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German Pages 412 Year 2021
Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa David von Mayenburg (Gesamtherausgeber) Nadine Grotkamp · Anna Seelentag Herausgeberinnen
Band 1
Konfliktlösung in der Antike
Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa Band 1 Reihe herausgegeben von David von Mayenburg Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland
Das vierbändige „Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa“ be schäftigt sich mit rechtlichen und außerrechtlichen Wegen der Entscheidung von Konflikten zwischen einzelnen Menschen sowie zwischen Personen und ihren Obrigkeiten. Das von Expertinnen und Experten aus vielen europäischen Ländern geschriebene Handbuch soll als zentrales Referenzmedium für die historische Dimension aller Aspekte der Streitentscheidung dienen. Der Aufbau des Werks orientiert sich an den vier Epochen Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und 19./20. Jahrhundert. Nach einer Einführung in die jeweilige Epoche werden die für den Zeitabschnitt kennzeichnenden Akteure, Verfahren und Institutionen vorgestellt sowie Kernfragen und Zentralprobleme der Streitentscheidung in zeittypischen Konfliktfeldern be handelt. Die europäische Perspektive des Handbuchs schlägt sich in Überblicken zu einzelnen Ländern, Regionen und Rechtskulturen nieder. Ausführliche Hinweise auf die weiterführende Literatur runden die Darstellung ab. Weitere Bände in dieser Reihe http://www.springer.com/series/16478
Nadine Grotkamp • Anna Seelentag Hrsg.
Konfliktlösung in der Antike
Hrsg. Nadine Grotkamp Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland
Anna Seelentag Much, Deutschland
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 296109855. Der Druck erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des LOEWE-Schwerpunkts »Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung« des Landes Hessen. Die Übersetzungen entstanden mit Hilfe des Übersetzungsbüro 2000, Oldenburg.
ISSN 2662-6292 ISSN 2662-6306 (electronic) Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa ISBN 978-3-662-56099-0 ISBN 978-3-662-56100-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Foto: Martin Avenarius, Sarkophag im Museo Archeologico di Milano Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Die Idee eines „Handbuchs zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa“ entstand 2014 im Kontext der Arbeit im Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ der Hessischen „LandesOffensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz“ (LOEWE), der von 2012 bis 2015 in Frankfurt am Main angesiedelt war. Wir waren der Meinung, dass unsere Ergebnisse nicht nur als Anstoß für weitere Forschungsleistungen im Bereich der Konfliktlösung publiziert, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit in einem Referenzwerk zur Verfügung gestellt werden sollten. So begann die Arbeit am vorliegenden Handbuch 2014 mit der Konstituierung eines Herausgebergremiums und mit Vorarbeiten an einer Konzeption und Autorenworkshops zu den einzelnen Epochen. Das zunächst auf einen Band angelegte Projekt wuchs schnell über den ursprünglichen Kreis der am LOEWE-Schwerpunkt Beteiligten hinaus. Immer mehr Autorinnen und Autoren unterstützten die Idee und schließlich wurden aus einem die vorliegenden vier Bände. Nach dem Auslaufen der LOEWE-Förderung konnte mit der DFG ein neuer Geldgeber gefunden werden, so dass die Redaktionsarbeit und die zahlreichen Übersetzungen aus den diversen europäischen Sprachen auch weiterhin finanziert werden konnten. Dass nach sechsjährigen Vorbereitungen das vorliegende Handbuch tatsächlich realisiert werden konnte, haben wir dem Enthusiasmus und dem persönlichen Einsatz einer Vielzahl von Unterstützern zu verdanken. Zu nennen ist dabei zunächst die Redaktion, die im Lauf der Zeit immer wieder neu zusammengesetzt werden musste. Wir danken vor allem Andreas Karg, der in der Anfangszeit des Projekts als Koordinator bei wichtigen Weichenstellungen half und seine Kenntnisse im Wissenschaftsmanagement tatkräftig einbrachte. Ebenfalls in den ersten Jahren arbeiteten Tamara Moll, Alena Hahn und Nadine Hübner in der Redaktion mit. Für die alles entscheidende Endredaktion hat Julia-Sophie Graf die Verantwortung als Chefredakteurin übernommen und die Fertigstellung der vier Bände mit großem Einsatz und Elan vorangetrieben. Zu danken haben wir außerdem Karla Schmackert, Gwendolyn Zeuner und Johannes Zhou für ihren Einsatz in der Redaktion. In der Schlussphase erhielten wir freundlicherweise Unterstützung durch den Lehrstuhl von Guido Pfeifer (Goethe-Universität Frankfurt am Main), V
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Vorwort
der seine studentischen Hilfskräfte Sophie Gotthold, Alexander Kohl und Johannes Bieber zur Mitarbeit abstellte. Unterstützung erfuhren wir außerdem vom Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, dessen Co-Direktor Thomas Duve zum Kreis der ersten Initiatoren des Handbuchprojekts zählte, sowie vom Frankfurter Exzellenzcluster „Herausbildung normativer Ordnungen“ in Frankfurt am Main. Zu danken haben wir nicht zuletzt dem Springer-Verlag und namentlich Anke Seyfried, die unser Projekt von Anfang an mit großem Interesse und fachlicher Professionalität begleitet hat. Frankfurt am Main, Deutschland Dezember 2020
David von Mayenburg Peter Collin Wim Decock Nadine Grotkamp Anna Seelentag
Inhaltsübersicht aller Bände
Band 1 – Konfliktlösung in der Antike 1. Konfliktlösung in der Antike – eine Einführung Nadine Grotkamp Grundlagen 2. „Access to Justice“: Die soziale Reichweite gerichtlicher Konfliktregulierung Benjamin Kelly 3. Rache Egon Flaig 4. Selbsthilfe als Konfliktlösung Salvatore Marino 5. Rationalitäten der Konfliktregulierung Recht, Sitte, Religion im klassischen Athen Werner Riess 6. Die Rolle der Rhetorik Stefan Freund 7. Medien für die Konfliktlösung Pierangelo Buongiorno 8. Konfliktlösung als Strukturprinzip des Rechts Martin Avenarius 9. Konfliktlösung und Rechtssicherheit Valerio Marotta 10. Gerichtsorte Roland Färber Akteure 11. Konfliktlösung und Geschlecht Nadine Grotkamp 12. Konfliktlösung durch den Princeps Kaius Tuori
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Inhaltsübersicht aller Bände
13. Fremde vor Gerichten der griechischen Städte Kaja Harter-Uibopuu 14. Fremde vor römischen Gerichten Christian Baldus Institutionen und Verfahren 15. Magie als Mittel der Konfliktlösung Martin Dreher 16. Der Eid in der Konfliktlösung Jan Dirk Harke 17. Mediation und Schiedsverfahren im antiken Griechenland Kaja Harter-Uibopuu 18. Schiedsverfahren und Mediation in Rom Wolfram Buchwitz 19. Griechische Zivilverfahren Gerhard Thür 20. Entstehung von Konfliktlösungsinstitutionen in Rom Ulrich Manthe 21. Römische Zivilverfahren Fabian Klinck 22. Strafverfahren im antiken Griechenland Adriaan Lanni 23. Römische Strafverfahren Federico Procchi 24. Strafen und ihre Alternativen – Griechenland Philipp Scheibelreiter 25. Strafen und ihre Alternativen – Rom Richard Gamauf 26. Die römische Provinzialgerichtsbarkeit Georgy Kantor 27. Ausnutzung von Gerichtsvielfalt durch forum shopping Nadine Grotkamp Konfliktfelder 28. Konfliktlösung in dörflichen Gemeinschaften im archaischen Griechenland Winfried Schmitz 29. Konfliktlösung in Wettkämpfen Christian Mann 30. Das regimen morum der Zensoren – Konfliktlösung im Adel? Nadja El Beheiri 31. Konfliktlösung in den Städten Francesca Lamberti 32. Konfliktlösung im römischen Heer Gabriele Wesch-Klein
Inhaltsübersicht aller Bände
Länder und Regionen 33. Konfliktlösung und Konfliktvermeidung im antiken Israel Eckart Otto 34. Konfliktlösung im alten Ägypten Birgit Jordan 35. Hellenismus Nadine Grotkamp 36. Konfliktlösung im römischen Ägypten Patrick Sänger
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Inhaltsübersicht aller Bände
Band 2 – Konfliktlösung im Mittelalter 1. Einführung – Geschichte der Konfliktlösung im europäischen Mittelalter David von Mayenburg Grundlagen und Grundprobleme 2. Access to justice Steffen Schlinker 3. Konfliktlösung durch Fehde Christine Reinle 4. Konfliktlösung zwischen Oralität und Schriftlichkeit – Mentalität, Verfahren und normative Grundlagen Gerhard Dilcher 5. Rechtsquellen des mittelalterlichen Verfahrens Andreas Deutsch 6. Orte der Konfliktlösung Stefan Geyer Akteure der Konfliktlösung 7. Akteure der Konfliktlösung Franz-Josef Arlinghaus 8. Konfliktlösung durch Frauen Susanne Hähnchen und Ingmar Matzen 9. Konfliktlösung durch Könige Stefan Geyer 10. Konfliktlösung durch Päpste Thomas Wetzstein 11. Konfliktlösung durch Synoden Andreas Thier 12. Konfliktlösung durch Bischöfe Lotte Kéry Konfliktlösung in Verfahren und Institutionen 13. Konfliktlösung durch Ordalien Anika M. Auer 14. Der Eid in der Konfliktlösung Florian Dirks 15. Konfliktlösung durch Schiedsgerichte Florian Dirks 16. Konfliktlösung im Gemeinen Prozess Susanne Lepsius 17. Konfliktlösung und die Ausdifferenzierung des Strafrechts Harald Maihold 18. Die Appellation als Mittel der Konfliktlösung Joaquín Sedano Rueda 19. Die Dispensation als Mittel der Konfliktlösung Mathias Schmoeckel
Inhaltsübersicht aller Bände
Konfliktfelder 20. Konfliktlösung und Feudalismus Dirk Heirbaut 21. Konfliktlösung in ländlichen Gemeinschaften Bernd Kannowski 22. Konfliktlösung in Städten Stephan Dusil 23. Konfliktlösung im Fernhandel Albrecht Cordes und Philipp Höhn 24. Konfliktlösung im Militär Stefan Xenakis 25. Konfliktlösung in Universitäten Frank Rexroth 26. Konfliktlösung im Wettkampf David von Mayenburg 27. Konfliktlösung im Kloster Roman Zehetmayer 28. Konfliktlösung im mittelalterlichen Judentum Christoph Cluse und Martha Keil 29. Konfliktlösung in Gemeinden unter muslimischer Herrschaft mittelalterlichen Europa Christian Müller 30. Konfliktlösung zwischen Muslimen in den Kreuzfahrerstaaten Johannes Pahlitzsch 31. Konfliktlösung und rechtliche Stellung von Muslimen in Byzanz Zachary Chitwood Regionen und Territorien 32. Konfliktbeilegung in Byzanz Alexandru Ş. Anca 33. Konfliktlösung in Stammesrecht und Stammesgericht Caspar Ehlers 34. Konfliktlösungsmöglichkeiten im Deutschen Reich (bis 1496) Anja Amend-Traut und Bernhard Diestelkamp 35. Konfliktlösung in Russland Petr Stefanovich 36. Konfliktlösung in Frankreich Gisela Naegle 37. Konfliktlösung im englischen Common Law Anthony Musson 38. Konfliktlösung in Skandinavien Per Andersen
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Inhaltsübersicht aller Bände
Band 3 – Konfliktlösung in der Frühen Neuzeit 1. Einführung – Geschichte der Konfliktlösung im Europa der „Frühen Neuzeit“ Wim Decock Grundlagen und Grundprobleme 2. Access to Justice Griet Vermeesch 3. Infrajustiz und außergerichtliche Formen der Konfliktregulierung Karl Härter 4. Staatsbildung und Konfliktregulierung Thomas Simon 5. Professionalisierung der Akteure Michael Stolleis † 6. Schriftlichkeit und Öffentlichkeit Matthias Bähr 7. Medien und Medialität Saskia Limbach 8. Rationalitäten und Urteilsbegründung Corjo Jansen und Wim Decock 9. Aufklärung und Justizreform Stéphanie Blot-Maccagnan und Sylvain Soleil 10. Orte und Architektur Cato van Paddenburgh 11. Ikonografie Gernot Kocher Diversität und Konfliktlösung 12. Diversität vor Gericht Manon van der Heijden und Jeannette Kamp 13. Gender und Justiz Martine Charageat 14. Indianer vor Gericht Caroline Cunill 15. Moslemische Prozessparteien in Westeuropa Guillaume Calafat Konfliktlösung in Verfahren und Institutionen 16. Der Eid Antonia Fiori 17. Schiedsgerichte Horst Carl 18. Territorialgerichtsbarkeit Andreas Flurschütz da Cruz 19. Reichskammergericht und Reichshofrat Anette Baumann
Inhaltsübersicht aller Bände
20. Gemeines Prozessrecht Alain Wijffels 21. Strafen und ihre Alternativen Falk Bretschneider Konfliktfelder 22. Adel Siegrid Westphal 23. Handwerker und Zünfte Thorsten Keiser 24. Land David von Mayenburg 25. Stadt Mircea Ogrin 26. Fernkaufleute Albrecht Cordes und Philip Höhn 27. Bergbau Anne-Marie Heil 28. Militär Maren Lorenz 29. Universität Christin Veltjens-Rösch 30. Familie Inken Schmidt-Voges 31. Katholische Kirche Alfonso Alibrandi und Benedetta Albani 32. Evangelische Kirche Ralf Frassek 33. Reformierte Kirche Isabelle Deflers 34. Jüdische Gemeinden Andreas Gotzmann Länderforschungsberichte 35. Heiliges Römisches Reich Peter Oestmann 36. Schweizerische Eidgenossenschaft Theodor Bühler 37. Habsburgermonarchie Martin P. Schennach 38. Polen-Litauen Aleksandra Oniszczuk und Rafał Wojciechowski 39. Russland Marianna Muravyeva
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40. Osmanisches Reich Evgenia Kermeli 41. Italien Francesco Di Chiara 42. Spanien Belinda Rodríguez Arrocha 43. Portugal António Manuel Hespanha 44. Frankreich Boris Bernabé und Xavier Godin 45. Die Niederlande C.H. van Rhee 46. England und Wales Shavana Haythornthwaite 47. Irland David Edwards und David Heffernan 48. Schottland John Finlay 49. Schweden-Finnland Martin Sunnqvist 50. Dänemark-Norwegen Sören Koch
Inhaltsübersicht aller Bände
Inhaltsübersicht aller Bände
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Band 4 – Konfliktlösung im 19. und 20. Jahrhundert 1. Einführung: Europäische Entwicklungslinien gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktlösung im 19. und 20. Jahrhundert Peter Collin Grundlagen und Grundprobleme 2. Access to Justice Pia Letto-Vanamo 3. Medien der Konfliktlösung Heinz Mohnhaupt 4. Rechtssicherheit Heinz Mohnhaupt 5. Gerichtsorte Pierre Friedrich 6. Justiz im Nationalsozialismus Annemone Christians Akteure der Konfliktlösung 7. Frauen vor und im Gericht Marion Röwekamp 8. Berufsrichter Peter Collin, Lena Foljanty und Zeynep Yazici Caglar 9. Laien als Richter Peter Collin Konfliktlösung in Verfahren und Institutionen 10. Der Zivilprozess in Kontinentaleuropa Dirk Heirbaut 11. Der Zivilprozess in England Michael Lobban 12. Der kontinentaleuropäische Strafprozess Martin Heger 13. Die Strafjustiz im angelsächsischen Raum Thomas Krause 14. Internationale Schiedsgerichtsbarkeit Stefan Kroll 15. Internationale Strafgerichtsbarkeit Daniel Segesser 16. Justiz im EU-Raum Alexander Thiele Konfliktfelder 17. Staat-Bürger-Konflikte: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit Thomas Olechowski 18. Individuelle Arbeitskonflikte Ralf Rogowski
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Inhaltsübersicht aller Bände
19. Kollektive Arbeitskonflikte Sabine Rudischhauser 20. Konfliktlösung auf dem Lande Anette Schlimm 21. Konfliktlösung in der Wirtschaft Franz Hederer 22. Konfliktlösung im Militär Patrick Heinemann 23. Konfliktlösung in europäischen Kolonialgebieten Harald Sippel 24. Formelle und informelle Regelung familiärer Konflikte Margareth Lanzinger 25. Konfliktlösung in der katholischen Kirche Matthias Pulte 26. Konfliktlösung in den protestantischen Kirchen Martin Otto 27. Konfliktlösung in den jüdischen Gemeinden Andreas Gotzmann 28. Rechtskulturkonflikte mit dem islamischen Recht Raja Sakrani Länderforschungsberichte 29. Deutschland Werner Schubert 30. Schweiz Goran Seferovic 31. Tschechoslowakei/Tschechien Jaromír Tauchen 32. Österreich Martin P. Schennach 33. Ungarn Katalin Gönczi 34. Polen Danuta Janicka 35. Russland/Sowjetunion Sandra Dahlke 36. Osmanisches Reich/Türkei Zülâl Muslu 37. Rumänien Manuel Gutan 38. Jugoslawien Zoran Mirković und Zoran Pokrovac 39. Griechenland Dimitrios Tsikrikas
Inhaltsübersicht aller Bände
40. Italien Bernardo Sordi 41. Spanien Fernando Martínez-Pérez 42. Portugal Miguel Lopes Romão 43. Frankreich Antoine Pelicand 44. Belgien Bruno Debaenst 45. Niederlande Janwillem Oosterhuis 46. Großbritannien und Irland Thomas Krause 47. Irland Donal K. Coffey 48. Skandinavische Länder Robert Kessel
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 Konfliktlösung in der Antike – Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . 1 Nadine Grotkamp Teil I Grundlagen Kapitel 2 Access to justice: Die soziale Reichweite gerichtlicher Konfliktregulierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Benjamin Kelly Kapitel 3 Rache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Egon Flaig Kapitel 4 Selbsthilfe als Konfliktlösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Salvatore Marino Kapitel 5 Rationalitäten der Konfliktregulierung: Recht, Sitte, Religion im klassischen Athen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Werner Riess Kapitel 6 Die Rolle der Rhetorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Stefan Freund Kapitel 7 Medien für die Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Pierangelo Buongiorno Kapitel 8 Konfliktlösung als Strukturprinzip des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . 85 Martin Avenarius Kapitel 9 Konfliktlösung und Rechtssicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Valerio Marotta
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 10 Gerichtsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Roland Färber Teil II Akteure Kapitel 11 Konfliktlösung und Geschlecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Nadine Grotkamp Kapitel 12 Konfliktlösung durch den Princeps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kaius Tuori Kapitel 13 Fremde vor Gerichten der griechischen Städte. . . . . . . . . . . . . . 147 Kaja Harter-Uibopuu Kapitel 14 Fremde vor römischen Gerichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Christian Baldus Teil III Institutionen und Verfahren Kapitel 15 Magie als Mittel der Konfliktlösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Martin Dreher Kapitel 16 Der Eid in der Konfliktlösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Jan Dirk Harke Kapitel 17 Mediation und Schiedsverfahren im antiken Griechenland . . . 187 Kaja Harter-Uibopuu Kapitel 18 Schiedsverfahren und Mediation in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Wolfram Buchwitz Kapitel 19 Griechische Zivilverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Gerhard Thür Kapitel 20 Entstehung von Konfliktlösungsinstitutionen in Rom. . . . . . . . 219 Ulrich Manthe Kapitel 21 Römische Zivilverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Fabian Klinck Kapitel 22 Strafverfahren im antiken Griechenland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Adriaan Lanni Kapitel 23 Römische Strafverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Federico Procchi Kapitel 24 Strafen und ihre Alternativen – Griechenland . . . . . . . . . . . . . . 265 Philipp Scheibelreiter Kapitel 25 Strafen und ihre Alternativen – Rom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Richard Gamauf
Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 26 Die römische Provinzialgerichtsbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Georgy Kantor Kapitel 27 Ausnutzung von Gerichtsvielfalt durch forum shopping . . . . . . 295 Nadine Grotkamp Teil IV Konfliktfelder Kapitel 28 Konfliktlösung in dörflichen Gemeinschaften im archaischen Griechenland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Winfried Schmitz Kapitel 29 Konfliktlösung in Wettkämpfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Christian Mann Kapitel 30 Das regimen morum der Zensoren – Konfliktlösung im Adel?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Nadja El Beheiri Kapitel 31 Konfliktlösung in den Städten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Francesca Lamberti Kapitel 32 Konfliktlösung im römischen Heer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Gabriele Wesch-Klein Teil V Länder und Regionen Kapitel 33 Konfliktlösung und Konfliktvermeidung im antiken Israel. . . . 353 Eckart Otto Kapitel 34 Konfliktlösung im alten Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Birgit Jordan Kapitel 35 Hellenismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Nadine Grotkamp Kapitel 36 Konfliktlösung im römischen Ägypten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Patrick Sänger Stichwortverzeichnis������������������������������������������������������������������������������������������ 393
Einleitung
1 Konfliktlösung als universelles Problem Wo Menschen zusammenleben, entstehen Konflikte: Konflikte um Ressourcen, Konflikte um Anerkennung, Konflikte um Herrschaft oder Religion – um nur eine Auswahl möglicher Anlässe zu nennen. Kann eine Person ihre Ziele nicht erreichen, weil sich ihr eine oder mehrere andere Personen entgegenstellen, entsteht eine Konfliktsituation, die – gerade auch aufgrund ihrer psychologischen Wirkungen auf die Betroffenen – in ein Spannungsverhältnis führt, das nach Auflösung strebt. Diese Suche nach Auflösung kann gewaltsam erfolgen, bis hin zum Versuch, die im Wege stehende Person physisch zu beseitigen, sie kann aber auch in geordneten Bahnen ablaufen, entweder spontan-kommunikativ oder auf der Grundlage von längerfristig angelegten Institutionen, Verfahren und Regeln, die spezifisch zur Konfliktlösung geschaffen wurden. Dieser Rahmen gilt nahezu universell und für Gesellschaften aller Kontinente und Epochen. Bereits archäologische Funde aus prähistorischer Zeit verweisen auf gewaltsame Konfliktlösung, aber auch damals wird es bereits Strategien gewaltarmer oder -freier Streitbeilegung gegeben haben (Peter-Röcher 2017). Mit Beginn der Schriftkultur vermehren sich die Quellen, die über eine breite Vielfalt von Strategien, Institutionen und Normen der Streitbelegung Auskunft geben. Die Berichte der europäischen Quellen der letzten etwa 2500 Jahre über gewaltsame, vor allem aber über friedliche Instrumente der Konfliktlösung stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Handbuchs.
2 D ie Erforschung der Konfliktlösung seit dem 20. Jahrhundert So alt die Geschichte der Konfliktlösung ist, so jung ist ihre Erforschung. Die Ursprünge moderner Konfliktforschung lassen sich in der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts verorten. Morton Deutsch sieht die Anfänge in den Schriften des XXIII
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Einleitung
Sozialpsychologen Kurt Lewin (1890–1947) aus den beginnenden 1930er-Jahren (Deutsch 2014, S. XXXII). Hier wurden wesentliche definitorische und typologisierende Arbeiten geleistet und erste empirische Studien zu ihrer Überprüfung durchgeführt. Diese Forschung war von Anfang an immer auch an praktischen Fragen ausgerichtet, suchte nach neuen Wegen zur Konfliktlösung in einer Zeit starker gesellschaftlicher Spannungen. Die Konfliktforschung blieb nicht lange auf den Bereich der Psychologie beschränkt, denn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Konflikten und ihrer Lösung ist nahezu unvermeidlich ein interdisziplinäres Unternehmen. So verband sie sich mit vergleichbaren Ansätzen anderer Disziplinen. Überschneidungen ergaben sich bald mit den Forschungsinteressen der Wirtschaftswissenschaften. Nachdem zunächst Außenseiter wie Kenneth E. Boulding (1910–1993) erste Studien vorgelegt hatten (Boulding 1962), beschäftigte sich später vor allem die Spieltheorie auch empirisch mit menschlichem Verhalten in Konfliktsituationen (Deutsch 2014, S. XXXIII f.). Seit den 1960er-Jahren engagierten sich in der Konfliktforschung vor allem Soziologen und Politikwissenschaftler1. Ursprung und Gegenstand ihres Interesses waren zunächst die globalen Konflikte des Kalten Krieges und die Suche nach Wegen zu deren Beilegung. Die daran anschließende Friedensforschung wurde durch Vertreter weiterer Disziplinen, etwa der Theologie, unterstützt (hierzu die knappe Übersicht bei Jahn 2012, S. 12–17). Auch die Geschichtswissenschaft, die sich ohnehin immer stark für gesellschaftliche Konfliktsituationen interessiert hatte, griff zunehmend auf das in den Sozialwissenschaften entwickelte theoretische und methodische Handwerkszeug zurück. Soziale Differenzen aller Art äußern sich in Form von mehr oder weniger gewaltsamen Konflikten und damit wurde die historische Konfliktforschung – wenn auch relativ spät (Volkmann 1972, S. 551 sieht noch das Problem einer starken thematischen Verengung) – ein zentrales Anliegen der modernen Sozial- und Kulturgeschichte (Dressel 1996, S. 123). Durch die Schulen des Mediävisten Gerd Althoff zu Strategien mittelalterlicher Konfliktbewältigung oder des Frühneuzeithistorikers Gerd Schwerhoff zur historischen Kriminalitätsforschung griff die Geschichtswissenschaft Theorien und Methoden der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung auf und bewegte sich damit in starker Nähe zu ähnlichen Themenfeldern der Rechtsgeschichte, von der sie sich aber auch dezidiert abgrenzte. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich damit die Konfliktforschung zu einem wichtigen interdisziplinären Zweig der Sozialwissenschaften entwickelt, mit eigenen Lehrstühlen und Forschungseinrichtungen, deren Ergebnisse sich in zahlreichen Monografien sowie eigenen Handbüchern und Zeitschriften niederschlagen. Obwohl sich auch Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte bereits ihrer Definition nach immer mit Konflikten und Konfliktlösung beschäftigten, begann hier erst relativ spät eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema und den Erkenntnissen der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Dabei mag die starke Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter. 1
Einleitung
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Verhaftung der Jurisprudenz in der Tradition gerichtlicher Streitbeilegung eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie führte zu einer Konzentration auf die rechtsnormgeleiteten Instrumente gerichtlicher Streitbeilegung und verhinderte eine breitere Perspektive, die es ermöglicht hätte, die zweifellos wichtige gerichtliche Streitentscheidung in den breiteren Kontext einer Vielzahl denkbarer Reaktionsmöglichkeiten auf Konfliktsituationen einzuordnen. Hinzu kommt, dass die justizförmige Konfliktlösung auf spezifischen Techniken beruht, die dazu führen, dass die der Entscheidung des Gerichts zugrunde liegenden lebensweltliche Konflikte auf eigentümliche Art und Weise ausgeblendet werden. Denn im (modernen, aber auch manchen antiken) Gerichtsverfahren wird der Konflikt zunächst durch die beteiligten Juristen in ein juristisches Problem übersetzt. Dann wird dieses Problem im Verlauf der Gerichtsverhandlung unter Rückgriff auf einen festgelegten Satz an Normen einer (rechtlichen) Lösung zugeführt, die wiederum auf einen ebenso durch Normen begrenzten Satz an Reaktionsmöglichkeiten verweist. Diese Lösung wird dann durch eine spezifisch juristische Rhetorik den Parteien als Lösung des Ursprungskonflikts vermittelt und gegebenenfalls im Wege staatlichen Zwangs durchgesetzt. Es liegt auf der Hand, dass diese Strategie der Konfliktlösung durch Gerichte nie konkurrenzlos wirkte. Über weite Strecken der Geschichte war sie bereits aufgrund des Fehlens entsprechender Normen, professioneller Juristen oder einer vollstreckenden Staatsgewalt allenfalls als Utopie verfügbar. Die weit weniger ressourcenabhängige außergerichtliche Streitentscheidung und ihre Hybridformen spielten daher durch alle Epochen hinweg eine wichtige, von der rechtshistorischen Forschung häufig ausgeblendete Rolle. Sofern gerichtliche Konfliktlösung im genannten Sinne in breitem Umfang eingeführt war, stand sie andererseits stets in der Kritik der Zeitgenossen, gerade auch weil sie darauf verzichtet, den Konflikt direkt anzusteuern und konfliktorientierte Rechtsfolgen zu entwickeln. Erste Vorarbeiten zu einer wissenschaftlichen Erschließung dieses Problems leistete die allerdings heterogene und nicht zur „Schule“ verdichtete Freirechtsbewegung (Rückert 2008) mit Fernwirkungen in den amerikanischen legal realism (Herget und Wallace 1987). Sie reflektierte seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts über den empirischen Kontext juristischer Entscheidungsfindung und forderte eine Befreiung des Richters vom Diktat des Gesetzes (vgl. etwa Fuchs 1909; Hartzfeld 1911; zum Ganzen Maultzsch 2010, S. 35–122). Ein gewisses Unbehagen mit der Beschränkung des Richteramts auf ein formalisiertes Verfahren, das sich im Entweder-Oder der Stattgabe oder Abweisung der Klage erschöpfte und den Konflikt selbst und seinen Kontext nicht in den Blick bekam (so bereits Baur 1957, S. 194), lässt sich auch in den ersten Jahrzehnten der zweiten Nachkriegszeit beobachten. Juristische Beiträge zur Konfliktforschung blieben dabei zunächst aber häufig auf den Richterberuf und dessen Rolle bei der Konfliktlösung fixiert (Freund 1979). Zwei Entwicklungen verstärkten seit dem Ende der 1960er-Jahre das Interesse an diesen Fragen: Zum einen kam es infolge entsprechender Zeitströmungen zu einem starken Bedeutungsgewinn der Soziologie im gesellschaftlichen Diskurs, der auch die Rechtswissenschaft erfasste (programmatisch: Lautmann 1971: „Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz“). Gleichzeitig wuchs, zum anderen, vor allem
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in den USA die Unzufriedenheit mit dem Gerichtssystem und es kam zu einer ersten Konjunktur außergerichtlicher Strategien der Konfliktlösung (mediation, litigation, Alternative Dispute Resolution). Dies führte dazu, dass sich auch die Rechtswissenschaft stärker für Alternativen zum Gericht interessierte. Ihre Inspiration bezogen diese Untersuchungen zum Teil aus der ethnologischen Forschung, etwa von Laura Nader oder P.H. Gulliver (hierzu: Wesel 2002, S. 415). Dabei standen naturgemäß aktuelle Fragen im Mittelpunkt, wie etwa das Verhältnis gerichtlicher und außergerichtlicher Streitbeilegung (Mediation, Schiedsgerichte etc.) zueinander (Kreissl 2012; Hager 2001). Mit der wachsenden Bedeutung außergerichtlicher Instrumente der Konfliktlösung wuchs auch in Europa das Interesse, vor allem in der Rechtssoziologie (Eckhoff 1967; Hagen 1971) und mit einer gewissen Verspätung um die Jahrtausendwende auch in der allgemeinen Rechtswissenschaft (Weigand 1996). Die Hinwendung zu außergerichtlicher Konfliktlösung seit den 1990er-Jahren war allerdings weniger, wie in den 1970er-Jahren, von demokratisch-emanzipatorischen Motiven als von einer dem Zeitgeist entsprechenden Suche nach ökonomischer Effizienz getragen. Allerdings mehrten sich auch die kritischen Stimmen. Spätestens mit der aktuellen Diskussion über Schiedsgerichte der transnationalen Wirtschaft, oder aber über die Entscheidungshoheit der kirchlichen oder der Sportgerichtsbarkeit und deren Grenzen hat diese Debatte längst auch eine allgemeinere Öffentlichkeit erreicht. Angesichts der skizzierten Ausgangssituation verwundert es, dass die historischen Dimensionen der Konfliktlösung zunächst nur punktuell und zudem isoliert innerhalb der verschiedenen Disziplinen erforscht wurde. So wurden einerseits die oben genannten Impulse der Geschichtswissenschaft seitens der Rechtsgeschichte nur sehr begrenzt zur Kenntnis genommen, da man sie für zu theorielastig hielt oder eine mangelnde Beachtung der normativen Ebene kritisierte. Umgekehrt blieben in der Geschichtswissenschaft die Ergebnisse der neueren rechthistorischen Forschung häufig unbeachtet. Um die interdisziplinäre Forschung zu bereichern und gleichzeitig eine Brücke zur gerichtlichen und außergerichtlichen Praxis zu bauen, war 2012 die an der Goethe-Universität Frankfurt am Main angesiedelte hessische Exzellenzinitiative (LOEWE-Projekt) „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ gegründet worden, deren rund 40 Teilprojekte das Themenfeld in interdisziplinärer Perspektive untersuchten. Die Initiative führte vor allem Historiker und Rechtshistoriker, Juristen des geltenden Rechts und Rechtspraktiker zusammen und belebte den Dialog zu Fragen der Konfliktlösung. Im Laufe der Forschungsarbeiten zeichnete sich dabei immer dringlicher das Bedürfnis nach einer eng koordinierten, kollektiven Forschungsleistung ab, die nicht nur Einzelphänomene in den Blick nimmt, sondern über das LOEWE-Programm hinausgehend Probleme der Konfliktlösung in Europa konsequent kontextualisiert. Zugleich wurde deutlich, dass es nur mittels eines interdisziplinären Ansatzes möglich sein wird, das Erkenntnispotenzial dieser gerade auf den Schnittstellen der Fachdisziplinen angesiedelten Fragestellung zu realisieren. Zudem zeigte der enge fachliche Austausch mit den in einem „Experten- und Expertinnenrat“ organisier-
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ten, in der Praxis tätigen Mitgliedern des LOEWE-Schwerpunkts immer wieder den hohen Bedarf, die Debatten um aktuelle Entwicklungen und Reformbestrebungen historisch zu fundieren. Auch hier wurde immer deutlicher, dass trotz exzellenter Einzeluntersuchungen in vielen Bereichen ein erheblicher Forschungsbedarf besteht, welcher zudem in geeigneter Weise auch in die Praxis zu vermitteln ist.
3 Das Konzept des Handbuchs Aus der Arbeit im LOEWE-Schwerpunkt, dem das Herausgeberteam angehörte, entwickelte sich daher seit Oktober 2013 das Projekt eines multidisziplinär angelegten Referenzwerks zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa. Ziel ist es, nicht nur für Historiker, Rechtshistoriker und andere Sozialwissenschaftler einen verlässlichen Überblick über den Stand in den verschiedenen Feldern der historischen Konfliktforschung zu ermöglichen, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit, etwa auch der Rechtspraxis, Gelegenheit zur historischen Selbstvergewisserung zu bieten. Dass das Projekt aus der rechtshistorischen Forschung heraus initiiert wurde, sieht man ihm an. Viele Beiträge wurden von Rechtshistorikern verfasst und vielfach bleiben Normen und Institutionen als Fluchtpunkte erkennbar. Dennoch will das Handbuch nicht lediglich ein Handbuch der Justizgeschichte sein, sondern ein Referenzwerk, welches umfassend Auskunft über institutionalisierte Mechanismen zur Lösung interpersonaler Konflikte gibt. Damit wird die selektive und isolierende Wirkung des juristischen Blicks aufgebrochen und die für die herkömmliche Rechtsgeschichte typische Fixierung auf rechtliche Bewertung und gerichtliche Entscheidung von Konfliktkonstellationen zugunsten eines breiteren Fokus aufgegeben. Ausgehend von typischen Interessengegensätzen, die sich in Konflikten manifestieren, soll die Vielfalt der Konfliktlösungsmöglichkeiten, die sich den Konfliktparteien bietet, in den Blick genommen werden und damit die zahlreiche Institutionen, Verfahren und Rationalitäten der Konfliktlösung, die auch jenseits von Recht und Gericht existieren: Familienvorstände, Priester und Dorfgemeinschaften konnten in die Streitschlichtung eingeschaltet, Verfahren, wie etwa Verhandlung, Mediation und Schiedsverfahren, Rügepraktiken, Selbsthilfe und Magie, in Gang gesetzt werden. Neben das Recht oder an seine Stelle treten sittliche oder religiöse Normen, die entscheidungsleitend für die Konfliktbearbeitung sind. Diese Pluralität von Konfliktlösungsstrategien auf ihre jeweiligen Eigenheiten und ihr Verhältnis zueinander zu befragen, ist das Ziel dieses Handbuchs. Ausgehend vom Konflikt wollen wir nach Bewältigungsstrategien suchen und dabei sowohl die klassischen rechtlich-gerichtlichen, als auch die außerrechtlichen Konfliktlösungsmodelle berücksichtigen. Mit dieser Herangehensweise löst sich die Rechtsgeschichte aus ihrer ausschließlichen Fixierung auf Recht und Gericht und bezieht die sozialen, kulturellen, ökonomischen, institutionellen und normativen Kontexte ein, in denen teils konkurrie-
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rende, teils komplementäre Formen der Konflikt-lösung praktiziert werden. Dokumentiert wird diese Öffnung durch zahlreiche Beiträge, die von Sozial- oder Kulturhistorikern, Judaisten, Byzantinisten oder Islamwissenschaftlern geschrieben wurden. In dieser Kontextualisierung, die die Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes gleichsam vom Rande der Fachdisziplin her und damit notwendiger- weise in engem Austausch mit den Nachbardisziplinen erfordert, liegt das Innovationspotenzial des Projekts. Dieser vor allem auf bestimmte soziale Konfliktfelder fokussierte Ansatz will jedoch nicht allein Institutionen, Verfahren und Rationalitäten der Konfliktlösung in synchroner Perspektive kontextualisieren. Vielmehr verfolgt das Projekt darüber hinaus das Ziel, in einer diachronen Betrachtungsweise von der Antike bis in das 20. Jahrhundert Entwicklungslinien und -brüche in den Formen und Möglichkeiten der Konfliktlösung, die in Europa entwickelt wurden, sichtbar zu machen. Der Leser kann also sowohl die Vielfalt der Konfliktlösungsmöglichkeiten einer Epoche in der Breite, als auch spezifische Wege der Streitentscheidung in bestimmten Lebensbereichen von der Antike bis heute betrachten. Schließlich geht es auch darum, einer stark im Wandel und in kontroversen Debatten begriffenen aktuellen Praxis Reflexionsmöglichkeiten durch den Zugang zu den historischen Tiefendimensionen gegenwärtiger Entwicklungen zu bieten. Wenn, um nur die jüngsten Beispiele zu nennen, die Legitimität nicht-staatlicher Konfliktlösung durch die Sportgerichtsbarkeit, die neuerdings vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Doping-Fall der deutschen Eisschnellläuferin Claudia Pechstein thematisiert wurde,2 durch eventuell einzurichtende private Schiedsgerichte der transnationalen Wirtschaft, durch für die Bekämpfung von Diskriminierungen eingerichtete amerikanische Universitätsgremien oder durch islamische Friedensrichter als Phänomen einer sogenannten Paralleljustiz kontrovers diskutiert wird, so weisen diese aktuellen Beispiele darauf hin, dass die überkommene Fixierung auf das staatliche Gericht als Konfliktlösungsinstanz inzwischen fragwürdig geworden ist. Auch angesichts der in den letzten Jahren entstandenen Vielfalt von Konflikt-lösungsangeboten, die – wie etwa die Mediation – zunehmend als Alternativen zur staatlichen Gerichtsbarkeit erscheinen, tritt diese Fixierung auf herkömmliche Formen der Konfliktlösung in den Hintergrund und der Blick richtet sich auf den Konflikt und die Konfliktparteien selbst: Welche Institutionen, Verfahren und Normativitäten stehen zur Lösung des Konflikts zur Verfügung, welche Chancen bieten sie, welche Risiken bergen sie und wie verhalten sie sich zueinander? Hier ist es das Ziel des Handbuchs, historische Selbstvergewisserung und Standortbestimmung zu bieten. In seiner Ausrichtung ist das Projekt durch drei Grundentscheidungen geprägt, die gleichzeitig zu Einschränkungen bei der Themenauswahl führen.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (3. Sektion), Urteil vom 2.Oktober 2018 – 40575/10, 67474/10. 2
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Europäische Perspektive Zentral ist zunächst die Wahl der europäischen Perspektive: Nicht nur im Hinblick auf das Ziel, aktuelle Diskussionen zum Umgang mit einer zunehmenden Pluralität von Konfliktlösungsinstitutionen und -verfahren um die historische Tiefendimension dieser Entwicklungen zu bereichern, verbietet sich eine Verengung auf regionale, etwa deutsche Phänomene; denn unsere Streitkultur ist nicht erst heute in einer Vielzahl von Aspekten jedenfalls europäisch, wenn nicht teilweise sogar global geprägt. Der Bezugsrahmen des Projekts ist daher Europa, pragmatisch verstanden als ein geografisch auf seine heutigen Grenzen beschränkter Wirkungsraum intensivierten kulturellen Austauschs. Begrenzungen, etwa auf das „christliche Abendland“ werden dabei bewusst vermieden. Daher werden teilweise auch gegenwärtig als außereuropäisch begriffene Räume oder Kulturen an den Rändern Europas in die Untersuchungen einbezogen, wie etwa das Ägypten der Antike oder das Kalifat des Mittelalters. Allerdings erlaubte es der für die Darstellung zur Verfügung stehende Umfang von vier Bänden nicht, eine im Wortsinne globale Geschichte der Konfliktlösung zu schreiben. Hätten wir außereuropäische Kulturen in einem wirklich gleichberechtigten Umfang darzustellen gehabt, hätte dies ein Vielfaches der zur Verfügung stehenden materiellen und personellen Ressourcen bedurft.
Längsschnitt Eine Gesamtdarstellung der Konfliktlösung in Europa kann sich nach unserer Überzeugung nicht auf die jüngere Geschichte oder gar den aktuellen Zustand beschränken. Vielmehr muss sie ihren Gegenstand im Längsschnitt von der Antike bis in die Zeitgeschichte in den Blick nehmen, um in der Perspektive der longue durée die Beharrungskräfte und Dynamiken der Entwicklung von Konfliktlösungsformen differenziert hervortreten zu lassen. Die Gegenstände der einzelnen Beiträge hängen natürlich stark von den Voraussetzungen der einzelnen Epochen ab. Dennoch ist es ein zentrales Anliegen des Projekts, diachrone Zusammenhänge herauszuarbeiten und sichtbar zu machen, indem die Themen auch im Längsschnitt aufeinander abgestimmt wurden, soweit dies möglich war.
Beschränkung auf „private“ Konflikte Die thematische Konzentration auf die Bearbeitung privater und interpersonaler Konflikte erfolgt im Anschluss an die geschilderte aktuelle Debatte zur Streitschlichtung. Damit entfallen in diesem Handbuch weitgehend explizite Beiträge zu interterritorialen oder überstaatlichen Konflikten (etwa Kriegen und deren Voraus-
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setzungen oder zum Westfälischen Frieden) und damit ein zentraler Gegenstand, der von der Friedens- und Konfliktforschung untersucht wird. Inwieweit die Lösung von oder der Ausgang aus gruppenbezogenen Konflikten grundsätzlich anderen Mechanismen unterliegen, inwieweit diese institutionalisiert sind oder werden, alles dies soll hier noch weitgehend ausgeblendet werden und weiterer Forschung vorbehalten bleiben. Die entsprechenden Abgrenzungen zu den hier untersuchten „privaten“ Konflikten ist gerade für das Mittelalter oder die Frühe Neuzeit nicht immer trennscharf durchzuführen. Ist eine Fehde eine „private“ oder eine „öffentliche“ Auseinandersetzung? Auch die antike Konzeption eines ius gentium trennt nicht zwischen Konflikten zwischen Privaten und Konflikten zwischen Städten. Die Auswahl der entsprechenden Themen konnte also nicht pauschal-schematisch, sondern nur flexibel und einzelfallorientiert getroffen werden. Um die in der Gegenwart getroffene Abgrenzung plastisch werden zu lassen, haben wir jedoch für das 20. Jahrhundert völker- und europarechtliche Streitbeilegungsmechanismen mit einbezogen.
4 Die Grundstruktur des Handbuchs Die Einteilung des Handbuchs orientiert sich an der klassischen Epocheneinteilung in Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und 19./20. Jahrhundert. Dass diese Bezeichnungen problematisch sind, belegt hinreichend eine reichhaltige Diskussion in den Geschichtswissenschaften (zugespitzt: Jussen 2017 mit Diskussion; II. Kap. 1. von Mayenburg). Dass wir uns trotzdem dafür entschieden haben, die Bände an dieser gängigen Einteilung auszurichten, hat vor allem pragmatische Gründe; denn nach wie vor orientieren sich die Forschungsinteressen der beteiligten Fachleute und die entsprechenden Diskurse überwiegend an diesen Epochengrenzen. Da die chronologische Bandeinteilung ohnehin eine Entscheidung über Zeitgrenzen erforderte, haben wir uns daher letztlich für diese „konservative“ Unterteilung entschieden. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten sind allerdings nicht zu verkennen und sollen hier auch nicht verschwiegen werden. Denn nicht wenige der im Handbuch untersuchten Institutionen und Lebenswelten orientieren sich in ihren Schwerpunkten nur wenig oder überhaupt nicht an den klassischen Epochengrenzen: So liegt beispielsweise der Beginn der modernen Staatlichkeit mit seinen typischen Begleiterscheinungen (Ende des Fehdewesens, Beginn des modernen Strafrechts, Professionalisierung der Justiz und Schaffung moderner Justizeinrichtungen) in einer breiten Übergangszeit zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Wir haben uns bemüht, diese Zusammenhänge nicht künstlich zu zerreißen. Wo eine Behandlung einzelner Themen nicht ohnehin für mehrere Epochen opportun erschien, etwa weil ein bestimmter Gegenstand nicht durchgängig relevant war, oder um Wiederholungen zu vermeiden, findet sich ein entsprechender Beitrag daher nur in der jeweils relevanten Epoche. Dabei wird dann aber die Vor- und Wirkungsgeschichte in den Nachbarepochen mitbehandelt. Dies betrifft zum Beispiel die frühe Kirche, die im Anti-
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kenband fehlt, aber in den entsprechenden Kapiteln des Mittelalters angemessen berücksichtigt wird. Innerhalb der einzelnen Epochenkapitel wird eine weitgehend einheitliche Struktur gewählt, um die Verfolgung von Themen im Längsschnitt durch alle vier Epochen zu erleichtern. Am Anfang stehen dabei Grundlagen und Grundprobleme der Konfliktlösung. Welche Schwierigkeiten gab es beim Zugang zur Streitbeilegung, welche Rolle spielten beispielsweise Formen der Gewalt, aber auch säkulare Merkmale wie Schriftlichkeit, Sitte oder Religion bei der Lösung von Konflikten? Ein zweiter Abschnitt widmet sich den Akteuren der Konfliktlösung. Wer konnte Partei, wer Entscheider sein? Wurden Streitigkeiten durch professionelle Richter oder Laien geschlichtet? Welche Rolle spielte das Geschlecht? Ein dritter Abschnitt behandelt Konfliktlösung in Verfahren und Institutionen. In diesem Kapitel finden sich sowohl Artikel zu den Grundstrukturen gerichtlicher Streitbeilegung, zu entsprechenden Institutionen und Verfahrenstypen einschließlich der jeweils einschlägigen Rechtsgrundlagen, als auch Beiträge über außergerichtliche Verfahrensformen, von der Magie oder dem Gottesurteil bis zum Schiedsgericht. Ein vierter Abschnitt widmet sich dann einzelnen Konfliktfeldern. Dabei handelt es sich um soziale Bereiche, die eigene Vorstellungen eines geregelten Zusammenlebens und der Konfliktlösung hervorbringen. Teilweise haben sich in ihnen semi-autonomous social fields (Moore 1972/1973) mit normativen, sogar staatlichem Recht widersprechenden, Sonderordnungen herausgebildet. Vorrangig auf jene Bereiche, die eine Untersuchung im Längsschnitt ermöglichen, richtet sich das Augenmerk des Handbuchs. So finden sich beispielsweise Beiträge zur Konfliktlösung in Stadt und Land, in der Familie, im Adel, an den Universitäten oder im Militär. Angesichts der Vielfalt derartiger Felder kann die von uns getroffene Auswahl selbstverständlich nicht abschließend sein. Entsprechende Lücken wird man teilweise als gravierend empfinden. Sie sind aber weniger auf die Geringschätzung einzelner Themenfelder durch die Herausgeber, als vielmehr auf den Mangel an mitwirkungsbereiten Expertinnen oder Experten oder auf einen dünnen Forschungsstand zurückzuführen. Beschlossen werden die Bände des Handbuchs jeweils durch einen fünften Abschnitt, dessen Beiträge den Spezifika der Konfliktlösung in den verschiedenen europäischen Rechtsräumen (Kulturräumen, Territorien und Staaten) Rechnung tragen sollen. Denn während sich bestimmte Formen der Streitbeilegung, etwa der skandinavische Ombudsmann, als Exportschlager erwiesen und ganz Europa erreichten, blieben viele Phänomene lokal beschränkt. Diese Vielfalt kann in den themenspezifischen Artikeln nicht angemessen behandelt werden. Dies gilt insbesondere für die verstärkte Ausdifferenzierung der Rechts- und Justizsysteme spätestens seit der Wende zur Neuzeit. Um diese mit den Staatsbildungsprozessen verbundenen Sonderentwicklungen adäquat veranschaulichen zu können, haben wir uns entschieden, in den beiden Neuzeitbänden für die einzelnen Länder bzw. Ländergruppen Forschungsberichte zu präsentieren. Diese verbinden Ausführungen zu den Grundlinien der Entwicklung und zu nationalen Spezifika mit Hinweisen auf die jeweilige Literatur und sollen damit einen ersten Einstieg für weitere vertiefende Recherchen bieten.
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5 Begrenzungen Wie viele Großprojekte, so erforderte auch dieses Handbuch das Eingehen von Kompromissen. Trotz einer Laufzeit von mehr als sechs Jahren konnten nicht alle ehrgeizigen Ziele erreicht werden, die wir uns ursprünglich gesetzt hatten. Dabei ist zunächst auf die fehlende Vollständigkeit hinzuweisen. Auch wenn es von Anfang an als utopisch angesehen werden musste, auf der Suche nach Konfliktlösungsmodellen jeden Flecken Europas über mehr als zwei Jahrtausende hinweg auszuleuchten, so ist doch zu konzedieren, dass einige, teilweise auch wichtige, Bereiche in unserem Handbuch fehlen. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Teilweise gelang es, wie schon erwähnt, nur sehr schwer oder gar nicht, Experten für einzelne Artikel zu finden. Leider sind aber auch in nicht geringem Umfang feste Zusagen nicht eingehalten worden oder es erfolgten kurzfristige Absagen, die vor Redaktionsschluss nicht mehr zu kompensieren waren. So fehlen jetzt etwa Artikel zum alten Orient, zum mittelalterlichen Spanien und Italien, oder zu Sport und Spiel in der Frühen Neuzeit und im 19./20. Jahrhundert. Beiträge wie diese wären in einer zweiten Auflage nachzutragen. Teilweise werden sie auch zumindest partiell durch Nachbarartikel abgedeckt. Angesichts dieser Situation sind wir umso dankbarer für die Bereitschaft einiger Autorinnen und Autoren, auch relativ kurzfristig einzelne Artikel zu übernehmen. Vielen wird möglicherweise auch eine gewisse Heterogenität im Zugriff auffallen. Diese ist allerdings ein Spezifikum der Multidisziplinarität des Projekts. Sie führt zu disziplintypischen Methoden und Schwerpunktsetzungen, die von Fachfremden oft als defizitär wahrgenommen werden. So tun sich Rechtshistoriker oft schwer damit, sich dem Bann der Normen und Institutionen zu entziehen und den Blick auf den Konflikt selbst und seinen Kontext zu richten. Umgekehrt wird der rechtliche Rahmen von Fachhistorikern manchmal marginalisiert und unterbewertet. Wir haben uns entschieden, die Vielfalt der Forschungsinteressen, Methoden und Schwerpunktsetzungen nicht durch eine zu starke Engführung zu beschneiden. Diese Heterogenität sehen wir nicht als einen zu behebenden Mangel an Konzeption, sondern als authentischen Nachweis der Forschungsvielfalt. Schließlich haben wir Wert darauf gelegt, dass das die einzelnen Beiträge nicht nur für ein enges Fachpublikum lesbar sind. Wichtig war uns, dass die Artikel, ohne inhaltlich an Präzision einzubüßen, in einer allgemein verständlichen Sprache verfasst werden und auf Fachjargon verzichtet wird. Auch sollten fremdsprachige, vor allem lateinische, Zitate stets ins Deutsche übersetzt werden. Auch die für historische Fachliteratur typischen umfangreichen Fußnotenapparate suchten wir auf das Nötigste zu reduzieren. Zugegebenermaßen gab es viele Autoren, die es vorgezogen hätten, umfangreichere Quellennachweise anzufügen. Wir haben dennoch darauf bestanden, diese auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Dies mag mancher als bedauerliche Einschränkung empfinden. Jedoch wären die zentralen Quellen, die auf dem knappen Raum hätten angemessen berücksichtigt werden können, den engeren Fachkollegen ohnehin bekannt, während Nichtfachleute ohne umfangreiche Erläu-
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terung vor kryptischen Abkürzungen stünden. Uns war es daher wichtiger, eine gute Orientierung zum Forschungsstand zu liefern. Unser Projekt befasst sich mit Themen einer über 2000 Jahre alten Geschichte, über die Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen aus allen Teilen Europas berichten. Welche Probleme es mit sich bringt, in dieser Vielfalt die von einem Handbuch erwartete Homogenität zu erzeugen, sahen wir dann besonders deutlich, wenn fremdsprachig eingereichte Beiträge ins Deutsche übertragen werden mussten. Nicht nur bei der Übersetzung von Fachtermini und der Suche nach möglichst sinngetreuen deutschen Äquivalenten wurden uns die Dimensionen unseres Vorhabens bewusst. Letztlich zeigt sich auch hier wieder die große Vielfalt der europäischen Konfliktlösungsgeschichte.
6 Bibliographie Althoff G (2011) Einleitung. In: Althoff G (Hrsg) Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S 9–18 Baur F (1957) Sozialer Ausgleich durch Richterspruch. Ein Beitrag zum Wandel des Richteramts. Jurist Ztg (JZ) 12:193–197 Boulding KE (1962) Conflict and defense: a general theory. Harper & Brothers, New York Deutsch M (2014) Introduction. In: Coleman PT, Deutsch M, Marcus EC (Hrsg) The Handbook of conflict resolution. Theory and practice, 3. Aufl. Wiley, San Francisco, S XVII–XXXVIII Dressel G (1996) Historische Anthropologie. Eine Einführung. Böhlau, Köln/ Weimar/Wien Eckhoff T (1967) Die Rolle des Vermittelnden, des Richtenden und des Anordnenden bei der Lösung von Konflikten. In: Hirsch EE, Rehbinder M (Hrsg) Studien und Materialien zur Rechtssoziologie. Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen, S 243–270 Freund H (1979) Der Versuch einer Theorie der Praxis. Funktionswandel richterlicher Tätigkeit – Von der Streitentscheidung zur Konfliktlösung, dargestellt am Beispiel des Familienrichters. Deutsche Richterzeitung 57:72–78 Fuchs E (1909) Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz. Braun, Karlsruhe Hager G (2001) Konflikt und Konsens. Überlegungen zu Sinn, Erscheinung und Ordnung der alternativen Streitschlichtung. Mohr Siebeck, Tübingen Hagen JJ (1971) Die soziale Funktion des Prozesses. Zeitschrift für Zivilprozeß 84:385–395 Hartzfeld CAJ (1911) Der Streit der Parteien. Versuch einer soziologischen Betrachtung der Zivilrechtspflege. Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin Herget JE, Wallace St (1987) The German free law movement as the source of American legal realism. Va Law Rev 73:399–455
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Jahn E (2012) Frieden und Konflikt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer Fachmedien, Wiesbaden Jussen B (2017) Wer falsch spricht, denkt falsch. Warum Antike, Mittelalter und Neuzeit in die Wissenschaftsgeschichte gehören. Debatte (Berlin- Bran denburgische Akademie der Wissenschaften) 17:38–52 Kreissl St (2012) Mediation – Von der Alternative zum Recht zur Integration in das staatliche Konfliktlösungssystem. SchiedsVZ – Z Schiedsverfahr 10:230–244 Lautmann R (1971) Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz. Zur Kooperation der beiden Disziplinen. Kohlhammer, Stuttgart Maultzsch F (2010) Streitentscheidung und Normbildung durch den Zivilprozess. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum deutschen, englischen und US- amerikanischen Recht. Mohr Siebeck, Tübingen Moore, SF (1972/1973) Law and social change. The semi-autonomous social field as an appropriate subject of study. Law Soc Rev 7:719–746 Peter-Röcher H (2017) Konfliktlösungsstrategien in prähistorischer Zeit. In: Pfeifer G, Grotkamp N (Hrsg) Außergerichtliche Konfliktlösung in der Antike. Beispiele aus drei Jahrtausenden. Global perspectives on legal history 9. Max Planck Institute for European Legal History, Frankfurt am Main, S 9–25 Rückert J (2008) Freirechtsbewegung. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd 1, 2. Aufl. Erich Schmidt, Berlin, Sp 1172–1177 Schwerhoff G (1999) Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung. Edition diskord, Tübingen Volkmann H (1972) Wirtschaftlicher Strukturwandel und Sozialer Konflikt in der Frühindustrialisierung. Eine Fallstudie zum Aachener Aufruhr von 1830. In: Ludz P Ch (Hrsg) Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 550–565 Weigand F-B (1996) „Alternative Dispute Resolution“ auch in Deutschland? Der Betriebs-Berater 51:2106–2110 Wesel U (2002) Streitschlichtung im Schatten des Leviathan. Neue Jurist Wochenschr (NJW) 55:415–416
David von Mayenburg Peter Collin Wim Decock Nadine Grotkamp Anna Seelentag
Gratiam agere
Ein solches Handbuch kann ohne die tatkräftige Mithilfe vieler helfender Hände nicht entstehen. Für den Band Antike gilt unser Dank zum einen den Autoren, die auch nach Jahren ihre Beiträge noch verändert haben, die es gewagt haben, die üblichen Pfade zu verlassen und auch Themen zu bearbeiten, die zunächst für die Antike abwegig erschienen. Nur ganz selten mussten wir auf die Darstellung von „Kernproblemen der Forschung“ verzichten. Zum anderen gilt unser Dank dem Redaktionsteam um Julia-Sophie Graf, das nicht nur unermüdlich Bibliografien vereinheitlicht, Überschriften angepasst und Tippfehler herausgepickt, sondern auch etliche Stunden mit Übersetzungsbüro und Autoren korrespondiert hat. Julia-Sophie Graf, Gwendolyn Zeuner, Johannes Zhou, Karla Schmackert, Johannes Bieber, Sophie Gotthold – ohne Euch gäbe es dieses Buch nicht. Nadine Grotkamp und Anna Seelentag
Hinweis zur Benutzung Die Zitierweise der Quellen folgt der in den Altertumswissenschaften üblichen Praxis, die für die meisten Texte aus einer Abkürzung aus Autorenname und ggf. Werktitel sowie aus einer Nummernkombination besteht, die nicht auf Seiten verweisen, sondern auf Kapitel- und Abschnittsnummern. Mithilfe dieser Zitierweise sind die Quellen in verschiedenen gedruckten Editionen, aber auch in den ebenfalls keine Seitenzählung kennenden elektronischen Medien zu finden, griechische und lateinische literarische Texte, häufig auch mit Übersetzungen etwa bei http://www.perseus.tufts.edu, Papyri mit umfangreichen, meist deutschsprachigen Metadaten, teilweise mit Übersetzungen und Abbildungen bei http://papyri.info/ oder Inschriften bei https://epigraphy.packhum.org/ (griechisch) oder https://edh-www.adw.uni-heidelberg.de und http://www.manfredclauss.de/ (lateinisch). Listen, die die Abkürzungen auflösen, finden sich dort sowie in altertumswissenschaftlichen Lexika und Bibliografien. Im deutschen Sprachraum orientiert man sich zumeist am Neuen Pauly (Band III, 1997). XXXV
Kapitel 1
Konfliktlösung in der Antike – Eine Einführung Nadine Grotkamp
1 Überblick Konfliktlösung in der Antike erscheint im Rückblick als städtisches Phänomen. Man denkt zuallererst an die großen Volksgerichtshöfe von Athen oder den praetor auf dem Forum in Rom. Einrichtungen wie ein jüdischer Ältestenrat und ein Statthalter von Judäa, die zu überlegen hatten, wie sie mit einem Aufrührer namens Jesus umgehen sollten, und durch die biblische Präsenz nachhaltig in der Erinnerung der Europäer präsent sind, bleiben als Einrichtungen überstädtischer Herrschaftsformen jedoch Randphänomene. Dieses Bild verwundert nicht, blickt man doch auf primär städtische Kulturen. Städte waren der zentrale Bezugspunkt des menschlichen Lebens (Kolb 2005). Hier lebten die Grundbesitzer, hier traf man sich auf öffentlichen Plätzen, hier in der polis wurde Politik im ganz wörtlichen Sinne betrieben, hier waren die die Gemeinschaft zusammenschließenden Heiligtümer wie das der Athena auf der Akropolis. Fragte man einen Menschen nach seiner Herkunft, nannte er die Stadt – eine weitere „Staatsangehörigkeit“ blieb bis in die Spätantike eine Ausweitung. Daher verwundert es auch nicht, dass auch in einem Handbuch, das sich dezidiert nicht als eine Justizgeschichte versteht, in diesem Band die Verfahrensweisen vor den Gerichten Athens und Roms den größten Raum einnehmen. Denn dies waren nicht nur Gerichte, also Stätten, in denen Recht gesprochen wurde, sondern die Austragungsorte ganz unterschiedlicher Konflikte. Wie die Geschichtswissenschaft schon früh erkannt hat, dienten die Gerichtsverfahren in Rom und Athen nicht nur der Lösung von rechtlichen Konflikten, sondern waren geradezu eine Bühne für den Austrag ganz unterschiedlicher sozialer oder politischer Konflikte (David 1997; Christ 1998; Cohen 2000; Ganter 2015). Durch das Auftreten vor Gericht konnten auch politische Fähigkeiten demonstriert werden, in Prozessen N. Grotkamp (*) Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_1
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zwischen Privatleuten auch die Rechtmäßigkeit etwa von Senatsbeschlüssen zum Thema gemacht werden. Die in den Städten Athen und Rom ausgebildeten Konfliktlösungsformen und Konfliktlösungsregeln wurden wie vieles andere (Leppin 2010) in der weiteren europäischen Geschichte vielfach zum Vorbild genommen. Dies hat sowohl für die Wahrnehmung als auch für ihre Erforschung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Zum einen rührt daher ein großes Interesse, was in intensiver Forschung mündet, zum anderen ist es bisweilen schwer, ein Gesamtbild zu zeichnen, das auch den nicht vorbildlichen Aspekten hinreichendes Gewicht gibt. Ein markantes Charakteristikum antiker Konfliktlösungsformen sind die Gerichtsorte (→ 10. Färber) – es gab in der Antike keine säulengeschmückten imposanten Gerichtsgebäude. Die Gerichte der griechischen Städte traten auf dem Marktplatz oder bei Tempeln zusammen, so der Areopag auf dem Areshügel, und auch die römischen Gerichtsmagistrate waren auf Marktplätzen, einem forum zu finden. Dies war so selbstverständlich, dass forum das Wort ist, das die lateinische Gerichtssprache für den Gerichtsstand verwendet. Damit ging einher, dass das Geschehen vor Gericht allenfalls durch Schranken vom sonstigen geschäftigen Leben in der Stadt getrennt war. In der Neuzeit sah man hier das Ideal der Gerichtsöffentlichkeit verwirklicht. Es ist aber auch ein Zeichen der geringeren funktionalen und sachlichen Abtrennung der Gerichtsbarkeit etwa von der Politik (dazu auch → 5. Riess), was sich auch darin zeigt, dass man von Herrschenden jeder Art, von gewählten Jahresbeamten wie von hellenistischen Königen, von Vereinsvorstehern wie von römischen Kaisern erwartete, dass man Anliegen überall dort an sie herantragen konnte wo man sie antraf und sie bei allen Routinen, die die Verfahren lenkten, überall eine Entscheidung treffen konnten, die man als Urteil, Schiedsspruch oder Verfahrenseinleitung kennzeichnen kann. Diese örtlichen Gegebenheiten spielen für die Frage nach der Zugänglichkeit von Justiz (→ 2. Kelly) kaum eine Rolle. Hier haben andere Aspekte größere Bedeutung: zum einen die enge Bindung von Gerichtsbarkeit und Bürgerstatus, die die Frage aufwirft, wie Konflikte zwischen oder mit der Beteiligung von Frauen (→ 11. Grotkamp) oder Nichtbürgern (→ 13. Harter-Uibopuu; → 14. Baldus) gelöst wurden, zum anderen das hohe Maß an Eigeninitiative, das auch bei der Inanspruchnahme von städtische bzw. staatlichen Gerichten notwendig war (→ 4. Marino). In wie weit ärmere Männer Konflikte vor Gericht trugen oder sie durch diese in ihren Rechten geschützt wurden, ist in der Forschung umstritten. Auf der einen Seite werden Verfahrensregeln beobachtet, die es auch Armen erlauben, vor Gericht zu ziehen, und haben sich auf Papyrus Klageschriften mit geringem wirtschaftlichen Gewicht erhalten, auf der anderen Seite gibt es keine sicheren Belege für Prozesse von wirklich armen Personen und Indizien, die darauf hindeuten, das Vermögende ihre Interessen ohne Gericht ohne weiteres durchsetzen. Ein zentraler Unterschied zwischen antiker und aktueller Praxis der Konfliktlösung besteht in dem Grad, mit dem der Staat oder allgemein die Öffentlichkeit in die Konflikte Einzelner eingriff – die Antike kennt so gut wie keine organisierte Polizeibehörden, keine Staatsanwaltschaften, die die Anklagen bei Verbrechen übernehmen und nur sehr selten Vollstreckungsorgane. In wie weit den antiken
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emeinschaften eine Zurückdrängung der alltäglichen Gewalt gelang – und in wie G weit sie überhaupt auf die Ausbildung eines staatlichen bzw. städtischen Gewaltmonopols hinarbeiteten, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Kontrovers ist daher die Bewertung von Rache und Selbsthilfe in der Antike, sowohl, was Einzelheiten betrifft, aber auch hinsichtlich des geeigneten Forschungszugriffs. Weiter ausgreifende Überlegungen, teilweise unter Einbeziehung ethnologischer Konzepte (→ 3. Flaig) oder Theorien zur Entstehung von Recht aus dem Konflikt (Jhering 1852–1865) oder der Gerichte aus der Schiedsgerichtsbarkeit, stehen neben Kriminalitätsgeschichten (Krause 2004), mentalitätsgeschichtlichen Zugriffen (Riess und Fagan 2016) und dem Streit innerhalb der juristischen Romanistik über die Nähe zwischen Antike und Moderne. Dies alles prägt die Diskussion um die Bedeutsamkeit mehrerer überlieferter dezidiert Selbsthilfe betreffender Normen, Rechtsinstitute und Rechtsansichten (→ 4. Marino). Auch im Zusammenspiel von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Herrschaft können moderne Selbstverständlichkeiten nicht ohne weiteres auf die Antike übertragen werden, auch wenn diese in vieler Hinsicht den Späteren als Vorbild diente und auch heute noch dient. Zugleich prägendes Vorbild, aber doch in der Verbindung der Elemente unterschiedlich war auch der theoretische Blick auf diese Themen in der Antike selbst: Gerichtsbarkeit wurde zwar als eine Form der Herrschaft erkannt, jedoch forderte die Staatstheorie, die etwa durch die aristotelischen Schriften, aber auch in theoretischen Exkursen der Historiker überliefert ist, keine Kongruenz innerhalb einer Ordnung. So waren demokratische Elemente in einer ansonsten oligarchischen Stadt nicht nur möglich, sondern galten manchen auch als Stabilisierungsfaktor und daher erstrebenswert. Schon die Frage, in wie weit antike Rechtsprechung an Gesetze gebunden war, ist im Ansatz anachronistisch. Eine zeitangemessene Perspektive ist hingegen, Rechtsbildung überhaupt erst aus der Konfliktlösung heraus verstehen (→ 8. Avenarius), sei es dass man annimmt, dass das Rechtsdenken durch die Ausrichtung auf Fälle geprägt war, sei es durch eine Ausrichtung auf die Prozessführung, was im deutschen Sprachraum oft als aktionenrechtliches Denken gekennzeichnet wird. Eine andere nicht anachronistische Perspektive eröffnet die Frage, wie die Gleichförmigkeit von Konfliktlösung gewährleistet wurde – worauf man den Blick auf die Veränderlichkeit und Stabilität im Recht lenken kann (→ 9. Marotta), oder auf die rituelle Rahmung (→ 5. Riess). Dann zeigt sich, wie effektiv die Öffnung von Räumen für die öffentliche Diskussion über Konflikte war. Verständigung über Konflikte und richtiges Verhalten erfolgte etwa in Athen nicht nur bei den viele Bürger einbindenden Gerichtsverfahren, sondern auch im Theater oder in Volksversammlungen (Lanni 2016). Die antike Rhetorik (→ 6. Freund) ist in gewisser Hinsicht auch eine Konfliktlösungstheorie, auch wenn sie die Frage nach Konflikt und Lösung selbst nicht stellte. Denn sie liefert noch vor der Rechtswissenschaft (→ 7. Buongiorno; → 8. Avenarius) Verfahrensanleitungen, um Konflikte zu strukturieren. So empfahlen die Lehrbücher dem Redner genau darauf zu achten, ob im jeweiligen Fall die Sachverhaltserfassung, die rechtlichen Einordnung oder die Rechtmäßigkeit des Verfahrens streitig sei. Diese vor allem auf die Gerichtsrede ausgerichtete Kunst ist sowohl in theoretischen Schriften wie in herausragenden praktischen Beispielen erhalten, die
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den Späteren – und nicht nur in der Antike – als Vorbild dienten. Anders als die Rechtswissenschaft berücksichtigt die Rhetorik auch Emotion, die der Konflikt hervorruft oder die zu seiner Beilegung beitragen oder ihr im Wege stehen. Die zu beobachtende Strategie der Personalisierung und der Einbettung des Rechtsstreits in gesamtgesellschaftliche Konflikte verdeutlicht wie die Betrachtung der für die Konfliktlösung bevorzugt aufgesuchten Orte die im Vergleich zur Gegenwart geringere Abtrennung von Gerichtsverfahren, Politik sowie gesellschaftlichen Spannungen. Von Seiten der materiellen Medien (→ 7. Buongiorno) ist die Differenz zur Gegenwart auf den ersten Blick nicht augenfällig. Trotz weitgehender Mündlichkeit der Verfahren – so ist etwa das Rufen vor Gericht ganz wörtlich zu verstehen – und der gelegentlichen Nutzung von Symbolen (Stab → 20. Manthe; Schranken, Vorhang → 10. Färber) ist eine umfangreiche schriftliche Aufzeichnung erhalten und es kann über Details der Archivierung von Beschlüssen, Entscheidungen und Protokollen geforscht werden. Welchen Unterschied es macht, ob Normen in Stein oder Bronze graviert wurden, wo sie aufgestellt bzw. aufbewahrt wurden, welche Bedeutung den Schriftstücken in Verfahren zukam, nicht nur vor Gericht, auch etwa im Bereich von Flüchen, und wie sich dies in eine größere Mediengeschichte einfügt (Vismann 2000; Vesting 2011), sind Fragen, die noch nicht zufriedenstellend erforscht sind. Antike bildliche Darstellungen von Konfliktlösungsvorgängen sind rar, was man nicht erwartet, wenn viele rechtsgeschichtliche Einführungswerke mit der homerischen Gerichtsszene beginnen, die den Schild des Achilles geschmückt haben soll. Sucht man nach antiken Richterbildern, muss man sich mit einer kargen Sammlung von Audienzszenen begnügen (Gabelmann 1984), die Massengerichtshöfe Athens und Roms sind selbst örtlich schwer aufzufinden. Abbildungen sind nicht bekannt (dazu → 10. Färber), auch einen Prätor kann man nirgendwo etwa auf einem Relief eines Sarkophags oder einer Münze klar identifizieren. Wir kennen die sella curulis und Szepter, die auch mit Rechtsprechungstätigkeit in Verbindung gebracht werden, Forschung unabhängig von Institutionen oder Gerichtsorten gibt es hierzu aber nicht, und vermutlich auch nicht genügend aussagekräftige Quellen. Weniger relevant ist im Vergleich zu den weiteren Epochen der Aspekt der Religion – Religion ist in der Antike kein klar von anderen sozialen Zusammenhängen geschiedener Lebensbereich (→ 5. Riess). Zentrale Feiern waren städtische Feiern, die Priesterschaft war ein Ehrenamt wie jedes andere städtische Amt auch, es fehlt somit an einer eigenen Traditionsbildung. Dies bedeutet nicht, dass Priester, Heiligtümer oder religiöse Bindung für die Konfliktlösung irrelevant gewesen wären, nur tritt sie nicht neben eine von ihr klar zu unterscheidende staatliche oder hier besser städtische Konfliktlösung. So haben sich kleine Metalltäfelchen erhalten, mit denen beispielsweise ein Dieb verflucht wurde, um diesen zu strafen und mittels übernatürlicher Kräfte das Diebesgut zurückerlangt werden sollte, oder die die gegnerische Prozesspartei schwächen sollten. Sie sind in der Forschung als defixiones bekannt (→ 15. Dreher). In Rom war es das Priesterkollegium der Pontifices, das in der frühen Republik Auskünfte in Rechtsfragen erteilte und diese Ratschläge archivierte. Diese Pontifikaljurisprudenz ist nicht nur für die römische Rechtsgeschichte allgemein, sondern insbesondere auch für die Ausbildung der römischen Zivilverfahren
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bedeutsam (→ 20. Manthe, → 21. Klinck) und markiert einen zentralen mediengeschichtlichen Schritt (→ 7. Buongiorno). Mit einer Übersicht über diese Grundlagen ist klar, dass auch die Frage nach den an der Konfliktlösung beteiligten Akteuren anders zu beantworten ist als für andere Epochen. Richter sein war kein Beruf, Anwalt genauso wenig, und auch die berühmten römischen Juristen erinnerten mehr an ihre Ämter als Statthalter oder Prätorianerpräfekt als ihre schriftstellerische Tätigkeit. Trotzdem gab es Experten – neben den schon genannten Logographen in Rom auch dezidierte Juristen (zu diesen u. a. → 9. Marotta), doch dies waren Experten des Rechts, keine Experten der Konfliktlösung (Lehne 2014). Konfliktlösungsexperten waren aber auch nicht die römischen Prätoren (→ 21. Klinck; → 23. Procchi), die übrigen römischen Gerichts magistrate oder ihre griechischen Pendants (→ 19. Thür; → 22. Lanni). Diese Jahresbeamten übten einen Aspekt der Herrschaft der jeweiligen Stadt aus, aber dieser Teil war nicht als Rechtsprechung bestimmt und machte nur einen Teil ihrer Tätigkeit aus. Die Frage nach der Person der an der Konfliktlösung beteiligten Personen ist weitgehend identisch mit der Frage nach dem Zugang zur Justiz (→ 2. Kelly): es waren die politisch aktiven Bürger der jeweiligen Stadt, wobei der Kreis der einbezogenen Personen durch große Richterkollegien (→ 19. Thür; → 22. Lanni, → 21. Klinck; → 23. Procchi) groß war. Einer Vertiefung bedürfen daher nur zwei Fragen: Wie lösten nicht unmittelbar einbezogene Personen Konflikte, insbesondere Frauen (→ 11. Grotkamp) und Nichtbürger bzw. um in der Diktion der Zeit zu bleiben, peregrini (Fremde)/metoikoi (→ 13. Harter-Uibopuu, → 14. Baldus) und wie gestaltete sich das Nebeneinander von Amtsautorität und persönlicher Autorität. Für letzteres ist allein die Konfliktlösende Tätigkeit der römischen Kaiser näher erforscht (→ 12. Tuori). Was hier zu Amtsverständnis, Tätigkeit, Rechtsbindung und Verbindlichkeit gesagt werden kann, galt in kleinerem Maßstab auch für andere Herrscher, etwa die römischen Provinzstatthalter (Meyer 2006) und die hellenistischen Könige (Grotkamp 2018). Für Athen wie für Rom ist davon auszugehen, dass Gerichte nur in sehr geringem Umfang zur Bearbeitung der Konflikte ihrer Bürger beitrugen. Soweit man etwas nicht unter sich regeln konnte, griff man in weit größerem Maße als heute auf Schiedsrichter zurück (→ 5. Riess; → 17. Harter-Uibopuu; → 18. Buchwitz). Die Verfahrensweisen unterschieden sich nicht grundlegend von gerichtlichen Verfahren, nur war die Auswahl der Entscheider in der Hand der Parteien. Insbesondere tagten auch attische und römische Schiedsgerichte öffentlich und nicht im Geheimen. Daneben bestanden weniger erforschte soziale Praktiken (Seelentag 2017). Von den gerichtlichen Konfliktlösungsformen sind vor allem die attischen Massengerichte und der römische Prätor wirkmächtige Besonderheiten. Im Athen (→ 19. Thür) der klassischen Zeit, also im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert wurden Prozesse zwischen Bürgern vor großen Volks- oder Massengerichten verhandelt, die bis heute durch ihre Größe, das ausgeklügelte Losverfahren zu ihrer Besetzung und die vor ihnen gehaltenen Gerichtsreden faszinieren, von denen nicht wenige zum Kanon der altgriechischen Literatur gehören. So benötigte man für Streitigkeiten unter einem Wert von 1000 Drachmen beispielsweise 201 Richter. In den Ecken der Agora unterhalb der Akropolis tagten täglich mehrere solche
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erichtshöfe. Die Richter waren allesamt gewöhnliche Bürger, besondere QualifiG kationen waren nicht erforderlich, weshalb man in der Literatur auch häufig die Bezeichnung „Geschworenengerichte“ findet. Jeden Morgen wurden die erschienen Bürger den verschiedenen Gerichten zugelost. Sie hörten Kläger und Beklagten an und stimmten dann geheim über die Anträge ab. Eine Diskussion unter den Richtern fand ebenso wenig statt wie eine Begründung des Urteils. Kläger und Beklagter konnten sich entsprechendem Vermögen ihre Rede von einem professionellen Rhetor oder Logographen verfassen lassen. Reden besonders guter Redenschreiber wie die von Demosthenes oder Lysias wurden schriftlich in die gesamte griechisch- sprachige Welt verbreitet und blieben Vorbild für Jahrhunderte. Demosthenes ist der nach Homer am häufigsten in den papyrologischen Resten antiker Bücher bezeugte Autor. So vorbildlich die Bürgerbeteiligung in der Rückschau erscheint, so wenig rechtlich erscheint das von der Redekunst geprägte Verfahren. Ganz anders der römische Prätor (→ 21. Klinck), dessen Formularverfahren (per formulas litigare) in der Forschung bisweilen als Sieg des Rechts über die Rhetorik gefeiert wird. Die Streitparteien erschienen vor diesem auf ein Jahr gewählten Magistrat, trugen ihr Anliegen vor und erhielten vom Prätor eine Tafel, in der ihr Streit auf die relevante Rechtsfrage hin reduziert zusammengefasst war. Damit gingen sie zum vom Prätor bestimmten Richter (iudex), einem einzelnen aus einer Richterliste ausgewählten Bürger, der nur noch zu überprüfen brauchte, ob die genannten Voraussetzungen gegeben waren. Das Besondere liegt nun in diesen Klageformeln. Regelmäßig gewährt Formeln waren auf einer weißen Holztafel angeschlagen, und ebenso die regelmäßig vorgenommenen Veränderungen dieser Klageformeln durch Einreden oder durch Einschübe, die den ursprünglichen Anwendungsbereich erweitern. Für Rhetorik, beispielsweise für Rücksicht auf die Persönlichkeit der Prozessparteien im positiven Sinne wie Verdienste für die Stadt wie auch negative, war hier kaum Platz. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit hatten Gerichtsverfahren in Athen und Rom viel gemeinsam. Die Zweiteilung des Verfahrens kennzeichnet nicht nur den römischen Formularprozess. Auch in Athen ging man erst zu einem gewählten Jahresbeamten, wo die Beweismittel gesammelt und der Streitgegenstand festgelegt wurde und der schließlich das Verfahren bei einem der Massengerichte einführte. Lediglich der Schwerpunkt war verschieden. Im Vergleich zur heutigen Praxis fällt auf, wie gering der Gerichtsapparat personell ausgestattet ist. Vieles, was heute „das Gericht“ macht, war in der Antike Sache der Parteien: der Kläger war es, der seinen Kontrahenten über die beabsichtigte Klage informierte und vor Gericht lud, die Parteien waren es, die gemeinsam einen ersten Termin vereinbarten, an dem sie sich beim Gerichtsmagistrat trafen. Vollstreckungsorgane, die für die Durchsetzung eines Urteils sorgen, fehlen auch weitgehend – es war dem obsiegenden Kläger in Athen gestattet, selbst mit Gewalt vorzugehen. In Rom drohte dem nach Urteil zahlungsunwilligen Schuldner nach kurzer Frist eine Versteigerung des gesamten Vermögens, selbst wenn die Verurteilung nur in einem Kleinbetrag erfolgt war. Anders als in der Gegenwart bestand kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Zivilverfahren und Strafverfahren (→ 22. Lanni; → 23. Procchi). Kläger waren immer einzelne Bürger, eine Anklagebehörde ist aus keinem antiken Kontext bekannt.
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Jedoch wurden die Prozesse bei bestimmten Verbrechen an speziellen Gerichten durchgeführt. Athen hatte fünf verschiedene Gerichte für Tötungsdelikte, unter denen der Areopag der bekannteste ist. In Rom gestaltete eine Kette von Reformgesetzen große Geschworenengerichte (quaestiones). Zudem hatten die antiken Städte eine klare Vorstellung von Strafe. Ein Blick auf ihre bisweilen grausamen Details (→ 24. Scheibelreiter; → 25. Gamauf) führt einerseits wieder zurück zur Frage nach Rache und Rügebräuchen (→ 28. Schmitz), andererseits zur Frage nach dem Maß der Rechtsdurchsetzung. Reichen Leuten war es vielfach möglich, sich einer Bestrafung durch Exil zu entziehen, und ohne Verfolgungsbehörde war es auch einfachen Leuten möglich, sich einer Bestrafung zu entziehen, wenn sie ihr gewohntes Lebensumfeld verließen. An anderen lebensweltlichen Zusammenhängen oder Konfliktfeldern als der Stadt sind in den Quellen nur noch wenige Beispiele greifbar: kleinere, dörfliche Strukturen der archaischen Zeit (→ 28. Schmitz; → 20. Manthe), überregionale Wettkämpfe (→ 29. Mann) und das römische Militär (→ 32. Wesch-Klein). Markt und Stadt sind anders als in anderen Epochen keine Besonderheiten. Erst in der römischen Kaiserzeit ist es sinnvoll zu fragen, wie Konfliktlösung unterhalb der Reichsebene in den Städten der Provinzen erfolgte (→ 31. Lamberti), wobei auch hier mehr Parallelen zu den stadtrömischen Strukturen zu finden sind als Differenzen. Im Vergleich zu anderen Epochen fehlt auch der Adel als eigenes Konfliktfeld – abgesehen von der Homerischen Welt (→ 19. Thür) ist möglicherweise die römische Zensur (→ 30. El Beheiri) als ein solches Konfliktlösungsmodell innerhalb der römischen Aristokratie während der frühen Republik zu interpretieren. Dies ist jedoch sehr unsicher. Deutliche Spuren deuten darauf hin, dass auch innerhalb der Familien Konfliktlösungsmechanismen bestanden, die in weit größerem Maße als für heutige Familienstrukturen vorstellbare Bedeutung besaßen. Auch waren sie wohl einer der städtischen Gerichtsbarkeit vergleichbaren Regelhaftigkeit unterworfen so dass es nicht falsch ist, von iudicium domesticum zu sprechen (→ 35. Grotkamp, Geschlecht; → 2. Kelly, Access, → 17. Harter; → 18. Buchwitz, Schieds gericht). Andere, nicht an die Stadt gebundene Konfliktlösung, ist zudem an den Rändern der von den Altertumswissenschaften betrachteten Räume und Zeiten zu beobachten. Die biblischen Texte gestatten Rückschlüsse auf die Konfliktlösung im alten Israel (→ 33. Otto). Spannend ist hier nicht nur die Einbeziehung ethnologischer Überlegungen zu einer ursprünglichen Bestrafung innerhalb der Familie, sondern mehr noch die in anderen antiken Zusammenhängen nicht zu beobachtende nachträgliche, sekundäre Theologisierung des Rechts sowie die negative Bewertung des Zorns und der Lob des Langmuts in Weisheitenliteratur und Prophetie. Die aufgrund günstiger klimatischer Bedingungen am Rande der Wüste konservierten Papyri geben in Ägypten Einblick in Konfliktlösung bis zurück ins 3. vorchristliche Jahrtausend (→ 34. Jordan), die viele Parallelen zu den anderen Zeiten aufweist, aber in manchen Quellen eine stärkere Konsensorientierung auf Kosten einer raschen Verfahrensbeendigung erkennen lässt. Man könnte den Blick noch in den Alten Orient erweitern, auch wenn hier die Verbindungen zur europäischen Geschichte geringer sind als bei den unmittelbaren Mittelmeeranrainern. Die
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Keilschrifttafeln (Westbrook 2003), außergerichtlich: Pfeifer und Grotkamp (2017) zeugen wie die ägyptischen Papyri von komplexen Zusammenhängen auch in frühesten Zeiten. Aufgrund der papyrologischen Überlieferung ist in Ägypten auch in jüngeren Zeiten ein tieferer Blick in den Alltag möglich als anderswo (→ 36. Sänger). Hier wird in der Forschung immer wieder die Frage aufgeworfen, in wie weit die gewonnenen Erkenntnisse auf andere Regionen übertragbar sind. Vereinzelte Funde vergleichbarer Texte in anderen Wüstenregionen des römischen Imperium, in antiken Bergwerken im heutigen Rumänien oder in den Sümpfen Britannien legen aber inzwischen nahe, dass die Gemeinsamkeiten die Unterschiede überwiegen und die lange Tradition in Ägypten nicht überbewertet werden dar.
2 Forschungszugriff Die antiken Institutionen und Verfahren gehören wie in den anderen Epochen zu dem am besten erforschten Bereich. Insbesondere zu Rom kann man selbst in kleinsten Details auf Jahrhunderte der Forschung zurückblicken, wobei freilich immer wieder die Anwendung des in den antiken Normtexten überlieferten Rechts das primäre Ziel war und nur bestimmte Forschungsansätze wie der Humanismus des 16. Jahrhunderts oder Teile der historischen Schule im Deutschland des 19. Jahrhunderts ein vertieftes Interesse an der antiken Konfliktlösungspraxis zeigten. Diese Forschungstradition kann jedoch auch gut einhundert Jahre nach dem Ende einer unmittelbaren Geltung des römischen Rechtes noch hinderlich sein, da sich etwa Anachronismen in der Sprache kaum vermeiden lassen – hat doch so gut wie jeder Begriff der europäischen Rechtssprachen seine Prägung in einer jahrhundertlangen Diskussion über die Texte des Corpus Iuris Civilis erfahren. Hilfreich für das Verständnis der Forschung zur Konfliktlösung in der Antike ist ein Blick auf die akademischen Fachstrukturen: die in den Einzelartikeln dieses Bandes häufig anzutreffende Doppelung mit jeweils einem gesonderten Beitrag zu Rom und zu Athen ist auch der Fachtradition der juristischen Romanistik geschuldet, die es bis heute gestattet, dass das antike Recht außerhalb Roms unbeachtet bleibt – was nicht nur attisches Recht oder das Recht anderer Mittelmeeranrainer meint, sondern bereits die Rechtslage in den römischen Provinzen. Aus dieser Tradition entstammt das meisterliche Handbuch zum Römischen Zivilprozessrecht von (Kaser und Hackl 1996) und in gewisser Weise auch das immer noch nicht ersetzte Strafrecht des Althistorikers Theodor Mommsen (Mommsen 1899 [ND 1961]). Mit vergleichbarem systematisch-modernistischen Zugang beschrieb ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts (Lipsius 1905 [ND 1984]) die attischen Verfahren. Auch dieses Werk ist in seiner Quellenkenntnis und Detailreichtum bislang unersetzlich, im methodischen Zugang jedoch veraltet. Anders als in mancher modernen Überblicksdarstellung bleibt hier aber durch den direkten Quellenbeleg deutlich, was Verallgemeinerung auf dünner Quellenbasis ist und was gut dokumentiert ist. Die Erkenntnisse von antiken Formen der Konfliktlösung basieren zum einen auf literarischen Quellen, die in der Antike selbst und im Mittelalter für so wichtig
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e rachtet wurden, dass man sie weiter per Hand vervielfältigte, zum anderen auf zufällig überliefertem Material, also auf Texten auf mehrere Jahrhunderte lang stabilen Textträgern und – wenigen – Resten der materiellen Kultur. Unter den literarischen Quellen hat auch über den engeren Bereich der Rechtsgeschichte hinaus die als Corpus Iuris Civilis bekannte spätantike Zusammenstellung von Kaiserkonstitutionen, Lehrbuch und Auszügen aus Juristenschriften zentrale Bedeutung (Wieacker 1988, S. 64–182). Anhaltend bekannt waren über die Jahrhunderte auch die meisterhaften Gerichtsreden von Demosthenes und anderen aus dem Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts und von Cicero aus den letzten Jahren der römischen Republik. Erkenntnisse zur Konfliktlösung liefern aber auch zu ganz anderen Zwecken verfasste Texte, etwa Komödien, die auch den Alltag abbilden, oder die sogenannten antiquarischen Schriften, in denen bereits antike Autoren die Herkunft von Worten und Praktiken erläuterten. Zu den erst aus historischem Interesse wieder zugänglich gemachten Texten gehören auch zentrale Schriften wie das Lehrbuch des Juristen Gaius (zur spannenden Auffindung: Vano 2008), ohne das die bis in das Prinzipat üblichen Gerichtsverfahren kaum rekonstruierbar wären, oder die in der Schule des Aristoteles verfasste Athenaion politeia mit ihrer Beschreibung der attischen Massenverfahren, von der nur eine Abschrift auf Papyrus in Ägypten erhalten blieb. Dort hat sich auch einiges an Prozessmaterial erhalten, aber auch Rechtssammlungen, etwa P.Hal. 1 (Graeca Halensis 1913) mit detaillierten Regelungen etwa für das Vorgehen beim Verdacht einer Falschaussage. Für die Verfahrensweisen in den Städten außerhalb Athens und Roms sind Inschriften mit Verfahrensordnungen die wichtigste Quellengattung (→ 13. Harter-Uibopuu; → 35. Grotkamp; → 31. Lamberti).
3 Bibliographie Christ MR (1998) The litigious Athenian. Johns Hopkins University Press, Baltimore Cohen D (2000) Law, violence, and community in classical Athens. Cambridge University Press, Cambridge David J-M (1997) Die Rolle des Verteidigers in Justiz, Gesellschaft und Politik; Das Gerichtpatronat in der späten römischen Republik. In: Manthe U, Ungern-Sternberg J (Hrsg) Grosse Prozesse der römischen Antike. C.H. Beck, München, S 28–47 Gabelmann H (1984) Antike Audienz- und Tribunalszenen. Wiss. Buchges., Darmstadt Ganter A (2015) Was die römische Welt zusammenhält; Patron-Klient-Verhältnisse zwischen Cicero und Cyprian. de Gruyter, Berlin/Boston Graeca Halensis (Hrsg) (1913) Dikaiomata; Auszüge aus alexandrinischen Gesetzen und Verordnungen in einem Papyrus des philologischen Seminars der Universität Halle (Pap. Hal. 1). Berlin Grotkamp N (2018) Rechtsschutz im hellenistischen Ägypten. C.H. Beck, München Jhering R (1852–1865) Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Breitkopf, Härtel/Leipzig Kaser M, Hackl K (1996) Das römische Zivilprozessrecht. C.H. Beck, München Kolb F (2005) Die Stadt im Altertum. Albatros, Düsseldorf Krause J-U (2004) Kriminalgeschichte der Antike. C.H. Beck, München Lanni A (2016) Law and order in ancient Athens. Cambridge University Press, New York
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Teil I
Grundlagen
Kapitel 2
Access to justice: Die soziale Reichweite gerichtlicher Konfliktregulierung Benjamin Kelly
1 Überblick Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Zugang zur Justiz in der klassischen Antike. Bei der Untersuchung des „Zugangs zur Justiz“ ist zu betrachten, inwieweit Einzelpersonen und Gruppen in der Lage und bereit dazu waren, ihre Konflikte vor die staatlichen Rechtsprechungsorgane zu bringen, damit diese ihre Entscheidung gemäß der gesetzlichen Regelungen treffen konnten. Inwieweit dieser Zugang möglich war, hing von einer Kombination sozialer, kultureller und verfahrensrechtlicher Faktoren ab, die sich je nach der betreffenden Rechtskultur erheblich unterschieden. Dieses Kapitel behandelt daher einzeln die drei am besten dokumentierten altertümlichen Rechtskulturen: das klassische Athen, Rom unter der legis actio und den Formularprozessen und das Römische Reich zur Zeit der cognitio-Gerichtsbarkeit. Obwohl jede Rechtskultur ihre eigenen Besonderheiten hatte, gibt es dennoch Themen, die den untersuchten Gesellschaften gemeinsam sind. Erstens hatten alle dieser Kulturen formelle Restriktionen, die Menschen mit bestimmten bürgerlichen Status darin einschränkten oder daran hinderten, Konflikte vor Gericht zu bringen. Zweitens wurde der Zugang zur Justiz in allen klassischen Gesellschaften für einige potenzielle Prozessführer zweifellos erschwert, da sie nicht über den Reichtum oder die sozialen Ressourcen wie einen guten Ruf und ein soziales Netzwerk verfügten, die dafür erforderlich gewesen wären. Drittens entschieden sich manche Menschen freiwillig dafür, ihre Konflikte nicht vor Gericht zu bringen. Zum Beispiel lehn ten bestimmte Gruppen die staatlichen Gerichte aus ideologischen Gründen ab, und gewisse Einzelpersonen, die über den erforderlichen Wohlstand (und die Übersetzung aus dem Englischen. B. Kelly Department of History, York University, Toronto, Kanada © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_2
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e rforderlichen Muskeln) verfügten, entschieden sich vielleicht dafür, ihre Konflikte selbst zu lösen, insbesondere ihre Konflikte mit den Schwachen. Bei der Untersuchung dieser Themen wird oft deutlich, wie begrenzt unser Wissen ist. Für die modernen Gesellschaften wird der Zugang zur Justiz normaler weise mit dem vollen Spektrum sozialwissenschaftlicher Methoden untersucht, einschließlich statistischer Analysen, qualitativer Interviews und Umfragen. Für die klassische Antike sind jedoch nur sehr wenige statistisch relevante Daten erhalten geblieben. Außerdem gehörten die Autoren der literarischen und rechtlichen Texte, die erhalten geblieben sind, im Allgemeinen der Elite an und nutzten oft selbst das Rechtssystem. Es ist schwierig, die Perspektive derjenigen zu rekonstruieren, die aufgrund ihrer Armut oder einer anderen Einschränkung nicht vor Gericht gingen. Daher kann man – wie oftmals in der antiken Sozialgeschichte – nur Hypothesen auf der Grundlage bruchstückhafter Belege aufstellen und Vermutungen über die sozialen Auswirkungen der institutionellen Strukturen anstellen. Oberflächliche Verallgemeinerungen, dass die Justiz „zugänglich/nicht zugänglich“ gewesen sei, sind jedoch wenig stichhaltig.
Klassisches Athen Im klassischen Athen ( → 19. Thür; → 22. Lanni) gab es bestimmte rechtliche Status, die ihre Träger ganz oder teilweise davon ausschlossen, Fälle vor Gericht zu bringen. So konnten Sklaven vor den Athener Gerichten nicht klagen. Diese Regelung wurde möglicherweise während des vierten Jahrhunderts bei seerechtlichen Fällen gelockert, um die Durchführbarkeit des Handels zu gewährleisten (Klees 1998, S. 389; Kamen 2013, S. 13, 23). Im Allgemeinen oblag es den jeweiligen Herren, Prozesse wegen Unrechts gegenüber ihren Sklaven zu führen. (Klees 1998, S. 362 ff.). Sowohl ortsansässige Fremde (metoikoi) als auch nicht-ortsansässige Fremde konnten unter bestimmten Umständen Klage erheben (→ 13. Harter). Ab Mitte des vierten Jahrhunderts konnten Letztere seerechtliche Prozesse führen und in anderen Sachen klagen, wenn ihr Staat einen Abkommen mit Athen geschlossen hatte, das dies erlaubte. Ortsansässige Fremde (ebenso wie befreite Sklaven, die ähnliche Rechte hatten) konnten sicherlich private Prozesse (dikai) und wahrscheinlich auch öffentliche Prozesse (graphai) führen (Kamen 2013, S. 47 ff.). Abgesehen von der Beachtung der formellen Einschränkungen wurden einige metoikoi vielleicht davon abgehalten vor Gericht zu gehen, da sie nicht über die familiären oder anderen sozialen Verbindungen verfügten, die es den Bürgern normalerweise gestatteten, den Beistand von Zeugen und anderen Unterstützern vor Gericht in Anspruch zu nehmen (Patterson 2000). Frauen – sowohl Bürgerinnen als auch ortsansässige Fremde – waren davon ausgeschlossen, vor den Athener Gerichten zu erscheinen (→ 11. Grotkamp). Sie konnten jedoch vor Gericht gehen, um Erbschaften einzuklagen, sofern sie dies über ihre Vormunde (kyrioi) taten (Harris 2013, S. 10; Kamen 2013, S. 90). In manchen Fällen umgingen Frauen jedoch mitunter ihre formellen Einschränkungen, indem sie
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männliche Verwandte Klage erheben ließen und die Prozessführung aus dem Hintergrund steuerten (Hunter 1989; Foxhall 1996). Im Gegensatz zu den Frauen hatten volljährige männliche Bürger in Athen theoretisch uneingeschränkten Zugang zu den Gerichten. Die einzige große Ausnahme von dieser Regelung bezog sich auf Bürger, über die eine atimia verhängt worden war. Dies bedeutete, dass sie in Ungnade gefallen waren und dadurch einige Bürgerrechte verloren hatten, einschließlich (in manchen Fällen) das Recht auf Zugang zu den Gerichten (Kamen 2013, S. 74 f.). Doch selbst bei männlichen Bürgern mit uneingeschränkten Rechten konnten fehlende soziale und ökonomische Ressourcen den Zugang zur Justiz potenziell verhindern. Professionelle Anwälte waren vor den Gerichten verboten, sodass Prozessführer, die es sich leisten konnten, Redenschreiber (logographoi) dafür bezahlten, ihre Ansprachen zu verfassen. Es gab auch ein finanzielles Risiko, das für den Kläger mit der Prozessführung einherging. Zumindest in manchen öffentlichen und privaten Prozessen musste der Kläger ein Bußgeld bezahlen, wenn der Anteil an Geschworenen, die für den Kläger stimmten, unter einem bestimmten Niveau lag (wahrscheinlich ein Fünftel) (Harris 2013, S. 73 ff.). Bei manchen Prozessen wurde von den Anklägern auch verlangt, zu Beginn der Verhandlung eine Gerichtsgebühr oder eine Kaution zu zahlen (Harrison 1971, S. 92 ff., 179 f.). Fehlendes soziales Kapital konnte sich ebenfalls abschreckend auswirken. Manchmal wurde bei einer Verhandlung auf Dienste Bezug genommen, die der Beklagte für die Stadt geleistet hatte – sowohl finanzieller Natur als auch alle anderen Arten von Diensten (Lanni 2006, S. 59 ff.; Harris 2013, S. 127 ff.). Diese Tatsache könnte ein negativer Anreiz für eine Prozessführung für arme und wenig angesehene Personen gewesen sein, die in einen Disput mit erhabeneren Bürgern gerieten, da Letztere möglicherweise von den Geschworenen bevorzugt werden konnten.
Rom: Legis Actio und Formularprozesse Während der Römischen Republik und der frühen Römischen Kaiserzeit wurden private Fälle zunächst gemäß den legis actiones verfolgt und später in den For mularprozessen verhandelt (→ 21. Klinck). Während der späten Republik wurden Kriminalfälle (→ 23. Procchi) meist vor den ständigen Geschworenengerichten (quaestiones perpetuae) verhandelt. Ebenso wie in Athen gab es für Menschen mit besonderem rechtlichen Status formelle Einschränkungen bezüglich der Initiierung eines Prozesses. Sklaven besaßen keine Rechtspersönlichkeit und konnten daher nicht in ihrem eigenen Namen klagen oder eine Strafverfolgung einleiten (Kaser und Hackl 1996, S. 61, 205). Bürgerinnen und Bürger, die noch unter der Obhut ihres pater familias standen, konnten keine Prozesse führen. Minderjährige und Frauen, die nicht mehr unter der Obhut eines pater familias standen, benötigten trotzdem noch die Erlaubnis ihres Vormunds (tutor), um einen Prozess zu führen (→ 11. Grotkamp). Frei geborene Frauen konnten während der Römischen Kaiserzeit allerdings von der Vormundschaft freigestellt werden, wenn sie drei Kinder
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geboren hatten. Geisteskranke (furiosi) und Verschwender (prodigi) konnten Prozesse führen, benötigten dafür aber die Zustimmung der Person, die eine Pflegschaftsvollmacht über sie besaß (der curator) (Kaser und Hackl 1996, S. 62, 217). Grundsätzlich hing der Zugang zur gerichtlichen Justiz für unter patriarchaler Obhut, Vormundschaft und Pflegschaft stehende Menschen von der Beschaffenheit ihrer Beziehung jeweils zu ihren patres familiarum, Vormunden oder den Inhabern der Pflegschaftsvollmacht ab. Der Zugang war also nicht garantiert. Bürger, über die eine infamia verhängt worden war, hatten ähnlich wie die Athener atimoi aufgrund unehrenhaften Verhaltens bestimmte bürgerliche Rechte verloren. Sie konnten private Klagen vorbringen und eine Strafverfolgung einleiten, aber nur in Angelegenheiten, die direkt ihre eigenen Interessen betrafen (Kaser 1956). Für Frauen galt eine ähnliche Einschränkung. Mit wenigen Ausnahmen konnten sie nicht im Namen anderer in privaten Fällen klagen oder Strafverfolgungen für Verbrechen einleiten, die gegen andere begangen worden waren (Digesta 3.1.1.5). In der Ehebruchgesetzgebung von Augustus waren Frauen beispielsweise davon ausgeschlossen, gegen den Ehebruch ihrer eigenen Männer zu klagen (Codex Iustinianus 9.9.1). Ortsfremde (peregrini) (→ 14. Baldus) hatten anscheinend anfänglich keinen Zugang zu den römischen Gerichten, da Nicht-Römer das Verfahren des legis actio nicht nutzen konnten. Die lateinisch sprechenden Nachbarn Roms wurden als Ausnahme angesehen (Wieacker 1988, S. 264 f., 438 ff.; Kaser und Hackl 1996, S. 61). Ab einem bestimmten Punkt war es jedoch für Ortsfremde möglich, sich an einen Prätor zu wenden, der befugt war, über Fälle zu entscheiden, die Ortsfremde betrafen. Dabei wurde ein Verfahren angewandt, das dem Formularverfahren ähnelte, das die Bürger später bei privaten Fällen verwendeten und das möglicherweise sogar dessen Vorläufer war (Wieacker 1988, S. 439 ff.). Zu wissen, dass man anwendbare Rechte hat, ist selbstverständlich eine weitere, fundamentale Voraussetzung für den Zugang zur Justiz. Einige Schätzungen des Niveaus rechtlichen Wissens unter der allgemeinen Bevölkerung des Römischen Reiches fielen recht optimistisch aus (Crawford 1988; Kantor 2009). Aber für die Anwendung dieses wie auch immer beschaffenen Wissens war die Konsultation professioneller Rechtsexperten erforderlich, für die man Geld oder die richtigen sozialen Verbindungen benötigte. Verschiedene Quellen zeigen auch, dass es von Schirmherren erwartet wurde, ihren Klienten das Gesetz zu erklären (Dionysius von Halicarnassus, Antiquitates Romanae 2.10.1; Horatius, Epistulae 2.1.104), sodass auch ein wohlwollender Schirmherr einer Person dabei helfen konnte, ihre Rechte auszuüben. In der Praxis gestalteten verschiedene Eigenheiten des legis actio und der Formularprozesse (→ 21. Klinck) die Justiz potenziell weniger zugänglich für Menschen, die nicht über die erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen verfügten, insbesondere, wenn ihre Gegner reicher und mächtiger waren. Das Zwölftafelgesetz gab den Klägern das Recht, Beklagte, die ihr Erscheinen verweigerten, gewaltsam vor Gericht zu bringen und Urteile zu vollziehen, indem sie gegebenenfalls körperliche Gewalt anwendeten (XII Tafeln 1.1–3, 3.1–3). Es deutet
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jedoch nichts darauf hin, dass der Staat während der Römischen Republik oder der frühen Römischen Kaiserzeit die Kläger, deren Gegner sich weigerten, vor Gericht zu erscheinen oder das Urteil anzunehmen, konkret unterstützte. In diesem System wurde (unrealistischerweise) davon ausgegangen, dass alle Kläger stark genug waren, um Selbsthilfe auszuüben (Kelly 1966, S. 1 ff.; Garnsey 1970, S. 187 ff., 204 f.; → 4. Marino). Vor Gericht zu gehen, bedeutete in diesem Zeitalter auch einen finanziellen Aufwand. Unter einem der altertümlichen Gerichtsverfahren, die für private Rechtsprechung angewandt wurden (das legis actio sacramento), mussten sowohl Kläger als auch Beklagter zu Beginn der Verhandlung eine Kaution zahlen, die der im Prozess Unterlegene verlor. Später mussten die Parteien das Geld offenbar nicht mehr zu Beginn der Verhandlung bereitstellen, sondern die Zahlung vornehmen, wenn sie den Prozess verloren (Kaser und Hackl 1996, S. 81 ff.). Die zu zahlenden Summen waren fest, sodass sie durch die Inflation schließlich geringer wurden. Zur Zeit der frühen Römischen Republik waren sie jedoch beträchtlich (Kelly 1966, S. 82). Sobald die legis actiones von den Formularprozessen ersetzt wurden, verschwand diese Praxis. Die Ressourcen der Prozessführenden waren auch insofern bedeutsam, dass sie den Zugang zu einer gerichtlichen Vertretung bestimmten. Bis zur Herrschaft des Kaisers Claudius sollten Anwälte für ihre Dienstleistungen eigentlich kein Geld verlangen, viele taten es aber trotzdem (Crook 1995, S. 123 ff.; Haensch 2015, S. 267). Die besten Anwälte neigten dazu, für Einzelpersonen zu arbeiten, die freundschaftlich oder per Patronat mit ihnen in Verbindung standen, sodass solche Beziehungen eine wichtige Rolle dabei spielten, eine hochwertige Vertretung zu bekommen (Crook 1995, S. 122 f.). Andererseits gibt es Hinweise auf Prozessführende, die keinen Anwalt finden konnten, der bereit war, sie zu vertreten, da ihre Gegner beängstigend mächtig waren (Plinius, Epistulae 5.4, 5.13; Digesta 3.1.1.4 [Ulpianus]). Abgesehen davon, dass es bedeutsam für das Vorbringen eines Falls und das Erhalten einer Vertretung war, konnten soziale und ökonomische Ressourcen auch eine eher im Verborgenen stattfindende Rolle spielen. Bestechung war keine Seltenheit, sondern bestimmte offenbar oftmals über die Urteile der Geschworenen an den Gerichten der Republik sowie die der Richter bei privaten Prozessen (Kelly 1966, S. 33 ff.). Es gibt ebenfalls Hinweise darauf, dass Prätoren jegliche Rechtsmittel verweigern konnten, wenn die Klage von einer Person mit niedrigem Status gegen eine Person mit hohem Status vorgebracht wurde, insbesondere, wenn das Rechtsmittel die Gefahr barg, den Ruf des Letzteren zu schädigen (Garnsey 1970, S. 181 ff.). Ein ungleicher Status zwischen den Rechtsparteien konnte einen Richter auch veranlassen, sich über das geschriebene Gesetz hinwegzusetzen, um zu gewährleisten, dass die angesehenere Partei nicht verlor (vgl. Aulus Gellius, Noctes Atticae 14.2.22). Bei einer zivilen Klage im Rahmen eines Formularprozesses war ein iudex manchmal berechtigt, die Höhe des Schadenersatzes festzulegen. In solchen Fällen gab es oftmals die Tendenz, den Sachverhalt zugunsten der Rechtspartei mit dem höheren Status zu entscheiden (Garnsey 1970, S. 197 ff.). Soziale Verbindungen mit einflussreichen Personen konnten sich ähnlich auswirken. Es sind
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Schreiben erhalten, in denen politisch mächtige Männer wie Cicero und Fronto ihre Schutzbefohlenen den Richtern empfehlen, vor denen sie erscheinen sollten (Kelly 1966, S. 56 ff.). Verbindungen zu Menschen mit hohem Status, die bereit waren, zugunsten eines Prozessführenden auszusagen, konnte einen Richter oder eine Geschworenengruppe ebenfalls überzeugen, da ein hoher sozialer Status die Glaubwürdigkeit des Zeugen verbesserte (Garnsey 1970, S. 210 ff.).
Römische Kaiserzeit: Cognitio-Gerichtsbarkeit Die zunehmende Verbreitung der cognitio-Gerichtsbarkeit (→ 12. Tuori) während der hohen Römischen Kaiserzeit sollte nicht als radikaler Umbruch in Bezug auf den Zugang zur Justiz angesehen werden. Zum Beispiel bestanden die meisten formellen Regeln über die Möglichkeiten zur Einreichung von Klagen, die es in früheren Zeiten gegeben hatte, mit einigen kleinen Änderungen weiter fort. Des Weiteren gehörten die Menschen, die über Fälle urteilten, noch immer der Oberschicht der römischen Gesellschaft an, sodass Standesdünkelei, Einflussnahme und Machtverhältnisse noch immer die gleichen verfälschenden Auswirkungen auf die Rechtsprechung hatten wie im vorherigen Zeitalter. Der Jurist Ulpian erkannte diese Tatsache und forderte die Statthalter dazu auf, ungerechte Bevorteilung, die Menschen von hohem Stand (honos) und mit großer Macht (potentia) genossen, abzuschaffen und die Angehörigen des Mittelstandes (mediocres) zu schützen (Digesta 1.16.9.4–5). Geld spielte bei der Prozessführung weiterhin eine Rolle. Man findet Hinweise darauf, dass Statthalter und andere cognitio ausübende Amtspersonen während der hohen Römischen Kaiserzeit Bestechungsgelder annahmen (z. B. Plinius, Epistulae 2.11). In Quellen aus der späten Antike gibt es oft Hinweise auf Richter, die sich von Bestechung (und anderen Formen unrechtmäßiger Einflussnahme) umstimmen ließen – obgleich manche dieser Behauptungen vermutlich Zeugnisse rhetorischer Strategien sind und nicht unbedingt die Realität widerspiegeln (Harries 1999, S. 153 ff.). Es gibt auch Hinweise, dass die Gerichtskosten von den Prozessparteien gezahlt werden mussten. Für die Spätantike wissen wir aus den Rechtskodifizierungen und aus zwei Inschriften (SEG 53, 1841 = AE 2003, 1808; CIL 8, 17896) über Versuche nicht nur die Gerichtskosten, die in verschiedenen Phasen eines Rechtsstreits zu zahlen sind, zu regulieren, sondern auch die Gebühren der Beamten für das Kopieren der offiziellen Protokolle der Anhörungen und die Anwaltskosten. Die Beweise aus Inschriften und juristischen Quellen wurden als Hinweis darauf gewertet, dass diese Kosten für normale Provinzbewohner recht hoch waren (Di Segni et al. 2003, S. 293). Es gibt Indizien, dass Prozessführende im Prinzipat Gebühren zahlten mussten, obwohl es keine eindeutigen Beweise für offizielle Versuche gibt, diese zu regulieren. Die gegenwärtige Quellenlage lässt keine klare Schlussfolgerung zu, dass die Prozesskosten in der Spätantike höher waren (Haensch 2015). Status und Reichtum wirkten sich möglicherweise auch darauf aus, an welches spezifische Tribunal sich eine Einzelperson mit einer Klage wandte. Obwohl es kein
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formales Verbot für Menschen mit niedrigem Status gab, sich an das kaiserliche Tribunal zu wenden, war dies wohl vor allem nur für Provinzbewohner möglich, die wohlhabend genug waren, um zum Kaiser zu reisen, und die ausreichend Ansehen besaßen, sich auch Gehör zu verschaffen (Garnsey 1970, S. 67 ff.). Man vermutet ebenfalls, dass die Menschen mit höherem Status, die sich an wichtige Amtsper sonen wandten, die das cognitio ausübten, eine bevorzugte Behandlung erfuhren (Garnsey 1970, S. 90, 98). Andererseits bot die Verbreitung der cognitio-Gerichtsbarkeit den ärmeren Prozessführenden gewisse Vorteile. Anders als der Prätor wandten die Statthalter und Magistraten, die das cognitio ausübten, die ihnen zur Verfügung stehende Arbeitskraft dafür auf, bei einem widerspenstigen Beklagten die gerichtliche Vorladung durchzusetzen und das Urteil zu vollstrecken. Es wurde also nicht mehr vorausgesetzt, dass die Prozessführenden Selbsthilfe ausüben würden (Kelly 1966, S. 29 f.; Garnsey 1970, S. 204). Die Mobilität der Statthalter während ihrer jährlichen Überprüfungsrundreisen (conventus) waren für einige potenzielle Prozessführende hilfreich. Juristen und Gesetzgeber diskutieren bestimmte Kontexte, in denen Prozessführende für Verfahrensfehler, die aus rusticitas („rustikaler Einfachheit“) entstehen, vergeben werden konnte (Mayer-Maly 1982); dies weist auf die Annahme hin, dass einige Prozessführende aus subelitären, ländlichen Verhältnissen stammen würden. Andererseits wäre der Zugang solcher Menschen zu den conventus Gerichten von ihrem Wohnsitz oder ihrer Fähigkeit zu reisen abhängig gewesen: nur wenige Städte waren conventus-Zentren (vgl. Haensch 1997). Prozessführende mussten auch bereit sein, für einen unbestimmten Zeitraum an einem conventus-Zentrum zu warten, da die Reihenfolge, in der ein Statthalter die Fälle anhörte, nicht im Voraus angekündigt wurde – und nachweislich ebenfalls durch die soziale Stellung oder Bestechung beeinflusst werden konnte (Burton 1975, S. 99 ff.). In bestimmten Provinzen (→ 26. Kantor) gab es auch Alternativen zum Statthaltergericht. Zumindest war es einigen lokalen Gemeinschaften erlaubt, bestimmte Formen der Rechtsprechung unter dem römischen Gesetz durchzuführen (Fournier 2010). In manchen Provinzen – beispielsweise in Ägypten – gab es auch dem Statthalter gemäß der örtlichen juristischen Hierarchie unterstellte Amtsmänner, die der Voruntersuchung eines Falls beiwohnen konnten, Fälle nach einer Delegation durch den Statthalter anhören konnten oder sogar Festlegungen aushandeln konnten, die technisch gesehen nicht gerichtlich waren (Kelly 2011, S. 78 ff.). Im späten Altertum fungierten als defensores civitatis bezeichnete Amtspersonen als Richter bei minderschweren zivilen Sachverhalten. Dies stellte vermutlich eine zugängliche Form der Gerichtsbarkeit für diejenigen dar, die zu arm für den Zugang zu höheren Gerichten waren (Harries 1999, S. 54). Anhand der Quellen für die hohe Römische Kaiserzeit und (insbesondere) die Spätantike lässt sich ebenfalls erkennen, wie die Angehörigen bestimmter Gruppen und Gemeinschaften die Rechtsprechung durch Staatsvertreter gänzlich umgingen. Einige Mitglieder der jüdischen Gemeinschaften zogen es offenbar vor, ihre Konflikte von jüdischen Patriarchengerichten beilegen zu lassen. Diese Praxis war von den römischen Autoritäten in der Spätantike rechtlich anerkannt, zumindest bei zivilrechtlichen Fällen (Harries 2003). Für christliche Gemeinschaften gab es
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b iblische Ermahnungen gegen den Rückgriff auf staatliche Gerichte (Matthäus 18.15–17; 1 Korinther 6.1–8). Diese suchten stattdessen bischöfliche Anhörungen der vorkonstantinischen Kirche auf. Auch in der Spätantike waren die Bischöfe weiterhin bei der Beilegung von Konflikten aktiv (→ II.12. Kery), wobei zahlreiche Versuche unternommen wurden, diese Rechtsprechung mit der säkularen Rechtsordnung zusammenzulegen (Harries 1999, S. 191 ff.; Haensch 2007, S. 162 ff.). Ferner sind mehrere Kopien der Satzungen von freiwilligen Verbänden aus der Römischen Kaiserzeit auf Papyrus oder Inschriften erhalten geblieben. Manche von ihnen verbieten es ihren Mitgliedern, einander vor Gericht zu verklagen und sehen Mechanismen für eine interne Konfliktlösung vor (Edsall 2013, S. 32 f.).
