke bei William C. Smith u. a. (Hisg.): Democracy, Markets, and Structural Reform in Latin America. Argentina, Bolivia, Brazil, Chile, and Mexico. Miami 1996; Joseph Ramos: Un balance de las reformas estructurales neoliberales en América Latina. In: Revista de la CEPAL, Nr. 62, 1997, S. 15-38; Peter Nunnenkamp: Lateinamerika nach der „verlorenen Dekade": Eine Zwischenbilanz der Reformen. [= Kieler Diskussionsbeiträge Nr. 324], Kiel 1998.
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Thomas Fischer die Analyse qualitativer Quellen signifikante Forschungsergebnisse gewonnen werden können.2 Was die Theorie betrifft, nehmen alle Aufsätze implizit oder explizit - je nachdem, ob die Perspektive Lateinamerikas oder diejenige der „Zentren" gewählt wird - auf die Debatten über „Dependenz" (respektive „Freihandelsimperialismus") bezug. Bevor auf neue Forschungsperspektiven und -ansätze eingegangen wird, seien deshalb die Kernaussagen des dependenciaAnsatzes dargestellt. Hierbei wird die Periodisierung der Vertreter dieser Richtung übernommen. Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten aus der Sicht der dependencia-Theorie Eine erste Phase begann nach der Erlangung der Unabhängigkeit, in der die Prinzipien des Freihandels und des Besitzindividualismus durchgesetzt wurden. Ausländische Geschäftsleute, vor allem Briten, Franzosen und Deutsche, beteiligten sich gemeinsam mit „progessiven" liberalen Eliten an dieser Umstellung. Sie konzentrierten sich nicht nur auf den Import-/Exporthandel sowie die Vergabe von Krediten, sondern sie investierten auch in zunehmendem Maße in den Bergbausektor, in Landwirtschaftsbetriebe, in die Transportinfrastruktur, in die Energieversorgung von städtischen Agglomerationen, in Hotels, in das Bankensystem und in die Industrie. Daß ihre Unternehmungen relativ erfolgreich waren, so lautet eine oft herangezogene Erklärung von Ronald Robinson und John Gallagher, war eine Folge hervorragender Beziehungen zu einheimischen Eliten, die gewissermaßen das missing link zum Binnenmarkt darstellten.3 Robinson und Gallagher zufolge konnten die „informellen Imperien" (Großbritannien, Frankreich, später auch das Deutsche Reich und die USA) im 19. Jahrhundert nur dank der „Kollaboration" einheimischer Kräfte mit ausländischen Gesellschaften expandieren. Eine zweite Phase begann im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, als Teile der lateinamerikanischen Eliten die ausländische Einflußnahme zunehmend als störende Belastung wahrnahmen und forderten, die Entwicklungsrichtung selbst zu bestimmen. Die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, welche die Verwundbarkeit durch die struktuVgl. die Argumentation von Fritz Redlich: „Neue" und traditionelle Methoden der Wirtschaftsgeschichte. In: Hans Ulrich Wehler (Hrsg.): Geschichte und Ökonomie. Köln 2 1985, S. 241-254. Vgl. ähnlich Carlo Cipolla: Between History and Economics. An Introduction to Economic History. Oxford 1991, S. 38-48. Ronald Robinson/John Gallagher: The Imperialism of Free Trade. In: Economic History Review, second series, Bd. 6, H. 1, 1953, S. 384-398.