2 Kernprobleme der Forschung Klassisches Athen Von einigen Ausnahmen abgesehen hat sich der wissenschaftliche Diskurs vor allem auf die Möglichkeiten des Zugangs zu den Athener Gerichten für männliche Bürger konzentriert. Diese Frage wurde in der grundlegenden Diskussion über die Beschaffenheit der Athener Rechtskultur aufgegriffen. Daher argumentiert Lanni (2006), dass sich die Athener Gerichtsverfahren dadurch auszeichneten, dass sie informell waren, die Relevanzbegriffe breit gefasst waren und die Geschworenen dazu neigten, eher in eigenen Ermessen zu entscheiden, als das Gesetz konsequent anzuwenden. Sie vermutet, dass dies bedeutete, dass der Zugang zu Rechtsmitteln für die armen Bürger dadurch erleichtert wurde: Auch mit einem sehr kleinen Rechtswissen konnten sie vor Gericht gehen und ihre Anliegen vorbringen (Lanni 2006, S. 178). Paradoxerweise argumentiert Harris, dass sich die Geschworenen streng an die schriftlichen Gesetze hielten, schlussfolgert aber, dass dies die Gerichte dazu bewegt habe, die Menschen eher gleichberechtigt zu behandeln und die Armen vor Einschüchterung durch die Reichen geschützt habe (Harris 2013, S. 136–137). Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler standen der Frage, ob die Athener Gerichte wirklich arme Prozessführende anzogen, pessimistischer gegenüber. Manche wiesen darauf hin, dass es kaum Belege für Prozesse gibt, die von nachweislich armen Athenern geführt wurden (Johnstone 1999, S. 19; Kamen 2013, S. 10). Man darf dabei jedoch nicht vergessen, dass unser Wissen über die Gerichtsprozesse vorwiegend aus Dokumenten stammt, die von angesehenen logographoi im Namen der Rechtsparteien geschrieben wurden. Wenn sich ärmere Prozessführende keine Redenschreiber leisten konnten, bedeutet dies nicht, dass es sie nicht gab. Bei der Diskussion des Zugangs zur Justiz für Athener Bürger, die den niedrigeren Klassen angehörten, waren auch verfahrensrechtliche Unterschiede wichtig. Verschiedene antike Quellen bemerken, dass der gleiche Sachverhalt manchmal in zwei oder mehr verschiedenen Verfahren verhandelt wurde. Sie interpretieren dies
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als Maßnahme, um Bürgern mit wenigen Ressourcen oder Rechtswissen einen risikoarmen Zugang zur Justiz zu ermöglichen (Demosthenes 22.25 ff.). Auch die Tatsache, dass bei öffentlichen Gerichtsprozessen (graphai) jeder erwachsene männliche Bürger klagen konnte, wurde so interpretiert, dass dadurch eine Strafverfolgung gegen Verbrechen eingeleitet werden konnte, bei denen Mitbürger geschädigt worden waren, die ihre Anklage nicht selbst vorbringen konnten ([Aristotles] Athenaion Politeia 9; Plutarchus, Life of Solon 18; vgl. Humphreys 1983, S. 239). Osborne (1985) hat diese antiken Sichtweisen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen den Prozessen und dem Zugang zur Justiz untersucht. Er argumentiert, dass graphai eher selten von einer anderen Partei als dem Opfer des Verbrechens vor Gericht gebracht wurden (Osborne 1985, S. 48 ff.). Allerdings spricht Osborne Demosthenes’ Vermutung mehr Glaubwürdigkeit zu, dass die Ankläger das Verfahren wählen konnten, das am besten zu ihrer tatsächlichen sozialen Stellung sowie zu ihrer Stellung im Verhältnis zu den Beklagten passte (Osborne 1985, S. 52 ff.). Es wurde jedoch betont, dass nicht für jede Fallkategorie eine Wahl des Verfahrens zur Verfügung stand (Johnstone 1999, S. 7). Ganz abgesehen von den Geschworenengerichten gab es im klassischen Attika noch die diskastai kata demous. Dabei handelte es sich um Richter, die zur Anhörung minderschwerer Fälle befugt waren. Dies wurde als Verfahren betrachtet, das ärmeren Menschen eine zugänglichere Form der Justiz bot (Kahrstedt 1939, 8 ff.; Humphreys 1983, S. 240 f., 247 f.).
Rom: Legis Actio und Formularprozesse Ebenso wie für das klassische Athen stand der erschwerte Zugang zur Justiz für arme und wenig angesehene männliche Bürger im Mittelpunkt des Diskurses über die Römische Republik und das frühe Römische Kaiserreich. Ein Meilenstein war J. M. Kellys Untersuchung der sozialen Realitäten der römischen Prozessführung zu dieser Zeit (Kelly 1966). Kellys Gesamtbewertung fiel düster aus. Er konzen trierte sich insbesondere auf die Schwierigkeiten, mit denen ärmere Kläger bei der gerichtlichen Vorladungen sowie der Vollstreckung der Urteile gegenüber stärkeren Gegnern zu kämpfen hatten. Diese Bewertung löste eine rege Diskussion aus, in deren Rahmen Garnsey und einige Kritiker Kellys einen Punkt betonten, den Kelly anerkannt, aber heruntergespielt hatte (vgl. Kelly 1966, S. 20 ff.): die mögliche Bedeutung außergerichtlicher sozialer Institutionen und Bräuche zur Unterstützung eines schwachen Prozessführers. Daher, so wurde argumentiert, konnte ein Patron eines Prozessführers diesen gegen einen widerspenstigen Gegner unterstützen, oder es wurden gemeinschaftliche Traditionen der Volksjustiz angewandt, um solch einen Gegner so sehr zu beschämen, dass er nachgab. Außerdem riskierten Beklagte, die sich einer Vorladung widersetzten, eine prätorische oder zensorische infamia, und ihr Ruf konnte auch auf weniger förmliche Arten geschädigt werden (Garnsey 1970, S. 187 ff.).
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Römische Kaiserzeit: Cognitio-Gerichtsbarkeit Aus der hohen Kaiserzeit und der Spätantike sind Hunderte von Bittschriften an provinzielle Amtspersonen auf ägyptischem Papyrus erhalten. In den Gesetzbüchern ist sogar eine noch größere Anzahl kaiserlicher Reskripte erhalten, die als Antwort an Bittschriften erstellt wurden, die den Kaisern vorgelegt worden waren. Bittschriften waren im Allgemeinen nicht der letzte Schritt in einem Fall: In den ägyptischen Bittschriften wurde oft um eine Voruntersuchung oder eine administrative Maßnahme gebeten. Die kaiserlichen Reskripte entscheiden über rechtliche Fragen, die dafür bedeutsam sind, ob die Klage vor einem unteren Gericht angehört oder kaum beachtet (oder auch nur angedroht) wurde. Ein Teil der Bittsteller bei den Kaisern oder provinziellen Autoritäten erhielten nie ein abschließendes Urteil. Dennoch zeigen uns diese Quellen zahlreiche konkrete Fälle, in denen sich Menschen an kaiserliche oder provinzielle Autoritäten wandten und um irgendeine Art von Urteil baten, das bei der Lösung ihrer Konflikte helfen sollte. Die ägyptischen Bittschriften für den Zeitraum 30 v. Chr. bis 284 n. Chr. waren Gegenstand einer jüngeren Studie (Kelly 2011). Diese Texte enthalten oft Hinweise auf den sozialökonomischen Status des Bittstellers, und manche sind in persönlichen Archiven erhalten geblieben. Die ägyptischen Bittsteller gehörten meist weder dem allerhöchsten Rang der provinziellen Elite noch der ärmsten gesellschaftlichen Unterschicht an. Ihre Konflikte drehten sich zumeist um wirtschaftliche Streitfragen, also handelte es sich – wenig überraschend – um Menschen mit zumindest einem kleinen Vermögen. Zum Beispiel besaßen sie kleine Parzellen von Ackerland oder dörflichen Grundbesitz, oder sie waren Handwerker oder Priester, die für die Einkünfte des Tempels verantwortlich waren. Die grundsätzliche Alphabetisierungsrate scheint unter denjenigen, die Bittschriften einreichten, höher zu sein als unter der allgemeinen Bevölkerung, war aber gemäß modernen Maßstäben noch nicht besonders hoch (Kelly 2011, S. 127 ff., 150 ff.). Der Anteil an Frauen, die Bittschriften einreichten, war gering – er lag im untersuchten Zeitraum bei 14 %. Dieser Anteil steigt auf ungefähr 20 %, wenn Fälle von Männern, die im Namen weiblicher Verwandter klagten, mit eingeschlossen werden. Diese verhältnismäßig geringen Anteile spiegeln wahrscheinlich eher die Aktivität der Frauen in wirtschaftlichen Angelegenheiten wider als formale Einschränkungen (Kelly 2011, S. 229 ff.). In einer Reihe von Beiträgen untersuchte Huchthausen aus einer soziologischen Perspektive Reskripte an private Einzelpersonen aus dem zweiten, dritten und vierten Jahrhundert, die im Codex Iustinianus erhalten geblieben sind. Dabei kommt den Reskripten, die sich an Frauen und Soldaten richteten, besondere Beachtung zu (Huchthausen 1973, 1974, 1976, 1992). Bis 284 n. Chr. sind nur 20 % dieser Reskripte Antworten auf Bittschriften, die dem Kaiser von Frauen vorgelegt worden waren. Diese Zahl steigt auf ungefähr 30 % während Diokletians Herrschaft (Huchthausen 1974, S. 203 f., 1976, S. 55; vgl. Corcoran 1996, S. 105). Huchthausens Analyse zeigt, dass es sich bei den Bittstellerinnen zwar durchaus auch um einige sehr wohlhabende Frauen aus den höchsten gesellschaftlichen Schichten handelte,
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aber auch Frauen mit relativ bescheidenen wirtschaftlichen Hintergründen darunter waren sowie solche, deren Vermögen offensichtlich im Verschwinden begriffen war (Huchthausen 1974, S. 214 ff., 1976, S. 60 ff.). Sie kam außerdem zu dem Schluss, dass Bittschriften nicht den Inhaberinnen der hohen bürgerlichen Status vorbehalten waren. Bei einer beträchtlichen Anzahl von Frauen handelte es sich definitiv oder wahrscheinlich um freigelassene Sklavinnen. Manchmal war auch der freie oder versklavte Status einer Frau (oder der eines Verwandten) Gegenstand des Konflikts (Huchthausen 1974, S. 208 ff., 1976, S. 61 f.). In jüngerer Zeit haben Corcoran (1996) und Connolly (2010) die kaiserlichen Reskripte aus dem tetrarchischen Zeitalter untersucht. Connolly identifiziert die Bittsteller, an die Reskripte gerichtet waren, zumeist als Angehörige des „mittleren Standes“. In diese Kategorie schließt sie die Menschen ein, die (normalerweise) finanziell unabhängig waren und die über ausreichenden Geldmittel verfügten, um die Kosten der Bittschriften und eventuell der Prozessführung zu zahlen – Menschen wie der „kleinwirtschaftliche Landwirt, der Inhaber eines kleinen Unternehmens oder das Stadtratsmitglied“ (Connolly 2010, S. xiii f., 68 ff.). Die Soldaten sieht Connolly in ihrer Erhebung ebenfalls als „Soldaten mittleren Ranges“, und auch die Frauen (die 26 % der Erhebung ausmachen) sind von mittlerem sozialen Stand (Connolly 2010, S. 75 ff.). Connolly vermutet, dass die beinahe gänzliche Abwesenheit von Angehörigen des Senatoren- und des Equesstandes ein Indiz dafür ist, dass dieser Elite andere Methoden für die Lösung ihrer Konflikte zur Verfügung standen und sie daher keine Bittschriften benötigte (Connolly 2010, S. 73). Wissenschaftliche Analysen der Bittschriften und Reskripte stellen einen wichtigen Kontrast zu dem eher düsteren Bild des verzerrenden Einflusses von Wohlstand und Status auf die Prozessführung dar, das die moderne Literatur zu diesem Thema teilweise zeichnet. Was die kaiserlichen Reskripte angeht, so schlussfolgert Corcoran, dass „wenn das System auch die Reichen und Mächtigen bevorzugt haben mag, dennoch die im Altertum normalerweise als die benachteiligt angesehen Menschen wie Frauen und Sklaven durchaus der Lage waren, das Reskript-Verfahren zu verwenden, um ihre eigenen Fälle geltend zu machen“ (Corcoran 1996, S. 114). Diese Quellen erinnern uns daran, dass viele Konflikte zwischen Menschen mit einem ähnlichen Status entstanden, deren Reichtum und Einfluss einigermaßen ausgeglichen waren. In solchen Fällen erschien das Aufsuchen eines staatlichen Vertreters für die Lösung eines Konflikts eindeutig weniger hoffnungslos.
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Kapitel 3
Rache
Egon Flaig
1 Überblick Die Gemeinwesen der klassischen Antike schafften es, die Blutrache zu überwinden und die interne Gewalt auf einen sehr niedrigen Pegel zu senken. Um diese Errungenschaft zu erklären, bedarf es einiger grundsätzlicher Überlegungen.
Bisherige Konzepte und ein „anderer“ Ansatz Gesellschaften, die von blutigen Fehden zerfetzt werden, fallen politisch, ökonomisch, kulturell und in mancher Hinsicht auch moralisch zurück. Die Begrenzung der internen Gewaltsamkeit ist fundamental für die Chancen kultureller Entwicklung. Dieser Sachverhalt ist im vergangenen Jahrhundert meist nicht in derselben Schärfe gesehen worden. Vor einem knappen Jahrhundert waren manche Rechtshistoriker der Ansicht, dass die blutige Selbsthilfe erst in der Moderne als Bedrohung der Gesellschaft wahrgenommen wurde.1 Diese evolutionistische Vorstellung ist angesichts des umfangreichen ethnologischen Materials nicht mehr zu halten. Auch hat sich die Herleitung der Rache aus einer spezifischen Rachementalität als Irrweg So schrieben Bonner und Smith 1930 über die Rache in der griechischen Archaik: „The idea that murder is a menace to society is modern; in Homer it is regarded as the concern of the relatives alone and such partisans as they can assemble“ (Bonner und Smith 1930, S. 25). Ähnlich: Calhoun 1962, S. 440. 1
E. Flaig Heinrich-Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_3
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erwiesen (so noch Gehrke 1987). Die funktionalistische Annahme, Rache und Fehde seien vergesellschaftende Faktoren, ähnlich wie die Konkurrenz der simmelschen Soziologie, und leisteten gar eine cohesive force, darf desgleichen als widerlegt gelten (Elster 1989, S. 872–880). Die strukturalistische These, wonach Rache und Fehde als „negative Reziprozität“ zu begreifen seien, symmetrisch zur positiven Reziprozität beim Tausch der Gaben, der Worte, der Frauen und der Symbole, und sowohl vergesellschaftend wirkten als auch „Gleichheit durch Gegenseitigkeit“ herstellten (Clastres 1980, S. 183–185; sowie Sigrist 1978; Verdier 1980; Eßbach 1999), wirft Zweifel auf, die im Folgenden zu Wort kommen sollen. Ein „anderer“ Ansatz ergibt sich, wenn man ein altes Anliegen der politischen Philosophie aufnimmt: Erstens sind menschliche Ordnungen prekär, ihre Einrichtung erfordert Kosten, ihr Kollaps verursacht noch weit schlimmere; zweitens ist eine bestimmte Kohäsion vonnöten, damit überhaupt handlungsfähige Gemeinschaften existieren können (Hoebel 1954; Girard 1972; Flaig 1997, 1998). Gesellschaften, die unter Blutrache leiden, mögen eine gewisse kulturelle oder religiöse Zusammengehörigkeit pflegen. Doch es sind keine Gemeinschaften, d. h. keine politisch handlungsfähige Kollektive. Wie stark der Zusammenhalt einer Gemeinschaft ist und wie wirksam ihre kooperativen Normen sind, das lässt sich daran abzulesen, wie sie die Vergeltung von Mord oder Tötung regelt. Unter Umständen kann eine Gesellschaft – trotz Fehden und Rachezyklen – lose organisiert jahrhundertelang fortbestehen, wenn sie Glück hat. Sie kann sich auch rasch selber auslöschen. Entscheidend ist, ob die Eskalation vermieden werden kann oder nicht. Blutrache eskaliert nur dann nicht, wenn sie strengen Regeln unterliegt. Solche Regeln durchzusetzen bedarf es nicht notwendigerweise einer zentralen Autorität; aber es bedarf eines hohen Normenkonsenses und der Bereitschaft der gesamten Gemeinschaft, den Normen stets, nicht nur fallweise, Geltung zu verschaffen und die Regeln in jedem Falle, nicht nur gelegentlich, durchzusetzen. Dies gerade dann, wenn eine zentrale Autorität fehlt (Colson 1975, S. 38–52).
Erste Differenz: talio und Überbietung Viele Untersuchungen zur Rache übergehen den Unterschied zwischen talio und Überbietung. Die ältere Literatur beachtet ihn gelegentlich und sieht hier die Trennlinie zwischen einem Konfliktverhalten, das sich gegen jegliche Verrechtlichung sträubt und einem solchen, das sich verrechtlichen lässt (siehe Hirzel 1902, S. 91 f.). Diese Differenz ist wieder in die Diskussion einzuholen, allerdings entleert von allen Ideologemen moralischer Evolution; stattdessen ist sie zu soziologisieren. Die Überbietung – das „doppelte Zurückschlagen“ – ist das Prinzip der Eskalation. Idealiter verdoppelt jeder Gegenschlag das Ausmaß der Schädigung. Unabhängig davon, wer angefangen hat, ist immer der zuletzt Getroffene weit schwerer geschädigt als der andere. Und das heißt, der zuletzt Geschädigte kann nicht aufhören, wenn er nicht beträchtliche Nachteile erleiden will. Daraus ergibt sich, dass die beiden Kontrahenten aus der Spirale von Schlag und Gegenschlag nicht mehr he
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rauskommen. Diese Spirale führt außerdem mit zwingender Notwendigkeit zum Blutvergießen und zur vollständigen Auslöschung einer der beteiligten Seiten, falls sie nicht unterbrochen wird. Sie bedroht direkt das Zusammenleben auch der anderen Mitglieder der Gemeinschaft. Da sie von den Beteiligten nicht mehr stillzustellen ist, kann nur der Eingriff Dritter helfen (Flaig 1997). Anders die talio. Ganz buchstäblich genommen verlangt sie, dass nur qualitativ Gleiches mit qualitativ Gleichem vergolten werden darf. Als Prinzip hat die talio einen außerordentlichen Vorteil: es ermöglicht jedem der beiden involvierten Kontrahenten, aus der Kette von Schlag und Gegenschlag auszusteigen und ein Friedensangebot zu machen (Otto 1996). Warum? Wenn man sich das bildlich vorstellt, dann ist im Zickzack von Schlag und Gegenschlag die Amplitude idealiter immer gleich groß; keiner der beiden verliert notwendigerweise an Gütern oder Ansehen, wenn er aussteigt. Die talio ist demnach eine von mehreren soziologischen Möglichkeiten, die Vergeltung so einzugrenzen, dass sie der Gemeinschaft nicht gefährlich wird. An dieser Stelle ist die besondere Rolle der Ehre zu beachten. Die Überbietung taucht nur dort als Vergeltungsmaxime auf, wo eine Gesellschaft die Ehrwahrung nicht wirksam begrenzen will oder kann. Hegel hat diesen verhängnisvollen Charakter eines unbegrenzten Ehrbegriffs erkannt: Wenn die Ehrverletzung inkommensurabel wird, dann werden alle Möglichkeiten, eine Ehrminderung sozial zu verrechnen und zu kompensieren, extrem prekär. Dann bestimmt die subjektive Willkür des Gekränkten, wieweit die Vergeltung gehen soll.2 Damit fokussiert Hegel das asoziale, gemeinschaftszerstörende Moment einer Ehrwahrung, die sich von sozialer Kontrolle nicht einhegen lässt. Wenn die Ehre sich keinem anderen Wert unterordnen muss, dann erlangt das normative Gefüge der Gesellschaft keine Stabilität, die ausreicht, die sozialen Beziehungen weitgehend frei von blutigen Konflikten im Innern zu halten. In der historischen Realität kann die Ehrwahrung nur selten dermaßen unkontrolliert auftauchen; denn keine soziale Gruppe kann es ihren Individuen anheimstellen, selber die Grenzen ihrer Ehre willkürlich festzulegen, falls sie nicht riskieren will, sich aufzulösen. Was als Ehrverletzung anzusehen ist und was nicht, ist stets sozial definiert, auch wenn die Definitionen umstritten sind. Jedenfalls ist die Ehrwahrung einzugrenzen, also übergeordneten Normen zu unterstellen, damit das Talionsprinzip überhaupt praktisch werden kann. Zwar hängen die evolutiven Chancen einer Gemeinschaft davon ab, ob es gelingt, die Vergeltungspraxis einzugrenzen. Doch dem entspricht keine zeitlich- lineare Abfolge von moralischen Zuständen. Maßgeblich ist die Kohäsion, also die Art und Weise, wie Gesellschaften ihren Zusammenhalt organisieren; und solche Kohäsion kann je nach den Umständen wieder abnehmen oder zunehmen.
„Denn wieweit ich und in bezug worauf ich die Forderung ausdehnen will, beruht rein in meiner Willkür …“ (Moldenhauer und Michel 1970, S. 180). Hegel rechnet diese Ehre dem modernen ‚romantischen‘ Subjekt zu (S. 177) – ein Irrtum. Seine Sätze über die potenzielle Grenzenlosigkeit der Ehre und der Ehrwahrung enthalten soziologische Aussagen, die sich in die Analyse einholen lassen, wofern man sie aus dem diskursiven Zusammenhang eines ‚Fortschritts im Bewußtsein‘ herauslöst (hierzu Elster 1989; Flaig 1997). 2
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Sozialer Suizid und der Irrweg zur „negativen Reziprozität“ Blutrache, sofern begrenzt durch das Prinzip der talio, ist für manche Gemeinschaften verkraftbar, je nachdem, wie sie organisiert sind. Die überbietende Rache hingegen treibt sofort in eine Eskalation, welche immer größere Kreise in ihren Strudel reißt. Sie beschädigt daher sofort den Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft. Der Unterschied z. B. zwischen der zwar fatalen, aber eingrenzbaren Vergeltung, die auf Korsika geübt wurde, und der ausufernden Rachepraxis Albaniens beruht zum großen Teil auf diesem Umstand (Hasluck 1954; Black-Michaud 1975, S. 116 f., 122–140, 184–194; Schwandner-Sievers 1996). Hier ist die Blutfehde nach 40-jähriger Diktatur zurückgekehrt: Seit 1991 wurden etwa 20.000 Menschen in Blutfehden verwickelt und etwa 9500 getötet; Tausende von Männern trauen sich nicht auf die Straße und leben als „Eingeschlossene“ in ihren verrammelten Häusern; Geschäfte oder Werkstätten bleiben geschlossen, Felder werden nicht bestellt, und Kinder erhalten keine Schuldbildung.3 Die bisher umfangreichste komparatistische Untersuchung über die Rache nennt nur zwei Ethnien, bei denen die Maxime der Überbietung vorherrscht, die Abchasier im Kaukasus und die Massa in Nordkamerun. Beide Ethnien sind außerstande, sich geschlossen zu verteidigen, sind also außenpolitisch paralysiert (Bekombo 1980; Garine 1980). Es ist fraglich, ob sie überlebt hätten, wenn nicht in beiden Fällen Kolonialmächte ihre Existenz geschützt hätten. Andernfalls drohte ihnen jener social suicide, welchen der Ethnologe Jules Henry am Beispiel der brasilianischen Kaingang beschrieben hat (Henry 1964). Henry dokumentierte, wie eine Ethnie in immer furchtbareren Rachezyklen sich selber zerstörte. Für Historiker ist es a priori unzweifelhaft, dass solche soziale Selbstzerstörungen in der Geschichte der Menschheit viele tausend Male passierten, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Denn es lassen sich nur Gesellschaften ethnologisch erforschen, die überdauert haben. Und sie überdauerten – wenn man von anderen Faktoren absieht – nur, weil sie nicht zuließen, dass die überbietende Rache zur gängigen Praxis wurde. Von allen anderen haben wir keine Kunde. Im Falle der Kaingang war ein Ethnologe Zeuge. Daher wissen wir davon. Nun ließe sich vermuten, dass eine Gesellschaft mit dem talio-Prinzip gut leben könnte. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Erstens lässt sich immer wieder über die Äquivalenzen hadern, nach denen die talio festzulegen ist; die römischen Juristen stritten darüber trefflich (Gell. 20,1,14–21). Zweitens: Wenn die Vergeltung nicht von der Gemeinde übernommen wird, sondern der Selbsthilfe überlassen bleibt, dann ist talio nur mit größter Mühe einzuhalten. Die Rächer stehen im Augenblick der Gewaltanwendung immer unter Zeitdruck und sind oft selber bedroht. Sie können meist nicht kühl das „Gleiche“ vergelten; im Zweifelsfall neigen sie daher zur Über-Aktion. Dann geht die Rachekette freilich weiter und erreicht schlimmere Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Blickpunkt Albanien: Blutrache. April 2014, S. 9. 3
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Amplituden. Und noch übler: Was ist, wenn der Schädiger der Stärkere ist und den Rächer tötet? Dann häuft er einen weiteren Mord an. Der Gegenschlag führt also fraglos zum „Ausgleich“, sondern vielleicht zur Auslöschung der schwächeren Seite. Deswegen war es ein Irrtum, der „negativen Reziprozität“ zuzumuten, sie erzeuge „Gleichheit“ mittels des Abtauschs von Schlag und Gegenschlag. Ganz im Gegenteil. Weil die Schlagabfolge das anfängliche Machtgefälle zwischen zwei Lineages immer weiter vertieft, schafft sie auf die Dauer geradezu unerträgliche politische Ungleichheiten zwischen den Stärkeren und den Schwächeren.4
egmentierung und kollektives Entscheiden: Gamo S und Griechen Wenn eine Gemeinschaft tatsächlich der talio zur Geltung verhelfen will, dann kann sie die Rache eben nicht der Familie überlassen. Im Gegenteil muss sie sowohl die rächende Familie an der vergeltenden Überbietung hindern, als auch diese davor schützen, ein zweites Mal geschädigt zu werden. Genau diese Intervention der Gemeinschaft in die Rache vollzog sich in den archaischen Gemeinden Griechenlands. Wenn über vier Generationen, von Homer bis Drakon, das Exil die vorgeschriebene Sanktion ist, dann genügt es nicht, darin einen fraglos gegebenen „Brauch“ zu sehen. Ein Brauch hält sich ja nur, wenn ihm regelmäßig Respekt verschafft wird. Hinter einem funktionierenden Brauch steht immer und überall eine Sanktionskraft die größer ist als die des Transgressors. Und diese entstammt mitnichten der geschädigten Familie, sondern einer Gemeinde, die nicht in Lineages zerfällt. Damit stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit. Die Fähigkeit von Gemeinschaften, gemeinsam und koordiniert zu handeln, bemisst sich nicht zuletzt danach, inwiefern sie imstande sind, schwere Normbrüche auf gerichtsförmige Weise zu bewältigen. Zu beachten ist der Unterschied zwischen „Verhandlung“ und „Gericht“. Dyson Hudson und Evans-Pritchard haben beispielhaft – in Bezug auf die Karimoyong, bzw. auf die Nuer und die Dinka – analysiert, welche Verfahren schwach organisierte ostafrikanische Stämme bei Tötungsfällen gebrauchen.5 Es sind ersichtlicherweise Verhandlungssysteme: allzu oft erreicht man keine Übereinkunft. Ein ganz anderes Bild bietet sich bei den äthiopischen Gamo, wo es zu regelrechten Prozessen kommt. Zuerst müssen sich die Angehörigen des evidenten Rechtsbrechers vor der Versammlung von diesem Die Racheregelung im archaischen Athen stellt Schmitz (2001) auf die unbefragte Voraussetzung, dass der Rächer stärker war als der Schädiger. Selbstverständlich ist dann die Intervention der Gemeinde entbehrlich. 5 Ähnliches berichtet Pierre Bourdieu über die algerischen Kabylen: „Die Dorfversammlung funktioniert nämlich nicht wie ein Gericht, welches nach Maßgabe eines bereits vorhandenen Kodex Urteile fällt, sondern wie ein Schieds- oder Familiengericht, das sich bemüht, die Standpunkte der Gegner miteinander zu versöhnen und sie zum Einlenken zu bewegen“ (Bourdieu 1987, S. 201 f.). 4
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distanzieren. Damit ist er isoliert. Nun steht nicht mehr Lineage gegen Lineage, sondern ein einzelner vor der ganzen Gemeinde. Dann beginnt der Prozess; welcher in klaren Fällen regelmäßig zu einer Verurteilung führt (Bureau 1980). Dagegen ist das Aushandeln ein untrügliches Anzeichen dafür, dass die Versammlungen in lineages zerfallen, die kein Gemeinwohl über sich anerkennen. Versammlungen dieser Art sind nur sporadisch imstande, gemeinsam politisch zu handeln. Die Segmentierung blockiert die Herausbildung einer handlungsfähigen, politischen Gemeinschaft. Die Stärke der Gruppenkohäsion bedingt somit den möglichen Grad der institutionellen Regelung und die Zuverlässigkeit von institutionellem Gehorsam. Die Griechen schlugen den Weg der Gamo ein (Stahl 2003; Hölkeskamp 1999; Flaig 2013, S. 173–205); die Römer, obschon zögerlicher und nicht geradlinig, gleichfalls (→ 20. Manthe). Für die kulturelle Dynamik der klassischen Antike war es wichtig, dass die Fehde im eigentlichen Sinne nie drohte, sondern nur eine ex trem fokussierte Rache, deren ausschließliches Ziel der Täter war, niemals dessen Familie oder Freunde. Diese Individualisierung war möglich, weil eine „Sippe“ entweder inexistent war wie in Griechenland, oder weil die Gemeinschaft deren Involviertheit strikt einschränkte, so in Rom. Jene Überlegungen zur Rachepraxis im archaischen Griechenland, die Max Weber in den „Agrarverhältnissen im Altertum“ anstellte, sind auch deswegen so unbrauchbar, weil er die Existenz von Sippenverbänden annahm, deren Rachepotenzial den Einzelnen Schutz gegen fremde Gewalt bot. Das Gegenteil trifft zu: Das totale Fehlen einer gentilen Segmentierung war entscheidend für die Institutionalisierung der Polis; und die politische Einbettung der segmentierenden Elemente Familie und Klientel charakterisiert die Institutionalisierungsprozesse der res publica (Martin 2002). Auf die Frage, wieso es der Polis und der res publica gelang, die gewaltsame Selbsthilfe so gut wie vollständig zu unterdrücken, lässt sich die summarische Antwort geben: Weil die hellenischen Poleis und auch Rom es schafften, eine extrem strenge Kontrolle über den öffentlichen Raum herzustellen. Dazu waren mindestens vier Bedingungen zu erfüllen: Erstens das Verbot, in der Stadt Waffen zu tragen (was die italienischen Städte des Mittelalters nie vollständig schafften). Zweitens das Verbot von Korporationen, die durch einen Eid der Korporation stärker verpflichtet waren als der Stadt (das ist die schärfste Differenz zwischen den italienischen und den antiken Städten). Drittens die Eingrenzung der Vergeltung, indem die Gemeinschaft selber Sanktionen durchsetzt. Viertens eine Rechtspflege, die gerade bei schweren Fällen einigermaßen regelmäßig und zuverlässig funktionierte, weil ihre breite Lagerung – sehr häufig tagte die Volksversammlung selber als Gerichtsversammlung – eine leichte Durchsetzung gewährleistete. Es kommen noch zwei Faktoren hinzu, die notorisch unterschätzt werden, nämlich erstens ein effizientes Entscheiden mittels der Mehrheitsregel, zweitens eine Flut von Diskursen zum Thema Gewalt, prall gefüllt mit politischer Pädagogik (Flaig 2007, 2013). Nicht maßgeblich waren die religiösen Regelungen; denn sie zielten nie auf die Schuld, immer auf die leicht abzuwaschende „Befleckung“ (Parker 1983).
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Rechtsgleichheit – ihr Verhältnis zu Exil und Wergeld In der griechischen Archaik galt die unverhandelbare Norm, dass wer tötet/mordet, nicht mehr in der Gemeinschaft bleiben darf. In den homerischen Epen fliehen Mörder und Totschläger immer außer Landes, egal ob sie unabsichtlich oder vorsätzlich gehandelt haben. Die ‚Ilias‘ erwähnt fünf Fälle, die ‚Odyssee‘ vier.6 In beiden Epen wird die Exilierung des Mörders ausdrücklich als soziale Norm formuliert (Hom. Il. 24,480–482; Hom. Od. 23,118–122). Das war aber nur möglich, wenn die gesamte Gemeinde sich gegen den Mörder stellte. Den überlebenden Mörder aus dem Lande zu treiben, war Sache der Gemeinde. Daher fiel auch das Gut des Exilierten nicht an die rächende Familie, sondern an die Gemeinde. Nun bestand allerdings die Möglichkeit, Sühne anzunehmen, also ein Wergeld sich bezahlen zu lassen. Auf diese Weise konnte der Totschläger in der Gemeinde bleiben.7 Das Wergeld findet sich in der Tat in vielen vorderorientalischen Gesetzestexten; es war schon bei den Sumerern in Gebrauch. Doch seit Solon ist es in Athen abgeschafft. Auch im Alten Israel (→ 33. Otto) gibt es kein Wergeld, sondern der Mörder wird getötet. Und in Rom ist es ab dem 4. Jahrhundert nicht mehr möglich, mit Geld Tötungen abzugelten. Wieso nicht? Immerhin scheint Wergeld vereinbar mit Zusammenleben auf engerem Raum; denn es beendet einen Konflikt. Indes, es ist unvereinbar mit rechtlicher Gleichheit. Rechtliche Gleichheit wird unterminiert und verschwindet, wenn die Reichen sich mit Wergeld freikaufen von den Folgen von Mord und Körperverletzung. Wozu das im Zwölftafelgesetz festgelegte Schmerzensgeld führt, illustriert das exemplum des Lucius Veratius im frühen Rom: Er schlug auf der Straße nach Belieben freien Menschen mit der flachen Hand ins Gesicht, wobei ihm ein Sklave mit einem Geldsack folgte, so dass er jedes Mal auf der Stelle dem Geschlagenen 25 Asse auszahlen konnte. Die Prätoren kamen nicht umhin, in ihrem Edikt dieses Gesetz für ungültig zu erklären und Schiedsrichter für solche Fälle zu benennen (Gell. 20,1,13). Ein solches Schmerzensgeld schafft – ebenso wie das Wergeld bei Tötung – enorme Unterschiede in den Chancen, Mitglieder der eigenen Rechtsgemeinschaft zu misshandeln oder zu verletzen. Das Talionsprinzip im buchstäblichen Sinne – „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – passt daher nicht nur für „egalitäre“ Gesellschaften weitaus besser als die Tarifierung von Körperverletzung und von Tötung. Sondern es ist dort angemessener, wo, wie etwa in Israel, explizit die rechtliche Gleichheit der Mitglieder der Gemeinschaft angezielt wird und einen hohen kollektiven Wert darstellt.8 Sämtliche republikanisch Hom. Il. 2,661–666; 13,694; 15,430–432; 23,85–90. Hom. Od. 13,258–273; 16,376–382; 15,271–278; 14,380. 7 Hom. Il. 9,632–636. Doch haben wir weder in der Ilias noch in der Odyssee dafür einen konkreten Fall. 8 Deswegen hat sich Kant gegen die Abschaffung der Todesstrafe bei Mord ausgesprochen (Metaphysik der Sitten, II/1 cap 1E, in: Werke in sechs Bänden (Weischedel), Bd. 4, S. 453). Denn die talio erfüllt am weitestgehenden das Postulat unbedingter Gerechtigkeit unter Voraussetzung menschlicher Gleichheit. 6
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organisierten Gemeinwesen ertragen darum keine Wergeld-Praxis. Denn politische Partizipation von Bürgern verkraftet keine derartige, aus den Folgen sich einstellende, rechtliche Ungleichheit. Die Rechtsgleichheit ist aber, um einen Ausblick auf die entstehende Demokratie zu werfen, die entscheidende Voraussetzung für politische Gleichheit.
Sporadische oder kontinuierliche Entscheidungsfähigkeit? Die antiken Gemeinwesen gingen den Weg der Gamo. Aber sie gingen ihn entschlossener und mit weitaus größerem Erfolg. Dafür gibt es zwei Gründe: a) Sehr früh hat die Volksversammlung eine zwingende Autorität entfaltet; gerade die versagenden Volksversammlungen in der „Odyssee“ bestätigen, dass der poetische Diskurs das zuverlässige Funktionieren für den Normalfall hält (Flaig 1997). Zwingende Autorität bedeutet, dass Beschlüsse zuverlässig durchgesetzt werden; und das kann nur gelingen, wenn die Gemeinde sich nicht hinterher wieder in partiale Interessengruppen zersplittern lässt, sondern am Beschlossenen festhält. Ein Erzwingungsstab ist nicht nötig, wenn die Gemeinde selber die Erzwingung in die Hand nimmt. Wichtiger als ein Erzwingungsstab ist die politische Fähigkeit des beschließenden Organs, eine gültige Entscheidung herbeizuführen. Bei den Karimojong befehlen die Ältesten den jüngeren Altersklassen, die Beschlüsse durchzusetzen; auch gegen den Willen von Betroffenen. Das Altersklassensystem stattet die Ältesten also mit einem Erzwingungsstab aus, der den griechischen Gemeinden fehlte. Dennoch bleibt die kollektive Handlungsfähigkeit begrenzt. Denn um einen Beschluss zu fassen, muss der Rat der Ältesten unbedingt zu einem Konsens gelangen. Doch eben dieser Konsens ist gelegentlich nicht herzustellen, auch nicht nach Tagen und Wochen. Die Griechen gingen nach unseren bisherigen Kenntnissen früher als jede andere Kultur zum systematischen Gebrauch der Mehrheitsregel über. Diese Regel erbringt eindeutige Entscheidungen zuverlässig und schnell. Eben das verschaffte den Volksbeschlüssen eine hohe Wirksamkeit (Flaig 2013, S. 181–205). Und damit bewegte sich die griechische Konfliktregelung bereits in der Archaik hin zu einer Institutionalisierung, welche den Gamo unerreichbar geblieben ist. Conclusio. Der soziale Druck, sich zu rächen bleibt auch in der institutionalisierten Polis und res publica erhalten. Aber die Rache darf nicht eigenhändig und gewaltsam sein, sondern sie muss den Weg über die Gerichte nehmen. In der römischen Republik herrscht eine gesetzlich kodierte Rachepflicht; die poleis hingegen überlassen dies dem Belieben der Bürger. Jedenfalls sind eine große Menge von gerichtlichen Konfrontationen in beiden Kulturen reine Rache-Prozesse (Thomas 1984). Indes, eine zahnlos gemachte Rache ist ein bloßes Homonym; sie war außerstande, die institutionalisierten Gemeinwesen zu gefährden.
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Kapitel 4
Selbsthilfe als Konfliktlösung Salvatore Marino
1 Überblick Die eigenmächtige Durchsetzung privatrechtlicher Ansprüche durch Selbsthilfe ist eine schnelle Art der Konfliktlösung, die auf das „taking the law into one’s own hands“ (Kelly 1966) gerichtet ist. Im eigentlichen Sinne als „offensive Selbsthilfe“ (Wesener 1958) verstanden, handelt es sich um den einfachen und einseitige „Gebrauch des eigenen Rechts ohne Anrufung oder Einschreiten der richterlichen Gewalt“ (Luzzatto 1956) und ohne die Beteiligung Dritter. Sie ist insofern von den aus Notwehr, Notstand und Selbstverteidigung entstehenden ausdifferenzierten Selbsthilfeformen zu unterscheiden, welche in den modernen (s. z. B. §§ 226 ff. BGB, dazu Schünemann 1985) und in den antiken Rechtsordnungen prinzipiell zulässig sind bzw. waren (Koller 2009), sofern sie im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ausgeübt wurden (für die naturrechtlichen Grundlagen der defensiven Selbsthilfe im römischen Recht s. Flor. D. 1.1.3; Gai Inst. 9.2.4). In den modernen Rechtsordnungen ist die offensive Selbsthilfe in ihrer privaten Form (ob mit oder ohne Gewalt) aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols ausgeschlossen (Werner 1999) und die sofortige Konfliktlösung ohne Einschreiten der richterlichen Gewalt ist prinzipiell nur der öffentlichen Verwaltung gestattet (Betti 1959). Anders war jedoch die Rechtslage in der antiken Welt, deren unmittelbare Vorbilder (die Rechtssysteme des antiken Orients) eigenmächtige Durchsetzungshandlungen übrigens nicht nur gegen den Rechtsverletzenden sondern sogar gegen dessen Familie zuließen (Paulus 2017, S. 47; für die Individualisierung bzw. eine auf die Person des Rechtsverletzenden „fokussiert Rache“ in der antiken Welt, → 3. Flaig).
S. Marino (*) Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Rechtsgeschichte, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_4
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Das Phänomen der Selbsthilfe überschneidet sich mit der Frage nach der Entstehung des staatlichen Alleinanspruchs zur Konfliktlösung und ist traditionell überwiegend unter diesem Blickwinkel erforscht worden. Dabei lassen sich zwei Forschungsrichtungen erkennen (Wesener 1958; Luzzatto 1956). Die eine konzentriert sich auf die genealogischen Aspekte der Selbsthilfe und untersucht ihren Ursprung, ihre Rolle in archaischen Rechtsordnungen, ihre Überwindung durch die öffentliche Gerichtsbarkeit und schließlich ihre Beseitigung. Die andere richtet das Interesse auf den residualen Charakter bzw. das Fortbestehen der Selbsthilfe, und fokussiert somit ihre Unterdrückung durch öffentliche Sanktionen sowie ihre Zulassung bei bestimmten Selbsthilfeverfahren. Die moderne Dogmatik geht von einer prinzipiellen Beseitigung der Selbsthilfe und ihrer ausnahmsweisen Zulassung aus, und betrachtet somit den ersten Aspekt als die logische Voraussetzung für den zweiten. Die historische Erfahrung hat allerdings den umgekehrten Weg gezeigt: Die Selbsthilfe entstand parallel mit den anderen Formen der Rechtsdurchsetzung, und wurde erst langsam von diesen unterschieden und als solche identifiziert. Der genetisch-evolutive Ansatz hat das große Interesse der Forschung erweckt, wobei auch das Fortbestehen von Selbsthilfeformen kürzlich stärkere Beachtung fand, besonders aus dem Blickwinkel der außergerichtlichen Konfliktlösung (Seelentag 2017; Lehne-Gstreinthaler 2017). Die Möglichkeit einer raschen eigenmächtigen Konfliktlösung überschneidet sich in vielen Punkten mit der Ausübung von Rache und der Fehde (→ 3. Flaig) und generell mit dem Vorhandensein einer starken sozialen Kontrolle. Traditionell wird dabei das enge Verhältnis zwischen Selbsthilfe und Volksjustiz untersucht (in Bezug auf die römische Welt vgl. Usener 1901; Lintott 1968; Martin 2002). Letztere tritt sowohl als exekutive als auch als diffamatorische Volksjustiz auf (Seelentag 2017) und setzt die kollektive Gruppensolidarität bei offenkundiger Rechtsverletzung voraus (Wieacker 1944; Wesener 1958, S. 70). Auch die große Relevanz eines wirksamen sozialen Drucks ist besonders hervorgehoben worden: Gerade der Rolle der Erziehung und der effizienten kulturellen Kontrolle wird die Überwindung der frühen Fehde-Phase im klassischen Kontinentalgriechenland zugeschrieben (Herman 2006, anders Cohen 1995). Ein Äquivalent dazu ist auch für die römische Welt he rausgearbeitet worden: Gewalteindämmung und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung lag dort an der aus den öffentlichen Institutionen (insbes. dem Senat) ausstrahlenden Kohäsionskraft, so dass es zur Krise kam, als ihre Autorität zu schwanken begann (Nippel 1988, 1995). Die griechische und die römische Welt unterscheiden sich in einigen sozialen und kulturellen Merkmalen. In der griechischen Welt ist die Konfliktlösung durch Zweikampf oder Fehde sowie die wichtige Rolle der Blutrache während der gesamten klassischen Periode gut bezeugt (Cohen 1995; das spiegelt sich auch in der Beziehung zu den Gottheiten wider s. Berti 2017). Zumindest im kontinentalen Griechenland musste die Racheausübung allerdings öffentlich genehmigt werden und war mit einem Verfahren einzuleiten (Philipps 2008). Verstoße dagegen wurden jeweils mit einer Geldstrafe sanktioniert. Das attische Recht sah den Rückgriff auf die Selbsthilfe auch zur Strafvollstreckung vor (zur Streitbeilegung durch
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Schiedsverfahren vgl. Thür 2003, S. 202, 207 ff.; Roebuck 2001, S. 210 ff.; Wolff 1965). In Anbetracht des die griechische Welt charakterisierenden dichten Netzes von zwischenstädtischen Schiedsverfahren (Ager 1996) sind auch die öffentlich-rechtlichen Aspekte besonders zu berücksichtigen. Von Bedeutung ist zudem die philosophische Erklärung (zur Anerkennung von Selbsthilfe und Selbstjustiz bei Plato s. Doblhofer 1994, S. 47). In der römischen Welt sind Fehde und Rache hingegen selten bezeugt (nur etwa in der Führungsschicht, Fagan 2011; zu berücksichtigen ist jedoch die möglicherweise hinter der Horatiergeschichte verborgene Fehde). Doch ist das überparteiliche schiedsrichterliche Urteil und die darauf basierende Vollstreckung sowohl der griechischen als auch der römischen Welt im wesentlichen gemein. In diesem Zusammenhang ist in der frühen römischen Welt eine starke „religiöse“ Ritualisierung der Selbsthilfe zu beobachten: Die eigenmächtige Reaktion gegen einen Angriffsakt wird im Prozess zeremoniell ausgetragen (Franchini 2012). Eng damit verbunden ist die Diskussion über den Ursprung des Prozesses. Der Forschung ist langsam bewusst geworden, dass die Auffassung, der Ursprung der Gerichtsbarkeit liege in dem self-help, eine unhistorical rationalisation ist (Kelly 1967). Nichtsdestotrotz herrscht immer noch die These, wonach der Aufbau der civitas die ursprünglichen vorstädtischen Strukturen in sich aufgehen ließ und deren Gruppen in Organe verwandelte (Wieacker 1988). Die staatliche (im weiteren Sinne verstanden) Souveränität bilde sich also zu Lasten archaischer Konzeptionen heraus. Diese aus dem Evolutionismus entspringende These (Jhering 1852; etwa anders Lévy-Bruhl 1930; s. auch Noailles 1949) postuliert die Entstehung der öffentlichen Gerichtsbarkeit als den Zeitpunkt, in dem die (Ur-)Phase der Selbsthilfe durch die einzelnen Gemeinschaftsmitglieder abgelöst wird. Hieraus erkläre sich, dass die Urgerichtsbarkeit als eine Stilisierung bzw. Ritualisierung von Selbsthilfeakten charakterisiert war. In der römischen Welt sind solche Aspekte vor allem in den legis actiones (Luzzatto 1956; einschränkender Pugliese 1962) und in mehreren Vorschriften der XII Tafeln ohnehin ausfindig gemacht worden. Besonders diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Bestrafung des nächtlichen Diebs (fur nocturnus, XII Tab. 8.12), die von einigen (Cantarella 1991, S. 274 ff.; Polay 1985, S. 73) als Selbsthilfe oder als Blutrache eingestuft wird (Kaser 1949, S. 12; Simon 1965, S. 132; s. auch die Diskussion über die iniuria, hierzu ganz allgemein Hagemann 1998). Von Bedeutung ist hier: a) dass ein aggressives Verhalten außerhalb bestimmter Grenzen unzulässig war und sakrale Sanktionen mit sich brachte (über die Rolle der talio, s. → 3. Flaig) und b) dass ein ursprünglich freiwilliges und außergerichtliches Schiedsverfahren später ein von einem Beamten eingeleiteter Prozess wurde (Wlassak 1888, 1907; s. aber Pfeiffer und Grotkamp 2017, S. 3). Dies ist sowohl in Bezug auf den Ursprung des Zivil- als auch des Strafprozesses erforscht worden: Privatrechtlich führt die Selbsthilfe zur Legitimierung der Verfolgung des eigenen Rechtes; strafrechtlich zur Rechtfertigung der Rache bei offenkundiger (bzw. öffentlich anerkannten) Straftat. Unter diesem Gesichtspunkt hängt die Ausübung der Eigenmacht und die Rolle der Selbsthilfe auch in der römischen Welt eng mit dem man-
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gelhaften System der öffentlichen Vollstreckung zusammen: Die Selbsthilfe diente somit auch dem Zweck der Strafverfolgung (Lehne-Gstreinthaler 2017). Wenn man die Selbsthilfe als eine Art ritualisierte Eigenvollstreckung betrachtet (oder sogar ein Überbleibsel von vorstaatlichen Urformen des Rechtsschutzes), sollte man allerdings berücksichtigen, dass es verschiedene Formen von Gerichtsbarkeit und Rechtsschutz gab, die sich der öffentlichen Ordnung entzogen und innerhalb von engeren Gemeinschaften wie den gentes oder der familia praktiziert wurden (man denke an das iudicium domesticum, dazu Kunkel 1966; Krause 2004, S. 70). Die wesentlich bessere Quellenlage aus der spätrepublikanischen Zeit ermöglicht ein besseres Verständnis davon, wie die Verteidigung des eigenen Interesses innerhalb und außerhalb der Gesellschaft stattfand und verstanden wurde. Die Forschung kann hier mit einem auf die Konfliktlagen dieser Zeit zugeschnittenen Konzept von Selbsthilfe arbeiten und ist sich über Folgendes ziemlich einig: Es handelte sich um ein Phänomen, das im Rahmen gemeinsamer Werte umgesetzt wurde und den öffentlichen Rechtsschutz nicht ersetzte, sondern ihn sich entfalten ließ. Ausgangpunkt ist dabei, dass Gewalt und Gewalttaten nicht an sich rechtswidrig waren (über die Mehrdeutigkeit des Wortes vis s. Labruna 1971, S. 10 ff.) und ihre Einschränkung erst vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden öffentlich-politischen Relevanz erfolgte. Die Konfliktlösung durch Selbsthilfe war in diesem Kontext möglich, wenn das Recht unumstritten war und sofern sie nicht zu einer Störung des friedlichen Zusammenlebens führte. Dennoch beobachtet man ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. eindeutig, wie Gewalt-vis, wegen ihres für die Rechtsordnung zerstörerischen Charakters (Lintott 1968), immer entschiedener zurückgedrängt wurde (Labruna 1971). Die Zurückdrängung der vis erfolgte vor allem mittels interdicta durch die Magistrate, wodurch das wachsende öffentliche Interesse erkennbar wird (Bürge 1999, S. 45 ff.). Angesichts der Zunahme von Gewalttaten im 1. Jahrhundert v. Chr. zielte die entschiedene Gesetzgebung de vi schließlich darauf ab, das friedliche Zusammenleben weitestgehend zu gewährleisten. Damit erfährt auch die Möglichkeit der Selbsthilfe eine indirekte, aber letztlich faktisch wirkende Einschränkung. Das öffentliche Interesse an der Unterdrückung von Gewalttaten besteht auch nach dem Ende der Bürgerkriege fort und verstärkt sich danach sogar. Die Unterdrückung der vis wird zu einem wichtigen Bestandteil sowohl der kaiserlichen Gesetzgebung als auch der Rechtswissenschaft. Für die kaiserliche Gesetzgebung ist die augusteische lex Iulia de vi publica et privata aus dem Jahr 17 v. Chr. maßgebend (dazu Bürge 2002). Ihrerseits diskutiert die Jurisprudenz zwischen Quintus Mucius (1. Jahrhundert v. Chr.) und Julian (2. Jahrhundert n. Chr.) intensiv über dieses Thema. Darin erkennt man eine deutlich weniger selbsthilfefreundliche Einstellung durch die klassischen Juristen (Behrends 2002) und eine Tendenz zur extensiven Auslegung der Gesetzgebung de vi (Lehne-Gstreinthaler 2017, S. 143 ff.: über Ulp. D. 4.2.12.2). Parallel zur Einschränkung der individuellen Freiheiten in Folge der Bürokratisierung beobachtet man im 1–2 Jahrhundert n. Chr. die langsame Ausgestaltung des Gewaltmonopols durch die kaiserliche Verwaltung (Lehne- Gstreinthaler 2017; es bleibt jedoch die Möglichkeit der außergerichtlichen Streiteinigung bestehen).
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Den eigentlichen Wendepunkt bildet unumstritten das Dekret des Kaisers Mark Aurel im 2. Jahrhundert n. Chr. Die als decretum divi Marci bekannte kaiserliche Entscheidung ist uns durch den Juristen Callistratus (de cognitionibus 5) an zwei Stellen der justinianischen Digesten überliefert (D. 48.7.7 e D. 4.2.13): Ein Gläubiger, der ohne Anrufung der richterlichen Gewalt eigenmächtig auf die Sache des Schuldners zugegriffen hatte, wurde mit dem Verlust seiner Forderung bestraft. Die technische und kasuistische Entscheidung impliziert nicht die prinzipielle Beseitigung der Selbsthilfe: Zum einen handelte es sich um einen konkreten schuldrechtlichen Fall und zum anderen wurde die Frage von der spätklassischen Jurisprudenz noch in der Severerzeit weiter diskutiert. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Tragweite des vom Philosophenkaiser hier verwendeten Argumentes. Auf den Einwand des Gläubigers: „Ich habe keine Gewalt angewendet“ antwortet Mark Aurel wörtlich: „Meinst Du, Gewalt liege nur vor, wenn Menschen verletzt werden? Gewalt liegt auch schon dann vor, wenn jemand das, wovon er meint, es werde ihm geschuldet, ohne richterliche Hilfe eintreibt“.1 Über die konkrete Relevanz hinaus wurde das decretum in den darauffolgenden Jahrhunderten deshalb zutreffend als wichtige Behauptung des Justizmonopols durch die kaiserliche Autorität und als Missbilligung der Selbsthilfe betrachtet, weil diese eine Verletzung der Rechtsordnung darstellt. Das Dekret steht hiermit am Wendepunkt zwischen Altem und Neuem: Die in der spätrepublikanischen Zeit begonnene Zurückdrängung und Rationalisierung der Gewaltausübung durch Magistraten, Gesetzgeber und Juristen wird hiermit vollgezogen. Gleichzeitig bildet es den Ausgangspunkt für die ausdrückliche und ausschließliche Behauptung des Justiz- und Gewaltmonopols durch die legitimierte Obrigkeit. Der endgültige Übergang findet in der „neuen Welt“ (Brown 1971; Demandt 2007) der Spätantike statt: Im Jahr 389 n. Chr. erklärte ein Gesetz der Kaiser Valentinian, Theodosius und Arkadius (C. Th. 4.22.3; anderhalb Jahrhunderte später in kürzerer Fassung von Justinian in C. 8.4.7 wiederaufgenommen) den Verlust des gerichtlichen Schutzes für den Eigentümer, der sein dominium eigenmächtig verteidigt hatte. In zweifacher Hinsicht stellt sich dieses Gesetz als eine Art Vollendung des von Mark Aurel angedeuteten Grundsatzes dar. In technischer Hinsicht geht es nun nicht nur um Schuldverhältnisse, sondern auch um dingliche Rechte. Außerdem wird das Verhalten des sein Recht eigenmächtig schützenden Eigentümers wirkungsvoll als „Wahnsinn“ und „Frechheit“2 bezeichnet, denn dadurch wird die göttliche Souveränität des Kaisers verletzt. Wiederum handelt es sich auch hier nicht um eine totale Beseitigung der Selbsthilfe. Ab der konstantinischen Zeit ist aber die Verbannung privater Gewalt und die Autorität der kaiserlichen Gerichtsbarkeit noch intensiver ausgerufen. Man muss dabei jedoch beachten, dass trotz der einschüchternden Rhetorik der spätantiken D. 4.2.13: … cum Marcianus diceret: vim nullam feci, Caesar dixit: tu vim putas esse solum, si homines vulnerentur? vis est et tunc, quotiens quis id, quod deberi sibi putat, non per iudicem reposcit ... Übersetzung nach Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler (1997) Corpus Iuris Civilis, Band I, Beck München. 2 CTh. 4.22.3: Illi vero, quos in tantum furorem provexit audacia … C. 8.4.7: Si quis in tantam furoris pervenit audaciam … 1
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Herrscher der damaligen staatlichen Organisation an tatsächlicher Kontrolle über ihr Territorium ermangelte (die zunehmende Bedeutung der bischöflichen Gerichtsbarkeit in der Spätantike wurde nicht zuletzt auch mit der übermäßigen Belastung der kaiserlichen Gerichte in Verbindung gebracht, s. Huck 2008). Diese langsame Behauptung der öffentlichen Gerichtsbarkeit und Zurückdrängung der Selbsthilfe im residualen Raum hat aus modernem Blickwinkel dazu gedient, die Entstehung des staatlichen Gewaltmonopols zu beschreiben. Aus der Perspektive der Antike scheint diese Entwicklung jedoch eher die allmähliche Etablierung von Kompetenzen innerhalb der sich verändernden öffentlichen Strukturen nachzuzeichnen. Beide Aspekte sind jedenfalls aus der Perspektive der Konfliktlösung eng verbunden. Die Zurückdrängung der Gewalt in der republikanischen Zeit war Ausdruck des Zusammenbruchs der seit der Gründung der Republik gemeinsam geteilten Werte, die die politische Krise nicht überstanden und einer Umstellung bedurften. Die Zurückdrängung der von Privaten ausgeübten Gewalt im Kaisertum basierte ursprünglich auf derselben Idee, wurde aber allmählich anders konzipiert und zum Zwecke einer besser geordneten Regelung der Zuständigkeit der Konfliktlösung strukturiert. Die prinzipielle Beseitigung der Selbsthilfe setzt sich in der hierarchischen Weltanschauung der Spätantike fort: Die Durchsetzung eigener Ansprüche ohne die lebende Stimme des Rechts, also die kaiserliche Autorität, anzurufen, ist grundsätzlich unzulässig (s. aber für die Strafrechtliche Aspekte Krause 2014, S. 23 f.).
2 Kernprobleme der Forschung Aus den obigen Ausführungen lassen sich die Schwer- und die Schwachpunkte der bisherigen Forschung ablesen. Vor allem unter den technischen Herangehensweisen stützen sich die Interpretationsmodelle der rechtsromanistischen Forschung zum großen Teil noch immer auf die linearen evolutionistischen Modelle positivistischer Herkunft Ende des 19. Jahrhunderts. Insbesondere geht das auf die Auffassung Jherings (1852, S. 121 ff.) über den Ursprung des Rechtsschutzes zurück, das Recht entstehe infolge einer „primordialen Investitur“, die rituell die ursprüngliche Gewalt in Recht verwandelt (dazu Behrends 1996, 2002; zur Jherings Abhängigkeit vom Puchtas „adamitischen“ Individualismus s. Behrends 1998). Verbunden mit den Theorien Wlassaks über den Ursprung des Zivilprozesses (Wlassak 1888, 1907) hatte diese Auffassung großen Erfolg und konnte sich nach dem 2. Weltkrieg zur heute herrschenden Meinung herausbilden (Luzzatto 1956; Kaser 1956; Wesener 1958; Pugliese 1962; Kaser und Hackl 1996). Gegenüber der Vorstellung des 19. Jahrhunderts haben die Rechtshistoriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch wachsend die Vielfalt des Phänomens wahrgenommen und sorgfältig die verschiedenen Arten von Selbsthilfe ausdifferenziert. Das ursprünglich einheitliche Modell hat sich also in eine Mehrzahl von Formen aufgelöst. Besonders erforscht wurde das Phänomen Gewalt in den konfliktreichen 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts (trotz der geringen Eindringtiefe des Marxis-
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mus in die Romanistik, s. Capogrossi Colognesi 2017, S. xxi–xli ff.), und zwar in politischer und sozialer Hinsicht mit unterschiedlichen Einschätzungen (Lintott 1968; Labruna 1971). Zu diesen Untersuchungen kamen parallele Studien mit weniger traditionellem Ansatz noch hinzu (s. dazu die Ausführungen bei Gilhaus 2017). Der modernere Ansatz ist insbesondere in der Erforschung der griechischen Welt anzutreffen. Die zwei Forschungsbereiche der antiken Rechtsgeschichte unterscheiden sich nämlich stark in der Art und Weise ihrer Forschungsansätze. Das liegt offensichtlich an der unterschiedlichen Art der Quellen; aber es handelt sich um ein Phänomen, das langsam überwunden wird. Eine weitere methodologische Konvergenz beider Forschungsbereiche der Antike ist jedoch im Bereich der Selbsthilfe er-wünscht. Die Mängel des evolutionistischen Ansatzes sind teilweise noch zu spüren: Die Zurückdrängung der Selbsthilfe durch den staatlichen Rechtsschutz ist eine Rationalisierung ex post. Neuere Vorstellungen gehen eher nicht davon aus, dass ein „Kulturzustand“ den Ausgang einer früheren Phase von Rechtsunsicherheit und Gewalt bilden muss. Vor diesem Hintergrund gibt es zwei Forschungsdesiderata: Eine erneute Nachprüfung der Entstehungsgeschichte der Selbsthilfe in der archaischen Zeit mit verändertem Ansatz, wonach Ordnung nicht aus Chaos, sondern aus der Vielfalt früherer Rechtsordnungen hervorgeht. Zudem sind weitere Schritte in die Richtung einer vielfältigeren Betrachtung des Phänomens erwünscht, und zwar über die Polarisierung Stadt-Bürger und über die funktionalistischen und strukturalistischen Vorstellungen hinaus. Für die spätere Zeit ist die Forschung hingegen an einem guten Punkt und man kann ihr, wenn überhaupt, nur ein zu großes Interesse für die Beseitigung als für den Einsatz der Selbsthilfe vorwerfen. Vor allem fehlt jedoch das, was die Stärke der geschichtlichen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bildete: Eine übergreifende Theorie der Selbsthilfe, die ihre gesamte Entwicklung zum Ausdruck bringt. Wir verfügen heute über Theorien, Modelle, Ansätze und Einzelstudien zu bestimmten Phänomenen, doch fehlt es an einer einheitlichen Gesamtbetrachtung. Der älteren Wissenschaft war dies hingegen gelungen, wenn auch, oder gerade deshalb, mit inzwischen überwundenen Kategorien. Es wäre daher eine zeitgenössische Aufgabe, neue Kategorien herauszuarbeiten.
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Kapitel 5
Rationalitäten der Konfliktregulierung: Recht, Sitte, Religion im klassischen Athen Werner Riess
1 Überblick Die Rationalität athenischer Gerichtsverfahren war in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand kontroverser Forschungsdiskussionen. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, die athenische Gerichtsbarkeit (→ 19. Thür; → 22. Lanni) als eine Form der Konfliktregulierung unter anderen zu begreifen und sie im breiteren Rahmen von Sitte und Religion zu kontextualisieren. So unterschiedliche Konfliktvermeidungsstrategien und Konfliktlösungsmodi, wie Schiedsgerichtsbarkeit, Sozialkontrolle (gossip), Sozialisation, Religion, Mythos, Rituale, Theater und Magie werden hier als symbolische Formen der Kommunikation verstanden, die in ihrem (semi-)öffentlichen, ja vielfach sogar rituell-performativen Charakter eine distinkte, zeitgenössisch nachvollziehbare Rationalität der Konfliktkontrolle aufwiesen.
Richter als juristische Laien, Ablehnung des Expertentums Im athenischen Recht waren die prozeduralen Aspekte wichtiger als das materielle Recht. Dies hat nichts mit einem Mangel an systematischem Denken zu tun. Die hochstehende athenische Rechts- und Gerichtskultur hatte ihre spezifischen Gründe, warum das Prozessrecht im Vordergrund stand (zum prozeduralen Recht umfassend Harrison Band 2, 1971); Recht ist immer auch ein Spiegel der Mentalitäten: Alle Bürger wollten und mussten fair behandelt werden. Es war den Athenern
W. Riess (*) Universität Hamburg, Historisches Seminar, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_5
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wichtig, dass die Spielregeln für alle, ob arm oder reich, in gleicher Weise galten. Die Inhalte, die man als materielles Recht bezeichnen könnte, sollten im Wesentlichen rhetorisch aushandelbar bleiben und daher relativ offen sein. Ein umfangreiches Corpus an Gesetzen hätten nur juristische Experten handhaben können und genau das Entstehen eines solchen Spezialistentums wollten die Athener vermeiden. Sie sahen eine Expertenkaste als etwas Undemokratisches an. Freie athenische Bürger, juristische Laien, sollten in geloster Zusammensetzung Streitfälle anhören und entscheiden. Fehlurteile nahm man dabei in Kauf. Man war der Meinung, dass dieses demokratische System – die Richter wurden als das Gesamtvolk im Kleinen verstanden – im Durchschnitt sehr wohl gutes Recht sprach und damit die Vorteile die Nachteile eines solch fluiden Systems überwogen. Da die Richter den Geschworenenhöfen zugelost wurden, hatten sie keine Möglichkeit, sich auf die Prozesse durch die Lektüre der relevanten Gesetze vorzubereiten, sofern diese denn überhaupt praktisch zugänglich waren. Kläger wie Verteidiger appellierten in hoch dramatischen Reden an die Emotionen der Richter, die nach Anhörung der beiden Parteien sofort, ohne Aussprache mit den Kollegen, ein Urteil fällen mussten. Eine Berufungsinstanz gab es nicht, Menschenrechte waren unbekannt. Urteile wurden vielmehr sofort vollstreckt. Da die Mehrheit der Richter unbeständig war und sich durch die Macht der Rhetorik beeinflussbar zeigte, war der Ausgang eines Prozesses stets unsicher (zum Gerichtswesen allg. Boegehold 1995). Auf die rituelle Bedeutung und Funktion der Gerichte wird unten einzugehen sein.
echtliches und politisches System untrennbar R miteinander verwoben In einem solchen System ohne Gewaltenteilung waren das rechtliche und das politische System nicht voneinander getrennt. Auch privates und öffentliches Leben bildeten gerade für die politisch Aktiven eine untrennbare Einheit. Dies zeigt die Art und Weise, wie Konkurrenten in Privatleben und Politik gegeneinander kämpften. Politik wurde auch über die Gerichte betrieben und trug mit bei zu einer Art Treibhausatmosphäre im klassischen Athen. Ort der Auseinandersetzung war nicht nur die Volksversammlung, sondern auch und v. a. die Bühne der Gerichte. Aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. sind ca. 10 Fälle überliefert, in denen Generäle (stratēgoi) von ihren Gegnern angeklagt und tatsächlich hingerichtet wurden (zum Agon zwischen den Generälen vgl. Funke 1980). Wesentlich häufiger als politische Prozesse jedoch waren die zahlreichen Privatprozesse, die beinahe täglich in Athen behandelt wurden. Zahlreiche Reden zeugen von der Vielfalt der Streitthemen, die von Erbschaftsfällen (Isaios) bis hin zu Mord und Totschlag reichten (Lysias 1, Antiphon 1 [Gegen die Stiefmutter]).
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Schiedsgerichtsbarkeit Das athenische Recht und Rechtssystem sind jedoch in ihrer soziopolitischen Bedeutung nur im Zusammenhang mit anderen Konfliktlösungsformen zu verstehen. Die meisten Streitigkeiten wurden denn wohl auch nicht vor Gericht gebracht, sondern vor Schiedsrichtern verhandelt (literarisiert bei Menander, Epitrepontes 218–239; grundlegend Steinwenter 1971; Manley-Tannis 1998). Grundsätzlich ist eine private von einer öffentlichen Schiedsgerichtsbarkeit zu unterscheiden (→ 17. Harter-Uibopuu). Wie bei den Geschworenenrichtern handelte es sich bei den öffentlichen Schiedsrichtern um juristische Laien. Das Verfahren fand wie bei den Gerichten an einem öffentlichen Ort statt.
Kultur der Öffentlichkeit, Sozialkontrolle Athen war als Großpolis dörflichen Strukturen längst entwachsen, dennoch herrschte auf der Ebene der Nachbarschaften eine fast lückenlose Sozialkontrolle, die über Gerede, engl. gossip, funktionierte (vgl. Cohen 1990 in Bezug auf vor- und außereheliche sexuelle Beziehungen). Die Demen, die Dörfer außerhalb der Stadt, waren ebenfalls Teil der Polis. Dort herrschten sehr wohl noch Bedingungen einer face-to-face society. Insgesamt charakterisierte sich das Polisleben durch eine Kultur der Öffentlichkeit, wodurch Kontrolle immer gegeben war.
Rolle der Sozialisation Die Sozialisation als athenische Bürger von Kindheit an impfte sowohl Jungen als auch Mädchen geschlechtsspezifische Rollenbilder und das Leitbild des idealen Bürgers, des politēs, ein. Dieser ideale Bürger, der sich für den Gesamtverband der Heimatpolis verantwortlich zeigt, zeichnet sich durch Trieb- und Affektkontrolle aus. Jungen Männern waren innerhalb eines gewissen Rahmens Eskapaden gestattet, spätestens jedoch mit der Heirat und der Zeugung von eigenen Kindern musste die Rolle des besonnenen Erwachsenen eingenommen werden. Eine Ideologie der Mäßigung breitete sich von der archaischen Zeit an immer weiter aus und verankerte sich tief im kollektiven Unbewussten der Athener. Enkrateia (Selbstbeherrschung) und sōphrosynē (Besonnenheit), ursprünglich aristokratische Werte, demokratisierten sich, wurden von der Philosophie propagiert und erreichten mit der Verbreitung durch die Neue Komödie Menanders ihre größte Wirkungskraft. Zorn und Unbeherrschtheit, schon in der Ilias an der Figur Achills problematisiert, galten nun, unter der Demokratie, nicht mehr nur als unschicklich, sondern geradezu als tyrannisch, barbarisch und damit gar als ungriechisch. Das delphische mēden agān
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(nichts zu viel) und gnōthi sauton (erkenne dich selbst) sind die religiösen und individual-ethischen Pendants zur staatsbürgerlichen Morallehre der Verantwortlichkeit gegenüber der Polis.
Rolle der Religion Die Rolle der Religion sollte bei der Betrachtung der Sozialkontrolle und dem Postulat der Selbstbeherrschung nicht vernachlässigt werden. Alle Athener waren in mehreren Kultgemeinschaften organisiert. Am bekanntesten sind die Demen-, Phra trien- und Phylenkulte, derer es zwei gab: Die zehn Kleisthenischen Phylenheroen ersetzten nicht die vier Heroen der alten ionischen Phylen, sondern ergänzten sie. Schon bald nach der Geburt eines Kindes nahm der Vater das Kind am Fest der Apaturien in die Phratrie auf. Durch die Teilnahme an einer Vielzahl von religiösen Festen – jenseits der häuslichen, lokalen und regionalen Kulte gab es noch die großen Feste der Polis, zu denen alle Einwohner zusammenkamen, wie etwa die Panathenäen, die Lenäen und Großen Dionysien – wuchsen die Kinder in den religiösen Kosmos der Polis Athen hinein. Das Jahr war nach dem Festkalender gegliedert; diese religiöse Struktur bot Sicherheit und Geborgenheit. Gleichzeitig mit dem Kennenlernen der Riten, die an den diversen Kultfesten zu vollziehen waren, wurden die Kinder wie selbstverständlich auch in die dazugehörigen Mythen eingewiesen. Die Kinder und Heranwachsenden lernten, was z. B. Hybris und Nemesis bedeuteten, welche Erfordernisse zur Rache es gab, welche Pflichten sich gegenüber den Eltern und den Göttern gebührten. Rituale und Mythen halfen den Menschen, den geltenden Wertekanon zu verinnerlichen, zu leben und selbst wieder an die nächste Generation weiterzugeben.
Zentrale Rolle der Rituale Hiermit ergibt sich nun zwangsläufig die zentrale Rolle, welche Rituale in der athenischen Gesellschaft spielten. In einer semi-oralen Gesellschaft ist es besonders wichtig, Botschaften auch nonverbal kommunizieren zu können. Rituale sind standardisierte, repetitive und symbolische Aktionen, die in einem vom Alltag abgetrennten Bereich stattfinden. Sie werden an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit vor Publikum aufgeführt. Der performative Charakter des Ritualvollzugs vermittelt an die Ritualteilnehmer wie an die Zuschauer sozial relevante und symbolische Botschaften. Dabei konstruiert und repräsentiert der performative Akt Realität und Identität. Vor allem bewirken Rituale etwas: Die Ritualteilnehmer werden in einen andern Sozialstatus transferiert oder erlangen eine höhere geistige
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Einsicht. Es gibt Rituale religiöser und profaner Art, die jede Gesellschaft prägen. Die athenischen Gerichtsprozesse können aus dieser Perspektive als profane Rituale innerhalb eines religiösen Rahmens gelten, denn vor dem Gerichtsgang wurden Eide bei den Göttern geschworen, Opfer dargebracht und Apollon angerufen, der Raum des Gerichts also rituell markiert (Huizinga 1964 zum Spielcharakter der Gerichte allg.; Riess 2012, S. 22–32 zur Ritualität der athenischen Gerichte).
Ritualcharakter des öffentlich-politischen Bereichs Charakteristisch für die athenische Streitbeilegung generell war ihr Öffentlichkeitsund damit auch Ritualcharakter. Der Bereich des Politischen – wie des Privaten – war in Volksversammlung und Rat (boulē) hoch ritualisiert. Bzgl. der rituellen Rahmung sind wir für den Volksversammlungsplatz am besten informiert: Ein Priester, der sog. Peristiarch opferte ein Ferkel, schnitt ihm die Hoden ab und trug sie um die Pnyx. Das Blut zog eine reinigende Grenze um den Platz und definierte ihn als bedeutsam. Vor der eigentlichen Sitzung hielt ein Herold Gebete und verfluchte jeden, der versuchen würde, das athenische Volk zu täuschen, einschließlich Verräter und Staatsfeinde. Eine ähnliche Prozedur ist auch für den Rat belegt.
Das Ritual des Theaters Auch der Bereich des Religiösen und Festiven war hoch ritualisiert, von den kōmos- Umzügen zu Ehren Athenes oder Dionysos’ an den großen Jahresfesten bis hin zu den Theateraufführungen zu Ehren des Dionysos. In den Tragödien und Komödien wurden in mythischer bzw. in komischer Brechung Reflexionsräume aufgespannt und Werte ausgehandelt. Die politischen Implikationen der Tragödien konnten eruiert werden, ebenso kommentiert die Komödie das Tagesgeschehen der Polis, ohne direkt Handlungsanweisungen zu geben. Die Entlastungsfunktion vom harten Alltag, die das Drama den Athenern gab, steht außer Frage (von Möllendorff 2002, S. 94–104, insbesondere zur rituellen Struktur der Wespen des Aristophanes) – anders als in der Ekklesia mussten die Zuschauer im Theater nicht über drängende Tagesprobleme entscheiden, sehr wohl aber sollten sie zum Nachdenken angeregt werden. Am Ende gab es doch eine Entscheidung auch im Theater zu fällen: Auf Grundlage des Applauses bestimmten zehn vorgewählte und geloste Schiedsrichter, wer den Sieg im dramatischen Agon davontrug. Dieselben Menschen, die es gewohnt waren, als Richter tagtäglich Urteile zu fällen, gingen auch ins Theater und trafen eine bestimmte Wahl. Der Agon des Gerichts, in dem es um Leben oder Tod gehen konnte, verlagerte sich im Bereich des Theaters ins Agonale der Kunst.
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Theaterbesuch als staatsbürgerliche Pflicht Zu Recht betrachteten die Athener das Theater als die Schule Athens. Der Theaterbesuch war ihnen denn auch so wichtig, dass sie den Besuch mit einer eigenen Staatskasse, dem theōrikon, subventionierten. Die Athener gewährten sich selbst Gelder, um ins Theater zu gehen und über aktuelle Sinnzusammenhänge nachzudenken. Damit avancierte der Theaterbesuch zur staatsbürgerlichen Pflicht, wie der Besuch der Volksversammlung oder die Bereitschaft, als Geschworenenrichter zu dienen.
Öffentliche Verhandlungsräume mit rituellem Charakter Die Athener schufen also jenseits der Gerichte Verhandlungsräume mit extrem öffentlichem und rituellem Charakter, Räume, deren Besuch obligatorisch war. Alle Inhalte wurden dort öffentlich zur Diskussion gestellt und mehrheitlich entschieden. Das war bis dato gänzlich neu in der Weltgeschichte. In der Volksversammlung fasste man politische Beschlüsse, im Gericht fällte man Urteile in Streitigkeiten, im Theater bestimmte man den Sieger im dramatischen Agon. Überall wurden Bedeutungen und Sinnzusammenhänge tabulos diskutiert und auf hohem Reflexionsniveau analytisch durchdrungen. Das Prinzip war immer das gleiche: Man wollte weder Berufspolitiker noch Berufsjuristen noch professionelle Literaturkritiker. Das Volk traf in zufälliger Zusammensetzung an einem gegebenen Tag Entscheidungen.
Die Rolle der Fluchtäfelchen Die Betrachtung der konfliktlösenden bzw. konflikthemmenden Rituale wäre aber nicht vollständig ohne einen Blick auf die sogenannten Fluchtafeln, Bleiblättchen, welche die Athener v. a. ab dem 4. Jahrhundert mit Flüchen beschrieben und auf dem Friedhof des Kerameikos oder in Brunnen oder nahe am Wohnbereich der Opfer deponierten, um persönlichen Feinden zu schaden (→ 15. Dreher). Im Bereich der Schwarzen Magie sehen wir Ritualisierungen deutlicher als in jedem anderen Lebenskontext. Rituelle Handlungen und Sprache sind untrennbar miteinander verknüpft. Separationsriten trennten den Verfluchenden bzw. den von ihm angeheuerten professionellen Magier vom Alltag ab. Die depositio der Tafel fand dann in einer liminalen Sphäre statt, meist auf dem Friedhof, entweder in der Abenddämmerung oder in der Nacht. Die Tafel wurde dann meist in Gräbern jüngst Verstorbener begraben (erwähnt in DTA 55 = Gager no. 64; DTA 87 = Gager no. 62), idealerweise sogar in die rechte Hand des Toten gelegt (Gager no. 105 = SGD 1; SGD 2). Während der depositio murmelte oder sang der Magier rituelle Texte, die z. T. auf den Tafeln erhalten sind. Möglicherweise vollzog der Magier auch Bewegungen bzw.
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rituelle Tänze. Adressaten des Rituals waren die Totengötter, die auf den Täfelchen angerufen wurden, meist Hermes, Hekate und Persephone.
Arten von Fluchtäfelchen Fluchtafeln wurden in vier Lebensbereichen und Konfliktsituationen eingesetzt: (1) die Prozessflüche verfluchten den Gerichtsgegner, Kläger oder Verteidiger, vor einem Gerichtsgang (z. B. DTA 38). Da der private, politische und rechtliche Bereich nicht getrennt waren, findet man hier auch Politiker als Auftraggeber, die Rivalen verfluchen. (2) Defixiones agonisticae sollten bei Wettbewerben dem Fluchenden einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen. Im klassischen Athen betrifft dies den Bereich des Theaters und der Chorēgie (z. B. Gager no. 1 = DTA 34). (3) Händler und Handwerker verfluchten oft ihre Konkurrenten mit sog. business spells (DTA 69 = Gager no. 63). (4) Erotische Flüche lassen sich in Trennungsflüche (separative love spells) und Anziehungsflüche (attraction spells) unterscheiden. Für das klassische Athen sind nur Trennungsflüche belegt, z. B. DTA 78 = Gager 23.
Analogie zwischen Gerichtswesen und Bindezauber Alle gesellschaftlichen Schichten griffen zu Flüchen. Sie wurden, wie die Onomastik zeigt, parallel zu Gerichtsprozessen eingesetzt, in der Mehrzahl der Fälle wohl aber ohne Bezug zu einem Rechtsstreit. Der Zugang zu Konfliktlösungsmodi war sozial abgestuft: Reiche Oberschichtangehörige konnten sich sowohl einen professionellen Magier als auch einen versierten Logografen leisten, der ihnen eine rhetorische ausgefeilte Gerichtsrede vorbereitete. Ärmere scheuten wohl den Gang vor Gericht, denn sie hatten nicht öffentlich zu sprechen gelernt. Ihnen blieb oftmals nur das klandestine Mittel des Bindezaubers. Und wenn sie sich keinen Magier leisten konnten, fluchten sie eben selbst, so gut sie konnten.
Alle Gesellschaftsschichten fluchten! Über Gebete und magische Rituale suchten die Fluchenden die Götter zu kontaktieren und sie zu überzeugen, zu ihren Gunsten zu handeln. Plato nennt diese Form der Einflussnahme peithō, Überzeugung (Pl. R. 364b–c; Lg. 909a–c; Pi. P. 4.219 erwähnt ebenfalls peithō explizit in Zusammenhang mit der Magie). Eine Analogie zum attischen Gerichtswesen wird deutlich, in dem Redner die Richter mit peithō, rhetorisch gedrechselter Überzeugungsarbeit, von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen suchten. Die Analogie zwischen dem Bindezauber und der Gerichtssphäre reicht jedoch noch weiter. Der Sprechakt des Verfluchenden initiiert eine Aktion
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gegen einen Gegner. Der Verfluchende entspricht dem Sprecher vor Gericht, weil Kläger und Angeklagte gleichermaßen Bindezauber anwandten. In beiden Fällen wurde ein formaler Prozess eingeleitet mit dem hierfür nötigen Personal. Man kontaktierte zuerst die zuständigen Behörden, in der Stadt die Richter, im Falle der Schwarzen Magie die chthonischen Götter. Im folgenden Prozess versuchte der Sprecher vor Gericht die Richter genauso wie der Verfluchende die chthonischen Götter von seiner Version der Dinge zu überzeugen, nämlich dass er unschuldig war und Schaden und Unrecht von seinem Gegner erlitt. Die Überredung (peithō) funktionierte vor Gericht mittels der Rhetorik, in der Magie mittels magischer Mittel und Rituale (zum Komplex der Fluchtafeln als Methoden sowohl der Gewaltanwendung als auch Konfliktlösung vgl. Riess 2012, S. 164–234).
Erfolg der athenischen Konfliktlösungsmodi Die Charakteristika der athenischen Konfliktlösungsmodi dürften aufgrund ihrer Erfolge als einzigartig in der griechischen Welt gelten. Eine Kultur des Dialogs und der offenen wie öffentlichen Diskussion ermöglichte die häufig stark performative, wenn nicht gar rituelle Aushandlung und damit oftmalige Behebung von Konflikten (Gerichte, Schiedsgerichtsbarkeit). Einen Sonderfall stellt die Welt des Fluches dar, in der mit den Göttern kommuniziert wurde. In der Ritualisierung gibt es deutliche Parallelen zwischen der Welt der Gerichte und dem Bindezauber. Selbst auf der rein diskursiven Ebene der Theateraufführungen wurde Raum zur Reflexion auf und zum persönlichen Austausch über Konflikte geschaffen. Demokratische Entscheidungsprozesse bzw. Losverfahren auf allen Ebenen stellten Fairness her und banden den Einzelnen in die Gemeinschaft rituell ein. Ein starkes Gemeinschaftsgefühl und damit ein Sensorium für staatsbürgerliche Pflichten entstand (Euergetismus), wie etwa die Erfüllung der Chorēgie oder der Triērarchie zeigt. Diejenigen, die in den Entscheidungsprozessen unterlagen, waren zum Schweigen verurteilt, da durch die Mehrheit die Stimme des Volkes gesprochen hatte. Ein dichtes Netzwerk an bürgerlichen und religiösen Vereinen und Assoziationen ermöglichte zudem nicht nur Sozialkontrolle, sondern vermittelte den allgemein verbindlichen Wertekanon an alle (vgl. Calhoun 1913; Ismard 2010). Die hier geschilderten athenischen Konfliktlösungsmodi können vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Horizontes durchaus als rational bezeichnet werden. Doch mit heutigen westlichen Maßstäben sind die athenischen Denkkategorien nicht zu vergleichen. Es geht hier nicht um einen vermeintlichen „Primitivismus“ der Alten, sondern vielmehr um das Innehalten und die Zurückhaltung des Historikers bzgl. solch komplizierter Wertungen und um die Anerkennung der pazifizierenden Leistung der athenischen Konfliktlösungsmodi.
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2 Kernprobleme der Forschung Inwieweit die athenischen Gerichte mit denen der heutigen westlichen Welt zu vergleichen seien, war Gegenstand hitziger Kontroversen zwischen Rechthistorikern auf der einen und Sozial- und Mentalitätshistorikern auf der anderen Seite. Insbesondere E. Harris (z. B. 2005, 2007) und G. Herman (1994, 2006) betonen ein angeblich reibungslos funktionierendes attisches Gerichtswesen, das Konflikte dauerhaft gelöst habe. Unter anderem D. Cohen 1995 sieht dagegen die Gerichte als Kampfmittel in lange andauernden Fehden an, die durchaus auch unblutig ausgetragen werden konnten. Zukünftige Forschungen werden sich verstärkt mit der symbolischen Kommunikation der athenischen Gerichte auseinandersetzen müssen. Wichtige Impulse hierzu haben aus gesellschaftstheoretischer Perspektive J. Ober (1989), der soziale Aushandelungsprozesse betont, und S. Humphreys (1985), welche die Zeugen behandelt, gegeben. Jüngst hat Lanni (2016) aus rechtssoziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive argumentiert, dass die Gerichte die Gesetze weniger durchsetzten, es also eine „rule of law“ im modernen, westlichen Sinne nicht gab, als vielmehr die diesem Prozess zugrunde liegenden Normen zur Geltung brachten. Hierin liege die expressive, d. h. symbolische Funktion des athenischen Gerichtswesens. Zur Beantwortung der Frage, wie die in den athenischen Nachbarschaften beinahe lückenlose Sozialkontrolle Konflikte regulierte bzw. vermied, wird von so ziologischen Überlegungen auszugehen sein. Von althistorischer Seite gibt es nur zaghafte Versuche (Hunter 1994; Dionisopoulos-Mass 1976 verbindet die Sozialkontrolle fruchtbar mit dem Schadenszauber des Bösen Blicks), die im interdisziplinären Dialog, auch mit der Methode des Kulturvergleichs, weiterzuführen sind. Für die archaische Zeit Griechenlands hat Schmitz (2004) das Funktionieren der Sozialkontrolle in der Nachbarschaft einer eindringlichen Untersuchung unterzogen (S. 273–276, 467–492; → 28. Schmitz). Der athenische Wertekanon, wie er aus den attischen Rednern, den philosophischen Schriften und insbesondere aus den Komödien Menanders herausdestilliert werden kann, muss jenseits einzelner Schlüsselbegriffe, die Gegenstand von Forschungen waren (North 1966; Rademaker 2005 zur sōphrosynē), weiter analysiert werden. Dabei sollte es künftig nicht mehr nur um die Erschließung der Semantik gehen, sondern muss die praxeologische Dialektik zwischen normativen Vorgaben und konkreter Umsetzung im Alltagshandeln untersucht werden. Gleiches gilt für die Rolle der Religion, der Mythen und der Zeremonien, die an Festen zu vollziehen waren. Hier bleibt es die Herausforderung der Religionswissenschaften, religiös motiviertes Erzählen und Handeln noch intensiver zu beleuchten (vgl. programmatisch Bierl 2007). In welchem Kontext wird wie religiös argumentiert? Welche religiösen Begründungszusammenhänge gibt es, die bei Konflikten in Anschlag gebracht wurden? Parker 1998 kann hierbei in seiner bewusst offenen Religionsgeschichte Athens als Ausgangspunkt gelten. Inwieweit ein Theaterbesuch Auswirkungen auf das konkrete Handeln der Menschen hatte, ist umstritten. Die antiken Quellen erlauben beide Schlüsse –
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ristophanes’ Angriff auf Kleon in den „Rittern“ verhinderte nicht seine WiederA wahl; andererseits erfüllte sich die Forderung des Chores in den „Fröschen“ nach Wiederherstellung der Bürgerrechte für all diejenigen, die sie 411 v. Chr. verloren hatten, im Dekret des Patrokleides –, doch dürfte der Einfluss des Theaters auf den Alltag der Athener gering einzustufen sein. Während die Frage nach dem politischen Gehalt bzw. nach dem Vorhandensein eines didaktischen Impetus in der aristophanischen Komödie als gut untersucht gelten kann mit dem Fazit, dass Aristophanes auf die Tagespolitik rekurriert, aber nur sehr begrenzt Handlungsanleitungen liefern wollte (vgl. Riess 2012, S. 257 f. mit der Diskussion der älteren Literatur), sind diese Überlegungen für die Neue Komödie bislang nur am Rande gestellt worden. So dezidiert S. Lape für die Komödien Menanders als antimakedonische Schlüsseltexte eintritt, so vereinzelt ist ihr Versuch geblieben. Ob die Werte der „bürgerlichen“ Mäßigung und Zurückhaltung, die von Menanders Stücken positiv konnotiert werden, nun die Welt des beginnenden Hellenismus in Athen widerspiegeln oder aber angesichts der wichtigen Rolle gegenteiliger Emotionen viel eher propagieren, ist noch nicht erforscht worden und wird angesichts mangelnder Quellen wohl auch im Dunkeln bleiben. Die Fluchtafeln als Mittel der Konfliktkatalysatoren sind in den letzten Jahren verstärkt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Bereits C. Faraone hat ihren intrinsischen Zusammenhang mit dem attischen Gerichtswesen betont und auch die Verbindung zur Sozialkontrolle gesehen (Faraone 1999). Die Analogie zwischen Fluch und Gerichtsgang wurde von W. Riess 2012 herausgearbeitet und wird von Zinon Papakonstantinou weiter monografisch ausgeleuchtet werden. Während bei der Gerichtsbarkeit die Akteure bekannt sind (Kläger, Angeklagter, Geschworenenrichter), ist die Frage nach der Handlungsmacht (agency) realer und imaginierter Ritualteilnehmer (vgl. Johnston 1999 zur Rolle der Toten in der Magie) derzeit Forschungsthema (vgl. Collins 2003; Papakonstantinou 2017). Auch als Mittel der Risikobewältigung wurden die Fluchtäfelchen gedeutet (Eidinow 2007). Besondere Berücksichtigung wird in der Zukunft auch die spezifische Kommunikationssituation der Fluchtafeln finden. Ihre oszillierende Stellung zwischen Anrede an die Götter und potenziellem Ansprechen des Opfers bzw. seiner Familie wurde von Brodersen 2001 und Kropp 2004 angesprochen. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften bereitet derzeit eine Neuedition aller attischen Fluchtäfelchen im Rahmen des Inscriptiones Graecae Projekts vor, was den Zugang zu diesem schwierigen Material auf eine neue Grundlage stellen wird. Der Thesaurus Defixionum Magdeburgensis (TheDeMa) stellt alle edierten antiken Fluchtafeln in Originalsprache und deutscher Übersetzung online zur Verfügung.
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Kapitel 6
Die Rolle der Rhetorik Stefan Freund
1 Überblick Da eine Rechtsgelehrsamkeit und eine systematische juristische Ausbildung in der Antike sich erst in der römischen Kaiserzeit langsam zu entfalten beginnen (vgl. Giaro 2001, S. 818), bestimmen in der griechischen Antike und in der römischen Republik Kategorien der Rhetorik die gesellschaftlich wahrnehmbare Gestalt, die auf uns gekommene systematische Reflexion und die Entwicklung institutionalisierter dialogischer Konfliktlösung. Die folgende Darstellung konzentriert sich daher auf die antike Rhetorik bis ins erste nachchristliche Jahrhundert und orientiert sich an ihren wirkungsreichsten Vertretern Aristoteles, der die erste Theorie vorlegt, Cicero, der die griechische Theoriebildung weiterentwickelt, in die römische Welt überträgt und in seinen Reden einen Einblick in die praktische Anwendung bietet, und Quintilian, der die rhetorische Theorie der Antike formgebend systematisiert. Unter Rhetorik versteht die Antike die Kunst des guten Redens in der Öffentlichkeit1 mit dem Ziel, den oder die Zuhörer zu überzeugen. Bezieht man dies auf den Umgang mit Konflikten zwischen zwei Kontrahenten, kann man die Rhetorik als ein Mittel verstehen, einen Konflikt verbal, öffentlich und durch Überzeugen zu lösen. Folgende Konstellationen des Überzeugens sind denkbar: a) Ein Kontrahent überzeugt den anderen von seiner Sicht, so dass der Konflikt einvernehmlich beigelegt wird. b) Eine neutrale Instanz überzeugt beide Kontrahenten, so dass der Konflikt einvernehmlich beigelegt wird. c) Einer der Kontrahenten überzeugt einen den Konfliktparteien übergeordneten Entscheidungsträger (einen Richter, Geschwo So die Definition als ars bene dicendi, Quint. inst. 2,17,37.
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S. Freund (*) Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Klassische Philologie, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_6
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rene, die Volksversammlung usw.), so dass der Konflikt im Sinn der überzeugenden Partei beigelegt wird. – Die Fälle a) und b) sind eher in der literarischen Rhetorik angesiedelt und gehören in eine narrativ gestaltete Dramaturgie: Den Fall a) findet man beispielsweise nach zwei Reden bei Minucius Felix im Octavius: Der Titelheld überzeugt im Rahmen eines Dialogs seinen Gesprächspartner Caecilius, der sich zunächst gegen das Christentum geäußert hatte, von dieser Religion (Min. Fel. 40,1–3; zum literarischen Kontext Schäublin 1985). Es gibt auch asymmetrische Situationen, in denen nur einer spricht: Menenius Agrippa überzeugt bei Livius die Plebs mit der Fabel vom Magen und den Gliedern zur Rückkehr in die Stadt (Liv. 2,31,7–32,12), Caesar ermutigt im Bellum Gallicum sein vor den Germanen schauderndes, vor der Meuterei stehendes Heer zum mutigen Durchhalten (Caes. Gall. 1,39–41; dazu Hillgruber 1996 und Tsitsiou-Chelidoni 2010). Dabei gibt es auch die Möglichkeit, dass eine Beilegung nicht erreicht oder auch nicht wirklich angestrebt wird, sondern sich eher die Strukturen des Konflikts zeigen, so etwa bei Thukydides im Melierdialog (Thuk. 5,84–116; dazu von Reden 2013), oder dass der Konflikt sich im Streit noch vertieft, so etwa zwischen Achill und Menelaos zu Beginn der Ilias (Hom. Il. 1,54–187; dazu Dentice di Accadia 2012). Der Fall b) ist seltener und setzt eine besondere, wiederum in einer Dramaturgie begründete Stellung des Sprechers voraus. Man denke etwa an die geraubten Sabinerinnen, die bei Livius dem Kampf zwischen ihren Vätern und ihren Räubern Einhalt gebieten (Liv. 1,13,1–5, dazu Kowalewski 2002, S. 27–30), oder an auflösende Dramenenden, in denen ein Wissender die Missverständnisse klärt und damit den Konflikt beendet – so etwa die Athene in Euripides’ Iphigenie im Taurerland (1435–1474). Im weiteren Sinne hierher gehören die von bestimmten Personen herbeigeführten Anagnoriseis am Ende von Komödien, so etwa Gripus in der Schlussszene von Plautus’ Rudens (1357–1423; dazu Schmude 1988; Wallochny 1992; Scafuro 1997). Der Normalfall, den die antike Rhetorik, wenn es um Konfliktlösung geht, im Blick hat, ist aber c), und zwar in Form der Gerichtsrede. Sie steht, sowohl vor der beratenden politischen als auch der Festrede, so ja die bekannte Einteilung, im Mittelpunkt der rhetorischen Theoriebildung und Lehre. Aristoteles geht in der Einleitung seiner Rhetorik ganz selbstverständlich von einem Richter als dem Adressaten einer Rede aus (Ar. rhet. 1,1,4, 1354a 18). Im Fall der klassischen Gerichtsrede liegt freilich die eigentliche Konfliktlösung nicht in der überzeugenden Rede selbst, wie es in den Fällen a) und b) wäre, sondern in den gesellschaftlichen Institutionen, also zum Beispiel dem Rechtswesen oder dem Herrscher, die über den Lösungsweg entscheiden und die Umsetzung der Lösung gewährleisten. Die theoretische Möglichkeit, nicht nur den Richtern, sondern auch (und eventuell vor einem Urteil) den Gegner zu überzeugen – also obiger Fall a) – kommt beispielsweise in Quintilians umfassendem Lehrwerk der Redekunst, der Institutio oratoria gar nicht vor. Typisch für die Gerichtsrede ist ihre Einbindung in eine Dialektik von Rede und Gegenrede, von Anklage und Verteidigung (vgl. Martin 1974, S. 15–28; Lausberg 2008, §§ 61.63). Beide Reden beschreiben jeweils aus der Sicht ihrer Partei das Handeln einer bestimmten Person und erklären dieses unter Rückgriff auf bestimmte Normen für unrechtmäßig oder rechtmäßig. Nach Aristoteles trägt die Dialektik von Anklage- und Verteidigungsrede zur objektiven Klärung des strittigen Sachverhalts und damit zur Wahrheitsfindung bei
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(Ar. rhet. 1,1,6, 1354a 26 ff.).2 Der Richter muss sich angesichts der beiden ihm dargebotenen Versionen für die überzeugendere entscheiden. Der Nutzen des rhetorischen Meinungswettstreits liegt für Aristoteles darin, dass letztlich Gerechtigkeit und Wahrheit obsiegen müssten, weil sie von Natur aus stärker seien als ihre Gegensätze (Ar. rhet. 1,1,12, 1355a 21 ff.). Jedoch hat diese objektive Wahrheits- und Rechtsfindung durch die Dialektik der Reden ihre Grenzen; so sei mancher Richter einfach nicht imstande, den zutreffenden und vielleicht komplexen Erklärungen für einen Sachverhalt zu folgen (Ar. rhet. 1,1,12, 1355a 24 ff.). Und neben der mangelnden Auffassungsgabe des Richters sieht Aristoteles auch in dessen emotionaler Beeinflussbarkeit eine Schwierigkeit: Manche Rhetorenschulen erstrebten nicht eine logische Beweisführung, sondern die Manipulation des Richters und lehrten, wie man diesen zu Zorn oder Mitleid reize. Eine solche Einflussnahme müsse durch staatliche Regulierung des Gerichtswesens unterbunden werden (Ar. rhet. 1,1,3–5, 1354a 11 ff.). Die spätere rhetorische Theorie der Antike, im Besonderen die von Cicero und Quintilian, betrachtet nicht mehr so sehr das Verfahren insgesamt, sondern rückt die Anklage- und die Verteidigungsrede mit ihren rhetorischen Anforderungen in den Mittelpunkt. Diese Reden müssen in einem positiven Sinn parteiisch sein, also aus dem Blickwinkel je eines der Kontrahenten die Sache darlegen (vgl. etwa Cic. inv. 2,129; Quint. inst. 2,15,12; 7,3,15). Gleichwohl tragen die Redner dazu bei, den Konflikt lösungsorientiert zu strukturieren. So fragt die rhetorische Theorie zunächst nach der relativen Vertretbarkeit des einzunehmenden Parteistandpunkts (genera causarum) (vgl. Quint. inst. 4,1,40 f.; Lausberg (2008) § 64). Das heißt: Entspricht die Position der eigenen Seite ganz dem Rechtsempfinden der Richter und des Publikums, auf dessen Sympathien man daher hoffen darf (honestum genus)? Oder werden die Ansichten zwiegespalten sein, weil es sich um einen strittigen Fall handelt (anceps genus)? Oder muss der Redner für eine Position einstehen, der man mit negativer Haltung begegnen wird, weil sie als abstoßend (admirabile genus) oder als allzu banal (humile genus) oder als zu kompliziert (obscurum genus) empfunden wird? Die Haltung der Allgemeinheit bezüglich des Konflikts und möglicher Lösungen wird also systematisch einbezogen. Ziel des Redners muss es sein, nötigenfalls auch aus unterlegener Position der eigenen Partei zum Sieg zu verhelfen und dabei die Empörung (indignatio) über die Akteure oder das Mitleid (conquestio) mit ihnen3 einzubeziehen. In diesem Zusammenhang finden sich Hinweise, wie man einen Richter für sich einnimmt (Cic. inv. 1,22; Quint. inst. 4,1,16–29; Lausberg 2008, §§ 273–279) oder wie man eine falsche Tatsachenbehauptung (confictio) glaubhaft darstellt (Auctor ad Herennium 1,16; vgl. Lausberg 2008, § 902). Daneben hält das rhetorische System weitere Kategorien für die Einordnung eines Streitfalles bereit, nämlich nach Komplikationsgrad – handelt es sich um eine Frage, quaestio simplex, um mehrere zusammenhängende Fragen, quaestio coniuncta, oder um eine Alternativfrage, quaestio comparativa? (Quint. Inst. 3, 10, 1. 3; Laus Zur Problematik dieses Wahrheitsbegriffes, der sich auf das fokussiert, wovon eine konsensuale Überzeugung erreicht werden kann, aber Göttert 1998, S. 10–12, 195–197; Ueding 2005, S. 30–33. 3 Zu indignatio und conquestio Cic. inv. 1,98.100; Lausberg 2008, §§ 438 f. 2
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berg 2008, § 67) – und nach Konkretheit – handelt es sich um eine abstrakte Grundsatzfrage, quaestio infinita, oder um eine konkrete Einzelfrage, quaestio finita? (Quint. inst. 3,5,5–9; Lausberg 2008, §§ 68–78). Von besonderer Bedeutung ist die Frage nach dem status (Cic. top. 93; Quint. inst. 3, 6, 1–3; 11, 27; Lausberg 2008, §§ 79–138). Sie führt zu einer Präzisierung dessen, was in einem Fall entweder auf der Hand liegt und von beiden Seiten eingeräumt wird (confessum), oder was strittig ist (controversum). Es werden vier status unterschieden: (1) Das Vorliegen eines Tatgeschehens und Täterschaft des Angeklagten (coniectura), beispielsweise: Ist jemand getötet worden und ist der Angeklagte der Täter? (2) Die rechtliche Bewertung des Tatgeschehens (finitio), beispielsweise: Liegt eine vorsätzliche oder eine fahrlässige Tötung vor? (3) Das Vorliegen von genügenden Rechtsgründen für die Tat (qualitas), beispielsweise: Durfte der Täter das Opfer töten, etwa aus Notwehr? (4) Die Rechtmäßigkeit des Verfahrens (translatio): Darf diese Sache vor diesem Gericht verhandelt werden? – Diese vier status setzen eine besondere Dialektik zwischen den Rednern beider Seiten voraus: Anklage und Verteidigung müssen genau abwägen, wie sich die jeweils andere Partei in den vier status angesichts der Sach- und Beweislage verhalten wird. Somit ergibt sich idealerweise eine Fokussierung eines Konflikts auf eine ganz bestimmte Fragestellung, die das Gericht zu entscheiden hat (iudicatio). Es wäre also beispielsweise nur noch zu verhandeln, ob der Angeklagte aus Notwehr gehandelt hat oder nicht, wenn auch die Verteidigung angesichts der Beweislage einräumt, dass er jemanden vorsätzlich getötet hat. – Die Konzeption von Anklage- und Verteidigungsrede in der rhetorischen Theorie enthält also durchaus lösungsorientierte Ansätze: Die Anklage konzentriert eine unter Umständen komplexere Konfliktlage auf eine konkrete und entscheidbare Streitfrage (controversia) hin. Die Dialektik von Anklage- und die Verteidigungsrede vermittelt dem Richter ein Bild von dieser Streitfrage, das die Positionen und die Interessen beider Parteien beinhaltet. Sachliche Aspekte werden dabei unter Berücksichtigung der Position der jeweiligen Gegenseite abgewogen. Damit wird klar, wo ein Konsens und wo ein Dissens vorliegt, also über welche Sachfragen das Gericht befinden muss. Außersachliche Aspekte wie die allgemeine Stimmung, Empörung oder Mitleid, Abneigungen oder Sympathien werden von den Rednern systematisch berücksichtigt. Die Reden bereiten damit die soziale Akzeptanz des Urteils mit seinen sachlichen und außersachlichen Implikationen vor. Zielpunkt ist dabei freilich nicht die Konfliktlösung, sondern stets die Überzeugung des Richters im Sinn der eigenen Partei, die idealerweise eine von breitem gesellschaftliche Konsens getragene Lösung des Konflikts mit sich bringt. Grundtendenz der Konfliktlösung in der rhetorischen Theorie ist, wie soeben skizziert, die Konzentration auf eine konkrete, gerichtlich und unter allgemeiner Zustimmung entscheidbare Rechtsfrage. Beim Blick auf Ciceros Gerichtsreden, gehalten in der von politischen und sozialen Auseinandersetzungen geprägten Endphase der römischen Republik und, auch durch die Prominenz des Redners, meist angesiedelt im Brennpunkt des Geschehens, zeigen sich weitere und komplexere Strategien der rhetorischen Konfliktbewältigung in der rhetorischen Praxis. Um diese exemplarisch zu erläutern, seien hier zunächst fünf in Datierung und Konstellation unterschiedliche Reden im Hinblick auf den zugrunde liegenden Konflikt und
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die Strategien seiner Lösung vorgestellt.4 Auf dieser Basis können dann die Konfliktbewältigungsstrategien näher erläutert werden. (1) In Ciceros Rede Pro Quinctio (Juni 81 v. Chr.) geht es um einen zivilrechtlichen Fall (zur Rede Mette 1965; Wieacker 1965, S. 18–23; Hinard 1975; Bannon 2000; Platschek 2005; Kirov 2005, S. 173–203; Usher 2008, S. 5–7; Harries 2011; Hermann 2012): Naevius hat die Güter seines früheren Geschäftspartners Quinctius in dessen Abwesenheit beschlagnahmen lassen. Die Frage ist nun, ob Quinctius durch Alfenus, der für ihn der Beschlagnahme widersprach, gültig vertreten war. Cicero beginnt seine Rede an den Einzelrichter Aquilius gewandt damit, dass er seine Sache im Nachteil sehe: Der Gegner habe den besseren Anwalt und mehr Ansehen; sein Mandant Quinctius sei mittellos, er selbst habe spät das Mandat übernommen und sei nun mangels Talent auf seine Gründlichkeit angewiesen. Dies stelle besondere Anforderungen an die Wahrheitsfindung durch den Richter. Überdies kämpfe Quinctius um seine Existenz, hinter dem Gegner Naevius stünden mächtige Männer, neben ihm der großartige Anwalt Hortensius, schließlich sei Quinctius bisher schon vom Prätor benachteiligt worden, und zwar durch den Einfluss des Naevius. Erst dann kommt der eigentliche Streitgegenstand zur Sprache. Das Proömium führt also nicht in einen Konflikt um eine konkrete Rechtsfrage, sondern in einen Konflikt zwischen zwei ungleichen Gegnern ein. Im Verlauf der Rede deuten sich immer wieder politische Hintergründe an: Die strittige Vermögensbeschlagnahme fand statt, als in Rom Marius und die Popularen herrschten, mittlerweile haben die Optimaten um Sulla die Macht übernommen. Daraus gewinnt Cicero zum einen das Argument, der Marianer Alfenus habe unter diesen Umständen sicher wirksam Widerspruch für Quinctius einlegen können; zum anderen stellt er den Gegner Naevius als Popularen dar. Dazu passt Ciceros gegensätzliche Charakterisierung der Kontrahenten: Naevius erscheint, dem Klischee des Popularen entsprechend, als Lebemann und Tunichtgut, Quinctius als biederer Hausvater, dem es nur darum geht, seine Tochter anständig zu verheiraten und seinen so lange bewahrten guten Namen nun nicht im Alter noch zu verlieren. (2) Die Rede Pro Roscio hält Cicero 80 v. Chr. vor Geschworenen (Zur Rede Stroh 1975, S. 55–79; Kinsey 1985; Fuhrmann 1997; Usher 2008, S. 7–12; Dyck 2010; Gildenhard 2011, S. 352–358; Nótári 2014, S. 23–42). Der junge Sextus Roscius ist angeklagt, seinen Vater getötet zu haben, um einer drohenden Enterbung zuvorzukommen. Der Fall hat einen brisanten politischen Hintergrund: Den reichen alten Roscius hatte man nach seiner Ermordung noch nachträglich auf die bereits geschlossene Proskriptionsliste gesetzt. Schon in der Einleitung legt Cicero die Hintergründe des Prozesses offen: Er wolle Roscius nicht schutzlos lassen, und eigentlich gehe es im Verfahren nicht um einen Vatermord, sondern um ein Vermögen von sechs Millionen Sesterzen, das der mächtige Chrysogonus günstig von Sulla gekauft habe und sich nun durch eine Vergleichbare Analysen weiterer Reden finden sich weit ausführlicher bei Stroh 1975, S. 80–295; Classen 1985, S. 15–367; Nótári 2014. 4
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erurteilung des jungen Roscius sichern wolle. Das Gericht, so appelliert V Cicero, solle sich nicht zum Werkzeug von Chrysogonus’ Habgier machen lassen. Damit ist zum einen der Drahtzieher Chrysogonus beim Namen genannt und das von der Anklage behauptete Motiv, nämlich sich das Erbe zu sichern, ausgehebelt: Der junge Roscius verfügt ja nicht über das Erbe. In der argumentatio setzt sich Cicero zunächst noch detaillierter mit den Beweisgängen der Anklage auseinander, Ausgangspunkt bleibt das fehlende Motiv auf Seiten des Sohnes, der ein intaktes Verhältnis zu seinem Vater gehabt habe. Sehr wohl ein Motiv findet Cicero dann umgekehrt bei zwei verfeindeten Verwandten des alten Roscius: Diese hätten sich Chrysogonus mit der Idee, den alten Roscius zu töten und sein Vermögen an sich zu bringen, angedient und den Mord ins Werk gesetzt. Schließlich werden die Tatanteile des Chrysogonus erhellt, der Mord selbst wird ihm nicht angelastet. Gegen Ende tritt der eigentliche Anklagevorwurf in den Hintergrund, stattdessen konzentriert sich Cicero auf die Habgier des Chrysogonus und seinen Versuch, sich den Besitz des alten Roscius anzueignen. Ihm gegenüber tritt der junge Roscius, den Cicero, zunächst die Anklage aufgreifend, als ganz auf seine Scholle ausgerichteten und etwas menschenscheuen, durch und durch biederen Landmann darstellt. In aller Naivität kann Cicero seinen Roscius sogar die Frage aufwerfen lassen, was wäre, wenn die Kinder der Geächteten ihre Güter zurückforderten. Anschließend schildert Cicero, wie der verarmte junge Roscius nun von mitleidigen Verwandten unterhalten wird, dessen uneigennütziges und edles Tun ganz den Idealen der Optimaten entspricht. Damit stehen aber Chrysogonus, der Günstling des Optimatenführers Sulla, und die Optimaten plötzlich auf unterschiedlichen Seiten. Chrysogonus ist als Verbrecher und Repräsentant einer gemeingefährlichen Gruppe gewissenloser Profiteure isoliert, und zwar sowohl von Sulla, der nichts von Chrysogonus’ Taten wisse, als auch von den Optimaten insgesamt. Es wird klar: Die jetzige Wiederherstellung der Adelsherrschaft durch Sulla lässt sich nur behaupten, wenn man gegen Leute wie Chrysogonus vorgeht: gerade um das von Sulla errichtete System zu stabilisieren, müssen die Menschen vor raffgierigen Verbrechern wie Chrysogonus geschützt werden. (3) Die Reden gegen Verres (70 v. Chr.) sind Ciceros umfangreichstes Werk und seine einzige Anklage (zu den Reden Neumeister 1964, S. 41–46; Steel 2001, S. 22–47; Usher 2008, S. 15–35). Wie schon bei Naevius und bei Chrysogonus spaltet Cicero auch hier den Angeklagten von seiner sozialen Umgebung ab, also vom Senatorenstand. Cicero hingegen handelt zum Vorteil dieses Standes, denn die Konsuln Crassus und Pompeius ändern gerade die Besetzung der in Misskredit geratenen Gerichte zuungunsten der Senatoren. Daher hat die Verfolgung eines einzelnen Ausnahmemissetäters, dessen charakterliche Verkommenheit, Inkompetenz und Korruptheit die Rede bekanntlich in allen Facetten schildert, eine grundlegende gesellschaftliche Relevanz, indem sie dem schädlichen Misstrauen gegenüber dem Senatorenstand abhilft. (4) Die Rede Pro Rabirio hält Cicero im Jahr 63 als amtierender Konsul in einem Hochverratsprozess (zur Rede Lengle 1933; Tyrrell 1978; Primmer 1985; Usher 2008, S. 48–50; Brooke 2011): Der Senator Rabirius soll vor 37 Jahren an
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der Ermordung des Volkstribunen Lucius Saturninus beteiligt gewesen sein; nun droht ihm dafür die Hinrichtung am Kreuz, da es sich bei der Tötung eines Amtsträgers um Hochverrat handelt. Cicero führt in seiner Rede sofort auf den (auch wohl tatsächlich) hinter dem Vorwurf stehenden Punkt: Es geht nicht eigentlich um die Person des Rabirius, sondern um die Berechtigung des senatus consultum ultimum, also des Staatsnotstands. Damit kommen der Angeklagte und seine Tat aus der Schusslinie. Zugleich eröffnet Cicero einen neuen Konflikt, zwischen dem Ankläger Labienus, der die barbarische Kreuzigung fordert, und sich als Konsul. Den damals getöteten Saturninus isoliert Cicero dann buchstäblich von allen anderen wohlmeinenden Bürgern: Der habe sich mit einigen anderen auf dem Kapitol verschanzt, ihnen standen auf dem Forum die Konsuln (einer davon Marius) und der ganze Senat und der Ritterstand entgegen. Rabirius habe damals in gutem Glauben wie so viele angesichts des erklärten Staatsnotstands zu den Waffen gegriffen. Es diene dem Rechtsfrieden, dergleichen nicht 37 Jahre später zu ahnden, auch müsse das Urteil im allgemeinen Interesse dazu beitragen, den Ausnahmezustand als letztes Mittel zu erhalten. (5) Die Rede Pro Ligario hält Cicero im Jahr 46 vor dem Diktator Caesar (zur Rede Neumeister 1964, S. 46–56; Zink 1983; Bringmann 1986; Craig 1984; Rochlitz 1993; Gotoff 1993; Guérin 2003; Johnson 2004; De Caro 2008; Usher 2008, S. 121–123; Gildenhard 2011, S. 233–240; Nótári 2014, S. 215–236): Im Bürgerkriegsjahr 49 verweigert Quintus Ligarius als Legat des Statthalters in Africa auf Befehl des alten Amtsinhabers dessen rechtmäßigem Nachfolger Quintus Aelius Tubero und dessen Sohn, dem jetzigen Ankläger, die Landung in der Provinz. Warum, ist unklar, alle Beteiligten stehen auf der Seite des Pompeius. Zu diesem nach Griechenland begeben sich dann auch Tubero Vater und Sohn. Dort werden sie später von Caesar begnadigt und kehren nach Rom zurück. Ligarius bleibt bis zur Niederlage der Caesargegner bei Thapsus im April 46 in Africa. In dieser Situation erhebt nun der Sohn Tubero vor Caesar Klage. Cicero beginnt seine Rede ironisch: Es gehe um ein unerhörtes Verbrechen – Ligarius sei in Africa gewesen! Und da dies der Mitverteidiger auch noch eingeräumt habe, könne er nur noch um Nachsicht für den Angeklagten bitten. Freilich, so fährt Cicero ernst weiter, sei Ligarius sein Verhalten in Africa und sein Verbleib dort nicht vorzuwerfen. Mit dem Hinweis, selbst auf der Seite des Pompeius gestanden zu haben, leitet Cicero dann den ersten Teil seiner argumentatio ein: Tubero habe selbst in Africa landen wollen, nun gehe er grausam gegen Ligarius vor, zumal angesichts der bekannten Milde Caesars. Der zweite Teil der argumentatio lenkt den Blick auf die unmittelbar zurückliegende Auseinandersetzung zwischen Caesar und Pompeius und ihre spürbaren Folgen: Als Verbrechen habe vor Tubero noch niemand die Parteinahme für Pompeius bezeichnet. Caesar selbst sage, ihm sei es im Streit mit Pompeius um die Wahrung seines Rechtes und Ranges gegangen – und nicht etwa um die Auslöschung einer Gegenpartei. Schließlich spricht Cicero nochmals das Verhalten der beiden Tuberones an, mit dem sie sich ihrerseits angreifbar gemacht hätten: Wären sie gelandet, hätten sie entweder ihren Senatsauftrag verraten oder wären in derselben Situation gewesen wie nun Ligarius, nämlich in Africa geblieben zu sein;
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ü berdies hätten sie sich dann ja zu Pompeius begeben. Am Ende der Rede steht eine Abbitte für Ligarius, die an Caesars Milde appelliert. – Die Wirkung der Rede, so berichtet wenigstens Plutarch (Cic. 39,6 f.), sei so fulminant gewesen, dass Caesar bei der Erwähnung der Bürgerkriegsereignisse zu zittern begonnen und anschließend Ligarius begnadigt habe. Ciceros Reden lassen Muster der Konfliktlösung, die die antike Rhetorik bietet, klar erkennen: Der Redner ergreift in einer definierten controversia Partei für eine Seite. Innerhalb der Rede können die Formulierung der Streitfrage und die Bestimmung des status auch Gegenstand der Reflexion sein, so etwa in Pro Ligario 1 und 16, wo der Vorwurf des Afrikaaufenthalts thematisiert wird. Auch kann es in der Rede zur Sprache kommen, dass der Prozess der Wahrheitsfindung diene (vgl. Pro Quinctio 4 f.) und die Parteien unter unterschiedlichen Voraussetzungen antreten (vgl. Pro Roscio 1). Daneben zeigen sich in den untersuchten Reden die folgenden weiteren Strategien des Aufgreifens, Darstellens und Bewältigens von Konflikten: (1) Die Personalisierung: Hinter, teilweise auch neben der eigentlichen Streitsache werden persönliche Interessen- und Charaktergegensätze offengelegt; die eigene Partei erscheint dabei entsprechend rhetorischen Gepflogenheiten als moralisch überlegene oder auch menschlich sympathisch Identifikationsfolie, für die Gegenseite wird der umgekehrte Eindruck erweckt. Den Konflikt in dieser Hinsicht zu subjektivieren statt ihn zu versachlichen, soll den Zuhörer für die vertretene Sache und gegen die andere Partei einnehmen. Die Identifikationsvorgaben sind klar: So steht in der Rede Pro Quinctio der Lebemann Naevius dem ehrbaren Quinctius gegenüber, in der Rede Pro Roscio der habgierige Chrysogonus dem zurückgezogenen Landmann Roscius, der besonnene Cicero dem überzogenen Labienus, der für eine 37 Jahre zurückliegende Tat die Kreuzigung des Rabirius fordert. Bei Verres ist es eine persönliche Geschichte des gemeinschaftsschädlichen Rechtsbruchs – er steht gewissermaßen in einem Konflikt mit allem, was im römischen Staat zählen sollte. Jeder hätte im Konflikt zwischen Caesar und Pompeius wie Ligarius oder Cicero selbst auf die falsche Seite geraten können; diesen deswegen anzuklagen, obwohl man selbst Pompeianer war, ist doppelzüngig. (2) Die Rückbindung an gesellschaftliche Grundkonflikte: Im Hintergrund der Streitfälle, wie Cicero sie darstellt, stehen umfassende soziale und politische Verwerfungen. Diese werden in den Reden nicht etwa ausgeklammert oder beiseitegeschoben, sondern selbst dann bewusst benannt und argumentativ verwendet, wenn die Sachlage auch eine Fokussierung auf die controversia im engeren Sinn zuließe. In der Rede Pro Quinctio ordnet Cicero den zivilrechtlichen Streit vorsichtig, aber konsequent in die Zeitereignisse ein, also in die Herrschaft der Popularen und deren Vertreibung durch Sulla. In der Rede Pro Roscio schildert Cicero die Not derer, die von den Proskriptionen betroffen sind, und deutet den gesellschaftlichen Unfrieden an, der davon ausgeht. Die Verres-Reden nehmen ihren Ausgangspunkt vom Ansehensverlust der senatorischen Gerichtsbarkeit, in der Rede Pro Rabirio macht Cicero die Fortführung der Konflikte zwischen Popularen und Optimaten namhaft. In der Rede Pro
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Ligario reflektiert Cicero in verblüffender Offenheit die Lage der ehemaligen Gegner Caesar nach dessen Sieg und damit die unmittelbaren Folgen des Bürgerkriegs. (3) Die Lösung der controversia als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Befriedung: Das angestrebte Urteil hat gesamtgesellschaftlich-politische Implikationen, die aus Ciceros Perspektive zu einer Befriedung und Stabilisierung des Staates in der jeweiligen Situation beitragen können: Im Fall des Quinctius und des Naevius muss man die Klischees von linkschaotischen Popularen und biederen Optimaten überwinden und auf die Person sehen. Im Fall des Sextus Roscius muss verhindert werden, dass durch das Gewinnstreben weniger, die sich an den Proskriptionen bereichern, die allgemeine Rechtssicherheit und die Stabilität gefährdet wird, die Sulla durch seine Wiederherstellung der alten Strukturen erreicht hat. Verres darf nicht als einzelner den Senatorenstand in Misskredit bringen und ihn seine verdiente und für den Staat konstitutive Stellung kosten. Der Vorwurf gegen Rabirius darf nicht zum Anlass genommen werden, die Wehrhaftigkeit des Staats zu schwächen, indem man ihm das senatus consultum ultimum nimmt, der Konflikt zwischen Optimaten und Popularen soll daran nicht aufbrechen. Unter Caesars Alleinherrschaft weist einerseits dessen clementia, andererseits aber auch die Einsicht, dass man auch in ehrenvoller Weise auf der falschen Seite stehen kann, den Weg zu einer gesellschaftlichen Versöhnung. Hinter diesen Beobachtungen steht zum einen das naheliegende Bestreben des Redners, durch eine entsprechende Einwirkung auf das Publikum eine Entscheidung im Sinn seiner Partei herbeizuführen, zum anderen die Absicht, sich auch im Kontext der Gerichtsrede nicht nur als geschickter Anwalt seines Mandanten, sondern zugleich auch als kluger Politiker, der das Gemeinwohl im Blick behält, zu präsentieren und zu empfehlen. Dies entspricht dem Ideal des Redners, also Ciceros Konzept einer verantwortungsvollen Anwendung der Rhetorik innerhalb der römischen res publica, wie er es in seiner Schrift De oratore entwirft: Der ideale Redner soll nicht nur den Eigeninteressen der von ihm vertretenen Partei, sondern auch dem gesamten Staatswesen verpflichtet sein: „So nämlich halte ich es fest: In der klugen Hörerlenkung eines vollendeten Redners liegt auf jeden Fall nicht nur sein eigenes Ansehen, sondern auch das Wohl sehr vieler Privatleute und gleichermaßen des ganzen Staatswesens“ (Cic. de orat. 1,34 sic enim statuo, perfecti oratoris moderatione et sapientia non solum ipsius dignitatem sed et privatorum plurimorum et universae rei publicae salutem maxime contineri.).
2 Kernprobleme der Forschung Einen allgemeinen Forschungsstand und übergreifende Kernfragen über die Rolle der Rhetorik bei der Konfliktlösung in der Antike zu fassen, ist aus methodischen Gründen schwierig. Das Denksystem und die Terminologie der antiken Rhetorik
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kennen zwar die Dialektik des Argumentierens, die Agonistik gegensätzlich ausgerichteter Reden und den Widerspruch zwischen Parteiinteressen, sie kennen die Streitfrage (controversia, quaestio, causa), sie kennen Entscheidung und Urteil (iudicium). Die Begriffe ‚Konflikt‘ und ‚Lösung‘ beziehungsweise ‚Konfliktlösung‘ fehlen aber (dazu grundsätzlich Nothdurft 1998, S. 1234). Die Frage, welchen Beitrag die antike Rhetorik zur Konfliktlösung leisten kann, ist mithin ex post, also gewissermaßen anachronistisch, an diese zu stellen und spielt in den aktuellen Forschungsdiskursen in einer so generellen Sichtweise keine Rolle. Umstritten und viel diskutiert sind hingegen die Konflikte und rhetorischen Konfliktlösungsstrategien in einzelnen Reden. Dies sei anhand von Beispielen der in Abschn. 1 vorgestellten Cicero-Reden exemplarisch verdeutlicht: Zunächst einmal ergeben die vorliegenden Zeugnisse oft kein klares Bild, worin genau der Konflikt besteht, der in einer Gerichtsrede behandelt wird. In der Regel liegt nur eine Verteidigungsrede vor. Die Anklagerede und auch die in vielen Fällen gehaltenen weiteren Verteidigungsreden fehlen. Dadurch sind nicht nur die Hintergründe des Konflikts, die ja oft in den privaten Bereich hineinreichen können, sowie dessen Austragungsbedingungen, sondern immer wieder sogar die genauen Anklagevorwürfe nicht eindeutig zu fassen. Das zeigt sich etwa in dem Fall, der der Rede Pro Ligario zugrunde liegt: Es ist unklar, um welche Art von Verfahren es sich handelt und wie der von Tubero erhobene Vorwurf lautet. Neben Ciceros Rede selbst liegt in diesem Fall noch das Zeugnis des Quintilian vor. Er erwähnt die Anklagerede des Tubero als Beispiel für jemanden, der etwas anklagen muss, was er selbst getan hat, hier nämlich, „in Africa gewesen zu sein“ (Quint. inst. 11,1,78). Wie Tubero in der misslichen Lage, als früherer Pompeianer einen früheren Pompeianer beschuldigen zu müssen, argumentiert, fasst Quintilian folgendermaßen zusammen: Er sei als junger Mann seinem Vater gefolgt, der habe im Auftrag des Senats Getreide kaufen sollen. Ligarius hingegen sei erstens dortgeblieben und habe zweitens nicht für Pompeius Partei ergriffen in dessen ‚Ehrenwettstreit‘ mit Caesar, sondern für den römerfeindlichen nordafrikanischen König Juba (Quint. inst. 11,1,80). Cicero freilich stellt den Vorwurf, Ligarius sei in Africa gewesen, demonstrativ ins Zentrum: Er erwähnt ihn fünf Mal in der Rede (Lig. 1, 15, 16 und 20). Mit der Neuartigkeit dieses Vorwurfs (novum crimen), den der Mitverteidiger auch noch eingeräumt habe, so dass er ihn nicht mehr leugnen könne, beginnt Cicero sein Plädoyer. – Zunächst war es in der Forschung communis opinio (etwa Neumeister 1964, S. 47; Bauman 1967, S. 142), dass Ligarius im Rahmen eines regulären Gerichtsverfahrens angeklagt und ihm dabei vor allem sein Kontakt mit König Juba, von dem Quintilian spricht, als Verrat an Caesar (crimen maiestatis imminutae) vorgeworfen worden sei; diesen Punkt hätte zum Zeitpunkt der uns erhaltenen Rede bereits der Verteidiger Pansa in seinem (verlorenen) Plädoyer erledigt, weswegen Cicero sich nun aus rhetorischen Erwägungen allein auf den Africa- Aufenthalt als einen leicht zu widerlegenden, ja geradezu absurd anmutenden Vorwurf beschränke. Die neue Forschung (etwa Bringmann 1986; Nótári 2014, S. 225) nimmt nun aber an, dass es sich nicht um ein reguläres Gerichtsverfahren, sondern um eine von Caesar inszenierte öffentliche Anhörung im Vorfeld einer freien und formlosen Ermessensentscheidung handelt. Wenn das ganze Verfahren
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mithin von Caesar als Zurschaustellung seiner eigenen clementia inszeniert wird, wie man dann annehmen muss, und die Entscheidung zugunsten des Ligarius an sich schon feststeht (Bringmann 1986, S. 79–81), liegt der für Cicero sich stellende Konflikt darin, wie er sich, ohne seine Ideale zu verraten, in Caesars Inszenierung der clementia fügen kann (dazu De Caro 2008; Gildenhard 2011, S. 234 f.). Die Aufarbeitung und Einordnung des Bürgerkriegs, wie Cicero sie vornimmt, wäre damit zentraler Aspekt der Rede. Zugleich ist dann aber wiederum offen, welche Rolle der Vorwurf des Africa-Aufenthalts in Tuberos Rede gespielt hat; um ein neues Faktum, das allein eine negative Entscheidung herbeiführen kann, dürfte es sich nicht handeln (Rochlitz 1993, S. 117). Man wird, wie Quintilian anzudeuten scheint, darin ein von Tubero gesuchtes Indiz für eine besonders radikale Pompeius- Anhängerschaft des Ligarius sehen. Dergleichen für das jeweilige Verständnis des Konfliktverlaufs und damit der Lösungsstrategien grundlegende offene Fragestellungen ließen sich für nahezu alle Reden benennen. Eine zweite grundlegende Forschungsfrage hängt mit der Deutung des oben formulierten Befundes zusammen, dass Cicero die konkreten Rechtskonflikte, die den Reden zugrunde liegen, ausdrücklich in den Rahmen gesamtgesellschaftlicher, größerer Konflikte einordnet und die Lösung des vorliegenden Rechtskonflikts im Interesse seiner Partei als Beitrag zur Beilegung eines dieser größeren gesellschaftlichen Konflikte präsentiert. Dies kann aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet werden: Nicht zuletzt auf der Grundlage der Erkenntnis, dass Cicero die Darstellung der Sachverhalte gänzlich nach den Bedürfnissen seiner rhetorischen Strategie ausrichtet (wegweisend Stroh 1975), stellt sich die (letztlich für jede einzelne Rede zu diskutierende) Frage, ob (bzw. inwieweit) diese gesamtgesellschaftliche Einbettung dazu dient, eine Entscheidung im Parteiinteresse besonders vorteilhaft und Cicero selbst als umsichtigen, politisch verantwortungsvollen Redner erscheinen zu lassen (etwa Neumeister 1964, S. 201–206; Wieacker 1965; Classen 1985, S. 368 f.; Steel 2001, S. 21–28; Alexander 2010; Tempest 2011), oder ob (bzw. inwieweit) hier Cicero als politischer Denker seine anderwärts in seinen staatsphilosophischen oder ethischen Schriften entfalteten Grundüberzeugungen in konkrete Rhetorik umsetzt (etwa Ueding 2005, S. 41–46; Connolly 2007; Usher 2008; Stroh 2009, S. 357–383; Gildenhard 2011).
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Kapitel 7
Medien für die Konfliktlösung Pierangelo Buongiorno
1 Überblick Die Lösung von Konflikten, sei es auf der Ebene des öffentlichen Rechts oder auf der Ebene der Beziehungen zwischen Privatpersonen, setzte notwendigerweise ein Instrumentarium an materiellen Medien voraus, die anzuwenden waren, um die Konflikte zu lösen oder zu deren Lösung beizutragen. Dies gilt sowohl auf der Ebene der Konfliktlösung im rechtlich-institutionellen Rahmen als auch auf der Verfahrensebene. Das Ganze kommt in zwei wesentlichen Bereichen und in ihrer Verbindung zum Ausdruck: der mündlichen Zirkulation des technisch-juristischen Wissens, der schriftlichen Fixierung von Normen und mithin der Veröffentlichung von Rechtstexten und komplexen Akten mit Entscheidungscharakter, und – zu einer weiter fortgeschrittenen Zeit – der Zirkulation von Formelsammlungen. Hinzu traten materielle Hilfsmittel, die in bestimmten Zusammenhängen mit überwiegend symbolischen Funktionen zur Anwendung kamen. Hinsichtlich dieses besonderen Aspektes denke man zum Beispiel an den Stab, wie er für die vindicta in dem von Gaius beschriebenen Verfahren der Erhebung eines Herausgabeanspruches verwendet wurde (Inst. 4.16; siehe Atzeri 2013) oder auch an die Rolle des libripens, Waagehalter, bei der mancipatio und bei sämtlichen gesta per aes et libram, bei denen uns die dem Rückgriff auf die Waage und auf die nicht gemünzte Bronze, aes rude, innewohnende Symbolik zurückverweist auf eine sehr frühe Zeit, in der man das Metall wiegen musste. Übersetzung aus dem Italienischen P. Buongiorno (*) WWU Münster, Münster, Deutschland Universität Salento, Lecce, Italien E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_7
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In dem vorliegenden Beitrag wird ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auch aufgrund der großen Vielzahl von Aspekten, die gewürdigt zu werden verdienen würden, und der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Raumes – eine erste Einordnung der wesentlichen Bereiche versucht, in denen das Thema der materiellen Medien zum Zwecke der Konfliktlösung zum Tragen kommt. Was das Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Formen der Fixierung und Verbreitung des Rechts angeht, so zeigt ein Blick auf die nichtrömischen Erfahrungen seit Anbeginn der Geschichte der Zivilisationen im östlichen Mittelmeerraum sofort die schwankende Dialektik zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort in den Verfahren zur Formulierung neuer und zur Auslegung bestehender Rechtsnormen (zu dieser Dialektik siehe ganz allgemein Bakker 1999, S. 29–33). Wir finden davon bedeutsame Spuren in verschiedenen Zusammenhängen wie z. B. bei den Babyloniern (man denke an den weltberühmten Codex Hammurrapi, der bereits auf das 18. Jahrhundert v. Chr. datierbar ist) oder an das alte Judentum (→ 33. Otto) mit der Tradition der auf Moses herab gesandten Gesetzestafeln zur Begründung des jüdischen Gesetzes, zu denen jedoch noch eine Reihe antiker Gesetzesnormen hinzukam, die in den Büchern des Pentateuch ihren Niederschlag fanden (für eine allgemeine Einordnung siehe Volterra 1937 und später auch Simonetti 2016 beziehungsweise Rocca 2016). Wenn man dann die Aufmerksamkeit auf die griechische Welt richtet, kann man das Phänomen in zwei Richtungen erfassen, davon die eine überwiegend in Bezug auf die Menge, durch die man also rekonstruieren kann, in welchem Maße und in welchen Phasen die immer größere Verbreitung der Schrift schließlich auch Räume erodierte, die vorher von dem Medium der Mündlichkeit besetzt waren, so weit, dass in Athen, wo sich die von Solon vorangetriebene Produktion schriftlicher (und auf an viereckigen Gerüsten angebrachten Holztafeln verfasster: Gell. 2.12) Rechtstexte bereits durchgesetzt hatte, Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. festgelegt wurde, dass das nicht geschriebene Gesetz, der agraphos nomos, nicht mehr zur Anwendung kommen durfte (Andoc. 1.85 und 87). Auf der anderen Seite, auf der Ebene der Qualität, wurden in neueren Arbeiten (Faraguna 2006) die Dynamiken aus dem Nebeneinander und der Überlagerung des gesprochenen Wortes durch das geschriebene Wort in der Rechtsproduktion und in der Konfliktlösung in der griechischen Welt erforscht: Daraus ergab sich ein facettenreiches Bild, das im Übrigen bedeutsame Beispiele in komplexen Texten wie der Inschrift von Gortyn mit ihren familienrechtlichen Vorschriften findet (Maffi 1997; Maffi 2003). Wenn wir unsere Überlegungen nun auf die Quellen der Rechtsproduktion in der römischen Welt richten, fällt sofort auf, wie sehr das Thema der schriftlichen Fixierung von Normen seit dem Beginn des Zeitalters der libera res publica im Mittelpunkt der Debatte stand. Zwar wurde seit den Anfängen der römischen Rechtserfahrung eine mündliche Weitergabe juristischer Kenntnisse nachgewiesen, zunächst Vorrecht eines beschränkten Kreises von Personen, den pontifices, dann vermittels eines langsamen Prozesses der Verweltlichung einer nach und nach wachsenden Zahl von Gelehrten, doch ist es gleichermaßen wahr, dass die Überlieferung schon mit dem Anbrechen der republikanischen Erfahrung Versuche einer schriftlichen Rechtsproduktion verzeichnet.
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In diesem Zusammenhang kommt man nicht umhin, an die Einführung der Gesetzestafeln durch die beiden Kollegien der decemviri legibus scribundis zu denken, die in Rom in der Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. tätig waren. Das E ndergebnis dieser Tätigkeit war die Verfassung der lex XII tabularum, das heißt Gesetzestafeln (zehn davon im ersten Jahr, zwei im zweiten Jahr des Dezemvirats erstellt), die von den comitia centuriata genehmigt und dann auf einem nach wie vor nicht genau feststellbaren Material, wahrscheinlich Eichenholz, eingraviert wurden. Sicher ist, dass die lex XII tabularum bei dem gallischen Brand von 390 v. Chr. zwar verloren gegangen war, aber Kopien davon im Umlauf sein mussten, wenn man bedenkt, dass Cicero (leg. 2.59) eine mündliche Tradition dieser Gesetze dokumentiert, die auf einer gedächtnisbasierten Überlieferung beruhte, und sogar davon spricht, dass diese Gesetze ut carmen necessarium auswendig gelernt wurden (für einen Kommentar zur lex XII tabularum siehe nunmehr Humbert 2018; Cursi 2018). Nach Livius (3.31), wurde als vorbereitender Schritt eine Gesandtschaft nach Athen geschickt, um die solonischen Gesetze zu studieren. Es handelt sich um eine spätere und vielleicht unzuverlässige Überlieferung, die jedoch ein gemeinsames kulturelles Milieu widerspiegelt (Fögen 2002, S. 63–79); nach dieser selben Überlieferung hatte es bereits 462 v. Chr., mitten in der Auseinandersetzung zwischen Patriziern und Plebejern, einen von dem Tribun C. Terentilius Harsa formulierten Vorschlag gegeben, Gesetze schriftlich abzufassen (Liv. 3.9–10). Die Gestaltung und Umsetzung der lex XII tabularum waren nur der erste Schritt auf einem langen Weg hin zur Produktion eines geschriebenen Rechts, das schließlich stets in Konkurrenz stand mit einer Dimension eines ius ex non scripto, wie es im Übrigen eine von Ulpian (Ulp. 1 inst., D. 1.1.6.1) aufgenommene und bis zu Justinian (Inst. 1.2.3: scriptum ius est lex, plebiscita, senatus consulta, principum placita, magistratuum edicta, responsa prudentium) reichende Überlieferung nahelegt. Die schriftliche Fixierung der Quellen der Rechtsproduktion mit dem Zweck einer verbesserten Wahrnehmung der Rechtssicherheit ist daher in der römischen Erfahrung sicherlich ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsordnung, wie es im Übrigen von der stattlichen Anzahl an überkommenen Zeugnissen in diesem Sinne nahegelegt wird. Auf der materiellen Ebene ist diese komplexe Wahrnehmung des geschriebenen Wortes als Form der Weitergabe des Rechtlichen eng verflochten mit Problematiken von antiquarischer Natur, als da sind; die materiellen Unterlagen für die Verschriftung und Archivierung der Texte, deren Registrierung und Weitergabe, deren Veröffentlichung. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass in der römischen Welt Formen der Archivierung bereits seit der ganz frühen republikanischen Zeit existierten (Mommsen 1858), wobei im Prinzip geradezu eine doppelte Archivierung gepflegt wurde, eine für die patrizische und eine für die plebejische Seite. Nachdem sich im Laufe der Zeit die Konfliktlage zwischen den Ständen allmählich entspannte, blieb die Registrierung der Akten ein Vorrecht der städtischen quaestores, und das Aerarium Saturni wurde zum Hauptarchiv der res publica (Corbier 1974; Culham 1989). Im Verlauf des augusteischen Zeitalters wurde die Verwaltung des Aerarium an praefecti mit prätorischem Rang und später an ad hoc geschaffene praetores übertragen und schließlich unter Claudius wieder an die quaestores zurückgegeben. Ge-
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gen Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. wurde unterdessen aufgrund der beträchtlichen Masse an archivierten Materialien ein anderes Gebäude errichtet, das tabularium (Coarelli 2010; Tucci 2013–2014), das bis in die späte Kaiserzeit hinein genutzt wurde. Der Name tabularium sowie zahlreiche weitere Andeutungen in den Quellen liefern einen Hinweis auf die Unterlage, auf der die Texte juristischen Inhalts für die Archivierung eingraviert wurden, nämlich auf tabellae ceratae, die untereinander durch Schnürbänder verbunden und gesiegelt waren (zur Tätigkeit der scribae und ganz allgemein der apparitores siehe Angius 2016). Die Beschlüsse der Senatoren wurden unmittelbar nach dem Ende der Sitzung, in der sie gefasst worden waren, eingraviert, tendenziell unter Aufsicht der Quästoren (Verrico 2017). Dennoch eröffnete das Verfahren der Niederschrift und Aufbewahrung die Möglichkeit zu zahlreichen Verstößen und Fälschungen der Texte (Gabba 1961; Fezzi 2003). Archive gab es auch in den einzelnen Land- und Koloniegemeinden, auch in der Provinz (Rodríguez Neila 2005); grundsätzlich wurden die Texte auf Wachstafeln übermittelt, doch neuere epigraphische Funde (AE 1999, 915) haben Hinweise da rauf geliefert, dass unter bestimmten Umständen kürzere Texte kaiserlicher Erlasse auch schon auf kleinen Bronzeblechen verschickt werden konnten (Costabile und Licandro 2000). In einigen Provinzen (insbesondere in Ägypten) waren die Texte vorwiegend auf Papyrusrollen im Umlauf (siehe verbreitet Purpura 2009). In den Archiven an der Peripherie waren sicherlich Akten der örtlichen Regierungsorgane eingelagert1 (siehe Parma 2012), aber auch Schriftwechsel mit Beamten und dem Senat in Rom (zum Beispiel CIL X 1401; siehe auch § 2). Dies galt vor allem für die Texte zum Zweck der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der sich möglicherweise daraus ergebenden Lösung von Konflikten. Es ist aber ebenfalls möglich, dass einige Gesetzestexte zu Hunderten im Umlauf waren, wahrscheinlich organisiert auf chronologischer Grundlage, wie es der Verweis in Cic. Att. 13.33.3 auf ein liber, das heißt eine Sammlung, in quo sunt senatus consulta Cn. Cornelio L. coss nahelegt. Aus der epigraphischen Dokumentation ergibt sich also ganz klar der Rückgriff auf Instrumente zum Zwecke der Verbreitung der vom Senat – und in einigen Fällen vom Volk – durch auf die Beamten rückführbare Handlungen mit Entscheidungscharakter gefassten Beschlüsse. Die ersten Zeugnisse gehen zurück auf die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. Solchen in schriftlicher Form abgefassten Texten war eine angemessene Verbreitung unter den Adressaten der darin enthaltenen Gesetzesbestimmungen garantiert, ob dies nun römische Bürger, Latiner, socii, Provinzbewohner oder sonstige Gemeinschaften waren, mit denen Rom Beziehungen nach internationalem Recht unterhielt. In einigen Fällen, insbesondere wenn die Gesamtheit der Gesetzesbestimmungen an cives Romani gerichtet war, konnte es sein, dass außer der örtlichen Archivierung auch deren Anschlag an einem Ort vorgesehen sein konnte, an dem der Text unmittelbar von allen gelesen werden konnte. Ein Beispiel, das uns hilft, die Tragweite dieses Phänomens zu verstehen, ist das der Tafel von Tiriolo (der sogenannte senatus consultum de Bacchanalibus, CIL I2 Erlasse der Decurionen, Akten der örtlichen Beamten.
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581). Es handelt sich um eine Bronzetafel, die in einem geweihten Bereich im Gebiet des ager Teuranus in den Bruttii angeschlagen war und einen komplexen Text mit Entscheidungscharakter enthielt, dessen Zweck es war, hinreichende Informationen zu geben in Sachen der vom Senat gefassten Beschlüsse und der von den Beamten getroffenen Maßnahmen, um das Auftreten von zu dem mos Romanus im Gegensatz stehenden bacchischen Kulten zu unterbinden und deren Pflege de futuro zu regeln. Der erste Teil des epigraphischen Textes ist eine Nachzeichnung des Textes eines am 7. Oktober 186 v. Chr. gefassten Senatsbeschlusses zum Abschluss der Ermittlungstätigkeit und der ersten Unterbindung dieses assoziativ-kultischen Phänomens. Der zweite Teil der Inschrift enthält hingegen einen konsularischen Text, in dem mittels der Technik des intertextuellen Verweises auf die wesentlichen Bestimmungen von zwischen August und September 186 erlassenen Senatsbeschlüssen und vorhergehenden Erlassen der Konsuln hingewiesen wird. Der Abgleich mit der Überlieferung des Livius (Liv. 39.14–19, allem Anschein nach abhängig von dem Privatarchiv des an dem Vorgang beteiligten Konsuls Sp. Postumius Albinus, aus dem der spätere Annalist, dessen Nachkomme A. Postumius, wohl geschöpft hat), die die Gesamtheit der gefassten Beschlüsse verzeichnet, ermöglicht eine Detailerfassung der einzelnen intertextuellen Verweise (Gallo 2017). Ein nur wenig späteres weiteres Beispiel dieser Technik ist das der Briefe des Prätors L. Cornelius an die Tiburtes (159 v. Chr.). Der Text, eingraviert auf einer ursprünglich in Tibur angeschlagenen, heute jedoch verlorenen Bronzetafel (CIL XIV 3584), zeigt, wie das in dialogischer Form (nos/vos) aufgebaute Sendschreiben des Magistraten an die Gemeinde den Text des senatus consultum nachempfindet. Grundsätzlich hatten solche Texte, die im Einflussbereich der Stadt Rom im Umlauf waren, den ausdrücklichen Zweck, Konflikte zu verhüten oder häufiger noch zu lösen. In einigen Fällen auch dort, wo Rom zur Schlichtung von Streitigkeiten auf der Ebene des internationalen Rechtes aufgerufen war, wie es die beträchtliche Masse an Zeugnissen in Sachen Schlichtung nahelegt (de Ruggiero 1893). Ein zweifellos beispielhafter Text ist die Inschrift bezüglich der steuerlichen Regelung hinsichtlich der Grundstücke des Tempels des Amphiaraos in Oropos (IG VII 413), der die vom römischen Senat beschlossene Lösung der zwischen den publicani und der attischen Gemeinde entstandenen Kontroverse dokumentiert. Der in griechischer Sprache abgefasste Text bietet ein leibhaftiges Dossier, das die in der Sache gefassten Senatsbeschlüsse, den Erlass der vom Senat mit der Frage betrauten Konsuln sowie Auszüge aus den Archiven und Verfügungen aus früheren Jahren enthielt, darunter einen Erlass von L. Cornelius Silla. Der Text aus Oropos ist in Marmor eingemeißelt. Wenn für Umlauf und Archivierung die typischerweise verwendete Unterlage – trotz der Verbreitung von Papyrusunterlagen in bestimmten Zeiträumen und Zusammenhängen – Wachstäfelchen waren, so war für den Anschlag von amtlichen Regelungen und deren Veröffentlichung in Italien und in den westlichen Provinzen die typischerweise verwendete Unterlage die Bronze; diese hat jedoch in den östlichen Provinzen keinen Fuß gefasst; dort wurde hingegen nahezu immer Marmor verwendet. Im Zusammenhang mit unseren Ausführungen nicht zu vernachlässigen ist die Bedeutsamkeit der Tatsache, dass die Handlungen der Magistrate öffentlich ge-
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macht wurden, für die Lösung von Konflikten, die Privatpersonen betrafen, sei dies in deren Interaktion mit der res publica oder in deren wechselseitiger Interaktion. Der Strafprozess (→ 23. Procchi) hatte seinen eigenen Bereich der Dokumentation, der bezeugt ist seit der Zeit der iudicia populi und sich mit der Einführung der quastiones perpetuae zunehmend weiter untergliederte (Mantovani 2000). Doch allgemeiner gesprochen ist die gesamte Tätigkeit des Erlasses von Edikten der Magistraten eng mit deren schriftlicher Niederlegung verwoben (von Schwind 1973): Zu denken ist zunächst an den Text des Erlasses des städtischen Prätors (zuletzt Cancelli 2010) und dann der Erlasse sonstiger Magistrate wie zum Beispiel des Fremdenprätors und der kurulischen Ädilen (Daguet-Gagey 2015), doch mit der Zeit auch der Promagistrate in der Provinz. Die Quellen sprechen ausdrücklich von tabulae dealbatae, das heißt mit Kalk gebleichten Holztäfelchen, auf denen als materielle Unterlage für die einzelnen Verfügungen von Erlassnatur dann der Text von öffentlich bekannt zu machenden amtlichen Verlautbarungen niedergeschrieben wurde. Sie waren bereits seit der antiken Zeit im religiösen Zusammenhang verwendet worden – man denke an die vom Pontifex Maximus verfassten und bei dessen Haus angeschlagenen annales – und fanden dann auch Verbreitung im Bereich der öffentlichen Bekanntmachungen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit hingegen auf den Bereich der Beziehungen unter Privatpersonen richten, so müssen auch die Archive der Letztgenannten eine gewisse Bedeutsamkeit gehabt haben, wie es die Forschungsarbeiten über Bankarchive wie das der Sulpicii von Pozzuoli (Camodeca 1999) und des L. Caecilius Iucundus (Andreau 1974) nahelegen. In diesen Archiven sammelten sich neben dem codex accepti et expensi – das heißt dem typischerweise verwendeten buchhalterischen Instrument für die Verzeichnung der Einnahmen und Ausgaben (Macqueron 1982) – auch Texte zu geschäftlichen Transaktionen sowie Texte aus dem Archiv der römischen Magistrate zu von Privatpersonen gestellten Anträgen oder Unterlagen zu Gestellungsversprechen: Bedeutsame Beispiele in diesem Zusammenhang sind die Täfelchen, die das Verfahren zur Freilassung von Petronia Iusta dokumentieren (T. Herc. 13, 14 und 16; Metzger 2000) oder das Dossier über das Verfahren zur Erlangung der römischen Bürgerschaft durch L. Vennidius Hennychus (T. Herc. 89; Camodeca 2006; siehe allgemein auch Camodeca 2017). Mit dem Anbrechen der Kaiserzeit traten zu dem bereits komplexen Bild, das sich bis hierher abgezeichnet hat, die kaiserlichen bürokratischen Apparate hinzu. Ein System von öffentlichen Gewalten, das dem Kaiser unterstand und das Bedürfnis hatte, sich ein System von schriftlicher Kommunikation zuzulegen, um die Ausübung der Macht zu stärken. Die gesetzgeberische und richterliche Tätigkeit des princeps (→ 12. Tuori), die sich im Verlauf weniger Generationen exponentiell entwickelt hatte, hatte also den Effekt, die Schaffung einer Kanzlei herbeizuführen (insbesondere die Apparate ab epistulis Latinis/Graecis), die die Anträge, die von Privatpersonen, die sich an den princeps wandten, sowie von Gerichten der verschiedensten Art und Instanz, die in erster Instanz durch cognitiones extra ordinem Recht sprachen, sortieren sollte. Dieser Prozess hatte auf lange Sicht die Wirkung, zu einem Übergang des Verfahrens von der Mündlichkeit zu einer schriftlichen Form zu führen; so waren gegen
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Ende der römischen Justizgeschichte und dann noch in der justinianischen Epoche die Verfahren im Wesentlichen schriftlich (per libellos). Insbesondere nahmen die Urteile des kaiserlichen Gerichtshofs, die immer häufiger an in den Provinzen ansässige Untertanen gerichtet waren, eine schriftliche Form an und kamen allmählich in maximierter Form in Umlauf. Mit der Zeit wurden Maximierung und Abstraktion der kaiserlichen Konstitutionen zur Regel, die die Arbeit der Kompilatoren der spätantiken Kodizes und des justinianischen Kodex auf der einen Seite erleichterte, aber schließlich natürlich auch entscheidend beeinflusste (Volterra 1971). Im Verlauf des Kaisertums verbreitete sich, auch in der Funktion der Vorbereitung auf die kaiserliche gesetzgeberische Tätigkeit, die Praxis der Produktion von commentarii, das heißt Schriftsätzen, die dem Kaiser zum Abschluss von Ermittlungen geliefert wurden, die von dem damit Betrauten einleitend vorangestellt worden waren (siehe z. B. CIL V 5050). Im Allgemeinen findet sich die Technik des Rückgriffs auf commentarii für diesen selben Zeitraum jedoch auch im Hinblick auf die dem Erlass von Senatsbeschlüssen (AE 1978, 145) und von Gesetzen der Komitien (AE 2015, 1252–1255; zum Thema siehe Buongiorno 2016, S. 47 ff.) vorausgehenden Tätigkeiten. Neben den Themen der Produktion, des in Umlauf Bringens und der Verbreitung der kaiserlichen Konstitutionen und der vorbereitenden Materialien zu deren Erlass steht natürlich auch das Thema der Archivierung. Es ist anzunehmen, dass sich neben Archiven mit dem festen Sitz in Rom im Laufe der Zeit, vor allem als der Hof keinen festen Sitz mehr hatte, mobile Archive entwickelt haben, doch ist nicht auszuschließen, dass vor allem in einigen bestimmten Provinzen, die Archive der Provinzstatthalter besonders gut untergliedert waren (Haensch 1992). Auf die Archive griffen die Juristen zu, wie es die Erwähnung von ‚protokollarischen Formeln’ einiger Konstitutionen in den Werken der Juristen nahelegt (zum Beispiel Vat. Fragm. 195; Ulp. 8 de off. procos., Coll. 13.3.1–2; siehe Varvaro 2006); ein Zugriff, der sicherlich dadurch erleichtert wurde, dass die Juristen Eingang fanden in die Kreise der kaiserlichen Bürokratie, wie es die prosopographischen Profile der Juristen ab der letzten antoninischen Epoche nahelegen (jetzt Stichwörter in Liebs 2010; siehe auch für einen Blick auf die Werke Liebs 1997, S. 83 ff.). Mit der Zeit begannen auf jeden Fall Sammlungen von Auszügen aus kaiserlichen Konstitutionen sowie Sammlungen von Reden der Kaiser zu zirkulieren (davon wird in den Quellen eine von Hadrian in mindestens zwölf Büchern erwähnt: Flav. Charis. ars gramm. 2.13, 287B.), vor allem wenn die besagten orationes im vollen Umfang als Rechtsquelle wahrgenommen wurden (Musca 1985). Dieser weitreichende Umlauf von Materialien und damit einhergehend die oben erwähnten Prozesse der Maximierung führten zur Erstellung von Sammlungen wie dem Codex Gregorianus und dem Codex Hermogenianus, das heißt Kompendien kaiserlicher Konstitutionen von nicht amtlichem Charakter (Sperandio 2005; Connolly 2010). Diese Werke bildeten die Grundlage, auf der sich sicherlich auch die Konzepte der späteren Kodexsammlungen herausbildeten, das heißt des Codex Theodosianus und des Codex Iustinianus.
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Wenn man den Umlauf der Werke der Juristen, die im Verlauf zwischen dem 3. und dem 5. Jahrhundert auf jeden Fall mehrmals umgearbeitet wurden, schon wegen des Übergangs von der Rolle zum Kodex (Wieacker 1960), beiseitelässt, ist hervorzuheben, dass gesetzgeberische Eingriffe wie die Gesetze über die Zitate,2 die Werke einiger Juristen schließlich in den Stand von Rechtsquellen erhoben, und somit wurde die darin enthaltene Lehre als Schlüssel für die Konfliktlösung angenommen und direkt im Verfahren angewandt. Die primäre Konsequenz all dessen war der Anstieg des Umlaufs von Kettenkompilationen, Zusammenfassungen und pseudoepigraphischen Werken, die in einigen Fällen in spätere Sammlungen eingingen (zum Beispiel die Pauli Sententiae in der römisch-barbarischen Gesetzgebung: Ruggiero 2017).
2 Kernprobleme der Forschung Die Vielzahl der miteinander verflochtenen Fragen zum Thema der materiellen Medien für die Konfliktlösung macht es unmöglich, einen vollständigen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung zu geben; im Folgenden wird zur Vervollständigung der bereits im Vorgehenden angegebenen Bibliografie auf einige weitere Forschungsschwerpunkte hingewiesen (für einige weitere Stichworte siehe z. B. Purpura 1999). Erkundungen der epigraphischen Texte, die leges dokumentieren, sind in relativ neueren Zeiten durchgeführt worden (Crawford 1996), während man hingegen die Notwendigkeit empfindet (Lamberti 2017), eine Forschungsarbeit durchzuführen, die in systematischer Weise die grundlegenden leges der Landgemeinden und (Laffi 2004) und Kolonien (Jurewicz 2007) und die überwiegend aus der Baetica stammenden latinischen munizipalen Statuten (Lamberti 1993; González 2008; Wolf 2012; ganz allgemein siehe auch Laffi 2007) zu erforschen. Was die senatus consulta anbetrifft, so bleibt das maßgebende Werk für die Zeugnisse in griechischer Sprache nach wie vor Sherk (1969), auch wenn eine neue Lesart zahlreicher Texte angeboten wurde (zum Beispiel Raggi 2001) und das Thema einer generellen Neubewertung unterzogen wird (siehe dazu die Beiträge in Buongiorno und Camodeca 2021). Es ist vor allem erforderlich zu berücksichtigen, dass der größte Teil der Zeugnisse zu senatus consulta in komplexe Urkunden mit Entscheidungscharakter, leibhaftige Dossiers oder Einheitstexte eingebaut ist, wie zum Beispiel den schon genannten Text über die Unterbindung der bacchischen Kulte (Gallo 2017) oder den epigraphischen Text CIL X 1401 zur Gesetzgebung über Abrisse aus der Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. (Buongiorno 2010). Diese Texte geben einen Teil der ipsissima verba einzelner Senatsbeschlüsse wieder, ermöglichen aber auch die Anstellung zahlreicher Überlegungen zu den
Schon die ersten Versuche während der konstantinischen Epoche, dann natürlich und vor allem die Anordnung von Valentinian III. von 426 n Chr., CTh. 1.4.3. 2
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Themen Archivierung, Abfassung von Hundertern und Übermittlung in Auszügen von Gesetzestexten (Buongiorno 2016). Unvollendet gebliebene Projekte einer Sammlung der senatus consulta wurden im vergangenen Jahrhundert von Edoardo Volterra unternommen (Volterra 2017; Volterra 2018). Jedenfalls befindet sich eine Neuauflage des Projektes der Senatsbeschlüsse in ihrer Gesamtheit in der Phase der Umsetzung (Projekt PaRoS: Buongiorno 2017). Darüber hinaus sind ganz allgemein noch im Werden begriffen weitere Projekte über die Neuordnung der Zeugnisse zu den verschiedenen Quellen des Rechts, wie zum Beispiel das Projekt LePoR (Leges Populi Romani: Ferrary 2017; bis dahin bleibt die maßgebliche Sammlung Rotondi 1912) und – für die Werke der Jurisprudenz – die Projekte SIR (Scriptores iuris Romani, Schiavone 2018) und Redhis (Mantovani 2017). Was die kaiserlichen Konstitutionen und deren Umlauf anbelangt, wird auf die Arbeiten der Gruppen verwiesen, die sich auf das Werk von Edoardo Volterra berufen: die englische Gruppe unter Leitung von Michael Crawford (darüber Corcoran 2017) und das Projekt der Wiederbelebung der Konstitutionen aus der severischen Zeit von Coriat (2014). Zu diesen Arbeiten tritt die von Souris (2000) besorgte Übersicht über die aus Inschriften und Papyri bekannten Konstitutionen. Dann bleibt im Hintergrund noch das Konzept eines alten Gemeinschaftsprojektes, das aus dem Schoß der italienischen Romanistik erwachsen ist, und zwar das Projekt Palingenesia Codicis (de Francisci 1929; Capogrossi und Colognesi 2017). Was hingegen die über Inschriften und Papyri überlieferten Texte anbelangt, siehe auch die Aufsätze, die von Purpura (2012) in der Übersicht über die Fontes Iuris Romani Antejustiniani gesammelt wurden. Das Thema der Bedeutung der Archive in der antiken Welt und insbesondere in der römischen Welt ist durch gemeinschaftliche Studien erforscht worden (Posner 1972; Nicolet 1994; Moatti 1998), während die maßgebliche Bezugsgröße für die Studien über die Archive der Provinzstatthalter nach wie vor die bereits zitierte Arbeit von Haensch (1992) ist. Sonstige Ansätze über den Umlauf (Umlauf, Verbreitung, Anschlag an öffentlichen Orten) der Gesetzestexte in der Provinz finden sich außer in dem klassischen Band von von Schwind (1973) auch in den bei Haensch (2009) gesammelten Beiträgen. In diesem Zusammenhang würde das oben schon angerissene Thema der Bedeutung der commentarii als dokumentarische Unterlage für die Konfliktlösung und außerdem die Funktion der Zirkulation von Sammlungen von Auszügen von leges publicae in Italien eine Neubewertung verdienen.3 Ein weiteres Thema, das sicherlich reichlich Anstöße bietet und noch einer vollständigen und aktualisierten Ausarbeitung harrt, ist schließlich das Thema des Gebrauchs der griechischen Sprache für die Wiedergabe des römischen institutionellen Vokabulars, vor allem hinsichtlich der Entscheidungen bei der Übersetzung von amtlichen Texten, die für die griechisch sprachigen Provinzen bestimmt waren. Zum Beispiel die von der Tabula Heracleensis her bekannten Auszüge anonymer Gesetze des römischen Volkes, hierzu siehe Lo Cascio 1976; dazu Anstöße auch in Gallo 2018, S. 179 ff. 3
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Dazu Anstöße außer bei Sherk (1969) und Oliver (1989) nunmehr auch bei Laffi (2013), während die maßgeblichen Handbücher nach wie vor Magie (1905) und Mason (1974) sind. Doch wäre hier die Realisierung eines neuen systematischen Werkes begrüßenswert.
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Kapitel 8
Konfliktlösung als Strukturprinzip des Rechts Martin Avenarius
1 Überblick Wenn die Einrichtungen einer Rechtsordnung dadurch geprägt sind, dass sie nicht von vornherein abstrakt als verhaltensleitende Ordnungsvorschriften geschaffen worden sind, sondern aus der rechtlichen Bewältigung von Konflikten hervorgegangen sind, kann dieses Merkmal geradezu als Strukturprinzip des Rechts wahrgenommen werden. Die Quellen des römischen Rechts liefern für diese Wahrnehmung verschiedene Anhaltspunkte. Sie berichten über bestimmte Rechtsquellen, die typischerweise auf Konfliktlösung zurückgehen und hierdurch in ihrer Eigenart geprägt sind. Auch soweit sie umgekehrt über den Umgang der Juristen mit Konflikten berichten, wird dies teilweise als charakteristisches Merkmal der Rechtsentstehung wahrgenommen. Das Recht der klassischen Zeit kennt zahlreiche Kategorien der Rechtsquellen, die Gaius, inst. 1,2 aufzählt. Sie bilden die Grundlage für die iura populi Romani, also das objektive Recht. Hierzu gehören u. a. Volksgesetze, traditionelle Senatsbeschlüsse und Plebiszite. Während diese selbstverständlich jeweils auf einen bestimmten Regelungsbedarf reagieren, schaffen sie jedenfalls in der Regel neues Recht nicht zu dem Zweck, konkret anstehende Konflikte zu lösen. Anders ist es vielfach im Falle von Kaiserkonstitutionen und Rechtsgutachten; bei Edikten, die der Gerichtsmagistrat aufgrund seiner Amtsgewalt schafft, ist es sogar regelmäßig der Fall. Dieser Umstand kennzeichnet die Eigenart der jeweiligen Rechtssätze. Hinter einer constitutio principis kann ein allgemeiner Gestaltungswille stehen, auch kann sie von einem öffentlichen Funktionsträger oder einer Privatperson erbeten worden sein, um Antwort auf eine rechtliche Zweifelsfrage zu erlangen. Zahlreiche anlassbezogene Kaiserkonstitutionen dienen der Bewältigung von Konflikten. M. Avenarius (*) Universität zu Köln, Institut für römisches Recht, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_8
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Ein bekanntes Beispiel bildet die constitutio ad Aufidium Victorinum, mit der Marc Aurel bestimmte, dass ein Sklave zur Freiheit gelange, der mit Freilassungsauflage veräußert worden war. Von derselben Eigenart können senatus consulta der Kaiserzeit sein, die auf Initiative des princeps ergehen und insoweit inzwischen eine Form der kaiserlichen Rechtssetzung bilden. Rechtsgutachten (responsa) können grundsätzlich verschiedene Funktionen erfüllen. So können sie z. B. beratende Funktion haben, um etwa Vertragsschlüsse vorzubereiten. In den meisten uns überlieferten Fällen wird jedoch ein bestimmter Rechtsstreit vorbereitet, indem der Gutachter eine zentrale Rechtsfrage mit einer Antwort versieht, die dann im Prozess verwendet werden kann. Wenn responsa von Juristen erstellt werden, die mit dem ius respondendi ex auctoritate principis ausgestattet sind, erzeugen sie neues Recht, das seinen Ursprung unmittelbar in der Konfliktlösung genommen hat. Dies erweist sich an der Überlieferung zahlreicher den Gutachten zugrundeliegender Lebenssachverhalte. Geradezu typischerweise auf die Bewältigung eines Konflikts gehen schließlich diejenigen Rechtsschutzinstrumente zurück, die der Prätor kraft seiner Amtsgewalt schafft und in das Edikt aufnimmt. Den institutionellen Rahmen hierfür bildet der Formularprozess, dessen Klagen und andere Behelfe vielfach im prätorischen Edikt proponiert sind. In der hochklassischen Zeit wird der vom Gerichtsmagistrat gestaltete Regelungsbereich als Recht, nämlich ius honorarium oder ius praetorium wahrgenommen. Bewährte Behelfe aus diesem Bereich, die ihren Ursprung in der Lösung eines bestimmten Konflikts erkennen lassen, sind z. B. die actio Pauliana und die actio Fabiana, die an das factum einer Benachteiligung von Gläubiger bzw. Patron anknüpfen. In den genannten Zusammenhängen ging die Schaffung von Recht also von der Konfliktlösung aus. Es waren allerdings keine völlig frei und ohne Anbindung an bestehendes Rechtsdenken getroffene Entscheidungen praktischer Fälle durch ein Gericht oder einen anderen Träger hoheitlicher Gewalt, die anschließend strukturbildend wirkten. Denn ebenso wie sich der Kaiser als Gerichtsherr durch ein consilium und als Normgeber durch die Kanzlei professionell unterstützen ließ, verfügte der Magistrat über einen Beratergremium. Darin konnten – häufig herausragende – Juristen die maßgeblichen Rechtsauffassungen auf Grundlage ihrer professionellen Kompetenz ausarbeiten. Auf Juristen geht auch die literarische Erörterung der Rechtsquellen zurück, die die Wahrnehmung der Eigenart des römischen Rechts maßgeblich prägt. Seit Servius Sulpicius Rufus im 1. Jahrhundert v. Chr. das prätorische Edikt redigiert und die Tradition seiner wissenschaftlichen Erläuterung begründet hatte, bildete der Ediktkommentar eine zentrale Werkgattung unter den Schriften der Juristen. Insbesondere in dem Rahmen, in dem das positive Recht Spielraum für die Feststellung ließ, unter welchen Voraussetzungen eine actio gegeben werden konnte, stand Konfliktlösung hier im Mittelpunkt rechtswissenschaftlicher Erörterung. Ähnlich bedeutend war die Responsenliteratur. Sie ging daraus hervor, dass Juristen ihre ei genen Rechtsgutachten oder diejenigen ihrer Lehrer sammelten, ordneten und ausgearbeitet publizierten. Die Ausarbeitung erfolgte zumeist unter Anonymisierung der am Ursprungsfall Beteiligten sowie verallgemeinernd, nicht selten auch unter Bezugnahme auf rechtswissenschaftliche Zusammenhänge, doch blieb im
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Mittelpunkt die Darstellung der Meinung des gutachtenden Juristen, wie der jeweilige Konflikt richtigerweise zu lösen sei. Ediktkommentare und Responsenwerke gehören auch zu den wichtigsten Gattungen der Rechtsliteratur, aus denen die Digesten, das Herzstück des Corpus Iuris, zusammengestellt worden sind. Zahlreiche der von den Kompilatoren Justinians aufgenommenen Texte prägen den Charakter der Sammlung, indem sie die jeweils erörterten Rechtsprobleme auf – der Praxis entnommene oder zur Illustration frei gebildete – Fälle zurückführen und in die Erörterung und Beantwortung der Frage einmünden, ob jemandem zur Durchsetzung seiner Interessen eine actio zusteht. So mag sich der Eindruck aufdrängen, dass das Rechtsdenken der klassischen Juristen und ihr Beitrag zur Rechtsschöpfung wesentlich durch die Entscheidung einzelner Rechtsfälle gekennzeichnet sei. Diese Vorstellung wird zusätzlich dadurch begünstigt, dass im Index Florentinus für Gaius ein „de casibus βιβλίον ἕν“ sowie eine Schrift Modestins „de enucleatis casibus“ verzeichnet sind. Inwieweit die einzelnen Rechtsstandpunkte gleichwohl jeweils aus einem kohärenten und als systematisch verstandenen objektiven Recht hergeleitet worden sind, wird kontrovers diskutiert.
2 Kernprobleme der Forschung An der Fallentscheidung orientiertes Rechtsdenken? Die herausragende Bedeutung der Kommentierung der im Edikt proponierten Rechtsschutzinstrumente sowie der hohe Stellenwert der Gutachten für die Rechtsentwicklung der klassischen Zeit haben, gefördert durch eine allgemeine Neigung der überlieferten Rechtsliteratur zur Entwicklung von Rechtsproblemen an Sachverhalten, zahlreiche Autoren veranlasst, in den überlieferten Texten „Kasuistik“ (Vacca 1982, 1989, 2006; Garcia Garrido 2008, S. 21 ff.) wahrzunehmen, durch welche das Recht angeblich zur Erscheinung kommt. Mit dieser Ausdrucksweise sowie der Beschreibung des römischen Rechts als „Fallrecht“ (Kaser 1971, S. 2 f.; Waldstein und Rainer 2014, S. 152; Litewski 2000, S. 108) werden verschiedene Vorstellungen verbunden, die teils eine ad-hoc-Rechtsfindung aufgrund intuitiver Rechtserkenntnis am Einzelfall, teils eine rational-methodische Entwicklung des Rechts auf Grundlage eines durch Fallentscheidungen geprägten Erfahrungsschatzes voraussetzen. Wesentliche Förderung hat diese Wahrnehmung des römischen Rechts von Seiten bedeutender Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts erhalten. So hatte Savigny in seiner Programmschrift „Vom Beruf unsrer Zeit“ (1814, S. 74) gemeint, dass die römischen Juristen von dem jeweiligen „Rechtsfall“ die „lebendigste Anschauung“ gewonnen hätten und dass dies erlaube, „vor unsern Augen das ganze Verhältniß Schritt vor Schritt entstehen und sich verändern“ zu sehen, „als ob dieser Fall der Ausgangspunkt der ganzen Wissenschaft wäre, welche von hier aus erfunden werden sollte“. Stellvertretend für viele die Fallrechts-Vorstellung unterstützende Äußerungen von Romanisten des 20. Jahrhunderts steht Schulzʼ (1934,
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S. 27) assoziationskräftige Feststellung: „Im Anfang war der ‚Fall‘“. Diese und andere wirkungsmächtige Bemerkungen repräsentieren und fördern bis heute ein verbreitetes Bild von der Eigenart des römischen Rechts, nach dem dieses letztlich auf die Entscheidung von Einzelfällen zurückgehen soll. Teilweise wird nun angenommen, die Juristen hätten ihre „Entscheidungen“ aufgrund von Intuition und ohne Rückgriff auf theoretische Grundlagen getroffen (Kaser 1971, S. 2 f.; 1962, S. 50 f., 54 f.). Hierzu habe sie eine „angeborene juristische Begabung“, ein besonderes „Rechtsgefühl“, ein ungewöhnliches „Talent“ bzw. „wahre Genialität“ befähigt (Nachweise bei Avenarius 2017a, S. 21 f.). Auch werden verschiedentlich bestimmte Gerechtigkeitsbegriffe als „Entscheidungsgrundlagen“ der Juristen benannt (Waldstein 1976, S. 89 ff.). Manche Autoren stellen sich immerhin ein von den Fällen ausgehendes, sei es rationales oder sei es eher assoziatives Verfahren vor. Ein durch System und Methode gekennzeichnetes Rechtsdenken, aus dem die jeweiligen Rechtsmeinungen hätten deduziert werden können, wird insoweit nicht angenommen. Vielmehr wird die Überzeugungskraft der Pro blemlösungen des römischen Rechts in der inneren Schlüssigkeit und in der Anknüpfung an Rechtserfahrung gesehen. Paulusʼ berühmter Satz „ex iure quod est regula fiat“ (16 ad Plaut. D. 50,17,1) wird in diesem Zusammenhang so verstanden, dass Regeln auf Grundlage des in den Einzelfällen jeweils zutage tretenden Rechts gebildet werden. Nach der zugrunde liegenden Vorstellung soll dieses „Fallrecht“ also darin bestehen, dass die Essenz einer früheren Fallentscheidung abstrahiert und die so gewonnene Regel auf den jeweils neuen Fall übertragen wird. Einer besonderen Begründung habe es daher regelmäßig nicht bedurft. Verschiedentlich sind strukturelle Parallelen zum englischen case law behauptet worden (Dawson 1968, S. 103–119, 145–147; Peter 1969), die wiederum von anderer Seite bestritten werden (Horak 1982; Monateri et al. 2005, S. 118–128; Liebs 2014, S. 48). Soweit in den Quellen Theorie auftritt, neigen die Vertreter der Fallrechts- Vorstellung dazu, diese als Ergebnis einer späteren Ergänzung wahrzunehmen. Man stellt sich insoweit eine Bearbeitung der Texte im Rahmen des nachklassischen Schulbetriebs vor. Den Rechtsschulen der klassischen Zeit wird in dieser Sicht eine eher geringe Bedeutung eingeräumt; dass diese etwa grundsätzlich unterschiedliches Rechtsdenken gepflegt hätten, welches in einzelnen Rechtsmeinungen Ausdruck gefunden hätte, wird geleugnet. Diese Ansicht räumt den älteren rechtstheoretischen Grundlagen, die etwa bei Cicero für die späte Republik belegt sind, im Hinblick auf die Rechtswissenschaft der klassischen Zeit keine oder jedenfalls keine nennenswerte Bedeutung ein. Die Vorstellung vom römischen Fallrecht ist auf Einwände gestoßen (Nachweise bei Bretone 1992, S. 402 ff.). Diese knüpfen insbesondere daran an, dass sie unüberprüfbare und teilweise offenbar irrationale Wege der Rechtsfindung voraussetzt (vgl. Horak 1969, S. 5). Vorgebracht wird auch, dass zahlreiche positive Hinweise auf theoretisches Rechtsdenken und Systembemühungen, die sich teilweise außerhalb der Digesten finden, zu Unrecht marginalisiert werden. Anstoß wird ferner daran genommen, dass mit der Behauptung, das römische Recht sei letztlich ein von der Einzelfallentscheidung abhängiges, auf Fallvergleichung beruhendes Recht, einer an Texten orientierten Disziplin abgesprochen wird, dass sie einen methodisch-
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hermeneutischen Verstehenszugang beanspruche. Auch wird die Berechtigung des Schlusses von der regelmäßig überaus knappen Überlieferung der responsa darauf, dass die zugrundeliegenden Rechtsmeinungen nicht theoretisch begründet gewesen seien, bezweifelt. Der Befund könnte mit der Notwendigkeit zu erklären sein, die Gutachten in formal festliegender Weise auf überaus knappem Raum zu fixieren (Avenarius 2017a). Falls diese Annahme zutrifft, legt die Überlieferung gerade nicht die Vorstellung nahe, dass die Rechtsfragen regelmäßig intuitiv und unter Verzicht auf methodische Herleitung entschieden worden wären. Hier wäre also Raum für eine Rekonstruktion der Zusammenhänge. In den Fällen wiederum, in denen die literarisch verarbeiteten Gutachten mit theoretischen Begründungen versehen worden sind, wäre zu vermuten, dass die ursprünglichen wissenschaftlichen Zusammenhänge ergänzt wurden. Verschiedentlich sind Rekonstruktionen kohärenter Traditionen des Rechtsdenkens entwickelt worden, auf die einzelne Rechtsmeinungen der Juristen zurückgeführt werden könnten. Soweit in diesem Sinne Theorie der jeweiligen Konfliktlösung zugrundelag, bildete die letztere kein Strukturmerkmal des Rechts, sondern lediglich dessen Zweck. Die Traditionen des Rechtsdenkens werden mit den Rechtsschulen der klassischen Zeit verbunden und als deren jeweils spezifische Merkmale beschrieben. Schon früh ist ein Schulengegensatz auf die republikanischen Juristen Q. Mucius Scaevola pontifex und Servius Sulpicius Rufus zurückgeführt worden (Arnò 1935, 1936), ohne dass jedoch die Eigenart des jeweiligen Rechtsdenkens überzeugend erklärt werden konnte. Methodische Unterschiede sind verschiedentlich herausgearbeitet worden (Bretone 1982/1984, S. 65), auch philosophische Einflüsse auf die maßgeblichen Juristen immer wieder anerkannt worden, ohne aber zur Erklärung des Gegensatzes zu dienen (Schulz 1961, S. 80, 100). Heute dagegen werden die Grundpositionen der Schulen teilweise mit zwei verschiedenen Rezeptionsschüben hellenistischer Philosophie erklärt, deren Vermittlung jeweils mit den genannten Juristen verbunden wird. Im Einzelnen wird eine Tradition des Naturrechtsdenkens beschrieben, die ihre Eigenart dem Einfluss der mittleren Stoa verdankt und die Jurisprudenz der republikanischen veteres dominierte (Waldstein 1986, S. 150 ff.; Behrends 1976, S. 281 ff.; Waldstein und Rainer 2014, S. 133 f., 140 f.). Das Fortwirken des Naturrechtsdenkens wird für das erste Jahrhundert in der sabinianischen Rechtsschule beobachtet. Teilweise wird diese Tradition einem in der prokulianischen Schule tradierten Denken gegenübergestellt, für das das Recht aus Einrichtungen besteht, die der Mensch unter den Bedingungen der Zivilisation geschaffen hat. Dies wird gelegentlich auf ein dem probabilistischen Wahrheitsbegriff der skeptischen Akademie verpflichtetes Wissenschaftskonzept zurückgeführt. So wird ein Gegensatz verschiedener Rechtstheorien beschrieben, der in zahlreichen Juristenkontroversen Ausdruck findet und erst im 2. Jahrhundert n. Chr. im Rahmen einer unter dem Einfluss Julians stattfindenden Schulenkonvergenz abgemildert wird (Behrends 1978, 1983–1984). Cicero, der verschiedene Hauptakteure der spätrepublikanischen Jurisprudenz persönlich kannte und dessen Werk in dieser Hinsicht als wichtigste Quelle dient, erklärt die jeweiligen methodischen Grundausrichtungen, die im Falle der veteres aus der theoretisch als hermeneutisch verstandenen Aufgabe hervorgehen, Aussagen
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über Naturrecht zu treffen, im Falle der frühen klassischen Wissenschaft dagegen aus der Notwendigkeit, als menschengeschaffen aufgefasstes Recht methodisch zu begründen. Verschiedene Äußerungen Ciceros über das Recht stehen der Vorstellung vom Fallrecht entgegen. So meint er, das Recht sei richtigerweise tief aus dem Inneren der Philosophie zu schöpfen. In dieser Weise ermittelt, komme ihm sein Stellenwert sogar ohne Rücksicht auf seine praktische Anwendung zu (de legg. 1,5,17). Ciceros Werk belegt auch verschiedentlich die Konkurrenz theoretischer Standpunkte, so z. B. in der berühmten causa Curiana, in der Crassus und Q. Mucius vor dem Hintergrund bestehender Rechtsmeinungen argumentieren (pro Caecina 24,69). Im Rahmen seiner in de officiis ausgearbeiteten Pflichtenlehre arbeitet er Grundsätze eines pflichtenhaltigen Rechtsdenkens aus. Vertreter der Fallrechts-Vorstellung haben die in der späten Republik entstandenen rechtstheoretischen Grundlagen teilweise erkannt, ihren Einfluss auf das Rechtsdenken der klassischen Juristen jedoch geleugnet (Wolff 1954, S. 415). Verschiedentlich sind aber Annäherungen zwischen den widerstreitenden Standpunkten zu beobachten. So hat sich z. B. Kaser (1986, S. 85), der grundsätzlich das Fallrechtskonzept vertritt, vorsichtig der Vorstellung angenähert, immerhin habe zur Synthese zahlreicher Begriffe in einem System die späte Republik unter dem Einfluss griechischer Philosophie beigetragen. Soweit das Konzept, nach dem in der klassischen Zeit Naturrechts- und Zivilisationsrechtsdenken miteinander konkurriert und schließlich zu einem Teilkompromiss gefunden hätten, Akzeptanz findet, kann das ius quod est (D. 50,17,1) des Spätsabinianers Paulus als vorgegebenes ius naturale interpretiert werden. Dieser spätklassische Standpunkt kennt sowohl den Aufbau des Rechts aus anwendbaren Regeln als auch die in der vorklassisch-sabinianischen Tradition tradierte Vorstellung von einem vorgegebenen Recht, an dem Regeln immer wieder geprüft werden müssen. Einsichten in Merkmale römischer Rechtstheorie können sich auch durch die Aufdeckung wissenschaftsgeschichtlicher Zusammenhänge ergeben, die in der rechtshistorischen Forschung die Entstehung der Vorstellung vom römischen Fallrecht begünstigt haben. So hat Behrends (1989, S. 45 ff.) auf den wirkungsmächtigen Einfluss der Historischen Rechtsschule und des Freirechtsdenkens hingewiesen. Die Fallrechtsvorstellung wird aus dieser Sicht als „Legende“ beschrieben (Behrends 1991, S. 182 ff.). Da die Bereitschaft, System und Methode als Grundlage für die Rechtsansichten römischer Juristen wahrzunehmen, nicht zuletzt von der jeweiligen Wahrnehmung der Mitteilungen Ciceros abhängt, wird hier auch die folgenreiche Geringschätzung dieses Autors durch Mommsen (2001, S. 175, 212, 316) zu nennen sein. Dass z. B. die Produktivität von Serviusʼ Rechtsdenken im jüngeren Schrifttum teilweise bestritten wird, dürfte jedenfalls auch auf den Einfluss wirkungsmächtiger Anschauungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert zurückgehen. Einem Humanisten wie Donellus, der für die Feststellung von Systemdenken offen war und Cicero als erstrangige Quelle wahrnahm, bot sich hier ein insoweit noch unverstellter Zugang (Avenarius 2006, S. 72 ff.).
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Auch von der Beantwortung der Frage, in welchem Maße die Juristen zu Systemdenken neigten, hängt es ab, inwieweit man das römische Recht als aus Konfliktlösung hervorgegangen oder aber abstrakte Ordnung wahrnimmt. Die Quellen belegen, dass Cicero verschiedentlich für Systembildung eingetreten war (de orat. 1,42,190, de legg. 2,18,46). Nicht nur für Servius, sondern auch für Q. Mucius, Sabinus und Gaius sind Systeme überliefert. Es ist allerdings umstritten, inwieweit diese auf innere Systematik des Rechtsdenkens schließen lassen. Verbreitet ist z. B. die Auffassung, in den Gaius-Institutionen sei eine lediglich äußere, didaktischen Zwecken dienende Systematik überliefert (Kaser 1986, S. 85). Hiergegen wird vorgebracht, dass die in der europäischen Rechtsgeschichte vielfach aufgegriffene Stoffgliederung personae, res, actiones für eine Wertordnung steht, die für das klassische Recht grundlegend ist. Sie setzt an die Spitze des Systems den rechtsfähigen Menschen (persona), dem anschließend Vermögensgegenstände zugeordnet werden (res), bevor er schließlich Rechtsschutzinstrumente (actiones) in Anspruch nehmen kann (Avenarius 2005, S. 99 u. 135). Eine wichtige Ergänzung dieses Systems, die bei Gaius erstmals belegt ist, besteht darin, dass auch der Sklave in das Personenrecht eingeordnet ist, wodurch er auch systematisch als grundsätzlich rechtsfähiger Mensch auftritt (Avenarius 2017b, S. 16 ff.).
Aktionenrechtliches Denken? Mit der Rede vom „aktionenrechtlichen Denken“ römischer Juristen wird die Auffassung verbunden, das römische Recht sei nicht hauptsächlich in materiellen Rechtsverhältnissen konzipiert gewesen, sondern die Juristen hätten regelmäßig in erster Linie die Interpretation und Anwendung der im Edikt proponierten Rechtsbehelfe vor Augen gehabt (Schulz 1934, S. 29; vgl. Kaufmann 1964, S. 283 f.; Baldus 2011, S. 7 ff.). Es handelt sich um eine andere Art der Wahrnehmung von Konfliktlösung als Strukturprinzip des römischen Rechts, und zwar auf der Grundlage des Formularprozesses. Sie bezieht sich in erster Linie auf das Recht der klassischen Zeit, aus dessen Texten die justinianische Sammlung überwiegend zusammengestellt ist. Nach der zugrundeliegenden Vorstellung soll der römische Jurist jeweils unmittelbar geprüft haben, ob im jeweiligen Fall Rechtsschutz gewährt wird (Kaser 1971, S. 226). Hierbei sollen die Voraussetzungen der einzelnen Rechtsschutzinstrumente durch die Kasuistik erst erarbeitet worden sein. Auf diesem Wege also soll die actio erst ihr juristisches Profil bekommen haben (Schmidlin 1970, S. 154). Anlass für diese Vorstellung ist, dass zahlreiche Quellentexte, insbesondere in der Literatur zum prätorischen Edikt, in die Feststellung einmünden, ob jemandem eine actio oder ein anderes Rechtsschutzinstrument zustehe. Prägend für diese Wahrnehmung des römischen Rechts der Antike wurde die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Savigny (1841, S. 2 f.) hatte ein materiellrechtliches Konzept der actio entwickelt. Er hatte gemeint, aus dem Rechtsverhältnis trete das Recht des Einzelnen hervor, wenn es verletzt sei. Es erscheine dann „im Zustand der Vertheidigung“, und dabei „in einer neuen Gestalt“, nämlich in der der
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actio (Simshäuser 1965, S. 52 f.). Diese Sichtweise ermöglichte ihm, das Heutige römische Recht auf Grundlage der von actiones handelnden römischen Rechtstexte als System von Einrichtungen des materiellen Rechts zu konzipieren. Während die Verletzung als Auslöser der actio von vielen Autoren anerkannt wurde, wandte sich Windscheid dagegen. Er meinte, römische Juristen hätten keinen derartigen genetischen Zusammenhang von obligatio und actio vor Augen gehabt; vielmehr habe für sie das Denken in Aktionen die am materiellen Recht orientierten Vorstellungen ersetzt (Nörr 1979, S. 112 ff.). Obligatio und actio seien also in aller Regel gleichbedeutend gewesen. Auch belegten die Quellen, dass eine actio u. U. jemandem zustehen könne, der nicht in einem Recht verletzt sei. Für das Gemeine Recht seiner Zeit wollte Windscheid (1856, S. 3) die actio weder im Sinne der Feststellung der bloßen klagweisen Durchsetzbarkeit eines Rechts noch im Sinne der Zulassung zum gerichtlichen Rechtsschutz auffassen. Er sah mit dem Ausdruck vielmehr den Anspruch als (von der Klage unabhängige) logische Folge des objektiven Rechts bezeichnet. Er schuf daher für das Recht seiner Zeit einen modernen Begriff des Anspruchs (Pugliese 1939/2006, S. 9 ff.; Simshäuser 1965, S. 71 ff.). Im Kontrast zu diesem Konzept erschien das antike römische Recht als aktionenrechtlich fixiert. Auch Bekker meinte, die obligatio der Quellen hinge insoweit von der actio ab, als sie aus deren Dasein „entspringe“; das subjektive Recht habe in Rom an Bedeutung hinter der actio zurückgestanden (Bekker 1871, S. 4, 1888, S. 29). Die Entwicklung der Vorstellung vom „aktionenrechtlichen Denken“ war also ursprünglich gar keine aus spezifisch rechtshistorischer Forschung hervorgegangene Wahrnehmung des Rechts der Antike, sondern entstand zur Kennzeichnung eines Unterschieds zwischen demselben und dem neuzeitlichen Gemeinen Recht. Der Kontrast zwischen der Wahrnehmung dieses Rechts und desjenigen der Antike wurde begünstigt durch die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und die anschließende Beschränkung des römischen Rechts auf die Bedeutung eines historischen Gegenstandes. Dieser Zusammenhang bildet auch den Grund dafür, dass die Vorstellung vom „aktionenrechtlichen Denken“ der römischen Juristen in der deutschen Literatur wesentlich stärker verbreitet ist als im ausländischen Schrifttum (Babusiaux 2012, S. 430). Der Eindruck einer gewissen Fixierung der juristischen Fragestellung auf die Prüfung der Voraussetzungen von Rechtsschutz wird durch zahlreiche Quellentexte begünstigt (s. o.). Daher liegt die Vorstellung vom aktionenrechtlichen Denken der römischen Juristen auch – ungeachtet ihrer Entstehungsbedingungen – bis heute zahlreichen Darstellungen des römischen Rechts zugrunde. Eine gewisse Berechtigung wird man ihr immerhin dort zugestehen können, wo der Prätor im klassischen Recht die regelhaft gefassten Einrichtungen des ius durch in factum konzipierte Klagen ergänzt. Auch dies erfolgt allerdings unter Rückgriff auf die in der institutionellen Rechtsordnung zum Ausdruck kommende Rechtsidee, also in erster Linie unter Anwendung materiellrechtlicher Argumente. Gegen eine Wahrnehmung des römischen Rechts als schlechthin aktionenrechtlich konzipiert spricht auch, dass die prozessvorbereitenden oder -begleitenden responsa das Gesamtbild wohl verzerren. Bei diesen steht natürlich regelmäßig die Frage im Vordergrund, ob eine Klage gegeben werden wird (Avenarius 2017a, S. 18). Entsprechendes gilt für die literarische Kommentierung des Edikts, das in der klassischen Zeit im Zentrum der Rechtsentwicklung stand. Sie konzentrierte sich auf die Vo-
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raussetzungen der proponierten Rechtsschutzinstrumente, und zwar nicht nur im Falle der vom Prätor geschaffenen actiones, sondern auch bei denjenigen, die auf bestehendes objektives Recht zurückgingen (Wieacker 1988, S. 463). Bei anderen, weniger unmittelbar auf die Praxis abzielenden Schriften wie Monographien oder didaktischer Literatur ist das typischerweise nicht der Fall. So erweist sich an den beiden außerhalb der justinianischen Sammlung selbständig überlieferten Schulschriften der klassischen Zeit, den Institutionen des Gaius sowie dem pseudo-ulpianischen liber singularis regularum, dass sich die römischen Juristen des Unterschieds zwischen materiellem Recht und Prozessrecht vollkommen bewusst waren. Es ist kein Zufall, dass die Gaius-Institutionen in drei Büchern materielles Recht enthalten, während die actiones ausdrücklich erst im vierten Buch folgen. Auf dieser Grundlage räumen auch Vertreter der Vorstellung vom aktionenrechtlichen Denken ein, es gebe Bereiche des Rechts, deren Darstellung in den Werken der klassischen Jurisprudenz nicht aktionenrechtlich erfolgt sei. Schulz (1934, S. 29) nennt als solche Bereiche z. B. Erwerb und Verlust des Eigentums, Stipulationsrecht, Erwerb und Verlust der patria potestas, Freilassung und Testamentserrichtung.
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Kapitel 9
Konfliktlösung und Rechtssicherheit Valerio Marotta
1 Überblick Geschriebenes und ungeschriebenes Recht: die Isonomie Anders als im antiken Nahen Osten, wo der Wert der „Kodices“ – von Ur-Namma bis zu Hammurabi – gelinde gesagt umstritten erscheint, bildete in Griechenland das geschriebene Gesetz das Instrument, mit dem versucht wurde, Konflikte innerhalb der Stadtgemeinden zu regeln. Verglichen mit dem Gewohnheitsrecht, das wahrscheinlich in die ersten Gesetzgebungen Eingang fand, so wie dies später in Rom bei der lex der Dezemvirn der Fall war, versuchte das geschriebene Gesetz ursprünglich nicht so sehr zu erneuern als vielmehr die Ursachen zu beseitigen, die ständig das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Teilen der pólis aufs Spiel setzten und dabei erbitterte soziale Konflikte auslösten (Camassa 2011, S. 22–54, 117–141). Zwischen dem Ende des 6. und dem Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurde die Verschriftlichung der Gesetze zum Hauptelement des Ideals der isonomía. Es war die Stadtgemeinde, die die schriftliche Festlegung von Normen zum Zwecke der stabilen Regelung der Konflikte innerhalb des Kreises der polítai durchsetzte. Auf diese Weise schuf sich die Stadt als den génē und den Stämmen übergeordnete Institution von sich aus die Grundlagen der eigenen Existenz. Was die isonomía konkret bedeutet, wird sehr anschaulich erklärt in einer berühmten Passage aus den Hilfeflehenden von Euripides: „Jetzt, wo die Gesetze aufgeschrieben sind, haben der Schwache und der Reiche gleiches Recht. Es ist den Schwächsten erlaubt, wenn Übersetzung aus dem Italienischen V. Marotta (*) Università di Pavia, Facoltà di Giurisprudenza, Pavia, Italien E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_9
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sie angeklagt sind, in gleicher Weise zu antworten wie die, die gut dran sind: und der Kleinste siegt über den Großen, wenn er denn Recht hat“ (Verse 433–437) (Schiavone 2012, S. 85–104; 2017, S. 86 ff.). Die philosophischen und politischen Prämissen des isonomischen Ideals werden klar, wenn man die Methode der sozialen Herleitung von den Denkkategorien anwendet. Es ist ja kein Zufall, dass in der ersten Phase der griechischen Philosophie zumeist Texte und Werke über die Natur (perì phýseos) dominiert haben. In diesem Zusammenhang genügt es, an eine Gegebenheit zu erinnern, die beleuchtet wird durch das Zeugnis des alexandrinischen Grammatikers Diodotos (Diogenes Laertios 9.15). Dieser betonte ausdrücklich, dass das Gedicht perì phýseos von Heraklit in Wirklichkeit nicht von der Natur handelte, sondern von der politeía, und dass die Natur (phýsis) darin lediglich in der Funktion eines Modells vorkam. Diodotos konnte dieses ganze philosophische Gedicht lesen und nicht nur die wenigen verstreuten Fragmente, über die wir heute verfügen und aufgrund derer man Heraklit auf den ersten Blick eher als eine Art Relativisten ansehen würde. In seinem Gedicht fungiert die phýsis als Metapher für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Der Schlüssel zum Verständnis dieser naturalistischen Metapher, die die phýsis als Modell heranzieht, um den nómos zu erklären, der die Dynamik des „Klassenkampfes“ in der pólis von Ephesos – zur damaligen Zeit die bedeutendste Stadt in Ionien – beherrscht, liegt in der Analyse der historischen Periode von Hermodoros. Dieser lehnte die Unterwerfung unter die Perser unter König Dareios ab und stellte die isonomía wieder her, das heißt die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Als Anhänger und Freund von Hermodoros war Heraklit daher kein Verächter des dēmos, sondern ein Befürworter der Verbindlichkeit, die Gesetze aufzuschreiben und diese nicht der „mündlichen“ Willkür der Herrschenden zu überlassen. Er sagte immer wieder, dass das Volk zur Verteidigung der isonomischen Gesetze kämpfen müsse, so wie es auf den eigenen Mauern gegen den Feind gekämpft hätte (Fragment 44). Die isonomische „Ordnung ist für alle gleich und wurde weder von einem Menschen noch von einem Gott geschaffen. Sie ist seit jeher da und wird für immer ein stets lebendiges Feuer sein, das in regelmäßigen Abständen entbrennt und wieder erlischt“ (Fragment 30). Heraklit brachte in Gestalt einer „naturalistischen“ Sprache das gleichzeitige Vorhandensein einer stabilen und vollkommenen isonomischen Ordnung – des stets lebendigen Feuers, welches ist und für immer sein wird – zum Ausdruck und eines unauflösbaren Konfliktes (pólemos) zwischen denen, die diese aufrecht erhalten wollen, und auf der anderen Seite denen, die sich von der Maßlosigkeit fortreißen lassen (Capizzi 1982, S. 79–132).
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2 Kernprobleme der Forschung Das Zwölftafelgesetz In dem Ringen um die Errichtung des Ideals der isonomia und um ein ius, das nicht länger incertum sein sollte, fand in Rom das größte Interesse das athenische Beispiel und insbesondere die solonische Gesetzgebung.1 Auch wenn Gaius diese Tradition indirekt bestätigt,2 so ist sie doch in das liber singularis enchiridii (D. 1.2.2.4) nur in äußerst allgemeinen Begriffen eingegangen: „Dann erschien es, damit dies (scil. ius incertum) nicht länger andauere, als gut, von zehn Männer einzusetzen, durch die man sich die Gesetze der griechischen Städte aneignen und die Stadt (scil. ) durch Gesetze konsolidiert werden sollte“. Nichtsdestoweniger bemerkt Sextus Pomponius in der Folge (D. 1.2.24), dass ein „gewisser, in Italien im Exil lebender Hermodoros bei den Dezemvirn“ den Vorschlag befürwortet habe, den zehn bereits gebilligten „zwei neue Tafeln“ hinzuzufügen. Wenn wir diesem Bericht Glauben schenken wollen, dann stünde die plebejische Forderung nach der Verschriftlichung der Gesetze mit den vor allem von dem Freund Heraklits verfochtenen isonomischen Grundsätzen in Verbindung (Strab. 14.1.25 C. 462: Plin. N.h. 24.21) (Sanseverinati 1995, S. 55–70; Canali De Rossi 1999, S. 93–98; Biffi 2008, S. 9–24). In der Konfrontation zwischen Patriziern und Plebejern wären es dann die Letzteren gewesen, die zur Rechtssicherheit aufriefen. Und zur Bestätigung dessen genügt in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den politischen Sinn der XII Tafeln und, in der Folge, der Verbreitung der actiones durch Gnaeus Flavius (D. 1.2.2.7) und des publice profiteri von Tiberius Coruncanius (D. 1.2.2.35 und 38). Bei näherer Betrachtung war das Ziel der Rechtssicherheit bei Pomponius (Nörr 2003, S. 570; Lantella 1987, S. 223 ff.), die durch den Prozess der Verschriftung der Gesetze bewirkt wurde, Ausdruck der gesamten Geschichte der Stadt seit ihren Anfängen. Auf die Zeit der anfänglichen Unsicherheit – als „das Volk begann, Handlungen ohne gesichertes Gesetz, ohne gesichertes Recht vorzunehmen und die Regelung aller Dinge in den Händen der Könige lag“ [D. 1.2.2.1] – folgte die Zeit der Sicherheit – mit dem Rom der sieben Könige und mit deren schriftlich fixierten Gesetzen [den sogenannten leges regiae] (Franciosi 2003; Laurendi 2013, S. 23 ff., 171 ff.). Es erfolgte dann die Rückkehr zu einer kurzen, aber chaotischen Phase der Unsicherheit von der Vertreibung des Tarquinius bis zum Dezemvirat, in der das Volk erneut begann, von einem unsicheren Recht Gebrauch zu machen [D. 1.2.2.3]. Es wurde schließlich die Periode der neuen Sicherheit eingeläutet, die ihren Ausgang nahm von den XII Tafeln, aus denen dann seinerseits 1 Dion. Ant. 10.51.5; 10.52.4, 10.54.2–3; Liv. 3.31.8 und 32.6. Siehe auch Cass. Dio 44.26.1; Arrian. Ars Tact. 33.5; Lyd. Mag. 1.34; Serv. Aen. 7.695; vir. ill. 21.1 (vgl. Isid. or. 5.1.39; Amm. 22.16.22; Aug. Civ. Dei 2.16. 2 Gai 4. 4 ad l. XII Tab. D. 10.1.13; Gai 4 ad l. XII Tab. D. 47.22.4. Vgl. Cic. Leg. 2.59 und 64; Plut. Sol. 21.5. Lido (Mag. 1.42) berichtet, die Römer hätten unter den XII Tafeln eine in alter Zeit von den Korinthern (im Kodex von Periander) aufgestellte Vorschrift für die Behandlung des Verschwenders adaptiert: siehe Ulp. D. 27.10.1 und P.S. 3.4a.7.
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das ius civile erwuchs [D. 1.2.2.6], das heißt das von Priestern und nicht geistlichen Rechtskundigen durch die interpretatio geschaffene Recht. Das griechische Beispiel hat eine starke Wirkung auf die Römer des 5. Jahrhunderts v. Chr. entfaltet, nicht so sehr aufgrund der Ähnlichkeiten, die ebenfalls mit dieser oder jener hellenischen Gesetzgebung festzustellen sind, als vielmehr aufgrund des neuen Gesamtmodells, das sich auf diese Weise durchsetzte: des Modells der individuellen Norm, die über die Form des Gesetzes lief. Die Plebs machte zwischen 451 und 450 v. Chr. ein Bedürfnis nach Sicherheit des Recht durch dessen schriftliche Aufzeichnung geltend, um auf diese Weise der Willkür der patrizischen Magistraten Schranken zu setzen. Übergriffe kamen auch in diesem neuen Kontext immer noch vor, doch durch das Vorhandensein einer geschriebenen Gesetzgebung wurde es durch die konstante Bezugnahme auf einen definierten Text möglich, diese zu erkennen und einzudämmen (wie bezeugt durch den Vorfall um den Dezemvir Appius Claudius und Virginius: D: 1.2.2.24).
Ius certum und ius controversum Die Gesetzgebung der Dezemvirn konnte sich zwar neben der Gesetzgebung der zeitgenössischen griechischen Städte durchaus sehen lassen, konnte jedoch aus sich selbst heraus noch nicht den Bedürfnissen Rechnung tragen, die die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Roms zwischen dem 4. und dem 3. Jahrhundert v. Chr. aufkommen ließ. So blieb den XII Tafeln zum Trotz die Erarbeitung neuer handelsund verfahrensrechtlicher Regelungen fest in den Händen der pontifices (Giachi und Marotta 2012, S. 111–126). Ganz abgesehen von dem typisch orakelhaften Stil ihrer heimlich in penetralibus erteilten responsa an die einzelnen Anfragesteller (Liv. 9.46.5) blieb auch die scientia der interpretatio des Textes der Dezemvirn sowie der Auslegung der Handlungsformeln ausschließliches Monopol weniger Familien – weil sie eben von Generation zu Generation ausschließlich an ausgewählte Personen aus diesem Priesterkollegium weitergeben wurden. Die alte Praxis, aufgrund derer das Priesterkollegium jedes Jahr darüber „befand“, welches seiner Mitglieder zur Beantwortung der Anfragen der Privatpersonen ausersehen werden sollte (D. 1.2.2.6) wurde erst von Tiberius Coruncanius abgeschafft, dem ersten plebejischen Oberpriester (254 v. Chr.) und dem Ersten, der das publice profiteri einführte, das heißt, responsa öffentlich zu erteilen (D. 1.2.2.35 und 38). In dieser Weise wurde die Heimlichkeit aufgebrochen, die die Ausübung dieser Funktion in den vergangen Jahrhunderten umgeben hatte. Doch obwohl gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. innerhalb des Priesterkollegiums selbst nicht wenige Kontroversen über die Auslegung aufkamen (Liv. 31.6.1; 31.9.5–10), so wurde das Wissen der Priester doch als bedeutende Stelle, als kohärentes und nicht widersprüchliches Netz von Entscheidungen nach außen getragen. Man wird bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. warten müssen, um die volle Ausbildung einer Erscheinung wie des sogenannten ius controversum beobachten zu können, das dann die iuris prudentia bis hin zum severianischen Zeitalter prägen sollte (Schwartz 1951, S. 121–148;
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Lombardi 1975, S. 68 ff.; Dalla 2006, S. 1023–1033; Bretone 2008, S. 755–859, 823–824; Brutti 2012, S. 77 ff.; Vacca 2017, S. 189 ff.; Ruggiero 2017, S. 152–153: umfangreiche Bibliographie o. Fn. 33).
Das Edikt und die lex Cornelia de iurisdictione Ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. löste der Prozess der Formulierung die alte Ordnung auf und schuf gleichzeitig eine neue. In der neuen Praxis der Rechtsprechung, die geschaffen worden war durch das litigare per concepta verba, (→ 21. Klinck) hatten die Prätoren über ihre Befugnis, Edikte zu erlassen, auch eine normative Funktion übernommen (Selb 1986, S. 259–272). Pomponius erinnerte daran, dass diese dafür sorgten, dass der Text ihrer richterlichen Edikte öffentlich angeschlagen wurde, „damit die cives erfuhren, welche Lösung“ der jeweilige Magistrat „auf die verschiedenen juristischen Fragen gegeben hätte und sich damit absichern konnten“ (D. 1.2.2.10). Dieser Sanktionsrahmen wurde veröffentlicht durch öffentlichen Anschlag von gebleichten Holztafeln. Der bedeutende Jurist des augusteischen Zeitalters Labeo berichtet, dass der Kläger, um den Beklagten von der Klage in Kenntnis zu setzen, die er gegen ihn zu erheben beabsichtigte (außergerichtliche editio actionis) (D. 2.13.1.1 – in Ulp. 4 ad ed.), den Beklagten vor das album, wo die verschiedenen Klauseln des Ediktes veröffentlicht waren, habe führen und ihm die Formel zeigen müssen, die gegen ihn beantragt werden sollte.3 Es ist ein zu erörterndes Thema, ob der Prätor an den Inhalt des von ihm zu Beginn seiner Amtszeit erlassenen Ediktes gebunden war oder nicht. Einige sind der Auffassung, ein kornelisches Plebiszit des Jahres 67 v. Chr. habe den Prätoren verbindlich vorgeschrieben, Recht zu sprechen (ius dicere) im Einklang mit ihren in den Edikten gemachten Zusagen. In Wirklichkeit war dies nicht der praktische Zweck, dessen Verfolgung beabsichtigt war. Dessen grundsätzlicher Tenor machte den öffentlichen Anschlag des album, d. h. des Gesamttextes sowohl der Edikte im engeren Sinne als auch der Klageformeln zu Beginn des Amtsjahres jedes Magistraten zur Auflage. Mit dieser Verordnung, die die Verpflichtung zur Vorabmitteilung und das Verbot der nachträglichen Änderung des Textes des Edikte festlegte, war beabsichtigt, die Möglichkeit einer Kontrolle durch das Volk und die Institutionen über die richterlichen Tätigkeiten der Prätoren zu gewährleisten. Wir verfügen über zwei bedeutsame Zeugnisse zu diesem interessanten Fall: Asconius In Cornelianam 524 und Cass. Dio 36.40.1–2.5 Beide unterstrichen die politischen Aspekte der dem Etwa sechzig Jahre vorher hatte Cicero (pro Rosc. com. 24–25) Fannius vorgeworfen, er habe mit der falschen Formel geklagt, obwohl die richtige – die actio pro socio – sehr wohl bekannt gewesen sei, nachdem sie in den veröffentlichten Formeln enthalten gewesen sei. 4 … Aliam deinde legem Cornelius, etsi nemo repugnare ausus est, multis tamen invitis tulit, ut praetores ex edictis suis perpetuis ius dicerent: quae res studium aut gratiam ambitiosis praetori bus qui varie ius dicere assueverant sustulit … 5 „Er brachte also dieses Gesetz sowie auch dieses andere ein, das ich jetzt darlegen werde. Sämt3
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u ngerechten Ermessen der Prätoren auferlegten Beschränkung, die letztendlich unvermeidliche Folge des kornelischen Plebiszits war. Doch der Vergleich mit dem caput eines Munizipagesetzes aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., aufgefunden an dem entsprechenden Ort im Rathaus der Gemeinde Irni in Baetica,6 hat es ermöglicht, eine überzeugende Mutmaßung über die normative Tragweite der Verfügung des Jahres 67 v. Chr. zu formulieren. Die Magistraten mussten das album des Statthalters der Provinz öffentlich zugänglich machen und das Justizwesen auf dessen Grundlage verwalten. Es wird im Einzelnen festgelegt, dass in Bezug auf jedes Edikt, jede Urteilsformel, jede sponsio, stipulatio, satis acceptio, Ausnahme und Vorschrift und jedes Verbot, die der Provinzstatthalter hatte bekanntmachen lassen, sowie in Bezug auf jede Angelegenheit im Zusammenhang mit der Rechtsprechung der jeweils als Vorsteher der Rechtsprechung bestimmten Magistraten in der Gemeinde Flavia Irnitana all dies während seiner gesamten Amtszeit im Rathaus täglich und für den größten Teil des Tages in einer für jeden lesbaren Weise öffentlich zugänglich machen und aushängen und das Justizwesen im Einklang mit diesen Edikten und Verboten und diesen sponsiones, stipulationes, satis acceptiones, Ausnahmen und Vorschriften verwalten sollte. Dank diesem Zeugnis können wir die Vermutung anstellen, dass der grundlegende Tenor des kornelischen Plebiszits die Auflage der öffentlichen Aushängung des album (des Gesamttextes der Edikte im engeren Sinn und der Formeln) war, dem als maßgeblicher Aspekt das Element der Vorhersehbarkeit des dicere ius ex edictis suis oder ex albo („das Justizwesen auf der Grundlage der eigenen Edikte oder auf der Grundlage der Amtstafel zu verwalten“). Indem diese Verordnung die Verpflichtung zur Vorabmitteilung (und vielleicht das Verbot der nachträglichen Änderung des Textes) festlegte, eröffnete sie auf diese Weise die Möglichkeit einer horizontalen Kontrolle: einer Überprüfung der Amtsführung des Magistraten, bewertet nach Maßgabe des Modells der Ausübung der iurisdictio wie von dem Edikt definiert, für die die Initiative von den Kollegen in der Prätur oder anderen Magistraten, den Volkstribunen oder den Konsuln (conlegae maiores der praetores), ausgehen musste. Im Rahmen dieser Grenzen verfolgte der Gesetzgeber, indem er die öffentliche Bekanntmachung des Ediktes über die Rechtsprechung durch die Prätoren verpflichtend machte, sicherlich den Zweck, dem Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Sicherheit des Rechts zu entsprechen (Mantovani 2004, S. 60–111). Nach der öffentlichen Bekanntmachung und Aushängung war es dennoch nicht sicher, dass der Text des Edikts auch tatsächlich angewendet wurde. Verfügte der Magistrat doch über eine Reihe von Instrumenten, durch deren Anwendung er liche Prätoren pflegten die Rechtsprinzipien, auf deren Grundlage sie die Prozesse zu führen beabsichtigten, persönlich niederzuschreiben und offenzulegen; es waren aber noch nicht alle Erlasse, die ta symbolaia betrafen, offengelegt. Weil sie dies nicht ein für alle Mal in endgültiger Art und Weise taten und sich auch nicht an die geschrieben Vorschriften hielten, sondern diese häufig je nach Sympathie oder Abneigung, die sie dem Einen oder Anderen entgegenbrachten, änderten, wie es in der Natur der Sache liegt, verfügte Cornelius, dass sie sofort und von Anfang an die Vorschriften, auf deren Grundlage sie Recht zu sprechen gedachten, offenlegen und sich peinlich genau daran halten sollten.“ 6 Caput || [28] R(ubrica). Magistratus ut in publico habeant album eius.
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d essen Einhaltung abschwächen konnte, was in einigen Fällen sogar so weit ging, dass er von ihm selbst formulierte Klauseln schlicht nicht beachtete. Im Verlauf der Geschichte der römischen Rechtserfahrung ermöglichte die Anerkennung ex novo der Bedeutsamkeit einer bestimmten Situation über das Zugeständnis einer actio decretalis, die normative Produktion der Prätoren und die auslegende Tätigkeit der in dem sogenannten agere tätigen Juristen zusammenzufügen. Der Beistand bei der jeweils am besten geeigneten Wahl des Verfahrensmodells für den vorliegenden Fall gab der Entwicklung des Rechts ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. eine entschiedene Ausrichtung (Bretone 1991, S. 187–188).
Der Prozess und die controversia im republikanischen Zeitalter Während beim lege agere jede Schöpfung neuer Formulare zwangsläufig nur unter der Voraussetzung der formalen Richtigkeit der Verfahrensweise erfolgen konnte, wodurch die Kreativität der Juristen behindert wurde, eröffneten sich in dem Prozess per formulas in der Phase in iure dem agere neue ungeahnte Horizonte. Weil eben der Recht sprechende Magistrat fast nie ein Rechtsexperte war, ist es wahrscheinlich, dass das Zugeständnis jeder neuen actio in factum (das heißt actio decre talis) in den meisten Fällen mit den maßgeblichen Rechtsberatern erörtert wurde. Und so stellte sich die römische Rechtsordnung in der kreativsten Phase ihrer langen Geschichte als ein von den Juristen ausgerichtetes Recht von Fällen und Verfahren dar. In diesem Rahmen hatten die Konstruktionen der prudentes als Ausgangsund Endpunkt (fast immer) die Regelung eines Falles und die Lösung eines Problems, das heißt die Untersuchung einer spezifischen controversia. Eben aus diesem Grund manifestierte sich das öffentliche Einschreiten eher im Prozess als durch den Erlass allgemeiner Vorschriften. Im Gerichtsverfahren wird keine ab strakte Norm über alle Bürger gesetzt, sondern eine konkrete zwischen zwei Bürgern. Der Prozess ist zweitrangig verglichen mit den Beziehungen zwischen Individuen: indem er sich ihnen dienstbar macht, setzt er sie als gegeben voraus; letztlich beschränkt er sich darauf, sie wieder herzustellen und zu erneuern. Doch gerade deswegen ist, je stärker die interindividuelle Struktur des Rechts ist, umso mehr das zentrale, wenn auch nicht einzige Mittel zur autoritären Setzung des Rechts eben der Prozess. Die Besonderheiten des neuen Prozessmodells gegenüber der älteren Art des lege agere begünstigten es ohne Zweifel, dass eine den Weisen der Vergangenheit gänzlich unbekannte Haltung Fuß fassen konnte. Denn während das priesterliche Wissen nach außen hin bis zu den letzten Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts v. Chr. stets bestrebt war, sich als monolithisch, das heißt als nicht durchdrungen von einem doktrinären Gegensatz, zu manifestieren, war die scientia iuris, in besonderer Weise in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr., vor allem geprägt durch ihren neuen kontroverseorientierten Charakter. Aus der controversia, die sich in den meisten Fällen im Zusammentreffen mit einem prozessualen Rechtsstreit manifestierte, nahm von jenem Zeitpunkt an die Entwicklung des ius ihren Ausgang. Die erlangte zentrale Stellung der Kontroverse zwischen Individuen machte gleichzeitig
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das Vorbringen rationaler Begründungen für die verschiedenen widerstreitenden Ansichten erforderlich (Cantarone 2007, S. 405 ff.; Beduschi 2017, S. 279–314, 308–313). Es ist vielleicht kein Zufall, dass Pomponius gerade über Manius Manilius, Junius Brutus und P. Mucius Scaevola, die die Hauptakteure der ersten von unseren Quellen bezeugten Kontroversen der Rechtsprechung waren, schreibt, dass sie fundaverunt ius civile (das Zivilrecht begründeten) (D. 1.2.2.39). Fundare (begründen), eher als ein Anfang oder eine Genese, bedeutet in diesem wie auch in anderen Zusammenhängen, das Bringen in einen geordneten oder stabilen Zustand. So kam dem Wirken der drei Genannten aus der Perspektive des antonianischen Juristen kurzum der Sinn einer Konsolidierung der theoretischen Grundlagen ihres Wissens zu. Sie haben wahrscheinlich einen entscheidenden Beitrag geleistet zur Konstruktion einer interpretatio, die logisch begründet und geeignet war, Kontroversen mit ‚wissenschaftlichem‘ Charakter zu entwickeln (Scarano Ussani 1997, S. 48). Die Geschichte der Jurisprudenz zwischen der späten Republik und dem 3. Jahrhundert n. Chr. war einerseits geprägt von einem Wechselspiel zwischen gefestigten Meinungen, die ihren Ausdruck in einem constare fanden, und widerstreitenden Meinungen, die Anlass gaben zu einem quaerere, einem disputare, und andererseits von einer Auflösung der Meinungsverschiedenheit in einem placere, das sich nach einer der widerstreitenden Meinungen richtete und schließlich obsiegte (praeva lere). Um es mit einer rhetorischen Figur auszudrücken, kann man sagen, dass wir ein ius controversum, ein ius dubium, ein ius varium vor uns haben, dem auf der anderen Seite ein ius receptum gegenübersteht. Welche Auswirkung hat das ius con troversum nun auf die Rechtssicherheit gehabt? Für die republikanische Zeit ist es schwierig, dessen Bedeutsamkeit sowohl unter einem quantitativen als auch qualitativen Aspekt festzustellen. Was den ersten Aspekt betrifft, so muss man sich vor zwei gegensätzlichen Gefahren hüten: der Versuchung, dieses Phänomen übermäßig zu bewerten oder im Gegensatz dazu es auf ein Minimum zu reduzieren. Die Angaben aus den Quellen sagen uns lediglich, dass die Juristen der späten Republik Kontroversen untereinander austrugen, aber sie erlauben uns leider keine Aussage über die quantitativen Dimensionen des ius controversum. Was den zweiten Aspekt betrifft, so muss man sich bei der Konzentration auf die Faktoren, die in die Auflösung des dissentire in einem obtinere einer der beiden widerstreitenden Meinungen eingingen und auf diese Weise die durch die Kontroversen der Rechtsprechung in Frage gestellte Rechtssicherheit wiederherstellten, vor der Gefahr hüten, die äußerst spärlichen spätrepublikanischen Dispute, die zum Beispiel die divisio in genera betrafen, und die Dispute über die konkrete juristische Regelung durcheinanderzubringen. Lediglich die letztgenannten führten zu einer Rechtsunsicherheit, während den erstgenannten allem Anschein nach eine rein theoretische Bedeutung zukam. Wenn schließlich Kontroversen darüber geführt wurden, ob eine ediktbasierte Klageform, die dem von der Partei vorgebrachten Fall wirklich entsprach, zur Verfügung stand oder nicht, und über die Möglichkeit des Zugeständnisses einer actio in factum oder einer actio utilis oder ad exemplum gestritten wurde, war der unmittelbare Ansprechpartner der Juristen häufig der Berater, mittelbar jedoch unumgänglich der Prätor in seiner Funktion als Rechtsprecher. Falls das von dem iurisconsultus
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angeforderte Gutachten sich hingegen um die Frage des quanti ea res erit und um das damit verbundene restituere oder um die Frage des quidquid ob eam rem dare facere oportet mit oder ohne ex fide bona drehte, dann betraf der Gegenstand der Untersuchung auch das officium iudicis, an das, wiederum mittelbar, das responsum gerichtet wurde (Bona 2003, S. 943 ff.). In einem Kontext wie diesem waren Sicherheit und Unsicherheit des Rechts, ius receptum und ius controversum nötige, wenn nicht gar unabdingbare Impulse für die Entwicklung des Rechts. Nur im Prozess entschied sich durch den Filter der iurisdictio der Magistraten oder des iudicatum des privaten iudex die Natur und folglich auch die Qualität der verschiedenen widerstreitenden Meinungen (Giachi und Marotta, S. 289–300).
Patroni causarum und iurisconsulti Im augusteischen Zeitalter führte der beispielhafte Widerstreit, der Labeo und Capito entzweite, zu einer Aufspaltung in Schulen (sectae) und zu erbitterten doktrinären Konflikten, die von deren jeweiligen Nachfolgern noch weiter verschärft wurden (Massurius Sabinus als Anhänger von Capitone, Nerva von Labeo). So spitzten sich die Gegensätze noch mehr zu (D. 1.2.2.47 und 48). Wenngleich die Juristen der beiden Schulen sich nie zu einer strikten Einhaltung einer secta verpflichteten, waren die dissensiones zwischen Proculianern (Erben der labeonischen Tradition) und Cassianern/Sabinianern (gebunden an die Lehren von Ateius Capito und von Massurius Sabinus) trotz der mehr oder weniger sporadischen Erarbeitung von mediae sententiae an und für sich schon hinreichend, um bei den Rechtsanwendern und bei Privatpersonen mehrere Unsicherheiten über die konkrete Anwendung des ius zu erzeugen (Stolfi 1997, S. 1 ff.). Selbstverständlich konnte innerhalb der neuen augusteischen institutionellen Ordnung der princeps nicht gleichgültig bleiben angesichts der Schwierigkeiten, die herbeigeführt wurden durch ein System, in dem jede juristische Doktrin zumindest potenziell Recht produzierte und nicht nur erkannte. Die uns über das Enchridion von Pomponius (D. 1.2.2.49–50) verfügbaren Informationen über das ius publice respondendi sind nicht hinreichend, um ohne Zweifel das Problem von dessen eventuellem Einfluss auf das Statut des sogenannten ius controversum zu lösen (Bretone 1982, S. 241–254; Cannata 2003, S. 30 ff.; Talamanca 2007, S. 5499 ff.; Brutti 2012, S. 77 ff.). Doch es ist absolut wahrscheinlich, dass mit diesem Mechanismus unter anderem beabsichtigt war, eine – auf eben auf die auctoritas des princeps gegründete – Ordnung und Hierarchie in der wachsenden Flut widerstreitender Rechtsmeinungen herzustellen. Auch Gaius, de facto ein Zeitgenosse von Pomponius, spielte in seiner Beschreibung der iura populi Romani (Inst. 1.3–7) zumindest implizit auf das ius publice respondendi an, als er unter den Quellen der Produktion von hinsichtlich der lex ersatzwertigem Recht auch die res ponsa derjenigen aufführte, denen es gestattet ist, iura condere (Gai Inst. 1.7) (Wieacker 1985, S. 71 ff.; Cannata 2003, S. 27 ff.; Brutti 2012, S. 96 ff.; Palma 2015, 45 ff.). Falls der Ausdruck sententiae et opiniones ein auf responsa bezogenes
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endiadyoin darstellt, dann macht die Gesamtinterpretation dieser Passage keine H übermäßigen Schwierigkeiten: „Die Antworten der prudentes sind die Rechtsgutachten und Rechtsmeinungen derer, denen es gestattet ist, Recht zu machen. Falls deren sententiae übereinstimmen, dann gilt das, was sie denken, als Gesetz; falls sie aber nicht übereinstimmen, dann kann der Richter nach eigenem Gutdünken einer Meinung folgen: Und dies wird angegeben per kaiserlichen Bescheid“ von Hadrian. Diese constitutio führte im Vergleich zur Vergangenheit keine wirkliche Neuerung ein. Das Verb significari legt es eher nahe, dass seine Entscheidung, weit davon entfernt, einen entschiedenen Wendepunkt darzustellen, lediglich klären wollte, welcher Praxis bei der Führung von Prozessen anderen gegenüber der Vorzug gegeben werden sollte (Talamanca 2009, S. 522). Wenn er in dieser Weise verstanden wird, hat diese berühmte Passage von Gaius einen bedeutsamen Vorläufer in einem Zeugnis von Quintilian, wo zur gleichen Zeit ausdrücklich auf die Mechanismen verwiesen wird, die in der Praxis seit Jahrzehnten den Umgang mit widerstreitenden Rechtsmeinungen regelten (Quint. 12.3.8), und auf die schon bei den Rednern der späten Republik verbreitete Gewohnheit, die Schriften der Juristen bei der Suche nach responsa (opiniones oder sententiae) heranzuziehen, die den Interessen ihrer Klienten entsprachen. Der Richter konnte – und dies ist die vernünftigste Interpretation von Gai Inst. 1.7 – zwischen den von den Parteien eingeführten Rechtsmeinungen und nicht außerhalb davon wählen. Aber dies soll nicht heißen, dass er eine technisch-juristische Bewertung vornahm. Der Kern der diesbezüglichen Ausführungen von Quintilian (Quint. 12.3.4–9) nimmt eben genau hierauf Bezug: Bei der Auswahl der für die von ihnen verteidigten Parteien günstigsten Rechtsmeinungen mussten sich die Redner stets an das Kriterium halten, was von der Natur her das Beste ist, das heißt an ein objektives System von Pflichten und Werten, das es in eine subjektive Vorschrift zu übersetzen galt. Ohne die Argumentation des Juristen anzugreifen, hätten sie danach trachten müssen diese zu bekräftigen und dabei auf die eigenen Waffen ihrer ars zurückgegriffen. In dieser Hinsicht erkennt man in der Position von Quintilian keine wirkliche Abweichung im Hinblick auf Cicero, für den die patroni causarum, ohne sich selbst an die Stelle der prudentes zu setzen, einfach zwischen den verschiedenen gegensätzlichen und widerstreitenden Lösungen diejenigen wählen mussten, die für den eigenen Fall am besten geeignet waren (Cic. de orat. 1.242) (Marotta 2012, S. 364–375).
Nach der ‚Kodifizierung des Edikts‘ Das Ziel der Rechtssicherheit wurde in der Kaiserzeit in einem gegenüber der republikanischen Zeit zutiefst veränderten Kontext verfolgt. Nach der sogenannten ‚Kodifizierung des Edikts‘ des hadrianischen Zeitalters trugen die zweckdienlichen Verfahren ex constitutione principis in beträchtlichem Maße dazu bei, die entsprechenden Lücken zu füllen. Jetzt konnten im Lichte der politischen und institutionellen Prinzipien, die die Beziehungen zwischen rechtsprechenden Magistraten und Kaiser regelten, die Ersteren nicht mehr von den Angaben zum Verfahren absehen,
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die ihnen aus der Staatskanzlei geliefert wurden. Nichtsdestotrotz wurde die Zuständigkeit der Prätoren für die Rechtsprechung, wenngleich jeder Bedeutung entleert, formal unangetastet gelassen. So konnte die von einem kaiserlichen Bescheid definierte Position ohne ein decretum durch einen Magistraten im Prozess nicht konkret zur Anwendung kommen. Unter diesem besonderen Gesichtspunkt machte der Princeps mit gesteigertem Einfluss nichts anders, als sich selbst an die Stelle der Juristen zu setzen (Palazzolo 1974, S. 73–201). Wenn man in der Staatskanzlei (of ficium a libellis) und in komplexeren Fällen in consilio einen Fall, ein Problem, eine controversia behandelte und dabei zu einer Lösung gelangte, die notgedrungen ein neues Schutzinstrument voraussetzte, wie in früheren Zeiten die Juristen dem Prätor angeraten hätten, ein zweckdienliches Verfahren zu bewilligen, so war es jetzt der Princeps, der dem Magistraten das geeignete Verfahrensmittel für den Schutz eines bestimmten Anspruchs vorgab. Doch der vielschichtige und massenhafte Charakter der kaiserlichen normativen Produktion setzte schon zu deren konkreter Einbindung ein allgemeines Bezugssystem voraus, das aus der Tradition der Jurisprudenz sein Bindegewebe bezog und sich insbesondere im Privatrecht manifestierte (Marotta 2018, S. 207–249). Die Bedürfnisse der Praxis und insbesondere das Erfordernis, vor Gericht kaiserliche Bescheide und juristische sententiae vorzutragen (recitare) – und dies nicht nur in Rom und in Italien, sondern in der gesamten mediterranen Ökumene – förderten, insbesondere im Gefolge der constitutio Antoniniana (Imrie 2018, S. 113 ff.), neue Haltungen gegenüber dem juristischen Wissen und dessen literarischer Tradition. Im Encomium von Origenes (1.7), verfasst zwischen 239 und 245, findet man einen Verweis auf die dissensiones prudentium und auf das ius con troversum, wenn die Schwierigkeiten beklagt werden, die sich der Definition eines kohärenten und nicht widersprüchlichen normativen Rahmens auf der Grundlage der Gesamtheit der juristischen Literatur und der kaiserlichen Bescheide in den Weg stellen (Marotta 2007, S. 940–943). Das 3. Jahrhundert n. Chr. ist schon in den Jahren der severischen Dynastie und noch mehr in deren Folge in seiner Gesamtheit von diesem Bedürfnis beherrscht. Der Meister der Pauli Sententiae und Hermogenian (der Autor der Epitomae iuris) (Dovere 2017) setzen sich ausdrücklich das Ziel, ein nicht kontroverses ius zu begründen, das von problematischen Diskussionen gereinigt und mit Sicherheit auf die Praxis der prozessualen recitatio anwendbar sein sollte. Das Recht von den Kontroversen reinigen (purgare). Schon der Titel der Sententiae deutet, wenn er vollständig gelesen wird, auf diese Zielsetzung hin: Pauli sententiarum receptarum ad filium libri V. Sogleich scheinen die wahren Absichten des Autors durch: diejenigen Rechtsdoktrinen aufzunehmen, die receptae und somit dem Feld der dissensiones iurisconsultorum entzogen sind (Ruggiero 2017, S. 151–194).
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Das Ende der Antike Dieses Bedürfnis nach Sicherheit, das weit über das ja auch schwerwiegende und alte Problem der Gewährleistung der Authentizität der Quellen des Rechts hinausgeht, verschärfte sich noch mehr in der Spätantike. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts beschäftigte sich das Kapitel XXI der Schrift de rebus bellicis mit dem Titel de legum vel iuris confusione purganda mit den Übeln, die die Gerichte plagten. Besonders eines erschien als extrem schwerwiegend: die Widersprüche der Rechtsquellen, der kaiserlichen Konstitutionen und in ebenso erheblichem Maße der sen tentiae der Juristen.7 In dieselbe Richtung geht ein Zeugnis aus der konstantinischen Epoche, eine Lobrede aus dem Jahr 321 (Pan. Lat. 10[/4].38.4): Der Rhetor beklagt darin vehement die unerträgliche Belastung durch das Gewirr der im wechselseitigen Widerstreit stehenden Meinungen und Gesetze.8 An der Schwelle des 5. Jahrhunderts prangert Ammian (30.4.11–12) die Unzulänglichkeiten der scientia iuris an, die sich nunmehr in einem Labyrinth von inkohärenten und widersprüchlichen Texten verloren habe. Über orakelhafte Verkündigungen suchen die Juristen das Recht in einem Gewühl von unbekannten Texten (lectiones reconditae), um die Gerechtigkeit dank ihrer pervertierten Gelehrsamkeit über den Haufen zu werfen. Doch war, wie Cassiodor zwei Jahrhunderte nach den Erwägungen des Historikers aus Antiochia betonte, das Prestige der ‚klassischen‘ juristischen Literatur so übermächtig, dass ein Urteil in einem Verfahren, in dem die Parteien sich nicht auf die dicta prudentium (Variae 6.8.2) berufen hätten, nur „missbräuchlich“ hätte ergehen können (Marotta 2012, S. 357–364). Das Paradigma jeder nachfolgenden Kritik an den prudentium contentiones wird gebildet durch die viel genannte Zensur der Anmerkungen von Ulpian und Paulus an den Werken des Papinian, die im Jahr 321 von Konstantin verfügt wurde (CTh. 1.4.1). Sie kann als echtes Modell gelten, das das bekannteste der sogenannten ‚Gesetze der Zitate’ inspirierte, das im Jahr 426 von der Staatskanzlei in Ravenna erlassen wurde (CTh. 1.4.3). Valentinian III. bestätigte die Autorität sämtlicher Werke von Papinian, Paulus, Gaius, Ulpian und Modestinus sowie der anderen vorhergehenden Juristen unter der zweifachen Voraussetzung, dass die von den Parteien vorgetragenen Textpassagen aus einem der ersten fünf Genannten zitiert wurden und dass das Zitat durch die Vorlage einer Handschrift belegt wurde. Wenn widerstreitende Meinungen zitiert wurden, musste der Richter der Mehrheit folgen. Bei Parität obsiegte Papinian: Falls von diesem keine Meinung vorlag, konnte der Richter frei wählen. Das Prestige von Papinian, bereits deutlich sichtbar im Lichte der konstantinischen Entscheidung von 321 (CTh. 1.4.1), wird umso mehr verstärkt durch die Bestätigung des Verbots, vor Gericht die kritischen Anmerkungen zu dessen problematischen Werken von Paulus und Ulpian heranzuziehen. Das Gesetz von 426 bekräftigte darüber hinaus die Autorität der Pauli 7 Einen klaren Hinweis auf die letztgenannten findet man in dem Teilsatz … ut confusas legum contrariasque sententias, improbitatis reiectio litigio, iudicio Augustae dignationis illumines. 8 Interessant in diesem Zusammenhang eine constitutio von Leo aus dem Jahr 473: Auch in diesem Fall stützten die Parteien ihre Ansprüche durch vielfältige und widersprüchliche Meinungen der Juristen und des Kaisers: C. 6.61.5.
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Sententiae und bestätigte auf diese Weise den konstantinischen Ausspruch von 328 (CTh. 1.4.2). Weder Konstantin noch Valentinian III. beabsichtigten, Zweifel über die Authentizität dieses Werkes aufzulösen, die in spätantiker Zeit nie diskutiert wurde, sondern klarzustellen, dass dieses Werk, „vollendet durch vollstes Licht, perfektesten Stil und richtigste juristische Argumentation“ Meinungen des ius re ceptum wiedergab, und sicherten ihm so einen dauerhaften Erfolg9 (Ruggiero 2017, S. 1–32). Die valentinianische lex (CTh. 1.4.3) der Zitate bekräftigte in ihrer Gesamtheit die anhaltende zentrale Stellung der ‚klassischen‘ juristischen Literatur innerhalb der spätrömischen Ordnung. Doch war dieses Gesetz nur ein Teil einer weiter gefassten Verfügung, die auch die normative Kraft der kaiserlichen Konstitutionen definierte und dabei an erster Stelle die Kriterien festlegte, nach denen vorzugehen war bei der Unterscheidung zwischen Verordnungen mit allgemeiner Gültigkeit und solchen, die hingegen nur auf die Fälle anzuwenden waren, in Bezug auf die sie erlassen worden waren (C. 1.14.2–3 und 1.19.7)10 (De Marini Avonzo und Lanza 2001, S. 72–75). Die Dringlichkeit des Problems veranlasste drei Jahre später (429), Theodosius II., eine drastische Konsolidierung der kaiserlichen Gesetzgebung unter ausdrücklichem Rückgriff auf das Modell des Gregorian und des Hermogenian anzugehen. Nichtsdestoweniger verfügte der Kaiser, so als wolle er damit sagen, die Hauptursache für das Durcheinander liege in den kaiserlichen Bescheiden, ausschließlich die Sammlung der leges generales (Archi 1976 S. 45 ff.; Coma Fort 2014; Harries und Wood 1993; Du Plessis 2009, S. 3 ff.; Huck 2012, S. 79 ff.; Dovere 2016, S. 59–81; Bassanelli Sommariva 2016, S. 61 ff.). Der codex Gregorianus (eine Sammlung von kaiserlichen Bescheiden an Privatpersonen und Beamte von Hadrian bis 291) und der codex Hermogenianus (eine Sammlung diokletianischer Bescheide, erlassen vor allem 293 und 294) (Cenderelli 1965, S. 19 ff.) waren Privatwerke einzelner Juristen, wenngleich sie – sehr wahrscheinlich – das kaiserliche Wohlgefallen genossen. Das Substantiv codex (das wahrscheinlich ursprünglich im Titel nicht einmal enthalten war) darf nicht in die Irre führen (Wieacker 1960, S. 93 ff.; Sperandio 2005, S. 19 ff.; Corcoran 2013, S. 285 ff.; Ammirati 2015, S. 33 ff., 85 ff.; Mantovani 2018, S. 241 ff.). Mit diesem Substantiv meinte man lediglich die Schreibunterlage, welche aus (in der Art des Pergaments) gefalteten und in Form eines Heftes gebundenen Blättern bestand und als solche zu unterscheiden war von der Papyrusrolle. Die Juristen, die diese Kompilationen von constitutiones principum besorgten, verfolgten damit ausschließlich das Ziel, den Rechtsanwendern kommentierte Sammlungen von gelösten Fällen, die darüber hinaus noch mit der kaiserlichen Autorität ausgestattet waren, zur Verfügung zu stellen. Ursprünglich
Die Vorbehalte, die von Konstantins Zeitgenossen geäußert wurden, betrafen nicht die Authentizität dieser Schrift, wie von der communis opinio behauptet, sondern die Besonderheiten ihres literarischen Genres und folglich deren Legitimation, bei der gerichtlichen lectio die großen problematischen Werke von Papinian, von Ulpian und von Paulus selbst zu ersetzen. 10 Als allgemeine Konstitutionen gelten sollten solche Konstitutionen, die zwar in Bezug auf Einzelfälle erlassen wurden jedoch den Zweck verfolgt hatten, künftig auch in ähnlichen Fällen maßgebend für die Entscheidung zu sein. 9
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hatte die Kanzlei von Theodosius 429 die Herausgabe von zwei verschiedenen Sammlungen geplant. Die erste hätte sämtliche von Konstantin bis zu Theodosius selbst erlassenen Konstitutionen mit allgemeiner Gültigkeit umfassen sollen, einschließlich derer, die nicht mehr in Kraft waren, reduziert auf ihren wesentlichen Tenor und angeordnet nach Titeln in chronologischer Reihenfolge. Die zweite hätte mit einer noch ambitionierteren Zielsetzung unter jedem Titel – nach „Ausschluss jedes normativen Widerspruchs“ – Verordnungen aus Gregorian, aus Hermogenian, aus der ersten theodosischen Sammlung neben ausführlichen Zitaten aus den „Abhandlungen und Antworten der Juristen“ zusammenfassen sollen. Man gab sich auf diese Weise dem Wunschbild hin, einen codex zu verfassen, der „die Funktion, das Leben zu steuern“, haben oder aufzeigen sollte, „was alle verfolgen und was sie meiden sollen“ (CTh. 1.1.5). Im Jahr 435 wurde dieses Arbeitsprogramm in den meisten wesentlichen Grundzügen bekräftigt (CTh. 1.1.6). Im Jahr 437 wurde ein in sechzehn Bücher untergliederter codex entsprechend der ersten der beiden 429 geplanten Sammlungen erstellt. Der zweifache Prozess der Veröffentlichung des codex Theodosianus – auf der einen Seite die Erstellung und Einlagerung von Kopien in den verschiedenen amtlichen Archiven (Gesta senatus Romani de Theodosiano pu blicando 7) (Atzeri 2008, S. 171 ff.), auf der anderen Seite die Bekanntmachung an alle Bürger des Verbots, Konstitutionen zu zitieren, die nicht in diesen Kopien enthalten waren (Nov. Theod. 1.3) – zeigt, dass die grundlegenden Bedürfnisse, die mit der Abfassung des Kodex befriedigt werden sollten, zwei waren: a.) aus der Masse der seit Konstantin erlassenen Gesetze, die häufig voneinander abwichen, die übergeordneten Konstitutionen herauszufiltern; b.) die Authentizität des Textes der kaiserlichen Normen zu gewährleisten. Der Codex Theodosianus wurde als solcher niemals bei der Gesamtheit der Adressaten verbreitet. Er verblieb vielmehr in den Archiven jeder provincia, stets verfügbar für die Advokaten, um auf diese Weise den Rechtsanwendern eine Sammlung von vor Gericht nach den üblichen Regeln der Rezitationspraxis zitierbaren authentischen Versionen allgemeiner Konstitutionen an die Hand zu geben. Die Zusammenstellung des Kodex trug daher dem Bedürfnis nach Kontrolle und mithin nach Rechtssicherheit Rechnung; so wurde vermieden, dass wie in der Vergangenheit die Kenntnis der Konstitutionen der Initiative von Privatpersonen überlassen wurde. Gemessen an diesem Parameter erscheint der Theodosianische Kodex weit entfernt von einer erschöpfenden Kodifizierung, doch auf jeden Fall stellt er im Vergleich zur vorhergehenden Situation einen erheblichen Fortschritt dar. In Wirklichkeit wurde das Projekt von 429, wenn auch in wesentlich veränderten Formen, erst von Justinian etwa ein Jahrhundert später abgeschlossen. Was das Problem der Rechtssicherheit betrifft, so würde allein schon der Hinweis auf die quinquaginta decisiones (Scheltema 1984, S. 1–9; Russo Ruggeri 1999; Varvaro 2000, S. 359–539; Paricio 2000, S. 503–509; Lambertini 2008–2009, S. 121–151; Russo Ruggeri 2010, S. 445–467; Luchetti 2011, S. 157–177) und vor allem auf die constitutiones ad commodum propositi operis pertinentes (Di Maria 2010) genügen, um zu verstehen, welch eine absolut klare Vision der Dinge die justinianischen Kompilatoren und insbesondere Tribonianus hatten. Justinian konzipierte die Sicherheit des geltenden Rechts nicht nur in der einheitlichen Kompilation der berühmten tria volumina (Institutiones, Digesta, Codex repetitae
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praelectionis), sondern in dem Bewusstsein, dass es kein Recht außerhalb dessen geben konnte, was seine Quelle im Willen des Kaisers fand, der nicht nur alleiniger conditor, sondern auch einziger interpres iuris war (Archi 1970, S. 115 ff.; Cannata 2003, S. 57 f.).