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Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten relle Abhängigkeit deutlich machten, förderten das Umdenken der wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger. Nun wurde eine gelenkte, binnenmarktorientierte Industrialisierung angestrebt.4 Anhänger der Dependenztheorie sowie Befürworter von Umverteilungsmaßnahmen rechtfertigten nachträglich die interventionistische Politik. Sie begründeten die Herauslösung aus dem Weltmarkt damit, daß ein kausaler Zusammenhang zwischen Außenabhängigkeit (Handel, Kapital, Technologie, Humankapital) und wirtschaftlicher Rückständigkeit bestehe.5 Die importsubstituierende Industrialisierung - zuerst zur Förderung der Leichtindustrie, später auch technologieund wertschöpfungsintensiver Branchen - war bis zur Mitte der 1960er Jahre die leitende Maxime der Wirtschafts-, Finanz- und Außenpolitik lateinamerikanischer Staaten. Der Exportsektor wurde weiterhin begünstigt; allerdings beschränkten die Regierungen der meisten Länder ihre Förderungsmaßnahmen auf einige Kernbereiche, in denen sie annehmen durften, wettbewerbsfähig zu bleiben. Gleichzeitig nahm der staatliche Anteil an der wirtschaftlichen Aktivität zu, was teils auf die Nationalisierung von (hauptsächlich ausländischen) Firmen,6 teils auf Neuinvestitionen zurückzufuhren war. Ausländische Unternehmen blieben aber gleichwohl in Lateinamerika präsent. Die meisten Regierungen verstärkten - komplementär zur staatlich geförderten einheimischen Industrie - die Anreize für multinationale Konzerne in Schlüsselbereichen. Begünstigt durch hohe Zollmauern, welche die Importe aus dem Ausland erschwerten, nutzten die auf den Binnenmarkt ausgerichteten multinationalen Unternehmen ihre technologischen und finanziellen Vorteile.7 Die zentrale Bedeutung ausländischer Konzerne für den modernen Industriesektor sowie der ihnen von den Eliten zugestandene EntfaltungsspielVgl. hierzu Rosemary Thorp (Hrsg.): Latin America in the 1930s. The Role of the Periphery in World Crisis. Oxford 1984; dies.: A Reappraisal of the Origins of Import-Substituting Industrialisation. In: Journal of Latin American Studies, Bd. 24, 1992, Quincentenary Supplement, S. 181-195; Richard Lynn Ground: La génesis de la sustitución de importaciones en América Latina. In: Revista de la CEPAL, Nr. 36, 1988, S. 181-207. Vgl. den Überblick von Walther L. Bernecker/Thomas Fischer: Rise and Decline of Latin American Dependency Theories. In: Itinerario, Bd. 22, H. 4, 1998 [1999], S. 25-43. Zur Politik der Verstaatlichung ausländischer Unternehmen vgl. den Überblick von Leopoldo González Aguayo: La nacionalización de bienes extranjeros en América Latina. 2 Bde. México 1969. Der zweite Band enthält umfangreiche Dokumente der Maßnahmen, die in einzelnen Ländern ergriffen wurden. Lincoln Gordon/Engelbert L. Grommers: United States Maufacturing Investment in Brazil. The Impact of Brazilian Government Policies 1946-1960. Boston 1962; Horst Dieter Heydenreich: Probleme ausländischer privater Direktinvestitionen in Lateinamerika. Göttingen 1974.
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Thomas Fischer
räum wurden von Vertretern des dependencia-Ansa.tz.es negativ beurteilt. Osvaldo Sunkel, der prominenteste Vertreter dieser Richtung, warnte vor der zunehmenden Macht multinationaler Unternehmen, welche die Lenkung der wirtschaftlichen Entwicklung durch den Staat behinderten. Sunkels Kritik richtete sich vor allem gegen die Tendenz, die Forschung und die Entscheidungen im Mutterland zu zentralisieren und Gewinne dorthin zurückzutransferieren. Er kritisierte, daß ausländische Firmen ganze Branchen monopolisierten und dank der beherrschenden Stellung auf den Binnenmärkten die Preisgestaltung manipulierten.8 Zwischen einigen Regierungen, die vorgaben, durch protektionistische Maßnahmen und Auflagen hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen die Interessen der Bevölkerung zu schützen und internationalen Konzernen, die auf größtmögliche Handlungsfreiheit pochten, häuften sich Spannungen.9 Mexiko, Chile und Venezuela gingen dazu über, ausländische Direktinvestitionen sogar im traditionellen Bergbau und in der verarbeitenden Industrie verstärkt zu regulieren.10 Eine dritte Phase, die sich durch die Rückkehr zum marktwirtschaftlichen Entwicklungsmodell kennzeichnet, begann in den 1980er Jahren.11 Die neoliberale Wende wurde durch die Angleichung des Denkens von lateinamerikanischen Entscheidungsträgern an die Maximen der Führungsgruppen in den USA („Washington Consensus") erleichtert. Allerdings erfolgte dieser Gesinnungswandel nicht aus freien Stücken. Vor allem die anhaltenden Leis-
Osvaldo Sunkel: Transnationale kapitalistische Integration und nationale Desintegration: Der Fall Lateinamerika. In: Dieter Senghaas (Hrsg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion. Frankfurt a. M. 1972, S. 258-315. Vgl. den Sammelband mit ähnlichen Prämissen von Karl-Heinz Stanzick/ Horacio H. Godoy (Hrsg.): Inversiones extranjeras y transferencia de tecnología en América Latina. Santiago de Chile 1972. Dies ergab eine Umfrage bei deutschen und schweizerischen Investoren in Mexiko und Brasilien. In Kolumbien wurde das Kontrollinstrumentarium offenbar flexibel gehandhabt, um auf konjunkturelle Entwicklungen reagieren zu können. Vgl. JeanMax Baumer/Albrecht von Gleich (unter Mitarbeit von Renate Heierli und Karsten Jaspersen): Transnational Corporations in Latin America. Diessenhofen 1982. Carlos F. Diaz-Alejandro: Direct Foreign Investment in Latin America. In: Charles P. Kindleberger (Hrsg.): The International Corporation. Cambridge (Mass.) 1970, S. 319-344. In Chile hatte dieser Prozeß bereits Mitte der 1970er Jahre begonnen. Eine Übersicht über die Anpassungs- und Umstrukturierungsetappen in diesem Land geben Juan Gabriel Valdés: Pinochets Economists: The Chicago School in Chile. Cambridge 1995; Luis A. Riverso: Chile's Structural Adjustment: Relevant Policy Lessons for Latin America. In: Albeit Berry (Hrsg.): Critical Perspectives on Latin America's Economy and Poverty. Economic Reform and Income Distribution in Latin America. Boulder/London 1998, S. 111-135.
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Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten tungsdefizite der Landesindustrien - die Produktivitätsentwicklung konnte im internationalen Vergleich nicht mithalten - machten ein neues Design der Entwicklungskonzeptionen unumgänglich. Das Ende des Kalten Krieges und Druckmaßnahmen der internationalen Gläubigerorganisationen trugen das ihrige dazu bei, daß der Handlungsspielraum für „dritte Wege" klein wurde. Lateinamerikanische Regierungen ergriffen sukzessive Stabilisierungsmaßnahmen und begannen mit Strukturreformen. Zentral waren dabei die vermehrte Förderung des Außenhandels und die Stimulierung der privaten Initiative durch den Abbau des Interventionismus sowie den Rückzug defizitärer staatlicher Institutionen aus dem Unternehmensbereich.12 Dies machte eine Neuausrichtung der an korporatistische Integration gewöhnten Unternehmer erforderlich.13 Diese Politik, die auf die Schaffung „guter" Rahmenbedingungen für private wirtschaftliche Akteure zielte, betrachtete multinationale Firmen als Partner. Dank internationaler Ausrichtung und Verbindungen zu privaten Bankinstituten besaßen viele ansässige ausländische Unternehmen die Chance, um unter den veränderten Bedingungen zu reüssieren. Je nach strukturellen, makroökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen kam es vereinzelt auch zum Rückzug transnationaler Unternehmen und damit zu Deindustrialisierung.14 Ein typisches Beispiel hierfür ist die Textilbranche. Andererseits wurden auch neue ausländische Investoren gewonnen, was unter anderem in den Bereichen exportorientierter Rohstoffabbau, regional ausgerichtete Automobilindustrie und binnenmarktorientierter Absatz von Konsumgütern der Fall war. Der Zustrom an internationalem Kapital konzentrierte sich überwiegend auf die beiden großen Wirtschaftsbündisse NAFTA (Mexiko, USA, Kanada) und MERCOSUR (Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay).15 Darüber hinaus traten ausländische Investoren in allen lateinamerikanischen Ländern im Rahmen umfangreicher Programme zur Privatisierung
Vgl. Fußnote 1. Renato R. Boschi: Entrepreneurs et Société en Amérique Latine. In: Cahiers des Amériques Latines, Nr. 21,1997, S. 81-96. Deindustrialisierung aufgrund des Rückzugs von ausländischen Firmen war beispielsweise in Chile und Argentinien zu beobachten. Ricardo A. Bielschowsky/ Giovanni Stumpo: Empresas transancionales y cambios estructurales en la industria de Argentina, Brasil, Chile y México. In: Revista de la CEPAL, Nr. 55, 1995, S. 139164. Paulo Giordano/Javier Santiso: La course aux Amériques: Les stratégies des investisseurs européens dans le Mercosur. In: Problèmes d'Amérique latine, Nr. 39, 2000, S. 55-87.