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Kapitel 10
Gerichtsorte Roland Färber
1 Überblick Als Gerichtsstätte der frühen griechischen Polis dient nach Homers Schildbeschreibung des Achill (Il. 18, 497–510) die Agora, auf der ein besonderer Bereich mit geglätteten Sitzsteinen für die richtenden Geronten als „heiliger Kreis“ abgeteilt ist. Das versammelte Volk nimmt lautstark Anteil am Geschehen. Auch bei Hesiod urteilen die Basileis auf der Agora (theog. 430–434) und finden dort allerlei Rechtshändel statt (erga 29–39). Bestätigt wird dies durch Rechtsinschriften des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. aus Kreta und anderen Teilen Griechenlands, in denen ebenfalls die Agora als der übliche Schauplatz für Prozesse angeführt wird (Papakon stantinou 2008, S. 99 f.). Entsprechend stehen bei Theognis (1,268) im 6. Jahrhundert v. Chr. Agora und Dikai sinnhaft nebeneinander. Die Kreisform der eigentlichen Gerichtsstätte und ihre Markierung durch bearbeitete oder ausgelesene Steine findet sich nochmals bei Euripides (Or. 919) für das Argos des 5. Jahrhunderts v. Chr. bzw. im großen Recht von Gortyn, wo von einem reservierten Stein auf der Agora die Rede ist, von dem aus man zum Volk sprach (I.Cret. IV 72 Sp. X 33–36. Sp. XI 10–14). In Athen, über das wir mit Abstand am besten informiert sind, gab es zum einen fünf Gerichte für Tötungsdelikte, zum anderen die Geschworenengerichte für alle anderen privaten und öffentlichen Klagen (→ 22. Lanni). Die fünf Blutgerichte tagten unter freiem Himmel, damit keiner mit dem Angeklagten unter einem Dach weilte und dadurch befleckt würde (Antiph. 5,11) (→ 19. Thür). Benannt waren sie nach ihren Stätten, in der Mehrzahl Heiligtümer (Demosth. or. 23,65–81; Aristot. Ath. pol. 57,3 f.): Der Areopag nach dem Areshügel, auf dem sich wohl das in R. Färber (*) Heinrich-Heine-Universität, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Alte Geschichte, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_10
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k lassischer Zeit als Verhandlungsort bezeugte Bouleuterion bzw. Synedrion befand; im 4. Jahrhundert v. Chr. trat der Areopag – wohl in Dingen jenseits der Blutgerichtsbarkeit – auch in der Stoa Basileios zusammen (Demosth. or. 25,23). Das Gericht beim Palladion bezog seinen Namen vom Heiligtum für das legendäre Standbild nahe Phaleron, das Gericht beim Delfphinion von einem Tempel für die delphischen Gottheiten Apoll und Artemis, das Gericht beim Prytaneion vom Amtslokal der Prytanen, das Gericht in Phreatto schließlich von einem heiligen Bezirk des Heros Phreatto am Strand von Piräus. Letzteres befasste sich mit Fällen, in denen der Angeklagte bereits ein exilierter Mörder war und Attikas Boden nicht beschmutzen durfte, weshalb er sich von einem Boot aus verteidigen musste. Die Geschworenengerichte sind wegen uneinheitlicher Bezeichnungen nicht allesamt sicher zu identifizieren. Zu den wichtigsten gehörte die mehr als 1000 Richter zählende Heliaia, der im 4. Jahrhundert v. Chr. ein eigenes, nicht überdachtes Gebäude zur Verfügung stand. Identifiziert wird dieses – freilich nicht unumstritten – meist mit einer großen rechteckigen Einfassung in der Südwestecke der Agora (Boegehold 1995, S. 99 ff.; Kenzler 1999, S. 257 ff.). Daneben gab es das Parabyston, dem das Komitee der Elfmänner vorstand, sowie das nach seiner Gestalt benannte Trigonon. Für das 4. Jahrhundert v. Chr. sind Verhandlungen im Odeion des Perikles und in der Stoa Poikile überliefert (Kenzler 1999, S. 251 f.). Das Thesmotheteion als Amtslokal der obersten Gerichtsherren Athens dürfte ebenfalls gerichtlichen Zwecken gedient haben (vgl. Demosth. or. 21,85) und vielleicht Ort der dem Verfahren vorangehenden Anakrisis gewesen sein. Aristoteles (Ath. pol. 63 ff.) beschreibt einen Komplex namens dikasteria, der offensichtlich an der Agora lag und sich in mehrere Bereiche unterteilte, darunter wohl auch der bei Pausanias (1,28,8) erwähnte rote und der grüne Gerichtshof. Diese dikasteria identifiziert man aufgrund von Kleinfunden (v. a. Stimmmarken) mit einer Gruppe von Gebäuden an der Nordostecke der Agora, von denen zwei im ausgehenden 5. und zwei weitere im dritten Viertel des 4. Jahrhunderts v. Chr. errichtet wurden (Boegehold 1995, S. 104–113; Kenzler 1999, S. 252–257). Am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. trat an ihre Stelle das sogenannte quadratische Peristyl, in dessen Kolonnaden bis zu vier Geschworenengerichte zu je 500 Mann gleichzeitig tagen konnten und dessen Innenhof bei Bedarf sogar Platz für 1500 Richter bot. Die Richter saßen auf hölzernen Bänken, die Parteien und ihre Beistände nahmen auf erhöhten Tribünen Platz. Im Zentrum befand sich ein Podest, von dem aus die Plädoyers und Zeugenaussagen geleistet wurden (Aischin. or. 3,55 f.). Auf dem Areopag dienten zwei unbearbeitete Felsen als Podien für den Kläger und den Angeklagten (Paus. 1,28,5). Mithilfe von Schranken und Gittertür (Demosth. or. 25,23) wurde die Gerichtsstätte physisch abgegrenzt, dem Publikum aber Einblick und Zuhören gewährt. Am Eingang stand ein Bildnis des wolfsgestaltigen Heros Lykos, dem Beschützer der Angeklagten (Lipsius 1905, S. 172–175). Für die hellenistische Polis dürfte noch so manche Erkenntnis im Schatz der Inschriften geborgen liegen. Die Schwierigkeit besteht hier oft darin, das polysemische Wort dikasterion eindeutig einer baulichen Einrichtung zuzuschreiben, wie es immerhin in zwei Fällen für Halikarnass und Kos gesichert ist (OGIS 46 Z. 19; IG XII 4, 177 Z. 8 f.). Die Gerichtshöfe des sizilischen Leontinoi verortet Polybios
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(7,6,2) zusammen mit den Amtsgebäuden und der Agora im Bereich der Talsenke. Neben solchen dauerhaft der Justiz gewidmeten Gebäuden wurde bei zwischenstaatlichen Schlichtungen gerne das unabhängige Terrain von Heiligtümern gewählt. Gelegentlich erfährt man etwas über das Mobiliar, etwa die Bänke für die Richter (Cassayre 2010, S. 372 f.). Überraschend spärlich sind die Informationen aus dem an Papyri so reichen hellenistischen Ägypten (→ 35. Grotkamp). Bei bloßen Nennungen des Begriffs dikasterion lässt sich abermals nur schwer ermitteln, ob die Institution oder der Ort gemeint ist (P.Gurob 2 Z. 31 f.; P.Hib. I 30D Z. 25 f.). Über den Ptolemäerkönig, die nominell höchste gerichtliche Instanz des Reiches, lassen sich zumindest ein paar Aussagen treffen. Sofern er in Alexandria weilte und diese Funktion selbst wahrnahm, wurde bei ihm nach Polybios (15,31,2 f.) an einem bestimmten Verhandlungstor des Palasts Klage erhoben. Offenbar hat es ähnliche Einrichtungen in der Chora gegeben, denn mehrere Papyri belegen ein Fenster am Serapeum in Memphis, wo Audienzen erteilt und Gesuche der Untertanen entgegengenommen wurden (UPZ I 15; 16; 53). Grundsätzlich aber konnte der König dem nachkommen, wo immer er sich gerade aufhielt, sei es im Feldlager (Polyb. 5,81,5) oder beim Betreten seines Schiffes (PSI V 551 recto). Die Urteile indessen fällte er, wenn in eigener Person, dann in Alexandria (Berneker 1930, S. 20–22). Dort gab es zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. auch ein spezielles kriterion am Hof (P.Lond. VII 2188 Z. 11 f. u. 89 f.). Die den König in gerichtlichen Angelegenheiten vertretenden Chrematisten stellten in jedem Gau ein Gefäß (angeion) für die schriftliche Klageerhebung bereit; in denselben Ortschaften fanden ihre Gerichtstage statt (Berneker 1930, S. 40–45; Wolff 1962, S. 64–67). Die Laokriten wiederum traten, wie bereits die einheimischen Priestergerichte der pharaonischen Zeit, vor dem Tor des örtlichen Haupttempels zusammen (Quaegebeur 1993); ebenso scheinen es die Gaustrategen gehalten zu haben – eine bemerkenswerte Parallele zum königlichen Verhandlungstor in Alexandria. In Krokodilopolis ist im frühen 2. Jahrhundert v. Chr. zudem ein laokrision bezeugt (P.Tebt. III 795 verso Z. 9). Im republikanischen Rom wurde zunächst im öffentlichen Raum der Stadt und insbesondere auf dem Forum Recht gesprochen, so dass forum gar synonym für das Gerichtsgeschehen stand (Varro ling. 5,145) (→ 21. Klinck). Ohne spezielle architektonische Heraushebung erfolgten die Verhandlungen inmitten des sonstigen öffentlichen Lebens. Den Gerichtsort konstituierten physisch die sella curulis des vorsitzenden Magistrats (Schäfer 1989), dessen hölzernes Richterpodium und weiteres bewegliches Mobiliar; bei der Lokalisierung nehmen die Quellen meist auf ein nahegelegenes Monument, etwa einen Tempel oder ein Blitzmal, Bezug. Die zweite Phase des zivilrechtlichen Verfahrens apud iudicem konnte ebenfalls hier stattfinden (Cic. de orat. 1,173), oder aber in den Hallen (basilicae) aristokratischer Häuser, in denen nach Vitruv (5,6,2) außerdem Schiedsgerichte tagten. Mit dem Bau der großen Basiliken am Rand des Forum Romanum und mit der sukzessiven Anlage der Kaiserforen änderten sich die räumlichen Bedingungen für die Gerichtsorgane der Stadt. Dank einiger Wachstafeln aus Herculaneum und Pompeji, auf denen Gestellungsversprechen (vadimonia) mit recht präzisen Ortsangaben festgehalten sind, lassen sich Stadt- und Fremdenprätor im 1. Jahrhundert n. Chr.
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auf dem Augustusforum lokalisieren, wobei insbesondere die seitlichen Exedren als Standorte ihrer Tribunale in Betracht kommen. Daneben erlauben es die vadimonia, rechtliche Handlungen der Parteien am Rande des eigentlichen Verfahrens nachzuvollziehen. Es ist gut denkbar, dass es an ihren Treffpunkten auf dem Forum zu Absprachen und Einigungen kam, ehe bzw. ohne dass man vor den Prätor trat. Auf der Platzanlage tagten auch die ständigen Strafgerichtshöfe (quaestiones perpetuae) mit ihren zahlreichen Geschworenen. Augustus hatte sie vom Forum Romanum offenbar gezielt dorthin verlegt (Suet. Aug. 29,1). Gerichtstätigkeit war nun deutlicher architektonisch gefasst und fand zunehmend in gedeckten Räumen statt. Die Basilica Iulia war sogar dezidiert einem bestimmten Gerichtshof, den centumviri, zugewiesen. Wie aus einem Passus bei Tacitus (dial. 39,1) hervorgeht, dürfte die von Funktionären angewandte cognitio extra ordinem weiter zur Verwendung von Innenräumen und gebauten Sälen – er nennt auditoria und tabularia – geführt haben. Was sich zuvor als eine zweite Verfahrensphase oft im privaten Raum abgespielt hatte, rückte nun zunehmend in die Sphäre des Kaisers und seiner Administration. Die Gerichtsorte des Kaisers standen anfangs noch ganz in der Tradition repu blikanischer Magistrate (Forum, Heiligtümer), doch sollten bald monarchische Züge und eine freiere Handhabe zum Tragen kommen (horti, kaiserliche domus, Landvillen) (→ 12. Tuori). Schon in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. trat der Palast auf dem Palatin mehr und mehr an die erste Stelle, was sich unter den Adoptivkaisern weiter verfestigte. Die Quellen sprechen, je nach Zunge, vom auditorium (Dig. 36,1,23 pr.) oder dikasterion (Philostr. soph. 1,25,8) im Kontext der Residenz. Dort soll Septimius Severus über zwei Säle eigens zum Zwecke der Rechtsprechung verfügt haben (Cass. Dio 77,11,1). Demgegenüber gibt es fortan keine festen Anhaltspunkte mehr für solche Handlungen im öffentlichen Raum der Hauptstadt; der Kaiser saß nun verstärkt jenseits von Rom und Italien zu Gericht. Konkrete Entwicklungslinien zeigt die dünne Quellenbasis des 3. Jahrhunderts n. Chr. jedoch nicht auf. In der Spätantike dominierten jedenfalls die kaiserlichen Paläste und dort speziell das consistorium, der Saal des Kronrates, der vom 5. Jahrhundert n. Chr. an exklusiver Schauplatz kaiserlicher Gerichtstätigkeit war. Wieder eigenen Entwicklungen folgten die Gerichtsorte der hohen Magistrate, insbesondere der Stadtpräfekten, Prätorianerpräfekten und Provinzstatthalter. Für die Stadtpräfekten im kaiserzeitlichen Rom ergibt sich kein klares Bild, zumal der vermeintliche Beleg für die Basilica Aemilia (Lyd. mag. 1,34,5–7) unzutreffend ist. Anhand von Juvenal (13, 157–161) käme eine private domus ebenso in Betracht wie ein amtliches Quartier; Statius (silv. 1,4,47) hingegen nennt einmal das Forum. In der Spätantike verfügte der praefectus urbi über mehrere, als secretarium bezeichnete Gerichtslokale, von denen eines zum zentralen Amtssitz gehörte (Färber 2012). Einen solchen Verhandlungssaal besaß auch der Stadtpräfekt von Konstantinopel in seinem Hauptquartier (praetorium) am Konstantinsforum (Theophan. A.M. 6101). Dass die Rechtsprechung in der Wahrnehmung hier beherrschend, ja beinahe exklusiv werden konnte, zeigt sich an der Überhöhung als „Heiligtum der Dike“ (Anth. Gr. IX 658; vgl. Lyd. mag. 3,65,4 f.). Für die Prätorianerpräfekten ist in severischer Zeit ein eigenständiger Gerichtshof im Umfeld des Kaiserpalasts in Rom anzunehmen (Philostr. Ap. 4,44,2; 7,17,2; Herodian. 7,6,6). Im spätantiken Konstantinopel
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verfügte der praefectus praetorio Orientis über ein Praetorium mit Gerichtssaal, konnte seine Richterfunktion aber z. B. auch im Zeuxipposbad wahrnehmen (Jo. Mal. chron. 14,38). In den Provinzen (→ 26. Kantor) lassen sich bereits in der frühen Kaiserzeit vereinzelt die Amtsquartiere der Statthalter als Verhandlungsorte nachweisen, doch dominierten eher noch die öffentlichen Bauten und Plätze in den Provinzhauptstädten. Bei den regelmäßigen Konventsreisen der Gouverneure durch ihre Amtssprengel dürften ebenfalls zunächst die Fora oder die öffentlichen Gebäude am Auf enthaltsort als Gerichtsstätten gedient haben, während im Laufe des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. vermehrt bauliche Infrastruktur in Form von praetoria zur Verfügung stand. Allgemeingültige Aussagen für alle Provinzen sind aber nicht möglich. Statthalterreisen und Gerichtstätigkeit jenseits des Amtssitzes gab es auch in den verkleinerten Provinzen der Spätantike, doch haben wir kaum mehr Nachrichten über die dafür herangezogenen Orte. In den Provinzhauptstädten selbst zeigten sich einige Statthalter weiterhin flexibel bei der Wahl der Stätte, insgesamt standen jedoch das Praetorium oder die dafür reservierte Gerichtshalle an erster Stelle. Für die Städte und Gemeinden des Reiches (→ 31. Lamberti) sind die Quellen spärlich bzw. noch nicht systematisch erfasst. Wie in Rom zeichnet sich aber auch hier die Trias aus Forum, Basilika und Tribunal ab. Im griechischen Osten sind es daneben die Theaterbauten, die in besonders aufsehenerregenden Fällen (Christenprozesse etc.) frequentiert wurden (Slater 1995, S. 147). Am Beispiel Puteolis und Capuas zeigen die vadimonia der pompejanischen Wachstafeln wiederum, dass rechtliches Handeln schon im Vorfeld eines Verfahrens eine verbindliche räumliche Dimension bekam, wenn es um den Ort der Gestellung ging. Weiterhin geht aus diesen Urkunden hervor, dass in den Chalcidica am Forum von Puteoli Schiedsverfahren stattfanden. Für solche arbitria kamen grundsätzlich alle nicht anrüchigen Orte in Betracht (Dig. 4,8,21,10 f.), mitunter auch direkt beim Streitgegenstand (CIL IX 2827). Zwei wesentliche Strukturen römischer Rechtspflege waren das Podium des Gerichtsherrn (tribunal, bema) und das secretarium als geschlossener Raum für Verhöre und Beratungen. Letzteres lässt sich ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. bei Statthaltern und anderen Reichsfunktionären immer häufiger nachweisen. Das als Ausdruck öffentlicher Verfahren bewertete tribunal wurde jedoch nicht, wie in der älteren Forschung zu lesen, in der Spätantike vom secretarium verdrängt, sondern blieb noch bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. in Gebrauch. Zur inneren Gliederung der Gerichtsstätte, gleich ob unter freiem Himmel oder architektonisch gefasst und überdacht, dienten Schranken (cancelli), um die Zuschauermenge (corona) vom eigentlichen Verhandlungsbereich abzugrenzen. In spätantiken Quellen begegnet zudem der Vorhang (velum), der zur Urteilsfindung des Amtsträgers und seines Consiliums geschlossen und zur Verkündung wieder geöffnet wurde. Im Ganzen erlauben es die Quellen freilich nur selten, die physischen Gegebenheiten im Detail zu rekonstruieren. So bleibt die reale Situation vielfach diffus.
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2 Kernprobleme der Forschung Eine Gesamtdarstellung zu Gerichtsorten in der griechischen Welt existiert bislang weder in monografischer noch in Aufsatzform. Repräsentativ für die Forschung ist der Artikel zum Lemma „Dikasterion“ (Thür 1997) im Neuen Pauly, der sich fast ausschließlich den literarisch gut bezeugten und teilweise sogar archäologisch identifizierten Gerichtsstätten Athens widmet. Diese prägen unser Bild weithin, sind aufgrund der Vielfalt griechischer Lebensformen aber nicht als allgemeingültig anzusehen. Das Standardwerk stammt von Boegehold (1995), der sämtliche schriftliche und materielle Evidenz erfasst und eingehend bespricht. Auch in Handbüchern zum attischen Recht und Rechtsverfahren werden Athens Gerichtsstätten regelmäßig behandelt (u. a. Lipsius 1905, S. 167–175; Todd 1993, S. 273 f.). In der neueren Forschung spielen sie im Zusammenhang mit der Bühnenhaftigkeit von Prozessen und ihrer engen Verbindung zum Schauspiel eine größere Rolle (Hall 1995, S. 41 f.; Lanni 1997, S. 184–186). Thematisiert wurde außerdem das Verhältnis von Gerichtsstätte und Amtslokal (Haensch 2003, S. 183–185). Zuletzt stand der öffentliche Charakter attischer Prozesse zur Debatte: Während Riess (2015) darin ein grundlegendes Prinzip zu erkennen glaubte, betonte Bers (2015), dass Publikum zum Verfahren zwar stets zugelassen, jedoch nie Voraussetzung gewesen sei. Jenseits von Athen ist wenig auf diesem Themengebiet gearbeitet worden. Für die archaische Polis sind hauptsächlich Studien zur griechischen Agora zu nennen (Martin 1951, S. 149–163; Kolb 1981, S. 10–12; Hölkeskamp 1997; Kenzler 1999, S. 42–46, 249 f., 265–269). Etliche Quellenbelege hat Papakonstantinou (2008, S. 99 f.) zusammengestellt. Im Mittelpunkt steht dabei Homers Schildbeschreibung des Achill, die nach Wirbelauer (1996, S. 163–165) den urbanen Raum, ausgehend vom Steinkreis der Gerichtsstätte, konzentrisch strukturiere und damit auch ein Bild der institutionalisierten Gesellschaft vermittle. Andere Forscher sahen in der Kreiseinfassung auf der Agora eine Frühform der stets einer Gottheit geweihten Orchestra (Kolb 1981, S. 10–15; Kenzler 1999, S. 249). So wurde zuletzt auch die kreisrunde, 33,3 m messende Einfassung auf der Agora von Gortyn aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. als Gerichtslokal gedeutet (Kenzler 1999, S. 250). Ansonsten sind keine tiefergehenden Forschungsdiskussionen ersichtlich. Gleiches gilt für den Hellenismus: Das umfassende Werk von Cassayre (2010) zum hellenistischen Justizwesen widmet den Orten lediglich zwei Seiten, und Studien zum ptolemäischen Gerichtswesen enthalten nur verstreute Hinweise (Berneker 1930, S. 20–23, 40–45; Wolff 1962, S. 9, 64, 67, 169). Für das Gros der schriftlichen Überlieferung gilt, dass die Orte gerichtlicher Handlungen im Schatten der beteiligten Personen und der eigentlichen Geschehnisse stehen; die räumlichen Gegebenheiten zählen hier zu den Begleitumständen oder sind Nebenprodukte der eigentlichen Aussageintention. Solche Angaben beschränken sich in der Regel auf einzelne, den Lesern hinlänglich vertraute Begriffe wie dikasterion oder, für das lateinische Schriftgut, auditorium. Deren Polysemie stellt ein heuristisches Grundproblem dar, denn meist ist nur aus dem Kontext zu erschließen, ob ein Gebäude, ein Saal, die beteiligten Personen oder das Geschehen
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selbst gemeint sind; und stets sind auch die anderen Sinnzusammenhänge impliziert. Bei Machthabern und ihren Funktionären stellt sich ein weiteres heuristisches Problem mit der Gewaltenkumulation: Rechtsprechung war, wie es besonders für die römische Verfassungsform gilt, Kernbestandteil der allgemeinen Herrschaftspraxis; zwischen der exekutiven Administration, legislativen und judikativen Kompetenzen lassen sich keine scharfen Grenzen ziehen – und das gilt gleichermaßen für die Orte ihrer Ausübung. Da diese Kompetenzen zudem an die Person des Gerichtsherrn gebunden waren, konnte er im Prinzip überall dort seines Amtes walten, wo er sich gerade aufhielt (Dig. 1,1,11). Römische Gerichtsorte brauchten also keineswegs immer feste Strukturen aufzuweisen und gebaute Architektur zu sein, sondern waren in hohem Maße flexibel und ephemer. Eine Diskussion bloß von Gebäuden und zugehörigen Termini würde zu einem unvollständigen und verfälschten Gesamtbild führen – bliebe doch all das unerfasst, was sich jenseits dieser Bauten und Begriffe abgespielt hat. Freilich war die Wahl des Ortes selten völlig willkürlich: Religiöse Vorstellungen, Tradition oder schlichte Praktikabilität, etwa die Zugänglichkeit und Auffindbarkeit des Gerichts, führten zu einer gewissen Bindung an bestimmte Stätten und zur Ausprägung fester Strukturen. Neben der schriftlichen Überlieferung sind die archäologischen Befunde und die Bildkunst fest einzubeziehen, wie ja die Thematik schon nach alter Forschungstradition der sogenannten Rechtsarchäologie zugehörig ist. Der jüngere Versuch, eine eigene römische Rechtsarchäologie zu etablieren, ist indes weitgehend auf die Auswertung bildlicher Darstellungen (Rechtsikonografie) beschränkt geblieben (vgl. Cappelletti und Selinger 2000). Die neueste Gesamtdarstellung römischer Gerichtsorte (Färber 2014) legt den Schwerpunkt auf Rom, die Jurisdiktion der zentralen Reichsorgane und der Provinzialverwaltung, also insbesondere den Kaiser und seine wichtigsten Vertreter, und deckt den Zeitraum vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. ab. Drei Kapitel behandeln außerdem das Tribunal, das Secretarium und die Binnengliederung von Gerichtsräumen durch Schranken und Vorhänge. Nicht eigens thematisiert werden dagegen die Sphäre der Militärgerichtsbarkeit und die Jurisdiktion lokaler Selbstverwaltungseinheiten des Reiches. Aus der älteren Forschung sei hier nur eine kleine Auswahl genannt. So wurden die Lokalitäten des Kaisergerichts aus verschiedenen Blickwinkeln mehrfach untersucht (u. a. Tamm 1963, S. 113–118; Kunkel 1968; Millar 1977, S. 3–58). Den Gerichtsorten der hohen Amtsträger hingegen, obschon im Kontext der Reichsverwaltung mehrfach gestreift (Haensch 1997; Fournier 2010, S. 90–98), war bis dato keine spezifische Studie gewidmet worden. Am besten erforscht sind im Zuge einer langen und intensiven topografischen Diskussion die Gerichtsstätten Roms (Welin 1953; Dareggi 1996; Coarelli 2009). Meist hat man versucht, die Standorte einzelner Justizorgane exakt zu bestimmen, so etwa die prätorischen Tribunale zur Zeit der Republik (zuletzt Kondratieff 2009) und dann auf dem Augustusforum anhand der Rechtsurkunden aus Pompeji und Herculaneum (Carnabuci 1996). Bablitz (2007) gibt einen Überblick über die Gerichtsstätten in Rom und setzt sich, wie auch Gagliardi (2005), eingehend mit der Raumordnung der Basilica Iulia auseinander. Die römische Basilika allgemein behandelt David (1983).
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Zum Tribunal gab es bisher nur eine Monografie (Johnson 1927), in der aber die Quellen des römischen Rechts und die gesamte griechische Überlieferung (Dinkler 1944) ausgespart blieben. Ansonsten spielte das Tribunal im Kontext der Rom- Topografie eine Rolle oder wurde aus ikonografischer Sicht behandelt (Gabelmann 1984; Bablitz 2008). Das Secretarium fand vordem nur im Rahmen von Lexikonartikeln, Studien zur Provinzialverwaltung (u. a. Lavan 2001, S. 52 f.) sowie kleineren Abhandlungen oder Kommentaren zu relevanten Märtyrerakten Beachtung (u. a. Hanslik 1963). Ein gutes Abbild des bisherigen Forschungsspektrums sind die Beiträge eines jüngeren Sammelbandes (Angelis 2010), die sich überwiegend auf Rom konzentrieren, aber auch ausgewählte Provinzen, Märtyrerakten und Romanliteratur behandeln. Die Öffentlichkeit der Verhandlung bildete in der Forschung seit dem 19. Jahrhundert den entscheidenden Parameter, um den Wandel römischer Gerichtsorte darzustellen. Dieses Modell war unilinear, mit einem positiv bewerteten Ausgangspunkt in der republikanischen Zeit, als noch jegliche Rechtsprechung öffentlich stattgefunden und das Prinzip volle Geltung genossen habe, über eine Mischform in der Kaiserzeit, als Verhandlungen in camera schon zugenommen hätten, hin zu einer Art Kabinettsjustiz im negativ bewerteten „Zwangsstaat“ der Spätantike. Deutlich ist die Analogie zum Niedergang des römischen Staates und dem voranschreitenden Verlust seiner republikanischen Grundwerte. Ein solches Modell kann allerdings die vielfältigen Ausprägungen gerichtlichen Raumes und die mehrspurig verlaufenden Entwicklungen nicht adäquat abbilden. Allein das Konzept der Gerichtsöffentlichkeit, das primär die Kontrolle der Richter und Amtsdiener durch die bürgerliche Gesellschaft bzw. die „öffentliche Meinung“ beinhaltet, war erst in der politischen Debatte des frühen 19. Jahrhunderts entwickelt worden (Fögen 1974); auch seine Übertragbarkeit auf die Antike wurde angezweifelt, seine Verifizierung anhand verschiedener Prozessordnungen und -phasen eingefordert (De Marini Avonzo 1964, S. 1042–1049). Öffentlichkeit hat stets eine konkrete Bedeutung, weshalb nach den beteiligten Gruppen differenziert werden muss: Seien es die großen Gerichtsredner der späten Republik, die sich in der Öffentlichkeit qualifizieren und zur Wahl für politische Ämter empfehlen wollten; sei es der Prinzeps, dessen Auftreten als Richter an offenen Plätzen dazu diente, seine Herrscherqualitäten unter Beweis zu stellen, sich als gerecht, streng oder milde zu inszenieren und so um Akzeptanz seitens der Bevölkerung zu werben. Bei den Reichsfunktionären war die öffentliche Verhandlung Teil der Kommunikation zwischen Regime und Untertanen; zugleich ging es um Selbstdarstellung und die Demonstration gesellschaftlicher Hierarchien mithilfe des erhabenen Tribunals oder des Zugangs zum und des Platzes im Secretarium. Die Bewertung von „öffentlich“ oder „geheim“ variierte dabei situativ und je nach Erwartungshaltung. So konnte mangelnde äußere Kon trolle zwar zu Amtsmissbrauch und bestechlicher Justiz führen, umgekehrt aber auch der Druck einer aufgewiegelten Masse zu überhasteten Urteilen oder unverhältnismäßigen Strafen. Das öffentliche und das nicht-öffentliche Verfahren schlossen sich keineswegs gegenseitig aus, was sich an dem mehrere Jahrhunderte währenden Nebeneinander von Tribunal und Secretarium zeigt: Verschiedene Phasen
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eines Prozesses konnten an unterschiedlichen Orten stattfinden oder der öffentlichen Einsichtnahme etwa durch das Zuziehen des velum entzogen werden.
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Teil II
Akteure
Kapitel 11
Konfliktlösung und Geschlecht Nadine Grotkamp
1 Überblick Auch wenn es im Gründungsmythos der attischen Gerichtsbarkeit die Göttin Athena ist, die den letzten Stein im Prozess des Orest legt und damit den ersten Gerichtsprozess entscheidet, präsentiert sich die Konfliktlösung in der Antike als eine vornehmlich männliche Angelegenheit. Während Frauen von den verhältnismäßig gut dokumentierten förmlichen Gerichtsverfahren teils ausgeschlossen, teils nur als Parteien geduldet waren, bleiben alternative Konfliktlösungsformen aufgrund ihrer geringen Schriftlichkeit schwer greifbar (dazu: Pfeifer und Grotkamp 2017), so dass hier eine möglicherweise nach Geschlecht unterschiedliche Beteiligung kaum beurteilt werden kann. In Athen waren Frauen von der städtischen Gerichtsbarkeit (→ 19. Thür) fast vollständig ausgeschlossen. Frauen als Klägerinnen sind nicht belegt (Gagarin 1998). Nur von männlichen Bürgern wurden Zeugenaussagen vorgebracht, nicht von Bürgerinnen (Harrison 1998, S. 136), wobei umstritten ist, ob möglicherweise eine Ausnahme in Mordprozessen bestand. In Gerichtsreden wurde es sogar nach Möglichkeit vermieden, Frauen überhaupt mit ihrem Namen zu bezeichnen (Schaps 1977). Lediglich in wenigen der erhaltenen Gerichtsreden sind die Beklagten Frauen, so in der später Demosthenes zugeschriebene Rede des Apollodoros gegen Neaira (Dem. 59; anschaulich: Hamel 2004) und in der von Antiphon verfassten Rede gegen die Stiefmutter (Antiph. 1). Auch diese Beklagten waren während der Verhandlung nur anwesend, für sie sprach jeweils ein ihr nahstehender Mann. Möglicherweise ohne männlichen Beistand trat Theoris aus Lemnos als Nichtbürgerin im ausgehenden 4. Jh. v. Chr. vor den Areopag (Collins 2001; Trampedach 2001).
N. Grotkamp (*) Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_11
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Für Lipsius (1905 (ND 1984), S. 790) erklärt sich diese Abwesenheit von Frauen in Gerichtsverfahren aus ihrer beschränkten Geschäftsfähigkeit, die in den meisten geschäftlichen Dingen die Mitwirkung oder das alleinige Handeln eines kyrios erforderte. Kyrios meint wörtlich ‚Herr‘, wird üblicherweise in Korrespondenz mit der Einordnung als beschränkte Geschäftsfähigkeit als ‚Vormund‘ übersetzt und konnte beispielsweise der Vater oder Ehemann sein. Für die Klagebefugnis von Frauen folge, so Lipsius, aus der aus den Gerichtsreden erschlossenen Regel, dass Frauen nur Geschäfte bis zum Wert von einem medimnos Gerste abschließen durften, dass sie auch Klagen nur bis zu dieser Wertgrenze einbringen durften. Beispiele dafür, das Klagen abgelehnt wurden, sind nicht bekannt. Klagen gegen Frauen seien bei allen Handlungen möglich gewesen, allerdings sei zur Verteidigung der kyrios aufgetreten. Nach einem spätantiken Scholion wurden in klassischer Zeit Frau und ihr kryios vom Kläger vor Gericht geladen (Lipsius 1905, S. 791). Dem Redner Isaios zufolge konnte eine Frau ihren kyrios davon abhalten, in ihrem Namen Zeugnis abzulegen (Harrison 1998, S. 137). Mit der Erforschung von antiken Geschlechtsstereotypen rückten im 20. Jahrhundert stärker an Geschlechterrollen orientiere Erklärungsmodelle in den Vordergrund, von denen die pauschale Zuweisung der Öffentlichkeit an Männer nur eine ist. Allgemein anerkannt ist beispielsweise auch, dass Rache in der attischen Tragödie ein Ausdruck von Männlichkeit ist, während der Verzicht auf Rache unmännlich war (Descharmes 2013), so dass es naheliegt, auch aus diesem Grund den gerichtlichen Konfliktaustrag in Athen als primär männliche Aufgabe anzusehen. Inwieweit der weitgehende Ausschluss von Frauen aus den öffentlichen Gerichtsverfahren auch für andere griechische Städte mit gleicher Konsequenz galt, ist umstritten (Gagarin 2012). Hinsichtlich der weitgehenden Vermögenslosigkeit von Frauen in Athen wird seit langem darauf hingewiesen, dass der attische Befund im Kontrast zu anderen griechischen Städten zu sehen ist (Ste Croix 1970). Jedenfalls enthält die große Gesetzesinschrift von Gortyn beispielsweise die Vorschrift (IC IV 72 col. III 5–12), dass dann, wenn streitig ist, ob eine Frau nach der Trennung von ihrem Mann zu viel mitgenommen hat, sie vor der Statue der Artemis im Tempel von Amyklaia bei dieser schwören solle, nicht zu viel genommen zu haben (Sealey 1990, S. 62). In den hellenistischen Papyri sind bei Klagen und Eingaben kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu beobachten. Die Erwähnung eines kyrios ist verbreitet, jedoch nicht zwingend, wie etwa die Eingabe der Lysia (P. Enteux 82) wegen einer Verletzung im Bad zeigt. In richtender Funktion sind Frauen nicht belegt. Selbst die Königinnen Ägyptens waren nicht Adressatin der Eingaben, auch wenn gesetzgeberische Maßnahmen von König und Königin(nen) gemeinsam erlassen wurden. In den verschiedenen römischen Verfahren (→ 21. Klinck) waren die Parteirollen im Vergleich zu Athen weniger eindeutig männlich dominiert. Die zentrale Unterscheidung bestand nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen gewaltfreien Personen, die unabhängig vom Geschlecht Rechte haben und durchsetzen konnten, und gewaltunterworfenen, unselbständigen Personen. Dass die Binarität der Geschlechter trotzdem zu einem Strukturelementen des römischen Rechtes zählt, von der eine umfangreiche Kasuistik zur Einordnung von Hermaphroditen
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(Thomas 1997) und die Probleme bei der Einordnung von Vestalinnen (Beard 1995; Kroppenberg 2010) zeugen, beruht darauf, dass nur Männer die Fähigkeit hatten, die als patria potestas bezeichnete Gewalt über andere auszuüben. Diese Gewaltunterworfenheit endete für Frauen wie Männer mit dem Tod des Vaters oder durch einen Emanzipationsakt. Grundsätzlich waren gewaltfreie Frauen wie gewaltfreie Männer in allen Verfahrensarten aktiv wie passiv parteifähig und konnten als Zeugen herangezogen werden. Soweit nicht sowieso Prozesse von Sachwaltern geführt wurden (was praktisch häufig vorkam, Anagnostou-Canas 1984; Evans Grubbs 2002, S. 60 ff.), hat man bei Gerichtsverfahren in Rom davon auszugehen, dass gewaltfreie Männer und Frauen in eigener Person auftraten (Ausnahmen: Gai, 82; Inst. 4,10 pr.), wobei gewaltfreie Frauen in größerem Umfang als Männer das Einverständnis eines tutors (Vormund) benötigten. Dies galt bereits für das nur römischen Bürgern offenstehenden, archaischen Legisaktionenverfahren (UE 11,24; 27; → 20. Manthe). Ob ein tutor bereits in der Frühzeit ohne weiteres allein auftreten durfte, wie dies im Formularverfahren möglich war (UE 11,27; Gai. 4,82; 99), ist umstritten (Kaser und Hackl 1996, S. 63). Jedenfalls konnte ohne Zustimmung des tutors ein Sachwalter (procurator) bestellt werden (Frg. Vat. 325). Als Beispiel für besonders besonnenes Auftreten einer Frau vor Gericht überliefert die Sammlung rhetorischer exempla des Valerius Maximus den Namen Maesia, die deshalb androgynes genannt worden sei (Val. Max. 8,3,1; Marshall 1990). Diese prinzipielle Gleichheit der Geschlechter im römischen Recht betrifft nur die Verfahren, die eigene Rechte betreffen. Popularklagen, die in einigen Strafsachen möglich waren, konnten nur Männer erheben. Auch bei der Verletzung der eigene Ehe wurde auf eine Anfrage einer Frau namens Cassia von der kaiserlichen Kanzlei entschieden, konnten Frauen nicht nach der lex Iulia de adulteriis klagen, da die Popularklagen eben nur von Männern erhoben werden dürften (C. 9,9,9,1, dazu Huchthausen 1974, S. 215). Gewaltunterworfene Personen waren unabhängig von ihrem Geschlecht nicht fähig eigene Rechte zu haben und waren daher von der Parteirolle im Formularverfahren grundsätzlich ausgeschlossen. Von diesem Prinzip bestanden für beide Geschlechter unterschiedliche Ausnahmen (Kaser und Hackl 1996, S. 205 f.). So konnten gewaltunterworfene Töchter selbstständig eine Klage auf Rückgabe der Mitgift erheben, wenn ihr Vater geisteskrank oder in Kriegsgefangenschaft war. Nur gewaltunterworfene Söhne konnten mit deliktischen Klagen verklagt werden. Die Kognitionsverfahren (→ 12. Tuori), die in der Kaiserzeit das Formularverfahren verdrängten, handhabten Fragen der Postulationsfähigkeit „elastisch“ (Kaser und Hackl 1996, S. 483). Sie waren nicht nur auch ohne tutor zugänglich, sondern schafften auch die Möglichkeit, dass in bestimmten Fällen gewaltunterworfene Personen gegen den jeweilige pater familias vorgingen. So konnten nun Frauen die Eheerlaubnis oder die Ausstattung mit einer Mitgift von Vater einklagen (D. 23,2,19) oder, wenn eine Übertragung der Gewalt auf den Ehemann nicht von vornherein unterblieben war, nach der Trennung von ihrem Mann eine Rückübertragung der Gewalt erzwingen (remancipatio, Gai. 1,137a). Von dieser Freiheit zeugt etwa auch die vor dem ägyptischen Statthalter verhandelte Klage der Dionysia gegen ihren
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Vater, der sie gegen ihren Willen von ihrem Ehemann trennen wollte (P.Oxy II 237 – 186, Oxyrhynchos, dazu Kreuzsaler 2008; Kreuzsaler und Urbanik 2008). Die im Corpus Iuris Civilis überlieferten Antwortschreiben der kaiserlichen Kanzlei gestatten eine quantitative Abschätzung: hier ist Viertel der Adressaten weiblich (Huchthausen 1974, 1976, 1992). Während für die Durchführung der klassischen Verfahren nur wenige geschlechtsspezifische Besonderheiten belegt sind, so für die Frage nach der Schwangerschaft (D. 25,4,1,2 f.), gab es in der Spätantike mehrere verfahrensrechtliche Vergünstigungen für Frauen, so das Privileg, nicht in Haft genommen zu werden, (Kaser und Hackl 1996, S. 574; Nov. 124,9 (556); CT 1,22,1 = C. 1,48,1). Eine mater familias sollte nicht öffentlich vorgeführt werden und hatte die Möglichkeit, Eide zu Hause zu schwören (D. 12,2,15; C. 2,58,2,1/2 (531); Nov. 124,1 (544)). Auch in römischer Zeit bestand Einigkeit, dass Frauen von öffentlichen Ämtern und daher auch vom Richteramt ausgeschlossen sind. Cicero konnte es Verres zum Vorwurf machen, dass er, als er zum Stadtprätor gewählt worden war, die Amtsführung seiner geliebten Chelidon (gr. χελιδών „Schwalbe“) überlassen zu haben. Während die Häuser der Rechtsberater leer gewesen seien, sei ihres voll gewesen, hier habe man neues Recht, neue Dekrete und neue Urteile erbeten (Cic. Ver. 2,1,136–138; Forgó-Feldner 2000). Bemerkenswert ist, dass dieser Ausschluss von öffentlichen Ämtern in der hohen Kaiserzeit begründet wurde, und zwar mit dem Herkommen (D. 5,1,12,2; Evans Grubbs 2002, S. 74). Die Begründungsbedürftigkeit könnte sich möglicherweise aufgrund der im hellenistischen Bereich durchaus verbreiteten Amtsführung durch Frauen (Stavrianopoulou 2006) und dem fließendem Übergang zwischen städtischen Ämtern, Wohltätigkeit und Priesterschaften erklären. Das aktive Eintreten für andere vor gerichtlichen Stellen ist nach der literarischen Überlieferung eine männliche Tätigkeit. Bekannt ist das bereits im ersten Jahrhundert in Beispielsammlungen belegte und noch im dritten Jahrhundert n. Chr. als abstoßend gewertete Auftreten der Afrania (oder nach anderen Quellen: Cafarnia). Sie sei so schamlos vor Gericht aufgetreten, dass der Prätor ganz allgemein Frauen das Auftreten für andere untersagt habe (D.3.1.1.5; Val. Max. 8,3,2; Evans Grubbs 2002, S. 61; Forgó-Feldner 2000). Allerdings wurde zugelassen, dass Frauen ihre alten und geisteskranken Eltern vor Gericht vertreten (D. 3,3,41). Die Papyri belegen zudem das Handeln von Frauen für Kinder. Das Beispiel der Babatha, die für ihren Sohn rechtliche Schritte gegen dessen Betreuer vorbereitete und die Übertragung der Vormundschaft auf sich anstrebte (Chiusi 2005; Oudshoorn 2007), steht nicht allein. Beispielsweise wandte sich schon in hellenistischer Zeit eine Mutter in einem Streit um die Abgrenzung von Land als prostasis für ihren Sohn an die Behörden (SB XVI 12720, 1–20, Arsinoties, 142 v. Chr.). Nur von gewaltfreien Männern wurde das in der modernen Forschung als Hausgericht oder iudicium domesticum (Donadino 2012; Thomas 1990; Düll 1943) bezeichnete Verfahren der Konfliktlösung geleitet, das ein pater familias ggf. von einem consilium der Verwandten (Kunkel 1966) beraten über die Angehörigen seiner Familie ausübte. Dieser Hausgerichtsbarkeit waren Männer wie Frauen unterworfen, jedoch gibt es Forscherinnen und Forscher, die davon ausgehen, dass Konflikte, die Frauen betrafen, primär mit diesem Verfahren bearbeitet wurden (Krause 2004).
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Die literarischen Quellen berichten von mehreren Vorfällen, in denen städtische Institutionen es einem solchen Hausgericht übertragen, Frauen für schwerwiegende Verbrechen zu bestrafen (Liv. 39,18,6; Tac. ann. 13,32; Dion. Hal 2,25,6; Val. Max. 6,3,8; Liv. Per. 48; Plin.NH 44,3,89; Cassiod. Var. 5,32). Gellius spricht davon (Gell. 10,23,4), dass der Mann für die Frau ein Richter anstelle eines Zensors sei (vir … mulier iudex pro censore). Die Kategorie Geschlecht ist in der historischen Kriminalitätsforschung ein üblicher Betrachtungspunkt, sodass über die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der gewaltsamen Konfliktaustragung Aussagen getroffen werden können (zum Alten Orient u. Griechenland: Tetlow 2005). Krause (2004, S. 187) hält fest, dass in den auf Papyrus überlieferten Eingaben wegen Diebstahls und Gewalt nur eine kleine Anzahl der Beschuldigten Frauen sind. Gewaltverbrechen galten etwa Johannes Chrysostomos im vierten nachchristlichen Jahrhundert (In Matthaeum hom. 30 (31),5) als männliches Laster.
2 Kernprobleme der Forschung Eine verstärke Beschäftigung mit dem Themenkomplex Frauen und Geschlecht setzt sowohl in der Rechts- wie in der Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Man kann sie in beiden Disziplinen grob in drei nur teilweise chronologisch aufeinanderfolgende Forschungsansätze teilen (Elsuni 2009; Späth 2007; Wapler 2012). Zum einen gibt es Forschung, die auf eine Sichtbarmachung von Frauen abzielt und aus den antiken Quellen so viel wie möglich zusammenträgt, was sich über Frauen sagen lässt. Daneben tritt eine dezidiert feministische Forschung, die auf die Herausstellung der Besonderheit des Weiblichen zielt (Differenzperspektive), die in der Rechtswissenschaft bis zu der These führt, Recht insgesamt für männlich zu halten (ähnlich Cantarella 1993, S. 38: Ausschluss der Frauen aus der polis), und die in der Geschichtswissenschaft mit sozialanthropologischen Ansätzen zusammentrifft, die Themen wie Körperlichkeit, Verwandtschaft oder bestimmte Lebensabschnitte zum Gegenstand hat. Konfliktlösung wird hier allenfalls am Rande berührt, wenn die Sexualdelikte stärker in den Blick genommen werden (Cohen 1991; McGinn 1998). Ein dritter Ansatz nimmt die Konstruktion von Geschlechtlichkeit in den Blick. Dies umfasst unter anderem auch die Kon struktion von Männlichkeits- und Weiblichkeitsidealen durch das Recht und die Rückwirkung von solchen Idealen auf Konfliktverhalten. Dies bedeutet nicht, dass die Frage nach dem Geschlecht vorher nicht gestellt worden ist. Die rechtliche Stellung der Frau war auch in der Phase der Formierung der antiken Rechtsgeschichte als Wissenschaft umstritten und aus diesem Grund Gegenstand zahlreicher historischer Analysen (Beispiele bei Meder et al. 2010). Die Beteiligung von Frauen an Gerichtsverfahren wird in den Handbüchern zum griechischen und römischen Recht seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig unter dem Stichwort der Rechtsfähigkeit dargelegt, zwischen Minderjährigen und Fremden. Nicht wenige Details waren Gegenstand von kleineren wissenschaftlichen Kontro-
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versen. In der griechischen Rechtsgeschichte war im 20. Jahrhundert insbesondere die Frage umstritten, wie weit der Ausschluss der Frauen von attischen Gerichten ging, insbesondere, ob Zeugenaussagen von Frauen eingebracht werden konnten (zusammenfassend: Gagarin 1998). In dieser Tradition stehen auch manche aktuelle Überblicksdarstellungen (Gardner 1995; Höbenreich und Rizzelli 2003), die zugleich der Sichtbarmachung einer Rechtsgeschichte der Frauen dienen wollen. Beschreibenden Charakter haben auch die Studien der historischen Kriminalitätsforschung, die bereits seit ihren Anfängen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowohl in der Begehung unterschiedlicher Straftaten verzeichnet hat, als auch Unterschiede in ihrer Verfolgung (Krause 2004, S. 186–189). Zu den frühen Ansatzpunkten für eine Erforschung der Konstruktion von Männlichkeits- und Weiblichkeitsidealen in antiken Gesellschaften gehört die in den 1970er-Jahren einsetzende Analyse der Rache in Bezug auf die Geschlechterstereotypen der attischen Tragödie (Burnett 1973), in der unter anderem herausgearbeitet wurde, dass zur Konzeptualisierung der Weiblichkeit die fehlende Kontrolle von Leidenschaft und Zorn gehörte. Ebenfalls in dieser Zeit wurde bereits das Argument der weiblichen Schwäche in den juristischen Texten problematisiert (Beaucamp 1976; Quellen zusammengestellt bei: Evans Grubbs 2002, S. 51–55). Eine andere auch die Konfliktlösung berührende Fragestellung ist die nach der Männlichkeit des öffentlichen Auftritts und dem Männlichkeitsideal des pater familias (Späth 2007, S. 383; Thomas 1996, 1997). Rügebräuche wie das Bartrupfen oder das Einführen von Rettichen werden in diesem Zusammenhang Herabsetzungen in der Männlichkeit gelesen (Forsdyke 2008). Im engeren Bereich der Romanistik rezipieren solche geschlechtskonstruktivistischen Ansätze mehrere Beiträge des Eva Cantarella gewidmeten Bandes der Zeitschrift Index (Cascione 2012; Lamberti 2012), die ausgehend von der Ulpians Begründung für das Verbot, dass Frauen andere vor Gericht vertreten, die Geschichte der Cafarnia (dazu auch Benke 1995; Chiusi 2013) in die rhetorischen Beispielliteratur weiterverfolgen. In der altertumswissenschaftlichen Frauenforschung ist Konflikt jenseits der Gerichtsbarkeit fast nur insoweit präsent, als Konflikte um Frauen, Amazonengeschichten oder der Geschlechterkonflikt gemeint sind (zu dessen Auswirkung auf die Gesetzgebung: Cantarella 2016, S. 423). Konflikte unter Frauen werden ebenso selten thematisiert wie die Frage, ob es Konfliktlösungsmechanismen jenseits der als männlich erkannten städtischen Gerichtsbarkeit gegeben hat. Zu denken wäre hier nicht nur an das vom pater familas ausgeübte Hausgericht (iudicium domensticum, Donadino 2012; Düll 1943; Kunkel 1966; Thomas 1990), sondern auch an mögliche soziale, konfliktsteuernde Funktionen von alten Weibern, Hebammen und ausschließlich Frauen vorbehaltenen Kulten. Faraone (2011) hat eine solche Funktion für die Thesmophoria in den Heiligtümern der Demeter für die hellenistische Zeit aus einer Kombination der in Aristophanes’ Komödie Thesmophoriazusae beschriebenen Verfahrensweisen mit den insbesondere im Demeterheiligtum von Knidos gefundenen Fluchtäfelchen erschlossen. Jacqmin (2013) diskutiert das Auftreten von Frauen als Schlichter in der archaischen Zeit aufgrund eines von Pausanias überlieferten Gründungsmythos der Heraia, Johnstone (2003) den Schutz von „invisible property“ (aphanes ousia) von Frauen durch Freundesnetzwerke.
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Kapitel 12
Konfliktlösung durch den Princeps Kaius Tuori
1 Überblick Dem römischen Kaiser kam ab der Regierungszeit von Augustus eine richterliche Funktion zu. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, zu beschreiben, wie der römische Kaiser während des Prinzipats zum Richter, Schlichter und Mediator wurde. Ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr. wurden kaiserliche Urteilssprüche in der Form allerhöchster rechtlicher Bescheide und Entscheidungen nicht nur zur ultimativen Form der Rechtsprechung, eine Art Oberster Gerichtshof für das Römische Reich, sondern auch zu einer Quelle für neues Recht. Unser Wissen über römisches Recht beruht weitgehend auf den kaiserlichen Urteilssprüchen, die in den Pandekten von Justinian ausführlich kommentiert und in dem Kodex von Justinian wiedergegeben sind. Gleichzeitig wird der Kaiser auch als Schlichter tätig und löst Konflikte insbesondere unter der Elite des Reiches. Im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. übernahmen römische Kaiser allmählich ausgedehnte rechtliche Aufgaben; so wurden sie zum Beispiel pflichtbewusst als Gesetzgeber, Richter und Rechtspfleger tätig (Millar 1992; Coriat 1997; Arcaria 2000; Wankerl 2009). Gleichzeitig jedoch lösten die Kaiser Konflikte durch formlose Mediation, indem sie als Schlichter zwischen verschiedenen Parteien auftraten. Wie kam es zu diesen parallelen Prozessen? Eines der größten Rätsel in Verbindung mit der Thematik der kaiserlichen Rechtsprechung ist, dass es keine Informationen über die Art gibt, wie es zu dieser kam. Es gibt keine Senatsentscheidungen, die Kaiser bevollmächtigt hätten, Richter zu Übersetzung aus dem Englischen
K. Tuori (*) University of Helsinki, Center for European Studies, Helsinki, Finnland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_12
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werden, und es gibt auch keine bekannten Gesetze oder sonstige Regelungen, die dies legitimiert oder Regeln darüber festgelegt hätten, wer beim Kaiser Berufung einlegen kann und wie. Wenn man nicht annimmt, es gab eine unbekannte Gesetzgebung, scheint es sich einfach als Praxis durchgesetzt zu haben, eine gemeinsame Überzeugung, dass die Rechtsprechung etwas war, was die Kaiser eben so machten und was man von ihnen erwartete (Honoré 1994; Tuori 2016). Damit soll nicht gesagt werden, dass es keinen Präzedenzfall dafür gab. In der gesamten antiken Welt und auch darüber hinaus wurde von Herrschern erwartet, dass sie als Richter tätig wurden und auf Gesuche von ihren Untertanen antworteten. Richter zu sein, war ein Teil souveräner Macht, ganz so, wie die mittelalterlichen Könige von Frankreich (zumindest in Erzählungen) dargestellt werden, dass sie unter Eichbäumen saßen und rechtliche Fragen lösten (→ II. 9. Geyer; Delogu 2008). Die römischen Kaiser folgten in dieser Sache einem gängigen Beispiel aus der griechischen und hellenistischen Welt, aber auch dem Beispiel der römischen Geschichte. Von den römischen Magistraten der republikanischen Zeit wurde erwartet, dass sie als Richter tätig wurden und auch formlos Streitigkeiten lösten, doch während der letzten Jahre der Republik und dem Aufstieg der Führer verschiedener Interessengruppen zu Kriegsherren und Diktatoren wurde der Grundstein dafür gelegt, dass der Kaiser als Richter akzeptiert wurde. In den Provinzen hatten die römischen Statthalter ja wie kleine Könige regiert und in der Praxis uneingeschränkte Macht während ihrer Amtszeit genossen (Lintott 1993, S. 65–69). Das Problem dabei ist, dass die römischen Kaiser keine souveränen Herrscher waren. Während der ersten drei Jahrhunderte des Römischen Reiches war Rom dem Namen nach immer noch eine Republik und seine obersten Beamten waren Konsuln. Die Kaiser waren offiziell lediglich „erste Bürger“, die „Ersten des Senats“ und so weiter, eine Fiktion, die von Augustus erdacht und von dessen Nachfolgern fortgesetzt wurde (zu den Schwierigkeiten der verfassungsmäßigen Definition des Prinzipats siehe Crook 1996, S. 113–118). Doch diese frühe Tendenz, dem Senat eine dem Kaiser vergleichbare Stellung zu geben, kam dergestalt zum Tragen, dass die frühen Kaiser den Senat gewöhnlich als Gerichtshof heranzogen und Fälle, an denen die Elite beteiligt war, an den Senat verwiesen (Bleicken 1962). Trotz der Bezeigung dieser Ehrerbietung war die Tatsache, dass die tatsächliche Stellung des Kaisers so sehr in Konflikt stand mit dessen offizieller Stellung, eine Quelle ständiger Instabilität (Roller 2001). Es kann auch gerade diese ständige Instabilität und Unberechenbarkeit der frühen Kaiser gewesen sein, die dazu führte, dass sie zu Richtern wurden. Da die Kaiser die Neigung hatten, mit wenig Rücksicht für die übliche Praxis zu handeln, konnten sie theoretisch jede Entscheidung willkürlich rückgängig machen. Dies bedeutete, dass jeder, der mit einer Entscheidung nicht zufrieden war, danach strebte, beim Kaiser Gehör zu finden, seinen Streitfall vorzubringen und um Abhilfe zu ersuchen. Nachdem die Legitimität der kaiserlichen Macht auf der besonderen Beziehung zwischen dem Herrscher und dem Volk beruhte, waren die Kaiser bestrebt, solche Anfragen zu beantworten. Dies führte bisweilen zu komischen Situationen, indem Bittsteller dem Kaiser praktisch auflauerten, um von ihm zu verlangen, er solle ihr Anliegen anhören (Suet. Vesp. 23). In einem namhaften Fall war eine
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Gruppe von Bittstellern Hunderte von Kilometern weit gereist, um das kaiserliche Gefolge einzuholen. In diesem Fall entsprach Kaiser Caracalla ihrem Willen und beraumte auf der Stelle eine Gerichtsverhandlung an, bei der Mitglieder des kaiserlichen Rates als Advokaten für die Parteien auftraten. Es ist bemerkenswert, dass das Ratsmitglied, das den Beklagten vertrat, sogar argumentierte, dass die Streitsache eigentlich nicht zum Kaiser hätte gehen sollen, weil die unteren Instanzen in der Sache noch nicht befunden hätten (SEG XVII 75; Stolte 2003; Kunkel 1953). Schon seit Augustus, dem ersten Kaiser, gab es zahlreiche Beispiele für Bittsteller, die versuchten, den Kaiser anzurufen. Eine Witwe namens Tryphera rief Augustus an, nachdem sie zu Unrecht des Mordes in der Stadt Knidos beschuldigt worden war (IG XII 3.174 = FIRA III 185). Augustus setzte einen hochrangigen Magistraten ein, um den Fall zu untersuchen und entschied die Sache zu ihren Gunsten. Der Tryphera-Fall illustriert, wie die kaiserliche Praxis der Rechtsprechung auf Fällen und einem Bedürfnis nach deren Lösung beruhte. In diesem Fall kam Augustus der Witwe zu Hilfe, obwohl Knidos eine freie Stadt war und theoretisch eine unabhängige Justiz gehabt hätte (Wankerl 2009, S. 2–16; Nörr 1966, S. 29). Geschichten wie diese, die weit verbreitet waren und in den historischen Schriften wiedererzählt wurden, unterstrichen die Macht des Kaisers und, dass der Kaiser im Bedarfsfall Unrecht wieder gut machte und der gute Richter war. Für die Kaiser war das nicht notwendigerweise eine gute Sache. Zahllose Bittsteller, die versuchten, ihre (bisweilen) kleineren Probleme vorzubringen, beanspruchten eine Menge von deren Zeit. Einen Spruch über einen Streitfall gestützt auf das Vorbringen von nur einer Partei zu fällen, war ebenfalls gefährlich und konnte zu Ungerechtigkeiten führen. Das soll aber nicht heißen, dass es nicht auch Vorteile gegeben hätte. Bittsteller deckten anhaltende Missstände, Machtmissbräuche durch römische Amtsträger auf, die, wenn sie nicht abgestellt wurden, zu Rebellionen führen konnten. Die Lösung von Streitfragen eröffnete die Möglichkeit, das Gesetz gleichmäßig durchzusetzen und, falls gewünscht, neue Richtlinien einzuführen. Während des zweiten Jahrhunderts n. Chr. schien es Bemühungen zu geben, den Prozess zu reglementieren und die Flut an Fällen an den Kaiser einzudämmen, was sich an den zahlreichen Beispielen zeigt, bei denen der Kaiser viele Streitfälle zur Lösung durch die Provinzstatthalter zurückschickte (dies ist eine Standardantwort in den allerhöchsten Bescheiden im Kodex von Justinian, aber sogar zu finden in den allerhöchsten Bescheiden, die in Inschriften wie zum Beispiel der Inschrift von Scaptopara veröffentlicht waren, IGBulg. IV 2236 = SIG 888). Trotz dieser Bereitschaft, gelegentlich Fälle vom Kaiser an die unteren Instanzen zu verweisen, wird aus den geschriebenen Quellen klar, dass vom Kaiser erwartet wurde, als Richter tätig zu werden und Gesuche und Fälle des Volkes zu hören. Dieser Umstand in Verbindung mit den rechtlichen Problemen, die aus der Verwaltung selbst kamen, bedeutete, dass ein beträchtlicher Teil der Zeit eines Kaisers durch das Hören von Fällen beansprucht wurde (Claudius: Sen. apocol. 7.4–5; Dio 59.18.2–3; Vespasian: Suet. Vesp. 10; Dio 65.4, 66.10.5; Trajan: Plin. epist. 6.31). Die wichtigste zivile Verantwortung des Kaisers war auch in der Rechtsprechung die Aufrechterhaltung des Friedens. Ein großer Teil davon ging in die Beilegung der häufigen Streitigkeiten unter der Elite des Reiches. Ein gutes Beispiel dafür ist ein
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auf das Jahr 174–5 datierter Brief von Marcus Aurelius, der sich mit Fragen im Zusammenhang mit dem Zwist zwischen Herodes Atticus und dem Volk von Athen beschäftigt (Oliver 1989, S. 366–395). Die lange Inschrift, die die Urteilssprüche von Marcus über eine Reihe von Streitfällen enthält, ist uns erhalten und demons triert, wie der Kaiser sich mit einem weiten Spektrum von Fragen auseinandersetzen konnte und dies auch tun musste. Die meisten davon sind Sachen, die lokale Magistraturen und Priesterämter betrafen, eine kuriose Ansammlung von Angelegenheiten mit einer potentiell politischen Implikation, darunter Fragen zu Bürgerschaftsrechten, Zurückholung eines Verbannten und so weiter. Moderne Beobachter haben angemerkt, dass das Ziel der Entscheide, wo eine Anzahl von Fällen zur separaten Lösung an Richter delegiert wurde, wohl die Wiederherstellung des Friedens in der Stadt und die Beilegung der Streitigkeiten zwischen Herodes Atticus und den Athenern war. Ausgehend vom Wortlaut und der Gesinnung des Autors des Textes hat Williams überzeugend argumentiert, dass der Hauptteil des Textes persönlich von Marcus selbst verfasst wurde (Williams 1976, S. 79). Der Text enthält sogar eine Entschuldigung für sein schlechtes Griechisch. Was der Text demons triert, ist, dass der Kaiser zwar allmächtig gewesen sein mag, aber dennoch durch Überzeugung und Handeln wirken musste. In einer Reihe von Punkten geht Marcus auf die Forderungen der Athener in dem Bemühen, zwischen den Interessensgruppen Frieden zu stiften, offensichtlich nur widerwillig ein (Wankerl 2009, S. 17–68; Millar 1992, S. 512). Vielleicht als Folge dieser anspruchsvollen Aufgaben (die nicht nur bürokratischer Natur waren, sondern auch darin bestanden, Gesuche zu beantworten und nicht noch mehr Verwirrung zu stiften und gleichzeitig den Erwartungen gerecht zu werden), haben die pflichtbewussteren Kaiser besondere Beamte zu ihrer Unterstützung eingesetzt, Sachverständige in Sachen Recht, die die Anfragen schriftlich beantworten und die Beamten vor Ort anweisen sollten, wie sie vorgehen sollten. Diese kaiserlichen Sekretäre waren oft renommierte Rechtssachverständige und einige der berühmtesten Juristen in römischem Recht wie zum Beispiel Papinian und Ulpian (Honoré 1994). Trotzdem bestand die sehr persönliche Pflicht des Kaisers, zu antworten und zu herrschen, weiter fort. Bittsteller sprachen die Kaiser an, und die Kaiser gaben eine Antwort. Dies führte zu den kuriosesten Situationen, in denen Kaiser mit einem Ruf für ungezügelte Mordlust und Brutalität geduldig dasaßen und mit sachkundigem Wissen über komplexe Fragen des Privatrechts verhandelten, um eine gerechte Entscheidung zu treffen. Verstärkt hat das Image der persönlichen Verantwortung des Kaisers, rechtliche Anfragen zu beantworten, die Ernennung von Richtern, die die Anfragen im Namen des Kaisers oder vice Caesaris bescheiden sollten (Peachin 1996). Aufgrund des Nichtvorhandenseins einer geschriebenen Verfassung oder klarer Vorschriften, die das Funktionieren der kaiserlichen Gerichtsbarkeit oder sogar des römischen Staates selbst regelten, diktierte die Tradition als Erscheinung der Kultur dem Kaiser sein Handeln auf der Grundlage dessen, wie andere Kaiser gehandelt hatten und welches Handels von ihnen erwartet wurde. So beschreiben Geschichtsschreiber wie Seneca, Plinius, Tacitus, Sueton, Pomponius und Dio nicht nur, wie vergangene Kaiser gehandelt hatten, sondern auch, wie deren Stellung und Macht in
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deren eigener Zeit verstanden wurde. Nachdem der römische Staat gebaut war auf einem Fundament von Beispielen und beispielhaften Praktiken, war das Schreiben über die Vergangenheit nicht nur eine Sache der simplen Beschreibung; es hatte auch eine normative und gestaltende Wirkung (Peachin 2007, S. 76–77). Während die Verfassung der Römischen Republik formal niemals geändert wurde, befand sie sich doch in einem konstant fließenden Prozesses (Lintott 1999; Flower 2010). Die Macht des Glaubens und der Ideologie ist in zahlreichen neueren Studien über das Römische Reich erkannt worden (Meyer 2004; Ando 2000). Diese Kräfte waren maßgeblich auch in der Rechtsprechung und im Gesetz, wo das Gesetz kon stitutiv für das Reich war. Die kaiserliche Macht beruhte auf drei Fundamenten: der Macht der Armee durch Ausübung von Zwang, der Autorität der Magistraten und der symbolischen Macht der kaiserlichen Ideologie (Wallace-Hadrill 1981). Trotz der Tatsache, dass der Kaiser sogar von den Römern als allmächtig angesehen wurde (Dig. 1.2.2.12; Plin. Pan. 65.1; Cass. Dio 53.28.2; SHA M. Ant. 10.2–3; Amm. Marc. 16.5.12), wurde die kaiserliche Verwaltung nicht so gesehen. Die Kaiser verfügten über eine große Anzahl von stumpfen Instrumenten, darunter der Einsatz der Armee, doch sie erkannten oft, dass mit Reden und Zuhören dieselben Ziele erreicht wurden. Man könnte sagen, dass das Reich weitgehend durch eine Kombination aus Überredung und Zwang funktionierte (Harries 1999, S. 56–57). Das Fungieren des Kaisers als Richter kann als zentraler Bestandteil in dem verwaltungsmäßigen und ideologischen Fundament für die Verbindung zwischen dem Kaiser und dem Volk angesehen werden. In welcher Weise fungierten die Kaiser als Richter? Und sollte der römische Kaiser überhaupt formal als Richter bezeichnet werden, da er doch kaum bestehendes Recht auf einen Fall anwandte? Die Ausübung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit erfolgte in zahlreichen Formen, wo die Kaiser die Gerichtsbarkeit wie Magistraten ausübten, als Richter in Zivil- und Strafsachen sowohl in der ersten Instanz als auch in der Berufungsinstanz tätig wurden, rechtliche Eingaben von überall aus dem Reich entgegennahmen, aber auch in weniger formeller Weise Einfluss nahmen auf rechtliche Frage und Streitfälle, indem sie bei der Rechtsprechung und Konfliktlösung Beistand leisteten. Auch in schriftlicher Form wurden zahlreiche Gesuche durch Reskripte, Subskriptionen, Schreiben und so weiter vom Kaiser und dessen Vertretern beantwortet. Doch die Erahnung der Rolle des Kaisers in einzelnen Fällen ist rein deskriptiv, da diese Rollen (zum Beispiel als Magistrat, Schiedsrichter oder Richter) die ihm offenstehenden Optionen nicht einschränkten (Masuelli 2012). Da wir reichlich wenig über das Verfahren wissen, durch das die Fälle vor den Kaiser gelangten, besonders während der frühen Jahre des Prinzipats, ist die Antwort auf die Frage, welche spezifische rechtliche Rolle der Kaiser bei jedem Fall spielte, schwierig. Zum Beispiel in dem oben angeführten Fall, wo Augustus einen Bescheid im Fall der Tryphera erließ: War dies einfach nur eine Rechtssache oder etwas Anderes? Es ist sehr gut möglich, dass einigen kaiserlichen Entscheidungen die volle rechtliche Gültigkeit nur dadurch zugemessen wurde, dass sie der juristischen Lehrmeinung einverleibt wurden. Ein sehr bedeutsamer Punkt der kaiserlichen Rechtsprechung waren die Orte, an denen diese stattfand. Die frühen Kaiser saßen oft auf dem Forum zu Gericht,
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genauso wie es auch die republikanischen Magistraten zu tun pflegten (Suet. Aug. 33.1). Später konnte die kaiserliche Gerichtsbarkeit in allen Arten von Gebäuden stattfinden, oft in großartigen kaiserlichen Bauprojekten. Bei Streitfällen innerhalb der Elite oder bei den späteren Kaisern konnte die Rechtsprechung sogar in dem privaten cubiculum oder Schlafgemach des Kaisers stattfinden (wie in dem berühmten Fall des Valerius Asiaticus, Tac. Ann. 11.1–2).
2 Kernprobleme der Forschung Es gibt eine Anzahl von wesentlichen Problemen und Fragen im Zusammenhang mit dem Kaiser als Richter und Mediator. Diese können unter drei Hauptfragen zusammengefasst werden: 1) Gab es eine formale Autorisierung für den Kaiser, um als Richter und Mediator tätig zu werden? 2) Veränderten sich die Befugnisse und Verpflichtungen des Kaisers im Lauf der Zeit oder blieben diese während des gesamten Prinzipats im Wesentlichen dieselben? 3) Wie wählte der Kaiser aus, welche Frage er behandeln wollte? Frühere Forschungsarbeiten sind an die Frage entweder über die Gesetze oder über das Verhalten herangegangen und können als formalistische und funktionalistische Denkschulen beschrieben werden. Die formalistische Wissenschaft, die beginnend bei der deutschen Romanistik des neunzehnten Jahrhunderts die Frage als rechtliche Angelegenheit ansah und nach wie vor ansieht, geht davon aus, dass der Kaiser durch Gesetzgebung oder durch verwaltungsmäßige Kontinuität von den republikanischen Magistraten her formal autorisiert war, als Richter tätig zu werden (Peachin 2005). Im Gegensatz dazu haben funktionalistische Wissenschaftler das tatsächliche Verhalten der Kaiser als Richter untersucht und allgemeingültige Schlussfolgerungen aus einzelnen Fällen gezogen. Die funktionalistische Weisheit „Man ist, was man tut“ wurde umfunktioniert in „Der Kaiser ist, was der Kaiser tut“ (Millar 1992). Beide dieser Standpunkte bieten eine nur dem Anschein klare Sicht auf das, was der Kaiser tun konnte und tatsächlich tat, denn was sie bieten, ist eine Vermengung von Quellen, die sowohl widersprüchlich als auch spärlich sind. Trotz zahlreicher Studien ist der Prozess, durch den Kaiser zum obersten Richter und somit auch zur obersten rechtlichen Autorität wurde, nicht hinreichend erforscht worden. Im Gegensatz dazu ist die Entwicklung, die dazu führte, dass der Kaiser zum Haupt des ganzen Rechtssystems im Allgemeinen wurde, gut dokumentiert und zeigt das allmähliche Anwachsen der kaiserlichen Bürokratie im Recht. Der kaiserliche Wille, der durch Volksgesetzgebung, senatusconsulta, Edikte, Schreiben und Reskripte zum Ausdruck kam, ersetzte alle anderen legislativen Formen. Durch das System der Reskripte war die kaiserliche Justiz für Bittsteller aus dem gesamten Reich zugänglich (Orestano 1962; Marotta 1991; Gallo 1982; Nörr 1981; Arcaria 2000). Die kaiserliche Rechtsbürokratie wie zum Beispiel die Ernennung eines praefectus urbi und praefectus praetorio durch Augustus zur Leitung und Verwaltung der Justiz im Namen des Kaisers (Eck 2000; Vitucci 1956; Ruciński 2009; Woiciech 2010) sowie auch die spätere Ernennung von iuridici und kaiserli-
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chen legati, um Recht zu sprechen, verdeutlicht die Art und Weise, wie das Rechtssystem auf den Kaiser ausgerichtet war (Dig. 1.11, 1.12.1, 1.2.2.33; Capogrossi Colognesi 2014, S. 252–271). In den Provinzen kümmerten sich Statthalter, die unter dem Kaiser arbeiteten, um die Rechtspflege. Auch in Rom wurde durch die Einführung des neuen cognitio-Prozesses in Verbindung mit kaiserlichen Gerichtshöfen ohne Einschränkungen durch Formalitäten und wirtschaftliche Belastungen und mit dem ausschließlichen Fokus auf die Wahrheit in der Sache Recht gesprochen (Dig. 48.19.13; Kaser und Hackl 1996, S. 435–516). Ein Teil des Problems war, dass über die Prätoren hinaus auch von der republikanische Rechtspflege nur wenig bekannt ist und einige der Vorläufer der kaiserlichen Gerichtsbarkeit wie zum Beispiel die konsulare Gerichtsbarkeit nicht wirklich erforscht sind. So weist zum Beispiel Pina Polo (2011, S. 122–134) darauf hin, dass die konsularische Gerichtsbarkeit viel weiter als angenommen verbreitet war. Die Grundlage für das Zentrum des kaiserlichen Rechtssystems, des Kaisers als Richter, ist trotz bedeutender Versuche, die Art und Weise zu entschlüsseln, wie das System geschaffen wurde und warum, nach wie vor ein Rätsel (Fanizza 1999, S. 11–60). Die Hauptarbeiten sind immer noch Millars The Emperor in the Roman World aus dem Jahr 1992 und Honorés Emperors and Lawyers aus dem Jahr 1994, die sich auf die Tätigkeiten der Kaiser im Allgemeinen beziehungsweise auf das System der kaiserlichen Reskripte konzentrieren. Andere Forschungsarbeiten hatten zum Ziel, den Prozess auf Aspekte wie die rechtlichen Verfahren, die Verwaltung, die Bestrafung, die Macht oder die Verfassungsmäßigkeit zurückzuverfolgen. Einige wie Bleicken zeichneten die Zunahme der kaiserlichen Gerichtsbarkeit nach, indem sie sie mit der Gerichtsbarkeit des Senats verknüpften (Bleicken 1978). Wieder andere wie Kelly und Jones erkennen eine allmähliche Entwicklung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit aus spezifischen Bereichen wie der maiestas (Kelly 1957; Jones 1954, 1972). Unter den neueren Studien über die kaiserliche Rechtsprechung finden sich bedeutende Beiträge a) zu den Beschwerden und Bittschriften an den Kaiser (Wankerl 2009; Tuori 2016), b) zur kaiserlichen Strafgerichtsbarkeit (Schilling 2010), c) zum Zusammenspiel zwischen kaiserlichen Urteilen der Rechtsliteratur (Rizzi 2012; Masuelli 2012), d) zu den Entwicklungen in der Spätantike (Connolly 2010; Corcoran 2000). Insgesamt gesehen hat es ein frisches Interesse an den Tätigkeiten des Kaisers im Bereich des Rechts gegeben (Ferrary und Scheid 2015). Doch können die zwei Seiten der funktionalistischen/formalistischen Debatten ebenso auch als zwei Seiten derselben Münze betrachtet werden. Die erste betont die tatsächliche Macht des Kaisers als Führungsperson, während die zweite die formalrechtlichen Aspekte der kaiserlichen Tätigkeiten in den Bereichen Rechtsprechung und Gesetzgebung hervorhebt. Millar schreibt, dass die Macht des Kaisers zu töten, zu konfiszieren und zu verbannen, mit oder ohne rechtliches Verfahren, ein wesentlicher Teil dessen war, wie er funktionierte. Dies beeinträchtigte jedoch in keiner Weise die aktive Rolle des Kaisers als Richter, der in Streitfällen zwischen den Bürgern Recht sprach (Millar 1992, S. 6–7, 527–530: ‚Die Rolle des Kaisers in Bezug auf seine Untertanen war im Wesentlichen die des Gesuche Anhörens und des zu Gericht Sitzens über Streitfälle‘). Honoré kritisierte diese Sicht einer uneingeschränkten Macht des Kaisers und wies auf das Ausmaß hin, in dem sich die
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Kaiser nahezu ohne Ausnahme auf Juristen stützten, wenn sie ihre rechtliche Rolle als Richter oder bei der Beantwortung von Gesuchen ausübten. Nach Ansicht von Honoré belegen die Rolle des Kaisers als Berufungsinstanz und die kaiserlichen Reskripte als Rechtsbehelf, wie sehr die Kaiser die Herrschaft des Rechts für das gesamte Römische Reich gefördert haben (Honoré 1994, S. 12–16, 28, 33). Beide sind sich jedoch darin einig, dass Rechtsprechung eine zentrale Aufgabe des Kaisers war. Peachin hebt in ähnlicher Weise hervor, dass der Kaiser eine beträchtliche Menge an Zeit damit verbrachte, zu Gericht zu sitzen, und dass sich die Wahrnehmung des Kaisers als des guten Richters, des letzten Quells der Gerechtigkeit, der ungerechte Gesetze und unbillige Entscheidungen wieder gutmachte, im zweiten Jahrhundert n. Chr. herausbildete (Peachin 1996, S. 4, 13). Dillon demonstriert, wie die kaiserliche Gerichtsbarkeit ein Werkzeug der Verwaltung war, um den kaiserlichen Einfluss auszudehnen, die Ergebenheit des Volkes zu gewinnen und für die Bestrafung von korrupten Beamten (Dillon 2012). Studien über die Praxis des Einreichens von Bittschriften und Beschwerden beim Kaiser haben diese neuerdings als Verfahren von unten nach oben erforscht, indem sie die Mittelsinstanzen der Bittsteller und deren Strategien herausarbeiteten (Hauken 1998; Kelly 2011; Bryen 2013; Anagnostou-Canas 1991). In den Forschungsarbeiten des neunzehnten Jahrhunderts über das Amt des römischen Kaisers wurden rigide verfassungsrechtliche Theorien präsentiert, um zu erläutern, wie der Kaiser zum Richter wurde. Dies waren häufig juristische Abhandlungen, die nicht nur darauf zielten, die römische Geschichte zu verstehen, sondern auch als vergleichende Studien zum Verfassungsrecht dienten, mit denen zeitgenössische Debatten mit Informationen unterfüttert wurden. Sie begannen oft mit Ausführungen über die Befugnisse des römischen Kaisers, ausgehend von der Annahme, dass tatsächlich eine Übereinkunft darüber bestand, was die Befugnisse des Kaisers waren, oder dass es eine fixierte Verfassung gab (von Bethmann-Hollweg 1866, S. 88–103, 325–342; Mommsen 1871–1888, 2.2. S. 958–988; Puchta 1875, S. 212–234; Kromayer 1888; Siber 1940). Das Hauptproblem bei dem formalistischen Ansatz in Bezug auf die Gerichtsbarkeit des Kaisers ist, dass die Quellen, auf denen er gegründet werden könnte, nicht vorhanden sind und die vorhandenen Quellen keine Stützung für diese Sichtweise bieten (wie bereits aufgezeigt bei McFayden 1923; Volkmann 1969; Kelly 1957; Bleicken 1962 und neuerdings auch bei Lintott 2015, S. 318; Rüfner 2016). Das wesentliche Ergebnis ist gewesen, dass die verfassungsmäßige Legitimierung der normativen Befugnisse des Kaisers eine Kombination aus den Befugnissen der verschiedenen Ämter, die der Kaiser innehatte, wie zum Beispiel Konsul oder Volkstribun, war (Orestano 1962, S. 19–22; Magdelain 1947; Jones 1951). Da jedoch die Rechtsprechung nicht zu diesen Befugnissen gehörte, ist sie ein Dilemma geblieben, das der formalistische Ansatz nach wie vor nicht gelöst hat. Es ist zu hoffen, dass die künftige Richtung der Forschungen in dem Bereich die Kluft überwinden und anfangen wird, eine sorgfältige historische Analyse der Quellen mit der kulturellen Interpretation der römischen Gesellschaft zu kombinieren, ohne die juristische Analyse des den Themen zugrunde liegenden verfassungsrechtlichen Rahmens außer Acht zu lassen. Formalistische deskriptive Studien zur
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erfassungsgeschichte, die die Entwicklung formaler Befugnisse und der GerichtsV barkeit, unterteilt nach Zivil- und Strafsachen, sind mehrmals verfasst worden (Volkmann 1969). Formaljuristische Themen wie die Ableitung der Gerichtsbarkeit des Kaisers aus der souveränen Gerichtsbarkeit des Provinzstatthalters und somit aus dem imperium maius des Prokonsuls oder des Konsuls sind ein wichtiger Punkt des Themas, so wie es auch die traditionellen Gerichtsbarkeiten des pater familias, die Verpflichtung des Magistraten und des Volkstribunen zur Leistung von auxilium oder die Praxis der Bestellung von Schiedsrichtern sind. Doch sind formalistische und historische Darstellungen lediglich zwei mögliche Arten, das Rätsel der kaiserlichen Gerichtsbarkeit zu betrachten.
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Kapitel 13
Fremde vor Gerichten der griechischen Städte Kaja Harter-Uibopuu
1 Überblick Dort, wo ein Staat sich primär als Summe seiner Bürger versteht und die entscheidende Staatsgewalt in den Vollversammlungen eben dieser Bürger liegt, hat das Bürgerrecht naturgemäß einen besonders hohen Stellenwert. Zudem waren außer den politischen Rechten gerade in den Anfangszeiten der griechischen Stadtstaaten verschiedene Berechtigungen exklusiv an diesen Status gebunden. So war es zumeist nur Bürgern möglich, Grund und Boden zu besitzen, rechtsgültig Ehen zu schließen und damit das Familienvermögen an die Nachkommen weiterzugeben. Auch der Schutz der Rechtsbeziehungen von Privatpersonen untereinander durch das Gerichtssystem der Polis war zunächst den Bürgern vorbehalten. Ebenso verhielt es sich mit den politischen Rechten: aktivem und passivem Wahlrecht, Teilnahme und Diskussion in den Versammlungen, sowie dem Militärdienst. Im Folgenden werden aber nicht die Rolle und die Rechte der Bürger in Streitbeilegung und Gerichtsverfahren behandelt, sondern die der Nicht-Bürger, der Fremden, die – sei es temporär, sei es permanent – in einer griechischen Polis lebten oder auch nur als Besucher anwesend waren. Ihnen musste in dem eben geschilderten exklusiven System die Möglichkeit gegeben werden, in geregelten Beziehungen untereinander und mit den Bürgern ihres Gaststaates zu leben. Grundsätzlich waren Fremde zu keiner Zeit schutzlos: Die gastliche Aufnahme war ihnen durch die Verantwortung des Göttervaters Zeus zugesichert, der in dieser Funktion den Beinamen Xenios erhielt (Gauthier 1973). Bereits in den homerischen Epen wird an verschiedenen Stellen auf diese besondere Stellung hingewiesen. So erklärt Nausikaa ihren Begleiterinnen, dass alle Fremden und Bettler zu Zeus gehörten und man ihnen zumindest Kleidung und Nahrung schulde (Od. 6, V. 188–210). K. Harter-Uibopuu (*) Universität Hamburg, Fachbereich Geschichte, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_13
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Auch ihr Vater Alkinoos, der König der Phäaken, behandelt den schiffbrüchigen Odysseus nicht nur mit Respekt, sondern stattet ihn über das Notwendige hinaus mit reichen Geschenken aus (Od. 8, V. 542–549). Bemerkenswert ist, dass die Aufwendungen dafür vom Volk erstattet werden (Od. 13, V. 10–15). In der idealen Welt auf Scheria, die das Epos anderen Orten gegenüberstellt, die Odysseus besucht, ist die bevorzugte Behandlung von Fremden zu erwarten. Das Gegenbild begegnet in weiterer Folge auf Ithaka, wo die Freier Odysseus’ Abwesenheit ausnutzen, und dabei nicht nur seinen Palast besetzt halten und seine Frau Penelope bedrängen, sondern auch den vermeintlichen Bettler missachten und körperlich misshandeln (Od. 20, V. 299–303). Interessant ist nicht zuletzt, dass Odysseus selbst bei dem Kyklopen Polyphem, dessen Welt als Paradigma für Gesetz- und Ordnungslosigkeit eingeführt wird (Od. 9, V. 105–115), versucht, sich auf den Schutz von Fremden und den Namen des Zeus Xenios zu berufen – allerdings aussichtslos (Od. 9, V. 263–271). Das Gastrecht und der Schutz von hiketai, Schutzflehenden, wurden über die nächsten Jahrhunderte weiter ausgebaut, normiert und mit entsprechenden Ritualen versehen (Finley 1992, S. 102–107; Gauthier 1972, S. 18–26; Nesselrath 2005, S. 91–93). Diese normativen Regelungen gaben aber den Fremden zu keiner Zeit Rechte, die über die persönliche Sicherheit und Unversehrtheit hinausgingen. Sie waren weiterhin vom öffentlichen Leben in der Gemeinschaft, in die sie gekommen waren, ausgeschlossen und genossen auch nicht den Schutz der lokalen Gerichtsbarkeit (Hitzig 1907a, S. 212–213; zur Fremdenfeindlichkeit in den griechischen Städten Weiler 1989, S. 56–59). Wenn auch der Ausgangspunkt des Fremdenrechts eben die Rechtlosigkeit von Nicht-Bürgern in einer griechischen Polis sein muss, zeigen die Quellen doch deutlich, dass man bereits in der Archaik darum bemüht war, dieses Problem zu lösen. In der Stadt ansässige Personen, die das Bürgerrecht nicht besaßen, mussten in die lokale Gerichtsbarkeit eingebunden werden, um ein geordnetes Zusammenleben garantieren zu können und ihre Integration in das Geschäftsleben der Gemeinde zu ermöglichen. Zudem war es vielfach notwendig, nicht ansässigen Bürgern einer Polis, mit der bevorzugt Handel getrieben wurde, oder die auf andere Weise der eigenen Stadt verbunden war, Privilegien in Bezug auf den Zugang zu städtischen Gerichten zu verleihen. Zwei strukturell verschiedene Möglichkeiten boten sich zur Lösung der anstehenden Schwierigkeiten an: Fremde konnten durch Bürger vor Gericht vertreten werden, wodurch ihnen indirekt Zugang zum Rechtssystem gewährt wurde, oder es konnte ihnen durch Ausnahmeregelungen einzeln oder als Gruppe ermöglicht werden, selbst vor den Behörden und Gerichten aufzutreten und damit direkten Zugang zu haben. Die letztgenannte Möglichkeit zeigt sich deutlich in der Sonderstellung, die in einer Polis ansässige Nicht-Bürger im Laufe der Zeit erhielten und wird am Beispiel der athenischen Metöken verdeutlicht werden. Hitzig (1907a, S. 216–217) stellt diese beiden Vorgehensweisen an den Anfang seiner Abhandlung über den „griechischen Fremdenprozess“ und macht deutlich, dass die erste Variante dem Bereich des innerstaatlichen Rechts zuzuordnen ist, während die zweite Variante zumeist durch völkerrechtliche Verträge geregelt wurde und einen Austausch von Privilegien bedeutete.
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Die Überwindung der strengen Grenzen Wie in vielen Bereichen des griechischen Rechts ist auch in der Frage nach der Behandlung Fremder vor lokalen Gerichten die Quellenlage außerhalb Athens vergleichsweise dünn. Dort, wo einzelne Inschriften oder literarische Nachrichten Auskunft darüber erteilen, fehlen zumeist die Informationen zum normalen innerstaatlichen Gerichtsverfahren, sodass eventuelle Abweichungen davon schwer zu erschließen sind. Dennoch sollen im Folgenden gerade auch außerattische Texte vorgestellt werden, um verschiedene Lösungsmöglichkeiten des Grundproblems aufzeigen zu können, bevor das Fremdenrecht der Stadt Athen erläutert wird. Die Vertretung Fremder durch Bürger der Stadt, in der sie notwendigerweise Rechtsschutz erhalten mussten, ist als proxenia, institutionalisierte Gastfreundschaft, eine der ältesten Einrichtungen des Völkerrechts in der griechischen Antike und entspricht dem heutigen Honorarkonsulat. Dem proxenos oblag nicht nur die Vertretung der Bürger „seiner“ Stadt in Rechtsfragen, sondern auch die allgemeine Gastfreundschaft und die Unterstützung in kultischen Angelegenheiten, etwa bei der Durchführung eines Opfers (Gauthier 1972, S. 17–61; Gschnitzer 1973; Marek 1984; Mack 2015). Der älteste bislang bekannte Beschluss einer griechischen Gemeinde stammt aus Korkyra (Korfu) aus dem beginnenden 6. Jahrhundert v. Chr. und ist auf einem Grabstein erwähnt (IG IX 1, 4, 882). Der verstorbene Menekrates, ein Oiantheier von Geburt, wurde – wohl auf Anregung seines Bruders Praximenes – in der Gemeinde geehrt, deren proxenos er war (Walter 1993, S. 135–136). Mit der Verleihung der proxenia, die dem Geehrten durchaus Pflichten auferlegte, waren zumeist auch Privilegien und Ehrungen in dem Staat, den er vertrat, verbunden. Daher sind die über zweieinhalbtausend literarischen und epigraphischen Quellen zu diesem Institut vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis in die Kaiserzeit ein wichtiger Indikator für ein weitgespanntes Netz an persönlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen, die über das rein Rechtliche weit hinausgehen und zum effektiven politischen Instrument werden konnten (Mack 2015). Deutlich zeigt die Analyse der Quellen, dass gegenüber den verliehenen Ehren und Privilegien die Frage nach den Aufgaben und Pflichten zumeist in den Hintergrund trat, was wiederum wenig überraschende Parallelen im modernen Honorarkonsularwesen hat. Zudem war die klassische Aufgabe der Rechtsvertretung mit zunehmender Vernetzung der griechischen Poleis in vielen Fällen obsolet geworden, da der Gerichtszugang auf andere Art und Weise geregelt wurde. Dennoch bezeugt unter anderem eine Inschrift aus Karthaia auf Keos, dass der athenische proxenos der kleinen Stadt die Abgesandten in einem privaten Rechtsstreit unterstützte (IG XII 5, 528, Z. 6–10, 4. Jahrhundert v. Chr.; Mack 2011, S. 20–21; Gschnitzer 1973, S. 726). Ob dies allerdings von Rechts wegen notwendig war oder lediglich zur Untermauerung der keischen Ansprüche diente, lässt die Inschrift nicht erkennen. Am deutlichsten scheint auf den ersten Blick wohl Aischylos, der in dem wahrscheinlich 466 v. Chr. aufgeführten Stück „Hiketiden“ den notwendigen Einsatz eines proxenos eindrücklich beschreibt. Als ein ägyptischer Herold die Töchter des Danaos unter Androhung von Gewalt aus Argos zurück nach Ägypten holen möchte, tritt ihm der argivische König Pelasgos entgegen. Er erläutert nachdrücklich, dass ein Rechtsanspruch auf die vermeintliche Beute nur über einen lokalen proxenos möglich sei und verweigert ihm die Auslie-
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ferung der Mädchen (Aischyl. Hiketiden V. 910–929; vgl. aber die differenzierte Analyse des Spiels des Tragödiendichters mit den staatsrechtlichen Begriffen bei Gauthier 1972, S. 54–57). Der direkte Zugang zu lokalen Gerichten wurde Fremden in verschiedenen Ausnahmeregelungen gewährt. Diese beruhten zumeist auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen und waren damit auf Gegenseitigkeit ausgerichtet. Dabei handelt es sich durchwegs um die Berechtigung von Gruppen von Fremden, zumeist allen Angehörigen eines bestimmten Staates (Hitzig 1907b, S. 31–33). Eine konsequente Weiterentwicklung dieses Gedankens stellen die Isopolitie-Verträge dar, die den Angehörigen der Vertragsstaaten kollektiv das potenzielle Bürgerrecht verbunden mit den für die Partizipation notwendigen politischen Rechten verleihen. Da durch diesen Akt Fremde nach Umzug in die Partnerstadt dort aber direkt zu Bürgern wurden, sollen diese Abkommen hier nicht näher erläutert werden (ausführlich Gawantka 1975; Gauthier 1972, S. 347–372). Erst im Hellenismus finden sich – vorwiegend in den Asyliedekreten des Aitolischen Bundes – einseitige Erklärungen, die Fremden Schutz vor dem gewaltsamen Wegführen ihres Besitzes oder gar ihrer Person aufgrund eines behaupteten Anspruches boten (Gauthier 1972, S. 245–262; Ziegler 1975, S. 168–172). Dort wo dieser Gewaltverzicht durch die Möglichkeit, gegen den Übertretenden vor Gericht zu gehen, gesichert war, ist er ein Beispiel für die hier zu besprechenden Regelungen. Den Geschädigten wurde jeweils zugesichert, dass sich die stratēgoi des Aitolerbundes um die Rückgabe der widerrechtlich entwendeten Güter kümmern würden. Ihnen stand es offen, Anzeigen bei den zuständigen Amtsträgern des Bundes einzubringen. Beispiele für dieses Vorgehen sind etwa die Asylie-Erklärung des Aitolischen Koinons gegenüber Keos (IG IX 12 169, ca. 220 v. Chr.; Gauthier 1972, S. 255–256) oder Mytilene auf Lesbos (IG XII 2, 15, ca. 214/3 v. Chr.; Gauthier 1972, S. 253–255). Wesentlich älter sind die ersten Beispiele derjenigen zwischenstaatlichen Verträge, die den Zugang zu lokalen Gerichten oder die Einrichtung spezieller Gerichte für Verfahren zwischen Bürgern der beiden Vertragsparteien regeln. Auf Griechisch σύμβολα (symbola) werden sie in der althistorischen Forschung üblicherweise Rechtshilfeverträge genannt (Gauthier 1972, S. 62–104; Cataldi 1983, S. XV– XXIV). H. H Schmitt und G. Thür bezeichnen diese Instrumentarien jedoch juristisch korrekt als Rechtsgewährungsverträge, um nicht den Eindruck zu erwecken, ihr Inhalt sei (gegenseitige) behördliche Hilfe von Amtsträgern antiker Staaten (Thür 1995, S. 268). Dieser Terminus soll auch hier Anwendung finden. Bereits der älteste dieser Verträge verdeutlicht den Hintergrund ebenso wie die mögliche Lösung des eingangs geschilderten Problems. Aus der lokrischen Stadt Chaleion am Golf von Korinth ist ein Vertrag aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. auf einer Bronzetafel erhalten, der den Rechtsverkehr mit Bürgern der Stadt Oiantheia regelt (IG IX 12 3, 717; zuletzt umfassend Zunino 2005). Das sylan, das Beschlagnahmen von Eigentum eines Fremden zur Kompensation eines erlittenen Schadens, wird für die Bürger der Vertragsparteien am Boden der jeweiligen Städte ebenso verboten, wie das agein, das Wegführen des Fremden aus dem gleichen Grund. Für ein Zuwiderhandeln gegen diese Vorschriften sind zwei Reaktionen in Aussicht gestellt.
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Einerseits riskiert der Übertretende, dass er selbst einer Beschlagnahme unterliegt. Andererseits wird eine Geldstrafe von vier Drachmen vorgesehen, die für den Fall, dass das beschlagnahmte Gut länger als zehn Tage behalten wird, auf das Eineinhalbfache erhöht wird (Z.1–6). In weiterer Folge finden sich Regelungen für den regulären Gerichtsgang. Als Jurisdiktionsträger müssen die xenodikai (Fremdenrichter) entscheiden, ob ein Prozess eingesetzt werden soll. Sodann wählt der Fremde, der Klage erhebt, je nach Streitwert neun respektive fünfzehn Geschworene (wohl aus der Stadt, in der der Prozess angestrebt wird), mit Ausnahme des proxenos und der Bürgen (Z.10–14). Diesen traute man wohl nicht zu, unvoreingenommen zu urteilen. Dort, wo ein Rechtsstreit auf Basis des vorliegenden Sachverhaltes zwischen zwei Bürgern entstand, etwa wenn es um das vertragswidrige Beschlagnahmen von Gütern nach der ersten Klausel ging, war es Sache der lokalen Amtsträger, der damiorgoi, die Geschworenen auszuwählen (Z.14–17). Gültig war jeweils die Entscheidung der Mehrheit unter Eid, wie die Inschrift am Schluss des Textes ausführt (Z.17–18). Wenn auch im Einzelnen noch nicht alle Vorschriften des Vertrages zweifelsfrei geklärt sind, wird doch deutlich, dass die Selbsthilfe, die gegenüber Fremden an der Tagesordnung gewesen zu sein schien, hier eingedämmt wurde, um den friedlichen Rechtsverkehr zwischen den Bürgern beider Städte zu ermöglichen (Bravo 1980, S. 890–911). Während des Zeit der athenischen Vorherrschaft in der Ägäis durch den attisch- delischen Seebund waren derartige Regelungen ebenfalls vorhanden, wie literarische Quellen (Thuk. 1,77,1 und Antiphon 5, 78) und Inschriften (IG I3 6, A Z.35–43, Gesetz über die eleusinischen Mysterien, ca. 470-60 v. Chr.; IG I3 66, Vertrag zwischen Athen und Mytilene, 427/6 v. Chr.; IG I3 118, Vertrag zwischen Athen und Selymbria, 408 v. Chr.) deutlich zeigen (Meiggs 1972, S. 220–233; Koch 1991). Ausgewählten Fremden wurde somit ermöglicht, den Gerichtsstand Athens nutzen zu können. Gleichzeitig wurden die Verfahren beschleunigt, um beide Seiten zufrieden zu stellen. Allerdings ist die Grenze zwischen derartigen symbolai, die deutlich zum Vorteil der Nicht-Athener gereichten, und den athenischen Beschlüssen über die lokale Autonomie ihrer Bündner in Fragen der Rechtsprechung (etwa im Chalkis-Dekret, IG I3 40, 446/5 v. Chr.) umstritten, wie die Diskussion um den Vertrag zwischen Athen und Phaselis zeigt (IG I3 10, 469-450 v. Chr.; s. Meiggs 1972, S. 231–232; Gauthier 1972, S. 158–161). Aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. sind einige Verträge zwischen Athen und anderen griechischen Poleis erhalten, die außerhalb des zweiten attischen Seebundes geblieben waren. In diesen Texten wird über den Gerichtsort, die Jurisdiktionsmagistrate und die Zuständigkeit verschiedener Richterkollegien, Strafen, Fristen und Zeugen Auskunft geben. Als Beispiele sind hier die zwei stark fragmentierten Verträge mit Troizen (IG II2 46, ca. 370 v. Chr.) und Stymphalos (IG II2 144, ca. 368-364 v. Chr.) anzuführen. In beiden Texten werden xenodikai erwähnt, bei denen es sich vermutlich – so wie in Chaleion – um Amtsträger handelte, deren Aufgabe die erste Überprüfung des angestrebten Verfahrens sowie die Weiterleitung an die zuständigen Richter war. Umfangreiche Regelungen zum Ablauf der Verfahren zwischen Bürgern verschiedener Städte enthielt der Vertrag zwischen Priene und seiner Nachbarstadt Milet, der einen eigenen Abschnitt περὶ δικῶν (peri dikōn, Über Verfahren) ausweist. Die
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e rhaltenen Vorschriften betreffen die Zuständigkeit der Strategen in Priene und der Aufseher des Handelsplatzes (epimeletai tou emporiou) in Milet für die Annahme der Klagen, deren öffentliche Bekanntmachung und schließlich deren Weiterleitung vor die zuständigen Richter (I.Priene 8; ca. 200 v. Chr.; Crowther 1996). Die bei weitem detailliertesten Vorschriften für derartigen Rechtsverkehr zwischen Bürgern zweier Städte enthält der inschriftlich überlieferte Vertrag zwischen den beiden Poleis Stymphalos und Sikyon, der in die Jahre 303-300 v. Chr. datiert (im Folgenden können nur die wichtigsten Elemente der Prozessorganisation in Kürze wiedergegeben werden, für Detailfragen sei auf die Neuedition des Textes und den umfangreichen Kommentar bei Thür und Taeuber 1994, Nr. 17, S. 158–251 verwiesen). In jeder der beiden Städte werden regelmäßig ein katalytas und drei synlytai gewählt, die gemeinsam mit einem Schreiber zu Gerichtstagen in die Partnerstadt reisen, wo sie mit dem dort gewählten gleichen Gremium zusammen unter der Leitung eines hinzutretenden proedros (Vorsitzenden) als Fremdengericht zusammentreten und die einzelnen Fälle verhandeln. Dabei übernimmt jeweils der katalytas noch in der Heimatstadt des Klägers die Vorauswahl der ihm vorgelegten Klagen. Er überprüft die Zuständigkeit des Gerichts und die Zulässigkeit des Verfahrens und „löst“ im Weiteren die Verfahren aus dem städtischen Gerichtsgang, um sie zur Verhandlung vor das Fremdengericht zu bringen, das in der Beklagtenpolis tagen wird. Seine Rolle entspricht also der des Jurisdiktionsmagistrats in den bisher genannten Rechtsgewährungsverträgen. Die Kläger reisen dann gemeinsam mit den Zeugen in die Heimatstadt des Beklagten, um dort nach einem Monat Vorbereitungszeit in den Verfahren aufzutreten. Dem Verfahren vor Schiedsrichtern (insbesondere den „fremden Richtern“, → 17. Harter-Uibopuu) entsprechend wird während der zehn Gerichtstage zunächst der Versuch unternommen, die Streitigkeiten zwischen den beiden Parteien gütlich beilegen zu können (synlytai sind wörtlich übersetzt „Schlichter“), bevor es zu einer Hauptverhandlung und damit zu einem Urteil kommt. Auch für die Vollstreckung nach dem Urteil sind Maßnahmen und Fristen vorgesehen, wobei der Meldung des Urteils an die Heimatstadt des Beklagten große Bedeutung zukommt. Nur durch diese Meldung ist die Bewilligung der privaten Vollstreckung möglich und der Schutz der Bürger vor unberechtigten Zugriffen gewährleistet. Damit ist der festgelegte normale Weg für Verfahren zwischen Bürgern der beiden Städte derjenige vor das Fremdengericht, dessen Kampagnen jeweils angekündigt wurden. Nur in Ausnahmefällen wird dem Ausländer der Weg vor das ordentliche städtische Gericht eröffnet, etwa bei Bagatelldelikten, die am Gerichtsstand des Tatorts abgehandelt werden, oder wenn der Beklagte – um das Fremdengericht zu vermeiden – sich freiwillig dem Prozess in der Heimatstadt des Klägers stellt. Der in vielerlei Hinsicht singuläre Text eines Rechtsgewährungsvertrages verwundert in seinem Detailreichtum zunächst und lässt die Vermutung zu, dass er nicht erst für die beiden genannten Vertragsparteien Sikyon und Stymphalos entworfen wurde, zumal letztere eine kleine und relativ unbedeutende Bauerngemeinde gewesen war. Man wird ihn vielmehr im Rahmen der allgemeinen Entwicklung derartiger Verträge im 4. Jahrhundert v. Chr. sehen müssen und auch in das Umfeld der Neugründung von Sikyon als Demetrias (303 v. Chr.) und des Hellenenbundes, der unter Antigonos I Monophthalmos und Demetrios Poliorketes 302 v.
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Chr. ins Leben gerufen worden war, stellen können. Vermutlich werden gleichartige Regelungen auch mit der großen Handelsstadt Korinth und anderen Poleis abgeschlossen worden sein (Thür 1995). Vorschriften für zugewanderte und fest angesiedelte Fremde Während die bislang geschilderten Maßnahmen vor allem Rechtsbeziehungen zwischen Bürgern verschiedener Städte betrafen, die nicht denselben Wohnort hatten, wurden bereits in klassischer Zeit auch Vorschriften für diejenigen Personen erlassen, die zwar das Aufenthaltsrecht in einer Polis erhalten hatten, nicht aber das Bürgerrecht. Schon der eingangs erwähnte Rechtsgewährungsvertrag zwischen Chaleion und Oiantheia sieht zum Abschluss vor, dass Bürger, die sich auf dem Gebiet der Partnerstadt länger als einen Monat niedergelassen hatten, nach dem Recht des Wohnortes prozessieren sollten (IG IX 12 3, 717, Z. 6–8). Dort wo der Nicht- Bürger also Teil der Polis wurde und die Rechtsverhältnisse mit ihm auf Dauer angelegt waren, wurden flexible Lösungen gefunden, die beiden Seiten ein geregeltes Miteinander erlauben sollten. So wird im rechtlichen Status zunächst zwischen Bürgern und Fremden unterschieden. Unter den Fremden werden dann die privilegierten Metöken hervorgehoben (Ps.-Ammonios p.75 Valckenaer beschreibt den Metöken als eine Person, die in einer anderen Stadt als ihrer eigenen lebt und dort mehr Rechte als ein Fremder aber weniger als ein Bürger hat; Harrison 1968, S. 188). Auch wenn aus zahlreichen griechischen Poleis ansässige Fremde unter verschiedenen Namen belegt sind (epoikoi, paroikoi, katoikoi oder synoikoi) ist es wieder die Polis Athen, aus der die umfangreichsten Vorschriften in literarischen und dokumentarischen Quellen stammen (zum Folgenden Harrison 1968, S. 187–199; Whitehead 1977; Cohen 2000; Fisher 2010, S. 339–345; zur Begrifflichkeit Blok 2005). Im Laufe des 5. Jahrhunderts v. Chr. entwickelte sich Athen zu einem expandierenden Handelsstandort, der nicht nur durch die Politik des Seebundes zahlreiche Bürger anderer griechischer Städte anzog. Zunächst benötigten die Zugezogenen einen prostatēs, einen athenischen Bürger, der als ihr Stellvertreter für ihre Rechtsbeziehungen zuständig war. Er fungierte nicht nur bei ihrer Eintragung in das Register desjenigen dēmos, in der sie fortan leben wollten, sondern ermöglichte ihnen auch den Zugang vor Gericht, der wohl zu dieser Zeit ausschließlich in seiner Anwesenheit möglich war. Erst im 4. Jahrhundert v. Chr. scheint es zu einer Milderung der strengen Vorschriften gekommen zu sein. Dennoch riskierten Metöken, die keinen prostatēs benennen konnten, eine Anklage, die im Falle einer Verurteilung zur Versklavung des Metöken führen konnte (Harpokrat. s.v. ἀπροστασίου aprostasiou; Harrison 1968, S. 189–195). Die Athēnaiōn Politeia belegt, dass Metöken sich in privaten Rechtsangelegenheiten an den für sie zuständigen archōn polemarchos wenden konnten, der als Gerichtsmagistrat die Verfahren vor die zuständigen Richter brachte (Ath. Pol. 58, 2–3). Gerade hier zeigt sich die Ambivalenz in der Bewertung des Status der Metöken durch die moderne Forschung. Der Zugang zum athenischen Rechtssystem durch den polemarchos kann als Privileg der Metöken interpretiert werden, das sie deutlich von anderen Fremden unterschied und unter diesen hervorhob. Eine Qualifikation als Abwertung gegenüber athenischen Bürgern, die den minderen Status der Metöken unterstreiche, verkennt meines
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rachtens diese Grundvoraussetzung: Metöken waren keine Bürger, sondern blieE ben – wenn auch privilegiert – Fremde. Auch wenn gegen einen Metöken ein Prozess angestrebt wurde, war der gleiche Amtsträger beteiligt: vor dem polemarchos konnte der Kläger verlangen, dass der Beklagte Sicherheiten stellte, widrigenfalls ihm Gefängnis drohte. Schließlich zeigt sich die Sonderstellung der Metöken bei der Ahndung von Tötungsdelikten (Dem. 47, 68–73; Harrison 1968, S. 196–198). Die Tötung eines Metöken sollte von seinen Verwandten geahndet werden, die eine Klage gegen den Täter vor dem zuständigen archōn basileus einbrachten. Dieser führte das Verfahren vor dem Palladion ein, das sowohl unvorsätzliche Tötung von Bürgern als auch jegliche Tötung von Metöken und Sklaven entschied. Als Strafe drohte dem überführten Beklagten vor dem Palladion höchstens die Verbannung, die Todesstrafe war lediglich für die vorsätzliche Tötung von athenischen Bürgern vorgesehen. Die Klageerhebung in öffentlichen Verfahren blieb wohl athenischen Bürgern vorbehalten, als Beklagte sind Metöken in diesen Prozessen aber häufiger belegt. Wieder ist es der archōn polemarchos, der im 5. Jahrhundert für diese Verfahren zuständig ist, während ab dem 4. Jahrhundert entsprechende Anklagen vor den gleichen Amtsträgern erhoben wurden, die auch für Verfahren gegen Bürger zuständig waren. Als Zeugen konnten Metöken jederzeit vor Gericht auftreten, auch wenn ihre Aussagen in den Augen der athenischen Geschworenen – und unter dem Einfluss eines geschickten Gerichtsredners – möglicherweise nicht den gleichen Wert hatten, wie diejenigen von Bürgern. Wenn nun auch die rechtlichen Rahmenbedingungen durchaus einfach und klar erscheinen mochten, war die praktische Umsetzung vielfach schwierig. Metöken blieb der Erwerb von Land und Häusern verboten und ihnen fehlten vielfach die notwendigen familiären Verbindungen (Thür 1989). So stand die soziale Realität oftmals der juristischen Theorie im Wege. Zudem waren sie im politischen Leben der Stadt quasi rechtlos. Dennoch ist auch dieser Umgang mit dauerhaft ansässigen Fremden als eine Möglichkeit der Lösung des hier geschilderten Grundproblems zu sehen. Um also den Rechtsverkehr zwischen Angehörigen verschiedener Staaten, der für das politische und wirtschaftliche Überleben vieler griechischer Poleis zwingend notwendig war, zu regeln und Willkürakte und Selbsthilfe, die ihm entgegenstehen konnten, auszuschließen, wurden verschiedene Lösungen gefunden. Neben der möglichen Vertretung Fremder, die unmittelbar aus dem Gastrecht, wie es bereits in den frühesten griechischen Quellen geschildert wird, entstanden war, konnte in bilateralen Verträgen oder (weniger häufig) in einseitigen Dekreten der Zugang zu lokalen Gerichten ermöglicht werden. Zudem wurden spezielle Gerichte eingeführt, die sich mit Verfahren zwischen Angehörigen verschiedener Staaten beschäftigten. Eine weitere Möglichkeit war die Berechtigung in der Stadt dauerhaft ansässiger Fremder, die städtischen Rechtseinrichtungen zu nutzen. Schließlich konnte in besonderen Fällen das Bürgerrecht ganzen Gemeinden schwebend verliehen werden – bei Aktivierung desselben durch den Umzug kann man aber nicht mehr von Fremden vor Gericht sprechen.
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2 Kernprobleme der Forschung Die moderne Forschung zur Lebenswelt Fremder in der griechischen Polis fasst im Wesentlichen entweder historische Fragestellungen ins Auge oder sie widmet sich den oben angeführten juristischen Problemen. In beiden Fällen sind es vor allem Einzelstudien, die sich bestimmten Phänomenen – etwa dem Status der ansässigen Fremden (Metöken in Athen) oder den öffentlich-rechtlichen Fragen des Konsularwesens – zuwenden. Ein umfassendes Handbuch aus beiden Blickwinkeln fehlt bislang, sodass einführend neben den prozessrechtlichen Studien von Bravo (1980) und Gauthier (1972) vor allem aus sozio-historischer Sicht auf Walter (1993) verwiesen werden muss. Kulturübergreifend widmet sich der Band von Coşkun und Raphael (2014) in einer Reihe von Aufsätzen der Inklusion und Exklusion von Fremden von den frühen Hochkulturen Ägyptens bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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Kapitel 14
Fremde vor römischen Gerichten Christian Baldus
1 Überblick Die Sichtweise moderner Forscher auf das hier zu verhandelnde Problem ist notwendigerweise konditioniert. Soweit Rechtshistoriker tätig sind, werden sie vor allem auf Prägungen durch das eigene Fach achten. Dessen Sichtweise ist von einem nationalstaatlichen Modell geprägt, in dem die Behandlung des Fremden vor Gericht im Geiste des 19. Jahrhundert durch nationale Regeln bestimmt wird. Heutige Rechtsordnungen unterscheiden dabei intern nach Rechtsgebieten: Im Strafrecht führen die üblichen Regeln dazu, dass jeder Staat jedenfalls auf jede Tat, die innerhalb seiner Grenzen begangen wird, sein Recht anwenden kann, und auch im sonstigen Öffentlichen Recht kommt regelmäßig das Recht des Forumsstaates zur Anwendung. Für privatrechtliche Sachverhalte grenzüberschreitender Natur hat hingegen jeder Staat ein Korpus an Regeln (das Internationale Privatrecht) erlassen, die entscheiden, welches Sachrecht anwendbar ist, nämlich das des Forumsstaates oder das einer anderen Einheit, typischerweise eines ausländischen Staates. Nach wie vor wird dabei oft an die Staatsangehörigkeit angeknüpft. Erst seit den letzten Jahrzehnten erfährt das internationale Privatrecht eine zunehmende Europäisierung und Internationalisierung, die dazu führt, dass immer mehr Normen unabhängig von der Staatsangehörigkeit Anwendung finden. Das bedeutet: Solcherart können sowohl allgemein geltende als auch gruppenbezogene Regeln, jeweils mit oder ohne Ausnahmen, konstruiert werden. Die im 19. Jahrhundert gelegten Grundlagen dieses Systems sind mittlerweile Gegenstand grundsätzlicher Reflexion innerhalb des Faches, wirken aber weiter. Diese Situation erschwert unser Verständnis für antike Gemeinwesen. C. Baldus (*) Universität Heidelberg, Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_14
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Antike Rechte – hier sei schon aus Raumgründen nur Rom behandelt – hatten andere Aufgaben zu bewältigen und setzten entsprechend anders an. Die entstehenden Gemeinwesen konnten und wollten nicht aus universellem Zugriff auf die Gesellschaft vollständige Rechtssysteme begründen. Vielmehr wurde rechtlich geregelt, was spezifisch rechtlicher Regelung bedurfte, und es ist primär der gerichtliche Prozess, in dem solche Regelungen entstehen und sich verfestigen. Dabei ist zunächst selbstverständlich, dass der Prozess und damit das Recht nur den Mitgliedern der eigenen Gruppe zugänglich sind. Schon seit früher Zeit aber finden wir punktuelle Öffnungen, erzeugt durch aktuelle Bedürfnisse. Diese fügen sich jeweils in den praktischen Entwicklungsstand des römischen Prozess- und Privatrechts ein und finden allenfalls ansatzweise in der hohen Kaiserzeit zu einer gewissen theoretischen, zugleich aber die Praxis abbildenden Systematisierung. Dabei strahlen für Fremde gedachte Modernisierungsschritte bisweilen auf Beziehungen unter Römern aus. Die rechtsgeschichtliche Diskussion konzentriert sich dabei traditionell auf das ius gentium. Unter II. wird darzustellen sein, warum diese Diskussion einerseits derzeit die einzige ist, die der Rechtsromanist mit eigenen Mitteln bestreiten kann, andererseits das Problem nicht ausschöpft. Weiterführende Erwägungen setzten eine qualifizierte interdisziplinäre und internationale Zusammenarbeit voraus, die heute weniger besteht als noch vor einer Generation. In dieses Bild schreibt sich die Frage nach den „Fremden vor Gericht“ ein. Sie soll im Folgenden nicht „theoriegeleitet“ gestellt werden, obwohl auch ein solcher Ansatz Erkenntnisse vermitteln mag. Lediglich eine Grundannahme muss gemacht und expliziert werden: Frühere wie heutige Rechtssysteme streben stets nach Selbsterhaltung und (zumindest) daher nach Effizienz und Akzeptanz. Sie suchen die jeweils zur Verfügung stehenden Mittel in diesem Sinne optimal einzusetzen, soweit die Gesellschaft, in die sie sich einfügen, sie lässt. Zeitgenössische Begriffe beziehen sich im Zweifel auf den Sprachgebrauch zur Zeit des Prinzipats, denn nur aus dieser Zeit treffen für uns hoher Reflexionsstand und genügende Anzahl an Quellen zusammen. Ein letztes, nicht nur terminologisches caveat: Es ist unvermeidlich, deutsche Begriffe wie „Privatrecht“ zu gebrauchen, die auch sachlich römischen Ursprungs sind, aber natürlich eine weitere Entwicklung genommen haben. Gemeint ist mit ihnen also nicht, dass die Inhalte diachron stets deckungsgleich sein müssten.
2 Kernprobleme der Forschung Nach herrschender Auffassung sehen die Grundzüge der Entwicklung wie folgt aus (Überblick bei Kaser und Hackl 1996): Es galt zu allen Zeiten der römischen Geschichte sachlich das Personalitätsprinzip. Prozessual handlungsfähig und damit rechtlich potentiell geschützt (das römische Recht geht vom Prozess aus, nicht von einem hiervon isolierbaren oder gar präexistierenden materiellen Recht) waren damit in Rom grundsätzlich nur Römer, jedenfalls soweit ihr Bürgerrecht (civitas)
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keinen Einschränkungen unterlag. (In der Forschung spricht man, an antike Begriffe anknüpfend, vom status civitatis, libertatis, familiae: Bürger oder Nichtbürger, Freier oder Sklave, vermögensfähige Person sui iuris oder nicht vermögensfähige alieni iuris – vgl. Baldus 2013) Diese Lage geriet jedoch bereits mit Beginn der Expansion Roms in Bewegung, wozu für die republikanische Zeit und den Prinzipat im Wesentlichen drei institutionelle Ansatzpunkte ausgemacht werden: Fremdenprätor, Ädilen, Provinzgouverneure. Die wesentlichen Fragen sind aber offen. Im Einzelnen: Nichtrömer (Peregrine) konnten vermutlich seit ältester Zeit durch besondere Privilegien für ihre Heimatgemeinden (typischerweise in Mittelitalien gelegen) eherechtlich (conubium) und für bestimmte vermögensrechtliche Geschäfte (commercium) den Römern gleichgestellt sein. Der Kreis der vom commercium umfassten Geschäfte ist nicht genau bekannt; zumeist denkt man an Kauf und (seit der frühen Republik vom Kauf unterschieden) Übereignung. Außerdem konnte ein Fremder individuell die Gastfreundschaft eines Römers genießen (hospitium); darüber weiß man wenig Belastbares. Diese drei Institute sollen schon in früher Zeit existiert haben; ihre Rückbindung an traditionale, auch sakralrechtliche Gemeinsamkeiten mit anderen latinischen Gemeinwesen liegt nahe. Mit der römischen Expansion im Mittelmeerraum wurden neue Instrumente erforderlich. Bei vielen Personen, die nach Rom kamen, namentlich um Handel zu treiben, war nicht sicher zu ermitteln, welcher Gemeinschaft sie entstammten, die Rechte dieser Gemeinschaften waren inhaltlich so gut wie unbekannt, und von einer Verleihung des commercium und conubium wissen wir nichts. Aus Übersee kamen vor allem Sklavenhändler. Damit waren Geschäfte von zentraler Bedeutung für die römische Wirtschaft rechtlich ungesichert: Die überkommenen Formen des römischen Prozesses (lege agere) standen wegen ihrer sakralrechtlichen Wurzeln nur Römern offen; überdies waren diese legis actiones schwerfällig und auf bestimmte Situationen beschränkt (→ 20. Manthe). Römern vorbehalten war auch die Manzipation als das Übereignungsgeschäft, das bei Sklaven prinzipiell erforderlich war. Das in seiner belastbar dokumentierten Form wohl seit 367 v. Chr. existierende Amt des Prätors (Gallo 1997; Brennan 2000; Beck 2005; Blösel 2015) bot den ersten institutionellen Ansatzpunkt für eine Reform. Jedenfalls ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. dürfen wir vermuten, dass der Prätor sich mit Rechtspflegeaufgaben befasste (→ 21. Klinck). Es handelt sich um eine ursprünglich einstellige Magistratur; collegae (maiores) des Prätors waren nach den leges Liciniae Sextiae die Konsuln. Über die legis actiones hinaus, in Ausführung, Ergänzung und notfalls Korrektur des überkommenen ius civile gab oder verweigerte er kraft seines imperium Prozessformeln für potentielle Streitparteien, möglicherweise schon vor 242 v. Chr. (s. sogleich). Auf der Grundlage dieser Formeln („Prozessprogramme“) erhob ein Privater (iudex) die Beweise und sprach das Urteil. Der Formelbestand wurde in einem Edikt bekanntgemacht und bei Bedarf erweitert (→ 21. Klinck; → 7. Buongiorno; → 9. Marotta). Im Jahre 242 v.Chr. wurde eine zweite Prätur geschaffen, und zwar für Prozesse, an denen (auch) Nichtrömer beteiligt waren: der praetor inter peregrinos. Später bürgerte sich die Bezeichnung praetor peregrinus ein. Dieser „Fremdenprätor“,
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wie die deutschsprachige Literatur ihn oft nennt, arbeitete ebenfalls (oder sogar erstmals) mit Prozessformeln, konnte aber im Gegensatz zu seinem nunmehr praetor urbanus genannten Kollegen von vornherein nicht auf ius civile zurückgreifen, weil zumindest eine Partei in seinen Verfahren keinen Zugang zum überkommenen römischen Recht hatte. Es gab keinen passenden Normenbestand. So musste prozessualer und im Ergebnis auch materiellrechtlicher Raum für die Peregrinen geschaffen werden. Man vermutet, dass der „Fremdenprätor“ diese Lage dazu nutzte, in seinen Formeln flexiblere Verurteilungsvoraussetzungen zu schaffen. Insbesondere dürfte die Zulassung von Klagen aus formlos begründeten Verträgen auf die Rechtsprechung des praetor peregrinus zurückgehen: War bislang für jeden als klagbar anerkannten Vertrag eine bestimmte Form (etwa: Gebrauch bestimmter Worte) Wirksamkeitsvoraussetzung gewesen, genügte nun für eine wachsende Zahl von Verträgen der Konsens der Parteien. Damit war ein zentrales Element noch des heutigen Vertragsschuldrechts für alle Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr eröffnet. In der späten Republik findet sich eine theoretische Grundlegung dieser Entwicklung bei Cicero dargestellt (ältere Wurzeln sind unsicher): Es handele sich um ius gentium, „Völkergemeinrecht“, also Regeln, deren Geltung bei allen zivilisierten Völkern unterstellt werden könne. (Merkwürdig ist daran bereits, dass Rom selbst die Regeln des ius gentium erst Schritt für Schritt entwickelte, sei es durch den Fremdenprätor oder andere rechtsprechende Magistrate, nämlich kurulische Ädilen und Provinzstatthalter, siehe sogleich: Einen Zivilisierungsprozess wird man darin kaum gesehen haben.) Die entsprechenden Passagen bei Cicero sind wohl der Grund dafür, dass die weitere Entwicklung der rechtsromanistischen Diskussion über die Rechtsstellung von Nichtrömern (grundlegend: Lombardi 1946, 1947; Kaser 1993; seither v.a. Fiori 2005; Falcone 2013; weitere Nachweise bei Baldus 2015) sich auf das ius gentium konzentrierte: Eine sichere Brücke zwischen den vereinzelten Hinweisen auf ein ius gentium in den Rechtsquellen einerseits, der ciceronianischen Theoriebildung andererseits ist nicht zu schlagen. Insbesondere ist so gut wie nie positiv belegt, dass römische Juristen sich für das andernorts tatsächlich Geltende interessiert hätten (zu der Frage, ob es sie unbelegtermaßen gleichwohl interessiert haben mag, unten). Diese Diskrepanz beruht auf der Spärlichkeit der Hinweise in den Quellen, vor allem aber auf einem Unterschied in der Quellenperspektive. Cicero war zwar juristisch ausgebildet und als Prozessredner aktiv, nicht aber gutachtlich tätig, und just im Respondieren lag für die Zeitgenossen das, was den Juristen ausmachte; schon gar nicht ging es den zeitgenössischen Juristen um eine umfassende Systembildung (Bona 1980; anders Behrends 1978; zuletzt Behrends 2011). Cicero kommuniziert zu anderen Zwecken und in anderer Weise, auch wo er mit Juristen kommuniziert. Attraktiv ist der Versuch eines Brückenschlags aber für den modernen Leser, weil er das rückschauende Bedürfnis von Rechtshistorikern nach Systembildung befriedigt. Effekt dieses Bedürfnisses ist der vielfache Versuch, den juristischen Quellenbestand (stehe er nun institutionell mit prätorischer, ädilizischer oder provinzialer Amtstätigkeit in Verbindung) so zu gliedern und zu gewichten, dass die Idee des „Völkergemeinrechts“ in irgendeiner Weise doch harmonisch auf Rechtsquellen bezogen werden kann. Den noch am ehesten
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schlüssigen Rekonstruktionen folgt diese Darstellung. Zu Forschungsperspektiven weiter unten. Der zweite institutionelle Ansatzpunkt findet sich bei einer anderen Magistratur: den kurulischen (also patrizisch besetzten) Ädilen. Diese hatten die Marktpolizei und Marktgerichtsbarkeit inne, konkurrierten also in einem praktisch zentralen Bereich mit den Prätoren; ihre ebenfalls in einem Edikt niedergelegten Klagen, die bis heute so genannten ädilizischen Rechtsbehelfe, sanktionierten die Leistung nicht vertragsgemäßer Ware (actio redhibitoria, actio quanti minoris; Baldus 1999; Kupisch 2002; Garofalo 2007; Jakab und Ernst 2008). Eine geradezu paradigmatische Situation ist der Kauf eines physisch oder psychisch mangelhaften Sklaven. Da Sklavenhändler oftmals Peregrine waren, können die vor den Ädilen zu erhebenden actiones keine römische civitas vorausgesetzt haben. Der dritte institutionelle Ansatzpunkt ist die Rechtspflege in den Provinzen (→ 26. Kantor; Martini 1969; Hurlet 2009; Haensch 2016), also durch den Statthalter: Dieser hatte ständig mit Fremden zu tun. Theoretisch hätte er, wenn das Völkergemeinrecht tatsächlich gesucht worden wäre, deren Recht anwenden müssen, das er aber im Zweifel nicht kannte: schon deswegen nicht, weil die Provinzgouverneure keine rechtsfachlich ausgebildeten Spezialisten waren, sondern Amtspersonen auf einem bestimmten, zeitlich überdies kurzen Stück ihres cursus honorum. Für die Berater in ihrem consilium dürfte Vergleichbares gelten. Die Quellen sagen zu Problemen aus fremden Rechten dementsprechend so gut wie nichts. Nur wenige Korpora außerhalb der stadtrömischen Juristenschriften sind systematisch untersucht (etwa: Merola 2012). Das Provinzialedikt, nach dem Rechtsstreitigkeiten in den Provinzen entschieden wurden, stellte vermutlich eine wenig variierte Version des stadtrömischen Edikts dar (vgl. Martini 1969). Die reale Relevanz der Lehre vom Völkergemeinrecht einmal unterstellt: Der Unterschied zum heutigen Internationalen Privatrecht liegt nicht darin, dass der Gerichts„-staat“ in Fällen mit „Auslands-“berührung eigene Regeln zur Anwendung bringt, sondern darin, dass diese Regeln nicht Kollisionsrecht, sondern Sachrecht sind. Der jedenfalls im Laufe der Zeit als ius gentium bezeichnete Normenkomplex, wenn es denn einer war, sagt nicht lediglich (wie das heutige Kollisionsrecht), welches Recht anwendbar ist, sondern gibt selbst eine Lösung. Es handelt sich also um (gegenüber archaischen Modellen formal flexibilisiertes und inhaltlich fortentwickeltes) römisches Sachrecht, das die entscheidungsbefugten Magistrate (und die gutachtenden Juristen) ohne Rücksicht auf die civitas der Beteiligten anwenden – offenbar bald auch auf Fälle, an denen lediglich Römer beteiligt waren. Das legt die Annahme nahe, dass in solchen Fällen die Magistrate die neuen Regeln auch den vor ihnen streitenden Römern eröffneten. In der Folge verändert sich das Begriffspaar ius gentium – ius civile. Ein Gegensatz zum ius civile besteht zwar noch in der Entstehungsweise der Normen (magistratisch; zumindest auch für Nichtrömer gedacht; nicht aus älteren Gesetzen und Formeln abgeleitet). Im Anwendungsbereich aber scheint das ius gentium Römern ebenso zugänglich gewesen zu sein wie das ius civile. Unterschieden werden beide Rechtsmassen gleichwohl weiterhin, auch in den seit der späten Republik ent stehenden nach System strebenden Darstellungen: Diese behandeln ihren Stoff
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entweder vom ius civile her (klassisch organisiert als Kommentar zu den Iuris civilis libri III des Sabinus, 1. Jahrhundert n. Chr.; vgl. Astolfi 2001 und jetzt Repnow und Stumpf 2020) oder aus der Sicht des magistratisch geschaffenen Rechts (ius honorarium), zu dem das ius gentium wohl eine Teilmenge bildet. In der Sache können damit verwandte oder identische Fragen aus zwei Perspektiven behandelt worden sein. Ging es etwa um Kauf und Übereignung einer Sache, so konnte es auf die Voraussetzungen honorarrechtlicher Klagen ankommen (prätorisch: actio empti, actio venditi; ädilizisch: actio redhibitoria, actio quanti minoris), und auch die Übereignung der meisten Objekte durch traditio wurde als iuris gentium qualifiziert. Die für bestimmte Objekte (etwa: italische Grundstücke, Sklaven) erforderliche förmliche Übereignung (mancipatio) und deren mögliche Ersetzung durch Ersitzung (usucapio) hingegen waren iuris civilis. Die Vorstellung, eine „einschichtige“ praktische oder auch didaktische Behandlung sei vorzugswürdig, ist modern; die römische Praxis kam mit dem Ineinander mehrerer Rechtsschichten zurecht, und eine Verbindung von Systematik und Didaktik wurde im Ausgang der Republik zwar diskutiert, aber noch nicht umfassend realisiert (Bona et al. 1976). Für das 2. Jahrhundert n. Chr. („Hochklassik“) lässt sich beobachten, dass die Juristen zwar zunehmend, aber doch punktuell und ohne erkennbares sachliches oder argumentatives System mit dem Begriff ius gentium arbeiten. Insbesondere konzentrieren sich die (wenigen) Bezugnahmen auf den Begriff nicht etwa auf die Materien, in denen besonders intensiver Kontakt zu Peregrinen geherrscht haben sollte. Theoretisch sollte das Jahr 212 einen Wendepunkt in der Geschichte des ius gentium dargestellt haben: Mitten in der juristischen „Spätklassik“, einer Epoche dogmatischer Konsolidierung und für römische Verhältnisse intensiver Systematisierung, erklärte Kaiser (Antoninus) Caracalla mit der so genannten Constitutio Antoniniana alle freien Reichsbewohner zu Römern (Marotta 2010; Corbo 2013). Motive und Einzelheiten dieses Aktes einmal beiseite gelassen, scheint es doch nahe zu liegen, dass nach 212 eine Unterscheidung rein innerrömischen Rechts von Normen peregrinenrechtlichen Ursprungs keine Rolle mehr hätte spielen dürfen. Die tatsächlichen Verläufe sind jedoch durchaus unklar. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten bietet das Erbrecht (Baldus 2015). Es liegt nahe, dass einige der Personen, die 212 Römer wurden, dies nicht einmal wussten, jedenfalls keine Inhalte römischen Erbrechts kannten, und schon deswegen an ihren überkommenen Vorstellungen vom Erben und Vererben festhielten. Entsprechend werden sie so testiert haben, wie es auch vorher lokal üblich gewesen war. Die wohl einzige Provinz, für die man insoweit ansatzweise repräsentative Erkenntnisse gewinnen kann, ist Aegyptus (vgl. Strobel 2014; Nowak 2015); auf andere Provinzen kann auch das diffuse Bild aus Ägypten nicht ohne weiteres übertragen werden. Das genannte Testierverhalten hätte, legte man eine moderne Sicht auf Rechtsgeltung und auf die Folgen von Rechtswidrigkeit zu Grunde, zu massenhafter Unwirksamkeit von Testamenten führen müssen, zumindest aber zu intensiver Auseinandersetzung der Juristen mit fremden Vorstellungen unter dem Aspekt, ob diese mit römischem Recht vereinbar sein könnten. Dafür gibt es aber keine Quellen, jedenfalls keine als juristische Erwägungen überlieferten. Nahe liegt es, in manchen Lösungen
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der Juristen das Bemühen um Erhaltung letztwilliger Verfügungen unter römischen Kategorien und Gedanken zu finden; sicher belegen lässt sich aber auch dies nicht. Für andere Rechtsgebiete sind mutatis mutandis vergleichbare Fragen zu stellen. Auch dort, wo Quellen ungewöhnlich reichlich fließen, bleiben Interpretationen oftmals kontrovers. Das klassische Beispiel hierzu stammt nicht aus dem römischen Privatrecht, dokumentiert aber nachdrücklich, wie gering insgesamt die Möglichkeiten sind, aus nichtjuristischen Quellen zu schließen: der Prozess Jesu. Hier können die Evangelien, aber auch Informationen zu Pontius Pilatus historiographischer (Flavius Iosephus) und epigraphischer Art, vor den Hintergrund der Rechtsquellen zum Strafprozess der Zeit gestellt werden. Dennoch ist bis heute bereits kontrovers, ob wirklich von einem Strafverfahren die Rede sein kann (dafür die herrschende Ansicht, s. Miglietta 2011; andere Akzente bei Demandt 2011; Schiavone 2016). Ein weiteres kommt hinzu. Bisher wurde vorausgesetzt, dass unter „Fremden“ im Sinne des römischen Prozessrechts Nichtrömer zu verstehen seien. Es verhält sich jedoch insoweit komplizierter, als aus der differenzierten, in modernen Kategorien nicht einheitlich als „staatsrechtlich“ oder „völkerrechtlich“ qualifizierbaren Struktur schon des republikanischen Imperiums Zwischenstufen folgen. Deren Namen spiegeln die zunächst auf der Apenninenhalbinsel erfolgte Expansion: ius Latii und ius Italicum. Solche Status werden im Verlauf der Entwicklung auch variiert und auf Personen ausgedehnt, die nicht eingewandert waren, etwa bestimmte freigelassene Sklaven; das Bild ist bunt. Ebenfalls eine Zwischenstufe entsteht, wenn Bürger ihre Rechtsstellung ganz oder teilweise verlieren. Ein solcher Verlust des status civitatis konnte dergestalt sein, dass dem Betroffenen aktuell überhaupt keine Rechte mehr zustanden. Dies ist der Fall des in Kriegsgefangenschaft geratenen Römers: Mit der Freiheit (libertas) verliert er auch die civitas. Er wird Sklave der Feinde, wenngleich mit der Aussicht, im Falle der Rückkehr die meisten seiner Rechte wieder aufleben zu sehen (postliminium; dazu Cursi 2001; Baldus 2012a, b, 2014; Barbati 2011, 2013). Verwandte Fragen stellen sich bei Verurteilung zu einer Kapitalstrafe (die in Rom nicht zwingend mit einer tatsächlich zu vollziehenden Todesstrafe gleichzusetzen ist: capite wird man jedenfalls durch Statusverlust bestraft). Angesichts der verbleibenden Fragezeichen ist zunächst zu konstatieren, dass allein die überlieferten und traditionell diskutierten Rechtsquellen (im Wesentlichen aus der Feder stadtrömischer Juristen) das Bild nicht klären. Andere Quellen wie Papyri und Inschriften sind bisher nicht umfassend unter dem hier relevanten Blickwinkel erhoben (doch s. für einen Teilbereich jetzt Nowak 2015). Eine Zusammenführung aller in Betracht kommenden Quellenkorpora könnte nur interdisziplinär geleistet werden. Das jedoch stieße zum einen auf Schwierigkeiten aus der Menge der potenziell erheblichen Texte. Zum anderen und vor allem fehlt es an Strukturen der Wissenschaftskommunikation, interdisziplinär wie international. Die maßgebliche rechtsromanistische Forschung findet traditionell und weiter zunehmend in Italien statt, daneben im deutschen und spanischen Sprachraum; die althistorische verteilt sich stärker; nirgends aber ist es Gemeingut, dass Rechtsromanisten umfassend auch althistorisch orientiert sind und dass umgekehrt Althistoriker die Rechtsquellen
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kennen, jeweils im Bewusstsein der Tatsache, dass Rechtsquellen ihre spezifische kommunikative Funktion haben. Im praktischen Ergebnis dürfte die Zahl der Forscher, die alles Einschlägige in allen relevanten Sprachen kennen (und zur Kenntnis nehmen wollen), gering sein. Dass Brückenschläge am ehesten in der neueren italienischen Forschung anzutreffen sind, jeweils für Teilfragen, die einzelne Forscher überschauen können, ist kein Zufall. Der „Fremde vor Gericht“ bleibt einstweilen im Detail zu suchen, auch wenn das kein erfreuliches Schlusswort für einen Handbuchbeitrag ist.
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Teil III
Institutionen und Verfahren
Kapitel 15
Magie als Mittel der Konfliktlösung Martin Dreher
1 Überblick Der Begriff „Magie“ hat, seit er von den alten Griechen aus dem Persischen übernommen wurde, vielfältige Bedeutungen angenommen.1 Er wird auch in der modernen Forschung, zumal sich mehrere Wissenschaftsdisziplinen daran beteiligen, sehr unterschiedlich verwendet. Aus dieser Lage ist jedoch keineswegs ein Ausweg, den Begriff überhaupt nicht mehr zu verwenden, wozu Otto (2011) rät. Vielmehr benötigen wir einschlägige Termini, um unsere Gegenstände zu erfassen und voneinander abzugrenzen. Sie müssen aber möglichst trennscharf definiert werden und eine sinnvolle Anwendung ermöglichen. Unter dieser Prämisse soll für den hier vorliegenden Überblick folgende Definition gelten: Unter Magie verstehen wir die gesellschaftlich geächtete, oder auch nur: nicht anerkannte, ritualisierte Inanspruchnahme übernatürlicher Kräfte zur Durchsetzung persönlicher Ziele. Damit ist die Magie auch von ihrem Schwesterbegriff, der Religion, abgegrenzt, was den meisten Definitionen nur unzulänglich gelingt. Religion ist demgegenüber die gesellschaftlich anerkannte Verehrung übernatürlicher Wesen. Die Schwierigkeit dieser Definition liegt vor allem darin, wer jeweils die konkreten Träger der gesellschaftlichen Anerkennung sind, und wie man diese (Nicht-)Anerkennung feststellen kann, gerade in vergangenen Gesellschaften. Dazu müssen wir die Haltung derjenigen Schicht oder Gruppierung eruieren, welche die jeweilige Ideologie einer Gesellschaft bestimmt, prägt oder mindestens do Selbst die wahrlich umfangreiche Dissertation von Otto 2011 konnte die Begriffsgeschichte der Magie nicht vollständig aufarbeiten, sondern musste eine Auswahl treffen. 1
M. Dreher (*) Otto von Guericke Universität Magdeburg, Institut für Gesellschaftswissenschaften, Bereich Geschichte, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_15
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miniert. Da dies im Allgemeinen die Domäne der Oberschicht, der Elite, ist, kann das sogenannte einfache Volk durchaus abweichende Vorstellungen haben, obwohl wir gerade dafür kaum Zeugnisse aus der Antike haben – im Unterschied etwa zur Frühen Neuzeit. Auf das Thema der Konfliktlösung bezogen ergeben sich aus der obigen Definition folgende Schlussfolgerungen: Soweit Magie zur Lösung von Konflikten eingesetzt wird, geschieht dies erstens immer außerhalb des geltenden und damit per se anerkannten staatlichen Rechts, meistens sogar gegen geltendes Recht (zum Zusammenhang von Recht und Religion vgl. → 5. Riess). Zweitens kann der Einsatz von Magie, da von einer Partei zur Durchsetzung ihrer persönlichen Zwecke durchgeführt, immer nur eine einseitige, d. h. parteiische Lösung herbeiführen. Mediation, Ausgleich, Kompromiss sind der Magie wesensfremd. An Quellen für die antike Magie sind vor allem drei Gattungen hervorzuheben: Erstens sind das die Erwähnungen von magischen Handlungen in der literarischen Überlieferung (d. h. durch Abschriften auf Papyrus tradiert und dann in mittelalterliche Codices übernommen). Diese Erwähnungen lassen, da sie im Allgemeinen fiktiver Natur sind, nur begrenzt Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu.2 Eine Ausnahme stellt die „Naturgeschichte“ des jüngeren Plinius dar, die mit einem gewissen wissenschaftlichen Anspruch auch offenbar gängige magische Praktiken beschreibt (Plinius, naturalis historia, Buch 30). Die zweite Quellengattung bilden die Fluchtafeln (defixiones), das sind (meist) mit einer Inschrift versehene, dünne Blechstücke, fast immer aus Blei, die den Zustand oder die Handlungen von Personen oder Tieren auf übernatürliche Weise gegen deren Willen beeinflussen sollen. Knapp 2000 von ihnen sind aus der gesamten antiken Welt aus der Zeit zwischen etwa 500 v. Chr. und 500 n. Chr. ans Licht gekommen.3 Oft mit Fluchtafeln verbunden sind sogenannte Zauberpuppen, kleine Figuren aus Metall, Ton oder Wachs, welche das verfluchte Opfer symbolisieren sollen. Die dritte Quellengattung bilden die magischen Papyri, die überwiegend aus der Spätantike stammen.4 Die Texte stellen entweder Anleitungen zur Durchführung magischer Praktiken dar oder sind selbst konkrete Bestandteile solcher Praktiken. An die Stelle der staatlichen oder anderweitig menschlichen Institutionen, die Konflikte lösen sollen, treten in der Magie verschiedene übernatürliche Wesen, welche dem Begehren der Akteure zur Durchsetzung verhelfen sollen. Zu den Angerufenen gehören, wenngleich seltener, auch „offizielle“, olympische Götter wie Artemis bzw. Minerva, bevorzugt aber Gottheiten der Unterwelt wie Hermes (chthonios), Demeter und Persephone. „Importierte“ orientalische Gottheiten wie Magna Mater und Attis (zum Beispiel in Mainz) spielen auch eine Rolle. Zahlreiche Dämonen Ganz außer Betracht bleiben hier die Zauberinnen der griechischen Mythologie, also besonders Kirke und Medea, die keine Dämonen oder Gottheiten zu Hilfe nehmen müssen, sondern selbst Zauberkräfte besitzen. 3 Die publizierten Fluchtafeln sind, soweit sie lesbaren und auswertbaren Text enthalten, in die Magdeburger Datenbank TheDeMa (Thesaurus Defixionum Magdeburgensis) aufgenommen. Die Datenbank enthält auch eine umfangreiche Bibliografie zu den Fluchtafeln. Ihre bisherige Zugangsadresse http://www.thedema.ovgu.de/L_6.php wird jedoch vom Magdeburger Server gelöscht und zukünftig durch eine neue URL an der Universität Hamburg ersetzt. 4 (Sie sind gesammelt bei Preisendanz-Henrichs 1973–74, Daniel-Maltomini 1990, Betz et al 1997.) 2
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und Geister werden um Hilfe angerufen, teils mit Namen, teils namenlos, bis hin zu den Totendämonen, insbesondere den ruhelosen Seelen der früh oder gewaltsam Verstorbenen. Im spätantiken Ägypten begegnen uns ganze Litaneien von zu sammengewürfelten orientalischen, jüdischen, ägyptischen, gräko-römischen und schließlich auch christlichen übernatürlichen Wesen, wodurch die Autoren der Texte offenbar sicher gehen wollten, dass ihr Wunsch, gleichgültig von wem, erfüllt werde. Magie wurde von Frauen und Männern praktiziert, in manchen Fällen, gerade beim Liebeszauber, unterschieden sich die rituellen Formulierungen, je nachdem, welchem Geschlecht sie dienen sollten. Rat und mehr oder weniger tatkräftige Hilfe konnte man bei Spezialisten für magische Praktiken finden, die ebenfalls sowohl dem weiblichen als auch dem männlichen Geschlecht angehörten. Am häufigsten werden, gerade in der lateinischen Literatur, alte und hässliche Frauen als Expertinnen genannt, die vor allem in Liebesangelegenheiten Ratschläge geben. Da sie mit phármaka, also Heilmitteln bzw. Giften, umgehen, werden sie im Griechischen pharmakís oder auch venefica (Giftmischerin) und malefica (die Böses anrichtet) genannt, auch saga, die kluge Frau, Wahrsagerin, Zauberin kommt vor. Für männliche Spezialisten begegnet durchgängig der aus dem Persischen stammende Begriff des Magiers, im Griechischen magos, lateinisch magus (davon wird auch die weibliche Form maga gebildet); weitgehend synonym wird góes verwendet, aus der „Giftküche“ kommen pharmakeús und veneficus dazu, kathartaí (Reiniger), agýrtai (Wanderpriester), manteis (Seher), alazónes (Scharlatane) bezeichnen Personen, die mit der Magie in Verbindung gebracht werden. Schon die Vielfalt der Termini deutet darauf hin, wie verbreitet die magischen Praktiken in der antiken Welt waren. Zu unterstreichen ist, dass sich Magie tatsächlich immer als Praktik manifestiert, dass also rituelle Handlungen durchgeführt werden müssen, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. Zwar nimmt die kultische Praxis auch in der Religion, gerade in der antiken, einen großen Raum ein, sie ist aber nicht unabdingbar, da auch individueller, rein innerer Glaube eine Gottesbeziehung herstellen kann (zur Bedeutung der Riten vgl. → 5. Riess). In welchen Arten von Konflikten wurden also welche Formen der Magie eingesetzt? An erster Stelle springen dabei die gerichtlichen Auseinandersetzungen selbst ins Auge, in deren Verlauf die beklagte oder angeklagte Person mit Hilfe eines Fluches die Gegenpartei oder das Gericht außer Gefecht zu setzen versucht: „Ich binde Eirene zu Hermes Eriounios und zu Persephone und zu Lethe hinab, sowohl ihren Verstand als auch Seele und Zunge und die Taten, die sie für den Prozess gegen uns in Anschlag bringt; ich binde alles von ihr hinab. Ich binde hinab, ich binde auch alle ihre Zeugen sowie den Polemarchos und das Gericht (dikastérion) des Polemarchos …. Ich binde auch alle Anwälte, die mit ihnen (zusammen sind), und alle …“ (TheDeMa Nr. 300; Übersetzung nach der Neulesung von Curbera und Papakonstantinou 2018 Nr. 1). Auf dieser in vieler Hinsicht typischen Fluchtafel vom Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. aus Athen will eine wie meist unbenannte Person mit Hilfe der Bindeformel die Klägerin Eirene, die gegnerischen Zeugen und Anwälte, den Amtsträger (Polemarchos), der dem Gericht vorsaß sowie das
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Gericht selbst unbeweglich, stumm und handlungsunfähig machen. Alle Genannten werden den unterirdischen Gottheiten Hermes, Persephone und Lethe überantwortet. Dass der Name der hauptverfluchten Eirene beide Male von rechts nach links geschrieben wurde, ist, ebenso wie in anderen Texten die Vermischung von Buchstaben oder Silben, ein Mittel, um den Text in eine magische Gegenwelt zur Normalität zu versetzen. Durch diese sogenannten Gerichtssflüche sollte von Seiten der Beklagten offenbar eine gerichtliche Entscheidung zu ihren Ungunsten verhindert, also letztlich die offizielle Rechtsprechung durch magische Mittel ersetzt werden. Die umgekehrte Konstellation, in der potenzielle Kläger statt des Rechtsweges zur Magie greifen, begegnet uns in den Fluchtafeln, die aufgrund von bereits geschehenen Verbrechen angefertigt wurden, und die sich am besten als „Verbrechensflüche“ kategorisieren lassen (so die Kategorisierung von Dreher 2010, wo auch gegen eine separate Kategorie prayers for justice argumentiert wird). Den zugrunde liegenden Konflikt zwischen Opfer und Täter – fast ausschließlich Diebe oder Verleumder werden verflucht – versucht das Opfer dadurch zu beenden, dass es den Dieb mit Hilfe übernatürlicher Wesen dazu zwingt, das Diebesgut zurückzubringen, oder aber, dass es ihn der Rache dieser Wesen übereignet, was nicht selten mit grausamen Todeswünschen verbunden wird: „Mater Magna, ich bitte dich, … Gemella, welche meine Gewandspangen gestohlen hat, so bitte ich, dass auch jene sich schneidet, so dass sie nirgendwo gesund ist. … außer dass jene“ (nämlich Gemella und zwei weitere Frauen) „verschlingen die Hunde, Würmer und andere Ungeheuer. Ihren Tod soll das Volk anschauen“ (Blänsdorf, DTM 1 = TheDeMa 758: Mainz, 1./2. Jahrhundert n. Chr.; vgl. die Zusammenstellung der Verbrechensflüche bei Scholz 2013a). Auch die Verfluchungen von Personen oder Pferden, die an Wettkämpfen beteiligt waren, lassen auf zugrundeliegende Konflikte um den Gewinn bzw. Verlust eines Wettkampfs schließen (vgl. → 29. Mann, in dem Fluchtafeln jedoch nicht berücksichtigt sind). Auf den Fluchtafeln der Kategorie „Wettkampfflüche“ werden Athleten, Jockeys, Rennstallangehörige, Pferde, Tierkämpfer oder Schauspieler auf ähnliche Weise wie bei den Gerichts- und Verbrechensflüchen übernatürlichen Wesen überantwortet, damit sie zumindest unbeweglich gemacht, nicht selten aber auch verletzt und getötet würden: „… ich beschwöre euch, euer Göttliches gegen Vincentius Zarizo, den Concordia geboren hat, im Amphitheater Karthagos am Tage des Merkur (=Mittwoch), bindet, umwickelt mit einem Stofffetzen Vincentius Zarizo, dass er die Bären nicht binden kann, … er soll zugrunde gehen, damit Vincentius keinen Bären töten kann …, jetzt, jetzt, schnell, schnell, macht“ (DT 253 = Tremel 99 = TheDeMa 99: Karthago, 2. Jahrhundert n. Chr.). Typisch für magische Texte ist die Angabe der Abstammung mütterlicherseits statt der vom Vater wie im zivilen Leben, sowie die wiederholte Aufforderung an die göttlichen Wesen, unverzüglich zu handeln. Besonders auf den Wettkampftäfelchen finden sich auch eingeritzte Zeichnungen, die meist einen tierköpfigen Dämonen darstellen; die Täfelchen, die sich auf Pferderennen beziehen, weisen auch stilisierte Szenen aus dem Hippodrom auf. Außerdem haben die Autoren manchmal Zauberzei-
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chen (griechisch: charaktéres) eingraviert, welche offenbar die magische Wirkung noch verstärken sollten. Wenn den Fluchopfern auf den defixiones eine bestimmte Berufstätigkeit zugeordnet wird, kann ein geschäftlicher Konflikt Ausgangspunkt der Verwünschungen gewesen sein: „(Ich binde) Diphilés: beide Hände und Füße und Zunge und Füße und Geschäft und alles im Geschäft; …“ (DTA 68 = Gager 68 = TheDeMa 208: Athen, 3. Jahrhundert v. Chr.). Aber ob in jedem Fall ein Konflikt zwischen Geschäftsleuten zugrunde lag, also ein Konkurrent den Fluch verfasst hat, wie in der Literatur ganz selbstverständlich angenommen wird, ist in dieser Kategorie von Flüchen, den Wirtschaftsflüchen, am wenigsten gesichert. Die Flüche konnten wohl auch aus privaten rechtlichen Streitigkeiten oder aus erotischen Interessen resultieren. In diesem letzteren Bereich, dem von Liebe, Erotik, Sexualität, spielt die Magie eine besonders große Rolle. Daher verfügen wir auch über Zeugnisse aus verschiedenen Quellengattungen. In Theokrits zweiter Idylle, einem literarischen Bild aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr., versucht Simaitha, eine junge Frau, ihren Geliebten Delphis, der sich seit Tagen nicht mehr sehen lässt, mit Hilfe von Feuerzauber und Beschwörungen wieder an sich zu ziehen. Sie befiehlt ihrer Magd: „Knüpfe einen Faden aus feiner Purpurwolle um die Schüssel, so dass ich meinen Liebsten, der so grausam zu mir ist, mit einer Beschwörung binden kann. Elf Tage lang hat er mich nicht besucht, der Schuft … so lasse ich mich nicht behandeln. … Zauberrad, zieh mir den Liebsten ins Haus“ (Übersetzung von Luck 1990; Vergil hat in seiner achten Ekloge die griechischen Verse Theokrits auf Latein nachgedichtet und in einigen Punkten verändert). Der Szene liegt ein Konflikt zwischen einem Liebespaar zugrunde, das sich schon gefunden hat. In anderen Fällen soll durch den anziehenden Liebeszauber die begehrte Person erst gewonnen werden. Insbesondere dann, wenn das Liebesobjekt bereits in einer Ehe oder Partnerschaft lebt, steht der Autor oder die Autorin des Fluches im Konflikt mit dieser Person. Solche Konstellationen können wir in Anleitungen zu magischen Praktiken auf Papyrus oder in angewandter Magie auf Fluchtafeln ausmachen, so vermutlich auch im folgenden Text auf einer Tonscherbe (óstrakon): „Entfremde die Allús dem Apollonios, ihrem Ehemann. Gib der Allús Stolz, Hass, Unlust, bis sie weggeht aus dem Haus des Apollonios, jetzt, schnell!“ (Gager 35 = TheDeMa 115: Oxyrhynchos, 2. Jahrhundert n. Chr.). Sofern die Liebesflüche aus erotischen Gründen Strafe oder Rache fordern, dürften sie auf Enttäuschungen oder auf Konflikte zwischen bereits verbundenen oder noch unverbundenen Personen zurückgehen: „Größter aller Götter, Atthis, Herr, Gesamtheit der zwölf Götter (des Pantheons)! Ich überantworte den Göttinnen mein ungerechtes Schicksal, auf dass ihr mich an Priscilla, Tochter des Carantus, rächt, die den Fehler beging zu heiraten. … Priscilla soll zugrunde gehen!“ (Scholz und Kropp 2004 = TheDeMa 260). Aus allen Fällen magischer Praxis ergibt sich, dass anstelle einer menschlichen Institution, die im allgemeinen einen Konflikt zu lösen hat, übernatürliche Wesen die „Aufgabe“ übernehmen sollen, Konflikte und andere Situationen im persönlichen Interesse des „Auftraggebers“ zu beenden. Dämonen, Geister, insbesondere Totengeister, olympische, unterweltliche oder lokale Gottheiten, jeweils aus ver-
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schiedenen Kulturkreisen, sollen diese Interessen durchaus auch gewaltsam durchsetzen. Neben dem offiziellen, staatlichen Recht bestand damit in der Antike eine Form des Rechts des Stärkeren weiter, das allerdings heimlich, unbemerkt zur Anwendung gebracht werden musste (s. u.).
2 Kernprobleme der Forschung Über den Begriff der Magie wurde und wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen kontrovers diskutiert. Von besonderer Relevanz ist das Verhältnis zwischen Magie und Religion:5 Eine starke Überschneidung ist evident, wobei eher die Magie unter die Religion subsumiert wird als umgekehrt. Das mag nicht zuletzt mit dem Respekt der meisten Gesellschaften vor der Religion und der meist von der Religion selbst ausgehenden Ausgrenzung von Magie zusammenhängen. Die tatsächliche Verbreitung magischer Praktiken in der antiken Welt lässt sich, wie immer bei statistischen Fragen, nicht zuverlässig feststellen. Die literarischen Darstellungen lassen auf eine gewisse Kenntnis bei den Zuhörern schließen. Die große Vielfalt an Zaubermitteln, wie sie etwa Plinius in der naturalis historia aufzählt, und die Verbreitung der Fluchtafeln in allen Regionen und über die gesamte Antike hinweg sprechen für eine rege Inanspruchnahme der magischen Mittel. Praktiziert wurde Magie in allen Schichten der Bevölkerung, keineswegs nur in den unteren Schichten, wie man früher gedacht hat. Das wird besonders deutlich dadurch, dass auf athenischen Fluchtafeln der klassischen Zeit die Namen prominenter Politiker auftauchen, die uns aus literarischen Quellen bekannt sind. Magische Handlungen wurden von Frauen und Männern gleichermaßen vollzogen. Dass Frauen sich besser mit Magie, vor allem mit Liebeszauber, auskannten, war offenbar eine allgemeine Annahme zumindest in der römischen Gesellschaft (Plin. nat. 25, 10; Quint. inst. 5, 10). Die Mehrzahl der Verbrechensflüche stammt von weiblichen Autoren, während in den übrigen Kategorien der Fluchtafeln die Autoren überwiegend anonym bleiben. Bei Liebesflüchen wird die Zuordnung auch dadurch erschwert, dass nicht erkennbar ist, ob eine hetero- oder homosexuelle Beziehung beziehungsweise ein gleich- oder zwischengeschlechtlicher Konflikt zugrunde liegt. Auch die Experten für magische Praktiken waren teils weiblich, teils männlich. In den literarischen Erzählungen werden in Liebesangelegenheiten am häufigsten alte und hässliche Frauen konsultiert, denen die Hexen im modernen Märchen entsprechen. Andererseits begegnen uns in der Literatur mehr männliche als weibliche Bezeichnungen für Zauberer, Wahrsager usw. (s. o.). Wer die magischen Papyri, insbesondere die Anleitungen zur Durchführung der magischen Rituale, verfasst hat, entzieht sich grundsätzlich unserer Kenntnis. Fraglich ist die Annahme vieler Forscher, dass magische Praktiken, namentlich die Ausfertigung von Fluchtafeln, so gut wie immer in den Händen von Spezialisten gelegen habe, die darüber hinaus anachronistisch als „professionelle Magier“ bezeichnet werden. Hingegen lassen Zur antiken Religion vgl. etwa Parker 1998; Burkert 2011, S. 185–187 zur Magie; Linke 2014.
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die völlig unterschiedlichen, oft ungelenken und fehlerhaften, schnell hingeworfenen Handschriften auf den Fluchtafeln darauf schließen, dass diese zum guten Teil ganz individuell angefertigt wurden und daher „magischen Laien“ zuzuordnen sind. Für Experten, die im Auftrag anderer tätig wurden, wäre es außerdem ein großes Risiko gewesen, vielfach und heimlich an verbotenen Praktiken, etwa der Deponierung von Fluchtafeln, teilzunehmen. Ob Magie in Griechenland generell verboten war, ist schwer zu sagen. Ein Gesetz aus Teos aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. bestimmt: „Wer schädliche Zaubermittel (phármaka) anwendet gegen Teier, gegen die Gemeinde oder gegen einen einzelnen, der soll (durch Fluch) verderben, sowohl er selbst als auch sein Geschlecht“ (Z. 1–4: Meiggs und Lewis 1988, 30; HGIÜ 47). Platon schlägt in seinen „Gesetzen“ vor, durch Giftmischerei und Zauberei herbeigeführte Schädigungen hart zu bestrafen (Plat. leg. 932E–933 E). Ob es solche spezifischen Gesetze in weiteren griechischen Poleis gab, wissen wir nicht, eine weitere Platon-Stelle könnte darauf hindeuten (Plat. Men. 80b5–6 mit Graf 1996, S. 27). Tötung oder Körperverletzung war aber überall strafbar, gleichgültig mit welchen Mitteln sie herbeigeführt wurde. Allerdings musste vor Gericht der Zusammenhang zwischen Handlung und Schaden glaubhaft gemacht werden, was im Fall von Zauberei natürlich schwieriger war als etwa bei einem Messerangriff. Auch im römischen Staat (vgl. vor allem Liebs 1997) war seit alter Zeit, im Zwölftafelgesetz (8, 8), zielgerichtet die Verzauberung von Feldfrüchten verboten; in der frühen Kaiserzeit wurden weitere magische Praktiken untersagt, und ab der mittleren Kaiserzeit (2. und 3. Jahrhundert n. Chr.) scheint ein grundsätzliches Verbot von Zauberei gegolten zu haben (CTh 9, 16). Zwar kam es auch hier in den meisten der überlieferten Prozesse aufgrund von erlittenen, auf Magie zurückgeführten Schädigungen zu Anklagen (vgl. etwa Amm. 26, 3¸ Apuleius, De magia), aber schon Tacitus verwendet in einzelnen Fällen sehr allgemeine Formulierungen (magicae superstitiones, Tac. ann 12, 59). Nicht nur aufgrund gesetzlicher Verbote, sondern auch wegen der gesellschaftlichen Ächtung und der Furcht vor Rachemaßnahmen der Opfer führte man magische Praktiken im Allgemeinen heimlich aus. Nach den Papyri waren die magischen Riten des Nachts bei bestimmten Mondkonstellationen durchzuführen. Demgegenüber wurde in der Forschung die Meinung vertreten, viele Fluchtafeln seien öffentlich sichtbar angebracht oder zumindest halböffentlich deponiert worden, nicht zuletzt um die verfluchten Opfer psychologisch zu beeinflussen und so ihre Verwirrung herbeizuführen. Für die These von der psychologischen Beeinflussung existiert jedoch kein Beleg, die öffentliche Anbringung kann allein auf die wenigen Fluchtafeln aus dem Demeter-Heiligtum von Knidos verweisen, die als offene Plättchen mit einem Loch versehen und daher möglicherweise (sichtbar) aufgehängt waren. Fast alle übrigen Täfelchen waren jedoch gerollt oder gefaltet, also nicht einsehbar, und wurden an unzugänglichen Orten wie Gräbern, Brunnen oder an anderen unterirdischen Plätzen geradezu versteckt, im Isis-Heiligtum von Mainz sogar ins Feuer geworfen. Diese Formen der Deponierung boten keinerlei Raum für halböffentliche Rituale. Gerade bei der Deponierung in Gräbern trat noch die Gefahr hinzu, wegen Grabschändung belangt zu werden, die überall strafbar war.
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Umstritten ist in der Forschung auch, wie real die oft grausam beschriebenen Leidens- und Todeswünsche in den defixiones gemeint waren. Während frühere Interpreten (z. B. Graf 1996, S. 126–131) von rein symbolischen Wünschen ausgingen, die das Opfer höchstens zeitweise lähmen sollten, wurden in jüngerer Zeit die Formulierungen ernster genommen und als tatsächlich gewünschte Wirkungen der Flüche verstanden (Riess 2012, S. 189 ff.). Schließlich stellt sich auch die Frage, wie das Christentum mit der Magie umgegangen ist, bevor es im Mittelalter die Religion für sich monopolisierte und festlegte, was als Aberglaube und Magie zu gelten hatte. Inwiefern die kaiserliche Gesetzgebung des 4. Jahrhunderts gegen Magie bereits durch christliche Vorstellungen beeinflusst war, müsste noch näher erforscht werden. Im Alltag der Bevölkerung jedenfalls vermischten sich in der Spätantike traditionelle magische Praktiken mit christlichem Gedankengut; in vielen Papyri (s. PGM mit eigener Rubrik der christlichen Papyri) und in Fluchtafeln werden neben den traditionellen, griechisch- römischen, und den orientalischen und jüdischen Gottheiten auch Jesus, die Dreifaltigkeit, die Jungfrau Maria und andere christliche Wesen angerufen, und das durchaus auch bei Schadenzauber. In der altertumswissenschaftlichen Forschung wurde die Magie meines Wissens nie explizit als Mittel zur Lösung von Konflikten angesprochen (vgl. zu den Fluchtafeln ansatzweise Riess 2012, S. 229). Sicherlich lässt sich auch keine einzige Konstellation ausmachen, welche allen Anwendungen im großen Bereich der Magie zugrundeliegen würde. Für den etwas eingeschränkten Bereich der Fluchtafeln hingegen sind verallgemeinernde Perspektiven vorgebracht worden: Zunächst wurden die defixiones als Maßnahme gegen unliebsame Konkurrenten verstanden (Faraone 1991), sodann hat man ihre Entstehung den Risiken zugeschrieben, mit denen ihre Verfasser konfrontiert gewesen seien (Eidinow 2007); zuletzt wurde in meinem Magdeburger Projekt herausgearbeitet, dass die Fluchtafeln die Durchsetzung des eigenen, subjektiven Rechts zum Ziel hatten (Chiarini im Druck). Alle drei Gesichtspunkte haben ihre Berechtigung und schließen sich nicht aus; alle sind zumindest implizit mit der Annahme kompatibel, dass vielen Fluchtafeln ein Konflikt zugrundeliegt. Diese Annahme zu verifizieren, ist vor allem deshalb schwierig, weil die meisten Texte ihre Motivation und die Umstände ihrer Entstehung nicht ausdrücklich offenlegen.
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Kapitel 16
Der Eid in der Konfliktlösung Jan Dirk Harke
1 Überblick Keilschriftrechte und griechischer Rechtskreis In den Keilschriftrechten spielt nicht nur der promissorische Eid, durch den eine Verpflichtung begründet wird, sondern auch der assertorische Eid, mit dem eine Prozesspartei einen Rechtsstreit für sich entscheidet, eine große Rolle. Die erhaltenen Prozessurkunden enden sogar häufig mit der Entscheidung des Gerichts über die Frage, welche der beiden Seiten den Eid auf sich nehmen musste. Schwor sie ihn, galt dies als unwiderleglicher Beweis der Wahrheit ihres Vorbringens. War der Schwur falsch, zog dies zwar auch eine Bestrafung nach sich; maßgeblich war jedoch die Furcht vor der göttlichen Rache, die der Meineid auslöste. Sie trug nicht nur die Vermutung, dass die beschworene Behauptung der Wahrheit entsprach, sondern förderte den Abschluss eines Vergleichs, mit dem die zum Eid aufgeforderte Partei den Schwur doch noch abwenden konnte (Westbrook 2003, S. 46 f., 375, 446, 495). Auch im archaischen Griechenland (→ 28. Schmitz) stößt man auf einen streitentscheidenden Eid, der von der Seite geschworen werden musste, die ihm wegen des zu erwartenden Ausgangs des Rechtsstreits näherstand. Dies war, falls der Kläger sein Vorbringen nicht hinreichend beweisen konnte, der Beklagte, der sich durch seinen Eid von dem auf ihm lastenden Verdacht reinigen konnte. Das Gesetz von Gortyn sieht einen solchen von vornherein für bestimmte Fälle vor, namentlich die Klage einer Frau auf Herausgabe ihrer Mitgift (2,55–57), den Anspruch eines Mannes wegen Entwendung seiner Sachen durch die Ehefrau (3,5–7, 11,45) und die Klage auf Rückzahlung eines Darlehens (9,51–53). Der Eid galt dabei als Alternative
J. D. Harke (*) Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_16
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zum Zeugenbeweis (9,26) und sollte ebenso wie dieser die Gewissheit von der Richtigkeit der beschworenen Behauptung begründen (Latte 1920, S. 8 f.; Sommerstein 2013, S. 62 ff.) Das attische Recht (→ 19. Thür; → 22. Lanni) kannte einen hoheitlich veranlassten Eid als klar konturierte Einrichtung nur noch in Gestalt des prozessbegründenden Eides, der jedoch bloßes Ritual zur Prozessbegründung war (Sommerstein 2013, S. 80 f.). Streitentscheidende Wirkung konnte dagegen einem Schwur zukommen, den eine Seite mit Einverständnis des Gegners leistete. Zwar war das Gericht hierdurch noch nicht in seiner Entscheidung gebunden; die Akzeptanz des Eides durch den Gegner legte aber die Entscheidung zugunsten des Schwörenden nahe, wenn der angetragene Eid geleistet wurde. Unterblieb er, konnte der andere Teil dies wiederum zu seinen Gunsten ins Feld führen. Das Angebot eines eigenen Eides und die Provokation des Kontrahenten zur Entscheidung über einen von diesem zu leistenden Schwur bildeten daher ein gängiges Mittel zur Überzeugung der Geschworenen (Lipsius 1912, S. 896 ff.; Sommerstein 2013, S. 101 ff.).
Römisches Recht Im römischen Zivilprozess (→ 21. Klinck), über den wir infolge seiner wissenschaftlichen Behandlung durch die klassischen römischen Juristen am besten informiert sind, kam der Eid, das iusiurandum, in verschiedenen Varianten vor: Der streitentscheidende Eid, der die Feststellung des Sachverhalts durch den Richter insgesamt oder teilweise erübrigte, konnte sowohl freiwillig geschworen als auch durch den Gegner erzwungen werden. Da beide Formen des Eides nach dem Ende der römischen Klassik verschmolzen, sind in dem einschlägigen Titel 12,2 der Digesten Kaiser Justinians Aussagen der klassischen Juristen zum freiwilligen Eid und mit solchen vermengt, die sich auf den Zwangseid beziehen. Ihre sorgfältige Trennung, die anhand der Angaben zur Herkunft der Texte aus verschiedenen Bänden der klassischen Werke möglich ist (Demelius 1887), hat ergeben, dass das Edikt des römischen Gerichtsmagistrats einen Zwangseid nur für eine bestimmte Art von Klagen vorsah. Dies waren zunächst einmal die Klagen auf bestimmt festgelegte Leistungen (‚si certum petetur‘), wie sie sich insbesondere aus einem Schuldversprechen, einem Darlehen und ungerechtfertigter Bereicherung ergaben. Bei diesen Verfahren konnte der Kläger dem Beklagten einen Eid zuschieben, mit dem er seine Verpflichtung insgesamt leugnete und beteuerte, nicht zu der begehrten Leistung verpflichtet zu sein. Der Beklagte konnte diesen Eid entweder vorbehaltlos leisten und so die Abweisung der Klage ohne weitere Sachprüfung erreichen; oder er konnte den Eid von dem vorangehenden Schwur des Klägers abhängig machen, dass er den Eid nicht nur zur Schikane des Beklagten forderte (iusiurandum de calumnia – Kalumnieneid; D. 12,2,34,4 Ulp 26 ed), sowie den streitentscheidenden Eid zurückschieben. Im zuletzt genannten Fall musste der Kläger schwören, dass der von ihm geltend gemachte Anspruch bestehe, und führte so die Verurteilung des Beklagten ohne Sachprüfung herbei (D. 12,2,34,7 Ulp 26 ed). Weitere Fälle, in
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d enen ein Eid erzwungen werden konnte, waren die Klage gegen den Eigentümer eines Sklaven wegen eines von diesem verübten Delikts (D. 9,4,21,2–3 Ulp 23 ed) sowie die Klage wegen einer Sachentwendung unter Ehegatten (D. 25,2,11 Ulp 33 ed). Der freiwillige Eid, der im Edikt des Prätors an anderer Stelle ohne Bezug auf eine bestimmte Art von Klagen geregelt war (D. 12,2,7 Ulp 22 ed), setzte ebenfalls eine Zuschiebung durch den Gegner voraus. Der Schwur konnte sich sowohl auf die Verpflichtung des Beklagten schlechthin beziehen und damit den gesamten Prozessstoff erschöpfen als auch einzelne Vorfragen der Verurteilung betreffen wie etwa einen Vertragsschluss oder ein Delikt als Anspruchsgrund oder das Eigentum an einer Sache. Denkbar war sogar ein Eid über die Frage, ob schon ein freiwilliger Eid geleistet worden war oder nicht (D. 12,2,29 Tryph 6 disp). Stand bereits bei Einleitung des Rechtsstreits vor dem römischen Gerichtsmagistrat fest, dass der Beklagte auf Antrag des Klägers einen Eid über einen Umstand geschworen hatte, der seine Verpflichtung ausschloss, lehnte der Prätor die Erteilung einer Klage von vornherein ab. Ansonsten überließ er dem Richter die Feststellung der Eidesleistung, indem er, wenn der Eid vom Beklagten geleistet worden war, eine Einrede (exceptio iurisiurandi) in die Klageformel einfügte oder, wenn der Kläger geschworen hatte, eine besondere Klage gewährte, die als Verurteilungsvoraussetzung nur den Eid nannte (die modern sogenannte actio ex iureiurando). Fragen, über die der Eid antragsgemäß geleistet worden war, waren einer Überprüfung durch den Richter entzogen (D. 12,2,7 Ulp 22 ed) und die Richtigkeit des Eides durfte auch in einem späteren Verfahren nicht mehr untersucht werden (D. 4,3,21 Ulp 11 ed). Die römischen Juristen attestierten dem auf Antrag geschworenen Eid gleichermaßen die Wirkung eines Urteils als auch den Charakter eines Vergleichsvertrags (D. 12,2,18 ed). Denselben Effekt wie die Leistung eines Eides hatte es, wenn der Gegner, nachdem sich der andere auf seinen Antrag hin zur Eidesleistung bereiterklärt hatte, den Schwur erließ (D. 12,2,9,1 Ulp 22 ed). Die Art des Schwures war in keiner Weise festgelegt und konnte auch an eine allgemein als Aberglauben betrachtete Vorstellung anknüpfen, sofern sie nicht verboten war (D. 12,2,5,1,3 Ulp 22 ed); entscheidend war allein, dass Antrag und Schwur in ihrem Inhalt übereinstimmten (D. 12,2,3,4 Ulp 22 ed). Ein freiwilliger Eid, der von einem durch den Prätor eingesetzten Richter angetragen werden musste, war der Schätzungseid (iusiurandum in litem). Mit ihm bezifferte der Kläger sein Interesse an der von ihm begehrten Herausgabe einer Sache und gab so vor, in welchen Betrag die Verurteilung zu erfolgen hatte. Zwar wurde auch dieser Eid nicht auf seine Richtigkeit überprüft, der Richter hatte aber in Ex tremfällen die Befugnis, von ihm zugunsten des Beklagten abzuweichen oder von vornherein eine Obergrenze festzusetzen, bis zu der der Schwur wirken konnte (D. 12,3,4,2–3 Ulp 36 ed). Zum Schätzungseid kam es grundsätzlich nur, wenn der Beklagte sich den Vorwurf gefallen lassen musste, dem Verlangen des Klägers vorsätzlich nicht entsprochen zu haben (D. 12,3,4,4 Ulp 36 ed). Außerdem war er, von Sonderfällen abgesehen, nur bei Klagen denkbar, die auf Rückgewähr einer dem Kläger zustehenden Sache gerichtet waren, nicht dagegen bei Ansprüchen auf erstmalige Leistung (D. 12,2,3,6 Paul 26 ed). Der Beklagte, der nicht zur Herausgabe
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der Sache selbst gezwungen werden konnte, wurde, wenn er den vom Kläger beschworenen Betrag geleistet hatte, so angesehen, als habe er die herausverlangte Sache von ihm gekauft (D. 25.2.22 Iul 19 dig). Ein nur vor dem Prätor zu leistender Eid war der Kalumnieneid, also der Schwur, das Verfahren nicht nur zur Schikane des Gegners zu betreiben. Er wurde vom Prätor ohne vorhergehenden Antrag in Nachbarschaftssachen verlangt, die eine vorläufige Regelung erfahren sollten (D. 39,1,15,14 Ulp 52 ed), außerdem wenn der Kläger einstweiligen Zugang zu Grundstücken oder die Vorlage von Urkunden verlangte. Auch bei anderen Klagearten konnte der Eid verlangt werden, setzte dann aber jeweils einen Antrag des Gegners voraus (Gai inst 4172). In byzantinischer Zeit wurde dieser Kalumnieneid von Amts wegen durch den Richter gefordert, der nun auch die Aufgaben des Prätors übernommen hatte (I. 4,16pr.,1).
Germanische Rechte Die Gesetze der germanischen Völker (→ II. 33. Ehlers) waren auch dort, wo sie wie bei den Westgoten Anschluss an das römische Recht nahmen, von einem ganz anderen Konzept des prozessleitenden Eides geprägt (Harke 2014). Es gab nicht mehr den freiwilligen Eid, den eine Partei auf Antrag ihres Gegners schwören konnte. Und auch der Zwangseid hatte seine Gestalt verändert, indem er nicht mehr von der Zuschiebung durch den Kontrahenten abhing, sondern vom Richter auferlegt wurde. Dies geschah in Konstellationen, in denen zwar nahelag, dass eine Seite im Recht war, sie aber auch nicht über hinreichende Beweismittel verfügte, um dem Richter Gewissheit von der Richtigkeit ihres Vorbringen zu verschaffen (LRV IP-PS 2,1,1–3, LV 2.2.5). Erst der Eid begründete dann die Überzeugung, welche Seite im Recht war.
2 Kernprobleme der Forschung Zwei grundverschiedene Konzepte Für den assertorischen Eid einer Partei gab es in der Antike erkennbar zwei verschiedene Modelle, die kaum Gemeinsamkeiten aufwiesen: In dem einen Fall diente der Eid als Beweismittel und hatte die Aufgabe, dem Richter die erforderliche Gewissheit für die Entscheidung des Rechtsstreits zu geben. Dieser Eid, auf den wir in den Keilschriftrechten, in Griechenland und bei den Germanenvölkern stoßen, zeitigte selbst Wirkung, indem er wegen der allgemein geteilten Furcht vor göttlicher Rache beim Richter die Überzeugung begründete, dass der Schwörende die Wahrheit gesagt hatte und demzufolge im Recht war. Auf der anderen Seite stand der streitentscheidende Eid des klassischen römischen Rechts, der gerade nicht als
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eweismittel diente und allein aufgrund der Zuschiebung durch den Gegner RechtsB folgen zeitigte. Hier war der Eid, für sich genommen, völlig wirkungslos und entscheidend nur, dass der Kontrahent sich mit dem Schwur einverstanden erklärt hatte. Dies zeigt sich am deutlichsten daran, dass der Eid überhaupt gar nicht geleistet werden musste, wenn der Gegner ihn erlassen hatte, und dass er auch an abergläubische Vorstellungen anknüpfen konnte, die gar nicht geeignet gewesen wären, eine Überzeugung des Richters zu begründen.
Zusammenhang mit dem Vertragsrecht Die beiden verschiedenen Eideskonzeptionen gehen in ihrem Ursprung vielleicht mit einem Unterschied in der Vertragsrechtsordnung einher: Während es in den Keilschriftrechten, in denen der assertorische Eid als ein vom Richter auferlegtes Beweismittel diente, auch und gerade eine vertragliche Verpflichtung durch promissorischen Eid gab, lässt sich eine solche für Rom nicht als Regelphänomen nachweisen. Die Verpflichtung durch Eid war hier auf einen Ausnahmefall begrenzt und ging wohl auf ein praktisches Dilemma zurück (Harke 2013, S. 16 ff.): Sie war nur dann anerkannt, wenn sich ein ehemaliger Sklave zum Ausgleich für seine Freilassung gegenüber seinem früheren Eigentümer verbindlich machte. Diese Ausnahme ging vermutlich auf die Praxis zurück, den Sklaven, der vor seiner Freilassung noch nicht rechtsfähig war und nachher nicht mehr zum Abschluss eines Vertrags gezwungen werden konnte, vorab religiös zu binden, um sicherzustellen, dass die Freilassung nicht ohne Gegenleistung erfolgte. War die vertragliche Verpflichtung durch Eid im Übrigen nicht anerkannt, passt dies dazu, dass auch der assertorische Eid im Prozess als solcher wirkungslos war und seinen Effekt allein dem korrespondierenden Antrag des Gegners verdankte.
Der Eid als Mittel zur gütlichen Streitbeilegung Auch dort, wo der Eid als Beweismittel zur Gewinnung richterlicher Überzeugung diente, war er nicht nur Angriffs- oder Verteidigungsmittel, sondern hatte zugleich befriedende Wirkung. Denn die Gegenseite, die aufgrund eines Schwures unterlag, konnte, wenn sie ihr eigenes Vorbringen für richtig und den Eid folglich für falsch hielt, darauf vertrauen, dass der Schwörende der göttlichen Rache anheimfiel. Dies förderte, wenn auch nicht die persönliche Beziehung zum Kontrahenten, so doch die Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidung. Obwohl sie in den Augen des Unterlegenen ein Fehlurteil bedeutete, wusste er, dass sie in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen war, das über den Prozess hinauswirkte und sich schließlich gegen den Sieger wenden würde. Diese Befriedigungskomponente finden wir in Rom zu einem rechtlichen Mechanismus verfestigt: Der Schwur einer Partei wirkte nur, weil der andere sich mit
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diesem Effekt einverstanden erklärt hatte. Der Eid war in seinem Inhalt beliebig und entschied den Rechtsstreit nur dann, wenn er von der anderen Seite zugeschoben oder zumindest provoziert worden ist. Dies galt nicht nur für den freiwilligen und den Zwangseid, die beide ausdrücklich zugeschoben werden mussten. Es galt auch für den Schätzungseid, zu dem der Kläger nur deshalb zugelassen wurde, weil der Beklagte absichtlich die Herausgabe einer dem Kläger gehörenden Sache verweigert oder vereitelt hatte. Erschien den römischen Juristen der Schätzungseid deshalb als Teil einer kaufvertragsähnlichen Einigung der Parteien (Harke 2013, S. 178 ff.), sahen sie im Antrag eines freiwilligen Eides und seinem Schwur sogar einen Vergleichsvertrag, mit dem die Parteien ihre Auseinandersetzung gütlich beendeten (Harke 2013, S. 92 ff.). Zwar fiel die Entscheidung anders als im Normalfall eines Vergleichs durch Urteil; dieses erging aber eben aufgrund des Einverständnisses des unterlegenen Kontrahenten.
Motivationen und Situationen Liegt auf der Hand, dass der Schwörende mit seinem Eid den Prozess für sich entscheiden wollte, ist die Motivlage beim Gegner, auf dessen Antrag es in Rom ankam, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Natürlich konnte er wie beim Beweiseid nach griechischem Muster auf das Eingeständnis des Gegners hoffen oder auf die göttliche Rache spekulieren, die seinen Kontrahenten im Fall eines Meineides treffen sollte. Stärker als dieses Motiv dürfte aber die soziale Geringschätzung gewesen sein, die in Rom derjenige erfuhr, der im Prozess schwor (Quint inst or 5.6, D. 12,2,25,1 Pap 8 quaest). Setzte er sich durch seinen Eid selbst herab, versprach umgekehrt die Zuschiebung des Eides einen Ehrgewinn, der dem anderen Teil die Aufgabe seines eigentlichen Ziels, nämlich einen Prozesssieg zu erringen, erleichterte (Harke 2013, S. 49 ff.; anders → 21. Klinck). Dies galt insbesondere dann, wenn sich aufgrund der Beweislage abzeichnete, dass der Ausgang des Verfahrens ungewiss war. Erkennbar wurde die Beweislage freilich häufig erst im Laufe der Beweisaufnahme. Diese fand im klassischen römischen Formularverfahren grundsätzlich erst im zweiten Prozessabschnitt vor dem Richter und nicht schon vor dem Prätor statt, der von den Parteien zunächst angegangen wurde und den Richter einsetzte. Nach herkömmlicher Ansicht (an der sich auch Klinck a.a.O. orientiert) musste freilich insbesondere der freiwillige Eide schon vor dem Prätor geschworen werden, damit er in der von diesem erteilten Klageformel berücksichtigt werden konnte. Eine genaue Untersuchung der einschlägigen Quellen erhellt jedoch, dass der Richter nicht nur für die Abnahme des Zwangseides zuständig war, sondern kraft seines Amtes auch selbst einen freiwilligen Eid berücksichtigen konnte und musste. Es liegt daher nahe, dass der Antrag zu diesem Schwur vor allem nach vollständiger oder teilweiser Beweisaufnahme erfolgte und vom Richter selbst angeregt wurde (Harke 2013, S. 107 ff.).
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Eidespflicht? War der Eid in Rom mit einem Ansehensverlust für den Schwörenden und zugleich mit einem Ehrgewinn für den Gegner verbunden, folgt hieraus, dass eine Partei nicht ohne weiteres zum Schwur gezwungen werden konnte. Dies versteht sich beim freiwilligen Eid ohnehin von selbst, gilt aber auch für den Schätzungseid: Ein Kläger, der vergeblich die Herausgabe seiner Sache verlangt hatte, musste ihn keineswegs schwören, sondern konnte die Schätzung ihres Wertes auch dem Richter überlassen. Sogar einen vom Kläger zugeschobenen Zwangseid musste der Beklagte nicht schwören, sondern konnte ihn zurückschieben und so den Kläger dazu nötigen, selbst den Prozessentscheid zu seinen Gunsten herbeizuführen; außerdem konnte der Beklagte seinen Schwur davon abhängig machen, dass zunächst der Kläger einen besonderen Kalumnieneid leistete. Der Kläger durfte den Eid des Beklagten also nur verlangen, weil er seinerseits zur Eidesleistung verpflichtet war. Dies traf schließlich ebenfalls auf den allgemeinen Kalumnieneid zu, den jede Partei bei Prozesseinleitung auf Antrag der anderen schwören musste, aber auch ihrerseits dem Kontrahenten zuschieben konnte.
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Kapitel 17
Mediation und Schiedsverfahren im antiken Griechenland Kaja Harter-Uibopuu
1 Überblick Die Notwendigkeit, anstehende zwischenmenschliche Konflikte friedlich beizulegen, ist in den Gesellschaften der griechischen Stadtstaaten von Anfang an bekannt und gut belegt. Dazu diente einerseits ein sich immer weiter entwickelndes institutionalisiertes Gerichtssystem, das der privaten Selbsthilfe Einhalt gebot und Konfliktlösungen in geregelte Bahnen lenkte, andererseits waren daneben stets die Möglichkeiten außergerichtlicher Maßnahmen anerkannt und wurden häufig genutzt. Während zum informellen Einsatz von Freunden oder Verwandten als Schlichter in Streitfällen wenige Quellen erhalten sind, berichten sowohl literarisch als auch inschriftlich erhaltene Texte vom offiziellen Einsatz von Mediatoren und Schiedsrichtern sowie den Voraussetzungen und Folgen ihrer Tätigkeit. Bereits im ersten literarisch überlieferten Streit zwischen den Heerführern Agamemnon und Achilles vor Troja tritt ein Mediator auf. Ausführlich beschreibt die Ilias den Streit zwischen den beiden Königen, dessen gewaltsame Eskalation nur von der Göttin Athena verhindert werden kann (Ilias 1 V. 101–244). Im Kontrast zu den scharfen Worten, die bereits gefallen waren, stehen die Reden des Nestor, König von Pylos, der nicht nur aufgrund seines Alters sondern auch seiner Erfahrung als Schlichter auftritt und einen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Dieser wird allerdings von beiden Parteien rigoros abgelehnt, man trennt sich im Streit und Nestor greift nicht weiter ein – er hätte auch keinerlei Befugnis dazu gehabt (Ilias 1 V. 245–305). Erfolgreich ist andererseits nach Sophokles in der Tragödie Ajax (ca. 449 v. Chr.) die Vermittlung des Odysseus im Streit zwischen den Atriden Menelaos und Agamemnon und Ajax Halbbruder Teukros, dem die Bestattung des Selbstmörders verboten wurde. Odysseus, der vom Chor als Vermittler begrüßt K. Harter-Uibopuu (*) Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_17
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wird, gelingt es, Agamemnon von der Unrechtmäßigkeit des Bestattungsverbotes zu überzeugen und Teukros die notwendigen Riten zu erlauben. Auch an zahlreichen anderen Stellen in der griechischen Mythologie treten Vermittler oder Schiedsrichter auf (Piccirilli 1973, S. 233–306). Die Selbstverständlichkeit, mit der die Lösung von Problemen diesen Personen anvertraut wird zeugt von der hohen Akzeptanz dieser Verfahrensarten in der frühen griechischen Polis. Auffällig ist, dass bereits in der mythischen Vergangenheit der Griechen nicht nur bei Streitfällen zwischen Privatpersonen sondern auch bei „zwischenstaatlichen“ Konflikten, etwa zwischen zwei Königen als Vertreter ihrer Heere vor Troja oder zwei Göttern, die um den Besitz von Land streiten, Vermittler und Schiedsrichter zum Einsatz kommen, deren Lösungsvorschläge angenommen werden oder deren Spruch respektiert wird. Auch in historischer Zeit bleiben diese Formen der friedlichen Streitbeilegung hochgeachtet und bilden eine der Grundlagen für die Anfänge des geregelten Völkerrechts in der griechischen Poliswelt.
Mediatoren und private Schiedsrichter in Athen In Athen sind nebeneinander öffentliche (→ 19. Thür) und private Schiedsrichter ebenso wie Mediatoren belegt (Steinwenter 1925, S. 91–115; Harrison 1998, S. 64–66). Die Vermittlung (Mediation) in privaten Streitigkeiten wird dabei sowohl durch wohlmeinende Familienangehörige als auch durch Freunde der Streitparteien durchgeführt. Der Sprecher der demosthenischen Rede gegen Phainippos (42) ermahnt die Gegenseite, dass von einem maßvollen athenischen Bürger erwartet werde, sich nicht direkt zu Gericht zu begeben, sondern zunächst Vergleichsverhandlungen aufzunehmen (Dem. 42,11–12). Solche Vermittlungen im Familienkreis konnten Erbschaftsangelegenheiten ebenso betreffen, wie Adoptionen, andere finanzielle Angelegenheiten und schließlich auch physische Gewalt (Aischin. 1,99; Andokid. 1,117–123; Dem. 25,55). Ein Gang vor Gericht unter Verwandten sollte in jedem Fall vermieden werden und galt als schändlich (Hunter 1994, S. 54–55). Erfolgreiche Vermittlung und Streitvermeidung lässt sich in den literarischen Quellen nur schwer greifen, da sie – wenn sie mit dem Ausbleiben eines Gerichtsverfahrens ihr Ziel erreichte – kaum Eingang in die Prozessreden gefunden hatte. Umso harscher ist die Kritik der Redner an Gegnern, die sich nicht auf die Versöhnungsversuche von Mediatoren einließen, zu einem einmal vereinbarten Termin nicht erschienen oder sich in Folge nicht an die vereinbarten Bedingungen der Streitbeilegung hielten (Dem. 40,16; 48,2 und 39,58–59; Lys. 32,11–18). Die Tatsache, dass sich derartiges Verhalten als Argument vor den Geschworenen gut einsetzen ließ, bezeugt die Wichtigkeit der innerfamiliären Mediation in besonderer Weise. Auch außerhalb des Familienkreises stand immer die Versöhnung der Streitparteien an erster Stelle und selbst Schiedsrichter, die ja die Möglichkeit hatten, einen Streit letztgültig zu entscheiden, versuchten zunächst eine gütliche Lösung zu finden. Die steten Bemühungen, einen Vergleich zu vermitteln, machen es oftmals schwierig, die Tätigkeiten von Vermittlern und Schiedsrichtern in den Quellen voneinander zu unterscheiden. Die von den Gerichtsreden und den wenigen epigraphischen Zeug-
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nissen verwendete griechische Terminologie lässt nicht immer klar erkennen, worum es sich im Einzelfall handelte. Als Unterscheidungsmerkmal hat meines Erachtens die Kompetenz der handelnden Personen zu gelten. Während es sowohl Schiedsrichtern als auch Mediatoren möglich war, einen Vergleich zu vermitteln, konnten letztere nicht zwischen Streitparteien entscheiden, die sich einer gütlichen Einigung verweigerten. Auch wenn also von Schiedsrichtern die gleichen Vergleichsversuche unternommen wurden wie von Freunden und Verwandten, die vermitteln wollten, unterscheidet sie letztlich die Befugnis zur Entscheidung, die ihnen von den Parteien übereinstimmend übertragen wurde, strukturell von den Mediatoren. Gerade sie ist allerdings oftmals nicht direkt bezeugt sondern nur zu erschließen. Einem erfolgreich vermittelten Vergleich konnte auf verschiedene Art und Weise Rechtskraft verliehen werden, wobei vorauszuschicken ist, dass das Recht der griechischen Polis wesentlich mehr auf die Durchsetzbarkeit eines bestimmten Anspruches als auf die umfassende Regelung verschiedener Sachverhalte ausgerichtet war. So war es Sache der Streitparteien, den Vergleich in Form eines Vertrages zu fixieren und dabei auch einen Klageausschluss festzuhalten. Dieser Vertrag konnte feierlich unter Eid in einem Heiligtum geschlossen werden, wie es für Phormion und seinen Kontrahenten Apollodoros bei Demosthenes (36, 15) überliefert ist, oder aber auch ohne das sakrale Element. Dabei waren es entweder ein einseitiges formelles Freisprechen (oftmals gegen Zahlung einer bestimmten Summe), griechisch ἄφεσις, aphesis, oder eine entsprechende gegenseitige Vereinbarung, griechisch ἀπαλλαγή, apallagē, die die Grundlage für den Ausschluss jeglicher weiteren gerichtlichen Verfolgung bieten sollten. Gegen eine Klage, die trotz einer derartigen Vereinbarung eingereicht wurde, konnte sich der Beklagte mit einem παραγραφή, paragraphē, genannten Einwand wehren (Steinwenter 1925, S. 109–117; Harrison 1998, S. 65–66) War eine Beendigung des Streits durch einen Vergleich nicht möglich, blieb als außergerichtliche Lösung immer noch der Gang zu privaten Schiedsrichtern. Diese agierten nicht für den Staat, wie es die öffentlichen Schiedsrichter taten (→ 19. Thür), sondern wurden von den beiden Kontrahenten übereinstimmend gewählt und mit ihrer Aufgabe betraut. Die entsprechende Vereinbarung zwischen den Streitparteien, der Schiedsvertrag, enthielt nicht nur die Einigung über den einzelnen Schiedsrichter oder die Gruppe von Schiedsrichtern sondern auch über den Streitgegenstand. Auffallend ist, dass in zahlreichen Schiedsverträgen, die uns in den Gerichtsreden überliefert sind, ein zusätzliches formelles Versprechen, sich an den Spruch der Schiedsrichter zu halten, eingebunden war (Steinwenter 1925, S. 101–107). Ob die Schiedsrichter in jedem Fall unter Eid entscheiden mussten, ist in der Forschung umstritten. Bei Demosthenes ist in der Rede gegen Meidias ein Gesetz überliefert, das festlegt, dass die Sprüche der privaten Schiedsrichter in jedem Fall Gültigkeit haben sollten, die Parteien daran gebunden und keine Klagen in derselben Angelegenheit zugelassen seien. Allerdings wird mit gutem Grund an der Historizität dieses Gesetzes gezweifelt, das wohl ein Einschub der Grammatiker gewesen war (Canevaro 2013, S. 231–233). Zu den literarischen Quellen aus Athen, die vom Streit zwischen Privatpersonen berichten, treten auch wenige epigraphische Quellen, die die Beilegung von Konflikten zwischen verschiedenen Familien oder innerhalb einer Familie dauerhaft bezeugen sollen. Das prominenteste Beispiel ist ein Dekret der Salaminioi aus dem
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Jahr 363/2 v. Chr., das die Bedingungen der Versöhnung zweier Teile dieses athenischen Genos im Detail aufzeichnet und in der Einleitung die Schiedsrichter (διαιτηταί, diaitētai) nennt, die diese herbeigeführt hatten (Agora XIX L4a; SEG 21,527). Während der erste Teil des Texts genaue Vorschriften zur Besetzung bestimmter Priesterämter, zur Durchführung von Opfern und den daraus resultierenden Anteilen für die Priester sowie zur Aufteilung von Land und Salzminen und deren Verpachtung enthält, beginnt der Nachtrag mit dem Antrag, die Regelungen des Vergleichs auf Stein festzuhalten, damit auch die künftigen Amtsträger und Mitglieder der Salaminioi sich daran halten können (Z. 80–85). Die Publikation dient damit der Absicherung des Vergleichs. Interessanterweise gibt es aus derselben Gegend in Athen eine zweite Inschrift, die in das Jahr 242/1 v. Chr. datiert wird. Wiederum ist eine Versöhnung zwischen verschiedenen Teilen der Salaminioi der Inhalt: In diesem Fall werden von den ausgewählten Versöhnern (διαλυταί, dialytai) gültige Vorschriften zur Nutzung der Ländereien eines Heiligtums vermittelt (Zu beiden Texten Lambert 1997). Es ist anzunehmen, dass beide Inschriften in der Nähe voneinander aufgestellt waren und den Nachkommen der Streitparteien zur Information und Mahnung dienen sollten.
ediation und Schiedsverfahren in den griechischen Poleis M nach den epigraphischen Quellen Wenn schon für Athen die prozessualen Abläufe der außergerichtlichen Streitbeilegung nicht leicht zu rekonstruieren sind, ist die Quellensituation in den anderen griechischen Stadtstaaten noch schwieriger. Zwar berichten Historiographen immer wieder über innerstaatliche Konflikte, in deren Verlauf auch private Streitigkeiten zwischen einzelnen Bürgern oder Angehörigen anderer Staaten beigelegt wurden, an verfahrensrechtlichen Fragen sind sie allerdings nicht interessiert. So bilden vor allem Steininschriften, in denen staatliche Dekrete und Verträge erhalten sind, die Basis für die folgende Darstellung. Ein weiteres caveat muss vorausgeschickt werden: Da die griechische Welt aus verschiedenen Stadtstaaten mit unterschiedlichen Regierungsformen und unterschiedlicher Geschichte bestand, ist ein einheitliches griechisches Recht als positive Rechtsordnung, die etwa dem Recht des römischen Reiches gegenübergestellt werden könnte, natürlich nicht zu erwarten. Zudem finden sich in den griechischen Poleis keine Kodifikationen, die den Anspruch erheben, alle möglichen Bereiche des Rechtslebens zu regulieren, sodass Vergleiche erneut erschwert werden. Allerdings sind eine Fülle von Einzelgesetzen und -beschlüssen erhalten, die auf Stein publiziert wurden und somit die wichtigste Quellengattung darstellen. Diesen Dokumenten lassen sich vorsichtig einige Grundprinzipien der Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit entnehmen. Auf administrativer Ebene ist dies einerseits die Rolle der Amtsträger als Jurisdiktionsmagistrate: Ihre Aufgabe war zunächst der Versuch, die Streitparteien miteinander zu versöhnen. Gelang dies nicht, mussten Möglichkeiten der streitigen Entscheidung gefunden werden, über deren Ursprung die moderne Forschung noch immer keine Einigkeit erzielt hat
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(Thür 2006, S. 34–55; Gagarin und Cohen 2005, S. 34–40 und S. 82–90). Daraus entwickelte sich die Zweiteilung des Verfahrens in einen Abschnitt vor einem Amtsträger, der die Zulässigkeit der Klage und der vorzulegenden Beweise zu prüfen hatte und dann den Prozess einsetzte, und einen weiteren Abschnitt vor den Richtern, die die eigentliche Sachentscheidung trafen. Kennzeichen des ersten Abschnittes ist jedenfalls der Versuch, eine gütliche Entscheidung zwischen den Streitparteien herbeizuführen, wie besonders aus den eben angesprochenen epigraphischen Quellen deutlich wird. Im folgenden Überblick wird auf die zahlreichen Dokumente, die von zwischenstaatlicher Schiedsgerichtsbarkeit berichten, nicht eingegangen. Das völkerrechtliche Institut, bei dem die Streitparteien nicht Privatpersonen oder Gruppierungen sondern Staaten sind, ist zwar durch die gesamte griechische Geschichte hindurch bekannt und in Anwendung und lehnt sich in seiner praktischen Ausgestaltung auch eng an die innerstaatlichen Formen der Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit an, dennoch unterscheidet gerade die fehlende Durchsetzbarkeit im Völkerrecht die beiden Methoden der Konfliktlösung deutlich voneinander (Piccirilli 1973; Magnetto 1997; Ager 1996; Harter-Uibopuu 1998). Die strikte Trennung in private und öffentliche Schiedsgerichtsbarkeit, die für Athen nachgewiesen werden konnte, ist für die anderen griechischen Städte auf der Basis der zur Verfügung stehenden Quellen nicht so einheitlich zu verfolgen, beziehungsweise nicht in gleichem Maße anzuwenden, wie für Athen. Natürlich kann man den Texten die grundlegende Überlegung gegenüberstellen, dass private Schiedsgerichtsbarkeit auf der freiwilligen Unterwerfung der Streitparteien unter den Spruch eines neutralen Dritten beruhte, während öffentliche Schiedsgerichtsbarkeit die Freiwilligkeit insofern einschränkte, als entweder die Person des Schiedsrichters nicht frei gewählt werden konnte, oder das Schiedsverfahren notwendigerweise durchgeführt wurde und quasi als Vorstufe oder gar Ersatz für die staatliche Gerichtsbarkeit zu gelten hatte. Für beide Vorgehensweisen finden sich außerhalb Athens Beispiele aus unterschiedlichen Städten. So sei hier zunächst für private Fälle auf die Schiedsklauseln in den delphischen Freilassungsurkunden verwiesen. Dort wo ehemaligen Sklaven Pflichten gegenüber ihren Freilassen auferlegt wurden, konnten nach einigen Texten Meinungsverschiedenheiten über die Dienstpflichten der Freigelassenen von jeweils drei Schiedsrichtern gültig entschieden werden (u. a. SGDI 1694, Z. 8–10; 1696, Z. 9–11; 1832, Z. 7–10; alle Texte aus der 1. H. des 2. Jahrhunderts v. Chr.). Obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit als zwingende Vorstufe eines staatlichen Verfahrens belegt das Schuldengesetz von Ephesos (279 v. Chr., I.Ephesos 4, Walser 2008, S. 212–213). Eine Trennung in die reguläre staatliche Gerichtsbarkeit und die – nach den epigraphischen Quellen – stets als außerordentlich angesehene Schiedsgerichtsbarkeit scheint dennoch für die außerathenischen Verhältnisse zielführender, zumal auf diese Weise die Gründe für die Auswahl eines der beiden Systeme besser dargelegt werden können. Dies soll im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden. Roebuck (2001, S. 274–276) nimmt in seine Sammlung griechischer Schiedsgerichte auch verschiedene Bauordnungen auf, in denen Verfahren in Streitigkeiten zwischen Unternehmern vorgesehen sind. In den Texten aus Athen, Delos und Lebadeia wird deutlich, dass in diesen Dekreten zur Organisation öffentlicher Bauten
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Möglichkeiten des Gerichtsgangs eröffnet werden, die nicht dem normalen staatlichen Verfahren entsprechen. Da aber die zuständigen Gremien, die zumeist auch in der Vergabe der Bauaufträge engagiert waren, als reguläre Entscheidungsträger vom Staat eingesetzt wurden und regelmäßig agieren sollten, haben sie auch als staatliche Organe der Rechtsprechung zu gelten, auch wenn die verwendete griechische Terminologie an Schiedsrichter denken lässt. Gerade diese Beispiele zeigen deutlich, dass die heute klar zu trennenden Begriffe, die vor dem Hintergrund der oftmals dogmatisch ausgerichteten deutschen Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte definiert werden, auf das flexible griechische Recht nicht ohne weiteres angewendet werden können. Zu den Schiedsverfahren können ferner diejenigen Fälle gezählt werden, in denen Privatpersonen in Konflikt mit einem fremden Staat gerieten, da sie zumeist nicht vor einem regulären Gericht ausgetragen wurden. Das beste Beispiel ist ein Rechtsstreit zwischen zwei Bürgern aus Kos und der Polis Kalymna, der der Polis Knidos zur Entscheidung vorgelegt wurde (Tit. Calymnii Nr. 79; Ager 1996, Nr. 21; Magnetto 1997, Nr. 14). Die beiden Koer hatten in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. der Polis Kalymna ein Darlehen gewährt. Ihre Nachfahren versuchten rund 50 Jahre später, das Geld wieder zu erlangen und der Streit gelangte vor Knidos, das als von den beiden Parteien als Richterstadt ausgewählt wurde. Die Inschrift lässt da rüber im Unklaren, ob diese Art der Streitschlichtung bereits im Darlehensvertrag in einer Schiedsklausel geregelt war, oder ob sich die Parteien ad hoc darauf geeinigt hatten. In Knidos wurde ein Gerichtshof von 204 Richtern eingesetzt, dessen Vorsitz die obersten Amtsträger innehatten. Wenn auch die Prozessvorschriften, die im Detail erhalten sind, durchaus Anklänge an staatliche Verfahren haben, werden doch Aspekte deutlich, die auf eine Anpassung für das Schiedsverfahren mit Beteiligten aus unterschiedlichen Staaten schließen lassen. Dazu gehört vor allem die ausschließliche Schriftlichkeit im Rahmen der Vorbereitung auf den Prozesstag, an dem die Vertreter der Streitparteien ihren Fall den Geschworenen präsentierten und argumentierten. Die Ansprüche der Parteien, alles Beweismaterial, darunter auch die notwendigen Zeugenaussagen, wurde schriftlich und versiegelt der Gegenpartei und der Richterstadt übermittelt. Auffallend ist darüber hinaus, dass in diesem Fall keine weiteren Vergleichsversuche unternommen wurden, auch wenn dieses Vorgehen durchaus auch für die großen Geschworenengerichte belegt ist, die eine Richterstadt einsetzen konnte. Dies zeigt sich etwa in dem Streit zwischen Paros und Naxos, in dem die Richterstadt Eretria nach der Bestellung von 301 Richtern einen Vergleich vermitteln konnte, dessen Text zur Publikation den Streitparteien übersandt wurde (IG XII 5, 128). Den Streit mit den Erben der koischen Kreditoren konnten die Kalymnier klar für sich entscheiden, wie der Abstimmungsvermerk am Ende der Inschrift zeigt, der 126 Stimmen für den Beklagten und 78 für den Kläger anführt. Eine Begründung für den Spruch wird – wie bei Urteilen von Geschworenengerichten in der Antike üblich – nicht geliefert. In der engen Welt der griechischen Polis kam es gerade in politisch unruhigen Zeiten immer wieder zu langwierigen innerstaatlichen Konflikten zwischen verschiedenen Gruppierungen, die in einigen Fällen auch in gewaltsamen Auseinandersetzungen enden konnten (stasis). Sozioökonomische Gründe führten ebenso wie
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politisches Machtstreben zu Situationen, in denen Prozesse verschleppt oder gar nicht durchgeführt wurden und auf Rechtsansprüche der jeweiligen Gegner nicht reagiert werden sollte. Unter den wenigen literarischen Quellen ist eine Schilderung der Zustände in Boiotien bei dem achäischen Geschichtsschreiber Polybios hervorzuheben. Dort waren beinahe eine Generation lang Gerichtsverfahren sowohl in öffentlichen als auch privaten Angelegenheiten ganz ausgesetzt. Wenn seine Schilderung auch überzogen sein mag, wirft sie doch ein bezeichnendes Licht auf die Situation in vielen Teilen der griechischen Welt. Die städtische Rechtsprechung, die vielfach auf dem System großer Geschworenengerichtshöfe aufgebaut war, hatte aus unterschiedlichen Gründen versagt (Walser 2012, S. 93–104). Im Rahmen der friedlichen Beilegung derartiger Spannungen sowie im Verlaufe der Aufarbeitung am Ende eines Bürgerkrieges, wurden nun – anfangs oft auf Initiative der Könige oder ihrer Vertreter – Richter von auswärts gebeten, die angefallenen Verfahren ebenso zu entscheiden, wie Ansprüche, die während und aufgrund der Kontroversen entstanden waren. Der offensichtlichste Grund für die Anrufung eines solchen Gremiums war die erhoffte neutrale Haltung eines unbeteiligten Dritten, eine Qualität, die Schiedsrichtern auch heute zugesprochen wird. Ab dem ausgehenden 4. Jahrhundert wurden „fremde Gerichte“ (ξενικὰ δικαστήρια, xenika dikastēria) oder „abgesandte Richter“ (μεταπέμπτοι δικασταί metapemptoi dikastai) mit derartigen Konfliktlösungen und der Aufarbeitung von Verfahren beschäftigt (Magnetto 2015, S. 29–31, Börm 2019, S. 171–199). Das Phänomen stellt eine Besonderheit des hellenistischen Gerichtswesens dar und ist typisch für die Staatenwelt im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. Als Quellen stehen vor allem Ehreninschriften1 zur Verfügung, in denen – wenn auch kursorisch – die Einladung, Aufgaben und die durchgeführte Tätigkeit der Richter hervorgehoben wird, um die zahlreichen Ehrenbezeugungen zu begründen. In geringerer Zahl finden sich inschriftlich aufgezeichnete Dekrete über die Anrufung von Schiedsgerichten, Schiedssprüche oder literarische Quellen zu dem Phänomen. Die Ehrendekrete lassen ein in Grundzügen einheitliches Muster der Richterbestellungen und der Ausführung der Aufgaben erkennen (Walser 2012, S. 96–99). Jeder Bestellung eines Gremiums ging ein Beschluss der Volksversammlung vo raus, in dem die zu entscheidenden Verfahren, in der Regel einfache Strafsachen sowie zivile Klagen, genau definiert waren. Zumeist wurden kleinere Gruppen von Männern (zwischen drei und zehn, fast immer in ungerader Zahl) in die Polis geholt. Die Aufgabe der Begleitung und Beherbergung der Richter kam im Vorhinein bestimmten Personen zu, die sich eidlich dazu verpflichteten, keinen Einfluss auf die Richter zu nehmen. Es liegt in der Natur dieser speziellen Quellengattung, dass die positiven Eigenschaften der Richter besonders gewürdigt werden. Sie seien „gute und tüchtige Männer“, würden Verfahren gerecht führen und seien unbeeinflussbar und unbestechlich. Zudem – und dies ist wohl der wichtigste Aspekt ihrer Tätigkeit – würden sie jede mögliche Anstrengung unternehmen, um Vergleiche zwischen den Streitparteien zu vermitteln und diese miteinander zu versöhnen. Regelmäßig wird Lob dafür ausgesprochen, dass eine große Anzahl von Verfahren erledigt werden konnte, ohne dass es zu einer richterlichen Entscheidung kommen musste Ca. 210 von insgesamt 250 Texten zu den fremden Gerichten nach Crowther (1992, S. 23).
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(eine Liste bei Steinwenter 1925, S. 153–155). Während in normalen städtischen Verfahren diese Vergleichsversuche zumeist im Rahmen des Vorverfahrens stattfanden, gehen Vermittlung und Entscheidung in den Verfahren vor fremden Richtern Hand in Hand. Einerseits konnten die im Vergleich zu den typischen Geschworenengerichten sehr kleinen Gremien wesentlich leichter zwischen den Parteien vermitteln und einen Kompromiss erreichen, andererseits war bei dem begrenzten zeitlichen Rahmen auch nicht die Zeit dafür, Vermittlung und Entscheidung an zwei unterschiedlichen Terminen stattfinden zu lassen. Dort, wo die Richter ein Urteil fällen mussten, waren sie normalerweise an die lokalen Gesetze gebunden, mitunter sogar durch Eid. Ihre Entscheidung war jedenfalls in gleichem Maße bindend, wie diejenige lokaler Gerichte und führte zur Exekutierbarkeit eventueller Ansprüche. Hervorzuheben ist, dass die Anrufung fremder Richter, so selbstverständlich sie im Laufe des 3. Jahrhunderts in den griechischen Städten auch geworden war, stets nur als eine Ergänzung zu den städtischen Gerichten gesehen wurde und unter besonderen Umständen passierte. Auch wenn man zuweilen damit rechnete, dass immer wieder derartige Gremien in die Stadt kommen würden, geschah dies ausschließlich nach einer entsprechenden Resolution der entscheidenden städtischen Versammlungen. Diese Voraussetzung und das im Vergleich zu den städtischen Prozessen wohl freiere aber auch straffere Verfahren zeigen deutlich, dass man es hier mit Schiedsrichtern, die durch Parteieinigung im weitesten Sinne bestellt wurden, zu tun hat. Eine feste städtische Einrichtung wurden diese Richter nie, sie blieben stets „fremd“.
2 Kernprobleme der Forschung Für das athenische Rechtssystem legt bereits J.H. Lipsius einen Überblick über die private Schiedsgerichtbarkeit vor (Lipsius 1905, S. 220–226) und betont die Folgen eines derart entschiedenen Streits. Vollstreckung könne durch die Exekutionsklage erzwungen werden und gegen eine erneute Klage in derselben Sache vor einem athenischen Gerichtshof müsse die Einrede gegen die Zulässigkeit der Verhandlung offenstehen. Notwendige Voraussetzung sei dabei aber, dass der Schiedsrichter seinen Spruch unter Eid abgegeben habe (Lipsius 1905, S. 222–223). Dieser Meinung schließt sich in weiterer Folge vor allem die englische Rechtswissenschaft an (beispielhaft Harrison 1998 I, S. 66). Allerdings wird die Mediation aus all diesen Diskussionen weitgehend ausgeschlossen, da sie nicht einem bestimmten Verfahren zuzuordnen und ihre rechtlichen Folgen nicht so klar fassbar seien. Wesentlich detaillierter analysiert A. Steinwenter die Schiedsgerichtbarkeit als Teil der Streitbeendigung im athenischen Verfahren (Steinwenter 1925, S. 91–117) und untersucht auch den von Mediatoren vermittelten Vergleich und seine möglichen Rechtsfolgen (Steinwenter 1925, S. 117–140). Unter den modernen Studien sei die Arbeit von A. Scafuro (1997) hervorgehoben, in der neben einem Überblick über die bisherige Forschung eine neue Interpretation angeboten wird. Schiedssprüche und vermittelte Vergleiche seien in Analogie zu den homologiai, den Verträgen, verbindlich und durch verschiedene Rechtsmittel geschützt.
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Die Forschung zu den außerattischen Schiedsverfahren konzentriert sich bislang beinahe ausschließlich auf die zwischenstaatlichen Konfliktlösungsmechanismen. Erst jüngere Arbeiten (Börm 2019, Gray 2015) nehmen auch die innerstaatlichen Verfahren mehr in den Blick. Eine umfangreiche Studie der Prozessabläufe aus rechtshistorischer Sicht steht allerdings noch aus.
3 Bibliographie Ager SL (1996) Interstate arbitration in the Greek world. 337–90 B.C. University of California Press, Berkeley Börm H. (2019) Mordende Mitbürger. Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus. Historia Einzelschriften 258. Franz Steiner Verlag, Stuttgart Canevaro M (2013) The documents in the Attic orators. Laws and decrees in the public speeches of the Demosthenic corpus. Oxford University Press, Oxford Crowther C (1992) The decline of Greek democracy? J Anc Civiliz 7:13–48 Gagarin M, Cohen D (2005) The Cambridge companion go ancient Greek law. Cambridge University Press, Cambridge Gray B. (2015) Stasis and Stability: Exile, the Polis and Political Thought, c.404-146 BC, Oxford University Press, Oxford Harrison ARW (1998) The law of Athens, band II: procedure, 2. Aufl. Bristol Classical Press, London Harter-Uibopuu K (1998) Das zwischenstaatliche Schiedsverfahren im Achäischen Koinon. Zur friedlichen Streitbeilegung nach den epigraphischen Quellen. Böhlau, Köln Hunter V (1994) Policing Athens. Social control in the Attic lawsuits. 420–320 B.C. Princeton University Press, Princeton Lambert SD (1997) The Attic Genos Salalminioi and the island of Salamis. Z Papyrol Epigr 119:85–106 Lipsius JH (1905) Das Attische Recht und Rechtsverfahren I. Reisland, Leipzig Magnetto A (1997) Gli arbitrate interstatali Greci II. Dal 337 al 196 a.C. Scuola Normale Superiore, Pisa Magnetto A. (2015) Interstate Arbitration and Foreign Judges. In: Harris E.M. – Canevaro M. The Oxford Handbook of Greek Law. Oxford Handbooks Online. Oxford University Press, Oxford. 10.1093/oxfordhb/9780199599257.001.0001 Piccirilli L (1973) Gli arbitrati interstatali Greci I. Dalle origini al 338 a.C. Edizioni Marlin, Pisa Robert L (1973) Les juges étrangers dans la cite grecque. In: von Caemmerer E et al (Hrsg) Xenion. Festschrift für Pan. J. Zepos I. Ch. Katsikalis, Athen/Freiburg/Köln, S 765–782 Roebuck D (2000) „Best to reconcile“. Mediation and arbitration in the ancient Greek world. Arbitration 66:275–287 Roebuck D (2001) Ancient Greek arbitration. Holo Books, The Arbitration Press, Oxford Scafuro AC (1997) The forensic stage. Settling disputes in Graeco Roman new comedy. Cambridge University Press, Cambridge, MA Steinwenter A (1925) Die Streitbeendigung durch Urteil, Schiedsspruch und Vergleich nach griechischem Rechte. C. H. Beck, München Thür G (2006) Die Einheit des „Griechischen Rechts“. Gedanken zum Prozessrecht in den griechischen Poleis. Dike 9:23–62 Walser AV (2008) Bauern und Zinsnehmer. Politik, Recht und Wirtschaft im frühhellenistischen Ephesos. C. H. Beck, München Walser AV (2012) DΙΚΑΣΤΗΡΙΑ. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis. In: Zimmermann M (Hrsg) „Demokratie“ im Hellenismus. Von der Herrschaft des Volkes zur Herrschaft der Honoratioren. Die hellenistische Polis als Lebensform, Bd 2. Antike, Mainz
Kapitel 18
Schiedsverfahren und Mediation in Rom Wolfram Buchwitz
1 Überblick Schiedsverfahren und Mediation waren in der römischen Antike verbreitet. Schiedsverfahren stellten eine wirkungsvolle Alternative zum staatlich organisierten Zivilprozess (→ 21. Klinck) dar. In rechtlicher Hinsicht unterschieden sich Schiedsverfahren und Mediation ähnlich voneinander und vom Gerichtsverfahren wie heute (Wlassak 1896a, b): Schiedsverfahren wurden rechtsförmlich durchgeführt und endeten mit einer verbindlichen Entscheidung, die – notfalls mit Hilfe der staatlichen Gerichtsordnung – durchgesetzt werden konnte. Über Schiedsverfahren sind wir daher aus juristischen Quellen und aus überlieferten Vertragsdokumenten gut unterrichtet. Anders verhält es sich mit der Mediation, worunter hier ein Streibeilegungsmechanismus verstanden wird, bei dem eine dritte Person nur eine vermittelnde Rolle hat und keine verbindliche Entscheidung treffen kann. Ziel der Mediation ist es, die streitenden Parteien dazu zu bringen, selbst eine Lösung ihres Konflikts zu finden und etwa einen Vergleich (transactio) abzuschließen. Diese Form der Schlichtung oder Vermittlung ist, wegen ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit, von den römischen Juristen nicht behandelt worden. Es existieren nur Hinweise in der sonstigen Überlieferung. Im Folgenden wird zunächst das Schiedsverfahren behandelt und im Anschluss daran die Mediation. Das römische Schiedsverfahren als Streitbeilegungsmechanismus unter Privaten ist – wie auch das moderne Schiedsverfahren – in engem Zusammenhang mit den Schiedsverfahren zwischen Staaten entstanden. Im griechisch-hellenistischen Rechtskreis waren internationale Schiedsverfahren zwischen Staaten weit verbreitet (→ 17. Harter-Uibopuu; Kaščeev 1997), was auf die privaten Verfahren abgefärbt hat (De Ruggiero 1893). W. Buchwitz (*) Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_18
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Das private Schiedsverfahren (arbitrium) war – ebenso wie heute – geprägt durch die freiwillige Unterwerfung der Streitparteien unter die durch eine dritte Person (arbiter) zu treffende Entscheidung. Diese freiwillige Unterwerfung geschah durch einen Schiedsvertrag (compromissum). Aus Herculaneum sind einige römische Schiedsverträge im lateinischen Original überliefert, die Grenzstreitigkeiten betreffen (Arangio-Ruiz und Pugliese Carratelli 1955, S. 449–460; Ziegler 1971, S. 47–77, 149–155). Spätere griechische Dokumente aus Ägypten umfassen andere Arten von Nachbarschaftsstreitigkeiten, Eigentumsfragen und auch Eheund Nachlasssachen (Modrzejewski 1952; Urbanik 2007; Wojtczak 2012). Wurde ein Schiedsvertrag rein formlos abgeschlossen, war er rechtlich unverbindlich, da er nicht zu den klagbaren Vertragstypen gehörte. Bei einem formlosen Schiedsvertrag war auch ein etwaiger Schiedsspruch nicht durchsetzbar. Es war daher üblich und zur Rechtswirksamkeit auch erforderlich, den Schiedsvertrag in förmlicher Weise durch ein Schuldversprechen (stipulatio) zu bekräftigen. Die Parteien versprachen sich in der Regel die Zahlung einer Vertragsstrafe (poena) für den Fall, dass sie die Entscheidung des Schiedsrichters nicht befolgten oder die Durchführung des Schiedsverfahrens behinderten. Bisweilen versprachen sich die Parteien durch die stipulatio auch lediglich die Erfüllung des Schiedsspruchs (sententiae stari), was zur Durchsetzbarkeit des Schiedsspruchs ebenfalls ausreichend war. Der Schiedsvertrag wurde immer erst nach Entstehen einer Streitigkeit abgeschlossen (D. 4.8.46, anders Ziegler 1971, S. 62), ganz im Gegensatz zur modernen Praxis. Dabei musste auch die Person des Schiedsrichters festgelegt werden. Dass die Parteien nach Entstehen eines Streits noch eine Einigung erzielen konnten, mag auf der Nähe des römischen Schiedsverfahrens zum ordentlichen Zivilprozess beruhen, wo sich die Parteien ebenfalls häufig auf die Person des Richters verständigten (→ 6. Freund). In der Auswahl des Schiedsrichters waren die Parteien frei. Sie konnten jede geeignete Person zum Schiedsrichter bestimmen, mit Ausnahme von unter 20-Jährigen, Sklaven und Richtern in derselben Sache (D. 4.8.41; D. 4.8.7; D. 4.8.9.2). Das römische Schiedsverfahren wurde in der Regel vor einem Einzelschiedsrichter durchgeführt. Die Parteien konnten sich aber auch auf ein aus mehreren Schiedsrichtern bestehendes Schiedsgericht einigen (D. 4.8.17.2, 5–7; Ernst 2014). Es ist anzunehmen, dass in der Praxis vor allem nähere Bekannte und Freunde der Parteien als Schiedsrichter fungierten, da Schiedsrichter wahrscheinlich unentgeltlich tätig wurden. Das zwischen dem Schiedsrichter und den Parteien bestehende Rechtsverhältnis (receptum, Schiedsrichtervertrag) verpflichtete den Schiedsrichter zur Tätigkeit, gab ihm aber keine Klage gegen die Parteien. Ihm wurde wohl kein Honorar gezahlt, doch dürfte sich eine Form der Entlohnung aus dem römischen System von personalen Beziehungen (amicitia) ergeben haben: Wer die Ausführung eines Schiedsrichteramts übernahm, dem schuldeten die Parteien bei anderer Gelegenheit ihrerseits einen Gefallen als Gegenleistung. Schiedsrichter waren damit keine Dienstleister wie in der heutigen Praxis, sondern handelten wohl meist in Erfüllung einer sozialen Pflicht. Die Durchführung des Schiedsverfahrens war davon abhängig, dass der benannte Schiedsrichter das Amt übernahm (recipere, dazu Wenger 1920; Ziegler 1971,
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S. 77–84; Rampazzo 2012, S. 71–139). Lehnte er ab, mussten sich die Parteien auf einen anderen Schiedsrichter einigen oder zum staatlichen Verfahren übergehen. Denn Schiedsgerichtsinstitutionen waren in Rom unbekannt und auch die Ersatzbenennung eines neuen Schiedsrichters durch eine sonstige Stelle kam nicht in Betracht. Das Schiedsverfahren war damit stärker als heute an die Person des Schiedsrichters gebunden. Erklärte der Schiedsrichter die Annahme des Amtes, wurde das Verfahren durchgeführt. Alle Beteiligten (Parteien und Schiedsrichter) waren nun rechtlich mitei nander verbunden. Die Parteien konnten mit der schiedsrichterlichen Beilegung ihres Rechtsstreits rechnen und diese, falls nötig, sogar gerichtlich durch den Prätor gegenüber dem Schiedsrichter erzwingen. Für diesen prätorischen Zwang war es erforderlich, dass die Parteien einen förmlichen Schiedsvertrag mit Vertragsstrafeversprechen abgeschlossen hatten. Es standen dann besondere Rechtsbehelfe vor dem Prätor zur Verfügung, mit denen ein unwilliger Schiedsrichter zur Durchführung des Verfahrens gezwungen werden konnte. Hatte der Schiedsrichter das Amt einmal übernommen (receptum), konnte der Prätor ihn auf Antrag der Parteien durch ein Zwangsgeld (multa) zum Erlass des Schiedsspruchs anhalten. Dieser Zwang zur Durchführung der Amtstätigkeit des Schiedsrichters findet sich im prätorischen Edikt, das etwa wie folgt lautete: „Wer ein Schiedsverfahren übernommen hat, bei dem sich die Parteien Vertragsstrafen versprochen haben, den werde ich zum Erlass des Schiedsspruchs zwingen“ (vgl. Ziegler 1971, S. 84–90; Rampazzo 2012, S. 71–139; Paricio 2014, S. 52–55). Das Erfordernis der Vertragsstrafe wurde von den römischen Juristen allerdings weit ausgelegt, sodass nicht nur Geldversprechen, sondern auch andere Arten von Sicherungsversprechen ausreichten, bei denen die Parteien einen Vermögenswert einsetzten (D. 4.8.11.2,3). Hatten die Parteien allerdings einen Schiedsvertrag ohne Vertragsstrafe oder Einsatz eines sonstigen Vermögenswerts abgeschlossen, konnte der Schiedsrichter nicht durch den Prätor zur Ausführung gezwungen werden. Es ist gleichwohl anzunehmen, dass der Schiedsrichter auch in diesen Fällen in aller Regel freiwillig das Verfahren durchführte und den Schiedsspruch erließ. Der Schiedsspruch war dann ebenfalls rechtsgültig und konnte vollstreckt werden, sofern sich die Parteien zumindest durch Stipulation versprochen hatten, den Schiedsspruch zu befolgen (sententiae stari). Zwischen der Möglichkeit, den Schiedsrichter mit prätorischem Zwang zur Durchführung des Verfahrens anzuhalten, und der Schiedsvereinbarung der Parteien bestand daher nicht immer ein Gleichlauf. In der Vertragspraxis wurde aber in aller Regel eine Vertragsstrafe vereinbart: Zum einen erleichterte dies die Vollstreckung des Schiedsspruchs, da die Verurteilungssumme bekannt war, zum anderen konnten dann beim Prätor notfalls Zwangsmittel gegen einen unwilligen Schiedsrichter beantragt werden. Nach der Übernahme seines Amtes bestimmte der Schiedsrichter für die Durchführung des Schiedsverfahrens den Ort und die Zeit der Verhandlung. Dazu machten die Parteien häufig schon im Schiedsvertrag Vorgaben, an die der Schiedsrich ter dann gebunden war (Arangio-Ruiz und Pugliese Carratelli 1955, S. 449; D. 4.8.32.15–17). In der Verhandlung konnten sich die Parteien nach Belieben von Prozessbevollmächtigten vertreten lassen (→ 16. Harke). Die Verhandlung diente
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der Beweisaufnahme, etwa der Vernehmung von Zeugen, aber auch dem Austausch von streitigen Rechtsansichten (Roebuck und de Loynes de Fumichon 2004, S. 153–177). Der Schiedsspruch wurde in der Regel direkt im Anschluss an die Verhandlung verkündet. Eine spätere Verkündung war aber ebenfalls möglich, wenn sich die Parteien darauf geeinigt hatten. Nach dem von den Parteien bestimmten Zeitpunkt konnte ein Schiedsspruch allerdings nicht mehr verkündet werden; ein solcher verspäteter Schiedsspruch hatte keine Rechtswirkungen mehr. Erschien eine Partei nicht zur Verhandlung, konnte der Schiedsspruch in der Regel nicht wirksam verkündet werden. Es gab auch keine Mittel, das Erscheinen der Parteien und die Einlassung vor dem Schiedsrichter zu erzwingen. Die andere Partei konnte in diesem Falle jedoch wegen Verletzung des Schiedsvertrags auf Zahlung der Vertragsstrafe klagen. Auch bei sonstigen Verletzungen des Schiedsvertrags, welche die Durchführung des Schiedsverfahrens verhinderten, verfiel die Vertragsstrafe, etwa wenn eine Partei die Sache vor die staatliche Gerichtsbarkeit brachte. Es ist anzunehmen, dass die Parteien die Vertragsstrafe in der Regel mindestens genauso hoch wie den Streitwert festlegten, sodass keine Partei ein Interesse daran hatte, das Schiedsverfahren zu vereiteln. Auf diese Weise wurde das römische Schiedsverfahren mittelbar erzwingbar gemacht (Knütel 1976, S. 36). Auf ähnliche Art und Weise wurde auch die Vollstreckung des Schiedsspruchs gesichert: Der Schiedsspruch war zunächst bloß ein privater Rechtsakt, aus dem nicht wie aus einem Urteil auf Vollstreckung geklagt werden konnte. Grundsätzlich war die obsiegende Partei daher darauf angewiesen, dass die unterlegene Partei den Schiedsspruch freiwillig erfüllte. Blieb die Erfüllung aus, stellte dies jedoch ebenfalls eine Verletzung des Schiedsvertrags dar, sodass die obsiegende Partei aus dem Vertragsstrafeversprechen klagen konnte. Falls die Parteien ausnahmsweise keine Vertragsstrafe vereinbart, sondern sich die „Erfüllung des Schiedsspruchs“ förmlich versprochen hatten, konnte auch aus diesem Versprechen auf Erfüllung geklagt werden (actio incerti ex stipulatu, D. 4.8.27.7). Nur im Falle einer bloß formlosen Abrede war die Erfüllung des Schiedsspruchs nicht erzwingbar. Im Vollstreckungsverfahren wurde die inhaltliche Richtigkeit des Schiedsspruchs nicht Weise überprüft. Denn bei einer Klage auf Zahlung der Vertragsstrafe bzw. auf Erfüllung des Schiedsspruchs prüfte der staatlich bestellte Richter nur die Existenz des Schiedsvertrags und des Schiedsspruchs, um festzustellen, ob die Vertragsstrafe verfallen war bzw. Erfüllung verlangt werden konnte. Eine inhaltliche Kontrolle des Schiedsspruchs nahm er nicht vor, auch wenn dieser rechtlich oder sachlich fehlerhaft war (D. 4.8.19 pr.; D. 4.8.27.2; D. 17.2.76). Damit herrschte im Ergebnis ebenso wie im modernen Recht ein Verbot der Überprüfung des Schiedsspruchs. Eine Ausnahme galt allerdings bei Schiedssprüchen mit unmöglichem oder sittenwidrigem Inhalt (D. 4.8.21.7; D. 49.8.3 pr. zum gerichtlichen Urteil). Insgesamt betrachtet war das römische Schiedsverfahren in seiner rechtlichen Struktur damit ähnlich effektiv und universell einsetzbar wie im modernen Recht. Allerdings hatte es einen stärker materiellrechtlichen Charakter und wurde nicht wie ein prozessrechtliches Institut behandelt. Schwieriger zu beurteilen als die rechtliche Struktur sind die tatsächlichen Anwendungsfälle des Schiedsverfahrens, also die Situationen, in denen Streitparteien
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dieses Verfahren einem staatlich organisierten Prozess vorzogen. Typische Anwendungsfälle waren sicherlich Grenzstreitigkeiten und sonstige Nachbarschaftsstreitigkeiten, aber auch Ehesachen, Eigentumsfragen und Erbstreitigkeiten (Modrzejewski 1952; Arangio-Ruiz und Pugliese Carratelli 1955, S. 449; Urbanik 2007; Wojtczak 2012; Lehne-Gstreinthaler 2017, S. 161; D. 4.8.44). Bei Schiedsverfahren über das Eigentum an Sachen wurden diese bisweilen beim Schiedsrichter hinterlegt, damit dieser sie dann nach Abschluss des Verfahrens der obsiegenden Partei herausgeben konnte (D. 4.8.11.2). Im Übrigen ist zu vermuten, dass Schiedsverfahren auch für verschiedenste andere Streitigkeiten genutzt wurden, insbesondere auch für alle Arten von Vertragsstreitigkeiten. Rechtliche Grenzen bestanden für das Schiedsverfahren erst dort, wo staatliche Interessen unmittelbar berührt wurden. Daher waren alle Strafsachen, die öffentlich verfolgt wurden (→ 23. Procchi), nicht schiedsfähig, also schwere Verbrechen wie etwa Mord und Ehebruch. Aber auch private Strafklagen für leichtere Vergehen wie Diebstahl und Betrug konnten nicht vor einem Schiedsrichter ausgetragen werden, da eine Verurteilung hier infamierende Wirkung hatte, den Verurteilten also von bestimmten Rechtsgeschäften ausschloss (D. 4.8.32.6; Roebuck und de Loynes de Fumichon 2004, S. 107 f.). Diese Wirkung konnte nur das Urteil eines Richters haben, sodass diese Verfahren dem prätorischen Prozess vorbehalten blieben. Gleiches gilt für Popularklagen wie die Klagen wegen Grabschändung und wegen Verletzung von Personen durch aus Gebäuden herausgeworfene Sachen (D. 4.8.32.7). Neben diesen Klagen mit strafrechtlichem Charakter waren auch die meisten Statusverfahren vom Schiedsverfahren ausgeschlossen, also Klagen über den Rechtsstatus einer Person (D. 4.8.32.7; Roebuck und de Loynes de Fumichon 2004, S. 105 f.). Wenn unklar war, ob eine Person frei oder Sklave war, oder ob sie freigeboren oder freigelassen war, konnte darüber ebenfalls nur ein staatlich bestellter Richter entscheiden. Die Gründe für den Ausschluss der Strafklagen und der Statusklagen aus dem Anwendungsbereich des Schiedsverfahrens sind nicht bekannt. Es ist jedoch anzunehmen, dass der Ausschluss auf dem staatlichen Interesse an einem öffentlichen Verfahren beruhte. Für Strafklagen ist dies unmittelbar evident, da hier das Sanktionsinteresse der Öffentlichkeit durchgesetzt werden soll. Für Statusverfahren folgt es aus der Bedeutung, welche die Feststellung des Status für die Staatsbürgerschaft und die Fähigkeit, bestimmte Ämter zu bekleiden, hatte. Vom Schiedsrichter ist – auch nach römischem Recht – der Schiedsgutachter zu unterscheiden, der gleichfalls arbiter heißt (D. 17.2.76–79; D. 19.2.25 pr.; Wlassak 1896a, Sp. 411). Ein Schiedsgutachter entscheidet nicht den gesamten Rechtsstreit, sondern nur einzelne Fragen, die typischerweise eher sachlichen als rechtlichen Gehalt haben, etwa hinsichtlich der Qualität gelieferter Waren. Er kann auch von den Parteien zur Bestimmung des Vertragsinhalts eingesetzt werden und entscheidet dann über die Höhe des Kaufpreises, die Höhe von Gesellschaftsanteilen, die Tauglichkeit von Bürgen oder ähnliche Sachfragen (z. B. Cato de agri cultura 153.2, 154.3, 157.1; D. 2.8.9; D. 17.2.75). Ganz ähnlich wie im modernen Recht ist für die Abgrenzung zum Schiedsrichter ausschlaggebend, ob die von den Parteien benannte Person den Streit endgültig beenden oder nur eine streitige Vorfrage klären soll.