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Thomas Fischer der Transportinfrastruktur, des Kommunikationssektors und der Banken in Erscheinung.16 In Ermangelung umsetzbarer Alternativen ist wissenschaftliche Grundsatzkritik an der ausländischen Präsenz in Lateinamerika unter den neuen Bedingungen eher selten.17 Ein immer wieder geäußerter Vorwurf besteht jedoch darin, daß das neoliberale Entwicklungsmodell keine Lösung für die Arbeitsknappheit, die gravierende soziale Ungleichheit und die Beseitigung der Armut darstellt, ja diese noch verstärkt.18 Für diese Entwicklung werden allerdings vorwiegend die einheimischen Eliten verantwortlich gemacht, die es versäumten, gesellschaftliche Reformen vorzunehmen. Hinsichtlich der Privatisierungsprogramme werden häufige Korruption bei der Vergabe von Aufträgen, zu geringe Erlöse sowie die Schaffung neuer, privater Monopole bemängelt. Die Entwicklungsimpulse ausländischer Unternehmen hinsichtlich des Transfers von Technologie und Forschung werden als eher gering betrachtet.19 Die Kritik an der dependencia-Perspektive Die Thesen über die letztlich entwicklungshemmende Rolle der ausländischen Firmen in Lateinamerika sind durch die empirische Forschung stark relativiert worden. Drei Kritikpunkte gilt es hervorzuheben: Erstens wurde nachgewiesen, daß ein beträchtlicher Teil der von Einwanderern aus Industriestaaten gegründeten Unternehmen - insbesondere deutsche, aber auch französische nicht ausschließlich als Vorposten der Herkunftsländer (und ihrer Volkswirtschaften) agierte. Der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit vieler Immigranten-Unternehmen lag vielmehr auf dem Binnenmarkt, und Gewinne wurden Ravi Ramamurti: Privatizing Monopolies. Lessons from the Telecommunications and Transport Sectors in Latin America. Baltimore/London 1996; Melissa H. Birch/Jerry Haar (Hrsg.): The Impact of Privatization in the Americas. Miami 2000. Vgl. hierzu etwa die Themennummer der Zeitschrift Economia hoy, Nr. 255, März 1997, mit dem Titel ,31 neoliberalismo hoy: debate y realidades". Das Heft enthält Beiträge von Enrique Dussel, Ricardo J. Gómez, Franz J. Hinkelammert, Enrique Astorga Lira, Gustavo A. Vicencio, José Guadalupe Gandarilla Saigado und Ifigenia Martinez. Berry (Hrsg.), Critical Perspectives. Eva Paus: Direct Foreign Investment and Economic Development in Latin America: Perspectives for the Future. In: Journal of Latin American Studies, Bd. 21, H. 1, 1989, S. 221-239; IRELA (Hrsg.): Foreign Direct Investment in Developing Countries: The Case of Latin America. Madrid 1994; Manuel R. Agosin: Foreign Direct Investment in Latin America. Washington D. C. 1995; Alejandro C. VeraVassallo: La inversion extranjera y el desarrollo competitivo en América Latina y el Caribe. In: Revista de la CEPAL, Nr. 60, 1996, S. 129-149; Ramamurti, Privatizing Monopolies; Birch/Haar (Hrsg.), The Impact of Privatization.
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Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten häufig in nationalen Projekten reinvestiert. Darüber hinaus leisteten diese Wirtschaftsakteure wichtige Beiträge zur Finanzierung und zum Technologietransfer im Bereich der Transportinfrastruktur.20 Andererseits wurde auf den Beitrag von Unternehmen lokaler Eliten zu der technologischen Innovation und der Bereitstellung von Kapital aufmerksam gemacht. Vor allem in Kolumbien und Mexiko wurde die von Martin S. Lipset und Aldo Solan aufgestellte Behauptung der angeblich bis in die Kolonialzeit zurückreichenden antiuntemehmerischen Werte zurückgewiesen.21 Im Lichte der historischen Forschung läßt sich somit die lange Zeit als gesichertes Wissen geltende typologische Unterscheidung zwischen dynamischem ausländischem Unternehmertum, das sich einseitig bereicherte, und lokalen Eliten, die sich passiv verhielten und ihre Rentengewinne für den Luxuskonsum ausgaben, nicht aufrechterhalten.22 Zweitens betonte die Kritik, daß gute Kontakte ausländischer Geschäftsleute zu Teilen der „nationalen" oder lokalen Führungsgruppen in Lateinamerika in vielen Fällen keine Gewähr für den Aufbau einer dominanten Position und einseitiger Bereicherung auf Kosten der einheimischen Gesellschaft boten.23 Der Grund dafür war die Zerstrittenheit der Eliten in zentralen Fragen der Ausgestaltung der Nationalstaaten - etwa hinsichtlich der Höhe der Außenzölle, der Rolle der Kirche innerhalb der Gesellschaft sowie der Kompetenzen der Provinzverwaltungen. Auch zeigte sich, daß „nationale" Eliten auf lokaler Ebene oft keinen Einfluß geltend machen konnten, während lokale Eliten wiederum auf nationaler Ebene unterrepräsentiert waren.24 In diesem ZusamZur Forschung über deutsche Unternehmen in Lateinamerika Walther L. Bemecker/ Thomas Fischer: Imperialismo de libre comercio. Revisión de un concepto analítico. Introducción. In: John R. Fisher (Hrsg.): Actas del XI congreso internacional de AHILA. Bd. m. Liverpool 1998, v. a. S. 3-5. Martin S. Lipset/Aldo Solari (Hrsg.): Elites in Latín America. London 1967. Zur Revision in Kolumbien und Mexiko vgl. die Bibliographie in Carlos Dávila/Rory Miller (Hrsg.): Business History in Latin America. The Experience of Seven countries. Liverpool 1999, S. 191-221. Mario Cerutti: Regional Studies and Business History in Mexico since 1975. In: Dávila/ Miller (Hrsg.), Business History in Latin America, S. 125 f. Vgl. hierzu zahlreiche Beispiele in Thomas Fischer: Die verlorenen Dekaden. „Entwicklung nach außen" und ausländische Geschäfte 1870-1914. Frankfurt a. M. 1997. Vgl. auch die Hinweise in Nikolaus Böttcher: Casas de comercio británicas y sus intereses en América Latina, 1760-1860: estado y problemas de la investigación actual. In: Iberoamerikanisches Archiv, Bd. 22, H. 1-2,1996, S. 191-235. Es scheint daher angezeigt, im lateinamerikanischen Kontext von „Eliten" im Plural zu sprechen. Da die Vokabel „Eliten" keiner vorgegebenen Merkmalskombination entspricht, sondern vielmehr je nach Kontext und Forschungsinteresse unterschiedlich verwendet wird, sollte jeweils deutlich gemacht werden, worauf sie sich 13
Thomas Fischer menhang ist auf den in letzter Zeit von der Forschung deutlich herausgearbeiteten langwierigen Prozeß der Verfestigung des nationalen Bewußtseins der Bürger lateinamerikanischer Staaten sowie die geringe Durchsetzungskraft der Institutionen hinzuweisen.25 Insgesamt stellte sich die Kooperation von ausländischen Unternehmen mit lateinamerikanischen Eliten aufgrund der komplizierten Gemengelage oft als außerordentlich schwierig dar. Die von vielen dependentistas angenommene simple Bipolarität von Machtausübung (durch ausländische Unternehmen) und Unterdrückung (lateinamerikanischer Gesellschaften) läßt sich zumeist nicht nachweisen; vielmehr sollten ausländische Akteure in einem multivariablen Beziehungsgeflecht analysiert werden. Ein dritter Einwand betrifft die Behauptung der dependentistas, daß