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Dementsprechend gestalten sich auch die Rechtsbehelfe gegen die jeweiligen Entscheidungen unterschiedlich: Während die Entscheidung des Schiedsrichters wie erläutert nicht angegriffen werden kann, auch wenn sie offenbar ungerecht ist, kann die Entscheidung des Schiedsgutachters vom Gericht darauf überprüft werden, ob sie sich im Rahmen dessen bewegt, was ein vernünftiger Dritter (vir bonus) festgelegt hätte. Dies entspricht weitgehend der heutigen Rechtslage (§ 1026 ZPO; § 317 BGB). Neben dem Schiedsverfahren war auch die Mediation als Konfliktlösungsmechanismus in Rom bekannt. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Möglichkeiten alternativer Streitbeilegung sind rechtlich ebenso klar definiert wie heute: Schiedsrichter ist nur, wer die Befugnis zur Entscheidung des Rechtsstreits hat, andernfalls liegt die bloß vermittelnde Tätigkeit eines Mediators vor (D. 4.8.13.2; vgl. D. 4.8.1 und D. 4.8.37). Der Vermittler wurde allerdings erst seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. als „Mediator“ bezeichnet. Der Begriff mediator findet sich hauptsächlich in nichtjuristischem Kontext bei den Kirchenvätern: Auf Augustinus geht die Vorstellung von Jesus Christus als Mediator zwischen Gott und den Menschen zurück (De civitate dei 9.15; Enchiridion 10.33). Dies wurde von Avitus von Vienne aufgegriffen, in dessen Schriften auch die Neutralität als Wesensmerkmal des Mediators zum Ausdruck kommt (contra Arrianos 20, MGH auct. ant. 6.2, S. 9 Z. 3–6; contra Eutychianam 1, MGH auct. ant. 6.2, S. 18 Z. 20–23). Im juristischen Sprachgebrauch tritt der „Mediator“ nur in einer Konstitution aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. auf, die Mediatoren ein Zeugnisverweigerungsrecht in einem späteren Gerichtsverfahren zubilligt (Nov. 90.8;1 Ziegler 1971, S. 242; anders Lehne-Gstreinthaler 2017, S. 156). Ansonsten sind keine Rechtsquellen zur Mediation überliefert, was sich aus der rechtlichen Unverbindlichkeit des Mediationsverfahrens erklärt. Wenn die Parteien mit den Vorschlägen des Mediators nicht einverstanden waren, wurden sie nicht daran gebunden. Über die tatsächliche Verwendung der Mediation als Konfliktlösungsinstrument im alten Rom sind wir nur punktuell durch einige Quellen unterrichtet (dazu Lehne- Gstreinthaler 2017, S. 152–155). Es ist jedoch zu vermuten, dass die Mediation in der sozialen Wirklichkeit eine große Verbreitung hatte und viele Streitigkeiten durch die Vermittlung eines Dritten zwischen den Parteien beigelegt wurden. Dafür spricht zunächst eine Parallele zum griechischen Kulturkreis: Da im antiken Griechenland die Idee eines neutralen Dritten als Vermittlers zwischen zwei Streitparteien sehr verbreitet war (→ 19. Thür; → 17. Harter-Uibopuu) und da die im internationalen Verkehr übliche Vermittlungspraxis auch in Rom rezipiert wurde (Kaščeev 1997), ist zu vermuten, dass auch im privaten Bereich entsprechende Konfliktlösungsmechanismen angewandt wurden. Einen Hinweis aus römischer Zeit liefert auch ein Brief des Apostels Paulus, in dem er den christlichen Gemeindemitgliedern empfiehlt, ihre Rechtsstreitigkeiten nicht vor dem heidnischen Richter auszutragen, sondern untereinander mit Hilfe der Vermittlung einer weisen Respektsperson zu lösen (1. Kor. 6.5, dazu Gal 2009, S. 19 f.). Doch auch darüber hinaus ist anzunehmen, Der Begriff mediator ist in der lateinischen Fassung ep. Iul. 83.6 überliefert.
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dass die Mediation in Rom wie in vielen anderen vormodernen Gesellschaften eine große Rolle als Streitbeilegungsmechanismus spielte. Insbesondere dürfte dem römischen System der Klientel eine entsprechende Praxis schon inhärent gewesen sein: Bei Streitigkeiten zwischen zwei Klienten lag es außerordentlich nahe, dass diese sich zur Vermittlung an ihren gemeinsamen Patron wandten. Auch wenn der Patron keine Entscheidungsbefugnisse hatte, so werden die Streitparteien doch in den meisten Fällen durch seine Autorität zu einer Einigung gebracht worden sein. Für die römische Antike ist daher eine große Verbreitung der Mediation anzunehmen, auch wenn sie sich schlecht nachweisen lässt und der Begriff des Mediators erst in der Spätantike aufkam. Wesensmerkmale der Mediation waren wie heute die Vermittlerfunktion des Mediators und die Freiwilligkeit des Verfahrens für die Parteien.
2 Kernprobleme und Forschungsüberblick Die gemeinsame Betrachtung aller Formen „alternativer Konfliktlösung“ (Verhandlung, Mediation, Schiedsverfahren) ist eine sehr moderne Fragestellung. Entsprechende Untersuchungen, die einen Vergleich dieser Instrumente miteinander vornehmen, sind daher erst in jüngerer Zeit entstanden. Für das klassische römische Recht ist die Studie von Lehne-Gstreinthaler (2017) zu nennen, für die Spätantike in Ostrom kann auf Urbanik (2007) verwiesen werden. Zur Mediation in Rom ist kaum Spezialliteratur vorhanden. Eine entsprechende Untersuchung, die vor allem sozialhistorisch ausgerichtet sein müsste, stößt allerdings auch auf erhebliche methodische Probleme, da sie zunächst autonom klassifizieren müsste, welche sozialen Situationen als strukturierte Konfliktlösung angesehen werden können und welche Arten von Vermittlungstätigkeiten als „Mediation“ bezeichnet werden sollten. Vielfach sind in der antiken Literatur Vermittlungstätigkeiten bestimmter Personen beschrieben und auch aus den Dokumenten der Praxis lässt sich eine solche Tätigkeit bisweilen ableiten (Roebuck und de Loynes de Fumichon 2004; Lehne-Gstreinthaler 2017). Hier müssten aber auch die Fälle identifiziert werden, in denen die Beteiligten bewusst eine Alternative zu einem Gerichtsverfahren gesucht haben. Das römische Schiedsverfahren ist dagegen gründlicher untersucht worden, was auch der guten Quellenlage geschuldet ist (v. a. Talamanca 1958; Ziegler 1971; Buigues Oliver 1990; Humbert 1994, 2001; Roebuck und de Loynes de Fumichon 2004; Rampazzo 2012; Paricio 2014; Lehne-Gstreinthaler 2017). Die Forschung behandelt dabei sowohl die rechtlichen Strukturen als auch die tatsächlichen Anwendungsfälle von Schiedsverfahren, leidet allerdings in einigen Fällen an zu starken Systematisierungstendenzen: Das römische Schiedsverfahren war kein einheitlich normiertes Rechtsinstitut, sondern konnte je nach Ausgestaltung des Schiedsvertrags ganz unterschiedliche Formen annehmen. Diese Flexibilität ist daher nicht nur ein Hauptmerkmal des modernen Schiedsverfahrens, sondern auch seines römischen Vorgängers.
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W. Buchwitz
Bisweilen wurden die verschiedenen Ausprägungen des römischen Schiedsvertrags, die zu unterschiedlichen rechtlichen Folgen führten, in der Forschung wegen einer Besonderheit der Quellenlage nicht gesehen: Die Hauptquellen zum römischen Schiedsverfahren sind die Kommentare der römischen Juristen zum Edikt (vor allem Ulpian und Paulus jeweils im 13. Buch ihrer Ediktskommentare). Das Edikt enthielt jedoch wie erwähnt nur den Zwang des Prätors gegen den unwilligen Schiedsrichter. Das römische Schiedsverfahren wird daher in den Rechtsquellen zu großen Teilen unter diesem Blickwinkel diskutiert (Titel D. 4.8 und C. 2.55(56)). Wie sich aus dem Text des Edikts ergibt, zwang der Prätor einen Schiedsrichter nur dann zur Ausführung seiner Verpflichtungen, wenn der Schiedsvertrag durch Vertragsstrafen gesichert war. Daraus lässt sich jedoch richtigerweise nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass sämtliche Schiedsverträge zu ihrer Wirksamkeit mit Vertragsstrafen versehen sein mussten. Über die – sicherlich auch nicht ganz seltenen – Schiedsverträge ohne Vertragsstrafen sind wir jedoch aus den Quellen nur schlecht unterrichtet. Kontroversen existieren in der Forschung nach wie vor zu der Frage, ob aus einem Schiedsvertrag eine Schiedseinrede folgte, ob also nach Abschluss eines Schiedsvertrags oder nach Erlass eines Schiedsspruchs eine Klage vor dem Prätor mit einer exceptio zu Fall gebracht werden konnte (Talamanca 1958, S. 111–113; Ziegler 1971, S. 47–52, 213; Humbert 2001, S. 396 f.). Umstritten sind auch die historischen Ursprünge der Unterscheidung zwischen arbiter und iudex, die sich mangels gesicherter Quellen wohl kaum klären lassen (Wlassak 1896a, b; Broggini 1957; Bonifacio 1959).
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Kapitel 19
Griechische Zivilverfahren Gerhard Thür
1 Überblick Der Plural „griechische Zivilverfahren“ erweckt zweierlei Erwartungen: Zum einen könnte er sich auf private Rechtsstreitigkeiten in allen Stadtstaaten, Staatenbünden und Königreichen des gesamten griechisch-hellenistischen Rechtskreises beziehen. Dies auch nur im Überblick fundiert zu bieten ist derzeit nicht möglich; nur aus Athen sind literarische und inschriftliche Quellen ausreichend vorhanden und auch bearbeitet. Aus den übrigen Stadtstaaten sind vorwiegend epigraphische Quellen überliefert. Ein Modell zur Untersuchung der Gerichtsverfahren weiterer Poleis, nach Landschaften geordnet, bietet IPArk – dies fortzusetzen wäre ein Desideratum; (zu den griechischen Papyri des ptolemäischen sowie des römischen Ägypten → 35. Grotkamp; → 36. Sänger). Zum anderen ist hier nicht der Raum gegeben, auch nur für Athen alle Varianten ziviler Verfahren darzustellen; Schiedsverfahren und Mediation sind im Beitrag → 17. Harter-Uibopuu mit behandelt. Der folgende Überblick wird sich deshalb auf die – von heutigen Zivilverfahren wesentlich abweichenden – Grundzüge des gerichtlichen Rechtsstreits zur ‚Rednerzeit‘ beschränken (Ende 5. bis 4. Jahrhundert v. Chr.), ausgehend von der nur hypothetisch zu erschließenden Rechtspflege im archaischen Athen. Besonderes Augenmerk soll dabei auch den dem staatlichen Gerichtsverfahren stets innewohnenden „sozialen Mechanismen“ gewidmet werden, den Streit außergerichtlich beizulegen.
G. Thür (*) Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_19
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G. Thür
Gerichtliche Konfliktregulierung im archaischen Athen Die älteste überhaupt aus Griechenland erhaltene Vorschrift über ein gerichtliches Verfahren ist das „Blutgesetz“ Drakons aus dem Jahr 621/620 v. Chr., fragmentarisch auf Stein überliefert in einer Neuaufzeichnung aus 409/408 (IG I3 104). Materiell regelte es zwar „Strafrecht“ im heutigen Sinn, doch konnte Tötung ausschließlich von den nächsten Angehörigen der Familie des Getöteten mit einer privaten Klage (dike) verfolgt werden; eine Verurteilung legitimierte diese zur Blutrache am Täter. Die Verwandten konnten sich zur Zeit Drakons auch außergerichtlich mit dem Täter auf die Zahlung eines Sühnegeldes einigen, der Täter konnte Asyl in einem Heiligtum suchen und dann für immer in das sichere Ausland fliehen. Man kann die wesentlichen Grundsätze des „Zivilverfahrens“ der Rednerzeit bereits im drakontischen Gesetz erkennen; zu den speziellen Blutgerichtshöfen (→ 22. Lanni), dort auch zur Sonderstellung des Areiopags. Das Verfahren lief in zwei Stufen ab: Staatliche Amtsträger legten das „Prozessprogramm“ fest und überwiesen den Fall an einen aus Privatpersonen zusammengesetzten Gerichtshof, der durch geheime Abstimmung schlicht über die Frage „schuldig“ oder „nicht schuldig“ entschied. Das Prozessprogramm richtete sich nach dem vom Kläger erhobenen Vorwurf. Diese Deutung hängt vom Verständnis des heftig umstrittenen Wortes dikazein in Drakons Text ab. Fasst man es im Sinne der späteren athenischen Quellen als „urteilen“ auf, kommt man zu dem widersprüchlichen Ergebnis, dass sowohl die Amtsträger (basilees, „Könige“) als auch der Gerichtshof (die 51 Epheten) – dieser durch diagignoskein (hier eindeutig: „urteilen“) – in ein und demselben Prozess eine Sachentscheidung über schuldig und nichtschuldig gefällt hätten. Näher liegen dürfte deshalb die aus den außerattischen archaischen Quellen zu erschließende Bedeutung „einen Eid auferlegen“. In den homerischen Epen dürften die Amtsträger (gütlich nicht beizulegende) Konflikte dadurch reguliert haben, dass sie dem Beklagten durch dikazein-Spruch einen „Reinigungseid“ auferlegten; leistete er diesen, war er freigesprochen, ohne dass es eines weiteren Urteils bedurft hätte. Drakon sah dem gegenüber vor, dass die basilees durch dikazein beiden Parteien gegensätzliche Eide auferlegten. Schworen beide, hatten anschließend die Epheten durch Abstimmung darüber zu urteilen (diagignoskein), welcher von beiden „reiner“ geschworen hatte (so noch Antiphon 6, 16; 419/418 v. Chr.; Thür 2015a, S. 163). Damit war eine gewisse Rationalität in ein zutiefst irrationales Verfahren eingedrungen. Der soziale Mechanismus, von einem Prozess abzustehen, lag darin, dass beide Teile ihr und ihrer Nachkommen künftiges Schicksal im Falle eines Meineids – neben der sozialen Diskriminierung – der göttlichen Strafe ausgesetzt sahen; das drängte zu außergerichtlicher Einigung.
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erichtliche Konfliktregulierung in Athen zur Zeit G der Gerichtsredner Für diese Epoche liegen reichlich zeitgenössische Quellen vor. Etwa 150 Jahre philologische und juristische Forschung zu den Gerichtsreden, die Diskussion um die 1891 auf Papyrus gefundene, aus dem Vorlesungsbetrieb des Aristoteles stammende Schrift über den „Staat der Athener“ (Athenaion Politeia: AthPol) und um die wichtigsten Steininschriften aus Athen fasst das Standardwerk von Harrison (1971) zusammen. Bereichert werden diese Erkenntnisse durch archäologische Funde auf der Agora, aus denen Boegehold (1995 mit zahlreichen Abbildungen) auch den Ablauf eines „Gerichtstags“ nach 340 v. Chr. rekonstruiert (Thür 2000). Der folgende Überblick enthält: die einzelnen Gerichtsmagistrate und deren Zuständigkeit in Privatsachen, die zur Entscheidung befugten Gerichtshöfe, den Gang des Verfahrens von der Ladung bis zum „Gerichtstag“, in dem das Urteil fällt, und dessen Vollstreckung. Voraus zu schicken ist, dass sich das Verfahren vor den Dikasterien in privaten Klagen (einer dike) und öffentlichen grundsätzlich nicht unterschied. „Öffentliche“ Prozesse waren von einem privaten Ankläger für den Staat in Form der „Popularanklage“ betriebene Verfahren, zumeist Strafprozesse in Gestalt der graphe. Alle Gerichtsverfahren liefen auf private Initiative hin ab, die zuständigen staatlichen Amtsträger wiesen den Rechtsstreit nach einem Vorverfahren einem Massengerichtshof (dikasterion) zur Abstimmung zu, dem sie zwar vorsaßen, ohne aber selbst an der Entscheidung mitwirken zu dürfen. Staatliche Gewalt wurde in der athenischen Demokratie durch eine Vielzahl von Privatpersonen ausgeübt, die in der Regel für ein Jahr entweder durch Los oder Wahl zu Amtsträgern (generell archontes) bestellt wurden. Zum Inhalt jedes Amtes gehörte die Befugnis, geringe Ordnungsstrafen zu verhängen sowie innerhalb der gegebenen Zuständigkeit Klagen entgegenzunehmen und in ein Dikasterion „einzuführen“. Nach Ablauf ihres Amtsjahres mussten die Funktionäre Rechenschaft ablegen. Die AthPol handelt in den Kap. 43–62 ausführlich von der Zuständigkeit der einzelnen Amtsträger, welche diese entweder kollegial oder einzeln ausübten: beginnend mit dem Rat der Fünfhundert (der boule) über die neun Archonten bis zu den militärischen Kommandanten (strategoi). Den Großteil der privaten Klagen kam vor die höchsten zivilen Amtsträger, die neun Archonten. Aus diesen war der schlicht Archon genannte, der auch dem Jahr seinen Namen gab, für Familien- und Erbrecht zuständig. Vor den Basileus, den Nachfolger des ehrwürdigen Kollegiums der archaischen Zeit, kamen die immer noch privaten Blutprozesse und Streitigkeiten über Sakrales. An den Polemachos gelangten Prozesse, an denen in Athen ansässige Nichtbürger beteiligt waren, darunter erb- und familienrechtliche Sachen entsprechend der Kompetenz des Archon. Die übrigen sechs, die Thesmotheten, erledigten die meisten Popularanklagen, aber auch Privatklagen von und gegen im Seehandel tätige Fremde. Im Einzelnen waren die hier nur skizzierten Kompetenzen historisch gewachsen; man kann sie in ein kein konsistentes System einordnen. Im vierten Jahrhundert amtierten für vermögensrechtliche Streitigkeiten auch die „Vierzig“, je vier aus den zehn Abteilungen der Bürgerschaft (Phylen) bestellte
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Männer; zuständig waren diejenigen aus der Phyle des Beklagten (AthPol 53, 2). Diese Amtsträger übertrugen das obligatorische Vorverfahren (diaita) einem Bürger, der aus den über 59-jährigen ausgelost wurde, die im letzten Jahr ihrer militärischen Dienstpflicht standen. Der „erloste“ Diaitet (wörtlich „Schiedsrichter“) selbst gehörte nicht zu den Amtsträgern; vom „privaten“ Diaiteten unterschied er sich dadurch, dass die Streitparteien sich auf nicht geeinigt hatten. In Athen konnte also eine private Klage nicht bei einem „Gericht“ oder, wie in Rom beim Prätor, bei einem Gerichtsmagistrat mit genereller Zuständigkeit eingebracht werden. Ganz strikt wurde aber so wie im römischen Formularprozess die Zweiteilung des Verfahrens eingehalten. Mit Ausnahme von Bagatellfällen bis zu zehn Drachmen vor den Vierzig war kein Amtsträger zu einer Sachentscheidung legitimiert. Diese oblag in einem zweiten Verfahrensschritt einem Gerichtshof (dikasterion). Auch die Dikasterien waren demokratisch organisiert. Zumindest in historisch fassbarer Zeit gab es keine Sachentscheidung durch Einzelrichter (doch auch die archaischen Amtsträger entschieden vermutlich nicht in der Sache, sondern erlegten nur Eide auf, Thür 2015a). So wie die Gesetzgebung, die direkt in den Händen der Volksversammlung lag – das waren alle männlichen über 20-jährigen Bürger, welche die militärische Ausbildung absolviert hatten – waren dann grundsätzlich alle über 30-jährigen befugt, in den Dikasterien mitzuwirken. Sie mussten sich als dikastes registrieren lassen, erhielten zum Nachweis ihrer Berechtigung ein Täfelchen und leisteten den „Heliasteneid“, unvoreingenommen und den Gesetzen gemäß abzustimmen. (Ob man den dikastes heute als „Richter“ oder „Geschworenen“ bezeichnet, ist irrelevant. Beides erweckt falsche Assoziationen zur heutigen Gerichtsbarkeit; man muss die gewählte Bezeichnung stets in ihrem historischen Kontext verstehen.) Aus diesem Reservoir wurden durch Los die einzelnen Gerichtshöfe zusammengestellt, im 5. Jahrhundert zunächst für das ganze Jahr, doch ab 410/409 und verfeinert nach dem Befund der AthPol ab 340 unmittelbar am Gerichtstag. Um Bestechung zu vermeiden, durfte nämlich keine Prozesspartei ihre Richter vor dem Termin persönlich kennen. Virtuell saß also in einem Dikasterion das ganze Volk zu Gericht, was auch in den Gerichtsreden durch die Anrede „Männer Athens“ zum Ausdruck kommt. Die Größe der Gerichtshöfe richtete sich nach der Art und Bedeutung der zu verhandelnden Prozesse. Popularanklagen wurden von Dikasterien von 501, 1001 oder 1501 Mann entschieden, Privatklagen mit einem vom Kläger geschätzten Streitwert bis zu 1000 Drachmen von 201, darüber von 401 Mann; lediglich in Blutprozessen (dikai phonou) behielt man neben dem Areiopag die Zahl von 51 Epheten bei. Die ungeraden Zahlen sollten Stimmengleichheit verhindern. Die technische und finanzielle Organisation der Gerichtsverhandlungen lag bei den sechs Thesmotheten. Sie hatten dabei zwei Komponenten zu berücksichtigen: Ein Rechtsstreit musste in einem einzigen Termin, bei Tageslicht, abgeschlossen sein; und jeder beteiligte Laienrichter bekam vom Staat für den Gerichtstag einen Sold von drei Obolen, einer halben Drachme, was dem Verdienst eines Tagelöhners entsprach. Hatte ein mit Jurisdiktion betrauter Amtsträger nach abgeschlossenem Vorverfahren Bedarf an einem Dikasterion, meldete er dies bei den Thesmotheten an. Diese setzten – möglichst kostengünstig für den Staat – Termine für die
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„ Hauptverhandlungen“ an und bereiteten die für die verschiedenen Losverfahren und die Abstimmung nötigen technischen Geräte und den Richtersold vor. „Große“ Strafprozesse nahmen einen vollen Gerichtstag ein, der das ganze Jahr über mit der Wasseruhr (Klepshydra) nach dem kürzesten Tageslicht im Winter bemessen wurde. Für alle übrigen Prozesse öffentlicher wie privater Natur war die Redezeit der Parteien nach Bedeutung oder Streitwert des Falles bemessen. Deshalb konnten die Thesmotheten an einem Gerichtstag je nach Tageslicht durch ein und dasselbe Dikasterion mehrere Prozesse zur Abstimmung bringen lassen. Die Konzentration und rationelle Durchführung der athenischen Gerichtsbarkeit ging noch weiter: Auf der Agora wurden die Grundrisse eines Peristylbaues (eines quadratischen Hofes, der von vier nach innen offenen Säulenhallen umgeben war) aus dem Ende des 4. Jahrhundert als Gerichtsgebäude identifiziert, in dem vier Privatprozesse vor 201 Richtern (oder zwei vor 401, bzw. zwei öffentliche vor 501 Richtern) gleichzeitig abgehalten werden konnten (Thür 2000, S. 45, mit Anmerkung 12; die Zahl „4“ in AthPol 67, 1 dürfte sich schon um 340 v. Chr. auf parallel abgehaltene Prozesse beziehen). Rationelle Zeit- und Raumplanung steigerte die Produktivität der athenischen „Gerichtsmaschinerie“ beträchtlich. Gerichtsgebühren in Privatsachen (prytaneia) waren mäßig und fielen erst ab einem Streitwert ab 100 Drachmen an; bis zu einem Streitwert von 1000 Drachmen hatte jede Partei dann drei Drachmen an den Staat zu zahlen, darüber 30. Wer den Prozess verlor, hatte dem Sieger den Betrag zu erstatten. Der erloste Diaitetet erhielt von jeder Partei eine Drachme; wer eine Erstreckung des Termins verlangte, hatte ihm eine weitere Drachme zu bezahlen. In einigen Fällen hatte die Partei, die nicht einmal ein Fünftel der Stimmen erhielt, eine Buße von einem Sechstel des Streiwerts (epobelia) wegen mutwilligen Prozessierens zu zahlen (Thür 2015b, S. 38 f.). Im Gegensatz zu den hoch entwickelten äußeren Vorkehrungen, welche die athenische Demokratie für die Gerichtsbarkeit getroffen hatte, lief das Verfahren vor den Jurisdiktionsträgern und Dikasterien nach geradezu „primitiven“, in archaischer Zeit wurzelnden Grundsätzen ab. In dem schillernden Ausdruck dike (subjektives Recht, Privatklage, aber auch Prozess, Urteil, Strafe) hat sich die Grundbedeutung „vollstreckender Zugriff“ erhalten. Das kommt in der noch zur Rednerzeit üblichen Bezeichnung für die Prozessparteien als diokon (Verfolger) und pheugon (Fliehender) zum Ausdruck (Wolff 1965, S. 2518). Der Privatprozess war aus staatlicher Kontrolle privat auszuübender Eigenmacht entstanden; der Staat stellte auch später nur die Spielregeln für einen fairen Wettkampf (agon) zwischen den Streitparteien auf. Chancengleichheit vor den Massengerichten und Verhinderung von Bestechung waren dabei die obersten, der Demokratie verpflichteten Prinzipien. Das führte aus heutiger Sicht zu eigenartigen Verzerrungen zu Lasten der Wahrheitsfindung. Der Privatprozess begann mit der Ladung des Beklagten. Dies war Privatsache des Klägers. Er nannte dem Gegner vor zwei Ladungszeugen (kleteres) sein Klagebegehren und forderte ihn auf, zu einem bestimmten Termin vor dem zuständigen Amtsträger zu erscheinen. Erschien er nicht, erließ dieser ein Säumnisurteil. Der Kläger reichte beim Jurisdiktionsmagistrat seine Klageschrift (enklema) ein; sah dieser sich zuständig, nahm er auch die Klagebeantwortung des Gegners (antigraphé, „Gegenschrift“) entgegen. Anstatt den Anspruch des Klägers zu bestreiten,
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konnte der Beklagte auch einwenden, die dike sei „nicht einführbar“; das erfolgte durch Vermerk auf der Klageschrift „neben“ dem Text des enklema, weshalb das Vorbringen und der hierauf folgende Prozess darüber paragraphé genannt wurden. Gründe für eine Paragraphe waren z. B. ein in derselben Sache bereits ergangenes Urteil, Vergleich, Zeitablauf oder, in Seehandelssachen, das Fehlen einer Vertragsurkunde über ein Geschäft von oder nach Athen. In diesen Fällen musste der angegangene Magistrat um einen Gerichtstermin ansuchen, in welchem das Dikasterion speziell über die Frage abstimmte, ob er die Klage einem Dikasterion vorlegen dürfe oder nicht (Wolff 1966). In dieser Verhandlung hatte der Beklagte, der als „Kläger“ gegen die Zulässigkeit des Prozesses auftrat, das erste Wort, in den Augen der Athener die rhetorisch bessere Position. Waren die Positionen für den Gerichtstag festgelegt, beraumte der Gerichtsmagistrat zunächst das Vorverfahren an, die anakrisis (wörtlich „Überprüfung“), die sich auch über mehrere Termine erstrecken konnte. Nach dem Prinzip der „Parteienherrschaft“ über das Verfahren überprüfte nicht der Amtsträger das Vorbringen der Streitparteien, sondern die Prozessgegner jeweils den Standpunkt des anderen. Sie mussten einander vor dem vorsitzenden Magistrat Rede und Antwort stehen, wobei dieser die Antwort auf förmliche Fragen „erzwingen“ konnte (Demosthenes 46, 10; Isaios 6, 12). An eine derart dem Gegner erteilte zustimmende Antwort (homologia) war die Partei im Hauptverfahren gebunden (Demosthenes 42, 12; Thür 2013, S. 8). Ebenso setzten die Streitparteien die „förmliche Aufforderung“ (proklesis, etwa zur außergerichtlichen Eidesleistung oder privaten peinlichen Befragung von Sklaven) dazu ein, um den Gegner zu Stellungnahmen zu Beweisthemen zu provozieren. Die Ablehnung der proklesis wurde dann vor dem Dikasterion rhetorisch ausgeschlachtet (Thür 1977). Aufgabe des Vorverfahrens war es auch, dem Gegner sämtliche Schriftstücke zur Kenntnis zu bringen, die man im Hauptverfahren verwenden wollte: z. B. Gesetze, schriftliche Zeugenaussagen, Vertragsurkunden. Dieses „Neuerungsverbot“ beruhte auf dem Prinzip der Fairness: Keine Prozesspartei sollte im Hauptverfahren vom Gegner durch ein unvorhergesehenes Zeugnis oder Schriftstück überrascht werden. Die zu verwendenden Schriftstücke wurden am Schluss des Vorverfahrens für jede Partei getrennt in zwei Tontöpfe (echinoi) gelegt, deren Deckel beschriftet und versiegelt wurden. Die AthPol 53, 2 erwähnt dies zwar nur für das Verfahren vor dem erlosten Diaiteten, doch galt das genauso für die vom Gerichtsmagistrat persönlich durchgeführte Anakrisis (Thür 2007, S. 142, 2008, S. 64); dies bezeugt das Fragment eines 1982 publizierten Deckels eines Echios „aus einer Anakrisis“ (Boegehold 1995, S. 81). Da wir aus den Gerichtsreden fast nur über den Ablauf des Hauptverfahrens vor den Dikasterien informiert sind, wird die Rolle der Vorverhandlungen heute zumeist unterschätzt oder falsch interpretiert. Anakrisis und obligatorische Diaita erfüllten zunächst den Zweck, die Parteienstandpunkte für die Hauptverhandlung abzuklären und zu polarisieren. Denn das strikte Zeitprogramm der Dikasterien mit den en bloc gehaltenen Reden und Gegenreden erlaubte dort keine spontan geführte Diskussion zwischen den Streitparteien; dort wurde vielmehr mit allen vom Redenschreiber (Logografen) ersonnenen Argumenten in einer ‚Redeschlacht‘ gekämpft. Man kann die Verhandlung vor dem Dikasterion als den ‚rhetorischen‘ Verfahrensabschnitt
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bezeichnen. Die im Voraus Wort für Wort konzipierten Plädoyers sowohl des Klägers als auch des Beklagten erforderten präzise Vorbereitung: Kenntnis der Schriftstücke, die der Gegner vorzulegen plant, und Abschätzen seiner künftigen Argumentationslinie. Das gewährleistete das Vorverfahren, das vor einer staatlichen Autoritätsperson in Form der gegenseitigen Befragung ablief und die Parteien dann vor dem Dikasterion auf die bereits eingebrachten Schriftstücke beschränkte. Man kann folglich die Anakrisis bzw. die obligatorische Diaita als den „dialektischen“ Verfahrensabschnitt bezeichnen (Thür 1977, S. 156, 313). In der Ökonomie der staatlichen Konfliktregulierung Athens hatten die Vorverfahren noch einen weiteren wichtigen Zweck: Sie sollten durch direkte Aussprache zwischen den Parteien und vollständiges Aufdecken des Beweismaterials die teuren Prozesse vor den Massengerichten möglichst gering halten. Das besagt schon die Bezeichnung des zur Durchführung des Vorverfahrens erlosten Bürgers als „Diaitet“ (Schiedsrichter), obwohl er im Grunde nichts anderes tat als der Gerichtsmagistrat in der Anakrisis. Dass bei der obligatorischen Diaita die gütliche Einigung im Vordergrund stand, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte des Amtes der „Vierzig“ (Harrison 1971, S. 18). Sie wurden mit Wiederherstellung der Demokratie 404/403 anstelle der von der Oligarchie abgeschafften 30 „Demenrichter“ neu eingeführt, doch tagten bis 401/400 keine Dikasterien in Privatsachen. Um die inzwischen aufgestauten Privatklagen zu bewältigen, stellte man ihnen 400/399 die aus einem weiten Kreis der Bürgerschaft zu erlosenden Diaiteten zur Seite, die 399/398 ihren Dienst begannen (Scafuro 1997, S. 126, 392). Diese sollten nicht nur die Vierzig entlasten, sondern vor allem die teuren Dikasterien. Der erloste Diaitet hatte mit Abschluss des ihm übertragenen Vorverfahrens einen „Spruch“ (apophasis) abzugeben, der wie das Gerichtsurteil wohl nur „schuldig“ oder „nichtschuldig“ gelautet haben dürfte. Die Parteien konnten sich damit beruhigen – wir wissen nicht, wie hoch deren Prozentsatz war, doch jedem von beiden stand es frei, das Verfahren weiterzuführen und vor das Dikasterion zu treten (AthPol 53, 2–3). Darin hat man fälschlich eine „Berufung“ an eine höhere Instanz gesehen. Doch es war nur der normale Fortgang des Prozesses nach einem abgeschlossenen Vorverfahren. In den Gerichtsreden beruft sich niemals eine Prozesspartei auf den Inhalt eines Diaitetenspruchs, der sie im vorliegenden Fall begünstigt habe; er war schlicht unerheblich. Von einem ähnlichen, unverbindlichen ‚Spruch‘ eines Jurisdiktionsträgers nach Abschluss der Anakrisis ist hingegen weder in der AthPol noch sonst wo die Rede, ein der apophasis entsprechender „Ratschlag“ vor Versiegelung der Echinoi scheint freilich nicht ausgeschlossen. Dass sich hierauf in den Gerichtsreden kein Hinweis findet, darf angesichts der vollen Souveränität der Laienrichter über den vorsitzenden Magistrat nicht verwundern. Auch solch ein Spruch wäre unerheblich gewesen. In Athen hatte also das System der staatlichen Konfliktregulierung einen Punkt vorgesehen, an dem die Streitparteien das Risiko, einen Gerichtshof in Anspruch zu nehmen, abschätzen und rechtzeitig davon Abstand nehmen konnten. Die Rechenschaftspflicht der Amtsträger nach Ablauf ihrer Funktion und spezielle Strafklagen gegen unkorrekte Diaiteten sicherten die Chancengleichheit der Streitparteien in den Vorverfahren.
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Nur ihrem Gewissen verantwortlich waren hingegen die Bürger, die in den Dikasterien durch geheime Abstimmung die endgültige Entscheidung der Streitsache trafen. Zur Rednerzeit misstrauten die Athener allerdings dem ‚sozialen Mechanismus‘ des Richtereides, den diese geleistet hatten. Bevor die Plädoyers der Parteien vor einem Dikasterion beginnen konnten, waren deshalb komplizierte Losverfahren nötig (AthPol 63–66), die allerdings zu Beginn eines ‚Gerichtstages‘ routiniert und rasch abgewickelt wurden. Los und Abstimmung durch eine möglichst große Zahl waren für die Athener die Garanten eines demokratischen Verfahrens und damit einer ‚gerechten‘ Entscheidung. Der Ablauf eines Gerichtstages ist in der AthPol 63–69 ausführlich beschrieben (Thür 2000, S. 42–49). Am frühen Morgen versammelten sich die Bürger, die in den Dikasterien mitwirken wollten, geordnet nach den zehn Phylen zur Auslosung. Für jede Phyle war einer der neun Archonten zuständig, für die zehnte der Sekretär der Thesmotheten. Jeder Bürger gab sein Richtertäfelchen ab, das durch den Zusatz „1“ bis „10“ (ausgedrückt durch die Buchstaben Alpha bis Kappa) auf eine weitere Unterteilung innerhalb der Phyle hinwies. Für jede Phyle standen zwei Losmaschinen (Kleroterien) bereit: Steinstelen mit Schlitzen, in welche die Täfelchen eingesteckt wurden, und zwar in jedem Gerät fünf senkrechte Reihen (sie waren über der obersten Schlitzen in einer waagrechten Zeile jeweils mit Alpha bis Epsilon bzw. Zeta bis Kappa beschriftet). Das Los traf jeweils fünf Täfelchen in einer waagrechten Reihe; damit war die gleichmäßige Durchmischung der Richter innerhalb der Phyle gesichert. Den gezogenen Richtern wurden ihre Täfelchen sogleich wieder ausgehändigt, die nicht zum Zuge gekommenen bekamen sie später. Die gleichmäßige Besetzung der (bis zu vier) in einem Termin nebeneinander tagenden Dikasterien mit Richtern aller Phylen wurde ebenfalls durch das Los hergestellt; noch im Bereich seiner Phyle zog der Richter gegen Abgabe des Täfelchens eine Eichel mit der Nummer seines Gerichtslokals und erhielt einen Stab in der Farbe dieses Lokals (die Farben waren den Nummern vorher zugelost worden); sein Täfelchen erhielt er erst am Ende des Tages gemeinsam mit dem Richtersold zurück. Mit Stab und Eichel ausgewiesen erschien der Richter in seinem Gerichtslokal und bekam einen Sitzplatz zugelost; das verhinderte die Bildung von Cliquen, die durch Geschrei für oder gegen eine Prozesspartei Stimmung machen konnten. Parallel dazu wurden den vorsitzenden Amtsträgern dieses Termins die sich füllenden Dikasterien zugelost. Bis zuletzt kannten also keine Prozesspartei und auch kein Jurisdiktionsmagistrat die Personen, die über den Fall abstimmen werden; Einflussnahme durch Bestechung oder Drohung war dadurch ausgeschlossen. Nachdem der Vorsitzende in seinem Gerichtslokal erschienen war, ließ er aus der Schar der Richter zehn Funktionäre zur Bedienung der Wasseruhr, zur Ausgabe, Abgabe und Zählung der Stimmsteine sowie zur Auszahlung des Soldes auslosen; auch diese konnten also vorher nicht korrumpiert werden. – Mit einfachsten technischen Mittel hatten die Athener eine rationelle und in ihrem Sinn demokratisch funktionierende „Gerichtsmaschinerie“ geschaffen. Nach diesen rasch erledigten Vorbereitungen ließ der Vorsitzende von seinem Sekretär den ersten Streitfall aufrufen, die Klageschrift und die Antwort verlesen und erteilte dem Kläger und dann dem Beklagten das Wort. Entsprechend der Zahl
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der Richter war in Privatsachen auch die Redezeit nach dem Streitwert bemessen; einer Partei standen 15–30 Minuten zur Verfügung, für Replik bzw. Duplik weitere 3–9 Minuten. Die Parteien hatten ihre Plädoyers selbst vorzutragen, sie konnten innerhalb ihrer Redezeit von einem oder mehreren Fürsprechern (synegoroi) unterstützt werden (Rubinstein 2000). Niemand durfte einen Sprecher unterbrechen, eine Gerichtsrede war immer auf ihre Gesamtwirkung hin ausgerichtet. Niemals verlas ein Sprecher vor Gericht ein Schriftstück selbst. Auf seine Anweisung entnahm der Sekretär das im Vorverfahren eingereichte Material aus dem Echinos und las es den Richtern vor: Gesetzestexte, Zeugnisse, Vertragsurkunden, Testamente, die beiden letzten in der Regel durch ein Zeugnis bestätigt. Direkte Einsichtnahme in schriftliche Dokumente war einem unter Zeitdruck arbeitenden Massengerichtshof schon technisch nicht möglich. So lange der Sekretär ein Schriftstück verlas, wurde der Auslauf des Wassers aus der Klepshydra angehalten. Die Gefahr, dass eine Partei dadurch ihre Redezeit über Gebühr und auf Kosten des Zeitplans im Gerichtstag verlängerte, bestand nicht. Die Rede hätte dadurch ihre Gesamtwirkung auf das Richter-Publikum verloren. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass das Hauptverfahren vor den athenischen Dikasterien streng genommen gar kein Beweisverfahren kannte. Die von Aristoteles (Rhetorik 1, 5; 1375a24) aufgezählten fünf „kunstlosen Beweismittel“ (Gesetze, Zeugen, Vertragsurkunden, Folteraussagen, Eid) entsprangen keiner rechtlichen Kategorie, sondern waren schlicht „nicht von der Kunst des Redenschreibers geschaffene“, diesem vorgegebene, vom Sekretär zu verlesende Schriftstücke. Nur das Prozesszeugnis (martyria) zählte zu den Beweismitteln im rechtlichen Sinn (Thür 2005, S. 150). Das Zeugnis war erstaunlich primitiv. Es bestand nämlich nur in einem einzigen Satz, den die Partei dem Zeugen in einer Urkunde schriftlich vorformuliert hatte und den dieser durch bloße Anwesenheit vor Gericht bestätigte. Der Zeuge machte also gar keine ‚Aussage‘; weder die Gegenpartei, noch der Vorsitzende oder einer der Richter durfte ihm eine Frage stellen. Nur der Gegner hatte nach dem Prozess die Möglichkeit, den Zeugen wegen Falschaussage (pseudomartyria) zu verklagen. Diese Absicht hatte er vor der Abstimmung der Richter anzukündigen. Das war neben dem persönlichen Auftreten des Zeugen und den Worten der Parteien für die Richter die einzige Möglichkeit, dessen Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Die Richter bildeten sich ihre Meinung also hauptsächlich aus den Reden der Parteien. Man wundert sich heute, warum diese so viel juristisch ‚Irrelevantes‘ enthalten (Lanni 2005), obwohl im Richtereid zu schwören war: „… ich werde abstimmen, worüber die Klage ist“ (Demosthenes 24, 151) und die Parteien vor den Richtern nach Aufruf der Sache schworen, nur „zur Sache selbst zu sprechen“ (AthPol 67, 1). Die Athener dürften Relevanz nicht nach rechtlichen, sondern nach formalen Kriterien beurteilt haben: Nur konkrete Verfehlungen, die der Kläger – nach dem Gebot der Fairness – bereits in seine Klageschrift mit aufgenommen hatte, gehörten „zur Sache“ (zum pragma), auch wenn sie mit der erhobenen Klage nichts zu tun hatten. Zur Beurteilung stand nämlich nicht nur der Rechtsfall, sondern die gesamte Persönlichkeit sowohl des Klägers als auch des Beklagten. Das Hervorheben der eigenen Verdienste um die Polis oder derartiger Verfehlungen des Gegners musste
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jedoch vom Sprecher nicht eigens angekündigt werden. Rechtliche Sanktionen für ein Vorbringen „außerhalb der Sache“ gab es nicht, doch musste der Sprecher den „kollektiven Aufschrei“ (thorybos) der Richter fürchten (Thür 2007, S. 146–148, 2008, S. 68–72). Auch ein „Urteilsspruch“ im heutigen Sinn war dem Prozess vor den athenischen Dikasterien fremd. Unmittelbar nach den Reden der Streitparteien hatten die Richter in Ruhe – dafür hatte der vorsitzende Amtsträger zu sorgen – zur Stimmabgabe zu schreiten. Zu diesem Zweck erhielt jeder Richter zwei runde bronzene Stimmsteine (psephoi), die in der Mitte eine Achse hatten. Eine Achse war durchbohrt und zählte für den Schuldspruch, die andere war voll und zählte für einen Freispruch. Der Richter hielt beide Bronzescheiben zwischen Daumen und Zeigefinger, so dass niemand die Bohrung sehen, er sie aber spüren konnte. Er warf den zählenden Stimmstein in die dafür vorgesehene bronzene Urne, den anderen in eine hölzerne. Damit war die geheime Stimmabgabe garantiert. Eine Beratung innerhalb des Gremiums war unter diesen Umständen nicht vorgesehen. Ebenso wenig wurde ein Urteilsspruch formuliert oder gar begründet. Dem sozialen Mechanismus des Massengerichts entsprechend wurde der Klageantrag unmittelbar mit dem Ergebnis der Abstimmung entweder bestätigt oder verworfen. Das „Urteil“ bestand ausschließlich in der Verkündung des Abstimmungsergebnisses (AthPol 65, 1). Wenn die Höhe der Verurteilung in Geld zu schätzen war, wurde zwischen dem vom Kläger und dem vom Beklagten geschätzten Betrag in einem weiteren Durchgang abgestimmt. Das von einem Dikasterion gefällte Urteil war endgültig, es gab keine Berufung an eine höhere Instanz. Lediglich durch eine Klage wegen falschen Zeugnisses konnte die unterlegene Partei den dadurch erlittenen finanziellen Nachteil zu Lasten des Zeugen ausgleichen. Die Vollstreckung eines im Privatprozess erstrittenen Urteils erfolgte, soweit es auf Geldleistung ging, durch private Pfändung von Vermögensstücken des Schuldners.
2 Kernprobleme der Forschung Bereits im bisher gelieferten deskriptiven Überblick ist eine Reihe in der Forschung diskutierter Kernprobleme angesprochen. Die dort zitierte Literatur ist als Hinweis auf die Quellen und deren oft kontroverse, oben nicht voll dokumentierte Auslegung heranzuziehen. Abschließend soll nur noch zu einer einzigen Frage Stellung genommen werden: zur Rationalität des Streitverfahrens vor den athenischen Dikasterien und, damit verbunden, zur Mentalität der Streitparteien. Es verwundert, dass die Athener zwar mit höchster Akribie Vorkehrungen für die Chancengleichheit der Parteien und die Objektivität der Entscheidungsträger getroffen haben, aber den Dikasterien praktisch keine Mittel in die Hand gaben, um die materielle Wahrheit zu finden. Kernproblem ist der Übergang vom ‚mündlichen‘ zum oben beschriebenen ‚schriftlichen‘ Zeugnis. Aus den Wendungen, mit denen die Sprecher die Prozesszeugen aufriefen, geht hervor, dass diese bis in die 70er-Jahre des vierten Jahrhun-
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derts das Zeugnis mündlich ablegten, danach aber, wie oben beschrieben, das von den Parteien vorformulierte Schriftstück nur durch ihre Anwesenheit vor dem Dikasterion bestätigten. Daraus wird geschlossen, dass der Zeuge ursprünglich den Sachverhalt in freier Rede vorgetragen habe (etwa Rubinstein 2000, S. 72); darauf dass er befragt worden wäre, gibt es ohnedies keine Hinweise. Betrachtet man auch die Wendungen, mit denen die Sprecher den Inhalt der Zeugnisse referieren, kommt man jedoch zu dem Ergebnis, dass in beiden Epochen dieselben formelhaften Worte gebraucht wurden: Der Zeuge bestätigt meistens, eine Tatsache „zu wissen“. Dieses formelhafte „Wissen“ leitet sowohl die Themen von Eiden als auch das der peinlichen Befragung von Sklaven ein, die dieses lediglich entweder bestätigen oder standhaft verneinen konnten. Auch der Eid, mit welchem ein zum Prozesszeugnis Aufgeforderter (ohne rechtliche Sanktion) sein Erscheinen verweigern konnte (die exomosia) wird mit der Formel „nicht zu wissen“ eingeleitet. Im vierten Jahrhundert hat sich also nur das Medium der Präsentation, nicht aber der formelhafte Inhalt der Aussage geändert (Thür 2005, S. 154 f.). Daraus ist zu schließen, dass das Prozesszeugnis ein vor dem Dikasterion institutionell nicht zu hinterfragender, säkularisierter Eid war, der allerdings die geheim abstimmenden Richter nicht band. Erst in einem weiteren Pseudomartyrie-Prozess folgte eine verspätete gerichtliche Würdigung des Zeugnisses, allerdings ohne Auswirkung auf den Ausgangsfall. Es gehört zu den Topoi der Gerichtsrede, dass der Sprecher vor Erhebung der Klage alles unternommen habe, um sich mit dem Gegner privat zu einigen (Scafuro 1997, S. 69–75). Das Auftreten vor Gericht und das über das Prozessthema hinausgehende, erbarmungslose Waschen aller ‚Schmutzwäsche‘ in der Öffentlichkeit war sozial missbilligt. Andererseits wurden Prozesse geradezu in der Absicht geführt, den Gegner, besonders einen politischen, sozial zu diskreditieren. Nicht die Entscheidung eines einzelnen Rechtsstreits, sondern der stete, vor den einfachen zu Gericht sitzenden Mitbürgern ausgetragene Kampf unter der politischen Elite um Egalität oder Hierarchie gehörte zu den Hintergründen der athenischen Gerichtsbarkeit (Cohen 1995). Unter diesen Umständen trat auch das Ziel der Wahrheitsfindung hinter dem der Fairness zurück.
3 Bibliographie Boegehold AL (1995) The lawcourts at Athens. Sites, buildings, equipments, procedure, and testimonia (The Athenian Agora XXVIII). The American School of Classical Studies at Athens, Princeton Cohen D (1995) Law, violence, and community in classical Athens. Cambridge University Press, Cambridge Harrison ARW (1971) The law of Athens II. Procedure. Clarendon Press, Oxford IPArk siehe Thür G, Taeuber H (1994) Lanni A (2005) Relevance in Athenian courts. In: Gagarin M, Cohen D (Hrsg) The Cambridge companion to ancient Greek law. Cambridge University Press, Cambridge, S 112–129 Rubinstein L (2000) Litigation and cooperation. Supporting speakers in the courts of classical Athens. Steiner, Stuttgart
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Kapitel 20
Entstehung von Konfliktlösungsinstitutionen in Rom Ulrich Manthe
1 Überblick Einleitung: Vom Neolithikum bis zu den Zwölftafeln Entwicklung des Rechts im Neolithikum Bei den Jägern und Sammlern der Alt- und Mittelsteinzeit verdarb die Nahrung schnell; es war kaum möglich, Vorräte anzusammeln und Reichtum anzuhäufen oder zu verteilen. Wo Reichtum fehlte, gab es keinen großen Bedarf an Konfliktlösung. Vor über 10.000 Jahren entdeckte man im Fruchtbaren Halbmond, dass Tiere nicht nur gejagt, sondern auch gefangen und gezüchtet werden und als sich vermehrendes Fleischreservoir dienen konnten, und dass Früchte nicht nur gesammelt, sondern auch gesät werden konnten, sodass das Feld in regelmäßigen Zeiträumen neue Früchte lieferte. Dieser Schritt zu Viehzucht und Ackerbau und später zu Gebrauchskeramik (Parzinger 2015, S. 144, 155, 157), die „neolithische Revolution“, hat die menschliche Kultur mehr als jemals zuvor verändert (Parzinger 2015, S. 154) und schuf die Voraussetzungen für die Akkumulation der Güter und damit für die Entstehung des Privateigentums: Wer mehr Vieh oder Boden besaß, war reicher als die anderen und verstand seinen Besitz als ein Zugriffsrecht unter Ausschluss der anderen – als Eigentum; neolithische Funde weisen bereits Markierungen auf, die man als Eigentumsmarken deuten kann (Parzinger 2015, S. 144, 159 f.). Ein Reicher konnte seinen Produktionsüberschuss austauschen und damit sein Vermögen vermehren. Mit dem Aufkommen von Reichtum entwickelte sich der Streit um Güter als anthropologische Grundkonstante. Konflikte konnten zu Gewalt führen. Die erste nachweisbare kriegerische Auseinandersetzung in Europa ist für die Wende vom 6. bis 5. Jahrtausend v. Chr. bezeugt (Parzinger 2015, S. 249). Es entstanden U. Manthe Universität Passau, Passau, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_20
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aber auch die ersten Methoden der friedlichen privatrechtlichen Konfliktlösung durch Streitschlichtungsverfahren. Rechtsgutverletzungen wurden gerächt, später aber bestraft oder gegenüber dem Verletzten gebüßt. Die Stämme wurden so groß, dass sie nicht nur geführt, sondern auch verwaltet werden mussten; erste Großsiedlungen, die eine Verwaltungsstruktur voraussetzen, gab es in der Mitte des 8. Jahrtausends v. Chr. (Parzinger 2015, S. 140), und so entstanden politische Institutionen (Parzinger 2015, S. 161, 720 f.) und öffentliches Recht. Die Einhaltung des tradierten Regelsystems zur Konfliktlösung, die bisher auf Herkommen und freiwilliger Übung beruhte, wurde jetzt von einer Autorität garantiert, sodass jeder sich auf die Regeln verlassen konnte; das war „Recht“ (vgl. Wesel 1985, S. 52–68). Die ältesten Schriftdenkmäler setzen ein vor der Erfindung der Schrift entwickeltes Rechtssystem voraus. Über die archäologischen Funde hinaus gibt die „linguistische Archäologie“ Hinweise auf rechtliche Institutionen der vorgeschichtlichen Zeit. Wörter, die mehreren weit auseinanderliegenden indoeuropäischen Sprachen gemeinsam sind, lassen darauf schließen, dass nicht nur die Wörter, sondern auch die von ihnen bezeichneten Begriffe schon in der Zeit der noch ungetrennten indoeuropäischen Stämme etwa im 4. Jahrtausend v. Chr., also lange vor der Besiedlung Italiens, vorhanden waren. So gibt es z. B. gemeinsame Wörter für Begründung einer Verpflichtung, Gewährung eines Darlehens, Kaufpreis, Schadensersatz u. a.1 Die Zwölftafeln Aus den Überlieferungen der Historiker kann ein sehr bruchstückhaftes Bild der Rechtszustände der archaischen Latiner in Italien gewonnen werden; die charakteristischen Institute des römischen Rechts (legis actio, mancipatio, stipulatio, siehe unten) existierten schon lange vor der Zwölftafelgesetzgebung (um 450 v. Chr.). Rom trat mit der Königszeit (um 753–510 v. Chr.) in die, wenn auch erst nur legendär bezeugte, Geschichte ein. Der letzte König wurde von den Patriziern, den Angehörigen der Adelsgeschlechter, vertrieben. Ein halbes Jahrhundert später begann die Vorherrschaft der Patrizier zu wanken; die minderberechtigten Plebejer forderten in den Ständekämpfen nicht nur Anteil an der politischen Macht, sondern auch Rechtssicherheit. Schließlich entsandte der Senat drei Männer nach Griechenland (Großgriechenland in Süditalien?), die die dortigen Gesetze erkunden sollten. Nach ihrer Rückkehr wurden zehn Männer mit der Gesetzgebung beauftragt. Sie erließen 450 v. Chr. ein Gesetz, das in zehn hölzernen Tafeln auf dem Forum aufgestellt wurde. Lat. spondēre „feierlich geloben“, griech. spendein „Trankopfer darbringen“, hethit. sipanti „er bringt Trankopfer dar“. – Lat. crēdere „vertrauen, darleihen“, altind. śrad-dadhāti „er vertraut“, altir. cretim „ich vertraue“ lassen eine indoeurop. Zusammensetzung *kerd-dhē- „kerd setzen“ mit einem Element indoeurop. *kerd- rekonstruieren, das kaum (wie oft angenommen wird) etwas mit Herz (lat. cord-) zu tun hat, sondern etwas Gläubigertypisches bezeichnet (Benveniste 1993, S. 141), vielleicht: „sich ein Merkzeichen in einen Holzstab eingravieren“? Man kann an altir. cerd „Handwerkskunst“, griech. kerdos „Gewinn“ denken. – Lat. vēnum, altind. vasna-, griech. ōnos „Kaufpreis“. – Lat. sarcīre, hethit. sarnik- „entschädigen“.
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Daraufhin wurden neue Zehnmänner gewählt, die 449 weitere zwei Tafeln hinzufügten. Die Zwölftafeln wurden beim Galliersturm auf das Kapitol (387) physisch vernichtet, aber bald darauf in Bronze wiederhergestellt; während der Bürgerkriege des 1. Jahrhunderts v. Chr. gingen die Tafeln endgültig verloren.2 Als ehrwürdigstes Gesetz Roms galten die Zwölftafeln bis zum Inkrafttreten der Digesten (533 n. Chr.) grundsätzlich weiter, wurden aber in ihren 1000 Jahren zum größten Teil durch neuere Rechtsetzung überholt. Etwa ein Drittel ihres Inhaltes ist aus juristischen und historischen Werken bekannt, die ein recht genaues Bild von dieser Gesetzgebung geben (Wieacker 1988, § 14; Schiemann 2001; Waldstein und Rainer 2005, § 10). Die Zwölftafeln reformierten das archaische Recht, indem sie zwar das altererbte Recht im Grunde unangetastet ließen, aber durch vorsichtige Aufnahme neuer und noch nicht allgemein anerkannter Rechtsübungen die Anpassung an die veränderten sozio-ökonomischen Umstände ermöglichten. Soweit es sich aus den überlieferten Fragmenten erkennen lässt, verfuhren die Zehnmänner so, dass sie die alten Rechts institute gar nicht aufzeichneten, sondern nur als bestehend anerkannten, z. B. die Manzipation (siehe unten), neue Rechtsinstitute aber mit gesetzlich verordneter Wirkkraft versahen, z. B. das Testament in Form einer Manzipation. Sie schufen Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit für alle Bürger; jetzt konnte jedermann sich durch Einblick in die öffentlich ausgestellten Tafeln informieren und sich auf das nun für alle gleiche Recht berufen. Vor allem schufen sie Rechtsfrieden durch Ausarbeitung einer bis zur Reform unter Augustus (17 v. Chr.) geltenden Zivilprozessordnung. Eine solche Prozessordnung hatte für die Fortentwicklung des römischen Rechts schon deshalb eine besondere Bedeutung, weil die römischen Juristen, anders als die modernen, nicht in materiellen Anspruchsgrundlagen, sondern in Klagmöglichkeiten dachten; was nicht einklagbar war (z. B. Verpflichtungen aus dem Kaufvertrag, siehe unten), wurde nicht als Anspruch wahrgenommen.
Konfliktlösungen in der Königszeit und durch die Zwölftafeln Strafrecht der Königszeit Die Überlieferung schreibt König Numa Pompilius (um 716–673 v. Chr.) ein Gesetz zu, welches zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung unterschied: „Wer vorsätzlich und wissentlich einen freien Menschen dem Tod gegeben hat, soll paricidas sein. Wenn jemand unvorsichtig einen Menschen getötet hat, soll er für das Leben des Getöteten dessen Verwandten in der Versammlung einen Widder opfern.“ (Lex Numae 16 u. 17) Paricīdas ist wahrscheinlich aus par „gleich“ (urspr. „Verwandter“) und caedere „erschlagen“ zusammengesetzt; paricidas ist dann der Töter eines Gleichgestellten, eines Angehörigen derselben Sippe. Archaische Gesellschaften Vielleicht durch einen Blitzschlag 63 v. Chr., Cicero, In Catilinam 3,19; Iulius Obsequens, Prodigiorum liber 61. 2
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kennen kein staatliches Strafrecht, sondern nur Blutrache, und die Sippenmitglieder des Getöteten müssen den Totschläger oder eines seiner Sippenmitglieder töten. Gehört aber der Getötete derselben Sippe wie der Totschläger an, so ist Blutrache nicht möglich, denn die Sippe darf ihr eigenes Blut nicht vergießen; die einzige mögliche Sanktion ist Ausstoßung aus der Sippe und damit aus dem Volk. Der Geächtete ist friedlos, sacer „der menschlichen Gemeinschaft entzogen“ (positiv: „den Göttern heilig“, negativ: „verflucht, geächtet“); jetzt gehört er dem Volk nicht mehr an und darf getötet werden. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des paricidas-Gesetzes deutlich: Wer einen anderen vorsätzlich getötet hatte, sollte jetzt – nur – die Strafe des Verwandtentöters, nämlich Ächtung, erhalten. Damit wurde Blutrache schlechthin verboten (Wieacker 1988, S. 246). Fahrlässige Täter konnten die Ächtung durch ein Sühneopfer abwenden. Natürlich ist die Überlieferung, durch einen Akt der Gesetzgebung sei sowohl das Verbot der Blutrache als auch die Unterscheidung der Schuldstufen von heute auf morgen in Kraft getreten, anachronistisch – wir dürfen uns aber vorstellen, dass der allmähliche rechtszivilisatorische Fortschritt im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. stattgefunden hat. Praktisches Strafprozessrecht zeigt der Fall des Horatius (Livius 1,24–26). Unter König Tullus Hostilius (um 673–641) vereinbarte man im Krieg zwischen Römern und Albanern, dass je drei Drillinge, die römischen Horatier und die albanischen Curiatier, gegeneinander kämpfen sollten. Ein Horatius siegte. Seine Schwester, die Verlobte eines Curiatius, wehklagte; Horatius erschlug sie im Zorn. Der König (den der Historiker Livius ohne Weiteres als den Gerichtsherrn ansah) überließ die Entscheidung der Volksversammlung; diese ernannte zwei Männer, die über Horatius wegen perduellio „staatsfeindlicher Gewalttat“ richten sollten. Sie sprachen ihn schuldig, und er rief die Volksversammlung an (provocatio ad populum), welche ihn freisprach. Livius 1,26,2 zitierte wörtlich ein (wohl erfundenes) Gesetz, welches das Urteil über perduellio den Zweimännern zuwies und die Berufung an das Volk ausdrücklich gestattete. In der Republik wurde die provocatio ad populum zum Schutz des Bürgers gegen den Staat institutionalisiert (Waldstein und Rainer 2005, § 12,3). Spruchformelklage mit Prozesseinsatz Das älteste Zivilverfahren war ein Ritual, in welchem der Eigentümer seine Sache von einem nichtberechtigten Besitzer herausverlangte (Kaser und Hackl 1996, § 14; Manthe 2016, S. 15–19). Der Kläger behauptete am Gerichtsort sein Eigentum an der streitigen Sache, z. B. an einem Sklaven; er berührte den Sklaven mit der Hand und einem Stab und sprach zugleich: „Ich behaupte, dass dieser Mensch nach dem Recht der römischen Bürger mir gehört; gemäß seiner Rechtssituation (causa), wie ich gesagt habe, sieh her, habe ich ihm den Stab (vindicta) angelegt.“ Der Beklagte tat und sprach dasselbe. Nun befahl der Richter beiden Parteien, den Sklaven loszulassen. Kläger: „Ich fordere dich auf zu sagen, aufgrund welcher causa du dein Eigentum behauptet hast (vindicaveris).“ Beklagter: „Ich habe Recht ausgeübt, so wie ich den Stab angelegt habe.“ Kläger: „Da du widerrechtlich vindiziert hast, fordere
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ich dich mit einem Geldeinsatz von 500 (Kupfer-)As heraus.“ Beklagter: „Auch ich fordere dich mit einem Geldeinsatz von 500 As heraus.“ Nach der Beweisaufnahme sprach der Richter einem von ihnen die Streitsache zu. Die alte Rechtssprache bezeichnete das Ritual der Eigentumsbehauptung mit dem Wort vindicare (im nichtjuristischen Latein „rächen“) und den dabei verwendeten Stab als vindicta. Das Grundwort ist vindex „Prozessintervenient“; man leitet dieses Wort meist von vim dicere „Gewalt ansagen“ ab (vgl. Kaser und Hackl 1996, § 14 III 2 a); dahinter steht die suggestive Vorstellung, die Stabanlegung symbolisiere einen Kampf und das Symbol habe ein früheres Gottesurteil ersetzt. Die Erklärung ist mit der lateinischen Grammatik unvereinbar; diese verlangt, dass das erste Glied eines aus Substantiv (vis „Gewalt“) und Verbum (dicere „sagen“) zusammengesetzten Substantivs im Wortstamm ohne jede Endung erscheint: artifex „Künstler“ (ars „Kunst“ und facere „machen“) hat als erstes Glied den Stamm arti- und nicht den Akkusativ artem „die Kunst“, und daher hätte (wenn das erste Glied vis „Gewalt“ wäre) ein „Gewaltansager“ nur *vi-dex heißen können. Mithin muss vinzu einem Wort gehören, dessen Stamm ein n enthält, ein altlat. Wort *vini-s (aus indoeurop. *weni-s). Altlat. *vini-s ist zwar nicht überliefert; aber andere indoeuropäische Sprachen kennen das Wort: altir. fine „Sippe“, althochd. wini „Ehemann, Freund“ (erhalten in Winfried u. a.). Diese Wörter erweisen ein westindoeurop. Wort *weni-s „Sippengenosse, Nahestehender“. Vindex bedeutet ursprünglich: „der, der etwas als zur Sippe oder Familie gehörig bezeichnet“. Die Etymologie wird durch die juristische Analyse des Rituals bestätigt. Ein auch nur symbolischer Zweikampf ist gar nicht zu erkennen; jeder erhob den Stab gerade nicht gegen den Gegner, sondern legte ihn dem streitigen Sklaven an und zeigte damit, dass er als Eigentümer den Sklaven schlagen dürfe. Die Gestik der Stabanlegung und die Rhetorik des „ich behaupte“ hatten dieselbe Bedeutung: „Die streitige Sache gehört mir!“ Das Schlüsselwort unseres Textes vindicare „vindizieren“ bedeutete also zur Zeit der Schöpfung des Rituals „auf das Eigentumsrecht der Sippe hinweisen, als Eigentum beanspruchen“. Am Ende des Rituals forderten die Parteien sich gegenseitig zum sacramentum „Eid mit Selbstverfluchung“ auf: „Wenn meine Behauptung nicht wahr ist, soll ich sacer (siehe oben) sein.“ Man konnte sich von der drohenden Ächtung durch ein Sühneopfer befreien. Daher hinterlegte jede Partei schon vor dem Prozess eine große Summe (500 As waren in archaischer Zeit über 100 kg Kupfer) in der Priesterkasse, mit welcher für den Fall des Prozessverlustes ein Sühneopfer bezahlt werden konnte; der Prozesssieger erhielt seine Summe zurück. Das Wort sacramentum bezeichnete also ursprünglich die unter der Bedingung der Niederlage stehende Selbstverfluchung, später den Preis für das Sühneopfer, in der republikanischen Zeit nur noch den Prozesseinsatz, der jetzt ohne Selbstverfluchung geleistet wurde (Wieacker 1988, S. 256). Der Richter sprach nach der Beweisaufnahme die streitige Sache einer der beiden Parteien zu; wahrscheinlich urteilte er ursprünglich nur über die iniuria „Widerrechtlichkeit“ des Schlages und bejahte das Eigentum des Gewinners nur implizit (Wolf 1985, S. 28; Wieacker 1988, S. 248 Fn. 58); als das Ritual geschaffen wurde (9. oder 8. Jahrhundert v. Chr.?), war der Eigentumsbegriff als Abstraktion des be-
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rechtigten Eigenbesitzes wohl noch nicht entwickelt. Das archaische Verfahren trug den Namen legis actio sacramento in rem „Spruchformelklage auf eine Sache mit Prozesseinsatz“. Ähnlich verlief das Verfahren der legis actio sacramento in personam „Spruchformelklage gegen einen Menschen mit Prozesseinsatz“. Damit wurden Forderungen aus Stipulation3 und unerlaubter Handlung eingeklagt (Kaser und Hackl 1996, § 15). Aus einer sehr frühen Form der legis actio sacramento in rem entwickelte sich wohl schon vor der Königszeit das Ritual der mancipatio, mit der das Recht am bäuerlichen Grundstück und an den Mitgliedern der familia „Hausgenossenschaft“, zu der Personen, Rinder, Pferde, Maultiere und Esel gehörten, übertragen werden konnten. Der Erwerber sprach vor fünf Zeugen nur den ersten Satz der Vindikation mit der Eigentumsbehauptung, worauf der Veräußerer schwieg; danach wurde der aus Kupferstücken bestehende Kaufpreis abgewogen. Die älteste Form der Manzipation ist wahrscheinlich aus einem Scheinprozess entstanden, der geführt wurde, um das Recht an dem eigentlich unveräußerlichen bäuerlichen Grundvermögen zu übertragen: Der Erwerber tat so, als klage er sein Eigentum heraus, und der Veräußerer erkannte die angebliche Forderung durch Schweigen an. Der Prätor als Gerichtsbeamter Nach dem Sturz der Könige (510 v. Chr.) scheint die Macht zunächst in die Hand eines Dreierkollegiums gelegt worden zu sein, an deren Spitze ein Prätor (*prae- itor „Vorhergeher“) stand, dem zwei Konsuln als Räte (consulere „beraten“) zur Seite standen. Seit 367 v. Chr. waren die Träger der höchsten Staatsmacht (imperium) die beiden Konsuln und ein Prätor; das imperium des Prätors beschränkte sich in der Stadt auf die Rechtsprechung, nur in Abwesenheit beider Konsuln übte der Prätor volles imperium aus. Der Stil der archaischen Rechtsgeschäfte bis zur legis actio per condictionem (siehe unten) wurde in Sprache und Gestik vom Stil der auguralen Sakralhandlungen geprägt; in der Zeit nach den Zwölftafeln übernahmen die pontifices die Leitung des Verfahrens (Manthe 1993). Ladung Die Zwölftafeln regelten den Prozess, der mit der Ladung eines Schuldners vor Gericht (in ius vocatio) begann. Der Gläubiger lud den Schuldner, wo immer er ihn antraf, vor Gericht; nur eine Ladung innerhalb des Hauses des Schuldners war nicht erlaubt. Folgte der Schuldner nicht unverzüglich, so durfte er erst nach Zeugenaufruf ergriffen werden; wenn der Schuldner zu fliehen versuchte, durfte ihn der Gläubiger durch manus iniectio „Handanlegung“ verhaften und vor Gericht führen. Mit der manus iniectio wurde die sofortige Zwangsvollstreckung eingeleitet (siehe Die Stipulation begründete eine abstrakte Schuld; auf die Frage des Gläubigers: „Versprichst mir, 100 zu leisten?“ antwortete der Schuldner: „Ich verspreche“. 3
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unten); es empfahl sich daher für den Schuldner, der Ladung zu folgen. Die strengen Bestimmungen zur Ladung stellten sicher, dass ein Gläubiger sich darauf verlassen konnte, dass sein Schuldner am Prozess mitwirkte. Selbsthilfe war nur noch gegen einen sich weigernden Schuldner gestattet. Dies diente dem Rechtsfrieden. Zwei weitere Spruchformelklagen Das Verfahren der legis actio sacramento (siehe oben) hatte schon lange vor den Zwölftafeln existiert und wurde von Anfang bis Ende vor dem Prätor durchgeführt. Mit der legis actio per iudicis arbitrive postulationem „Spruchformelklage durch Anforderung eines Richters oder Gangrichters“ (Kaser und Hackl 1996, § 15) schufen die Zwölftafeln ein neues Klagverfahren, welches den Prozess in zwei Schritte teilte – nämlich in iure „vor Gericht“, d. h. vor dem Prätor (der Prätor sprach ius „Recht“, und wo der Prätor war, war ius „die Gerichtsstätte“), und apud iudicem „vor dem Richter“ –, dafür aber auf das sacramentum verzichtete. Diese legis actio wurde für die Auseinandersetzung einer Erbschaft oder von Miteigentum vor dem Prätor vollzogen, der einen arbiter „Gangrichter“ (altlat. ad-baetere „hingehen“) zur Besichtigung des zu teilenden Vermögens und zur Auseinandersetzung berief. Da es weniger um kontradiktorische Behauptungen, sondern um eine oft einverständliche Auseinandersetzung ging, bedurfte es keines Prozesseinsatzes; beim Ausgang des Verfahrens gab es keinen Verlierer. Dasselbe Verfahren galt auch für Klagen aus Stipulationen (siehe oben), mit denen die Vornahme einer Handlung gefordert wurde („versprichst du, dich zu stellen?“), da der eingesetzte Richter (hier iudex „Recht-Sprecher“ genannt) eine Abschätzung der versprochenen Handlung in Geldwert vornehmen musste. Ferner wurde die legis actio per iudicis arbitrive postulationem auch für Stipulationen auf Zahlung einer zahlenmäßig bestimmten Geldsumme zugelassen. Die für eine Klage aus Stipulation eigentlich zuständige legis actio sacramento in personam (mit Prozesseinsatz, siehe oben) lebte in geringem Umfang bis etwa 300 n. Chr. weiter (Kaser und Hackl 1996, S. 87 zu Fn. 4–6). Dass auch bei den streitigen Stipulationsklagen auf den Prozesseinsatz verzichtet wurde, mag eine Reform zu Gunsten sozial Schwacher bedeuten (Kaser und Hackl 1996, S. 108). Die Zweiteilung des Verfahrens ist bis etwa 300 n. Chr. in allen weiteren Verfahren durchgeführt worden und zum kennzeichnenden Merkmal des römischen Zivilprozesses geworden. Sie gewährleistete, dass der nur für ein Jahr gewählte Prätor entlastet wurde und an seiner Stelle eine sachkundige Privatperson urteilte (Wieacker 1988, S. 259). Um 300 v. Chr. wurde zusätzlich eine legis aactio per condictionem für Stipulationsforderungen eingeführt, bei der dem Schuldner 30 Tage Zeit zur Zahlung „angesagt“ (condicere) wurden, bevor die Verhandlung vor dem iudex stattfand (Kaser und Hackl 1996, § 16).
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Mit den drei genannten Legisaktionen wurde festgestellt, ob dem Gläubiger der behauptete Anspruch gegen den Schuldner zustand. Die Beweise für Anspruch oder Einrede wurden bei der Sakramentsklage vom Prätor (der in späterer Zeit hierfür Geschworene einsetzte), sonst vom iudex erhoben; die Zwölftafeln sahen Plädoyers der Parteien vor. Nur wenige Ansprüche waren mit einer der drei Legisaktionen einklagbar. Dass etwa ein Kaufpreis- oder Lohnanspruch nicht mit einer legis actio eingeklagt werden konnten, spielte in der Praxis keine große Rolle, da man alle noch offenen Forderungen durch Stipulation sichern konnte, für die es Legisaktionen gab; damit waren alle schuldrechtlichen Forderungen einklagbar. Vollstreckung Zur Vollstreckung in die Person des Schuldners diente die legis actio per manus iniectionem „Spruchformelklage durch Handanlegung“ (Kaser und Hackl 1996, § 20); mit ihr wurde der vor Gericht anerkennende oder verurteilte Schuldner vor dem Prätor rituell verhaftet. Die manus iniectio war erst 30 Tage nach dem Urteilsspruch zulässig; so lange konnte der Schuldner noch das Urteil erfüllen. Nach der Handanlegung durfte der Gläubiger den Schuldner in Privathaft nehmen und mit Strick oder Kette fesseln. Innerhalb von 60 Tagen musste er ihn dreimal auf dem Markt für die Schuldsumme ausbieten; hatte dies keinen Erfolg, so konnte er ihn töten oder im Ausland (trans Tiberim „jenseits des Tibers“, in Trastevere, das im 5. Jahrhundert noch nicht zur Stadt gehörte) als Sklaven verkaufen. Dieses Personalvollstreckungsverfahren könnte schon vor den Zwölftafeln existiert haben, denn die Zwölftafeln milderten das Verfahren ab, indem sie den Gläubiger verpflichteten, dem verhafteten Schuldner ein Pfund Getreide am Tage zu gewähren und das Höchstgewicht der Kette auf 15 Pfund beschränkten (str.). Auch bei offenkundiger Schuld (bezeugter Fluchtversuch bei der Ladung vor Gericht, Schuldbegründung vor fünf Zeugen durch mancipatio,4 offenkundiger Diebstahl) und in bestimmten im 3. Jahrhundert v. Chr. gesetzlich festgelegten Fällen (Sachbeschädigung, Rückgriffsanspruch des Bürgen u. a.) bedurfte es keiner legis actio des Erkenntnisverfahrens, vielmehr konnte der Kläger mit der legis actio per manus iniectionem zur sofortigen Vollstreckung schreiten. Im völlig anderen Zivilprozess des klassischen Rechts (siehe unten) konnte nur aus einem Urteil vollstreckt werden; die sofortige Vollstreckbarkeit gewisser Ansprüche ohne Erkenntnisverfahren existierte nicht mehr. Eine gewisses Fortleben der sofort vollstreckbaren Ansprüche des archaischen Rechts kann darin gesehen werden, dass bei Klage aus solchen Ansprüchen der Schuldner im Erkenntnisverfahren des klassischen Rechts auf den doppelten Betrag der Schuld verurteilt wurde (Kaser und Hackl 1996, § 20 V 2).
Die Form der mancipatio wurde für schuldbegründende Geschäfte verwendet: im archaischen Recht: Darlehensrückzahlungspflicht beim nexum (eine darlehensbegründende Manzipation), im archaischen und klassischen Recht: Haftungsübernahme des Verkäufers für Rechtsmängel, Vermächtnisverfügung im Testament. 4
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Mit der legis actio per pignoris capionem „Spruchformelklage durch Pfandnahme“, über deren Verfahren kaum etwas bekannt ist, konnte wegen öffentlichoder sakralrechtlicher Ansprüche in einzelne Sachen vollstreckt werden, z. B. gegen denjenigen, der ein Opfertier gekauft hatte und den Kaufpreis schuldig blieb (Kaser und Hackl 1996, § 21). Das Zwölftafelrecht verfügte also (mit der später geschaffenen legis actio per condictionem) nur über fünf Klagearten. Eigentums- und Deliktsforderungen wurden mit sacramentum, Stipulationsforderungen durch Richteranforderung oder durch condictio „Fristansagung“ eingeklagt, vollstreckt wurde durch Handanlegung oder Pfandnahme. Strafrecht In den Zwölftafeln finden sich auch strafrechtliche Konfliktlösungen. Bestimmte Delikte wurden mit dem Tode bestraft: staatsfeindliche Gewalttat, Annahme von Bestechungsgeldern durch den Richter, Mord, Brandstiftung, zauberische Zerstörung fremder Saat, nächtliches Abweiden fremder Felder. Wer als Patron einen Schutzbürger seiner eigenen Gefolgschaft (cliens) schädigte, wurde friedlos (sacer, siehe oben) – das Vergehen wog so schwer, dass es nicht innerhalb der Gemeinschaft gesühnt werden konnte. Bei Verbrechen gegen die Gemeinschaft (staatsfeindliche Gewalttat, Amtsvergehen) wurde der Prozess vor der Volksversammlung geführt; die Hinrichtung geschah durch die Liktoren mit dem Beil oder durch die Volkstribunen durch Sturz vom Tarpejischen Felsen, bei minderschweren Straftaten (fahrlässige Brandstiftung) wurde der Delinquent gezüchtigt. Straftaten, die sich gegen private Güter richteten (Mord, Brandstiftung, Ackergutschädigung), wurden nur auf Privatklage des Verletzten durch legis actio sacramento in personam vor dem Prätor verfolgt, der ein Geschworenengericht einsetzte, und der Täter wurde dem Verletzten zur privaten Vollstreckung der Strafe und der Entschädigungsforderung überwiesen (Wieacker 1988, S. 254). Körperverletzung Bei den unerlaubten Handlungen finden sich noch Reste der alten Selbsthilfe des Verletzten aus der vorprozessualen Zeit, die aber durch die Zwölftafeln sehr eingeschränkt wurde. Die Zwölftafeln schufen feste Sanktionen für Körperverletzung: „Wenn jemand einen Körperteil verletzt, so soll dasselbe geschehen (talio esto), wenn er sich nicht mit ihm einigt. Wenn jemand einem Freien5 einen Knochen bricht, so soll er 300 As Die Wörter „mit der Hand oder einem Knüppel“ stehen nicht in den Quellen, sondern gehen auf eine Konjektur von Lachmann (1837, S. 20, 1876, S. 215) zurück. Mommsen (1890, S. 145) lehnte diese Konjektur entschieden ab; in der neueren Literatur ist sie aber ohne Diskussion meist übernommen worden (Kaser 1971, § 41 II). 5
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Buße zahlen, bei einem Sklaven 150.“ (Kaser 1971, § 41 II; Wieacker 1988, S. 246 f.) Erlaubt war also nur noch die Zufügung höchstens desselben Unrechts (talio); offenbar riskierte der Verletzte, wenn er dieses Maß überschritt, selbst eine Körperverletzungsklage. Dadurch wurde die Übermaßrache verboten und man muss in der Vorschrift einen rechtszivilisatorischen Fortschritt sehen. Es war für den Verletzten sinnvoll, eine Einigung mit dem Täter herbeizuführen, und daher dürften Fälle tatsächlicher Talion selten gewesen sein. Für Knochenbrüche sahen die Zwölftafeln keine Talion, sondern feste Bußsätze vor. Talion und Bußgeld sind Formen des gleichwertigen Austauschs und damit beide dem Privatrecht und nicht dem Strafrecht zuzuordnen: Bei der Talion wird der Schädiger in gleichem Umfang geschädigt, beim Bußgeld wird der Geschädigte in gleichem Umfang entschädigt. Diebstahl Diebstahl führte dann zu Strafsanktionen, wenn der Dieb auf frischer Tat ertappt worden war. Wer einen Dieb nachts antraf, durfte ihn ohne weiteres töten; wurde der Dieb tagsüber angetroffen und verteidigte er sich mit einer Angriffswaffe, so durfte er ebenfalls getötet werden, doch musste der Bestohlene dann unverzüglich die Nachbarn herbeirufen. In allen anderen Fällen durfte ein auf frischer Tat ertappter Dieb (fur manifestus „offenkundiger Dieb“) nur nach einem privatrechtlichen Gerichtsverfahren bestraft werden; der Bestohlene konnte wegen der Offenkundigkeit des Diebstahls auf eine Klage im Erkenntnisverfahren verzichten und den Dieb sogleich mit der legis actio per manus iniectionem verhaften. Freie wurden gezüchtigt, diebische Sklaven vom Felsen gestürzt; der Dieb (bzw. der Herr des Sklaven) haftete zusätzlich auf den vierfachen Betrag des Wertes der gestohlenen Sache. War der Dieb nicht auf frischer Tat ertappt, aber verdächtig, so konnte der Bestohlene mit der legis actio sacramento in personam (siehe oben) gegen den Verdächtigen vorgehen, musste aber die Tat beweisen; die Sanktion war ein Bußgeld in Höhe des zweifachen Wertes der gestohlenen Sache. Zur Beweisauffindung konnte der Bestohlene eine rituelle oder eine formlose Haussuchung beim Verdächtigen vornehmen. Da das Haus dem privaten Zugriff grundsätzlich entzogen war, musste man bei der (erzwingbaren) rituellen Haussuchung die Hausgötter besänftigen. Der Suchende betrat das Haus mit einer Schale (lanx, für ein Opfer an die Hausgötter) in der Hand und nur mit einem Leinenschurz (licium) bekleidet; dagegen durfte der Verdächtige sich nicht wehren. Wurde die gestohlene Sache im Haus gefunden, so galt der Verdächtige als fur manifestus und wurde mit den für einen solchen Dieb vorgesehenen Sanktionen belegt; wurde nichts gefunden, so hatte sich die Klage erledigt. Die formlose Haussuchung geschah ohne lanx und licium, aber mit zwei Zeugen. Diese Haussuchung konnte der Verdächtige verweigern, haftete aber bei Verweigerung ohne Weiteres auf das Vierfache. Gestattete er die formlose Haussuchung, so musste man die Hausgötter nicht besänftigen und der Verdächtige wurde im Erfolgsfall nicht zum fur manifestus, haftete aber auf das Dreifache; gelang es ihm nachzuweisen, dass ihm ein Dritter die Sache untergeschoben hatte, so haftete er ebenso, konnte aber Rückgriff auf das Dreifache gegen den Unterschiebenden
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nehmen. Spätestens im 3. Jahrhundert v. Chr. starb die rituelle Haussuchung ab; es blieben die formlose Haussuchung (im Verweigerungsfall die Haftung auf das Vierfache, bei zugelassener und erfolgreicher Haussuchung die Haftung auf das Dreifache und die Rückgriffsmöglichkeit gegen den Dritten) und die Klage ohne Haussuchung mit zweifacher Haftung (Kaser 1971, § 41 III; Wieacker 1988, S. 244 f.; Manthe 2005). Ende des archaischen Prozessrechts Das starre Prozessrecht der Zwölftafeln wurde noch bis zum Ende der Republik angewandt, wie die Rede Ciceros für Murena zeigt. Aber schon im 2. Jahrhundert v. Chr. wurde ein nicht-rituelles und sehr flexibles Verfahren ermöglicht, welches Konflikte besser lösen konnte.
2 Kernprobleme der Forschung (Zu Einleitung) Das geschilderte Bild der wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklung, das von Morgan (1877) gezeichnet und von heutigen Rechtshistorikern (Wesel 1985, 2006) und Prähistorikern (Parzinger 2015) bestätigt wurde, versteht sich nur als sehr vereinfachendes Denkmodell, da der Weg nicht geradlinig war (vgl. auch Manthe 2003, S. 7–9). Die neolithische Revolution führte allerdings nicht dazu, dass die Menschen glücklicher wurden (Harari 2015 S. 104-109). Material zur „linguistischen Archäologie“ findet sich bei Benveniste (1993). (Zu Konfliktlösungen in der Königszeit und durch die Zwölftafeln) Die bisherige Forschungslage zum archaischen römischen Recht ist in großem Umfang von Wieacker (1988, §§ 9–15) und Kaser und Hackl (1996, §§ 3–21) dargestellt worden. Wesentliche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte verdanken wir vor allem Wolf (Manthe 2018, S. 611 f.). (Zu Spruchformelklage mit Prozesseinsatz) Die gegenseitige Aufforderung zur Leistung des sacramentum wird in der Literatur unvollkommen wiedergegeben: Der Beklagte habe nur mit „ich dich auch“ geantwortet. Tatsächlich wiederholte er den Satz des Klägers vollständig (Manthe 2014, S. 379 f.). Die Herleitung des Wortes vindex ist noch streitig. Die meisten Autoren (auch Wolf 1985, S. 37 f., 2015, S. 100 f.) deuten vindex als „Gewaltsager, -zeiger“ (*vim- dex). Nach Schrader (1901, S. 227 sv. Familie) ist vindex „der, der etwas als zur Sippe oder Familie gehörig bezeichnet“; jetzt grundlegend Szemerényi (1981) mit sprachwissenschaftlicher Beweisführung. Literaturübersicht bei Kaser und Hackl (1996, S. 96 Fn. 41). Die Präzisierung des Begriffes der iniuria im Ritual der Spruchformelklage auf Herausgabe („unerlaubte Gewalt“ in allgemeinem Sinn bei Kaser 1971, S. 25 Fn. 11) zu „unerlaubte Gewalt gegenüber dem streitigen Sklaven“ geht auf Wolf (1985, S. 28–30, 2015, S. 91–93) zurück; ihm folgen jetzt Kaser und Hackl (1996, § 14 II 2 c).
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Qua ex causa im Ritual wird gewöhnlich als „warum“ verstanden (Wolf 1985, S. 22, 2015, S. 84); Wolf (1985, S. 23 f., 2015, S. 86) deutete causa als Oberbegriff von ius und iniuria, also ungefähr (da für diesen Oberbegriff in unserer Sprache kein Wort existiert) „Situation ‚zu Recht‘ oder ‚zu Unrecht‘“. Muller Jzn (1926, S. 80 sv. Caussā) leitete causa von caudere „schlagen“ ab, konnte aber die Verwendung dieses Wortes in der legis actio sacramento in rem nicht erklären. Nach meiner Ansicht war mit causa ursprünglich ganz konkret der Schlag des Streitgegners auf den Sklaven gemeint; später wurde der Begriff zu „Rechtssituation, -grund“ abstrahiert, als man die Symbolik des Schlagens nicht mehr verstand. Auch das ägyptische Recht kannte das Schlagen als Ausdruck der Behauptung, Eigentümer zu sein (Seidl 1968, S. 39 Fn. 4, 85 Fn. 7); Seidl (1968, S. 61 zu Fn. 3) hat auch als erster das römische Vindikationsritual richtig gedeutet; unabhängig von ihm später Wolf (1985). Legis actio: Lex ist die im Ritual gesprochene Spruchformel, der Sprechakt; actio leitet sich nicht von agere „treiben“, sondern von agere „behaupten“ ab. Agere ist der Infinitiv zu aio „ich behaupte“ (nicht zu ago „ich treibe“); als das (gesprochene) Spruchformelverfahren nicht mehr existierte (seit 17 v. Chr.), verstand man agere als Infinitiv zu ago und verwendete ago im Sinne von „ich klage“ (Manthe 2002, S. 438–442). Manzipation: Grundstücke, Personen und große Tiere konnten nur durch Manzipation übereignet werden (sog. res mancipi „Manzipationssachen“); alle anderen Sachen konnten durch Übergabe aufgrund eines zur Übereignung verpflichtenden Vertrages (Kauf, Schenkung) übereignet werden (sog. res nec mancipi „Nichtmanzipationssachen“). Ob das Wort familia ursprünglich genau die menschlichen und tierischen res mancipi bezeichnete, ist umstritten; immerhin konnten noch im 2. Jahrhundert v. Chr. die Großtiere zur familia (Cato, De agricult. 138) gehören. Diskussion der Theorien bei Kaser (1971, §§ 24 II 2, 31 III 2). Die bisherige Lehre konnte die Entstehung des Manzipationsrituals nicht einleuchtend erklären (vgl. Kaser 1971, § 9 II 1; Wolf 1998, S. 509 f., 2015, S. 124) erkannte die Herkunft aus einem Scheinprozess, so jetzt auch Pfeifer (2013, S. 80–82). Stipulation: Das Wort stipulari „zu einem Versprechen auffordern“ entstammt wohl dem Ritual der Auguren (Nelson und Manthe 1999, S. 105 f.). Die Etymologie ist ungeklärt; die Ableitung von stipula „Strohhalm“ (Isidor von Sevilla, Etym. 5,24,30), der manche Autoren folgen (vgl. Walde 1965, S. 594 sv. stips; Kaser 1971, S. 169 Fn. 35), ist „reines Phantasiegebilde“ (Nelson und Manthe 1999, S. 105). Vermutungen über die Frühgeschichte bei Kaser (1971, § 43 III). (Zu Der Prätor als Gerichtsbeamter) Stilistisch vom Augurenritual geprägt sind in ius vocatio, legis actio sacramento in rem, stipulatio (siehe oben), legis actio per condictionem (siehe oben) u. a. (Manthe 1993; Kaser und Hackl 1996, S. 64 Fn. 2, 65 Fn. 19, 95 Fn. 37, 113 Fn. 24). (Zu Vollstreckung) Das Personalvollstreckungsverfahren des Zwölftafelrechts ist gut bezeugt (Kaser und Hackl 1996, § 20); die Auslegung der Vorschrift XII 3,6 tertiis nundinis partis secanto „am dritten Markttag sollen sie in Stücke schneiden“ ist allerdings streitig. Nach Kaser und Hackl (1996, § 20 VI 1) sowie Flach (1994, S. 126, 2004, S. 31) sind damit die Rohkupferbrocken gemeint, welche mehrere Gläubiger durch den Verkauf des Schuldners erhalten hatten und durch Schneide-
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werkzeuge aufteilen sollten. Antike Autoren berichten hingegen übereinstimmend, dass die Leiche des getöteten Schuldners gemeint sei, deren Stücke unter die Gläubiger aufgeteilt werden sollten. Dass diese Interpretation nicht einfach abzulehnen ist, zeigte Knütel (2002, S. 337–339) mit ethnologischen Parallelen. Ob die Fesseln höchstens 15 Pfund wiegen durften (so Waldstein und Rainer 2005, § 14,16) oder mindestens so viel wiegen mussten (so nach der Quelle für XII 3,3: Gellius, Noct. Attic. 20,1,45 XV pondo, ne minore aut, si volet, maiore vincito „mit 15 Pfund, nicht weniger oder, wenn er will, mehr, soll er fesseln“), ist sehr umstritten, ohne dass sich eine allgemeine Überzeugung herausgebildet hat (Kaser 1971, § 40 II 2 c; Kaser und Hackl 1996, S. 142 Fn. 77). Die Ansicht, dass es für die Vollstreckung einer Schuld aus einem Manzipationsgeschäft keines Erkenntnisverfahrens bedurfte, vielmehr der Gläubiger sofort den Schuldner verhaften konnte und vor dem Prätor nur die Offenkundigkeit der Schuld (5 Zeugen!) dartun musste, geht auf Huschke (1846, S. 58–64) zurück und ist heute im Wesentlichen anerkannt (Kaser und Hackl 1996, § 20 II 3 mit Lit.; Waldstein und Rainer 2005, § 14,16). (Zu Körperverletzung) Auch im Babylonischen Talmud (Bava Qamma 83b-84b) wurde die körperliche Vollstreckbarkeit von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Exodus 21,24) diskutiert. R. Dostai ben Jehuda (2. Jahrhundert n. Chr.) wies darauf hin, dass das Auge des einen dem des anderen nicht vollkommen gleiche, sodass die Talion leicht das Übermaßverbot verletzen könnte. Ebenso wies der Philosoph Favorinus (Gellius, Noct. Attic. 20,1,14–19) auf die Schwierigkeit hin, die Talion genau zu bemessen, was ihm sein Kontrahent, der Jurist Africanus, zugestehen musste (Gell., Noct. Attic. 20,1,34). Historische Fälle der Talion sind weder im römischen noch im jüdischen Recht bekannt. (Zu Diebstahl) Was ein licium war, ist nicht sicher geklärt (Kaser 1971, S. 158 Fn. 30; Manthe 2005, S. 167 f.). Wolf (1970) identifizierte das licium mit einer wollenen Kopfbinde, die der im Übrigen Nackte tragen musste, nach Flach (1994, S. 177, 2004, S. 187 f.) war es eine Schnur zum Abmessen der gestohlenen Sachen. Nach Manthe (2005, S. 169–172) war es ein Opferdiener-Schurz mit einem aufgenähten Purpurfaden, den der im Übrigen unbekleidete Haussuchende tragen musste. Dass neben der rituellen Haussuchung mit lanx und licium auch eine nicht- rituelle Haussuchung (quaestio) existierte, sah Voigt (1883, S. 565 ff.), Lit. bei Kaser (1971, § 41 III 4); Kaser und Hackl (1996, § 18 II 1).
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Kapitel 21
Römische Zivilverfahren Fabian Klinck
1 Übersicht Erkenntnisverfahren Über das älteste greifbare römische Zivilverfahren, das Legisaktionenverfahren, informiert der Beitrag „Entstehung von Konfliktlösungsinstitutionen in Rom“ (→ 20. Manthe). In der mittleren Republik entwickelt sich eine neue Verfahrensart, die heute „Formularverfahren“ genannt wird. Ihre Ursprünge liegen im Dunkeln; sie stehen womöglich mit der Schaffung des Amtes eines praetor peregrinus in Zusammenhang, der für die Rechtsprechung zuständig ist, wenn wenigstens eine der Parteien nicht das römische Bürgerrecht hatte. Das Formularverfahren steht zunächst nur in einzelnen Fällen offen, in denen das Legisaktionenverfahren keinen Rechtsschutz bietet, tritt aber zunehmend in Konkurrenz zum Legisaktionenverfahren, das es in der Praxis immer stärker zurückdrängt. Die von Augustus initiierte lex Iulia iudiciorum privatorum aus dem Jahr 17 v. Chr. schafft das Legisaktionenverfahren (mit wenigen Ausnahmen) ab, so dass das Formularverfahren die alleinige Verfahrensart wird – jedoch nur für kurze Zeit. Denn Augustus selbst führt mit dem Kognitionsverfahren (siehe unten) eine neue Verfahrensart ein, die im Dominat ihrerseits das Formularverfahren verdrängt. Das Verfahren der legis actiones sacramento in rem oder personam wird stets vor dem Gerichtsmagistrat eingeleitet, der jedenfalls seit der Verfassungsreform von 367 v. Chr. Prätor heißt. Obwohl der Prätor die Entscheidungsfindung schon früh an Richter (iudices) delegiert, spricht er das Urteil vermutlich zunächst selbst (Selb 1984, S. 390 ff.). Spätestens mit der legis actio per iudicis arbitrive postulationem aber kommt ein deutlicher zweigeteiltes Verfahren auf, in dem der Prätor nur dafür
F. Klinck (*) Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_21
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zuständig ist, einen Gang- oder Urteilsrichter einzusetzen, der dann selbst das abschließende Urteil spricht (→ 20. Manthe). Diese Zweiteilung prägt das Formularverfahren: Es zerfällt in einen Verhandlungsabschnitt, der vor dem Prätor auf der Gerichtsstätte (in iure) stattfindet, und einen solchen vor dem Urteilsgericht (iudicium). Der Prätor setzt das Urteilsgericht ein und gibt ihm das Programm vor, nach dem dieses den Streit zu entscheiden hat. Macht der Kläger geltend, Eigentümer einer Sache zu sein, die ihm der Beklagte vorenthält, so lautet dieses Entscheidungsprogramm, die Klageformel, etwa: „XY soll Richter sein. Wenn es sich erweist, dass die Sache, um die es geht, nach dem Recht der römischen Bürger dem [namentlich genannten] Kläger gehört, und diese Sache nach deinem Ermessen nicht herausgegeben wird, so verurteile, Richter, den [namentlich benannten] Beklagten dem Kläger zur Zahlung des Betrages, den die Sache wert sein wird; wenn es sich nicht erweist, sprich frei“. Das Urteilsgericht ist an dieses Entscheidungsprogramm gebunden, müsste im genannten Fall also den Beklagten auch dann verurteilen, wenn der Kläger zwar (noch) Eigentümer der Sache ist, er sie dem Beklagten aber etwa verkauft und auch schon übergeben hat. Will der Beklagte sich mit diesem Sachverhalt gegen die Klage verteidigen, muss er schon vor dem Prätor darauf hinwirken, dass ein entsprechender Vorbehalt (exceptio) in die Klageformel aufgenommen wird; er würde hier etwa lauten: „… wenn nicht der Kläger die Sache, um die es geht, dem Beklagten verkauft und übergeben hat“ (exceptio rei venditae et traditae). In welchen Fällen der Prätor Klagen und Vorbehalte gewährt und wie diese jeweils formuliert sind, verkündet der Prätor zu Beginn seiner einjährigen Amtszeit in seinem Edikt, das auf weißen Tafeln in der Nähe der Gerichtsstätte auf dem Forum aufgestellt wird. Der Prätor ist an sein eigenes Edikt nicht gebunden: Er kann, wenn er dies für angemessen hält, auch Klagen gewähren, die er zuvor nicht verheißen hat, oder umgekehrt eine verheißene Klage im konkreten Fall verweigern oder mit neuen Vorbehalten einschränken – das Edikt gibt den Rechtssuchenden also immer nur eine ungefähre Orientierung. Im Jahr 130 n. Chr. beauftragt Hadrian den Juristen Salvius Iulianus damit, das Edikt des Prätors in eine „endgültige“ Fassung zu bringen (edictum perpetuum, Rekonstruktion Lenel 1927). Es wird fortan nicht mehr jährlich neu erlassen, sondern gilt fort. Schon zuvor aber wird – jedenfalls in der Kaiserzeit – jeder neue Prätor das Edikt seines Vorgängers vollständig oder mit nur wenigen Veränderungen inhaltlich übernommen haben. Das Edikt des Prätors betrifft nur dessen Amtsführung, also nur die Gerichtspraxis in der Stadt Rom. In den Provinzen verkündet deren jeweiliger Statthalter ein Edikt, das jedenfalls ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr. sehr weitgehend mit dem des stadtrömischen Prätors übereinstimmt. Damit entfaltet das prätorische Edikt – jedenfalls in einigen Provinzen (dazu allgemein Hackl 1997) – mittelbar weitreichende Wirkung: So verpflichten die Gemeindeordnungen, welche die spanischen Städte gegen Ende des ersten Jh. n. Chr. im Zuge ihrer Erhebung zu municipia erhalten, die Stadtbeamten dazu, das Edikt des Provinzstatthalters in der Stadt öffentlich auszustellen und, soweit ihre Zuständigkeit reicht, nach ihm Recht zu sprechen (Wolf 2011, S. 27 f., 121).
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Mit der Redaktion der Klageformeln gibt der Prätor vor, welche Rechte unter welchen Voraussetzungen durchsetzbar sind. Er wirkt insoweit auch rechtsschöpfend. Nach römischer Vorstellung besteht das Recht aus zwei Schichten: dem ius civile, wie es aus Gesetzen und hergebrachten Grundsätzen folgt, und dem ius honorarium oder praetorium, wie es der Prätor anwendet (ausf. Kaser 1984). Nicht selten schützt der Prätor eine Rechtsposition, die nach dem ius civile nicht besteht, oder verweigert umgekehrt einem nach ius civile bestehenden Recht den Schutz. So kann nach ius civile das Eigentum an Sachen, die für die bäuerliche Wirtschaft besonders wertvoll sind – Grundstücke, Sklaven, Großvieh – nur durch den umständlichen Akt der mancipatio übertragen werden (→ 20. Manthe); wird also ein Sklave nur formlos verkauft und übergeben, bleibt der Verkäufer zunächst Eigentümer. Der Käufer erwirbt das Eigentum nach ius civile erst, wenn die Ersitzungsfrist abgelaufen ist; sie beträgt bei beweglichen Sachen ein Jahr. In dieser Zeit kann der Käufer eine Herausgabeklage gegen einen dritten Besitzer also nicht auf sein Eigentum stützen. Der Prätor hält ihn gleichwohl für schutzwürdig: Er fingiert, dass die Ersitzungsfrist abgelaufen sei; hätte der Kläger dann bereits Eigentum erworben, stellt er ihn einem Eigentümer und somit die Aussicht auf Erwerb durch Ersitzung dem Eigentum gleich. Die einschlägige Klageformel (actio Publiciana) lautet: „XY soll Richter sein. Wenn der Kläger diesen Sklaven redlich gekauft und er ihm übergeben worden ist und ihn der Kläger ein Jahr besessen hätte, wenn dann der Sklave, um den es hier geht, nach dem Recht der römischen Bürger Eigentum des Klägers wäre und ihm nach deinem Ermessen nicht herausgegeben wird, so verurteile, Richter, u.s.w.“. Der Prätor schützt den Käufer auch vor dem Verkäufer: Dieser ist zwar noch Eigentümer, kann also eigentlich auch den Käufer auf Herausgabe verklagen; jedoch kann der Käufer erfolgreich beantragen, dass der Prätor in die Klageformel die bereits genannte exceptio rei venditae et traditae aufnimmt. Der Verkäufer ist nach alledem also zwar noch Eigentümer nach ius civile, kann dieses Eigentum aber gegen den Kläger nicht mehr durchsetzen; der Kläger ist zwar noch nicht Eigentümer nach ius civile, kann aber schon gegen jeden Dritten vorgehen, als wäre er Eigentümer – er ist Eigentümer nach ius honorarium. Wie das Legisaktionenverfahren beginnt das Formularverfahren damit, dass der Kläger den Beklagten vor Gericht, nämlich zum Erscheinen vor den Prätor lädt (in ius vocatio). Dabei teilt er dem Beklagten Klagegrund, Klagebegehr und Beweismittel mit (editio actionis). Folgt der Beklagte der Ladung nicht, kann der Kläger sich seiner, anders als es noch die XII Tafeln vorsehen, wohl nicht mehr mit Gewalt bemächtigen. Vielmehr droht dem unkooperativen Beklagten nun eine besondere Strafklage und unter bestimmten Voraussetzungen sogar, dass der Prätor den Kläger vorläufig und sicherungshalber in das gesamte Vermögen des Beklagten einweist (missio in bona rei servandae causa, Platschek 2005, S. 157 ff.; Rüfner 2008, S. 771−774). Vor dem Prätor beantragt der Kläger die Einsetzung eines Urteilsgerichts mit bestimmter Klageformel. Hält der Prätor ein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers und die weiteren Prozessvoraussetzungen für gegeben, hängt der Fortgang des Verfahrens davon ab, wie der Beklagte sich verhält. Zur Einsetzung eines Urteilsgerichts kommt es nur, wenn beide Parteien sich dem Urteilsgericht unterwerfen (litis
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contestatio). Dazu ist im Formularverfahren zwar wohl kein förmlicher Akt mehr erforderlich, sondern die widerspruchslose Annahme der vom Prätor vorgenommenen Richtereinsetzung ausreichend. Erforderlich ist aber, dass der Beklagte sich dem Begehr des Klägers entgegenstellt. Erkennt er es vor dem Prätor an (confessio in iure), wird dem Kläger eine actio confessoria erteilt, die im Wesentlichen nur darauf gerichtet ist, die Urteilssumme zu bestimmen, wenn nicht auf Zahlung eines Geldbetrages geklagt wird. Verhält sich der Beklagte vor dem Prätor passiv, stellt ihn der Prätor so, wie wenn er verurteilt worden wäre und die Urteilsschuld nicht beglichen hätte: Der Prätor erlaubt dem Kläger nach dessen Wahl die Personal- oder die Vermögensvollstreckung (siehe unten). Ein solcher mittelbarer Einlassungszwang besteht jedoch nur bei Klagen, die auf eine persönliche Verpflichtung des Beklagten gestützt werden (actiones in personam). Macht der Kläger ein Recht an einer Sache geltend (actio in rem), führt Passivität des Beklagten lediglich dazu, dass der Prätor ihn vor die Wahl stellt, die Mitnahme der Sache durch den Kläger zu dulden oder deren Wert zu bezahlen. Bestreitet der Beklagte vor dem Prätor, dass die Klage begründet ist, können die Parteien einen Rechtsstreit um den Bestand der Klageforderung dadurch umgehen, dass sie auf ein Eidesverfahren ausweichen (Harke 2014, S. 43−151). Da Justinian dieses Verfahren abändert, ist trotz (neuer) epigraphischer Zeugnisse (zu ihnen Gröschler 2004; Wolf 2009, S. 1459 ff.; Nörr 2008, S. 161−166; Platschek 2014, S. 121−134) die Quellenlage unsicher und damit auch die Rekonstruktion des Verfahrens umstritten. Nach herrschender Ansicht gelten folgende Grundzüge. Hat der Kläger vorprozessual den Bestand der Forderung beschworen, gilt diese damit als außer Streit gestellt; dem Kläger wird eine besondere Klage gewährt, bei welcher der Richter nur noch zu prüfen hat, ob der Kläger geschworen hat, nicht aber, ob richtig geschworen wurde. Entsprechendes gilt, wenn der Beklagte vorprozessual geschworen hat, dass die Forderung nicht bestehe: In diesem Fall wird ihm eine exceptio iurisiurandi gewährt, nach welcher die Klage schon dann abzuweisen hat, wenn der Beklagte den Nichtbestand der Forderung tatsächlich beschworen hat. Haben die Parteien vorprozessual noch keine Eide geleistet, kann der Kläger dem Beklagten vor dem Prätor den Eid „zuschieben“ (iusiurandum deferri), dass der Beklagte nichts schulde; schwört der Beklagte diesen Eid, verweigert der Prätor dem Kläger regelmäßig die Einsetzung eines Urteilsgerichts. Der Beklagte kann den Eid aber auch an den Kläger „zurückschieben“ (iusiurandum referre); schwört nun der Kläger, dass die Forderung bestehe, erteilt ihm der Prätor die eben erwähnte Klage aus dem Eid (abw. Gröschler 2002, S. 141−152: der Kläger könne unmittelbar aufgrund des Eides vollstrecken). Die Initiative zur Eidesleistung kann auch vom Beklagten ausgehen, das Verfahren also auch damit beginnen, dass der Beklagte dem Kläger den Eid zuschiebt, dass die geltend gemachte Forderung besteht. Auch der Kläger kann den Eid zurückschieben. Wohl ausgehend von der condictio (zu dieser → 20. Manthe) übt der Prätor bei manchen Klagen einen stärkeren Druck auf den Beklagten aus (Nörr 2008, S. 161−166; Platschek 2014, S. 121−134). Hier muss der Kläger auf Verlangen des Beklagten zunächst schwören, dass er nicht rechtsmissbräuchlich klagt (iusiurandum calumniae). Auf Antrag des Klägers stellt der Prätor den Beklagten sodann vor die Wahl, das Nichtbestehen der Klageforderung
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zu beschwören, den eingeklagten Betrag zu leisten oder den Eid an den Kläger zurückzuschieben. Bleibt der Beklagte untätig, erhält der Kläger die missio in bona (rei servandae causa?). Schiebt der Beklagte den Eid an den Kläger zurück und schwört dieser, dass die Forderung bestehe, kann er aus dem Eid ohne weiteres die Vollstreckung betreiben. Dass ein Eid in so weitem Umfang die richterliche Erkenntnis zu ersetzen vermag, lässt sich wohl nur durch eine tief verwurzelte Angst vor den sakralen und gesellschaftlichen Sanktionen eines Meineids erklären. Weichen die Parteien nicht auf ein Eidesverfahren aus, setzt der Prätor das Urteilsgericht ein. Dessen personelle Besetzung allerdings wird nicht durch den Prätor bestimmt, sondern durch die Parteien. Der Prätor ist an den übereinstimmenden Vorschlag der Parteien gebunden; nur Frauen, Sklaven, Taubstumme und Unmündige sind von der Übernahme des Richteramtes schlechthin ausgeschlossen (Kaser und Hackl 1996, § 6 I 3; Simshäuser 1992, S. 184). Können sich die Parteien zunächst nicht einigen, schlägt der Kläger dem Beklagten nacheinander Personen aus einer dafür aufgestellten amtlichen Liste von geeigneten Privatpersonen (album iudicum selectorum) vor. In diese Liste werden zunächst ausschließlich Senatoren, seit der ausgehenden Republik auch Ritter aufgenommen, die über ein bestimmtes Mindestvermögen verfügen, dessen Höhe in der Kaiserzeit mehrfach neu angesetzt wird; ferner müssen sie römische Bürger und zunächst mindestens 30, seit Augustus 25 Jahre alt sein. Die Liste ist in drei, seit Augustus vier und seit Caligula fünf Dekurien unterteilt. Können sich die Parteien auch in diesem Verfahren nicht auf einen iudex einigen, wird dieser in einem komplizierten Verfahren negativ bestimmt: Zunächst wird die einschlägige Dekurie ermittelt, indem erst der Kläger, dann der Beklagte eine ihm unerwünschte Dekurie ablehnt. Aus der verbliebenen Dekurie schlagen die Parteien einander Personen vor, welche die andere ablehnen kann; gegebenenfalls wird die letzte verbliebene Person zum iudex eingesetzt, wobei das Verfahren so begonnen werden muss, dass dem Beklagten das letzte Ablehnungsrecht verbleibt (Simshäuser 1992, S. 186−189). Wenn ein Gesetz dies ausnahmsweise vorsieht, wird auch in Zivilsachen nicht ein Einzelrichter, sondern eine Bank von (in der Regel mindestens drei) Richtern (recuperatores) eingesetzt: namentlich in Prozessen, in denen es um die Freiheit eines Beteiligten, Raub oder Steuerpacht ging, ursprünglich auch bei Klagen wegen iniuria. Die Auswahl der recuperatores erfolgt wie diejenige der iudices. Dem Urteilsgericht obliegt, in den Grenzen der Klageformel, die Prüfung der Sach- und Rechtslage. Seine Mitglieder schwören einen Eid, nach der Wahrheit und den Gesetzen Recht zu sprechen. Eigene Rechtskunde ist für die Übernahme eines Amtes als iudex oder recuperator allerdings nicht erforderlich; üblicherweise ziehen Urteilsrichter juristische Ratgeber hinzu. Bei strengrechtlichen Klagen ist das Urteilsgericht schlechthin an das ius civile gebunden. Wenn also etwa der Beklagte dem Kläger stipulationsweise die Zahlung von 1000 Sesterzen versprochen und nicht gezahlt hat, lautet die Formel der einschlägigen actio certae creditae pecuniae oder condictio wie folgt: „XY soll Richter sein. Wenn es sich erweist, dass der Beklagte dem Kläger 1000 Sesterzen zu zahlen verpflichtet ist, so verurteile, Richter, den Beklagten dem Kläger zu 1000 Sesterzen; wenn es sich nicht erweist, sprich frei“. Der Urteilsrichter prüft nur, ob
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die Stipulation wirksam ist. Beruft der Beklagte sich darauf, dass das Verlangen des Klägers aus irgendwelchen Gründen arglistig sei oder der Kläger ihm vertraglich versprochen habe, den Betrag (vorerst) nicht einzuklagen, so kann der Urteilsrichter diese Einwände nur berücksichtigen, wenn der Beklagte sie schon vor dem Prätor geltend gemacht und dieser daraufhin eine entsprechende exceptio (doli oder pacti) in die Formel eingeschaltet hat. Größere Eigenständigkeit gegenüber dem Prätor kommt dem Urteilsgericht bei solchen – jüngeren – Klagen zu, in deren Formeln darauf abgestellt wird, was nach der bona fides, der guten Treue (Söllner 2005), geschuldet ist – den bonae fidei iudicia: namentlich bei Klagen aus Kauf, Verwahrung, Miete, Pacht, Dienst- oder Werkvertrag, Gesellschaft, Auftrag oder Vormundschaft. Hat etwa der Beklagte dem Kläger ein Pferd verkauft und dessen Übergabe verweigert, so lautet die Formel der einschlägigen Klage des Käufers (actio empti): „XY soll Richter sein. Was das betrifft, dass der Kläger vom Beklagten das Pferd, um das es hier geht, gekauft hat, was auch immer aufgrund dieser Sache der Beklagte dem Kläger nach guter Treue geben oder für ihn tun muss, dazu verurteile, Richter, den Beklagten dem Kläger; wenn es sich nicht erweist, sprich frei“. Wendet der Beklagte hier arglistiges Verhalten des Klägers oder eine abweichende Absprache ein, kann der Urteilsrichter dies ohne Weiteres berücksichtigen – denn die Formel überlässt es ihm, den billigen Schuldinhalt zu bestimmen. Daher heißt der Urteilsrichter hier ursprünglich auch nicht iudex, sondern arbiter (Platschek 2010, S. 281 f.; Broggini 1957, S. 199 ff.). Bestreitet der Beklagte Tatsachen, auf die der Kläger sein Begehr stützt, oder bestreitet der Kläger Tatsachen, auf die es für den Tatbestand einer exceptio ankommt, so hat das Urteilsgericht Beweis zu erheben. Als Beweismittel kommen dabei wie heute Zeugenaussagen, Urkunden und Augenschein in Betracht, daneben auch – gegebenenfalls beeidete – Parteiaussagen. Die Beschaffung der Beweismittel obliegt der beweisbelasteten Partei: dem Kläger, wenn es um Tatsachen geht, auf die er die Klage stützt; dem Beklagten, wenn es um Tatsachen geht, die den Tatbestand einer exceptio erfüllen sollen. Hat das Urteilsgericht sich eine Überzeugung darüber gebildet, wie der Streit zu entscheiden ist, fällt es das Urteil. Hält es die Klage für unbegründet, spricht es den Beklagten frei; hält es sie für begründet, verurteilt es den Beklagten. Auch insoweit steckt die Klageformel seine Befugnisse ab. Bei einer strengrechtlichen Klage wie der condictio etwa kann das Urteilsgericht den Beklagten nur zur Zahlung der in der Formel genannten Summe verurteilen. Ist der Richter der Ansicht, dass der Beklagte dem Kläger zwar etwas schuldet, aber weniger als das Eingeklagte, muss es den Beklagten also insgesamt freisprechen. Freier ist das Urteilsgericht auch insoweit bei den bonae fidei iudicia, deren Formel keinen bestimmten Inhalt der Verurteilung vorgibt. Aber auch hier gilt das Prinzip der Geldkondemnation: Die Verurteilung lautet stets auf Zahlung einer Geldsumme. Auch eine wirtschaftlich auf Herausgabe einer Sache gerichtete Klage kann also nicht dazu führen, dass der Beklagte zur Herausgabe verurteilt wird. Allerdings wird hier mittelbarer Zwang auf den Beklagten ausgeübt: Stellt der iudex bei einer Vindikation (→ 20. Manthe) das Eigentum des Klägers fest, erteilt er dem Beklagten einen entsprechenden Zwischenbescheid, damit dieser seiner Verurteilung dadurch entgehen kann, dass er die Sache
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h erausgibt; andernfalls wird er zur Zahlung des Sachwerts verurteilt, der durch einen entsprechenden Eid des Klägers bestimmt wird – großzügig und wohl in aller Regel erheblich über den wahren Wert hinausgehend. Reguläre Rechtsmittel kennt das Formularverfahren nicht; die Urteile sind zunächst nicht angreifbar. Erst im Laufe der Kaiserzeit setzt sich die Möglichkeit durch, gegen im Formularverfahren ergangene Urteile Berufung zum Kaiser oder von ihm dazu eingesetzte Beamte einzulegen (Beispiele für Berufungsentscheidungen bei Wankerl 2009). Die Ursprünge des Kognitionsverfahrens liegen im Erbrecht. Die Testamentsform ist im klassischen römischen Recht vergleichsweise streng; die Testierfreiheit wird im Laufe der Republik zunehmend eingeschränkt. Um Verfügungen von Todes wegen formlos aufheben oder ändern und solche Verfügungen treffen zu können, die eigentlich gesetzwidrig sind, vertraut man sich nicht selten der Treue eines Freundes an, den man zum Erben einsetzt, aber um eine bestimmte Verteilung des Nachlasses bittet. Wer im Wege eines solchen fideicommissum bedacht worden ist, kann dessen Vollzug freilich zunächst nicht einklagen. Erst Augustus gewährt insoweit Rechtsschutz, aber nicht im ordentlichen Formularverfahren, sondern im Wege eines außerordentlichen Erkenntnisverfahrens, einer extraordinaria cognitio. Für deren Durchführung sind bei Fideikommissen zunächst die Konsuln zuständig; Claudius schafft hierfür das neue Amt eines praetor fideicommissarius. Im Prinzipat wird der Anwendungsbereich des Kognitionsverfahrens erweitert, um Ansprüche klagbar zu machen, die nach hergebrachter Auffassung im Formularverfahren nicht klagbar sind, etwa Ansprüche auf Zahlung eines Honorars für höhere Dienste. Das Verfahren findet vor einem Magistrat statt, dem der Kaiser die Gerichtsbarkeit für den jeweiligen Bereich zugewiesen hat, in der Provinz in der Regel vor dem Statthalter. Die das Formularverfahren prägende Aufteilung in die Verhandlung vor einem Gerichtsmagistrat und diejenige vor einem Urteilsgericht ist für das Kognitionsverfahren nicht ausgeschlossen, aber nicht zwingend und auch nicht schlechthin üblich. Mit der Einheitlichkeit des Verfahrens entfällt der Bedarf für eine Klageformel; daher kann nun auch der Beklagte Gegenrechte geltend machen, ohne in einem bestimmten Verfahrensabschnitt die Zulassung einer exceptio beantragen haben zu müssen – dieses Wort bezeichnet hier daher ganz allgemein ein Gegenrecht des Beklagten. Da der Richter die Funktion von praetor und iudex in einer Person ausfüllt, hat er weitere Gestaltungsräume als dieser; auch das Prinzip der Geldkondemnation gilt im Kognitionsverfahren nicht. Im Vergleich zum Formularverfahren tritt die Parteiautonomie zugunsten einer strafferen, amtswegigen Verfahrensführung zurück. So kann der Beklagte vom Richter selbst geladen werden; bei Säumnis droht ihm sofortige Verurteilung. Von Beginn an besteht im Ko gnitionsverfahren die Möglichkeit, gegen das – schriftlich abzufassende – Urteil Berufung zum Kaiser einzulegen; später wird für Rom der Stadtpräfekt (praefectus urbi) und für das Reich der Gardepräfekt (praefectus praetorio) zuständige Berufungsinstanz. Ob das Formularverfahren in den Provinzen ebenso durchgeführt wird wie in Rom ist unsicher; verbreitet wird angenommen, dass es hier schon früh zu „Denaturierungen“ kommt (Kaser et al. 2017, § 85 Rn. 2), zu Annäherungen an das Ko
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gnitionsverfahren. Nach dem Ende des Prinzipats folgen auch in der Stadt Rom Zivilverfahren immer stärker den Regeln des Kognitionsverfahrens. Die Ära des Formularverfahrens endet spätestens im Jahr 342 n. Chr., als durch eine Konstitution der Kaiser Constantius und Constans der Gebrauch von Klageformeln verboten wird (C. 2, 57, 1). Im Dominat wird das Verfahren durch kaiserliche Konstitutionen immer engmaschiger reglementiert, die Vornahme der Parteihandlungen an strikte Fristen gebunden und namentlich das Beweisverfahren stärker der richterlichen Herrschaft unterstellt. Die zwangsweise Durchsetzung eines Urteils, seine Vollstreckung, richtet sich nach dem Recht der XII Tafeln (III, 1−6) vor allem gegen die Person des Schuldners. Der verurteilte Schuldner hat 30 Tage Zeit, die Urteilsschuld zu zahlen. Danach kann der Kläger eine weitere Klage anstellen, die legis actio per manus iniectionem. Manus bezeichnet hier die rechtliche Herrschaft über eine andere Person: Der siegreiche Kläger erhält vom Gerichtsmagistrat die Befugnis, den Beklagten als seinen Schuldknecht mit sich zu führen (ducere; addictio). Binnen der nächsten 60 Tage hat der Gläubiger den Schuldner an drei aufeinanderfolgenden Markttagen vor den Prätor zu bringen und verkünden zu lassen, welche Summe jener ihm schulde – wohl, um Angehörigen oder Freunden die Möglichkeit zu geben, den Schuldner auszulösen. Am dritten Markttag darf der Gläubiger den Schuldner töten oder ins Ausland (trans Tiberim) in die Sklaverei verkaufen. Dieses harte Vollstreckungsrecht wird im vierten Jahrhundert durch eine lex Poetelia abgemildert (Klinck 2013): Beschwört der verurteilte Schuldner, nachdem der Gläubiger beim Prätor die addictio beantragt hat, bei der bona Copia, der guten Götting des Überflusses, seine Vermögenslosigkeit, so verweigert der Prätor dem Gläubiger die addictio. Dadurch wurde der Schuldner allerdings infam, verlor also seine bürgerlichen Ehrenrechte. Zudem galt die lex Poetelia nur für Darlehensschulden, nur für Gerichtsverfahren in der Stadt Rom und zudem nur, wenn der Schuldner römischer Bürger war. Eine frühe Vermögensvollstreckung ermöglicht die legis actio per pignoris capionem, mit der schon im Legisaktionenverfahren die Pfändung einzelner Vermögensgegenstände betrieben werden konnte. Allerdings ist diese Möglichkeit auf die Durchsetzung weniger, besonderer Ansprüche aus dem militärischen, sakralen und fiskalischen Bereich beschränkt (Gai. 4, 26−28). Der Grundsatz, dass die Vollstreckung aus einem gegen den Schuldner ergangenen Urteil eine weitere Klage des Gläubigers voraussetzt, gilt im Formularverfahren fort: Der siegreiche Kläger muss die Sache mit einer actio iudicati erneut vor den Prätor bringen und kann weitere Vollstreckungsakte nur dann erfolgreich beantragen, wenn der Beklagte die Urteilsschuld anerkennt oder zwar bestreitet, aber in einem erneuten Verfahren, in dem die Durchsetzbarkeit der Urteilsschuld überprüft wird, unterliegt. Im letzten Fall verdoppelt sich durch das Bestreiten des Beklagten grundsätzlich die Urteilssumme (Litiskreszenz). Neben die eben skizzierte Personalvollstreckung tritt im Laufe der Republik – eingeführt womöglich 118 v. Chr. durch den Prätor Publius Rutilius Rufus (Gai. 4, 35) – eine allgemeine Vermögensvollstreckung. Dabei handelt es sich um eine Generalvollstreckung im doppelten Sinne: Sie erfasst das gesamte Vermögen des
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Schuldners und dient der gleichmäßigen und größtmöglichen Befriedigung aller bekannten Gläubiger. Wählt der Gläubiger die Vermögensvollstreckung, so weist ihn der Prätor zunächst sicherungshalber in den Besitz aller Vermögensgegenstände des Schuldners ein (missio in bona debitoris rei servandae causa). Der Vollstreckungsbeginn ist den Gläubigern des Schuldners öffentlich bekannt zu machen (proscriptio); sie haben 30 Tage Zeit, ihre Forderungen anzumelden. In dieser Zeit hat der Gläubiger, der die Vollstreckung betreibt, das Vermögen des Schuldners zu erhalten und zu verwalten, wofür auch ein curator bonorum bestellt werden kann. Nach Ablauf der Proskriptionsfrist wird eine Gläubigerversammlung einberufen, in welcher ein magister bonorum gewählt wird. Diesem fällt die Aufgabe zu, das Schuldnervermögen zu verwerten: Es wird in Bausch und Bogen versteigert (venditio bonorum), wobei derjenige den Zuschlag erhält, der den Gläubigern die höchste Quote auf ihre Forderung zu zahlen verspricht. Sowohl die Personal- als auch die Vermögensvollstreckung führen zur Infamie, zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte des Schuldners. Eine wahrscheinlich von Augustus initiierte lex Iulia verleiht einem Schuldner, dessen Überschuldung ihm nicht vorwerfbar ist, die Möglichkeit, durch freiwillige Übertragung seines Vermögens auf den Gläubiger (cessio bonorum) der Vollstreckung insgesamt und damit auch der Infamie zu entgehen. Ebenfalls dem Schutz des Schuldners vor der Infamie dient es, wenn das Edikt des Prätors in Ausnahmefällen nur eine Einzelvollstreckung erlaubt, also die Verwertung einzelner Gegenstände aus dem Vermögen des Schuldners: so, wenn es sich bei dem Schuldner um einen Senator oder einen Geschäftsunfähigen ohne tutor oder curator handelt. Im Vollstreckungsverfahren des Kognitionsprozesses ist die Einzelvollstreckung die Regel: Sie erfolgt durch einen amtlich bestellten exsecutor, der dem Schuldner die geschuldete Sache wegnimmt und an den Gläubiger herausgibt oder, wenn der Schuldner zur Zahlung einer Geldsumme verurteilt wurde, einzelne Gegenstände aus dem Vermögen des Schuldners pfändet und zugunsten des Gläubigers versteigert. Im Dominat wird mit dem Kognitionsverfahren auch dessen Einzelvollstreckung die Regel. Eine Gesamtvollstreckung findet nur noch statt, wenn Verbindlichkeiten gegenüber mehreren Gläubigern bestehen und das Aktivvermögen des Schuldners insgesamt übersteigen.