der Geschäftserfolg von britischen, französischen, deutschen und italienischen Unternehmen nicht zuletzt dank der militärisch-diplomatischen Rückendeckung durch die Imperien zustande gekommen sei. Hierzu ist zum einen zu bemerken, daß die Regierungen der Heimatländer keineswegs immer dieselben Ziele in Lateinamerika verfolgten wie die dort niedergelassenen ausländischen Unternehmen. Andererseits konnten sich lange nicht alle eingewanderten Nationalitäten auf den diplomatisch-militärischen Schutz der Großmächte verlassen. Im 19. und 20. Jahrhundert wanderte eine große Zahl Chinesen (vor allem in Peru, Panama und Kuba), Sepharden aus der Karibik (vor allem im nördlichen Südamerika und auf dem Isthmus) und turcos aus dem Nahen Osten (in allen lateinamerikanischen Ländern) ein. Solche ethnischen Gruppen hatten im Konfliktfall keine Möglichkeit, externe Machtressourcen zu mobilisieren, um ihre Interessen durchzusetzen. Trotzdem wandelten sich viele ihrer zu Beginn kleinen Firmen rasch zu blühenden Unternehmen.26 bezieht. Allgemein zum Elitenbegriff als Wissenschaftskategorie Peter Waldmann: Elite/Elitetheorie. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik. Bonn 1991, S. 102-105. Vgl. hierzu den Artikel von Frank Safford: Politics, ideology and society. In: Leslie Bethell (Hrsg.): Spanish America after Independence c. 1820 - c. 1870. Cambridge 1987, S. 48-122. Zu den Widersprüchen zwischen Bekenntnissen von Teilen der Eliten zum Konstitutionalismus und der in der Alltagspraxis häufigen Nichtbeachtung der liberalen Nonnen vgl. den Sammelband von Eduardo Zimmermann (Hrsg.): Judicial Institutions in Nineteenth-Century Latin America. London 1999. Zur Rolle intermediärer Akteure als Hindernis für die wirkungsvolle Implementierung offizieller Normen siehe den Sammelband von Hans-Joachim König/ Marianne Wiesebron (Hrsg.): Nation Building in Nineteenth Century Latin America. Dilemmas and Conflicts. Leiden 1998. Ignacio Klich: Introduction: „Turco" immigrants in Latin America. In: The Americas, Bd. 53, H. 1, 1996, S. 7 f.; José Carlos Durand: Imigra^äo, comércio ambulante e pequena burguesia tèxtil em Säo Paulo: 1880-1950. In: Henrique Rattner
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Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten Diese Erfolgsgeschichten sind auf die verwandtschaftlichen und ethnischen Beziehungsnetze, die Fähigkeit zur Integration in lokale Eliten und den Arbeitsfleiß zurückzuführen. Ausländische Unternehmen und einheimische Eliten aus der Sicht institutionalistischer und kulturalistischer Ansätze Vor dem Hintergrund des selbst verursachten Scheiterns „dritter Wege" und der unaufhaltsamen Globalisierung seit den 1980er Jahren wurden ausländische Unternehmen in Lateinamerika vollends rehabilitiert. Hans-Christoph Froehling und Andreas Martin Rauch betonen daher, daß weltweit Regierungen keine andere Wahl mehr haben, als für attraktive Standortbedingungen zu sorgen. Je mehr der „Wettbewerbsvorteil einer Nation [...] durch den Wettbewerbsvorteil einer Firma in einem Industriesegment" ersetzt wird, desto mehr wird die Präsenz multinationaler Unternehmen zur Existenzfrage.27 Geradezu paradigmatisch reflektieren diesen Zusammenhang der von John Coatsworth und Alan M. Taylor herausgegebene Sammelband „Latin America and the World Economy since 1800" und die von Stephen Haber veröffentlichte Aufsatzsammlung „How Latin America Fell Behind. Essays on the Economic Histories of Brazil and Mexico, 1800-1914".28 In den untersuchten Beispielen finden Außenbeziehungen nur als Variable Berücksichtigung, wenn sie für die Erzielung von wirtschaftlichem Wachstum als unabdingbar erachtet werden. Abhängigkeit und einseitige Machtausübung in einem strukturell bedingten, asymmetrischen Verhältnis zwischen „Zentren" und „Peripherien" sind kein Thema mehr. Die neoklassische Perspektive konzentriert sich vielmehr auf die Frage, mit welchen Strategien sich Länder und
(Hrsg.): Inovafäo tecnológica e acumula