2 Kernprobleme der Forschung Wie schon die Entwicklung des römischen Verfahrensrechts von der Königs- bis zur nachklassischen Zeit zeigt, hängt die rechtliche Ausgestaltung des Verfahrens naturgemäß eng damit zusammen, ob und inwieweit sich der „Staat“ an der Entscheidungsfindung und der Vollstreckung beteiligt. Das Verfahrensrecht ist damit in höherem Maße zeitgebunden als das materielle Recht. Daher informieren schon die Quellen, die der oströmische Kaiser Justinian I im sechsten Jahrhundert
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z usammentragen ließ und auf denen unsere heutige Kenntnis vom römischen Recht zum Großteil beruht, kaum noch über das frühere Verfahrensrecht. Und als nach der Renaissance der Rechtswissenschaft im Mittelalter das römische Recht in weiten Teilen Europas als geltendes rezipiert wurde (→ II. 16. Lepsius; → III. 20. Wijffels), galt dies für das römische Verfahrensrecht nur mit starken Einschränkungen. Da sich das in der Folgezeit geltende Verfahrensrecht schon früh teils sehr stark von den ohnehin nur bruchstückhaft überlieferten antiken Vorbildern gelöst hatte, war auch das Interesse an einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem römischen Verfahrensrecht zunächst vergleichsweise gering. Es tritt erst mit der Historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts wieder stärker in den Vordergrund: Die von ihr (auch) verfolgte Frage, wie das römische Recht in klassischer Zeit galt, lässt sich nur beantworten, wenn zugleich das seinerzeit geltende Verfahrensrecht, dass für die praktische Umsetzung des Rechts entscheidend ist, erforscht wird. Als geradezu epochemachendes Beispiel für diesen Ansatz mag das berühmte, 1856 erschienene Werk Bernhard Windscheids über „Die actio des römischen Civilrechts“ gelten, in dem Windscheid das historische Verfahrensrecht dem seinerzeit geltenden gegenüberstellte und aus funktionellen Unterschieden den modernen Begriff des zivilrechtlichen Anspruchs herausarbeitete. Als das Bürgerliche Gesetzbuch mit Beginn des Jahres 1900 das römische Recht, das bis dahin in weiten Teilen Deutschlands gegolten hatte, ablöste und die Beschäftigung mit dem römischen Recht insoweit allgemein eine rein historische wurde, leistete dies der Beschäftigung mit verfahrensrechtlichen Fragen weiteren Vorschub. Von zentraler Bedeutung ist dabei etwa der Versuch der Rekonstruktion des prätorischen Edikts durch Otto Lenel (Lenel 1927). Auch aufgrund der relativen Quellenarmut harren noch viele Grundfragen der Klärung; den Forschungsstand erschließt das Standardwerk von Kaser und Hackl (1996). In jüngerer Zeit stehen etwa die Erörterung von Urkunden und Inschriften prozessrechtlichen Inhalts (etwa Simshäuser 1992; Gröschler 2004; Nörr 2008; Platschek 2014) und Fragen des klassischen Vollstreckungsrechts (etwa Klinck 2013, 2015) im Zentrum des Interesses.
3 Bibliographie Broggini G (1957) Iudex arbiterve: Prolegomena zum Officium des römischen Privatrichters. Böhlau, Köln/Graz Bürge A (1995) Zum Edikt De edendo. Ein Beitrag zur Struktur des römischen Zivilprozesses. Z Savigny Stift Rechtsgesch Rom Abt 112:1–50 Donadio N (2011) Vadimonium e contendere in iure. Tra „certezza di tutela“ e „diritto alla difesa“. Giuffrè, Milano Erxleben F (2017) Translatio Iudicii. C. H. Beck, München Gröschler P (2002) Actiones in factum. Duncker & Humblot, Berlin Gröschler P (2004) Der Eid in TPSulp. 28 und 29. Z Savigny Stift Rechtsgesch Rom Abt 121:110–128 Hackl K (1997) Der Zivilprozeß des frühen Prinzipats in den Provinzen. Z Savigny Stift Rechtsgesch Rom Abt 114:141–159 Harke JD (2014) Der Eid im klassischen römischen Privat- und Zivilprozessrecht. Duncker & Humblot, Berlin
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Kapitel 22
Strafverfahren im antiken Griechenland Adriaan Lanni
1 Überblick Nur für das klassische Athen haben wir detaillierte Informationen über Strafverfahren. Literarischen Quellen lassen vermuten, dass in archaischer Zeit die Angehörigen der Opfer von Tötungsdelikten entweder Rache üben, den Täter ins Exil treiben oder einen Blutpreis als Wiedergutmachung für die Tötung akzeptieren konnten (Gagarin 2005). Es scheint, dass Konflikte, die aus diesen Verfahren entstanden, bei einem oder mehreren Ältesten zur Aburteilung vorgebracht werden konnten, wie dies in der Gerichtsszene der Fall zu sein scheint, die auf dem Schild des Achilleus in der Ilias dargestellt ist. Wie im frühen Griechenland mit anderen Verbrechen umgegangen wurde, ist kaum bekannt, auch wenn es wahrscheinlich erscheint, dass Selbsthilfe und/oder die Anrufung eines Älteren zur Aburteilung angewendet wurden. Die Frühgeschichte des attischen Gerichtsapparats ist gleichermaßen unklar. Im siebten Jahrhundert entschieden vermutlich Magistraten und ein als Areopag bekannter Adelsrat über Konflikte (MacDowell 1978, S. 24–33). Eine Quelle legt nahe, dass Solon im frühen sechsten Jahrhundert eine Art Berufung einführte, vielleicht an die Volksversammlung, die als Gerichtshof tagte (Ath. Pol. 9). Irgendwann vor der Mitte des fünften Jahrhunderts wurde das System der Volksgerichtshöfe eingeführt, aber das Datum und die Umstände seiner Entstehung sind bleiben unbekannt. Im Gegensatz dazu sind die Strafverfahren im klassischen Athen gut dokumentiert. Erhaltene Gerichtsreden – d. h. Reden, die von einem Redenschreiber
Übersetzung aus dem Englischen A. Lanni (*) Harvard Law School, Cambridge, USA E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_22
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A. Lanni
g eschrieben wurden, damit sie vor Gericht gehalten und später, manchmal überarbeitet, veröffentlicht werden konnten – betreffen Fälle von Mord, Körperverletzung, Hochverrat und andere Verbrechen. Die wahrscheinlich von Aristoteles oder seinen Schülern verfasste Abhandlung Der Staat der Athener bietet eine Beschreibung der politischen und rechtlichen Institutionen im Athen des vierten Jahrhunderts. Einige Gesetze, insbesondere Drakons Gesetz über Tötungsdelikte, sind auch in inschriftlicher Form erhalten geblieben. Das Athener Rechtssystem unterschied nicht zwischen Zivil- und Strafverfahren. Es gab zwei Hauptkategorien für Gerichtsverfahren: private Prozesse (dikai), bei denen das Opfer (oder bei Tötungsdelikten dessen Familie) Klage erhob, und öffentliche Prozesse (graphai), bei denen alle männlichen volljährigen Bürger Klage erheben konnten. Plutarch und Aristoteles zufolge führte der Gesetzgeber Solon die Popularklage für öffentliche Prozesse ein, um die Schwachen zu schützen (Ar., Ath. Pol. 9.1; Plu., Sol. 18). Die erhalten gebliebenen graphai lassen jedoch darauf schließen, dass freiwillige Ankläger selten desinteressierte Parteien waren, die eine geschädigte Drittpartei schützen wollten. Graphai wurden öfter von der primär interessierten Personen oder von Feinden des Beklagten vorgebracht (Osborne 1985; Christ 1998, S. 118–159). Obwohl keine antike Quelle erklärt, warum manche Klagen als graphai bezeichnet wurden und andere als dikai, waren die graphai offenbar Fälle, von denen man annahm, dass sie sich auf die gesamte Gemeinschaft auswirkten (Todd 1993, S. 102–109). Diese Unterteilung stimmt nicht genau mit der modernen Unterteilung in Straf- und Zivilrecht überein. Mord wurde zum Beispiel als dike kategorisiert, weil er als Verbrechen gegen die Familie und nicht gegen den Staat betrachtet wurde. Manche Verbrechen wie Diebstahl oder Körperverletzung konnten entweder als öffentliche oder private Fälle behandelt werden. Im Folgenden werden die Verfahrensweisen der großen Geschworenengerichtshöfe bei privaten und öffentlichen Fällen nur kurz skizziert, da sie in Thürs Artikel zu Zivilverfahren in diesem Band ausführlich beschrieben werden (→ 19. Thür). Zudem werden auch die besonderen Verfahren und Gerichte diskutiert, die bei Tötungsdelikten angewandt wurden, die Schnellverfahren (apagoge und ephegesis), die für Delikte zur Verfügung standen, die mit Diebstahl zu tun hatten, sowie die Verfahren bei schweren Verbrechen gegen den Staat. In den meisten Arten von Zivil- oder Strafrechtsverfahren war der Kläger (das Opfer oder der freiwillige Ankläger bei einem graphe) dafür verantwortlich, dem Beklagten eine Vorladung für das Erscheinen vor dem Magistrat zukommen zu lassen. Am genannten Tag legte der Ankläger dann seine Klagen einem Magistrat vor, der die Gerichtsgebühren entgegennahm und eine Voruntersuchung veranlasste. Über die Voruntersuchung wissen wir wenig. Vermutlich sagten die Kläger unter Eid aus und legten zumindest einige der Beweise vor, die ihre Behauptungen bekräftigten. Die ohne rechtliches Fachwissen, die nach dem Losverfahren für ein Jahr ausgewählt Magistrate lehnten offenbar keine Klagen aus rechtlichen Gründen ab oder stellten Gesichtspunkte heraus, über die im Prozess zu entscheiden war. Im vierten Jahrhundert war in den meisten privaten Fälle ein unverbindliches außer gerichtliches Schiedsgerichtsverfahren erforderlich. Falls eine der Parteien die
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ntscheidung des Schiedsrichters ablehnte, ging der Fall weiter an ein GeschworeE nengericht. Von Klägern wurde erwartet, dass sie vor Gericht für sich selbst sprachen, auch wenn sie einen Anteil ihrer Redezeit an einen Mit-Sprecher abgeben konnten. Jedem Kläger wurde eine festgelegte, mit einer Wasseruhr gemessene Menge an Zeit zugestanden, um seinen Fall darzulegen. Manche privaten Fälle wurden in weniger als einer Stunde abgeschlossen, kein Verfahren dauerte länger als einen Tag. Obwohl jedem Geschworenengericht ein per Losverfahren ausgewählter Bürger als Magistrat vorsaß, unterbrach dieser weder den Sprecher, wenn er irrelevantes Material vorbrachte, noch erlaubte er einer anderen Person, rechtliche Einwände vorzubringen. Die einzigen Einschränkungen für die Sprecher waren die zeitliche Begrenzung und ihr eigenes Gespür dafür, welche Argumente die Geschworenen am wahrscheinlichsten überzeugen würden. Die prozessführenden Parteien waren dafür verantwortlich, Gesetze zu finden und zu zitieren, von denen sie dachten, dass sie für ihren Fall im Verlauf des Verfahrens hilfreich wären. Die Magistrate wiesen die Geschworenen nicht in die Gesetze ein. Die Fälle wurden jeweils von 201 bis 501 männlichen attischen Bürgern angehört. Dafür wurde jedes Jahr per Los eine Liste von 6000 Geschworenen ermittelt. Jeder Mann dieser Liste, der an einem bestimmten Gerichtstag als Geschworener tätigt werden wollte, stellte sich morgens am Gericht vor. Zumindest zu Aristoteles Zeit wurde ein ausgeklügeltes Verfahren angewandt, um nach dem Zufallsprinzip Geschworene für die jeweiligen Gerichtshöfe zu bestimmen (Ath. Pol. 63–65). Die Geschworenen erhielten für jeden Arbeitstag eine kleine Entschädigung. Obwohl alle männlichen Bürger über dreißig als Geschworene tätig werden konnten, waren die Armen, die Älteren und die Stadtbewohner vermutlich überproportional stark vertreten. Jeder Geschworene erhielt zwei Stimmsteine, einen für die Anklage und einen für die Verteidigung. Nachdem die Parteien ihre Fälle dargelegt hatten, gaben die Geschworenen den Stimmstein, der gezählt werden sollte, in eine Urne ab und den anderen in eine Ausschussurne. Auf diese Weise erfolgte eine geheime Abstimmung ohne förmliche Beratung. Eine einfache Mehrheit der Geschworenen bestimmte das Ergebnis. Das Urteil wurde nicht begründet und es gab keine Möglichkeit der Berufung. Während die Strafen mancher Delikte per Gesetz festgelegt war, wurden die Geschworenen in anderen Fällen dazu aufgefordert, zwischen den Strafen zu wählen, die von jeder Partei in einer zweiten Rede vorgeschlagen hatte. Einige kurze Bemerkungen zur eisangelia, die bei schweren Verbrechen gegen den Staat durchgeführt werden konnte: Im vierten Jahrhundert war dieses Verfahren offenbar bei verschiedene Formen des Hochverrats anwendbar, einschließlich Zerrüttung des Volkes, Betrug der städtischen oder militärischen Kräfte und die Annahme einer Bestechung für Fehlleitung des Volkes (Hyp. 4. 7–8). Jeder Bürger konnte eine eisangelia vor dem Rat der 500 oder der Volksversammlung bringen. Der Rat oder die Versammlung entscheiden dann, entweder den Fall selbst zu verhandeln oder den Fall an ein Volksgericht abzugeben. Falls der Rat oder die Versammlung den Fall verhandelte, fungierte der Athener, der die Anfechtung vorgetragen wurde, oft als Ankläger, obgleich zusätzliche öffentliche Ankläger ernannt werden konnten. Die häufigste Strafe für Hochverrat war die Todesstrafe. Da es dem
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Rat nicht erlaubt war, eine schwerere Strafe zu verhängen als ein Bußgeld von 500 Drachmen, musste der Rat den Fall an die Versammlung oder ein Volksgericht abgeben, falls er eine höhere Strafe für angemessen hielt. Für Tötungsdelikte und einige damit verbundene Verbrechen wie Brandstiftung und vorsätzliche Körperverletzung wurden andere Verfahren und Gerichte gebraucht. Im klassischen Athen gab es für Tötungsdelikte fünf verschiedene Gerichte (Ath. Pol. 57.3; MacDowell 1963, S. 39–89). Der Rat des Areopag setzte sich aus ehemaligen Archonten zusammen, die das Amt auf Lebenszeit bekleideten, und behandelte Fälle, die vorsätzliche Tötung und Körperverletzung, Brandstiftung und Vergiftung mit Todesfolge durch die eigene Hand des Beklagten betrafen (Ath. Pol. 57.3; Dem. 23,22). Eine Verurteilung bei diesen Anklagen führte zur Hinrichtung, obwohl die der vorsätzlichen Tötung Angeklagten nach dem ersten Rededurchgang freiwillig in ein dauerhaftes Exil gehen konnten, wenn sie ihre Chancen gegenüber den Richtern als ungünstig einschätzten (Ant. 5,13). Die anderen vier Gerichte waren mit 51 Männern besetzt, die als ephetai bekannt waren (Dem. 43,57; 23.37–8). Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, wie die ephetai ausgewählt wurden, aber am wahrscheinlichsten ist, dass sie von Mitgliedern des Areopag gewählt wurden. Das Gericht am Palladion war für Fälle der unbeabsichtigten Tötung und der Tötung von Sklaven, Metöken (Beisassen) oder Ortsfremden zuständig (Ath. Pol. 57.3). Die Strafe für diese Delikte war das Exil, wobei die Familie eines Opfers einer unbeabsichtigten Tötung die Möglichkeit hatte, den Täter zu begnadigen. Das Gericht des Delphinion behandelte Fälle, bei denen der Beklagte zugab, dass er das Opfer getötet hatte, aber geltend machte, dass er dies rechtmäßig getan habe, zum Beispiel, da er sich selbst verteidigen musste (Ath. Pol. 57.3; Dem. 23,74). Wir wissen sehr wenig über die zwei verbleibenden Gerichte für Tötungsdelikte. Das Gericht am Prytaneion beschäftigte sich offenbar vor allem mit Sachverhalten, die Religion und Rituale betrafen und behandelte Fälle, bei denen ein Tier oder ein unbelebtes Objekt den Tod eines Menschen verursacht hatte, oder bei denen die Identität des Mörders unbekannt war (Ath. Pol. 57.4; Dem. 23,76). Das Gericht verkündete dem unbekannten Täter die Verbannung, und Gegenstände und vielleicht auch Tiere, die für einen Todesfall verantwortlich waren, wurden außerhalb der Grenzen von Attica verbannt (MacDowell 1963, S. 85–89). Das Gericht „in Phreatto“ war schließlich für die Rechtsprechung in Fällen verantwortlich, bei denen ein Beklagter, der für ein früheres Vergehen ins Exil verwiesen worden war, der Tötung oder Körperverletzung angeklagt war. Da der Beklagte Attica nicht betreten durfte, war er verpflichtet, seine Verteidigung von einem Boot aus vorzubringen, dass direkt vor der Küste ankerte (Ath. Pol. Pol. 57.3). Wir wissen nicht, wie oder wann die fünf Gerichte für Tötungsdelikte entstanden, obwohl sie wahrscheinlich älter sind als das allgemeine Gerichtssystem. Drakons Gesetz aus dem Jahr 621/0 v. Chr., das bruchstückhaft erhalten geblieben ist, scheint das erste schriftliche Gesetz über Tötungsdelikte von Athen zu sein. Das drakonische Gesetz sah vor, dass Fälle von unbeabsichtigter Tötung als ephetai verhandelt werden sollten, und scheint einige Formen der rechtmäßigen Tötung vorzusehen, erwähnt in seiner vorliegenden Form nicht den Areopag oder die vorsätzliche Tötung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sich darüber uneinig, ob die
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Rechtsprechung des Areopag über Tötungsdelikte älter oder jünger ist als die in Drakons Gesetz erwähnten ephetai sowie darüber, wie Verfahren zu Tötungsdelikten zur Zeit Drakons funktionierten (Carawan 1998, S. 7–8, 134; Wallace 1989, S. 3–47; Gagarin 1981, S. 135). Die erhalten gebliebenen Reden über Tötungsdelikte bieten ein viel deutlicheres Bild der besonderen Verfahren, die an den Gerichten für Tötungsdelikte während des klassischen Zeitalters angewandt wurden. Die Familie des Opfers musste den Täter ahnden. Nach Drakos Gesetz zu Tötungsdelikten betrifft die Verpflichtung, auf eine Tötung zu reagieren, sogar die gesamte Phratrie (Sippengemeinschaft) des Opfers. Zunächst brachte die Familie auf der Agora (Marktplatz) eine Proklamation gegen den mutmaßlichen Täter vor, woraufhin der Beklagte des Marktplatzes verwiesen und von Tempeln und religiösen Feierlichkeiten sowie von zivilen Institutionen wie den Gerichten und der Versammlung ausgeschlossen wurde (At. Pol. 57.2; MacDowell 1978, S. 111). Dann legte die Familie ihre Anklagen dem Basileus (einem der Archonten) vor, der die Proklamation gegen den Täter wiederholte und drei Voruntersuchungen veranlasste, die jeweils mit einem Monat Abstand erfolgten. Der Basileus gab den Fall auf Grundlage der Anschuldigungs- und Verteidigungsansprachen an das zuständige Gericht für Tötungsdelikte weiter. Im vierten Monat wurde der Prozess unter freiem Himmel abgehalten, um die Reinheit zu gewährleisten. Für die Verfahren zu Tötungsdelikten musste ein besonderer Eid geleistet werden. Sowohl die Prozessführer als auch die Zeugen schworen nicht nur die Wahrheit zu sagen, sondern auch, dass der Beklagte schuldig oder unschuldig war. Am Ende der Verhandlung schwor die Partei, die den Prozess gewonnen hatte, dass die Geschworenen das richtige Urteil gefällt hatten. Als Teil ihres Eröffnungseids schworen die Prozessführenden außerdem, sich sachdienlich zu äußern (Ant. 6.9, 5.11), obwohl sich die Prozessführenden in den erhalten gebliebenen Fällen zu Tötungsdelikten nicht immer an diese Regel hielten. Dennoch geht es aus unseren Quellen eindeutig hervor, dass die Relevanzregel der Gerichte für Tötungsdelikte und die erfahrenen Richter des Areopagite diesen Gerichten den Ruf einer höherwertigen Rechtsprechung verliehen (Lyc. 1.11–13, 149; Ant. 5.11; Lanni 2006, S. 75–114). Jeder Prozessführer hielt zwei Reden. Wenn er wollte, durfte sich der Beklagte nach dem ersten Rededurchgang in ein freiwilliges Exil zurückziehen. Wir haben keine Belege über das Abstimmverfahren an den Gerichten für Tötungsdelikte. Wie oben beschrieben wurden die Strafen durch die Anklagen bestimmt. Es gab noch eine weitere Kategorie außergewöhnlicher Verfahren, die für manche Kriminalfälle anwendbar war. Sowohl Einheimische als auch Nicht-Einheimische, bei denen eindeutig feststand, dass sie ein mit Diebstahl in Verbindung ste hendes Verbrechen begangen hatten, konnten durch ein Schnellverfahren ohne Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt werden. Das kakourgon-Verfahren des apagoge ermöglichte es den Opfern, kakourgoi („Missetäter“) vorläufig festzunehmen und sie vor den Rat der Elf zu bringen. Dabei handelte es sich um ein Gremium von Magistraten, das vor allem Leibesstrafen im Namen des Polis verhängte. Mehrere Quellen weisen darauf hin, dass die Kategorie der kakourgoi Diebe (kleptai), Entführer (andrapodistai) und Straßenräuber (lopodytai) umfasste (Ath. Pol. 52.1; Hansen 1976, S. 36–48). Es besteht Unsicherheit darüber, welche anderen Vergehen
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in den Prozessen am apagoge behandelt wurden. Wahrscheinlich war dieses Gericht auch für Einbrecher (toichorychoi), Taschendiebe (ballantiotomoi), Banditen (lestai) und Tempelräuber (heirosyloi) zuständig (Dem. 7,14; 35,47; Lys. 13,48; Xen. Mem. 1.2.62; Pl. Rep. 552d1–6), und möglicherweise auch für Ehebruch und Tötungsdelikte (Hansen 1976, S. 36–48; Cohen 1983, S. 52–62; Hunter 1994, S. 135–136, 2007, S. 9–10). Vorläufige Festnahmen von kakourgoi waren nur dann erlaubt, wenn der Täter ep’autophoro erwischt worden war. Dies wird manchmal mit „auf frischer Tat“ übersetzt, umfasste aber wahrscheinlich auch Situationen, bei denen die Schuld offenkundig war, wie zum Beispiel wenn ein Dieb gefasst wurde, der die gestohlenen Güter bei sich hatte (Lys. 13,86; Dem. 45,8; Aesch. 1,91; Hansen 1976, S. 48–53; Harris 1994). Falls der Beklagte seine Schuld zugab – oder vielleicht auch, wenn er einfach keine plausible Erklärung für seinen Besitz der gestohlenen Güter abgeben konnte – wurde er vom Rat der Elf ohne Verhandlung hingerichtet (Ath. Pol. 52.1; Dem. 45,81). Wenn der Beschuldigte die Schuld nicht zugab, gab der Rat der Elf den Fall zur Verhandlung an die Volksgerichte weiter. Ein damit verbundenes Schnellverfahren, ephegesis, war ähnlich wie apagoge, außer dass ein Magistrat die Verhaftung auf Antrag des Opfers durchführte und den Missetäter vor den Rat der Elf brachte (Dem. 22,26; Hansen 1976, S. 24–28; Hunter 1994, S. 136–137). Während sich mehrere Quellen auf die Anwendung des Verfahrens der vorläufigen Festnahmen per apagoge beziehen, gibt es sehr wenige Bezüge zu vorläufigen Festnahmen durch einen Magistrat durch ephegesis. Warum wandten die Athener für einige auf Diebstahl bezogene Vergehen solche außergewöhnlichen Verfahren an, welche die Verhängung der Todesstrafe ohne Autorisierung von einem Geschworenengericht oder einer Volksversammlung ermöglichten? Gagarin betont, dass das Prinzip der apagoge insofern ungewöhnlich ist, dass es eine Kategorie von Verbrechern (kakourgoi) statt der Delikte bezeichnet und vermutet, dass sich das Gesetz auf „Berufsverbrecher“ bezog, denen nach der damaligen Denkweise die Vorteile eines vollen Gerichtsprozesses nicht zustanden (Gagarin 2003, S. 185–187). Bei gewöhnlichen Verbrechern mit wenigen engen Bin dungen zur Gemeinschaft war es außerdem wahrscheinlich, dass sie vor der Gerichtsverhandlung flohen, was das Schnellverfahren attraktiver machte. Schließlich kann auch das Erfordernis, dass die Schuld des Täters offensichtlich sein musste, dazu geführt haben, dass eine Verhandlung unnötig erschien.
2 Kernprobleme der Forschung Bei der Bewertung des Ausmaßes, in welchem die Athener Gerichtsverfahren die Konfliktlösung begünstigten, gilt es drei Kernfragen zu beachten: 1) wie es sich auf die Funktionsweise des Systems ausgewirkt haben könnte, dass es keine Staatsanwaltschaft gab; 2) wie das System die Selbsthilfe in Situationen, in denen es weniger realistisch war, dass die Opfer vor Gericht gingen, integrierte und sanktionierte; und 3) wie die Regelung von besonderen Verfahren bei Tötungsdelikten und mit
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Diebstahl in Verbindung stehenden Verbrechen die allgemein wahrgenommene Legitimität des Systems verbessert haben könnte. All diese Themen zeigen ein junges Rechtssystem, dass noch im Begriff ist, sich als exklusives Rechtsmittel für Opfer von Verbrechen zu etablieren. Mit nur wenigen Ausnahmen (insbesondere Delikte, die von öffentlichen Amtspersonen verübt wurden) verließen sich die Athener bei der Verfolgung von Verbrechen auf private Bürger (Opfer und freiwillige Ankläger). Eine der vielen Auswirkungen, die diese Vereinbarung mit sich brachte, war die reduzierte Abschreckung krimineller Missetaten: Bei Verbrechen, die keine Tötungsdelikte waren, gab es keine Garantie, dass selbst diejenigen, die ganz offensichtlich im Sinne eines schweren Vergehens schuldig waren, strafrechtlich verfolgt würden. Öffentliche Strafverfolgung bei Verbrechen ohne Opfer gegen den Staat waren mitunter zumindest vorhersehbar. Dies hing in erster Linie eher davon ab, ob ein Feind oder ein politischer Rivale bereit war, Klage zu erheben, statt von der Ernsthaftigkeit oder Sichtbarkeit des Vergehens. Strafverfolgungen kamen eher sporadisch vor, selbst dort, wo es eine eindeutig geschädigte Partei gab, die einen Anreiz für die Strafverfolgung hatte. Opfer mit weniger Geld und sozialem Rückhalt als ihr Gegner waren bei Strafverfolgungen selbst von schweren und offensichtlichen Vergehen mitunter recht zurückhaltend. Eine wohlhabender Prozessführender hatte mehrere Vorteile an den Athener Volksgerichten: Er konnte sich einen besseren Redenschreiber leisten, war dank seiner Bildung wahrscheinlich ein besserer öffentlicher Redner und hatte Dienste zugunsten der Öffentlichkeit ausgeführt, wodurch er die Geschworenen möglicherweise für sich gewinnen konnte. Ein Sprecher klagte zum Beispiel, dass sein Gegner Meidias viele Menschen ungestraft geschädigt hatte, weil diese zu eingeschüchtert waren, um ihn strafrechtlich zu verfolgen (Dem. 21,141). Während die Verwendung privater Strafverfolger die Abschreckung möglicherweise reduzierte, verbesserten wahrscheinlich andere Aspekte des privaten Konfliktlösungssytems wie die ausdrückliche rechtliche Genehmigung zur Selbsthilfe unter bestimmten Bedingungen die Effizienz und Legitimität des Systems. Selbsthilfe – d. h. private Bestrafung, die ein Opfer ohne Miteinbeziehung einer öffentlichen Institution bei der Festlegung der Schuld oder der Strafe ausübte – war unter zwei bestimmten Bedingungen ausdrücklich per Gesetz gestattet: bei einem auf frischer Tat ertappten Sexualverbrecher (Dem. 23,53–54; Lys. 1,49; Scafuro 1997, S. 194–216; Cohen 1991, S. 98–132; Carey 1995; Forsdyke 2012, S. 146–157) oder bei einem Dieb in der Nacht (Dem. 24,113; Cohen 1983, S. 113–118). Obwohl diese Situationen nicht auf Ereignisse beschränkt waren, die innerhalb des Hauses passierten, wurden sie offenbar vor allem dafür geschaffen, um den Haushalt vor ernstlichen Störungen zu bewahren. Indem die Anwendung von Selbsthilfe in Situationen gesetzlich erlaubt war, in denen anzunehmen war, dass Bürger eher privat Rache üben würden, als sich an das Gesetz zu wenden, versicherte das Rechtssystem, dass diese Fälle der Selbsthilfe keine Zweifel über die Legitimität und Autorität des formalen Rechtssystems aufkommen lassen würden. Schließlich mögen die besonderen Verfahren bei Tötungsdelikten und die Schnellprozesse für bestimmte mit Diebstahl in Verbindung stehenden Vergehen teilweise für Einschränkungen des allgemeinen Rechtssystems entschädigt haben.
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Die Regelung, die verlangte, dass Verwandte und gegebenenfalls sogar Mitglieder der Phratrie des Opfers Tötungsdelikte strafrechtlich verfolgten, gewährleistete, dass wenigstens für dieses größte Verbrechen die Strafverfolgung gewährleistet war, obwohl es keine Staatsanwaltschaft gab. Der Ruf des Areopag, und in Verbindung damit auch der Ruf der anderen Gerichte für Tötungsdelikte, als die besten Gerichtshöfe Athens (Xen. Mem. 3.5.20; Dem. 23,65–6; Lyc. 1,12) könnte Familienmitglieder von Opfern bestärkt haben und machte es leichter für sie, sogar bei Tötungsdelikten zugunsten der legalen Rechtsmittel auf Rache zu verzichten, wodurch die Legitimität des Systems gestützt wurde. Schließlich muss auch die Möglichkeit einer unmittelbaren Festnahme (in manchen Fällen mit der Hilfe eines Magistrats) und der Hinrichtung per Schnellverfahren für bestimmte mit Diebstahl in Verbindung stehende Delikte die Abschreckung für diese Delikte erhöht und die Wahrnehmung der Athener für persönliche Sicherheit und öffentliche Ordnung verbessert haben.
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Kapitel 23
Römische Strafverfahren Federico Procchi
1 Überblick Wie bekannt ist, wurde Rom während der ersten zweieinhalb Jahrhunderte (nach der Tradition 753–509 v. Chr.) seines Bestehens von Königen regiert. Für diese weit zurückreichende Epoche verfügen wir über fast gar keine zeitgenössischen schriftlichen Dokumente und die Nachrichten, die uns von Historikern der augusteischen Zeit (Livius und Dionysios von Halikarnassos) erreichen, sind durchsetzt von legendenartigen Elementen und von Rekonstruktionen, die häufig dazu tendieren, die Gegenwart in die Vergangenheit zu projizieren, und dürfen als solche nur mit äußerster Vorsicht herangezogen werden. Nichtsdestoweniger ermöglicht uns eine Gegenüberstellung der literarischen Tradition mit den archäologischen Funden und sonstigen aus der Altertumsforschung ableitbaren Elementen, die wesentlichen Züge des ältesten römischen Strafjustizsystems zu erläutern (Santalucia 1998, S. 1 f.). Das urtümliche System der Privatrache, wie es für die proto-urbanen Gemeinden charakteristisch war, fand weiterhin einen Resonanzboden in der stillschweigenden Billigung durch das gesellschaftliche Umfeld und dürfte zumindest in den Anfängen nur sehr wenig Raum gelassen haben für ein öffentliches strafendes Einschreiten des neuen städtischen Gebildes. Die Verfolgung des Verbrechens war daher weiterhin der Reaktion des Geschädigten selbst oder seiner Familienangehörigen anheimgestellt, Gerichtsprozesse fehlen fast vollständig. Mit anderen Worten: Die städtische Gemeinschaft verfolgte unerlaubte Handlungen, die die Sphäre des ein-
Übersetzung aus dem Italienischen F. Procchi (*) Dipartimento di Giurisprudenza, Università di Pisa, Pisa, Italien E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_23
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zelnen civis verletzten, nicht direkt und beschränkte sich bestenfalls darauf, in einigen Fällen die Ausübung der Privatrache zu kontrollieren. In einem solchen Kontext war jedes staatliche Eingreifen für die Lösung eines zwischen privaten Bürgern entstandenen Konfliktes gleichermaßen ausgeschlossen: Es gab nicht einmal einen Spielraum für ein öffentliches Bemühen um eine gütliche Einigung oder um einen Sühnevergleich, die beide letztendlich nur über die freie Vereinbarung zwischen Täter und Opfer zustande kommen konnten (Santalucia 2013, S. 9 f.). In dieser weit zurückliegenden Epoche schritt der König (rex), sei es in seiner Funktion als oberster Priester, sei es in der Funktion als oberster Militärmachthaber, lediglich ein, um einige kriminelle Handlungen zu verfolgen, die der gesamten Gemeinschaft Schaden zufügten; im ersten Fall drohte er Sanktionen an (sowohl strafrechtlicher als auch religiöser Natur) für jedes Verhalten, das durch ein Tun oder Unterlassen geeignet war, die Freundschaft und das Wohlwollen der Götter gegenüber der Stadt (pax deorum) aufs Spiel zu setzen, im zweiten Fall übte er Strafjustiz gegen jegliche Form von Hochverrat, die geeignet war, die Grundfesten der Existenz der Stadtgemeinde zu gefährden. Darüber hinaus intervenierte die königliche Gesetzgebung, um die freie Ausübung der Blutrache durch eine verwandtschaftliche Gruppe aufgrund der Tötung eines ihrer Mitglieder zu beschränken. Nach der Überlieferung soll nämlich bereits König Numa vorsätzlichen und nicht vorsätzlichen Totschlag unterschieden und bestimmt haben, dass im ersten Fall die Agnaten den Täter töten sollten (si qui hominem liberum dolo sciens morti duit paricidas esto, Fest. 247, 23–24 L.), während im zweiten Fall die Buße durch Übergabe eines zum Opfer bestimmten Widders an die Agnaten des Getöteten erfolgte (si quis imprudens occidisset hominem, pro capite occisi agnatis eius in contione offerret arietem, Serv. auct. in buc. 4, 43). Diese Vorschrift machte es natürlich auch erforderlich festzustellen, ob die Tötung vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt war. Mit der Ermittlung wurden zwei Helfer des Königs mit der Bezeichnung quaestores parricidii (Tötungsermittler) beauftragt, welche im Falle einer vorsätzlichen Tötung auch die Aufgabe hatten, den Vollzug der Rache durch die Angehörigen des Getöteten zu überwachen (wahrscheinlich vor dem nach Kurien versammelten Volk, wie beim parallelen Tatbestand der fahrlässigen Tötung). Noch aus der Königszeit haben wir zudem Nachricht von der Existenz weiterer Helfer des Königs, der duumviri, wahrscheinlich ein außerordentliches Gericht, dem die Aufgabe zukam, einen Schuldspruch zu verkünden und unmittelbar zur Vollstreckung der Todesstrafe gegen einen auf frischer Tat ertappten Täter zu schreiten, der eine perduellio1 verübt hatte (Santalucia 1998, S. 21 f.). Gegen Ende der Königszeit dürfte auch das Volk begonnen haben, eine immer aktivere Rolle bei der Bestrafung von Verbrechen zu spielen und es ist plausibel anzunehmen, dass an die Stelle der Rache durch die Verwandten die Bestrafung durch die Bürgerversammlung mittels Abhaltung eines Volksprozesses trat, der von den Quästoren vor den comitia curiata geführt wurde (Grosso 1956, S. 8 f.). Die Perduellio war ein Verbrechen des Hochverrats mit einem ausgedehnten und nicht klar definierten Tatbestand, der im Wesentlichen jedes gegen die civitas, deren politische Ordnung und deren Institutionen gerichtete Verhalten umfasste. 1
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Mit dem Ende der Königszeit und dem Beginn der Republik wurde das militärische Kommando, imperium (und mit diesem die Regierung der Stadt), von zwei jährlich von dem nach Zenturien versammelten Volk gewählten Magistraten übernommen, die ursprünglich die Amtsbezeichnung praetores trugen und später consules hießen. Die religiösen Funktionen wurden hingegen dem rex sacrorum und später dem pontifex maximus übertragen, wodurch eine klare Trennung zwischen früher einheitlich dem Souverän zukommenden Vorrechten festgelegt wurde. Dass „das römische öffentliche Strafrecht mit dem valerischen Gesetz2 [beginnt], welches das Todesurtheil des Magistrats über den römischen Bürger der Bestätigung durch die Bürgerschaft unterwarf“ (Mommsen 1899, S. 56 f.), ist von der Vorstellung geprägt, dass zwischen Zwangsgewalt (coercitio) und Gerichtsbarkeit (iudicatio) zu unterscheiden ist, wobei beide Teile eines Ganzen, des imperium, darstellten, aber eben doch aufgrund der vorhandenen oder mangelnden Möglichkeit unterschiedlich waren, einen Versuch der provocatio ad populum (von Mommsen verstanden „als Prüfung des magistratischen Spruchs durch eine höhere Autorität und Ausübung des Begnadigungsrechts der Gemeinde auch gegen den Willen der Magistratur“ [Mommsen 1887c, S. 351]) zu unternehmen, das heißt im endgültigen oder nicht endgültigen Charakters der Sanktion (Venturini 1996, S. 22). Nach der Ansicht Mommsens haben die Konsuln, lange Zeit die einzigen Inhaber des imperium, die Gerichtsbarkeit für die schwerwiegendsten Straftatbestände außerhalb der politisch-militärischen Sphäre zur Vermeidung möglicher Konflikte mit dem Volk an die quaestores und für außergewöhnliche Fälle der perduellio an die duumviri abgegeben. Diese regelmäßig und von Fall zu Fall (bis deren Befugnisse von den Volkstribunen übernommen wurden) ernannten Hilfsmagistrate seien Adressaten einer auf das Schema des Mandats zurückzuführenden Beauftragung gewesen (Mommsen 1887b, S. 539 f.), die im Laufe der Zeit auch auf den Prätor ausgedehnt worden sei, wodurch dessen ursprünglich auf Zivilsachen beschränkte iurisdictio erweitert worden sei (Mommsen 1887b, S. 235, 1899, S. 154; aber s. auch unten 2). Die Zuständigkeit der nun vom Volk gewählten und nicht mehr von den Konsuln ernannten Quästoren sei auf diesem Wege auf jedes Verbrechen außerhalb der politischen Sphäre ausgedehnt worden (Mommsen 1887b, S. 541, 1899, S. 155) und habe eine Ergänzung in der von anderen Mandatsträgern ausgeübten Strafverfolgungstätigkeit gefunden, so zum Beispiel die der tresviri capitales bei verhältnismäßig weniger schwerwiegenden Delikten (Mommsen 1899, S. 298) und ab einer bestimmten Zeit die der aediles, beschränkt auf spezifische Fälle, die in der Hauptsache außerhalb der typischen Gerichtsbarkeit der Volkstribunen3 lagen, und auf Kapitalverbrechen (Mommsen 1887b, S. 494, 499 ff., 512 f.). Mit Blick auf deren ursprünglichen Rolle als Führung und Vertretung der plebejischen Gemeinschaft, die mit der der Konsuln in der urtümlichen Republik korrespondiere (Mommsen Das erste Gesetz von drei leges Valeriae in Sachen provocatio ad populum, das die Quellen als nahezu gleichzeitig mit der Einführung der Republik darstellen. 3 In der Konzeption von Mommsen zuständig für eine nicht delegierte Gerichtsbarkeit in Bezug auf politische Straftaten als Träger einer Macht, die analog geartet war wie die des imperium (Mommsen 1899, S. 46, 156). 2
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1899, S. 46, 156), schrieb Mommsen dem Tribunat im Unterschied zu den anderen Magistraturen eine eigene Rechtsprechungs- und Koerzitationsgewalt zu, die auch gegenüber den obersten Magistraten ausgeübt werden und sogar über das imperium (1899, S. 300) obsiegen habe können; eben diese Eigentümlichkeit habe beim Verschwinden der duumviri die Übernahme der Zuständigkeit in Sachen perduellio durch das Tribunat begünstigt, so dass sich allmählich das Funktionsgebilde eines „politischen Rechenschaftsgerichts“ (1887a, S. 165 f.) abzeichnete, aus dem sich die Notwendigkeit ergab, bei einer provocatio gegen deren Urteile nicht nur die Plebs, sondern die gesamte in der Zenturienversammlung vereinigte Bürgergemeinschaft mit einzubeziehen (Procchi 2016, S. 128 f.). Die bisher ausgeführte Darstellung wurde im 20. Jahrhundert zum Gegenstand einer kritischen Überprüfung, und in besonderer Weise kommt Kunkel (1962, S. 21 ff.) – der auf vorhergehenden Studien von Heuß (1944, S. 79 ff.) und Bleicken (1959, S. 324 ff.) aufbaute – das Verdienst zu, herausgearbeitet zu haben, dass der römische Konsul nicht mit einer Befugnis zur Rechtsprechung ausgestattet war, sondern mit einer aus seinem imperium abgeleiteten bloßen Zwangsgewalt, die ihn dazu legitimierte, zwangsweise und ohne irgendein Verfahren durchzuführen, gegen jeden Bürger vorzugehen, der seinen Anordnungen zuwiderhandelte oder die Ausübung seiner Funktionen behinderte. Unter diesem Gesichtspunkt wäre dann die provocatio nicht der Akt, mit dem ein Gerichtsverfahren der zweiten Instanz eingeleitet wurde (wie von Mommsen behauptet), sondern lediglich ein Mittel zur Zügelung der schwersten Überschreitungen der „coercitio“4 durch einen förmlichen Antrag auf Verfahrenseinleitung (der ersten und einzigen Instanz) vor dem einzigen Organ, das zuständig war, de capite civis zu befinden, der Volksversammlung. Auf diesem Weg konnte überdies die delegierte Natur der Gerichtsbarkeit der niederen Magistrate nur in Abrede gestellt werden. Die Forschung tendiert demnach heute mehrheitlich dazu, die Zentralität der strafrechtlichen Kompetenz der Volksversammlungen innerhalb des durch das Zwölftafelgesetz eingeführten Systems anzuerkennen, das bis zur Gracchenzeit auch keine erheblichen Veränderungen erfahren sollte. Die Aufgabe der Anklage vor den Zenturiatskomitien kam für gewöhnliche Kapitalverbrechen den quaestores parricidii und für Kapitalverbrechen politischer Natur den Volkstribunen zu (Garofalo 1989, S. 76 f.). Hingegen wurde für Fälle, bei denen eine Geldstrafe im Raum stand, die vorhergehende Praxis legalisiert und ausgedehnt, so dass es den Tribunen und Ädilen ermöglicht wurde, vor den concilia plebis entsprechende Verfahren gegen sämtliche Bürger (Patrizier wie Plebejer) zu führen. Lediglich in der Anfangsphase der Republik hätte es dann noch die strafverfolgende Tätigkeit der duumviri perduellionis gegeben, die von Fall zu Fall von den Konsuln ernannt wurden und die Befugnis hatten, unmittelbar gegen einen auf frischer Tat ertappten Straftäter vorzugehen; allerdings sollte auch diese Tätigkeit sehr bald durch die tribunizischen
Die Berufung unter Rückgriff auf einen Richterspruch der Volksversammlung war nur in dem Fall statthaft, in dem der Magistrat die Absicht hatte, über den Bürger die Todesstrafe oder eine Geldstrafe in Höhe von mehr als 3020 Assen zu verhängen. 4
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erfahren wegen Hochverrats vor den Volksversammlungen ersetzt werden (SantaV lucia 2013, S. 46 f.). Dennoch ist es nur schwer vorstellbar, dass im republikanischen Rom ein Verfahren mit dem Ziel, die Versammlung der gesamten Bürgergemeinschaft einzubeziehen, für sämtliche Straftaten, selbst für solche von minderer Schwere oder solche, die nur zu geringer gesellschaftlicher Besorgnis führten, in Gang gesetzt worden sein soll. Also hat man sich ausgehend von Kunkel in Bezug auf unpolitische Straftaten mehrmals die Frage gestellt, ob es eine echte und eigentliche den Magistraten übertragene Strafgerichtsbarkeit gab (s. auch unten 2.). Sicher ist, dass die Quellen ab dem Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. bis zum Zeitalter der Gracchen eine gewisse Anzahl an quaestiones5 erwähnen, die direkt von römischen Magistraten gegen Bürger geführt wurden, darunter einige, die durch ein Plebiszit eingeleitet wurden und andere, die im Einklang mit einem entsprechenden Willen des Senats von den Magistraten selbst betrieben wurden, die durch die faktische Entwertung der provocatio geprägt waren (Strachan-Davidson 1912, S. 225 ff.; Venturini 1996, S. 87 ff.). Diese Tatsache bildet eine unverzichtbare Voraussetzung für die lex Sempronia de capite civis aus dem Jahr 123 v. Chr., mit der Gaius Gracchus schließlich auf gewisse Weise die Grundlage der Strafverfolgungstätigkeit veränderte, indem er diese nicht länger in der Zustimmung des Volkes zum Tätigwerden der Magistraten verankerte, sondern in schon vorher bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, die dies gestatteten. Daraus resultierte die gleichzeitige Errichtung des ersten ständigen Strafgerichtes, die quaestio perpetua repetundarum, dessen Gründungsgesetz die Anklage an die Inhaberschaft oder an die Vertretung eines verletzten privaten Interesses koppelte. Es kam somit dem durch Amtsmissbrauch eines Magistrats Geschädigten (oder an einen alieno nomine legitimierten Vertreter dieses Geschädigten) die Aufgabe zu, das Verfahren in Gang zu setzen und die Anklage vor einem ständigen Gericht unter dem Vorsitz des Prätors zu führen. Dessen Entscheidungsgewalt war einem Kollegium von iudices zugewiesen, für dessen Besetzung Ankläger und Angeklagter sorgten, indem sie die Namen der Mitglieder (nach Regeln, die vom Statut der spezifischen quaestio vorgegeben waren) aus einem entsprechenden vom Magistraten vorbereiteten amtlichen Register auswählten. Der Prätor war dann schließlich dazu berufen, das sich aus der Auszählung der Stimmen ergebende Urteil zu verkünden (Venturini 1996, S. 226 ff.). Die Typologie der Straftaten (repetundae), die eine Verletzung individueller Interessen zum Inhalt hatten und nicht gleichzeitig von öffentlicher Bedeutung waren, war nach Mommsen (1887b, S. 223) geeignet, die Tatsache zu belegen, dass „diese Prozessform … hybrider Art, zum Theil dem alten Criminal-, zum Theil dem Civilprozess entnommen [war]“. Die Verknüpfung zwischen Inhaberschaft oder Vertretung des verletzten Privatinteresses und der Legitimierung, eine quaestio einzuleiten, wurde wahrscheinlich schon mit der lex Servilia Caepionis aus dem Jahr 106 v. Chr. (Serrao 1974, S. 265; David 1979, S. 142) durchbrochen, indem den von Amtsmissbrauch geschädigten Nichtrömern das Recht entzogen wurde, persönlich vor Gericht auf Zu verstehen als Ermittlungs- und Sanktionstätigkeit der mit dem imperium ausgestatteten Magistraten, die sich nach freiem Ermessen dabei von einem consilium unterstützen lassen konnten. 5
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zutreten, und dieses Recht somit ausschließlich privaten römischen Bürgern vorbehalten wurde, die nunmehr dazu berufen waren, die Anklage rei publicae causa (Venturini 1996, S. 45, 212 Fn. 23) auszuüben, gewissermaßen als Vertreter des kollektiven Interesses an der Verfolgung der Straftat (sog. Popularklage). Es ist im Übrigen zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Verfolgung eines mutmaßlich mächtigen Mitbürgers (eines Senatoren oder Ritters) in den meisten Fällen den Interessen der politischen Feinde des Angeklagten diente; und unter diesem Gesichtspunkt bewahrte die accusatio sowohl in verfahrenstechnischer als auch gesellschaftlicher Hinsicht eine überwiegend private Ausgestaltung (David 1992, S. 497 ff.). In jedem Fall war stand so das verfahrenstechnische Modell der quaestio de repetundis bereit zur Anwendung durch andere ständige Gerichte, denen durch nachfolgende Gesetze die Entscheidungsbefugnis über andere Straftatbestände zuerkannt wurde. Das Fehlen einer provocatio gegen die Urteile solcher quaestiones perpetuae wurde von Mommsen mit dem Hinweis auf ihre Ableitung aus „geschärften Civilverfahren“ begründet, die zur Beilegung verwaltungsrechtlicher Streitfälle über die Einziehung von Bußgeldern oder sonstigen finanziellen Sanktionen zugunsten des Staates oder der civitates dienten (Mommsen 1887a, S. 168 ff., 1899, S. 180 ff.). Durch die entsprechenden Gesetze wurde auf diese Weise eine untergliederte Landschaft ständiger Gerichte mit jeweils eigenen Zuständigkeitsbereichen geschaffen, die für die Lösung von Konflikten im Zusammenhang mit gewöhnlichen wie auch politischen Straftaten gerüstet waren; dabei blieb zwischen 123 und 43 v. Chr. auf jeden Fall Raum für die Einsetzung einzelner quaestiones, die nicht perpetuae waren und sich durch eine beträchtliche Vielfalt an Formen auszeichneten, die bisweilen in Bezug auf die Eröffnung auf Initiative eines Magistrats als extra ordinem definiert wurden, das heißt ohne ein Einschreiten der öffentlichen Anklage (Venturini 1996, S. 233 ff.). Der Beginn des Prinzipats brachte keinen vollständigen, sofortigen Umsturz der Strafjustizformen der späten Republik mit sich. Mit der Verabschiedung der lex Iulia iudiciorum publicorum im Jahr 17 v. Chr. vereinheitlichte Augustus die Verfahrensvorschriften für Strafverfahren vor den ständigen Gerichtshöfen und vereinfachte dabei die Art und Weise der Erhebung der Anklage (Santalucia 2013, S. 81 f.). Doch mussten die quaestiones perpetuae, die formal bis ins dritte Jahrhundert n. Chr. tätig waren, nach und nach einem neuen inquisitorischen Verfahren ohne Beteiligung von Geschworenen das Feld überlassen, bei dem die ganze Sache dem Kaiser oder einem seiner Vertreter anvertraut war. Zum Vertreter der kaiserlichen Gerichtsbarkeit wurde zuerst der praefectus urbi bestellt (in Italien, in einem Umkreis von hundert Meilen von Rom), in der Severerzeit dann der praefectus praetorio (in der ersten Instanz über diese Begrenzung hinaus und in der Berufungsinstanz über von den Provinzstatthaltern erlassene Urteile), der praefectus annonae und der praefectus vigilum, letztere hatten eine hierarchische Struktur, die sich in verschiedenen Kategorien von kaiserlichen Prokuratoren artikulierte, spezifischen Zuständigkeiten im Bereich der Stadt Rom. Obgleich in dieser neuen Verfahrensform keine Anklage mehr erforderlich war, konnte das Tätigwerden des entsprechenden Amtsträgers bisweilen durch die Anzeige einer Privatperson (delator) veranlasst werden, die dann als bloßer Informant galt. Diese neue Form der Strafverfolgung,
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die gemeinhin als cognitio extra ordinem bezeichnet wurde, um deren Gegensatz zum Verfahrenssystem der alten republikanischen Gerichtshöfe zu markieren, mit dem sie zunächst parallel praktiziert wurde, um es dann zu ersetzen, wirkte nicht ausschließlich durch den Kaiser und dessen Bevollmächtigte, sondern kannte – bis in die Severerzeit – auch ein hohes außerordentliches Gericht für einige spektakuläre Strafverfahren, die gegen Angehörige der römischen Oberschicht geführt wurden: eine cognitio senatus, bei der das Verfahren von den Konsuln in Anlehnung an das Anklagemodell der quaestiones perpetuae geführt wurde, jedoch mit erheblichen Spielräumen für Flexibilität und eigenes Ermessen, besonders bei der Festsetzung der Sanktionen (Procchi 2012, S. 119). Die neue Verwaltungsorganisation des Reichsgebietes (Provinzen, Diözesen und Präfekturen), die zwischen dem Ende des 3. und dem Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr. umgesetzt wurde, brachte zugleich eine Gliederung in drei Gerichtsinstanzen mit sich; Richter der ersten Instanz waren danach in der Regel die Provinzstatthalter, doch pflegten diese die Verfahrensabwicklung häufig ganz oder teilweise an iudices pedanei zu verweisen. Aufgrund der verschiedenen hierarchischen Ränge der mit der Rechtsprechung betrauten Amtspersonen bildete sich für die Verfahrensführung in der Berufungsinstanz ein komplexes Gerichtssystem heraus. Lediglich die von den Präfekten erlassenen Urteile galten als an Stelle des Kaisers gefällt (vice sacra) und galten mithin als unanfechtbar, doch wurde gegen diese Urteile ab der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die supplicatio zugelassen (Santalucia 2013, S. 115 ff.). In der traditionellen Lehre ist man zudem der Auffassung, dass man mit dem neuen politischen und institutionellen Kontext generell zu inquisitorisch geprägten Verfahren überging und akkusatorisch geprägte Formen damit endgültig verschwanden (Santalucia 2013, S. 122 ff.).
2 Kernprobleme der Forschung Im Rahmen der Geschichte der Konfliktlösung verdienen einige Punkte des soeben gegebenen Abrisses aufgrund ihrer viel diskutierten Problematik eine kurze Vertiefung. Mommsens Ansatz, nach dem lediglich den Konsuln und aufgrund ihrer spiegelbildlichen Herkunft den Volkstribunen eine autonome coercitio zugeschrieben wird, sollte womöglich einer umfassenden und vertieften Überprüfung unterzogen werden (Cascione 1999, S. 146 ff.), auch mit dem Ziel, eine erneute Untersuchung von den zu dem Komitialprozess alternativen Verfahren zu ermöglichen, die gesellschaftlich geringere Befürchtungen ausgelöst haben dürften. In Bezug auf diesen letzten Punkt dachte Kunkel (1962, S. 37 ff., 74 ff.) an ein durch legis actio sacramento eingeleitetes Privatverfahren vor einem Richterkollegium unter dem Vorsitz der (oder zusammengesetzt aus den) quaestores parricidii, deren Urteil dann bedeutet hätte, dass der Schuldige der Rache des Opfers oder seiner Verwandten übergeben wurde. Mit der Verfolgung unerlaubter Handlungen nicht politischer Natur wäre dann später der Prätor betraut und so das Strafverfahren dem Privatverfahren
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angeglichen und dem Ratschlag des consilium (in unwahrscheinlicher Weise) ein bindender Charakter zugesprochen worden. Dann wäre schließlich im Laufe des dritten Jahrhunderts neben dem eben beschriebenen Verfahren jenes „polizeilich orientierte Strafverfahren“ aufgekommen, das von Amts wegen oder auf Anzeige jeder betroffenen Partei vor einem Sondertribunal (in die Hände der tresviri capitales und eines entsprechenden consilium gelegt) mit „einer umfangreichen und vielseitigen Jurisdiktion“ über das „Großstadtproletariat“ betrieben wurde. So wäre der Prätor dann frei gewesen, sich neben der Zivilgerichtsbarkeit auch um Strafverfahren zu kümmern, die sorgfältigere Ermittlungen erforderten, einschließlich solcher „gegen Personen von einigem Ansehen“. In jüngerer Zeit wurde die Ansicht vertreten, dass schon seit der Frühzeit die Mehrzahl der Kapitalverbrechen von spezifischen (uns nicht bekannt gewordenen) leges publicae erfasst und von diesen Gesetzen an die ausschließliche Gerichtsbarkeit des Prätors (zunächst nur des praetor urbanus, dann auch den praetor peregrinus), vielleicht unterstützt durch ein consilium mit lediglich beratender Funktion, verwiesen war. Nach dieser Rekonstruktion hätten die leges Valeriae de provocatione (insbesondere das Gesetz von 300 v. Chr.) ausschließlich an das iudicium populi lediglich die Verfahren im Bereich der perduellio sowie Berufungsklagen römischer Bürger, die von Magistraten cum imperio wegen einer Straftat, die nicht schon bereits vorher gesetzlich erfasst war, zum Tode verurteilt worden waren (Mantovani 1990, S. 19 ff.; 1991, S. 611 ff.). Diese Rekonstruktion wurde vor allem von Garofalo (1997, S. 241 ff.) Punkt für Punkt angegriffen und ist von der herrschenden Lehre nicht angenommen worden, die im Übrigen auch die These Kunkels über die Polizeijustiz der tresviri capitales (Santalucia 1998, S. 90 f.) entschieden ablehnt und deren Aufgaben auf die Voruntersuchung im Strafverfahren und die Beaufsichtigung der Vollstreckung von Kapitalstrafen sowie – selbstverständlich – auf die Tätigkeit der custodia carceris und der gesellschaftlichen Kontrolle beschränkt (Cascione 1999, S. 85 ff.). Im Übrigen ist in Bezug auf die letztere Sichtweise auch versucht worden aufzuzeigen, dass die Instrumente, über die die Republik zur sogenannten tuitio urbis verfügte, sehr weit von der modernen Idee einer Polizei entfernt waren und dass die Strafverfolgungstätigkeit der tresviri capitales, die auf diesem Feld wahrscheinlich im Auftrag des Senats oder der höheren Magistrate tätig wurden, sich durch Kraftlosigkeit auszeichnete (Nippel 1988, S. 34 f.). Was die Kaiserzeit betrifft, so erscheint die Diskussion der letzten zehn bis zwanzig Jahre zumeist auf eine vertiefte Analyse des Problems der Verfahrensinitiative in der cognitio in Strafsachen ausgerichtet. So haben neuere Studien aufzuzeigen versucht, dass die Verfahrensordnung zwischen Augustus und Diokletian für die Einleitung eines Strafverfahrens die Anklageerhebung durch Privatperson vorgesehen haben muss. Nur in Ausnahmen und bei einer eng begrenzten Anzahl an Straftatbeständen sei das andere mögliche Verfahren zugelassen worden, welches auf Initiative einer munizipalen Behörde basierte oder eines von einem Provinzstatthalter oder einer anderen übergeordneten Behörde abhängigen Beamten, was im jeden Falle als accusatio galt (Giglio 2009, S. 14). Es ist zudem versucht worden, den vom Akkusationsprinzip überwiegend geprägten Charakter der cognitio in Strafsachen auch für die Spätantike herauszuarbeiten. Dabei ist hervorgehoben wor-
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den, dass das Verfahren immer strenger reglementiert wurde, um es gegen die Risiken einer unrichtigen Anwendung des Verfahrens abzusichern (Pietrini 1996, S. 128 ff.). Bezüglich der accusatio in der Kaiserzeit kann man schließlich eine stets wachsende Tendenz beobachten, das spezifische Interesse des einzelnen Anklägers an der Strafverfolgung hervorzuheben, im Rahmen einer besonderer Aufwertung der Bedeutung der persönlichen Interessen als Auswahlkriterium der Ankläger schon in den Verfahren des ordo iudiciorum publicorum (Botta 1996, S. 105 ff.).
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Kapitel 24
Strafen und ihre Alternativen – Griechenland Philipp Scheibelreiter
1 Überblick Angesichts der Größe des zu bearbeitenden Themas ist es geboten, einen Rahmen für den folgenden knappen Überblick über die Strafen im griechischen Rechtskreis auszumachen. Als Referenz soll das Recht Athens im 5./4. Jahrhundert v. Chr. gelten, inhaltlich steckt der – wenn auch rhetorisch inspirierte (Plat. Gorg. 480c-d) – Eintrag aus den aristotelischen Divisones (Aristot. Div. 43, S. 56,9–18 Mutschmann) zur κόλασις/kolasis (Bestrafung) die Grenzen ab,1 wonach als Kategorien unterschieden werden: Hinrichtung, Geldstrafe, Schandstrafe, Körperstrafe. Die Todesstrafe ist Sanktion für besonders schwere Delikte: Im attischen Recht etwa für Mord (φόνος/phonos), Tempelraub (ἱεροσυλία/hierosylia, vgl. Xen. Hell. 1,7,22) und Gottesfrevel (ἀσέβεια/asebeia); vielleicht für die Schändung einer verheirateten Frau (Lys. 1,32) und das Fällen heiliger Bäume (Ath. Pol. 60,2; anders Lys. 7,41, vgl. Horster 2004, S. 117–119, 2006); für Hochverrat (κατάλυσις τοῦ
Nicht behandelt werden können – obwohl das griechische Vertragsrecht deliktisch konzipiert ist – vertragsrechtliche Probleme, wie sie etwa aus Leistungsverzug oder Pönalen resultieren. Bezüglich Prozessstrafen ist auf die einschlägigen Kapitel zum Prozessrecht zu verweisen. 1
P. Scheibelreiter (*) Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_24
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δήμου/katalysis tou demou bzw. προδοσία/prodosia) und Amtsmissbrauch, auch von Strategen in Sparta2 und Athen (Dem. 4,47).3 In Athen gab es drei Formen der Hinrichtung: Das Hinabstürzen in den Steinbruch (εἰς τὸ βάραθρον/eis to barathron, Thuk. 2,67,4),4 wobei ähnlich dem Stürzen in die Schlucht Kaiadas in Sparta (Thuk. 1,134; Paus. 4,18,4–7) damit die Tötung Lebender oder Beseitigung Toter gemeint sein kann (MacDowell 1978, S. 254; Link 1994, S. 81–82);5 der ἀποτυμπανισμός/apotympanismos, eine bloodless crucification (Todd 2000, S. 151 A. 32)6 für Mörder, Hochverräter, aber auch Diebe, die, lebendig auf einen Holzbalken (τύμπανον/tympanon) gespannt, verdursteten oder sich strangulierten (Lys. 13,56. 67–68; Dem. 8,61; 21,105). Die seltene (Debrunner-Hall 1996, S. 80 A.10) Exekution mittels Schierlingsbecher (κώνειον πίνειν/koneion pinein) ist für Sokrates (Plat. Phaid. 115a-118a) und Theramenes (X. Hell. 2,3,56; Lys. 12,17.18,24–25; Andok. 3,10) belegt. Ausfluss der Selbsthilfe des Opfers ist die Tötung des in flagranti ertappten Ehebrechers in Athen7 (Dem. 23,53; Luk. Eun. 10 [Solon fr.28c Ruschenbusch = Leão und Rhodes], vgl. Schmitz 2004, S. 348–354) und Tenedos (Aristot. Fr. 593 Rose; vgl. Latte 1931, S. 132 A. 1; Schmitz 2004, S. 348) oder des fur nocturnus8 (Dem. 24,113; Plat. leg. 874b, vgl. Kränzlein 1963, 138);9 auf Selbsthilfe fußt auch das „Wegführen“ (ἀπαγωγή/apagoge) und Aburteilen auf frischer Tat betretener Diebe (Ath.pol. 52,1). In Sparta soll die Hinrichtung Sanktion für privaten Reichtum gewesen sein (Xen. Lac. Pol. 7,6; Plut. Lyk. 9,1; Plut. mor. 226c-d; 229 d-e); die Todesstrafe für Trinken ungemischten Weins (Athen. 10,429a; Ael. ver. hist. 2,37) in Lokroi Epizephyrioi ist wohl Topos (Hölkeskamp 1999, S. 190–191). Geldbußen sind schon in den homerischen Epen belegt, etwa in Form „fester Preise“ von 100 (ἑκατόμβοιος/hekatomboios: Hom. Il. 2,449; 6,236; 21,79) oder 12 Rindern (δυωδεκάβοιος/dyodekaboios: Hom. Il. 23,703). Bußgeldkataloge werden
Vgl. etwa die Anklage von König Pausanias (Xen. Hell. 3,5,25) oder den Prozess gegen die Strategen (nach Xen. Hell. 5,5,13: den Harmosten) mangels militärischen Erfolges (Diod. 15,27,3; Plut. mor. 598). 3 Vgl. nur den Arginusen-Prozess aus 406 v. Chr. (X. Hell. 1,6–7; Diod. 13,98–103): Die gegen Sparta bei den Arginusen siegreichen athenischen Strategen wurden wegen Imstichlassens von Verletzten und Unterlassens der Bestattungspflicht gegenüber gefallenen Kameraden hingerichtet. 4 So etwa werden die persischen Boten, die Athen 490 v. Chr. zur Gefolgschaft überreden wollen, εἰς τὸ βάραθρον geworfen (Hdt. 7,133,1). 5 Im 5./4. Jahrhundert v. Chr. entspricht eine Verurteilung εἰς τὸ βάραθρον dem Aussetzen im Steinbruch (Xen. Hell. 1,7,20). 6 Obwohl sich die Hinrichtungsart vom Verb ἀποτυμπανίζειν/apotympanizein, „verprügeln“ ableitet, ist der ἀποτυμπανισμός keine Prügelstrafe. 7 Die Tötung war gerechtfertigt, ein allfälliger Prozess hätte nach Ath.pol. 57,3 im Delfinion geführt werde müssen. Gerechtfertigte Tötung zog keine Strafe, aber vielleicht Reinigungsrituale nach sich (Plat. leg. 865b). 8 Hierauf passt auch das bei Ar. Ach. 271 referierte Recht des Bestohlenen, den Fruchtdieb zu vergewaltigen. 9 Nach Plut. Sol. 17,2; Gell. NA 11,18,3 [= Solon fr. 23a Ruschenbusch = Leão und Rhodes]; Alkiphr. 2,38,3; Lyc. Leokr. 65 galt dieses Recht ursprünglich vielleicht bei jedem Diebstahl. 2
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den archaischen Nomotheten Drakon (Poll. on. 9,61), Zaleukos (7. Jahrhundert v. Chr., Ephoros FGHist 70 F 139 [= Strab. 6,1,8]) und – für Kos – Charondas von Katane (7./6. Jahrhundert v. Chr., Herod. mim. 2,46–54) zugeschrieben; belegt sind sie in kretischen Stadtrechten des 5. Jahrhunderts v. Chr. (Überblick bei Bücheler und Zitelmann 1885, S. 44 A. 5; Gehrke 1997, S. 50–51 A. 116). Das Große Gesetz von Gortyn (IC IV 72) kennt so ein nach dem Status von Täter und Opfer abgestuftes Tarifsystem von Bußen bei Notzucht und Ehebruch (IC IV 72 2,2–45, vgl. Bücheler und Zitelmann 1885, S. 101–103; Koerner 1993, S. 464–473; Gagarin und Perlman 2016, S. 345–350). In Athen sind als feste Preise normiert: 5 bzw. 500 Drachmen für üble Nachrede (κακηγορία/kakegoria) unter Lebenden (Plut. Sol. 21,1 [Solon fr. 32a Ruschenbusch = Leão und Rhodes]) bzw. Verfluchung (Ruschenbusch 2014, S. 64; Leão und Rhodes 2015, S. 52) von Toten (Lex. Cantabr. S.v. κακηγορίας δίκη [Solon fr. 33b Ruschenbusch = Leão und Rhodes], vgl. Kästle 2012, S. 6); 200 Drachmen für Entfernen eines Ölbaums aus Athen (Dem. 43,71); 100 Drachmen10 für die Entführung (so Ruschenbusch 2014, S. 57) bzw. Vergewaltigung (so Leão und Rhodes 2015, S. 42–44) einer freien Frau (Plut. Sol. 23,1 [Solon fr. 26 Ruschenbusch = Leão und Rhodes]) und 20 Drachmen für Kuppelei mit Freien (Plut. Sol. 23,1 [Solon fr. 30a Ruschenbusch = Leão und Rhodes]). Ein Gesetz aus Eltynia gegen Rauferei (IC I x 2, um 500 v. Chr.) nennt nach dem Grad der Körperverletzung von Minderjährigen differenzierende Strafsätze (vgl. Latte 1931, S. 150; Koerner 1993, S. 342–349; Gagarin und Perlman 2016, S. 254–262). Ausfluss des Racherechts (missverständlich Leão und Rhodes 2015, S. 55) ist die sog. Noxalhaftung (Auslieferung11 des schädigenden Tieres an den Geschädigten) in Athen (Plut. Sol. 24,3 [Solon fr. 35 Ruschenbusch = Leão und Rhodes]) und Gortyn (IC IV 41 I 1-III 7; vgl. Koerner 1993, S. 375–379; Gagarin und Perlman 2016, S. 291–297). Mittels Androhung eines Vielfachen konnte auf qualifizierte Tatbegehung reagiert werden: Charondas soll für vorsätzliche Misshandlung einer Sklavin das Duplum einer gesetzlich fixierten Buße normiert haben (Herod. mim. 2,46–48); historisch eingestuft wird das Anlassgesetz (Hölkeskamp 1999, S. 191, 221–222; Gagarin 1986, S. 164–165; Dimopoulou-Piliouni 2015, S. 117–122) des Pittakos von Mytilene (7./6. Jahrhundert v. Chr.) zur Duplierung des Strafausmaßes bei Rauschtaten (Aristot. Pol. 1274b19–23; EN 1113b30–32; Rhet. 1402b8–12; Plut. Mor. 155 f.; Diog. Laert. 1,76). Das attische Recht sah bei vorsätzlicher Vermögensschädigung (βλάβη/blabe) das Duplum des einfachen Schadens als Strafe vor (Dem. 21,43). Den Ersatz des doppelten Diebesgutes (vgl. aber Dem. 24,105 [fr. 23d Ruschenbusch = 23d Leao und Rhodes]: des Zehnfachen) hat Solon bei nicht handhafter Tatbegehung festgeschrieben; die Strafe des Zehnfachen stand auf Unterschlagung göttlichen Eigentums (Dem. 24,111). Die in den Divisiones angeführten Tatbestände, welche Ehrlosigkeit nach sich ziehen – Unterschlagung von Verwahrgut (παρακαταθήκην ἀποστερεῖν/parakatatheken aposterein) und Desertation durch Wegwerfen des Schildes (ῥίψασπις/rhipsaspis) – 10 11
Die hohe Geldstrafe erklärt sich aus der Ehrverletzung des Ehemanns. Dieses Modell liegt auch der römischen actio noxalis zugrunde.
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stehen als Vorwürfe paradigmatisch für Verleumdungsdelikte (Lys. 10,9; Isokr. 20,3; Dem. 18,123; 22,61; 58,40). Die Ehrlosigkeit (ἀτιμία/atimia), ursprünglich Friedlosigkeit und Vermögenskonfiskation,12 wird spätestens im 5./4. Jahrhundert v. Chr. zum Ausschluss vom weltlichen (Agora), religiösen (Heiligtümer) und politischen (Beamten- oder Richtertätigkeit, Rederecht vor Institutionen) Leben der Polis relativiert (Dem. 24,103–105; Lys. 10,6–12 [Solon fr. 32b Ruschenbusch = Leão und Rhodes]). Als einzige Ehrenstrafe unter Freien (Latte 1931, S. 151)13 gilt die öffentliche Erniedrigung (Leão und Rhodes 2015, S. 39) bei nicht handhaftem Diebstahl (verhängt nach Dem. 24,105 neben Geldstrafe und ἐπαίτια/epaitia, deren Natur umstritten ist, siehe unten), wonach der Dieb auf Beschluss des Gerichts zehn Tage (Lys. 10,16) bzw. fünf Tage und Nächte (Dem. 24,105) an einen Holzblock (ποδοκάκκη/podokakke)14 gebunden wurde (Schmitz 2004, S. 238 A. 298; Leão und Rhodes 2015, S. 38). Der athenischen Ehebrechern drohende Rügebrauch der ῥαφανίδωσις/raphanidosis, das Absengen der Haare (am Gesäß?) und die rektale Einführung von Rettich oder Holz (Is. 8,44; Lys. 1,49; Ar. Nub. 1083; Plut. 168; Thesm. 537; Xen. Mem. 2,1,5), wurde bei Uneinbringlichkeit einer Strafsumme wohl staatlich geduldet (Schmitz 2004, S. 343–346; kritisch Cohen 1985). In Sparta waren manche Vergehen zwar nur mit geringen Geldbußen, aber dafür mit öffentlicher Zurücksetzung sanktioniert (Link 1994, S. 83–84). Körperstrafen für Freie sind kaum belegt, vgl. nur IG II2 1362 (spätes 4. Jahrhundert v. Chr.), wo für Baumschaden am Tempel des Apollo Erithaseos Freien eine Geldstrafe (50 Drachmen, Z 14–15), Sklaven die Auspeitschung (50 Hiebe15, Z 9–10) drohte16. Zaleukos (Dem. 24,139–141) und Charondas (Diod. 12,17,3–5) sollen Talionsstrafen vorgesehen haben. Die für Sparta belegte Auspeitschung von Dieben (Xen. Lac.Pol. 2,6–8; Plut. Lyk. 18,1) steht im Spannungsfeld zwischen Strafe und Erziehungsmaßnahme für junge Männer, zu deren Ausbildung auch das Stehlen gehörte. Alternative zur Todesstrafe war zumeist das Exil (φυγή/fyge), so in Athen als Option für Mordangeklagten (außer bei Patrizid, vgl. Antiph. 5,13; Dem. 21,43; 23,45.69; Poll. on. 8,117) und als Strafe bei nicht vorsätzlicher Tötung (Dem. 23,64; 21,42) sowie für Tatwerkzeuge einer Bluttat, die mangels Eruierbarkeit des Täters im Prytaneion verurteilt (Ath. Pol. 57,4) und außer Landes gebracht wurden (Dem. 23,76 [Solon fr. 21a Ruschenbusch = fr. 21a Leão und Rhodes]; Harp. s.v. ἐπὶ Πρυτανείῳ; Aischin. 3,244; Poll. on. 8,120; Lex. Patm. 149,1–7). In Seriphos soll auf Vermögensdelikte Exil gestanden sein (Plut. mor. 602a). Nicht Sanktion, son12 Vgl. aber noch die ἀτιμία des spartanischen Kollaborateurs Arthmios von Zeleia (459–456 v. Chr.) in Athen (Thuk. 1,109,2.3; Diod. 11,75,5–6; Plut. Them. 6,3; Dem. 9,42–47; 19,271–272). 13 Wenn man Dieben das Diebesgut am Weg zum Gerichtsort auf den Rücken band (Dem, 45,81), so steht die Kundbarkeit der Tat wohl vor der Demütigung des Diebes (Gernet 1957, S. 177; Schmitz 2004, S. 237 A. 294). 14 Harp. s.v. ποδοκάκκη setzt dies mit „Fußfessel“ (ποδοκατοχή/podokatoche) gleich. 15 Zusätzlich wird der Name des Delinquenten/seines Herren publik gemacht. 16 Ähnlich die Sanktionen einer lex sacra aus Andania, IG V 1,1390 (= Syll.3 736, 91/90 v. Chr.).
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dern Konsequenz hoher Geldstrafen war das freiwillige Exil in Sparta (Link 1994, S. 82–83). Freiheitsstrafen stehen zumeist im prozessualen (Plat. Phaid. 58a-c; vgl. MacDowell 1978, S. 257) oder im Kontext von Schuldhaft (Dem. 21,47; 25,105; 33,1; 35,46–47; 56,4; Plat. Apolog. 37c); anders ist die Einweisung in den Steinbruch in Syrakus (Aelian, var. hist. 12,44) wohl lebenslange Haftstrafe. Wie ersichtlich wurde, besteht der Großteil der Sanktionen in Todes- und Geldstrafe; hinzu kommt die Verbannung, teilweise verbunden mit Hauswüstung (so bei Mord, Dem. 21.43; vgl. Latte 1931, S. 144; Schmitz 2004, S. 357–370) und Vermögenskonfiskation (Ath.pol. 47,2), bei nichtvorsätzlicher Tötung unter Vermögenserhaltung (Dem. 23,44.72). Körperstrafen sind ebenso selten wie Freiheitsstrafen. Schandstrafen, wie sie aus Rügebrauch hervorgegangen sind, ergänzen oder ersetzen eine Geldbuße oder sind Druckmittel zu deren Betreibung. Ausgangspunkt für das Strafrecht bildet – nicht notwendiger Weise in Gegensatz zur Strafkompetenz der Polis (Cohen 2005, S. 174) – die in legale Bahnen gelenkte private Rache (Thür 1990, S. 144). Diese τιμωρία/timoria (Aristot. Div. 43, p. 56,16 Mutschmann) vereint Strafe und Rache in sich, ist aber von der Bestrafung (κόλασις/kolasis) zu scheiden (Aristot. Rhet. 1369b12). Anstelle von für das griechische Recht kaum belegten, spiegelnden oder Talions- Strafen etabliert sich die monetäre Ablösung von Körperstrafen mittels fester Preise oder der Androhung eines Vielfachen des Streitwertes. Wenn man beim nicht handhaften Diebstahl die poena dupli (Aristot. Probl. 952a; Plat. leg. 857a-b; in Athen: Dem. 24,105.115; Gellius NA 11,18; für Stymphalos und Demetrias IPArk 17,116 [303-300 v. Chr.]; für Delphi und Pellana FD III 1: 486 II 13–14 [3. Jahrhundert v. Chr.]; für Andania IG V,1 1390 [= Syll.3 736], 76–77 [91/90 v. Chr.]) in (1) Rückerstattung des entzogenen Vermögenswertes und (2) strafweise zusätzliche Entrichtung dieser Summe aufspaltet (Cohen 1983, S. 62–68; Ruschenbusch 2014, S. 52–57; Scheibelreiter 2017, S. 11–13, 31–32), könnte dies das Talionsprinzip reflektieren. Das flexibelste System bot eine aestimatio poenae (Ruschenbusch 1965, S. 305–306; Mummenthey 1971, S. 79). Im attischen Prozess war die Sanktion bereits entweder in dem der Klage zugrundliegenden Gesetz festgelegt (ἀγὼν ἀτίμητος/agon atimetos) oder musste schätzweise (τίμημα/timema) beantragt werden (ἀγὼν τίμητος/agon timetos), wobei im Falle einer Verurteilung in einem zweiten Schritt über τίμημα und ἀντιτίμημα/antitimema des Beklagten abgestimmt wurde (Wolff 1965, S. 5–6; Harrison 1971, S. 80–82, 167–168). Vergeltung und fixierte Strafe sind Grundlage einer konkreten Strafbemessung, wie sie ersatzweise ausgehandelt oder beantragt werden konnte. Die gesetzlich festgelegte Strafe ist so auch nur äußerstes Ausmaß der zulässigen Ahndung (Latte 1931, S. 148) und ursprünglich bloß Alternative zur individuellen Strafverfolgung durch die Partei des Opfers. Zur Bußleistung kann eine Strafe an die Polis treten, etwa bei übler Nachrede (Athen, Plut. Sol. 21,1 [Solon fr. 32a Ruschenbusch = Leão und Rhodes]) oder mutwilligem Prozessieren (Gortyn, IC IV 41,3,17).
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2 Kernprobleme der Forschung Weiter umstritten ist neben Kontext von IG I3 104 (zum Kylonischen Frevel vgl. Thür 2018), ob Drakon auch den Mord17 regelte (Ruschenbusch 1960; Cantarella 1975; Gagarin 1981, S. 80–101; Nörr 1983; Thür 1990; Koerner 1993, S. 27–41; Westbrook 2008; Ruschenbusch 2014, S. 31–36; Scheibelreiter 2012b, S. 252; Leão und Rhodes 2015, S. 17–24; Schmitz 2018). Das neu entdeckte Massengrab von Phaleron (Thür 2018, S. 27 mit Nachweisen) erhellt technische Fragen zum ἀποτυμπανισμός. Obwohl einmal exekutiert, gilt das spartanische Gesetz über die Todesstrafe für Reichtum (Plut. Lys. 19, Diod. 14,3,5; Noethlichs 1987, S. 149) als lex imperfecta (Ehling 1997, S. 17; Link 1994, S. 51–52; Rebenich 1998, S. 115; MacDowell 1986, S. 119–120). Diskutiert wird Dem 24,105 (1) zum διπλάσιον (Lipsius 1915, S. 441 A. 79; Cohen 1983, S. 62 A. 84 und 67–68; Pepe 2004, S. 120 A. 191; Ruschenbusch 2014, S. 54; Leão und Rhodes 2015, S. 44) oder δεκαπλάσιον (unentschieden Pelloso 2008, S. 108) und (2) zu ἐπαίτια als Naturalrestitution (Ruschenbusch 2014, S. 53–55; Leão und Rhodes 2015, S. 39), Zusatz- (Poll. on. 8,22; Lipsius 1915, S. 441 A. 79; Kaser 1944, S. 146 A. 34; Thür 2003, S. 93; Schmitz 2004, S. 237)18 oder Ehrenstrafe (Lys. 7,39). Zur ungriechischen (Hengstl 2001, S. 1231) Talion (aber: Diog. Laert. 1,57,3; Plut. Lyk. 11; Aristot. magn. mor. 1194a28–1194b5) vgl. Latte 1931, S. 146–149; Hölkeskamp 1999, S. 194; Scheibelreiter 2012a, S. 38–42. Zum Strafrecht als Ergebnis staatlich kontrollierter Selbsthilfe vgl. Latte 1931; Ruschenbusch 2014; Westbrook 2010; Scheibelreiter 2017, S. 6–8; dagegen zuletzt Ruch 2017.
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Kapitel 25
Strafen und ihre Alternativen – Rom Richard Gamauf
1 Überblick In den über 1000 Jahren, welche die sagenhaften Königsgesetze (leges regiae) aus der Frühzeit (8.–6. Jahrhundert v. Chr.) von den die Entwicklung des römischen Rechts in der Antike abschließenden Kompilationen Justinians (527–565) trennen, veränderte sich auch das Strafrecht vielfach. Ein Überblick über die zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschenden Sanktionen bzw. deren Alternativen muss sich daher auf einige signifikante Aspekte beschränken. Die Strafen der Frühzeit (Königsgesetze und zum Teil auch noch die 12-Tafelgesetzgebung, die traditionell mit 451/450 v. Chr. datiert wird) prägte ein Ineinandergreifen von Recht und Religion: Sanktionen sollten in erster Linie den durch das Unrecht gestörten Frieden zwischen Göttern und menschlicher Gemeinschaft wiederherstellen: Dazu wurde entweder der Täter selbst einer Gottheit als vogelfreier homo sacer überantwortet oder ein Tier bzw. Vermögen zur Entsühnung seiner Tat geopfert bzw. geweiht (Dion. Hal. 2.10.3; T. 8.21 [8.10]).1 Manche Strafform trug noch Opfercharakter (z. B. das Totpeitschen des an einen Baum gefesselten Landesverräters; Liv. 1.26.6).2 War die pax deorum (Götterfriede) nicht tangiert, entstand nur ein Recht und manchmal auch die Pflicht zur privaten Rache (z. B. für Die erste Zitierweise gibt die gebräuchliche Zählung (z. B. Düll 1995 und Flach 1994), die in Klammern die von Crawford (1996) und Flach (2004b) verwendete wieder. 2 Dies galt selbst noch in der Kaiserzeit als die traditionsgemäße Hinrichtungsform (more maiorum; Suet. Nero 49.2). 1
R. Gamauf (*) Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_25
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die nächsten Verwandten des Mordopfers; Fest. s.v. parricidii quaestores, p. 247 Lindsay; bei unvorsätzlicher Tötung wurde stellvertretend ein Widder übergeben; Fest. s.v. subigere arietem, p. 476 Lindsay). Die 12-Tafelgesetzgebung limitierte bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. die Rache für schwere Körperverletzung auf die Talion und ermöglichte deren Ablösung in Geld (durch ein Sühne-pactum; T. 8.2 [1.13]). Eine schrittweise Abkehr von der Rache zeigen auch die ausdifferenzierten Sanktionen für furtum (Diebstahl und dergleichen): Ein Tötungsrecht bestand (noch) gegen einen nächtlichen oder sich mit der Waffe wehrenden Dieb (T. 8.12 f. [1.17 f.]); der in flagranti ergriffene fur wurde ausgepeitscht und dem Bestohlenen als Sklave zugesprochen (addictio; T. 8.13 [1.19]). Ansonsten waren, wie auch später, nur Geldbußen angedroht (T. 8.15 f. [1.20 f.]). Sogar mit dem Tod bestraften die 12-Tafeln Zauberei oder magischen Feldfrevel (T. 8.1 [8.1]; 8.8 [8.4]), während leichte Körperverletzungen und Verbalinjurien allein durch Geldbußen geahndet wurden (T. 8.3 f. [1.14 f.]). Die Entwicklung in der Republik ging auch bei furtum oder Sachbeschädigung (lex Aquilia, 3. Jahrhundert v. Chr.) von Strafen zugunsten von Buße und/oder Schadenersatz ab. Retrospektiv konnten daher die 12-Tafeln trotz ihrer unbestreitbaren Milderungstendenzen aus späterer Sicht als grausam erscheinen (Gell. 20.38; Gai. 3.189). Das klassische Recht (1. Jahrhundert v. – 3. Jahrhundert n. Chr.) unterschied anhand der prozessualen Durchsetzung bei Unrechtstatbeständen zwischen Privatdelikten/delicta (Sanktion: Buße oder Schadenersatz – Zivilprozess) und Ver brechen/crimina (Sanktion: Strafe – öffentlicher Strafprozess) (→ 22. Lanni; → 23. Procchi). Dennoch blieben auch begangene delicta nicht generell straffrei: Diebe wurden administrativ verfolgt und bestraft (z. B. D. 1.18.13 pr. Ulp. 7 off. proc.); qualifizierte Formen des furtum in der Kaiserzeit zum Teil hart sanktioniert (z. B. D. 47.14). Ebenso gab es neben dem Schadensersatz nach der lex Aquilia in einigen Fällen zusätzlich Strafen: bei Tötung eines fremden Sklaven für Mord (Gai. 3.213) oder bei Brandstiftung (D. 47.9.9 Gai. 4 leg. 12 tab.). Die Spätantike verschärfte Sanktionen generell: Aus Privatdelikten wurden erneut Verbrechen (z. B. crimen furti), bei Sachbeschädigung war jetzt Buße möglich (C. 3.35.5 Diocl./Maxim.) und der Kreis mit dem Tod bedrohter Verbrechen uferte aus. Zudem wurden gesetzliche Strafen immer grausamer: Ausfüllen des Mundes mit flüssigem Blei für die Beihilfe zur Entführung (CTh. 9.24.1.1, Const.), Amputation als spiegelnde Strafe wegen Bestechlichkeit oder qualifizierter Sklavenflucht (CTh. 1.16.7, Const.; C 6.1.3, Const.). Inwieweit diese Verschärfungen auch die Praxis änderten, ist allerdings strittig. Zu jeder Zeit war der Tod die hauptsächliche Strafform (Kapitalstrafe): Bürger wurden nach vorheriger Geißelung öffentlich enthauptet (Republik – Beil, Kaiserzeit – Schwert). Zur Volksbelustigung dienten in der Kaiserzeit Hinrichtungen in Arenen: Gladiatoren oder wilde Tiere töteten zahllose wehrlose Verurteilte (Sen. epist. 1.7.3–5; D. 48.19.28.15 Call. 6 cog.). Manchmal wurden aufwendige, an mythischen Themen anknüpfende Hinrichtungsshows inszeniert (Mart. spect. 8; 21). Eine Chance auf Begnadigung nach einigen Jahren verblieb immerhin bei einer Verurteilung zum Kampf als Gladiator (Coll. 11.7.4 Ulp. 8 off.). Die entehrende
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Kreuzigung traf vor allem Sklaven, Aufrührer und Räuber.3 Zur Abschreckung veranstaltete man Massenkreuzigungen von rebellischen Sklaven oder Aufrührern (App. civ. 1.120; Ios. bell. Iud. 2.75); Private ließen Sklaven teilweise durch eigene Henker kreuzigen (Iuv. 6.219; Petron. 53) oder mieteten dafür städtische (AE 1971, 88 II 8–10). In christlicher Zeit verschwand diese Strafform. Noch im Prinzipat kannte man für Verwandtenmord (parricidium) die altertümliche „Säckung“ (poena cullei), d. h. der Täter wurde zusammen mit Tieren in einen Sack eingenäht und so ertränkt (D. 48.9.9 Mod. 12 pand.); Verräter wurden noch im 1. Jahrhundert n. Chr. vom Tarpejischen Felsen gestürtzt (Cass Dio 60.18.4; D. 48.19.25.1 Mod. 12 pand.). Vivicombustio (Lebendverbrennung) gab es für Brandstifter (daher auch für die Christen nach dem Brand Roms 64 n. Chr.; Tac.ann. 15.44), für Sklaven wegen Anschlägen auf ihre Herren (D. 48.19.28.11 Call. 6 cog.) und in der Spätantike bei homosexueller Prostitution (Coll. 5.3 Theodos.) oder Magie (PS. 5.23.17). Haft diente ursprünglich nicht regulär als Strafe, konnte jedoch aus dem Nichtvollzug einer Todesstrafe resultieren. In der Kaiserzeit wurde sie jedoch als Strafe extra ordinem verhängt (D. 48.19.35 Call. 1 quaest.) oder von Senatsbeschlüssen angeordnet (D. 47.10.38 Scaev. 4 reg.). Prügelung und Geißelung erfolgten sowohl als selbständige Strafen wie auch vor Hinrichtungen. Die Verurteilung zum Tod oder zur Bergwerksarbeit (IJ 1.12.3) führte zu Strafsklaverei (servitus poenae). Geldstrafen (Multen) drohten bei Ungehorsam gegenüber Magistraten etc. oder im Zusammenhang mit verbotenem Glückspiel (D. 11.5.1.4 Ulp. 23 ed.). Frauen wurden in der Regel durch ihren pater familias (→ 11. Grotkamp) außerhalb der Öffentlichkeit meist für Unkeuschheit4 bzw. Ehebruch, Giftmord und die Verabreichung von Drogen (zwecks Abtreibung) bestraft. Christinnen hat man während der Verfolgungen auch strafweise prostituiert (Tert. apol. 50.12). Sklaven unterstanden der privaten Strafgewalt des pater familias, dem immerhin ab der frühen Kaiserzeit grundlose Hinrichtungen oder exzessive Strafen untersagt waren (Gai. 1.52 f.); zur Vermeidung von Strafen baten Sklaven Freunde ihres Herrn um Vermittlung (Petron. 52.5 f.; D. 21.1.43.1 Paul. 1 ed. aed. cur.) (→ 11. Grotkamp). Staatliche Hinrichtungen (vor allem Kreuzigung, Verbrennung, Tierhetzen) erfolgten vor allem wegen Störungen der öffentlichen Sicherheit (Aufstände, Massenflucht in Krisenzeiten) oder nach Ermordung des Herrn gemäß dem senatus consultum Silanianum, das die Exekution aller im Haus befindlich gewesenen Sklaven anordnete (Tac.ann. 14.42–45; D. 29.5). Der soziale und rechtliche Status des Delinquenten hatte in jeder Phase der römischen Rechtsentwicklung stärkeren Einfluss auf die Strafe als die Art des Delikts selbst. Sklaven, Nichtrömer oder Infame wurden oft kurzerhand hingerichtet (z. B. D. 48.19.28.16 Call. 6 cogn.), während Angehörige der Oberschichten in der Republik der Todesstrafe bei nicht-politischen Verbrechen regelmäßig durch freiwilliges Exil entgingen. In der Kaiserzeit verfestigte sich die rechtliche Dichotomie von honestiores („Ehrenwertere“ – Angehörige des Senatoren, Ritter- und Räuber fungierte als Sammelbegriff für Ordnungsstörer oder Unruhestifter aller Art. Eine Vestalin wurde bei Bruch des Keuschheitsgelübdes lebendig begraben.
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Dekurionenstandes) und humiliores („Niedrigere“); letztere trafen alsbald dieselben Strafen wie Sklaven (D. 48.19.28.11 Call. 6 cogn.). Aus der Praxis, ranghohen Angeklagten das Entweichen aus dem römischen Jurisdiktionsbereich nicht zu verwehren, entstand das Exil als Alternative zur Bestrafung. Eine nach der Flucht verhängte aqua et igni interdictio (Verbot von Unterstützung und Obdach) machte den Rückkehrer vogelfrei und entzog ihm sein Vermögen. Ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. diente exilium als formelle Strafe und galt in der Kaiserzeit als Kapitalstrafe. Es existierte in befristeter (relegatio) und unbefristeter Form (deportatio mit Bürgerrechts- und Vermögensverlust). Deportatio ersetzte vor allem die Todesstrafe bei honestiores (z. B. D. 48.8.3.5 Marc. 14 inst.; D. 48.19.38.2 Paul. 5 sent.). Asylschutz für Verbrecher wurde während der Kaiserzeit weder in Rom noch im ehemals griechischen Osten geduldet (D. 48.19.28.7 Call. 6 cogn.; Suet. Tib. 37). Die Begnadigung von Verurteilten stand grundsätzlich nur dem Kaiser zu (D. 48.19.31 pr. Mod. 3 poen.); er konnte auch eine Selbsttötung gestatten (D. 48.19.8.1 Ulp. 9 off. proc.). Gelegentlich sah man von Hinrichtungen ab, wenn Mangel an Arbeitskräften bestand (Plin. ep. 10.31.2; Suet. Nero 31.3). Kaiserzeitliche Beamte berücksichtigten für die Strafbemessung5 u. a. die persönlichen Umstände von Täter und Opfer (D. 48.19.16.3 Saturn. l. s. poen. pagan.), eine Tatwiederholung (D. 48.19.28.3 Call. 6 cogn.) oder lokale kriminalpolitische Notwendigkeiten (D. 48.19.16.9 Saturn. l. s. poen. pagan.). Als Strafzwecke erwogen Philosophen wie Juristen Abschreckung/Generalprävention (Sen. ira 1.19.7; D. 48.19.28.15 Call. 6 cog.), Besserung/Spezialprävention (D. 48.19.20 Paul. 18 Plaut.) und Genugtuung für das Opfer/Vergeltung (D. 50.16.131 pr. Ulp. 3 leg. Iul. Pap.). Von Exekutionen am Tatort erwartete man die Abschreckung von Nachahmern und zugleich Trost für die Hinterbliebenen der Opfer (D. 48.19.28.15 Call. 6 cogn.). Die Beisetzung Hingerichteter erforderte eine Genehmigung. (Die Digesten enthalten einen ganzen Titel zum Thema: D. 48.24 De cadaveribus punitorum). Bei politischen Delikten blieben Bestattung und Trauer untersagt (D. 48.24.1 Ulp. 9 off. proc.; D. 3.2.11.3 Ulp. 6 ed.), Statuen des Täters wurden vernichtet (D. 48.19.24 Mod. 11 pand.), sein Vermögen eingezogen, um so sein Angedenken zu tilgen (sog. damnatio memoriae). Auf Kinder erstreckten sich Straffolgen nicht (D. 48.19.20 Paul. 18 Plaut.; D. 48.19.26 Call 1 cogn.); eine Vermögensentziehung bildete davon die Ausnahme (s. den Titel D. 48.20 De bonis damnatorum).
2 Kernprobleme der Forschung Anstatt die römischen Strafformen in pandektistischer Manier systematisch darzustellen (vgl. Mommsen 1899, S. 897 ff.), tendiert die jüngere Forschung dazu, einzelne Strafarten im Detail zu untersuchen. Rezent waren das vor allem Haft, Kreuzigung, Sazertät (homo sacer), Arenahinrichtungen und das freiwillige Exil als In republikanischen Strafgesetzen waren fixe Strafen statuiert.
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Ersatz für Strafe. Die Wissenschaft trennt nicht mehr zwischen Strafrecht und Strafpraxis oder versteht diese als einander entgegenwirkende soziale Phänomene. Es überwiegt nunmehr ein Verständnis des römischen Sanktionensystems, das ein Zusammenwirken von objektiven strafrechtlichen Normierungen und der sozial differenzierenden und differenzierten Strafpraxis charakterisiert (z. B. Baumann 1996; Robinson 2007). Betont wird nunmehr, dass in allen Phasen der römischen Rechtsentwicklung der soziale Status (zum Teil auch das Geschlecht und dergleichen) von Delinquenten für die anzuwendende oder angewendete Strafe bestimmender war als Art oder Schwere einer Straftat. Das weitgehende Schweigen republikanischer Quellen über gesellschaftlich marginalisierte Gruppen lässt allerdings nur Vermutungen zu, wie Fremde, Sklaven, Plebejer usw. durch Amtsträger mit „Polizeiaufgaben“ summarisch bestraft wurden. Die Sanktionierung der meisten gemeinen Verbrechen erfolgte damit weitgehend unabhängig von einer noch heute fassbaren materiell-rechtlichen Basis. Hinreichend ist dagegen aus dieser Zeit dokumentiert, dass – auf der anderen Seite des sozialen Spektrums – Angehörigen der Nobilität (außer in politischen Krisen) durch die Zulassung des (freiwilligen) Exils eine kapitale Bestrafung regelmäßig erspart wurde. Die Kaiserzeit machte die Differenzierung zwischen honestiores und humiliores zur Basis des materiellen Strafrechts. Die geringere Entscheidungsfreiheit kaiserzeitlicher Beamter führte zu rechtlicher Fixierung von Strafen, was grundsätzlich deren Verschärfung bedeutete: Nunmehr schützte das Bürgerrecht die humiliores nicht mehr vor Strafen, die davor ausschließlich Sklaven oder Fremde zu erleiden gehabt hatten; ebenso blieben honestiores nicht mehr der Todesstrafe entzogen. Diese wurde vorherrschende Strafform; ihr Vollzug vor Massenpublikum diente zugleich zu dessen Unterhaltung wie zur Abschreckung potentieller Delinquenten. Keine einhellige Einschätzung gibt es hinsichtlich der Brutalisierungstendenzen bei Bestrafungen in der Spätantike: Während die Gesetzgebung im christianisierten Imperium Strafdrohungen von davor kaum bekannter Grausamkeit kannte (Liebs 2015, S. 108 ff.; MacMullen 1986), lassen zahlreiche Quellen jedoch ernsthafte Zweifel aufkommen, ob diese praktisch durchgehend angewandt wurden (Krause 2014, S. 248 ff.).
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Kapitel 26
Die römische Provinzialgerichtsbarkeit Georgy Kantor
1 Überblick Dieses Kapitel befasst sich mit Rechtsprechung und Justiznutzung in den römischen Provinzen (d. h. nach dem in der späten Republik entwickelten Gebrauch des Begriffs: den Gebieten unter römischer Herrschaft außerhalb Italiens) in der Zeit von der Entstehung des mediterranen römischen Imperiums in der mittleren Republik bis zur Neuordnung der Provinzialverwaltung unter Diokletian und Konstantin. Einen definitiven Stichtag anzugeben ist hier nicht leicht, da viele unserer Zeugnisse für die früheren Zeitabschnitte natürlich aus den spätantiken Kodifizierungen Justinians 529–534 n. Chr. und, in geringerem Maße, der von Theodosius II. im Jahr 438 n. Chr. stammen. Es wurde jedoch vermieden, die Entwicklungen nach der Tetrarchie für sich genommen zu besprechen. Die Ausbildung lokaler Rechtsprechungsorgane vor der römischen Annexion und das Maß an Respekt, das Rom lokalen Rechtstraditionen zollte, divergieren in verschiedenen Teilen des Reichs stark und veränderten sich mit wechselndem Tempo im Lauf der Zeit. In Zivilsachen übernahm man wenigstens in einigen westlichen Provinzen verhältnismäßig früh das Verfahren italischer Städte (→ 31. Lamberti), während man im griechischsprachigen Osten wesentlich länger lokalen Verfahrensnormen folgte (Fournier 2010, 2011; Oudshoorn 2007; Merola 2012; Modrzejewski 2014; Kantor 2015). Der access to justice war in urbanisierten Regionen wie der Baetica oder an der Westküste Kleinasiens nicht die gleiche wie in den weiten Flächen des anatolischen Hochlands oder der pannonischen Tiefebene. Zudem wandelten sich die Rolle der Zentralgewalt und das Ausmaß, zu dem die Übersetzung aus dem Englischen G. Kantor (*) St John’s College, Oxford, Großbritannien E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_26
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ktivitäten römischer Repräsentanten vor Ort einheitlich reguliert wurden, mit A dem Übergang von der Republik zur Kaiserzeit wesentlich. Schließlich veränderte die Ausweitung des römischen Bürgerrechts in der Kaiserzeit (mit dem Höhepunkt mit der allgemeinen Verleihung des Bürgerrechts an die freie Bevölkerung 212 n. Chr.) und die Unterteilung der römischen Provinzen in viel kleinere Gebietseinheiten (beginnend in der Antoninischen Zeit und bis zur Tetrarchie weitgehend abgeschlossen) die Dynamik der römischen Provinzialgerichtsbarkeit in entscheidender Hinsicht. Die Lage verkompliziert sich noch durch eine äußerst ungleiche Verteilung der Quellen, was sowohl die systematische chronologische Behandlung bestimmter Provinzen als auch den direkten Vergleich zwischen verschiedenen Regionen oft unmöglich macht. Spätantike Kodifizierungen des römischen Rechts haben Hinweise auf etwaige provinzielle Besonderheiten oder das Bestehen lokaler, von den römischen abweichender Gesetze und Gerichte größtenteils ausgelöscht. Quellen, die unabhängig von der justinianischen Kompilation überlebt haben, gibt es nur sehr wenige, und selbst die verbliebenen Auszüge aus dem Kommentar des Gaius zum Provinzedikt, einem Schlüsseldokument in römischen Provinzprozessen, verraten nicht viel davon, was davon speziell provinziell war. Folglich beruhen moderne Studien des Provinzprozesses weitgehend auf literarischen Quellen, insbesondere auf der rhetorischen Literatur, angefangen von den Reden Ciceros in Erpressungsfällen bis hin zum autobiografischen Bericht des Schauredners Aelius Aristides im zweiten Jahrhundert n. Chr. Hinzu kommt der veröffentlichte Briefverkehr zweier römischer Statthalter in Kleinasien (Cicero in Kilikien 51/50 v. Chr. und Plinius der Jüngere in Pontus und Bithynien 109–111 n. Chr.) sowie das Urkundenmaterial. Zwangsläufig besteht daher ein beträchtliches Missverhältnis zwischen den Provinzen, aus denen Papyri erhalten sind – vor allem Ägypten (Keenan et al. 2014), aber auch der orientalische „Steppengrenze“, aus denen reichlich Material in Form von Anträgen, Vorverfahrensdokumenten, Gerichtsentscheidungen und Verhandlungsprotokollen vorliegt – und dem Rest der römischen Welt, in dem das Material weitgehend epigraphisch ist. Nur ein geringer Anteil des rechtlichen und dokumentarischen Stoffes wurde auf dauerhaften Materialien aufgeschrieben und hierbei handelte es sich vorwiegend um normative Texte, nicht um die kurzlebigere Dokumentation der Streitbeilegung. Wenn auch aus anderen Provinzen schriftliche Anträge, Gerichtsentscheidungen und eine Handvoll Verhandlungsprotokolle erhalten sind, ist es meist unmöglich, sich ein Bild von der Streitbeilegung in der Praxis dort mit derselben Detailgenauigkeit zu machen wie für Ägypten oder eben für die Stadt Rom selbst, wo Lücken im Urkundenmaterial weitgehend durch die Reichhaltigkeit der literarischen Quellen ausgeglichen werden. Einige Verallgemeinerungen sind dennoch möglich. Schon in einem sehr frühen Stadium der römischen Herrschaft außerhalb Italiens begannen römische Statthalter, eine Form von Gerichtsbarkeit in den ihnen unterstellten Gebieten auszuüben und allgemeine Verordnungen für die Rechtsprechung zu erlassen, insbesondere, wenn sie Bürger verschiedener Gemeinschaften betraf, und vor allem bei Rechtsstreitigkeiten mit Beteiligung römischer Bürger. In Sizilien zum Beispiel reichten solche Verordnungen bis zur sogenannten lex Rupilia zurück, einem 131 v. Chr.
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(also eine bemerkenswerte Zeit nach der ursprünglichen Etablierung der römischen Herrschaft) vom Prokonsul Publius Rupilius erlassenen Satz von Verordnungen. Aus der Provinz Asia (im westlichen Kleinasien) ist ein Edikt des Prokonsuls Quintus Mucius Scaevola Pontifex aus dem Jahr 97 oder 94 v. Chr. belegt, das später als Muster für Nachahmungen diente, etwa 51/50 v. Chr. für Cicero als Prokonsul von Kilikien (im südöstlichen Teil Kleinasiens, dazu: Marshall 1964). Ciceros Stolz auf diese Handlung zeigt, dass es zumindest zu diesem Zeitpunkt für den Statthalter nicht bindend war. Es ist zu beachten, dass in all diesen Fällen Raum für die lokale bürgerschaftliche Gerichtsbarkeit neben der des Statthalters gelassen wurde, siehe dazu unten.. Die Form der Gerichtsbarkeit des Statthalters folgte der des Prätors in Rom, so insbesondere der Erlass eines Gerichtsbarkeitsedikts (vielleicht nicht überall erlassen, siehe Katzoff 1969 zu Ägypten), die vom römischen tribunal inspirierten Gerichtsorte (Färber 2014, S. 144–161) und die Nutzung von Rechtsexperten römischen Stils, deren Tätigkeit sich in die Provinzen ausbreitete (Crook 1995; Kantor 2009). In den Rechtstexten wird der Begriff praetor bezeichnenderweise oft als Oberbegriff verwendet, der auch Provinzstatthalter einschließt. Wie das Beispiel von Asia und Cilicia zeigt, wurden nicht überall allgemeine Gerichtsbarkeitsverordnungen nach dem sizilischen Modell erlassen und in anderen Provinzen behielten die Repräsentanten Roms ein höheres Maß an Flexibilität oder mussten mit einem Flickwerk von Verträgen mit einzelnen Gemeinschaften umgehen (Kantor 2010). Ein besonders bemerkenswertes Beispiel hierfür liefert ein Vertrag aus dem Jahr 46 v. Chr. zwischen Rom und dem Lykischen Bund im südwestlichen Kleinasien (damals noch außerhalb des römischen Provinzgefüges), der auf Befehl Julius Caesars unterzeichnet wurde (SEG LV 1452). Die Inschrift enthält gut erhaltene Klauseln zur Aufteilung der Gerichtsbarkeit auf Grundlage des forum domicilii-Prinzips, grundsätzlich war der Gerichtsstand des Beklagten maßgeblich (Fournier 2010, S. 447–456). Bei Kapitalverbrechen (deren Definition in der erhaltenen griechischen Fassung wohl etwas verzerrt ist) war die die Gerichtsbarkeit über römische Bürger den Gerichten der Stadt Rom selbst vorbehalten, in Privatrechtsfällen mit römischen Bürgern als Beklagten oblag sie den römischen Provinzstatthaltern. In manchen Fällen scheinen privilegierte Städte in der späten Republik eine umfangreichere Zuständigkeit gehabt zu haben, die auch Rechtsstreitigkeiten mit römischen Bürgern umfasste, besonders Kolophon (SEG XXXIX 1243 und 1244) und Chios; im letzteren Fall wurde diese in den letzten Jahren des Prinzipats des Augustus erneut bestätigt (SEG XXII 507). Andernorts behielten sich römische Behörden jedoch die Gerichtsbarkeit nicht nur über römische Bürger als Beklagte vor, sondern auch über Beklagte aus anderen griechischen poleis, so insbesondere in Aphrodisias, einer Stadt, die in anderer Hinsicht begünstigt war. Die umfangreicheren Hoheitsrechte über ansässige Römer scheinen in der Kaiserzeit abgestorben zu sein, wenn auch nicht klar ist, ob sie formell abgeschafft wurden (Laffi 2010; Kantor 2010). Ungeachtet der Vielfalt der Einzelheiten in der späten Republik dem frühen Prinzipat entsprach es dem allgemeine Muster, dass römische Statthalter, angefangen mit den weniger privilegierten Gemeinden, letztlich die Kapitalgerichtsbarkeit in ihrer Provinz an sich nahmen, wenn es auch schwierig ist, für diese Entwicklung ein
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genaues Datum festzumachen. Ein berühmtes Beispiel ist die Behauptung in der Erzählung des Evangeliums, dass die Kapitalgerichtsbarkeit in Judäa allein dem römischen praefectus oblag (Sherwin-White 1963, S. 24–47), dem man die Ausübung der Kapitalgerichtsbarkeit – in einer eindeutig privilegierteren Gemeinde – durch den athenischen Areopag in einem (wahrscheinlichen) Fälschungsfall unter der Herrschaft von Tiberius selbst gegenüberstellen kann (Fournier 2010, S. 151). Auf einer Liste von Verbrechen, die der Präfekt von Ägypten, Marcus Petronius Mamertinus (133–137 n. Chr.), seinem eigenen Gericht vorbehielt, stehen beispielsweise Mord, Raub, Vergiftung, Entführung, Viehdiebstahl, Waffengewalt, Fälschung und schwere Körperverletzung (Jördens 2011), während zur gleichen Zeit in Kleinasien der Redner Polemo selbst der privilegierteren „freien Stadt“ Smyrna riet, die Ausübung der Kapitalgerichtsbarkeit zu vermeiden, von der man sagen kann, dass sie dort formal noch bestand (Fournier 2010, S. 331–340). In der Provinz Cyrene scheinen römische Behörden bereits in augusteischer Zeit in der Kapitalgerichtsbarkeit das Monopol gehabt zu haben (de Visscher 1940, S. 55–77). Kaiserliche Verordnungen schrieben es den Statthaltern zudem vor, sich persönlich mit Fällen zu beschäftigen, die pietas-Verhältnisse betrafen, z. B. zwischen Kindern und Eltern oder Patronen und Klienten, oder erstaunlicherweise Fälle, die Ammen betrafen, die jüngst Gegenstand einer beispielhaften Diskussion wurden (Smyshliaev 2002). Andererseits bestand der Schutz römischer Bürger in den Provinzen vor einer Ermessensentscheidung des Statthalters in Kapitalsachen bis weit in die Kaiserzeit und erhielt wahrscheinlich durch die Ausbildung der Appellation an den Kaiser neue Wirksamkeit. Dass er noch Bestand hatte, bezeugt der Brief von Plinius dem Jüngeren, Statthalter der Provinz Pontus und Bithynien, an Kaiser Trajan betreffs der Christenprozesse im Jahr 111 n. Chr. (Plin. ep. 10, 96). Im zweiten Jahrhundert n. Chr. wird dieser Schutz teilweise auf die sogenannten honestiores (die städtischen Eliten) ausgeweitet, und nach 212 n. Chr., als das römische Bürgerrecht allgemein wurde, verdrängte die Unterscheidung zwischen den honestiores und dem übrigen freien Volk die Trennung zwischen Bürgern und Nichtbürgern völlig. Während die Appellation an den Kaiser und das System der Weisungen (mandata), die die Statthalter von ihm erhielten, in mancher Hinsicht bedeuteten, dass die Gerichtsbarkeit der Statthalter, zumindest über römische Bürger und später privilegierte Schichten, in der Kaiserzeit strenger überwacht wurde als zur Zeit der Republik, sollte man das Ausmaß zentraler Einflussnahme auf Provinzialrechtsfälle nicht überschätzen. In der Provinz Asia war unter Claudius die erforderliche Kaution, um in Privatrechtsstreiten an den Kaiser zu appellieren, auf schwindelerregende 2500 denarii festgesetzt (Fournier 2010, S. 584–586). Zum Vergleich: dem ersten Edikt des Augustus aus Kyrene zufolge gab es in der Provinz der Kyrenaika nur 215 römische Bürger, deren Vermögen im Gesamtwert eine höhere Summe betrug (Visscher 1940, S. 40–49). Selbst die erschwinglichere Kaution von einem Viertel dieses Betrags, die unter Hadrian in Ägypten fällig war (Merola 2012, S. 60–61), muss eine erhebliche Hürde gewesen sein. Plinius der Jüngere sandte in zwei Jahren seiner Statthalterschaft in Pontus und Bithynien 109–111 oder 110–112 n. Chr. nur 39 Briefe an den Kaiser, die eine Handlung erforderten, wobei nicht einmal alle direkt
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von Rechtsstreiten herrührten. Im Gegensatz zu einer häufig geäußerten Ansicht dürften diese nur einen verschwindend geringen Anteil seiner Rechtsprechungstätigkeit ausgemacht haben. Später im zweiten Jahrhundert argumentierte Marcus Cornelius Fronto (ep. 1.6.2–8) in einer Gerichtsrede eindringlich dagegen, einen Erbrechtsfall zwischen zwei römischen Bürgern in Kleinasien an das kaiserliche Gericht zu verweisen, da dies eine langwierige Verzögerung verursachen würde. Das Gericht des Statthalters war ein Wandergericht, das nach einem festgelegten Plan zwischen verschiedenen Städten seiner Provinz umherzog (Burton 1975). Der Status eines conventus-Zentrums war bei den Gemeinden sehr begehrt, da er der Elite – die auch gelegentlich als Gerichtsberater des Statthalters verpflichtet wurde – den direkten Kontakt mit dem Statthalter ermöglichte, den Reisebedarf für ernstere Rechtsstreite minderte und umgekehrt Dienstreisende in die Stadt brachte (Guerber 2009, S. 303–323; Fournier 2010, S. 41–98; Haensch 1997). Dennoch blieb der Zwang, in Rechtsangelegenheiten zu reisen und Anträge an den entfernten Statthalter zu senden, ein wesentliches Merkmal von Provinzialgerichtsverfahren, selbst wenn man in Gerichtsorten wohnte, da der Statthalter, seine Legaten oder später kaiserliche Prokuratoren sich die meiste Zeit des Jahres an einem anderen Ort aufhielten, und Ladungen vor das Gericht des Statthalters bedeuten konnten, dass man ihm durch die ganze Provinz hinterherziehen musste. Das schränkte gewiss den Zugang der ärmeren Schichten zum Gericht des Statthalters ein, ebenso wie die Prozesskosten, die ab dem vierten Jahrhundert besser bezeugt sind und wahrscheinlich weiterverbreitet war, aber nunmehr auch für das erste bis dritte Jahrhundert sicher nachgewiesen sind (Haensch 2015). Wie an dem reichlichen papyrologischen Material für Ägypten zu sehen, lag der Alphabetisierungsgrad unter Antragstellern vor Gericht mit ca. 50 % deutlich über dem Durchschnitt in Volkszählungsergebnissen, und mit 40 % sind Bauern unter den Antragstellern eindeutig unterrepräsentiert, während Priester, Beamte und Veteranen deutlich überrepräsentiert sind (Kelly 2011, S. 123–167). Darüber hinaus waren die conventus-Zentren geographisch ungleichmäßig verteilt: Beispielsweise dürfte in der Provinz Asia, für die uns die ausführlichsten Nachweise vorliegen, der Zugang zum Gericht des Statthalters für die Einwohner der Küstenstädte wesentlich einfacher gewesen sein als in den Hochländern von Phrygien und Lykaonien im Landesinneren (Kantor 2013). Das System der Vorladungen zum conventus brachte weitere Schwierigkeiten, genau wie in Rom und Italien, da man sich in Privatrechtsfällen weitgehend auf das Entgegenkommen beider Prozessparteien und auf private Durchsetzung stützte und die Ladung vom Beklagten bereits vor dem Gerichtsverfahren angefochten werden konnte (P.Oxy. LXXXII 5316, mit Verweisen auf weitere Nachweise). Im Fällen, die das Provinzialrechtssystem erreichten, legen die Daten jedoch nahe, dass das Tempo des Verfahrens für ein vormodernes System verhältnismäßig hoch (Kelly 2011, S. 86–94) und die Fluktuation recht niedrig war. Papyrologische Zeugnisse legen auch nahe, dass der Rechtsstreit vor römischen Provinzialgerichten für Leute, die dazu Zugang hatten, keineswegs nur das „letzte Mittel“ war, sondern eine wichtige Taktik im Frühstadium ihrer Streitigkeiten, das oft dazu genutzt wurde, eine außergerichtliche
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inigung zu erzwingen (Kelly 2011, S. 244–326; Bryen 2012; Merola 2012; CzajE kowski 2017). Natürlich war es dem Statthalter nicht möglich, sich mit allen Fällen aus seinen Zuständigkeitsbereich persönlich zu befassen: Der Präfekt von Ägypten Subatianus Aquila (209–211 n. Chr.) erhielt an drei Tagen seiner Gerichtssitzung in Arsinoe stolze 1804 Anträge (Kelly 2011, S. 94; Haensch 1997, S. 334–342). Selbst wenn Ägypten, wo die städtische Justiz unterentwickelt war, vielleicht in dieser Hinsicht ein Sonderfall war, war es nicht die einzige Provinz in dieser Kategorie; außerdem hatten manche anderen Provinzen wesentlich größere Gerichtsbezirke. Ein zur Entlastung des Statthaltergerichts in Privatrechtsfällen viel genutztes Verfahrensmittel war die Verwendung oder Nachahmung der römischen Zweiteilung des Verfahrens, in dem die mögliche Rechtmäßigkeit einer Forderung vor dem Magistrat (in iure) beurteilt und die Tatsachenfeststellung an einen Richter (apud iudicem) überwiesen wurde. Einige Wissenschaftler betonen die wahrscheinlichen Unterschiede zwischen der Provinzialpraxis und dem Formularprozess im eigentlichen Sinne (Hackl 1997). Die Zweiteilung von Verfahren im weiteren Sinne ist jedoch im ganzen Reich eindeutig nachgewiesen (eine unverdient übersehene frühe Darstellung hiervon findet man in Falletti 1926, S. 88–142), ebenso wie sein Einsatz, um lokale Rechtsprechungsorgane in das römische Gerichtssystem einzubinden, ein Problem, auf das unten zurückzukommen ist. In einem Fall in der römischen Provinz Arabia bald nach ihrer Errichtung im zweiten Jahrhundert n. Chr. beschaffte sich eine Klägerin eine Kopie einer griechischen Version der römischen actio tutelae, obwohl sie mit Sicherheit keine römische Bürgerin war und ihre Klage möglicherweise beim lokalen Stadtrat vorbrachte (Oudshoorn 2007, S. 330–344; Czajkowski 2017, S. 93–105). Demgegenüber nutzte man die formula in Hispanien im frühen ersten Jahrhundert v. Chr. (Richardson 1983) und im frühen zweiten Jahrhundert n. Chr. (Nörr 2008; Buzzacchi 2013), um die Anwendung lokalen Rechts in aus dem Statthaltergericht stammenden Prozessen zu ermöglichen. Ähnliche Zwecke mögen den Erhalt (oder wahrscheinlich gar das Wiederaufleben) der hellenistischen Institution „fremder Richter“ bis in die hohe Kaiserzeit erklären (Fournier 2010, S. 607–609). Es spricht einiges dafür, dass deren Einsatz bereits in der späten Republik in den Edikten Scaevolas und Ciceros für delegierte Rechtsprechung gebilligt wurde, was so manchen Gebrauch des oft falsch verstandenen Begriffs xenokritai begründen mag: Der Versuch, sie immer als römische recuperatores zu erklären (Nörr 1999), trägt den epigraphischen Nachweisen nicht gänzlich Rechnung. Obwohl römische Juristen die Zuständigkeit des Statthalters in privatrechtlichen Angelegenheiten außerhalb der privilegierten freien Städte (Ulpian, D. 1.16.9 pr, ist ein locus classicus) als allumfassend ansahen, fand ein wesentlicher Teil der Prozesse während der gesamten Zeit weiterhin auf lokaler Ebene statt und kam wahrscheinlich gar nicht vor das Gericht des Statthalters, auch nicht für die anfängliche Prüfung in der in-iure-Phase. Ein noch größerer Teil wurde zur Entscheidung zurück an die lokalen Gerichte verwiesen. DieVerweisung eröffnete auch Spielräume für außergerichtliche Schiedsverfahren einschließlich der internen Schiedsmechanismen von Gemeinschaften unterhalb der Ebene des Stadtstaats, wie etwa j üdischen
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Diasporagemeinden, wo signifikante verbindende Merkmale von Richtern und Schiedsrichtern zu beobachten sind (Harries 2003). Nachweise für die Vitalität der städtischen Gerichte in der hier behandelten Zeit und darüber hinaus gibt es reichlich, selbst in weniger privilegierten Gemeinden (Schmidt-Hofner 2011, S. 145–154), aber die Frage nach den Grenzen ihrer Zuständigkeit ist, jedenfalls wenn sie nicht aufgrund einer Verweisung vom Gericht des Statthalters oder mit Zustimmung beider Parteien hin tätig wurden, weitaus problematischer. In römischen Kolonien und latinischen municipia in den lateinischsprachigen Provinzen haben wir gelegentlich Hinweise auf einen Höchstbetrag, bis zu dem an Stadtgerichten ohne Zustimmung beider Parteien entschieden werden konnte (Rodger 1996). Auch wenn nicht alle erhaltenen Fragmente von Stadtrechten solche Vorschriften enthalten, kann man zurecht annehmen, dass derartige Beschränkungen überall anzutreffen waren. Die Lage in den peregrinen (nichtrömischen) Gemeinden konnte wesentlich komplizierter sein: Aus dem griechischen Osten liegen reichlich Indizien vor, die nahelegen, dass vor der Constitutio Antoniniana Beschränkungen nur für Prozesse mit Beteiligung ansässiger Fremder aus anderen Poleis bestanden, wie z. B. in der Kleinstadt Parthikopolis im Strymontal, wo Kaiser Antoninus Pius 158 n. Chr. den Höchstbetrag auf 250 Denarii festlegte (die Intepretation von Fournier 2010, S. 350–351, geht hier fehl). Während es an Nachweisen aus vergleichbaren Gemeinden in den westlichen Provinzen fehlt, ist es nicht unmöglich, dass peregrine Gemeinden dort ebenfalls umfangreichere gerichtliche Zuständigkeiten hatten, obwohl zugegebenermaßen vorrömische Traditionen der städtischen Gerichtsbarkeit, wie sie den römischen Behörden aus der mittelmeerischen Stadtstaatenwelt bekannt waren, nicht überall bestanden. Das berüchtigte zynische Urteil des römischen Historikers Velleius Paterculus über die Germanen, die ihre Rechtsstreite vor den römischen Statthalter brachten (Vell. Pat. 2.117–118), lässt vielleicht auf allgemeinere Haltung schließen. In den griechischen Städten jedenfalls führten lokale juristische Institutionen ihre Entwicklung verhältnismäßig nahtlos aus der hellenistischen Zeit fort (Fournier 2010, S. 99–256; Kantor 2015). In manchen Fällen ist römischer Einfluss sichtbar, sogar außerhalb der formellen Provinzgrenzen, wie in einem unlängst veröffentlichten Beschluss des taurischen Chersonesos über die Reform von Schwurgerichten in Privatrechtsfällen im frühen zweiten Jahrhundert n. Chr. (SEG LV 838; LXI 607) zu sehen ist, innerhalb einer erkennbar griechischen Prozessordnung. Dies steht in deutlichem Gegensatz zur Baetica, wo in den flavischen Gemeindesatzungen keine Spuren von lokalen Organen aus der Zeit vor der Verleihung des ius Latii sichtbar sind. Ein besonders heikles Problem bleibt, wie oben erwähnt, der fortdauernde Gebrauch lokaler Rechtsregeln in Prozessen und das Verhältnis zwischen ihrem Gebrauch und der Zuständigkeit römischer oder lokaler Gerichte (auf jeden Fall ist klar, dass lokale Regeln auch von einem römischen Gericht angewandt werden konnten) sowie dem Bürgerrechtsstatus der Prozessparteien sowohl vor als auch nach 212 n. Chr. Es erscheint ziemlich klar, dass die Wahl der anzuwendenden Regeln in vielen Fällen weniger reguliert war als die Zuständigkeit verschiedener Gerichte, und dass selbst die Regeln für Letztere sich oft widersprachen und der Lösung durch Repräsentanten der kaiserlichen Macht bedurften. Womöglich ist es
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sinnvoller und eher im Einklang mit der römischen Konzeption des Problems, an eine Hierarchie normativer und gerichtlicher Autoritäten zu denken, als an einen Satz Kollisionsnormen (Kantor 2012; Alonso 2013). Wie es scheint, erlaubte es auch das prozessuale Mittel der Rechtsanalogie oft, die Anwendung römischen Rechts auf Nichtbürger auszuweiten (Ando 2011), wenn auch oft unklar bleibt, welchen Anteil jeweils die Handlungen des Gerichts und die der Prozessparteien an diesem Vorgang hatten. Mehrere konkurrierende Tendenzen scheinen im Spiel gewesen zu sein: die „Prozessinflation“, wenn Prozessparteien die Gegenparteien einzuschüchtern suchten, indem sie vor römische Gerichte zogen (Fournier 2010, S. 573–591); die Auffassung, dass manche Rechtsformen ausschließlich römischen Bürgern vorbehalten bleiben sollten; ein ideologischer Respekt vor dem römischen Regierungssystem selbst in nichtrömischer Tradition; Homogenisierungsbestrebungen von Rechtsexperten, die am Gericht des Statthalters tätig waren, und die allmähliche Verbreitung römischer Rechtsliteratur; Versuche lokaler Gemeinschaften zum Erhalt ihres Sonderstatus und Prestiges. Diese Tendenzen setzten sich bis ins dritte Jahrhundert fort, aber die langfristige Tendenz, die durch Caracallas Verleihung des Bürgerrechts und die dadurch hervorgerufenen Erwartungen beschleunigt wurde, blieb weiterhin bei einem regeren Gebrauch römischen Rechts in der Provinzialgerichtsbarkeit, und selbst lokale Privilegien wurden schließlich durch das Prisma der Schriften römischer Juristen betrachtet (Kantor 2009). Dieser Prozess beschleunigte sich zweifellos mit der schrittweisen Aufteilung der größeren Provinzen der Republik und des frühen Kaiserreichs in kleinere Einheiten, welche dazu führte, dass bis zur Zeit Diokletians und Konstantins die Statthalterjustiz weitaus mehr allgegenwärtig war, wenn auch für die unteren Schichten der Provinzbevölkerung nicht notwendigerweise zugänglicher (zu Zentralisierungstendenzen im römischen Provinzialgerichtswesen siehe Schmidt-Hofner 2011). Wenn man die Lage aus Sicht einer Prozesspartei in einem provinziellen Rechtsstreit betrachtet, blieb das wichtigste Merkmal in dieser ganzen Zeit die beträchtliche Flexibilität des Justizsystems und der von ihm gelassene Spielraum, das Fallrecht im Wechselspiel zwischen Prozessparteien, Sachverständigen und Richtern zu gestalten. Es ist schwer zu sagen, ob dies den Zugang der ärmeren Gesellschaftsschichten zur formellen Beilegung von Rechtsstreiten erschwerte, aber für die bessergestellte Provinzbevölkerung war der Gebrauch des Rechtssystems eindeutig ein gewisses Machtmittel und blieb eine wichtige Taktik, um gesellschaftlichen Druck auszuüben.
2 Kernprobleme der Forschung Das römische Provinzialgerichtsverfahren ist ein Thema, das sich derzeit rasch entwickelt und bei der Entwicklung neuer Methoden in der antiken Rechtsgeschichte in vorderster Reihe steht, während gleichzeitig aber – nicht zuletzt wegen der besonders fragmentarischen Quellen – alles zur Diskussion steht. Dementsprechend wurde im Überblick versucht, übermäßigen Dogmatismus zu vermeiden und es mit
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einigen der neueren Debatten im Einzelnen abzustimmen. Im Folgenden sollen einige Trends der jüngeren Historiografie deutlicher ausführt werden. Natürlich umfasst ein chronologisches und geographisches so weites Feld viele verschiedene institutionelle Ansätze und regionale Einstellungen zur Nutzung des Justizsystems in der Konfliktlösung. In der jüngeren Forschung betont man zunehmend diese Vielfalt und verabschiedet sich endlich von der romanozentrischeren Sichtweise, die bis auf das De antiquo iure provinciarum von Carlo Sigonio (1568) zurückgeht. Die Grundlagen moderner Debatten finden sich vielfach in der bahnbrechenden Studie von Ludwig Mitteis (1891), der eine Schlüsselfigur in der Entwicklung historischer Ansätze zur Erforschung des römischen Rechts ist und als erster Fragen nach dem Erhalt und der Rolle des lokalen Rechts in den römischen Provinzen, der Stellung römischer Bürger und der durch die allgemeine Verleihung des römischen Bürgerrechts im Jahr 212 n. Chr. bewirkten Veränderungen aufwarf. Mitteis war auch der erste, der papyrologischen Quellen ernsthaft Beachtung schenkte, die fast das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch im Zentrum der Untersuchung des römischen Provinzialrechts und der Provinzialgerichtsverfahren standen, so dass sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf die Provinz Ägypten konzentrierte. Bis vor kurzem standen die meisten Arbeiten auf diesem Gebiet in der juristischen Tradition (Taubenschlag 1955; Modrzejewski 2014) und beschäftigten sich mehr mit der Entwicklung der Regeln als mit soziologischen Gesichtspunkten der Konfliktlösung, aber jüngere Arbeiten eröffnen auch diesen Blickwinkel auf das reichhaltige Material, das die Papyri liefern (Kelly 2011; Bryen 2013). Wegen des beträchtlichen Ungleichgewichts zwischen den Quellen aus Ägypten und dem Rest der römischen Welt waren diese Studien jedoch lange Zeit von Annahmen über die Einmaligkeit Ägyptens unter römischen Provinzen geplagt und blieben von Arbeiten über andere Teile der römischen Welt, die zumeist Epigraphiker und Historiker ausführten, abgesondert. Die Akkumulation papyrologischer Quellen von außerhalb Ägyptens und wichtiger neuer Inschriftenquellen, vor allem aus Spanien und Kleinasien, hat in den letzten drei Jahrzehnten die Lage verändert. Eine Reihe von Studien befasst sich eingehend mit bestimmten Regionen, beispielsweise dem römischen Arabien (Oudshoorn 2007; Czajkowski 2017), Mesopotamien (Merola 2012) oder Sizilien (Mellano 1977), den griechischsprachigen Provinzen im Allgemeinen mit Schwerpunkt auf dem griechischen Festland und Kleinasien (Raggi 2006; Fournier 2010, 2011; Laffi 2010; Kantor 2015) oder mit den Provinzen im Westen, insbesondere den spanischen (Richardson 1983; Rodger 1996; Galsterer 1999). Die meisten dieser Studien konzentrieren sich auf die besser belegten Fragen zum Prozessrecht, der Zuständigkeit von Gerichten und, besonders hinsichtlich der vielfältigeren Provinzen im Osten, dem Grad der Kontrolle und Einheitlichkeit in der römischen Provinzialgerichtsbarkeit. Andere Belange kommen ebenfalls langsam zum Vorschein, so der Status und die Rolle von Rechtsexperten (Kantor 2009) und die von Prozessparteien getroffene Entscheidung, ihren Konflikt einem römischen Gericht vorzulegen, statt sich informelleren Konfliktlösungsmethoden zu bedienen (Bryen 2012). Über den Gebrauch verschiedener Rechtssysteme (oder besser gesagt, von Gesetzen und Verordnungen verschiedener Herkunft, denn die Verwendung des
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egriffs „System“ ist in mancherlei wesentlichen Hinsichten problematisch) in der B provinziellen Streitbeilegung und das Ausmaß, in dem römisches Recht vor der Ausweitung des römischen Bürgerrechts im Jahr 212 n. Chr. auf diese einwirkte, hat sich eine besonders lebhafte wissenschaftliche Debatte entwickelt. Es gibt einflussreiche Versuche, die fortdauernde Rolle lokalen Rechts entweder in der Begrifflichkeit des „Gewohnheitsrechts“ zu erklären, wobei man das Ortsrecht (außerhalb privilegierterer Gemeinschaften) als von einem minderen Status als das römische Recht ansieht, eine besonders von Joseph Mélèze-Modrzejewski in seinen grundlegenden Beiträgen zum römischen Ägypten (Modrzejewski 2014) entwickelte Sichtweise, oder im Sinne moderner „Gesetzeskollision“ zu verstehen, so vertreten von Hannah Cotton in ihrer Arbeit zu Papyri aus der judäischen Wüste (Cotton 2007). Während beide Ansätze bedeutsame Merkmale der Situation auswählen und in moderne Rechtsbegriffe kleiden, könnte man die Situation auch aus einem römischen theoretischen Rahmen heraus betrachten, mit Schwerpunkt auf der Hierarchie der Autoritäten, richterlichem Ermessensspielraum und unter Betonung der Flexibilität des Systems, wie es von mir und José Luis Alonso aus etwas verschiedenen Blickwinkeln versucht wurde (Kantor 2012; Alonso 2013), oder mit Konzentration auf den Gebrauch von Analogie und Rechtsfiktion, mit dem man Nichtbürger in den Geltungsbereich römischer Rechtsregeln brachte (Ando 2011, S. 1–36). In diesem Zusammenhang sind anthropologische Begriffe wie „harter“ und „weicher“ Rechtspluralismus (Humfress 2013, in Vorb.) und Besprechungen des Handelns des Einzelnen und der Strategien der Prozessparteien beim Gebrauch verschiedener Rechtstraditionen besonders fruchtbar (Bryen 2012, 2013, 2014; Czajkowski 2017), insbesondere in ihrer Veranschaulichung durch Einzelprivilegien bei der Wahl des Gerichts (Raggi 2006). Neben anderen bemerkenswerten Richtungen weiterer Arbeiten sollte man die sich entwickelnde Beachtung der Rolle des Bürgerrechts bzw. der Bürgerrechte beachten, insbesondere im „langen zweiten Jahrhundert n. Chr.“ (wozu interessante neue Bände von Gabrielle Frija sowie von Myles Lavan und Clifford Ando in Vorbereitung sind), weitere Regionalstudien zu in diesem Zusammenhang bisher vernachlässigten Provinzen (besonders Anna Dolganov zu Nordafrika und Lina Girdvainyte zu Achaia und Makedonien) und eine erneute Untersuchung von Gerichtprozessen in den Papyri durch das von Bernhard Palme und Anna Dolganov in Wien geleitete Projekt.
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Kapitel 27
Ausnutzung von Gerichtsvielfalt durch forum shopping Nadine Grotkamp
1 Überblick Forum shopping ist ein auch in der deutschsprachigen Zivilprozessrechtswissenschaft gut eingeführter Begriff, der den Sachverhalt bezeichnet, dass eine Prozess partei, in der Regel der Kläger, über die Bestimmung des Gerichtsorts eine Rechtsordnung wählt, um zu einem für sie vorteilhaften Urteil zu kommen. Häufig ist forum shopping dabei ein negativ konnotierter Begriff, der die Nähe der Rechtswegmanipulation steht (z. B. in der Begründung zu Verordnung (EU) 2015/848). Daneben steht ein rechtsethnologisches Verständnis, in dem die bewusste Ausnutzung der Gerichts- und Rechtsvielfalt nicht negativ konnotiert ist (Benda-Beckmann 1981). In der altertumswissenschaftlichen Literatur ist der Ausdruck weitgehend unbekannt, zudem dominiert traditionell eine institutionengeschichtliche Betrachtung gegenüber einer vom Justiznutzer ausgehenden Perspektive. Beispiele für das bewusste Ausnutzen von Gerichts- und Rechtsvielfalt lassen sich dennoch in unterschiedlichen antiken Epochen ausmachen. Der Vorwurf an den Kläger, ein bestimmtes Gericht gerade zu seinem Vorteil ausgewählt zu ha ben, wurde beispielsweise in hellenistischer Zeit im sogenannten Hermias bzw. Choachyten-Fall erhoben. Seine Prominenz verdankt dieser Prozess seiner außergewöhnlich guten Überlieferung. Neben zahlreichen anderen Dokumenten (zusammengestellt bei Pestman 1992) gibt eine bereits 1826 veröffentlichte, so gut wie vollständig erhaltene Papyrusrolle (P.Tor. 1 = P.Tor.Choach. 12, dt. Übers. UPZ II 168) in zehn Kolumnen das Protokoll einer Gerichtsverhandlung im oberägyptischen Theben aus dem Jahr 117 v. Chr. wieder. In der Sache handelt es sich um den Streit eines Offiziers namens Hermias mit einer ägyptischen Priesterfamilie, den Choachyten, um ein Haus in Theben. Während der Verhandlung wird von einem der ProzessN. Grotkamp (*) Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_27
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N. Grotkamp
vertreter der Einwand vorgebracht, dass der Fall vor einer anderen Stelle ganz anders beurteilt worden wäre. Dort hätte der Kläger erst eine Reihe von Urkunden vorlegen müssen, bevor man in eine mündliche Verhandlung eingetreten wäre. Angesichts der Vielzahl der bereits unternommenen Verfahrensschritte ist es naheliegend, dass tatsächlich die Beweissituation ein Grund dafür war, gerade den Epistates von Theben um eine Entscheidung zu bitten und kein am gleichen Ort vorhandenes Kollegialgericht. Von einer auch von den Zeitgenossen als Missbrauch wahrgenommenen Gestaltungsmöglichkeit berichtet die spätantike Novelle 7 des Kaisers Theodosius (Humfress 2013). Aus der Begründung erfährt man, dass Ende 438 der Prätorianerpräfekt Florentinus an den Kaiser geschrieben und sich beschwert hatte, dass in einigen Provinzen sich Großpächter (conductores) nominell Posten im kaiserlichen Dienst verschafft und diesen Status dann gebraucht hatten, um die Gerichtsstandseinrede (praescriptio fori) vor den Gerichten des Provinzstatthalters dazu zu nutzen, sich dortige Prozesse vom Leib zu halten – auch solche, die sie zur Erfüllung öffentlicher Verpflichtungen zwingen sollten. Darauf reagierte die Kanzlei mit mehreren, über die Jahre immer weiter ausgefeilten Differenzierungen, wer in welchen Fällen die Gerichtsstandseinrede geltend machen durfte und fand teils deutliche Worte zu ihrem Missbrauch. Man kann davon ausgehen, dass forum shopping zumindest für einige Personen und in bestimmten Fallkonstellationen zu den meisten Zeiten möglich war. Voraussetzungen dafür sind, dass eine Partei, auf welche Weise auch immer, zwischen mehreren Gerichten wählen können muss, dass diese Gerichte aller Voraussicht nach zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und dass die Partei oder ihre Berater um diese Vor- und Nachteile wie um die Techniken der Wahl wissen. So kann es sein, dass zwei Gerichte an unterschiedlichen Orten alle Fälle hören, die vor diese gebracht werden, eine Entscheidung von jedem der beiden Gerichte für die beteiligten Parteien in irgendeiner Weise verbindlich ist und dass jedes dieser Gerichte nach den Gesetzen des eigenen Ortes urteilt. Mehrere Gerichte mit unterschiedlichen Rechten waren in der Antike in der Regel dort erreichbar, wo sich ältere, städtische bzw. indigene und neuere, imperiale Herrschaftsstrukturen überlagerten, also in den hellenistischen Königreichen und im römischen Imperium. In den hellenistischen Königreichen trat neben die städtischen Gerichte zumindest der jeweilige König, der ebenfalls um eine Entscheidung gebeten werden konnte. Zudem bestanden Spruchstellen, die in anderen Sprachen als Griechisch verhandelten. Teilweise befanden sich die auf unterschiedliche Wurzeln zurückgehenden Institutionen sogar am gleichen Ort. So konnten im hellenistischen Ägypten (Grotkamp 2018, Einführungen: Lippert 2008; Rupprecht 1994), für das die Quellenlage aufgrund der trockenen Siedlungsränder besonders gut ist, an einem Ort bisweilen drei unterschiedliche Kollegialorgane konkurrieren. Neben dem vermutlich auf ägyptische Wurzeln zurückgehenden, in ägyptischer Sprache verhandelnden Dreierkollegium, das als laokritai (etwa: Volksentscheider) bezeichnet wurde, trat eine Spruchstelle aus bis zu zehn per Los bestimmten Männern, deren Verfahren und Bezeichnung dikasterion an die Gerichte der griechischen Städte erinnert, sowie ein auf königliche Initiative zurückgehendes Dreierkollegium, deren
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Mitglieder chrematistai (etwa: Geschäftsträger) genannt wurden. Hinzu kamen zahlreiche Funktionäre, die ebenfalls von der Bevölkerung um Rechtsschutz gebeten wurden. Auch in den römischen Provinzen bestanden in den meisten Epochen mehrere Gerichtsinstanzen nebeneinander. In erster Linie ist hier wie in hellenistischer Zeit an das Nebeneinander der neuen römischen und den weiterbestehenden einheimischen Instanzen zu denken. So findet man auch im kaiserzeitlichen Athen dikasterion und Areopag, und vergleichbar bleiben auch in kleineren und größeren Städten die Gerichtsbarkeiten bestehen (Fournier 2010b). In Ägypten sind nach wie vor Strategen in den einzelnen Gauen mit der Gerichtsbarkeit befasst, wobei umstritten ist, ob diese eine bestehende Praxis weiterführten oder als iudices delegati fungierten, und auch chrematistai sind noch in den ersten Jahren der römischen Herrschaft aktiv (Palme 2014). In den neu gegründeten Munizipien und Kolonien waren duumviri mit der Rechtsprechung betraut, die die dort lebenden römischen Bürger alternativ oder kumulativ zum Statthalter und den stadtrömischen Gerichtsmagistraten anrufen konnten bzw. verpflichtet waren, vor diesen zu erscheinen (→ 31. Lamberti). Trotz weitgehender Ähnlichkeit sind auch Divergenzen im Recht denkbar. Inwieweit für ein und denselben Konflikt tatsächlich unterschiedliche Gerichtsstände gegeben waren, ist häufig nicht klar. Rechtsnormen zur Abgrenzung der Aufgabenbereiche von unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten sind nur punktuell bekannt, sodass ungewiss ist, ob in anderen Fällen ähnliche Regelungen bestanden oder ob die Frage nicht als regelungsbedürftig angesehen und offengelassen wurde. In einer Amnestieverordnung, die Ptolemaios VII. und Kleopatra III. nach 118 v. Chr. erließen, ist eine königliche Anordnung überliefert (P.Tebt. I 5, Z. 207–220), die Streitigkeiten im hellenistischen Ägypten je nach Vertragssprache und Nationalität der Parteien unterschiedlichen Gerichten zuweist. Dies bewirkte jedoch nicht, dass die Bevölkerung auf eine Gerichtsbarkeit festgelegt war. Vielmehr war es den je nach Kontext mal als Ägypter, mal als Griechen auftretenden Personen möglich, das Gericht über die Wahl der Vertragssprache zu bestimmen. Möglicherweise sind die sowohl in den spätrepublikanischen Munizipalgesetzen wie auch im Corpus Iuris Civilis überlieferten Wertgrenzen zur Abgrenzung der Jurisdiktion von örtlichen Magistraten darauf zurückzuführen, dass es ursprünglich möglich war, jeden beliebigen Prozess unter römischen Bürgern in Rom zu führen. Um dies zu verhindern, seien nach und nach Bagatellgrenzen eingeführt worden (Simshäuser 1973). Der Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts wirkende Labeo warf in einer Abhandlung die Frage auf, ob ein Provinziale, der durch einen Sklaven in Rom eine Handelsniederlassung betrieb, in Rom oder in seiner Heimatprovinz verklagt werden könne – Labeo und viele andere Juristen nach ihm gutachteten „hier und dort“ (D. 5,1,19, 3–4). Bisweilen war in Verträgen zwischen Rom und unterworfenen Städten ausdrücklich vorgesehen, dass die Provinzbevölkerung nach eigenem Recht prozessieren solle (Ando 2011). Indirekte Indizien für mehrere Gerichtsstände und damit verbundene Vorteile sind die vor allem spätantiken Gerichtsstandprivilegien (privilegia fori). Danach mussten bestimmte Personen- und Berufsgruppen sich nicht vor den gewöhnlichen Gerichten, sondern nur vor speziellen Gerichten verantworten, etwa Amtsträger nur vor ihren Vorgesetzten oder Kleriker nur vor dem Prätorianerpräfekt in
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onstantinopel. Ein anderes Indiz aus dem Kognitionsverfahren ist die praescriptio K fori, also die Einrede, dass vor einem unzuständigen Beamten geklagt wird. Eine solche Einrede wird dort gebraucht, wo mehrere Personen nebeneinander zu einer Entscheidung berufen sein könnten und es nicht von vornherein klar ist, wer wo rüber entscheidet und worüber nicht. Im in republikanischer Zeit und im Prinzipat gebräuchlichen Formularverfahren besaßen manche Personen das Recht, die Verlagerung des Streits nach Hause zu verlangen (revocandi domum ius). Dies betraf etwa Gesandte aus Städten, die als Vertreter ihrer Heimatgemeinde nach Rom reisten. Wie im Kognitionsverfahren geschah dies am Beginn des Verfahrens vor dem Magistrat – d. h. trotz etwaiger Privilegien war einer Ladung vor den Magistrat erst einmal Folge zu leisten. Im städtischen Kontext kommt forum shopping darüber hinaus in Betracht, wenn in einem Fall nach der üblichen Vorgehensweise keine Klagemöglichkeit gegeben war. So waren in Athen nicht alle Klagen für Bürger und Nichtbürger gleichermaßen gegeben, aber es gibt Beispiele, wie der Klagegrund für Nichtbürger durch bestimmte Verhaltensweisen oder eine entsprechende Präsentation des Stoffes herbeigeführt werden konnte (Thür 2003, S. 215–219). Für Rom ist daran zu denken, dass die Beamtenkognition gerade für die Fälle gebraucht wurde, in denen im Formularverfahren kein zufriedenstellendes Ergebnis zu erreichen war. Insofern könnte man schon die Anrufung des Magistrats als forum shopping bezeichnen. Hier fehlt freilich nicht nur der Vorwurf der Ausnutzung von Gerichtsbarkeiten, sondern auch der Schritt von einer Rechtsordnung in die andere. Die zweite Voraussetzung für forum shopping ist, dass mit der Wahl des Gerichts zugleich eine Wahl des anzuwendenden Rechts verbunden ist. Für die Antike geht man allgemein davon aus, dass Richter immer ihr eigenes Recht anwandten, also dem Prinzip der lex fori folgten. Dies steht mindestens unter zwei Vorbehalten: zum einen war es häufig Aufgabe der Parteien, dem Gericht das Recht, auf das sie ihre Forderungen stützten, ebenso wie andere Unterstützungsmittel vorzutragen. Der Grundsatz iura novit cura ist nicht antik. Zum anderen ist belegt, dass Gerichte auch nach ihnen fremdem Recht der Parteien entschieden, also beispielsweise die römischen Richter in Konflikten der ägyptischen Landbevölkerung auf das einheimische Recht achteten – aber sich auch bewusst darüber hinwegsetzen konnten, ohne dass ein Streit über die Anwendbarkeit oder Geltung einer bestimmten Rechtsordnung ausbrach. Trotzdem wird von einer allgemeinen Präferenz für das den Richtern bekannte eigene Recht auszugehen sein. Umstritten ist, wie groß die Unterschiede zwischen dem Recht verschiedener Orte waren. Dies ist insbesondere für das griechische Recht Gegenstand langanhaltender Debatten. Fest steht, dass das Recht der griechischen poleis zumindest in manchen Einzelfällen deckungsgleich war – etwa in denen in der aiginetischen Rede von Isokrates angeführten Beispielen – in anderen offensichtlich unterschiedlich, auch in so grundsätzlichen Fragen, ob etwa eine Tochter Erbin sein kann oder nicht. Eine Divergenz zwischen griechischem und nichtgriechischem Recht tritt in einigen bekannten Papyri offen zutage und wird von den Beteiligten zumindest am Rande mit thematisiert – so im Hermiasfall (P.Tor. Choach. 12) und auch in der Zuweisung von Streitigkeiten durch Ptolemaios VII (P. Tebt. I 5 207–220). Die Bedeutung von
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nichtrömischem Recht in den Provinzen ist inzwischen mannigfaltig belegt (Wolff 2002, S. 113). Unzählige Dokumente der Rechtspraxis belegen den Weitergebrauch der tradierten Vertragsformen mit ihrer vom römischen Recht unabhängigen Kautelarpraxis über Jahrhunderte. Immer wieder wird vor allem im inschriftlich überlieferten Normmaterial, aber auch in dem als musterhaft geltenden Provinzialedikt des Juristen Q. Mucius Scaevola (Cic. Att. 6,1,15; Richardson 2015; Fournier 2010a) auf die Anwendung von einheimischem Recht hingewiesen. In Verträgen wurde der Gebrauch des eigenen Rechtes (sui legibus uti) vereinbart. Im Rahmen der theoretischen Durchdringung des Rechts deuten die Kategorien, die ein bei allen Völkern/Menschen gebrauchtes Recht bezeichnen und das sich von dem jeweiligen städtischen Recht unterscheidet (nomoi physikoi; ius gentium, ius naturale), auf das Bewusstsein von der Unterschiedlichkeit der Rechte. Bezeichnungen wie lex Rhodia de iactu (rhodisches Gesetz über die Haverei) bezeugen nicht nur den Einfluss eines (hier konkret identifizierbaren) griechischen Rechts auf das römische, sondern auch die klare lokale Zuordnung eines solchen Rechts.
2 Kernprobleme der Forschung Eine umfassende Forschung zum forum shopping als solchem oder zur Ausnutzung der Gerichts- und Rechtsvielfalt in der Antike gibt es nicht. Humfress (2013) hat jedoch bereits an einem spätantiken Beispiel gezeigt, wie lohnend der Zugriff auf das vorhandene antike Material mit dem Konzept des forum shopping sein kann, da er die Aufmerksamkeit von der die Zuständigkeiten regelnden Stelle – dem Gesetzgeber im weiten Sinne – zu den am Verfahren beteiligten Personen, den Parteien und Richtern verschiebt. Die Forschung zur Gerichtsvielfalt, zur Rechtsvielfalt und zu unterschiedlichen Nutzungen von Justiz hat unterschiedliche Konjunkturen erfahren. Grundsätzlich sind alle diese Fragen jedoch angesichts der Wissenschaftsorganisation randständig, die jeweils eine Jurisdiktion, in der Regel die römische, in den Mittelpunkt des Interesses stellt. In der Regel wird nach der Ausgestaltung und den Instanzen und Verfahrensweisen der Gerichtsbarkeit innerhalb einer Rechtsordnung gefragt, also innerhalb des griechischen bzw. attischen Rechts oder innerhalb des römischen Rechts. Die Existenz anderer Gerichte, etwa einheimischer Gerichte innerhalb des römischen Imperiums, wird dann nur beiläufig erwähnt und in der Regel aus der eigentlichen Betrachtung ausgeschlossen. Mehr als eine Rechtsordnung überblickende Darstellungen finden sich in Forschungsarbeiten, die von einem konkreten Quellenkonvolut ausgehen, das durch regionale Kriterien oder durch die Quellenart bestimmt ist, etwa in der juristischen Papyrologie oder Epigrafik. Die traditionelle Romanistik fragt nach der Zuständigkeit unterschiedlicher Amtsträger, genauer, wer in welchem Fall die iurisdictio hat. Aufbauend auf der pandektistischen Prozessrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in der man die Texte des Corpus Iuris Civilis noch für die Anwendung der dort zu findenden Regeln in der Rechtspraxis fragte, besteht eine tief ins Detail gehende Spezialforschung, die über
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die Handbücher des römischen Zivilprozessrechts (Kaser und Hackl 1996) erschlossen werden kann. Schon im frühen 19. Jahrhundert werden von dieser auch die Beispiele aus der literarischen Überlieferung, etwa aus Ciceros Gerichtsreden, und von den nach und nach bekannt werdenden spätrepublikanischen Munizipalgesetzen mitdiskutiert. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich auch die Rechtsgeschichte von der Grundannahme verabschiedete, antike Herrschaftsformen mit den Rastern der modernen Staatsrechtslehre zu erfassen, hat Simshäuser (1973) sich in seiner Habilitationsschrift dafür ausgesprochen, die Wertgrenzen in den spätrepublikanischen Munizipalgesetzen als Maßnahme zu verstehen, die in Bagatellfällen eine Verlagerung des Streites aus etwa einem norditalienischen municipium in das mehrere Tagesreisen entfernte Rom verhindern sollte. In diesen Vorschriften sei weniger eine Übertragung einer ursprünglich in Rom gelegenen Jurisdiktion auf nachgeordnete Munizipalbeamte wie die Duumvirn zu sehen, sondern eine Begrenzung der zuvor bestehenden faktischen Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Gerichtsorten. Dies hat in der Forschung Zustimmung erfahren (Kaser und Hackl 1996, S. 175), auch wenn manche jüngeren Arbeiten weiter von einer Übertragung einer ursprünglich in der Zentrale gelegenen Gerichtsgewalt ausgehen und damit das Konzept der Staatseinheit voraussetzen (so etwa Laffi 1986, 2007). Etwa zur gleichen Zeit wurde in der Althistorie von (Millar 2001 [zuerst 1977]) die Überlegung stark gemacht, die römische Herrschaft als von reaktivem und nicht von aktivem Handeln dominiert anzusehen. Seine These hat eine intensive Debatte um den Regierungsstil der römischen Kaiser ausgelöst, in der auch das Verhältnis von lokaler, statthalterlicher und zentraler Rechtsprechung neu zu justieren war (Kolb 2006; Haensch 2016). Neue Impulse hat die Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zudem durch Neufunde erhalten. Seit den 1960er-Jahren sind einzelne Dokumente eines in Höhlen am Toten Meer gefundenen Papyruskonvolutes bekannt geworden, das die Verbreitung der bislang als speziell römisch angesehenen Prozessformeln unter der Provinzialbevölkerung der wenig romanisierten Provinz Arabia belegt (Nörr 1998; Oudshoorn 2007). 1981 wurden in der Provinz Sevilla zehn Bronzetafeln von einem flavischen Munizipalgesetz, der lex Irnitana, gefunden, zu dem Lamberti (1993) einen umfangreichen juristischen Kommentar vorgelegt hat. Das in seiner Interpretation umstrittene Edikt des Publius Mamertinus ist seit seiner Veröffentlichung durch Lewis (1972 = SB XII 10929) fester Bestandteil jeder Diskussion über Appellation und statthalterliche Gerichtsbarkeit (gegensätzlich bzw. Anagnostou-Canas 1991; Fournier 2010b). Als ein rein inneres Konzept der römischen Rechtsordnung nimmt die Forschung zur iurisdictio von vornherein so gut wie nicht in den Blick, dass im römischen Reich die vorher vorhandenen Gerichte in der Regel weiter bestanden. Mitteis kritisierte schon 1891, dass eine Rechtsprechung von einheimischen Instanzen keine Ausnahme war, wie es die damalige Literatur darstellte, sondern die Regel gewesen sein dürfte (Mitteis 1891, S. 91 f.). Die lokalen Gerichte sind im 21. Jahrhundert im Rahmen von Forschungen zur Herrschaftsstruktur des römischen Reiches wieder stärker regionenübergreifend beachtet worden (Kolb 2006; Haensch 2016). Diese
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bauen auf papyrologischen und epigraphischen Spezialstudien auf, die diese lokalen Gerichte nie aus dem Blick verloren haben. Dass sich griechisches, römisches und in anderen Sprachen manifestiertes Recht unterscheidet, wird in der Forschung seit jeher allgemein vorausgesetzt und ist im Kern unumstritten. Umstritten ist aber, ob man jeweils von einer einheitlichen, von den anderen klar geschiedenen Rechtsordnung sprechen kann. Dies betrifft zum einen die Homogenität des griechischen bzw. römischen Rechts, zum anderen die wechselseitige Beeinflussung der Rechte, vor allem die Hellenisierung des ägyptischen bzw. Romanisierung der einheimischen Rechte im Imperium Romanum. Die Debatte, inwieweit es ein einheitliches griechisches Recht gegeben habe und ob „griechisches Recht“ als Analysebegriff zu etwas taugt (Finley 1975; Gagarin 2005), ist für die Frage, ob mit dem Ausweichen auf ein anderes Gericht auch mit einem anderen Urteil zu rechnen ist, für die hellenistischen Königreiche von geringerer Bedeutung. Denn „Einheit“ meinte nie, dass es nicht lokale Abweichungen gegeben habe – und gerade diese könnten Anlass dafür gewesen sein, das eine oder das andere Gericht zu bemühen. Allerdings spiegelt sich in der Debatte die Vorstellung, es habe in der Antike klar unterschiedene Rechtsordnungen gegeben. Dies kann jedoch nicht vorausgesetzt werden, wie die Debatte um antikes Kollisionsrecht gezeigt hat (Übersicht dazu: Grotkamp 2016). Nachdem Lewald (1968, zuerst 1946 in Französisch veröffentlicht) unter diesem Schlagwort zunächst nur die Aufmerksamkeit auf das Bewusstsein der Antike von der Unterschiedlichkeit ihrer Rechte lenken wollte, entzündete sich hieran in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Streit. Während die Bezeichnung jedenfalls für den deutschen Sprachraum zuletzt aufgrund der Arbeiten von Wolff (1979) und Nörr (1981) als unpassend verabschiedet wurde, da Kollisionsrecht die Abgeschlossenheit der Rechtsordnungen voraussetze, brachte sie jüngst Cotton (2007) wieder in die Diskussion. Rechtspluralismus innerhalb des römischen Reiches wurde lange mit den Schlagworten von Ludwig Mitteis (1891) als Gegensatz von Reichsrecht und Volksrecht beschrieben, wobei aber nicht immer deutlich wird, ob ein Gegensatz von geschlossenen Rechtsordnungen, also römischem Recht gegenüber einheimischem Recht, gemeint ist oder ein Ausstrahlen des Rechtes der Zentrale in die Peripherie, das mit einer Vermischung von unterschiedlichen Rechtstraditionen einhergeht. Klare Überlegungen dazu finden sich in dem von Ruprecht postum herausgegebenen ersten Band des Rechts der griechischen Papyri Ägyptens (Wolff 2002). Der Begriff des Rechtspluralismus wurde abgesehen von einigen Aufsätzen um 1970 (van den Bergh 1969) erst im 21. Jahrhundert üblich (Tuori 2007; Ando 2011; Alonso 2013). Ägypten liefert mit seinen abertausenden von Papyri das reichlichste Anschauungsmaterial. Hier wird immer wieder diskutiert, inwieweit die in Ägypten zu beobachtenden Prozesse zu verallgemeinern sind oder ob Ägypten als Sonderfall gerade eine solche Verallgemeinerung verbietet. Nachdem im Laufe des 20. Jahrhunderts auch Rechtstexte aus anderen Provinzen bekannter wurden, geht man heute allgemein nicht mehr von einem Sonderfall aus (Keenan et al. 2014). Die bewusste Wahl zwischen demotischer und griechischer Vertragssprache und damit zwischen ägyptisch urteilenden Laokriten und griechisch verhandelnden Chrematisten ist seit der Entdeckung des P.Tebt. I 5 ein vieldiskutiertes Thema. Dass die Wahl nicht nur von
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den sprachlichen Fähigkeiten der Parteien abhing, sondern eine Rechtswahl beinhaltete, galt in manchen Kombinationen als unwahrscheinlich – ein eingewanderter Grieche würde nie ein einheimisches Formular gewählt haben. Diese Gewissheit wurde erschüttert, nachdem durch die Erforschung von Fundzusammenhängen und Personen unterschiedliche Dokumente miteinander in Beziehung gesetzt werden konnten (man spricht hier von Archiven) und deutlich wurde, dass die gleichen Personen je nach Sprache unterschiedliche Namen trugen und Familien sich beider Sprachen bedienten (Thompson 2001; Vandorpe 2009).
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Teil IV
Konfliktfelder
Kapitel 28
Konfliktlösung in dörflichen Gemeinschaften im archaischen Griechenland Winfried Schmitz
1 Überblick Bäuerliche Gemeinschaften, die einer starken Gefährdung infolge von Missernten, Unwettern, reißenden Tieren, Feuer und anderem ausgesetzt sind oder generell in prekären Verhältnissen leben, tendieren einerseits zu einer Siedlungsweise in geschlossenen Dörfern, um möglichst viele helfende Hände nahebei zu haben, und andererseits zu einer Ausformulierung strikter Verhaltenserwartungen. Diese werden nicht in Form schriftlicher Gesetze gefasst, sondern in Form mündlich tradierter Regeln, in Verhalten, Habitus und Gesten bewahrt. Typisch für solche bäuerliche Gemeinschaften sind Sprichwörter und mahnende Sprüche. Sie stellen eine „bäuerliche Sondersprache“ dar, und bereits Aristoteles hat dies erkannt, wenn er in der Rhetorik (2,21,9, 1395a 6–8) die Bauern gnōmotýpoi, „Sprücheschmiede“, nennt. Die mahnenden Sprüche werden bei jeder passenden Gelegenheit zitiert und von Generation zu Generation weitergegeben. „Schlechter Nachbar ein Kreuz, so sehr wie ein guter ein Segen“ (Hesiod, erga 346, Übersetzung W. Marg). Durch ihre Zweigliedrigkeit, durch Alliterationen und ihre Kürze, also durch ihre „gebundene Form“, werden sie gegenüber Veränderungen immunisiert. Es handelt sich demnach um traditionale Gesellschaften. Da die Sprichwörter in der jeweiligen Gemeinschaft allgemein bekannt sind, im Dorf umlaufen, bieten sie Verhaltensorientierung und soziale Sicherheit. Wer sie kennt und sie beachtet, ist in der Gemeinschaft akzeptiert und integriert. Das offene Wort ist demgegenüber verpönt. Kürze und sprachliche Gebundenheit des mahnenden Spruchs dulden keinen Widerspruch oder ein Hinterfragen der Norm. All dies würde die seit Generationen geltenden und bewährten Normen in Frage stellen. So gemahnt der Dichter Hesiod aus dem böotischen Askra W. Schmitz (*) Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Alte Geschichte, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_28
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seinen Bruder Perses in den „Werken und Tagen“, seine Zunge im Zaum zu halten, kein Gerede aufkommen zu lassen, das auf einen selbst zurückfällt. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Durch die Verständigung auf gemeinsame Verhaltenserwartungen werden Konflikte vermieden und die Gemeinschaft gestärkt. In Hesiods „Werken und Tagen“ als Bild einer bäuerlichen Gesellschaft sind Arbeitsamkeit, die Rechtschaffenheit der Arbeit und die nachbarliche Solidarität Eckpfeiler der sozialen Ordnung. Doch prinzipiell decken die Sprüche das gesamte alltägliche Leben ab, das passende Heiratsalter, die Zahl der Kinder, die Behandlung der alten Eltern und des Gesindes, die zeitige Verrichtung der bäuerlichen Arbeiten, das gemeinsame Feiern. In den Bereichen, in denen Konflikte drohen, also „strukturelle“ Konfliktlinien verlaufen, sind die Sprüche besonders zahlreich. Diese Art der Vergemeinschaftung und Konfliktvermeidung, bei der man sich dauernd über die Gültigkeit der Verhaltensnormen verständigt, gilt für die bäuerliche Gemeinschaft, die der Dichter Hesiod besingt, aber auch für die Gesellschaft Spartas, die durch die lakonische Kürze, durch ihre brachylogía, in gleicher Weise eine Diskussion und ein Hinterfragen ihrer Normen verhindern will, Normen, die in Sparta auf das körperliche und militärische Training, auf die Einhaltung der Autoritätsstrukturen und auf eine einfache Lebensweise ausgerichtet sind. Eine Gemeinschaft, die in dieser Art Verhaltensweisen einfordert, braucht Instrumente, die Abweichungen von den Normen und von der für verbindlich erachteten Ordnung ahnden, gegenüber dem Langschläfer und Faulenzer, der seinen Hof vernachlässigt, gegenüber dem Dieb, der ein Schaf, eine Ziege oder ein Brot aus dem Backofen stiehlt, gegenüber dem Ehebrecher oder gegenüber demjenigen, der unverheiratet bleibt oder seinen Nachbarn Hilfe verweigert. All dies ist gemeinschaftsschädigendes Verhalten. Auch gestraft wird gemeinschaftlich, durch so genannte Rügebräuche, im Französischen Charivari genannt. Als Strafrituale zeichnen sich Rügebräuche durch Anlass- und Termingebundenheit und durch einen ritualisierten Ablauf aus. Das bedeutet, dass das Vergehen offensichtlich sein muss, sich als offenes Geheimnis im Dorf herumgesprochen hat; losgeschlagen wird an bestimmten Festtagen, an denen den Göttern geopfert und eine Reinheit der Gemeinschaft bestehen oder hergestellt werden soll. Der Normbrecher verletzt diese Reinheit und gefährdet damit den Segen für das neu einsetzende landwirtschaftliche Jahr, denn die Strafe der Götter könnte die gesamte Gemeinschaft treffen. Die Durchführung obliegt in der Regel der männlichen, unverheirateten Jugend, die noch nicht vollständig sozialisiert und in die Gruppe der Bauern integriert ist. Denn die Rügenden begehen selbst gewaltsame Taten, indem sie Schlägereien provozieren, Türen einschlagen und in das Innere des Hauses eindringen. Da die Bauern für die Einhaltung der Regeln eintreten müssen, können sie nicht selbst die ritualisierten Strafen ausführen, doch sie wissen Bescheid, tolerieren die Aktion und wachen über die Einhaltung der festgelegten Grenzen des Strafrituals. Aber am nächsten Tag haben sie nichts gesehen, nichts gehört, nichts gemerkt. Und wenn, so war es der Übermut von Jugendlichen, die nach einem Becher Wein lärmend durch die Straßen zum Haus des Devianten gezogen sind. Die Jugendlichen sind die Kontrollierenden, internalisieren dadurch die im Dorf geltenden
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ormen, sind zugleich aber auch Kontrollierte, weil sie die durch Brauch festgelegN ten Grenzen des Strafrituals einhalten müssen. In vielen bäuerlichen Gesellschaften finden wir immer wieder typische Delikte, Diebstahl, Ehebruch oder unangemessene Heiraten, die mit einem Rügebrauch geahndet werden. Die Strafrituale sollen das Fehlverhalten offenbar machen, die Ehre dieses Mannes oder dieser Frau schmälern und zukünftig normkonformes Verhalten erzwingen. Deswegen der lärmende, in der Antike von der schrillen Flöte, in anderen Gesellschaften von Pfeifen oder Trommeln begleitete Zug der Rügenden, der kṓmos, hin zum Haus des Normbrechers. Die Rügenden fordern ihn lauthals aus dem Haus heraus, Fäuste werden geschwungen, Steine können fliegen; zeigt sich der Normbrecher nicht, kann die Türe eingeschlagen werden, wodurch der ansonsten strikt geltende Schutz des Hauses symbolisch entzogen wird. Um die Ehre des Hausherrn zu schädigen, dringt man kurz in die inneren Räume des Hauses, in das Frauengemach (gynaikṓn), ein, doch würde es die Grenzen des Rügebrauchs verletzen, wenn die Rügenden die Frau selbst angriffen. In schweren Fällen kann sogar das Dach abgedeckt oder der Dachstuhl in Brand gesetzt werden oder – im Fall von Verrat – das Haus komplett gewüstet werden. Durch die Zerstörung der Türe, des Brunnens, des Ofens oder des Daches ist die ansonsten streng respektierte Grenze des Hauses gewaltsam durchbrochen und die Versorgung mit Grundbedürfnissen gefährdet. Dem Opfer wird damit kundgetan, dass ihm die notwendigen Grundlagen des Lebens und des Zusammenlebens im Dorf entzogen sind, wenn er sich nicht den Normen der dörflichen Ordnung unterwirft. Allerdings ebnen die Rügebräuche in aller Regel eine Reintegration in die Gesellschaft, sobald nämlich das anstößige Verhalten endet. Nächtliche, lärmende Umzüge zum Haus eines Devianten pflegten in der Form eines kṓmos vor sich zu gehen. Man traf sich zunächst zum Gelage, sprach dem Wein zu und machte sich dann auf den Weg, begleitet von den schrillen Klängen einer Flöte. So ist in Versen des Dichters Theognis (Z. 1043–1046) demjenigen ein Rügebrauch angedroht, der – obwohl zum Wachdienst eingeteilt – schläft und so die Stadt in Gefahr bringt: „Schlafen wir, die Bewachung der Stadt nämlich obliegt den Wächtern, unserer geliebten, unerschütterlichen Vaterstadt, wahrlich, bei Zeus, schläft einer von ihnen auch noch so verborgen, wird er sehr bald unseren kṓmos zu erwarten haben.“
Wie ein solcher kṓmos ablief, erfahren wir aus einem Fragment des Tragikers Pratinas um 500 v. Chr. In dem Satyrspiel kämpft ein Satyrn-Chor um den Zugang zur Orchestra, den ein von Flötenmusik begleiteter Chor beherrschte. Der schrillen Flöte aber, heißt es, gebühre nur der zweite Platz. „Allein beim kṓmos und beim Türeinschlagen, bei Prügeleien trunkener Burschen darf sie [scil. die Flöte] den Zug anführen“.1 Komödienhaft gewendet finden wir dies in Fragmenten aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., in denen parásitoi (ungebetene Gäste bei Mahlzeiten, die Kunststücke zur Unterhaltung anbieten) ihre besonderen Qualitäten bei den Gastmählern Pratinas, Fragment 708 (Poetae melici Graeci).
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und den anschließenden kṓmoi rühmen. Brauche man jemanden, der die Betrunkenen packe, glaube man, der parásitos sei ein argivischer Ringer; brauche man einen, der gegen ein Haus anstürme, sähe man ihn als Widder; brauche man einen, der mit einem Leiterchen aufs Dach steige, sei er ein wahrer Kapaneus; wenn es Schlägen standzuhalten gelte, sei er ein Amboss; wenn er die Fäuste balle, sei er ein wahrer Telamon.2 Eine sehr ungewöhnliche Form des Rügebrauchs ist der der Heimsuchung und des Ausfressens, so wie es Penelope erleben musste, als die Freier in das Haus des Odysseus eindrangen, das Haus jeden Tag neu heimsuchten und es solange ausfraßen, Schafe und Ziegen schlachteten und den Wein aus den Vorratskammern holten, bis Penelope sich wieder normkonform verhielt. Penelope trug die Schuld: Denn obwohl Odysseus bereits seit zehn Jahren als verschollen galt, weigerte sie sich standhaft, eine neue Ehe einzugehen. Nach so langer Zeit konnte sie keine Hoffnung mehr haben, dass Odysseus lebend zurückkam. Sie hatte kein Recht, die Freier mit dem listigen nächtlichen Auflösen des Totengewandes für ihren Vater weiter hinzuhalten. Sobald Penelope in eine Heirat einwilligen würde, würde die Rüge enden. Für die griechische Antike stellt sich das methodische Problem, dass sich Rügebräuche nur in literarischen Brechungen nachweisen lassen, nicht in neutralen Beschreibungen oder in urkundlicher Überlieferung. Wir können Anlässe, typische Abläufe, die involvierten Personen und unterschiedliche Formen von Rügen erkennen, aber kaum etwas über die Häufigkeit ihres Auftretens aussagen oder über die Konsequenzen, die der Rügebrauch für die Opfer hatte. Wurden die Gerügten zur Vernunft gebracht und sahen ihr Fehlverhalten ein oder fühlten sie sich zu Unrecht in die Öffentlichkeit gezerrt und entehrt? Die Vollstreckung des Strafrituals durch die Gruppe der Ledigen machte eine Gegenwehr oder auch eine Rache fast unmöglich. Es ist gut vorstellbar, dass die Rügebräuche zu einer Einhaltung der Normen und zu einer ständigen Selbstvergewisserung der Ordnung beitrugen, weil man fürchtete, bei einem Fehlverhalten einem solchen Schandaufzug ausgesetzt zu sein und seine Ehre in dieser von Ehre geprägten Gesellschaft zu verlieren. Insofern ist es eine prophylaktische Konfliktvermeidung. Aber ob der Rügebrauch wirklich Konflikte beendete und deviantes Verhalten unterband, ist kaum zu beantworten. Dass die Rügebräuche nicht in allen Fällen das geeignetste Mittel zur Beilegung von Konflikten waren, zeigen die um 600 v. Chr. in der frühgriechischen Gesetzgebung zu fassenden Verbote solcher Strafrituale. Am deutlichsten kommt dies in der Gesetzgebung des Charondas von Katane zum Ausdruck. Bei dem hellenistischen Autor Herodas (2,48–54) ist folgende Bestimmung überliefert: „Charondas sagt, wenn einer eine Türe einschlägt, büße er es mit einer Mine (also hundert Drachmen). Wenn einer mit der Faust schlägt, büße er es mit einer weiteren Mine. Wenn einer das Haus in Brand steckt oder die Hausgrenzen überschreitet, sei ihm eine Strafe von 1000 Drachmen auferlegt, und wenn er Schaden dabei verursacht, zahle er das Doppelte (des Wertes)“. Wenn für das Einschlagen der Tür, für das Schlagen Aristophon, Fragment 5 (Poetae comici Graeci).
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mit der Faust, für Brandstiftung und für das gewaltsame Eindringen ins Haus Strafen in ein und demselben Gesetz festgelegt waren, zielte das Gesetz auf ein sehr spezifisches Delikt, nämlich auf gewaltsame Formen eines nächtlichen, mit Partialwüstungen verbundenen kṓmos. In einem Gesetz der Stadt Gortyn auf Kreta (ICret IV 46 B 1 ff.) wird für den Fall, dass jemand etwas „herausstößt oder zerbricht“ oder die Rauchluke beschädigt, eine Strafe von zehn Stateren festgelegt. Solon hat in der athenischen Gesetzgebung einen nómos aikeías einbezogen, der Schäden gegen Personen und Sachen dieser Art ahnden sollte. Mit diesen Hinweisen kann hinreichend belegt werden, dass in klassischer Zeit der mit Partialwüstungen verbundene kṓmos durch Gesetz verboten war. Rügebräuche mit einem nächtlichen Umzug zum Haus des Devianten, ein Herausfordern aus dem Haus und die Verwicklung in eine Schlägerei, das Einschlagen von Türen und das Einreißen von Dächern vertrugen sich nicht mehr mit den Rechtsvorstellungen des 6. Jahrhunderts v. Chr. Dementsprechend wurde in Komödien des 4. Jahrhunderts gewarnt: Nach dem dritten Gefäß Wein gehe der Vernünftige nach Hause und lege sich schlafen. Denn das vierte Gefäß führe zu hýbris, das fünfte zu Gegröle, das sechste zu kṓmoi, das siebte zu einem blauen Auge, das achte zu einem Verfahren vor Gericht. Ähnlich lautet ein Fragment von Epicharmos: Aus dem Opferfest entsteht ein Schmaus, aus dem Schmaus ein Gelage, aus dem Gelage ein kṓmos, aus dem kṓmos eine Sauerei, aus der Sauerei eine Klage, aus der Klage eine Verurteilung, aus der Verurteilung Strafen.3 Das Verfahren vor einem Geschworenengericht war dem Rügebrauch überlegen, denn es ermöglichte dem Bescholtenen, sich zu verteidigen, seine Sicht der Dinge darzulegen. Zwar mag auch manche Anklage vor Gericht nur deswegen eingereicht worden sein, um den vor Gericht Gezogenen zu entehren. Doch in seiner Verteidigungsrede hatte der Angeklagte die Chance, den Spieß umzudrehen und seinerseits die Ehre des Gegners anzugreifen. Ob ein Urteil vor Gericht auf eine größere Akzeptanz stieß als das Strafritual des Rügebrauchs, lässt sich wohl kaum schlüssig beweisen. Schließlich ist schon die Frage, ob ein Rechtsverfahren den Konflikt zwischen den streitenden Parteien lösen konnte oder nur die Fortsetzung des Streits auf öffentlicher Bühne darstellte, in der Forschung umstritten. Zeigen lässt sich aber zweierlei: Es gibt erstens eine Sensibilität dafür, dass ein Rügebrauch auf einem so genannten Voraussetzungsirrtum beruhen kann, der Gescholtene sich also der bezichtigten Tat tatsächlich nicht schuldig gemacht hatte. Das Motiv begegnet bereits in den homerischen Epen: In dem Moment, in dem Odysseus lebend vom Trojanischen Krieg und seiner Odyssee nach Ithaka zurückkam, waren die 108 Freier im Haus des Odysseus keine Rügenden mehr, sondern Eindringlinge, die sich mit Gewalt Schafe und Ziegen, Wein und Brot in einem fremden Haus angeeignet und die Sklavinnen und Sklaven bedrängt hatten. Odysseus hatte als Hausherr das Recht, sie zu töten, und hätte nicht Athena eingegriffen, wäre die Geschichte in einem blutigen Bürgerkrieg auf Ithaka zu Ende gegangen. Einen Voraussetzungsirrtum konstruiert auch Euripides in seiner Tragödie „Helena“. Durch einen Gott war die vermeintliche Ehebrecherin Helena vorher nach Ägypten Eubulos, Fragment 93 (Poetae comici Graeci); Epicharmos, Fragment 118 (Comicorum Graecorum Fragmenta). 3
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entrückt worden, hatte sich also tatsächlich nicht des Ehebruchs schuldig gemacht, der ihr vorgeworfen wurde. Solche Episoden säen Zweifel an der Legitimität von Rügebräuchen. Eindeutig ist zweitens, dass in klassischer Zeit der Rügebrauch durch das Recht unter Strafe gestellt war und er nur in der literarischen Fiktion weiterlebte. Nur noch auf der Bühne, in der Tragödie und in der Komödie, waren Rügebräuche möglich, wohl wissend, dass sie keine Alternative zum geregelten Rechtsverfahren sein konnten. Nur auf der Bühne war es möglich, dass die Götter zum Rügebrauch griffen, um die göttliche und menschliche Ordnung wieder herzustellen. Im „Agamemnon“ des Aischylos (Vers 525–530) preist ein Bote den siegreichen König von Mykene, „der Troia niederhackte mit dem Grabscheit des rechtbringenden Zeus, das rings umgewühlt den Boden, den Samen ausgerottet hat des ganzen Landes!“ Angespielt ist in diesem Fall auf eine Wüstung mit dem Pflug. Auch in Aristophanes’ Komödie „Die Vögel“ (Vers 1238–1248) drohen die Götter damit, die Ordnung notfalls mit Rügebräuchen durchzusetzen. Als der Held des Stücks der Göttin Iris mitteilt, dass von nun an die Vögel die Götter seien, die von den Menschen mit Opfern geehrt würden, warnt Iris: Erwecke nicht den Zorn der Götter, „damit nicht Dike dein völlig verdorbenes Geschlecht ganz und gar ausreute mit der Hacke des Zeus und beißender Qualm von likymnischen Blitzen deinen Körper und deines Hauses Umfältelungen niederäschere“. Dike, die Göttin des Rechts, will dem Haus also zuerst mit der Hacke, dann mit göttlichen Fackeln, einem Blitz, zu Leibe rücken. Dike ist dabei nicht zimperlich: Die Blitze werden das Haus zerstören, und es kann sein, dass die Flammen auch die Bewohner erfassen und sie dabei umkommen. Die Szene entspricht recht genau der Schlussszene der „Wolken“ des Aristophanes (Vers 1478 ff.). Auch Sokrates und seine Schüler haben sich der Asebie schuldig gemacht, haben die olympischen Götter negiert und die Wolken an ihre Stelle gesetzt. Als Strepsiades, der Held der Komödie, wieder zur Vernunft gekommen ist, will er Sokrates bestrafen, wendet sich an den Götterboten Hermes und bittet ihn, ihm als Rechtsbeistand, als sýmbulos, zur Seite zu stehen. Doch Hermes rät ab: Wozu Prozesse anzetteln? Strepsiades solle Sokrates und seinen Schülern das Dach über dem Kopf anstecken. Daraufhin ruft Strepsiades einen Sklaven herbei, dass er ihm eine Leiter, eine Axt und eine Hacke bringe, auf das Phrontisterion heraufsteige und das Dach zusammenhaue. Ein zweiter Sklave bringt eine Fackel, um das Dachgebälk in Brand zu setzen. Den Scholaren bleibt nur, aus dem brennenden Haus zu fliehen. Dass der Rügebrauch in klassischer Zeit auf die Bühne und in die literarische Fiktion verbannt wurde, macht deutlich, dass in dieser Zeit andere Mechanismen der Konfliktlösung bestanden, nämlich geregelte Rechtsverfahren vor einem großen Gremium von Geschworenen, die eine Verteidigung erlaubten und den Ehrverlust in Grenzen hielten.
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2 Kernprobleme der Forschung Den Konflikten in kleinräumigen bäuerlichen Gesellschaften hat sich die rechtsund althistorische Forschung erst in den letzten Jahrzehnten zugewandt (zur älteren Forschung Walcot 1970). Die prekäre wirtschaftliche Situation der Bauern im antiken Griechenland hat Gallant (1991), Form, Inhalt und sozialen Hintergrund der mahnenden Sprüche hat Schmitz (2004, S. 42−52) untersucht (zu zentralen Inhalten der bäuerlichen Normen Schmitz 2004, S. 74−99, zur „reduzierten Kommunikation“ Schmitz 2004, S. 99−101). In Sparta hatte diese sprachliche Form aufgrund des verbindlichen Charakters der darin konservierten Normen in der Erziehung der Heranwachsenden einen besonderen Stellenwert erhalten (Schmitz 2006). Das Quellenmaterial zu den auf deviantes Verhalten reagierenden Rügebräuchen ist bei Schmitz (2004, S. 259−410) umfassend zusammengestellt und ausgewertet. Wichtig für die Erkenntnis, dass es sich bei den literarischen Motiven um Anspielungen auf Rügebräuche oder spätere, anderen gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnissen angepasste Strafaktionen handelt, waren Vergleiche mit Verhältnissen in der Frühen Neuzeit gewesen. Die in der Neuzeit belegten Rügebräuche und Charivaris haben Saintyves (1935); Junod (1951); Pinon (1969); Scharfe (1970); Davis (1971); Kramer (1971a, 1990); Thompson (1972); Rey-Flaud (1985) und Hinrichs (1991) untersucht. Wichtige Grundlagenarbeit hatte Meuli (1953, 1975) geleistet, indem er Material zu vielen Rügebräuchen zusammengestellt und kulturwissenschaftlich ausgewertet hatte. Eine richtungsweisende, sozialgeschichtliche Untersuchung zu den Sprüchen im bäuerlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts hat Segalen (1980/1983) vorgelegt. Kontrollmechanismen in kleinräumigen Gemeinschaften, besonders solchen mit einem hohen Ehrempfinden, haben Hunter (1994); Forsdyke (2005) und Brüggenbrock (2006) sowie Bremmer (2000) in den Blick genommen. Untersuchungen zu antiken Hauswüstungen nach Hoch- oder Landesverrat finden sich bei Connor (1985) und Schmitz (2004, S. 354−380). Dass es sich bei den Freierszenen im Haus des Odysseus nicht um einen Missbrauch des Gastrechts handelt, sondern zunächst Penelope die Schuld trägt, weil sie sich zu heiraten weigerte, hat Flaig (1995) he rausgearbeitet; nach Schmitz (2004, S. 320−329) liegt ein Rügebrauch zugrunde, und zwar der der Heimsuchung und des Ausfressens. Zu den Verboten von Rügebräuchen durch die Gesetzgeber Solon und Charondas und zu der entsprechenden Klage (der díkē aikeías) siehe Schmitz (2004, S. 306−312). Trotz des gesetzlichen Verbots von Rügebräuchen blieben in den kleinräumigen Gemeinschaften freilich auch während der klassischen Zeit tief greifende Konflikte nicht aus, so z. B. in den attischen Dorfgemeinden (dazu Whitehead 1986; Jones 2004). Zur Figur des rächenden Zeus, der sich in der attischen Tragödie und Komödie des 5. Jahrhunderts v. Chr. noch der Rügebräuche bedient, siehe Schmitz (2008). Mit dem Verbot von Rügebräuchen in Athen geht einher, dass Solon (dazu umfassend Blok und Lardinois 2006) neben die private Gerichtsbarkeit vor lokalen Instanzen, bei denen in der Regel Angehörige der aristokratischen Schicht als
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treitschlichter agierten, die Möglichkeit der unmittelbaren Appellation an das Volk S in Athen setzte, indem er verfahrensrechtlich festlegte, bei welchen Delikten sich der Betroffene oder eine andere Person, die sich seiner angenommen hatte, an welchen Amtsträger (árchōn) zu wenden hatte. Um einfache Bauern oder andere Angehörige mittlerer und unterer Schichten vor Übergriffen zu schützen, ließ Solon in diesen Fällen Popularklage in Form der graphḗ hýbreōs (schriftliche Hybrisklage) zu, bei der jeder Bürger klagen konnte, „der wollte“, auch wenn er nicht selbst geschädigt war (Wees 2011). In den Quellen aus klassischer und hellenistischer Zeit sind keine praktizierten Rügebräuche belegt. Alle Belege beziehen sich auf frühere Zeit oder sekundäre Formen von Rügebräuchen, also z. B. auf Raufereien von Jugendlichen, die Abläufe früherer Rügebräuche aufgreifen, aber nicht mehr im Namen einer Allgemeinheit gemeinschaftsschädigendes Verhalten strafen, sondern stattdessen Streitigkeiten mit persönlichen Gegnern ausfechten. Zu den sekundären Formen gehören auch die Rügebräuche in Tragödie und Komödie, die literarische Fiktion, nicht Abbild einer Realität sind. Auch in manchen, in klassischer Zeit von den Geschworenengerichten verhängten Strafen wirken Rügebräuche fort, sind nun aber förmlich verhängte Strafen einer Institution der Polis. Anspielungen auf Rügebräuche in der römischen Komödie können Übernahmen aus den griechischen Vorlagen hellenistischer Zeit sein. Doch finden sich auch in Bestimmungen des Zwölftafelgesetzes Hinweise auf Partialwüstungen und Angriffe auf die Ehre eines Bürgers, die gesetzlich verboten wurden (XII leg. 6,7–8 Düll [6,9–10 Flach] sowie 8,1 Düll/Flach). Sehr weit entfernt von ursprünglichen Rügebräuchen haben sich friedlich verlaufende Umzüge von Jugendlichen, die einem verliebten Zecher zum Haus seiner Angebeteten folgten, der ihr vor verschlossener Tür ein Liebeslied (Paraklausithyron) vortrug (Copley 1956; Schmitz 2004, S. 286 f., 290).
3 Bibliographie Blok JH, Lardinois APHM (Hrsg) (2006) Solon of athens. New historical and philological approaches. Brill, Leiden Bremmer JN (2000) Scapegoat rituals in ancient Greece. In: Buxton R (Hrsg) Oxford readings in Greek religion. Oxford University Press, Oxford, S 271–293 Brüggenbrock C (2006) Die Ehre in den Zeiten der Demokratie. Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Connor WR (1985) The razing of the house in Greek society. Trans Proc Am Philol Assoc 115:79–102 Copley FN (1956) Exclusus amator. A study in Latin love poetry. American Philological Association, Baltimore Davis NZ (1971) The reasons of misrule: youth groups and charivaris in sixteenth century France. Past & Present 50:41−75 (= Davis NZ (1975) Society and culture in early modern France. Eight essays. Stanford University Press, Stanford, S 97–123) van Dülmen R (1995) Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. C. H. Beck, München
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Konfliktlösung in Wettkämpfen Christian Mann
1 Überblick Sportliche Wettkämpfe besaßen in der antiken griechischen Kultur eine überragende Bedeutung und sind in der literarischen und bildlichen Überlieferung sehr präsent. Neben den großen Wettkämpfen (Agonen) wie den Olympischen Spielen, die Sportler und Zuschauer aus der ganzen griechischen Welt anzogen, gab es viele hundert lokale Wettbewerbe in Disziplinen wie Wettlauf, Kampfsport, Pferde- und Wagenrennen. Angesichts dieses Umstandes ist es überraschend, dass es vergleichsweise wenige Zeugnisse zu Konflikten während und nach Wettkämpfen gibt. Eine Ausnahme bildet die Schilderung der Leichenspiele für Patroklos im 23. Gesang der homerischen „Ilias“, hier werden verschiedene Konfliktkonstellationen und Lösungswege präsentiert. Besonders ausführlich schildert der Dichter einen Streit zwischen Antilochos und Menelaos: Ersterer hatte letzteren beim Wagenrennen mit einem riskanten Manöver abgedrängt und überholt; nach dem Zieleinlauf verlangte Menelaos, dass Antilochos mit der Geißel in der Hand das Gespann berühre und bei Poseidon einen Eid ablege, er habe den Überholvorgang ohne böse Absicht durchgeführt. Dies wäre gemäß der Schilderung Homers ein Meineid, denn das Manöver war bereits vor Beginn des Rennens geplant. Antilochos bemüht sich um Deeskalation, indem er Menelaos anbietet, ihm den betreffenden Preis, eine Stute, zu schenken – damit hält er allerdings den Anspruch aufrecht, diesen Preis rechtmäßig gewonnen zu haben. Menelaos reagiert, indem er Antilochos die Stute zurückgibt, womit der Streit in Harmonie und bei beidseits gewahrter Ehre beigelegt ist – exemplarisch werden hier vom Dichter die Möglichkeiten außergerichtlicher Konfliktlösung vorgeführt (Brown 2003, S. 142). Während die Kontrahenten in diesem Fall selbst die Einigung herbeiführen, muss in anderen Fällen Achilleus als C. Mann (*) Universität Mannheim, Historisches Institut, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_29
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Veranstalter und Schiedsrichter der Wettkämpfe eingreifen, um Streitigkeiten zwischen Zuschauern über den Stand im Wagenrennen oder Zwist über die Preisvergabe zu schlichten. Der Dichter zeigt in der Schilderung der Wettkämpfe, wie man Konflikte maßvoll und friedlich entschärfen kann, damit es nicht zu einer solchen Eskalation kommt wie beim folgenreichen Streit zwischen Achilleus und Agamemnon im 1. Gesang (Dickie 1984). Die historischen Wettkämpfe besaßen Regelwerke, über die vor allem der Reiseschriftsteller Pausanias in seinen Ausführungen zu Olympia und einige erhaltene Inschriften informieren. In diesen Regelwerken spielten, wie auch in der homerischen Welt, Eide und Schiedsrichter eine wichtige Rolle, außerdem auch Losverfahren, mit denen die Startplätze bei den Wettläufen und die Paarungen beim Kampfsport ermittelt wurden. In Olympia mussten Athleten, ihre Väter und Brüder vor der Statue des Zeus Horkios (des Schwurgottes) bei einem Eberopfer schwören, nicht gegen die Regeln der Wettkämpfe zu verstoßen und sich zehn Monate lang vorbereitet zu haben. Auch die Schiedsrichter – in Olympia Hellanodiken genannt – leisteten einen Eid, Entscheidungen gemäß den Regeln und unbestechlich zu fällen (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 5,24,9–25,2). Die Autorität der Hellanodiken wurde durch purpurne Mäntel und hervorgehobene steinerne Sitzbänke sichtbar gemacht. Sie besaßen das Recht, Athleten bei Regelverstößen mit der Rute zu züchtigen, was durch zahlreiche Darstellungen auf Vasen und durch eine fragmentarisch erhaltene Inschrift (Ebert 1997) belegt ist. Allerdings sollten die Schläge nicht den Kopf des Athleten treffen und ihn lediglich zur Ordnung rufen, nicht außer Gefecht setzen. Beispiele für solche Regelverstöße, die mit der Rute geahndet wurden, sind der Versuch von Ringern, dem Gegner die Finger zu brechen, oder der Frühstart beim Wettlauf (Herodot, Historien 8,59 f.). Davon zu unterscheiden ist die Auspeitschung nach dem Wettkampf, die ebenfalls von den Hellanodiken angeordnet werden konnte und von den diesen unterstellten Rutenträgern ausgeführt wurde. Berühmt ist der Fall des Spartaners Lichas, der 420 v. Chr., als die Spartaner wegen eines politischen Konflikts mit Elis von den Olympischen Spielen ausgeschlossen waren, ein Gespann ins Rennen schickte, dieses aber als boiotisches tarnte.1 Nach dem Sieg gab Lichas sich als Besitzer zu erkennen und wurde wegen unerlaubter Teilnahme ausgepeitscht (Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges 5,50). Die öffentliche Geißelung war nach griechischem Verständnis eine Bestrafung, die auf Sklaven beschränkt bleiben solle, da sie die Ehre eines freien Mannes angreife (Crowther und Frass 1998). Man befürchtete nach diesem diplomatischen Eklat sogar einen Angriff des spartanischen Heeres auf Olympia, der jedoch ausblieb. Die Feststellung des Siegers oblag ebenfalls den Hellanodiken, wobei aus der ein Jahrtausend dauernden Geschichte der Olympischen Spiele2 nur einige wenige Bei griechischen Wagen- und Pferderennen wurden nicht Wagenlenker oder Jockeys, sondern die Besitzer der Pferde als Sieger ausgerufen. 2 Die häufig angegeben Daten für Anfang und Ende der Olympischen Spiele, 776 v. Chr. und 393 n. Chr., entsprechen nicht der historischen Wirklichkeit. Nach neueren archäologischen Erkenntnissen begannen die Wettkämpfe um 700 v. Chr., in der Spätantike liefen sie nach und nach aus. 1
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Zweifelsfälle überliefert sind. Kleomedes aus Astypalaia tötete im Finale des Faustkampfes 496 v. Chr. seinen Gegner. Todesfälle waren im antiken Kampfsport nichts völlig Außergewöhnliches, aber im konkreten Fall sahen die Hellanodiken einen Regelverstoß – Kleomedes soll dem Kontrahenten die Brust aufgerissen haben – und erkannten ihm den Siegeskranz nicht zu. Kleomedes sei daraufhin, so berichtet Pausanias (Beschreibung Griechenlands 6,9,6–8), dem Wahnsinn verfallen und habe ein Massaker unter den Kindern seiner Heimatstadt angerichtet. Hundert Jahre später kam es beim Stadionlauf3 zu einem knappen Zieleinlauf zwischen Eupolemos von Elis und Leon von Ambrakia: Zwei der drei für die Laufwettbewerbe zuständigen Hellanodiken sahen ihren Landsmann Eupolemos vorne, der dritte den Leon. Daraufhin verklagte Leon die beiden Hellanodiken, die gegen ihn votiert hatten, vor dem Olympischen Rat und erhielt Recht. Der Olympische Rat, die höchste Kultbehörde der Olympischen Spiele, fungiert hier als Appellationsinstanz, deren Befugnisse jedoch nur die Bestrafung von Hellanodiken, nicht jedoch die Revision von deren Entscheidungen umfassten: Die zwei Hellanodiken, die gegen Leon votiert hatten, wurden mit einer Geldbuße belegt, Eupolemos jedoch blieb Olympiasieger (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 6,3,7). In dieser Episode klingt eine mögliche Parteilichkeit der Hellanodiken an, ein in der antiken Literatur viel diskutiertes Problem. Sie stammten aus den vornehmen Familien von Elis, derjenigen Polis, die für die Durchführung der Olympischen Spiele zuständig war; die Auswahl erfolgte durch Losverfahren. Laut Herodot (Historien 2,160) hätten die Ägypter den Gesandten aus Elis geraten, elische Athleten von den Olympischen Spielen auszuschließen, da nur dann die Neutralität der Schiedsrichter gewährleistet werden könne. Diesen Schritt gingen die Eleier nicht, sie versuchten durch den Hellanodikeneid und durch die Androhung von Geldbußen ungerechten Entscheidungen vorzubeugen. In einer fragmentarisch erhaltenen Bronzeinschrift aus dem späten 6. Jahrhundert v. Chr. wurden die Strafen für Hellanodiken, die ihre Landsleute bevorzugten, und für Athleten, die Einfluss auf die Hellanodiken ausüben wollten, geregelt. Und als 372 v. Chr. der Hellanodike Troilos gleich in zwei Disziplinen siegreich war, wurde ein Gesetz erlassen, das Hellanodiken von der Teilnahme an den Wettkämpfen ausschloss (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 6,1,4–5). Insgesamt besaßen die Olympischen Spiele einen guten Ruf für ihre gerechte Austragung (Plutarch, Lykurg 20,3). Die Entscheidung der Hellanodiken galt als unantastbar, wer einmal von ihnen zum Sieger erklärt worden war, konnte nicht mehr aus den Listen gestrichen werden. Jedoch konnten nicht nur die Hellanodiken selbst für Fehlentscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden, sondern auch Athleten konnten im Nachhinein bestraft werden. Eine Besonderheit der Olympischen Spiele waren die sogenannten Zanes-Statuen: Dabei handelte es sich um bronzene Statuen, die von den Delinquenten bezahlt werden mussten und vor dem Stadioneingang aufgestellt wurden, Inschriften gaben über das Delikt Auskunft. Es handelt sich um eine kombinierte Geld- und Schandstrafe, der letztere Aspekt ist am Aufstellungsort abzulesen: Jeder Athlet musste auf dem Weg ins Stadion die Zanes-Statuen passieren und sollte Das Stadion von Olympia hat eine Länge von 192 Metern.
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durch die Erinnerung an frühere Übeltäter und deren Bestrafung auf die Einhaltung der Regeln verpflichtet werden. Die Basen dieser Statuen sind noch heute zu sehen, Pausanias berichtet über die Hintergründe der Fälle (Beschreibung Griechenlands 5,21). Demnach war die Bestechung von Konkurrenten das häufigste Delikt, bestraft wurden sowohl der Bestechende als auch die Bestochenen. Im Fall des Atheners Kallippos kann man das Verfahren nachverfolgen, wenn sich ein Athlet gegen die Strafe zur Wehr setzte. Kallippos hatte 332 v. Chr. den Fünfkampf gewonnen, wurde aber anschließend mit der Zanes-Strafe belegt, da ihm Geldzahlungen an Konkurrenten vorgeworfen wurden. Kallippos akzeptierte die Strafe nicht, auch weil er Unterstützung von seiner Heimatpolis erhielt: Als seine Beschwerde vor dem Rat der Polis Elis verhandelt wurde – dieses Gremium, wahrscheinlich mit dem Olympischen Rat identisch, war in diesem Fall für die Überprüfung der Schiedsrichterentscheidung zuständig –, schickten die Athener mit Hypereides einen ihrer berühmtesten Prozessredner, um die Position ihres Athleten zu vertreten. Doch auch Hypereides hatte keinen Erfolg, die Eleier hielten an ihrer Strafe für Kallippos fest. Daraufhin boykottierten die Athener die Olympischen Spiele, bis sich die Priester von Delphi mit Olympia solidarisierten und den Athenern die Benutzung des delphischen Orakels untersagten, solange die über Kallippos verhängte Strafe nicht bezahlt sei. Daraufhin gaben die Athener nach, die Polis übernahm die Geldbuße. Die Bedeutung des Athleten für seine Heimatpolis ist daran ablesbar, dass die Gemeinschaft ihn im Konfliktfall unterstützte (Buraselis 2017). Bestechung wird auch in anderen Quellen erwähnt. Philostratos klagt im 2. nachchristlichen Jahrhundert über die grassierende Bestechung im Wettkampfbetrieb (Über die Gymnastik 45). Er berichtet über einen Streit bei den Isthmischen Spielen in Korinth: Der Sieger im Ringkampf der Knaben habe behauptet, alle Gegner in einem ehrlichen Kampf besiegt zu haben, einer seiner Konkurrenten hingegen habe die Zahlung von 3000 Drachmen gefordert, denn er habe nur deshalb verloren, weil ihm vom späteren Sieger diese Summe zugesichert worden sei. Beide wurden aufgefordert, ihre Version im Tempel des Poseidon zu beeiden, über den Ausgang des Konflikts berichtet Philostratos nicht. In einem Papyrus aus Ägypten ist sogar ein Bestechungsvertrag überliefert (P.Oxy 79,5209): In diesem Dokument verpflichtet sich ein Ringer namens Demetrios, beim kommenden Kampf gegen Nikantinos dreimal zu fallen,4 dafür erhielt er 3800 Drachmen. Sollte er die Abmachung nicht einhalten und ernsthaft kämpfen, müsse er zur Strafe 18.000 Drachmen zahlen; falls Nikantinos nicht den Kranz erringe, bleibe die Pflicht zur Zahlung der Summe an Demetrios bestehen. Dass die Bestechung im Sport in Vertragsform geregelt wird, ist einigermaßen überraschend! Bestechung war der häufigste, aber nicht der einzige Grund für eine Bestrafung von Athleten. Laut Reglement der Olympischen Spiele und anderer Wettkämpfe waren die Athleten verpflichtet, 30 Tage vor Beginn der Spiele vor Ort zu erscheinen und unter Aufsicht der Hellanodiken zu trainieren (Philostrat, Leben des Apollonios 5,43), Ausnahmen wurden lediglich bei bestimmten Hinderungsgründen zugelassen, nämlich widrigen Winden, Krankheit, Schiffbruch oder Überfall durch Räuber. Damit war im antiken Ringkampf eine Niederlage besiegelt.
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Im Jahr 93 n. Chr. gelangte ein gewisser Apollonios, ein Boxer aus Alexandria in Ägypten, mit Verspätung nach Olympia und führte Gegenwind bei den Kykladen als Entschuldigung an. Als die Eleier über den Fall verhandelten, sagte ein Konkurrent als Zeuge aus und versicherte, nicht die Winde, sondern Apollonios’ Teilnahme an lukrativen Wettbewerben in Ionien seien der Grund für die Verspätung gewesen. Die Eleier schenkten dieser Version Glauben und schlossen den Apollonios aus. Als dieser daraufhin die Faustriemen anlegte und seinen Konkurrenten angriff, wurde er zur Aufstellung von Zanes-Statuen verurteilt. Die Hinderung von Konkurrenten bei athletischen und musischen Wettkämpfen, rechtzeitig zum Wettkampfort zu gelangen, ist Gegenstand eines in Platons „Nomoi“ (955a–b) aufgeführten Gesetzes. Demnach solle dieses Delikt bei den jeweiligen Leitern der Wettkämpfe angezeigt werden, die dafür Sorge tragen sollten, dass die Betroffenen befreit würden und noch teilnehmen könnten. Wenn dies nicht gelänge und der Täter den Sieg erringe, sollte diesem der Siegespreis entzogen und stattdessen dem Opfer zuerkannt werden. Den Tätern sei es außerdem untersagt, sich durch Weihegaben oder Inschriften im öffentlichen Raum als Sieger zu rühmen. Ferner wird ausdrücklich erwähnt, dass dem Geschädigten der Klageweg wegen Schädigung offenstehe. Dieses Gesetz fügt sich gut in das von anderen Quellen gezeichnete Bild vom Wettkampfwesen ein, Platon dürfte jedoch nicht ein bestehendes Gesetz abgeschrieben, sondern bestehende Regelungen systematisierend zusammengefasst haben (Klingenberg 1987). Aus heutiger Sicht bizarr mutet die Bestrafung des Schwerathleten Theagenes von Thasos an, der 480 v. Chr. in Olympia sowohl im Faustkampf als auch im Pankration5 antrat. Er siegte im Faustkampf, konnte aber zum folgenden Finale im Pankration aus Erschöpfung nicht mehr antreten. Die Hellanodiken erlegten ihm eine enorm hohe Buße auf: Ein Talent Silber musste Theagenes dem olympischen Heiligtum zahlen, ein weiteres seinem Finalgegner im Faustkampf, dem Euthymos (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 6,6,5). Von den Hellanodiken wurde Theagenes’ Meldung zum Faustkampf als Schädigung des Euthymos behandelt, doch der wichtigste Grund für die Bestrafung dürfte die Enttäuschung über das ausgefallene Finale im Pankration gewesen sein. Deutlich wird jedenfalls der Ermessensspielraum, über den die Hellanodiken bei der Verhängung von Strafen verfügten. Neben den großen Wettkämpfen, an denen Athleten aus der gesamten griechischen Welt teilnahmen, gab es in den Poleis auch kleinere Wettbewerbe für die lokale Jugend. Diese fanden zumeist im Gymnasion statt und wurden von dessen Vorsteher, dem Gymnasiarchen, geleitet und überwacht. Besonders gut überliefert sind die Bestimmungen aus dem makedonischen Beroia (Gauthier und Hatzopoulos 1993). Die Kampfrichter wurden vom Gymnasiarchen eingesetzt; wenn sich einer der Athleten von einem Kampfrichter benachteiligt fühlte, konnte er diesen vor den städtischen Gerichten verklagen. Strafen verhängte der Gymnasiarch selbst: „diejenigen, welche die Agone entehren oder nicht in rechtmäßiger Weise an den Agonen teilnehmen, soll der Gymnasiarch berechtigt sein auszupeitschen und mit einer Wörtlich „Allkampf“; bei dieser Disziplin des antiken Kampfsports waren neben Schlägen und Tritten auch Halte- und Würgegriffe erlaubt. 5
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Geldbuße zu belegen, ebenso wenn einer dem anderen den Sieg freiwillig überlässt.“ (B 68–71) Die Kompetenzen sind geteilt: Während die Kampfrichter die Akteure in Aktion überwachten und gegebenenfalls wegen Regelverstößen einschritten, setzte der Gymnasiarch nach Beendigung des Wettkampfes formale Strafen fest (Crowther und Frass 1998, S. 144). Man erkennt einige Parallelen zu den Olympischen Spielen, aber ein entscheidender Unterschied bestand darin, dass die Teilnehmer beim Gymnasionagon in Beroia sämtlich Bewohner der Polis waren und damit der dortigen Rechtsprechung unterworfen waren. Außer in Wettkampfreglements finden sich auch im römischen Recht Bestimmungen zu Wettkämpfen, jedoch nur sehr wenige. In einem Ulpiantext (Digesten 9,2,7,4) werden Todesfälle beim Kampfsport genannt. Üblicherweise wurden diejenigen, die ihre Gegner beim Wettkampf töteten, nicht belangt, da sie „wegen des Ruhmes und der Tapferkeit, nicht aus Widerrechtlichkeit“ den Schaden verursacht hätten. Nur wenn der Unterlegene den Kampf bereits aufgegeben hatte und die tödliche Verletzung danach zugefügt wurde, konnte der Verursacher auf Schadenersatz verklagt werden (Gualazzini 1965, S. 17; Wacke 1977, S. 28).
2 Kernprobleme der Forschung Die Forschungsdichte zu juristischen Fragen des antiken Wettkampfwesens ist gering. Diese Aussage von Siewert (1992, S. 113) ist immer noch gültig, durch einen neuen Sammelband (Harter-Uibopuu und Kruse 2014) sind frische Impulse zu erwarten. Freilich ist die Quellenlage überschaubar, weil die Wettkämpfe erstaunlich wenig reglementiert waren (Wacke 1977, S. 25). Kontrovers wird in der Forschung diskutiert, welche Bedeutung der Religion bei den Verfahren zur Konfliktlösung bei Wettkämpfen zukam. Schwüre bei den Göttern sind bei den homerischen Leichenspielen im 23. Gesang der Ilias, bei den Olympischen Spielen und anderen historischen Wettkämpfen ein wichtiges Moment, und nach Forbes (1951/1952, S. 173) war es die Furcht vor der Strafe der Götter, die Athleten disziplinierte oder dazu brachte, auferlegte Strafen zu akzeptieren. Nach Weiler (1991, S. 92) ist das Regelwerk der Olympischen Spiele aus sakralrechtlichen Wurzeln erwachsen, die Autorität der Hellanodiken habe darauf beruht, dass sie als Stellvertreter des Zeus angesehen wurden. Gegen diese kultische Interpretation des Wettkampfreglements hat Siewert (1992, S. 116) Stellung bezogen: Der kultische Kontext antiker Wettkämpfe sei unbestritten, aber es gebe eine strikte Trennung zwischen der sakralen und der athletischen Sphäre des Heiligtums, die sich gerade auch in der Trennung des Personals ausdrücke. Hellanodiken seien eben gerade nicht für Kulthandlungen zuständig, ihre Autorität sei nicht direkt von den Göttern abgeleitet, vielmehr seien sie als säkulare Amtsträger zu verstehen. Diese Debatte ist eingebettet in eine allgemeine Diskussion über die religiöse Dimension der Wettkämpfe (Murray 2013 für einen knappen Forschungsüberblick). Während manche den antiken Sport als Kulthandlung begreifen (Sansone 1988), vertreten andere die Position, die Götterfeste hätte den Wettkämpfen nur einen
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ahmen gegeben, der Sport selbst sei als säkulare Handlung zu verstehen (Golden R 1998, S. 23). Demzufolge sei es weniger die Götterfurcht, sondern die Angst vor einem Verlust an Ehre gewesen, der die Wettkämpfer zur Einhaltung der Regeln verpflichtet habe. Auf den Inschriften der Zanes-Statuen kommen beide Aspekte zum Tragen: „Das Epigramm auf der zweiten Statue besagt, dass die Statue zu Ehren der Gottheit dastehe und durch die Gottesfurcht der Eleier zur Abschreckung für frevelnde Athleten. Bei der fünften und sechsten Statue ist der Sinn der Inschrift, bei der einen, dass die Statuen aufgestellt wurden zum Ruhm der Eleier und vor allem auch zur Strafe für die Faustkämpfer, bei der noch übrigen, dass sie eine Lehre für alle Griechen seien, dass niemand einen Olympiasieg mit Geld erringen wolle.“ (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 5,21,4). Die Auslosung der Paarungen beim Kampfsport hatte großen Einfluss auf den Ausgang des Wettkampfs, da bei ungerader Teilnehmerzahl ein Freilos anfiel. Der Losentscheid wird in den griechischen Quellen nicht als Gottesurteil betrachtet, sondern als Zufallsentscheid (Mann 2017). Für die Strafe des Auspeitschens, deren Anwendung auf Freie die Wettkämpfe von anderen Rechtsbereichen unterschieden, haben Crowther und Frass (1998, S. 163 f.) mögliche kultische und säkulare Wurzeln diskutiert. Sie erwägen die Möglichkeit, dass es sich um eine Kombination aus Strafe und Katharsis an einem heiligen Ort handele, betonen aber auch die weltliche Dimension des Auspeitschens als Schandstrafe. Am deutlichsten ist das Prinzip, Übeltäter mit Schande zu bestrafen, an den Zanes-Statuen abzulesen, die durch ihren prominenten Aufstellungsort und die Inschriften die schlechte Erinnerung perpetuieren sollten. Man scheint bei den Wettkämpfen auf das Prinzip der Abschreckung vertraut zu haben; dies erklärt, warum die Verfahren zur Lösung von Konflikten so wenig ausgefeilt waren. Ein ganz anderer Ansatz, die geringe Anzahl von Nachrichten über Reglementierungen und Regelverstöße im antiken Wettkampfwesen zu erklären, basiert auf einer fundamentalen Unterscheidung zwischen antikem und modernem Sport (Sansone 1988, S. 3–12). Während für den modernen Sport das Konzept des Fair-Play unabdingbar sei, habe in der Antike der bloße Sieg im Vordergrund gestanden. Da sich Siege gleichsam selbst legitimiert hätten, habe man eine gesellschaftliche Kontrolle der Wettkämpfe weder gewünscht noch installiert. Doch Dickie (1984) hat mit Verweis auf die homerischen Leichenspiele, Weiler (1991) mit Bezug auf die Zanes- Statuen betont, dass wie im modernen Sport auch im antiken eine Vorstellung von Fairness vorhanden gewesen sei. Die Dekadenzthese, gemäß der die ursprünglich von Amateuren bestrittenen Olympischen Spiele seit der Spätklassik von professionellen Athleten dominiert worden seien, was zu einem Verfall der Sportethik geführt habe, wird heute nicht mehr vertreten (dazu Weiler 2014). Sieger bei athletischen Wettkämpfen in der Antike erlangten immer sowohl Ruhm als auch materielle Vorteile, so dass sich nicht das eine gegen das andere aufrechnen lässt. Ob das Problem der Bestechung von Athleten tatsächlich, wie Philostrat (Über die Gymnastik 45) angibt, im Lauf der Antike zunahm, lässt sich in Anbetracht der schmalen Quellenbasis nicht verifizieren. Frass (2010, S. 174 f.) nimmt weniger gesellschaftliche Entwicklungen als den Menschen allgemein innewohnendes Streben nach Ruhm und Anerkennung als
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Triebfeder für die Bestechung der Athleten an, der man mit einer Kombination aus Eiden und Abschreckung habe Einhalt gebieten wollen.
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Kapitel 30
Das regimen morum der Zensoren – Konfliktlösung im Adel? Nadja El Beheiri
1 Überblick Die Zensur wurde nach dem Berichts des Livius im Jahre 443 v. Chr. auf Antrag der Konsuln an den Senat eingeführt. Ihre ursprüngliche Aufgabe war die Schätzung: Ausgehend vom Vermögens- und Familienstand eines Bürgers legten die Zensoren fest, in welche Zenturien bzw. Tribus er einzuordnen war. Diese Einordnung legte die militärische Stellung der Bürger und die zu entrichtende Steuerleistung fest. Außerdem waren die Zensoren mit der Vergabe von öffentlichen Bauten und der Verwaltung und Vergabe des ager publicus, des im Eigentum des Staates stehenden Bodens, betraut. Ferner kümmerten sie sich um die Verwaltung von Zöllen und Einkünften aus Bergwerken. Am Ende des Zensus stand das suovetaurilium, ein auf dem Marsfeld dargebrachtes Opfer, bei dem Stiere, Widder und Eber geopfert wurden. Fraglich ist, ob das regimen morum schon von Anfang an zu den Kompetenzen der Zensoren gehört hat. Es finden sich vereinzelt Maßnahmen, die von späteren Autoren mit dem regimen morum in Verbindung gebracht wurden. So haben im Jahr 403 M. Furius Camillus und Albinus Regillensis all jene Bürger, die trotz fortgeschrittenen Alters noch ehelos lebten, mit einer höheren Steuerleistung belegt. Im Jahr 434 soll der Diktator Aemilius Mamercinus aus dem Senat entfernt worden sein, weil er ein Gesetz zur Verkürzung der Amtszeit der Zensur von 5 Jahren auf 18 Monate erlassen haben soll. Sollten diese beiden Maßnahmen historisch sein, was vor allem für die Entfernung des Aemilius Mamercinus aus dem Senat bezweifelt wird, so sind sie noch nicht als Durchsetzung eines Wertmaßstabes im Sinne des späteren regimen morum zu bewerten, denn es fehlt nicht zuletzt an der politischen Spannung rund um die Maßnahme. Trotzdem zeigt in erster Linie die Verfügung des
N. El Beheiri (*) Pázmány Péter Catholic University, Department of Roman Law, Budapest, Ungarn E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_30
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Camillus und seines Kollegen, dass die Tätigkeit der Zensoren auch vor der Herausbildung des eigentlichen regimen morum immer auch eine wertende Funktion hatte. Die Zensur ist das republikanische Amt, für das die meisten Gesetze erlassen worden sind, was man als Beleg für die gesellschaftliche Relevanz des Amtes sehen kann. Neben der bereits erwähnten lex Aemilia de censura minuenda, erging im Jahr Jahre 339 die lex Publilia Philonis, die festlegte, dass einer der beiden Zensoren Plebejer sein musste. Im Jahr 58 v. Chr. rogierte der Volkstribun, P. Clodius Pulcher die lex Clodia. Dieses Gesetz, das nur für eine einzige Zensusperiode galt, legte fest, dass ein Senator nur dann aus dem Senat ausgestoßen werden konnte, wenn eine förmliche Anklage vorlag und beide Zensoren der Maßnahme ausdrücklich zustimmten. Eine besondere Stellung nimmt die lex Ovinia aus dem Jahr 312 v. Chr. ein, durch die die Nachbesetzung des Senats auf die Zensoren übertragen wurde. Dieses Gesetz, das allgemein mit der Zensur des Appius Claudius (312 v. Chr.) in Verbindung gebracht wird, legte fest, dass die Zensoren ex omni ordine optimum quemque, die Besten aus jedem Stand, in den Senat berufen sollten. Neben der Neubesetzung freigewordener Stellen ermöglichte es auch, Senatoren wegen mangelnder moralischer Eignung aus dem Senat auszuschließen. Diese Kompetenz führte dazu, dass das Amt in seiner entwickelten Form als Höhepunkt jeder politischen Laufbahn angesehen wurde. Im Jahre 252 v. Chr. schritten die Zensoren auf Antrag der Konsuln erstmals gegen Ritter ein. In der späten Republik finden sich dann auch vereinzelt Berichte über Maßnahmen gegen einfache Bürger. Die von den Zensoren verhängten Strafen bestanden darin, dass die Betroffenen aus ihrer bisherigen gesellschaftlichen Einheit ausgeschlossen und in eine niedrigere Gruppe versetzt wurden. Die Möglichkeit, durch den Ausschluss von Senatoren aus dem Senat ein Exempel zu statuieren und damit die Regeln des mos maiorum genauer zu fassen, wurde zu einem gewichtigen Instrument der Etablierung der neuen Amtsnobilität im Zuge des patrizisch-plebejischen Ausgleiches. Im Jahre 307, der ersten Zensur nach dem Erlass der lex Ovinia, haben die Zensoren M. Valerius Maximus und C. Iunius Bubulcus einen plebejischen Senator namens L. Annius mit der Begründung aus dem Senat entfernt, dass er seine Frau ohne Beiziehung des consilium amicorum verstoßen hat. Der Maßnahme wurde weder von antiken noch von modernen Autoren besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der Grund für dieses mangelnde Interesse liegt darin, dass die Maßnahme noch ganz in der alten gesellschaftspolitischen Ordnung verankert war. Der die Maßnahme tragende patrizische Zensor, M. Valerius Maximus, war ein Vertreter des alten patrizischen Geschlechterstaates, der ausgestoßene Senator ein Plebejer. Die Einordnung des patrizischen Zensors als Vertreter des alten Regimes wird durch den Gegensatz deutlich, den der Annalist Livius zwischen dem Valerier und dem Zensor der nachfolgenden Periode, Q. Fabius Maximus Rullianus, konstruiert. Aus der Zensusperiode des Jahres 304 sind zwar keine Ausstoßungen aus dem Senat überliefert, die Zensoren nahmen aber eine Neuordnung der der Wahlbezirke (tribus) vor und legten so den Grundstein für die Herausbildung der neuen Führungsschicht. Im Mittelpunkt des von Livius überlieferten Gegensatzes stand die Gehorsamspflicht dem Diktator gegenüber. Das Amt des
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Diktators gehört zu den Eckpfeilern des patrizischen Staates. Nachdem der Fabier eine gegen den Willen des Diktators geführte Schlacht gewonnen hatte, wollte ihn der Diktator wegen seines Ungehorsams hinrichten lassen. Der Vollzug dieser durch die Tradition gedeckten Strafe wurde durch übereinstimmende Willensäußerung des Senats, der Volkstribunen, des Volkes und der Obermagistrate verhindert. Valerius Maximus fand sich wenig später in einer ähnlichen Situation und hielt sich an den Befehl des Diktators. Damit blieb er zwar im Rahmen des durch die Überlieferung der Vorfahren vorgegebenen Systems, die konkrete politische Unterstützung der im Entstehen begriffenen neuen Führungsschicht wurde ihm jedoch verwehrt. Ganz anderes ist die Sachlage im Jahr 275 v. Chr. In diesem Jahr stießen die Zensoren Fabricius Luscinus und Aemilius Papus den zweifachen Konsul P. Cornelius Rufinus aus dem Senat, weil dieser 10 Pfund Silber in Besitz gehabt hatte. Die Maßnahme wird eindeutig dem plebejischen Zensor Fabricius zugeschrieben, der in den antiken Quellen einstimmig als Musterbeispiel für römische Tugend und Sittenstrenge gepriesen wird. Fabricius ist der einzig sicher bezeugte republikanische Staatsmann, dem ein Grab innerhalb des pomerium gewährt wird. Das Schrifttum konstruiert einen starken Gegensatz zwischen Fabricius und Cornelius Rufinus. So beschreibt etwa Gellius in den Noctes Atticae beide Staatsmänner als hervorragende Feldherren, Fabricius war ein tugendhafter Mann, während der Cornelier als ein von Habgier besessener Dieb charakterisiert wird. Die Zensoren sanktionieren nicht konkrete Taten, sondern die Verbundenheit mit der von der Führungsschicht akzeptierten Wertordnung. Die Person des Zensors dient zur Konkretisierung von Werten und Tugenden. Der bestrafte Senator ist die Personifizierung der zu ahndenden Eigenschaften. Die Quellentexte berichten zum ersten Mal im Jahr 252 v. Chr. von einem Einschreiten der Zensoren gegen Ritter. Die Amtsträger dieser Periode waren M. Valerius Maximus und P. Sempronius Sophus. Bei den Bestraften handelte es sich um iuvenes, um am Beginn ihrer militärischen und politischen Karriere stehende Männer. Als Bestrafungsgrund wurde angeführt, dass sie dem Befehl des Konsuls nicht gefolgt sind, sich an Aushebungsarbeiten zu beteiligen. Der Konsul hat daraufhin bei den Zensoren den Antrag auf Notierung der Ritter gestellt. Vom Senat erreichte er außerdem, dass den Bestraften das Futtergeld für ihr Staatspferd gestrichen wurde. Die Volkstribune brachten die Angelegenheit vor das Volk, das die gegen die Ritter verhängten Maßnahmen bestätigte. Überliefert ist zudem, dass in dieser Periode insgesamt 16 Senatoren aus dem Senat entfernt wurden, was wohl vor allem die bestraften, noch nicht zu Senatoren aufgestiegenen jungen Männer meint. Auch diese Maßnahme wird durch den Konsens der politischen Organe getragen. Die Zensur des Jahres 214 stand ganz im Zeichen der Vergeltung der während der Schlacht von Cannae begangenen Vergehen. Der die Maßnahmen tragende Zensor war der Plebejer M. Atilius Regulus. Er war der Sohn des berühmten Senators Regulus, der im Ersten Punischen Krieg in Kriegsgefangenschaft geraten und von Karthago nach Rom entsandt worden war, um Verhandlungen mit dem Senat zu führen. Der ältere Regulus sprach sich im Senat gegen die Annahme der vorgegebenen Bedingungen aus. Er tat dies, obwohl er sich eidlich dazu verpflichtete hatte, im Falle eines Scheiterns nach Karthago zurückzukehren, und obwohl er wusste, dass
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ihn bei seiner Rückkehr der Tod erwartete. Die Spiegelbildlichkeit der Situation ist leicht zu erkennen. Die Besonderheit des vorliegenden Falles besteht darin, dass die Verkörperung der Tugend von dem Vater auf den Sohn übertragen wurde. Die Zensur des Jahres 214 ist die erste Periode, in der die Zensoren gegen eine verhältnismäßig große Zahl von Bürgern einschritten. Die Berichterstattung vermittelt den Eindruck eines geordneten und strukturierten Vorgehens, bei der es zu einer Ladung und einer Anklage kam, den Beschuldigten Gelegenheit zur Verteidigung gegeben wurde und ein Schuldspruch gefällt wurde. Die politische Stoßkraft kommt in der Periode des Jahres 214 nicht dadurch, dass gegen qualifizierte Mitglieder des Gemeinwesens vorgegangen wird (in dieser Periode kam es zu keiner lectio senatus), sondern in der Breitenwirkung und Rigorosität der Verfügungen. Die Bestrafungen bestanden in der Versetzung unter die Aerarier und Verurteilung zu einem Kriegsdienst unter erniedrigenden Bedingungen in Sizilien. Letztere Maßnahme wurde vom Senat verhängt und trotz zahlreicher Bitten der Betroffenen für unabänderlich erklärt. In den auf die Zensur des Regulus folgenden zwei Perioden wird über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kollegen in der Zensur berichtet. Bei der Zensur des Jahres 209 handelt es sich um die einzige Periode in der Geschichte des Amtes, bei der zwei Männer zu Zensoren gewählt wurden, die noch nicht das Konsulat bekleidet hatten. Es handelt sich um den Patrizier M. Cornelius Cethegus und den Plebejer P. Sempronius Tuditanus. Im Hintergrund der Kontroverse zwischen den Amtsträgern lässt sich der Gegensatz zwischen dem durch die Tradition vermittelten und dem auf Verdienst begründeten Führungsanspruch ausmachen. Die Ausei nandersetzung betraf die Frage, wer zum princeps senatus ernannt werden sollte. Der patrizische Zensor wollte den ältesten noch lebenden Zensor ernennen. Der plebejische Zensor wollte Q. Fabius Maximus, den Sieger über Hannibal, ernennen. Im Ergebnis konnte sich der plebejische Zensor durchsetzen. Aus politischer Sicht belegt der Ausgang der Kontroverse die Verankerung der Zensur im System der Amtsnobilität. In der Zensur der nächsten Periode kam es zu einem berühmten Streit der Zensoren C. Claudius Nero und M. Livius Salinator. Die beiden Amtsträger wollten sich im Rahmen der Ritterzensur gegenseitig das Staatspferd nehmen, der Claudier versetzte seinen Kollegen unter die Aerarier, was zumindest dem Entzug des Stimmrechts gleichkam, worauf Livius Salinator alle Tribus außer seiner eigenen unter die Aerarier versetzte. Ein Volkstribun wollte die Angelegenheit vor das Volk bringen. Dies wurde jedoch vom Senat verhindert. Das Einschreiten des Senats in diesem Fall zeigt klar, dass im Streitfalle der Senat und nicht das Volk die Herrschaft über die Zensur ausübte. Die Zensur des M. Porcius Cato fiel in das Jahr 184. Sein patrizischer Kollege war L. Valerius Flaccus. Cato stieß den zweifachen Konsul T. Quinctius Flamininus aus dem Senat. Das Vergehen, das dem Staatsmann vorgeworfen wurde, bestand, darin, dass er – je nach Erzählungsvariante – einem Buhlknaben oder einer Dirne zuliebe einen Verurteilten willkürlich hatte hinrichten lassen. Das Ereignis steht jedoch unter mehreren Aspekten unter anderen Vorzeichen als das Einschreiten des Zensors Fabricius gegen den Cornelius Rufinus mehr als hundert Jahre zuvor. Ge-
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meinsam ist den beiden Fällen, dass ein plebejischer Zensor gegen einen patrizischen Senator vorgeht. Anders als beim Einschreiten des Fabricius gegen Rufinius wird die von Cato verhängte Sanktion von der politischen Führung nicht mitgetragen. Der Bruder des Verurteilen, Titus Quinctius Flamininus, erreichte beim Senat die Aufhebung der Vergabebeschlüsse durch die Zensoren. Eine solche Maßnahme des Senats gegen die Zensoren ist nur für diese Periode belegt. Cato wird zum Prototyp eines unangemessenes Verhalten ahndenden Zensors. Die Ausstoßung des Quinctius Flamininus ist die erste Gelegenheit, bei der ein Zensor den Ausschluss eines Senators durch eine Rede vor dem Volk begründet. Das Halten der Rede ist ein Indiz für die Verlagerung der politischen Stoßrichtung von dem Senat auf das Volk. Mit der Zensur Catos erlangte das zensorische Sittenregiment seine ausgereifte Form. Die Amtsträger erscheinen nicht mehr als Personifizierung des von den Organen des Gemeinwesens (Senat, Obermagistrat und Volksversammlung) vertretenen Wertekonsenses, sondern sie werden zu Einzelkämpfern zur Erhaltung der mores der Vorfahren. Diese Entwicklung kulminiert in dem Ausruf des Zensors des Jahres 142 Scipio Africanus, dass er seine Pflicht mit oder ohne das Mitwirken seines Kollegen erfüllen werde. In den Quellen finden sich Nachrichten über Ausstoßungen aus dem Senat, wobei die Betroffenen oft anonym bleiben. Die oben angeführten Fälle bleiben in ihren verschiedenen Aspekten als Referenzen und exempla gegenwärtig. So etwa wenn über den plebejischen Zensor des Jahres 174 Q. Fulvius Flaccus berichtet wird, dass er seinen eigenen Bruder, mit dem er in Hausgemeinschaft lebte, aus dem Senat entfernte. Das Beispiel ist ein Gegenstück zu dem Verhalten des Titus Quinctius Flamininus, des Bruders des von Cato bestraften Mannes. In der gleichen Zensur wird M. Cornelius Scipio Maluginensis aus dem Senat gestoßen, weil er einen Meineid geleistet haben soll. Hier klingt das Beispiel des älteren Regulus an. Die Erhaltung der militärischen Disziplin gehört weiterhin zu den Grundanliegen des Amtes. Die Zensoren A. Claudius Pulcher und Ti. Sempronius Gracchus erlassen im Jahr 169 ein Edikt, in dem verordnet wird, dass alle Bürger im Rahmen der Bürgerschatzung einen Eid ablegen müssen, dass sie sich vorschriftsmäßig zur Aushebung gemeldet haben und dies auch in Zukunft tun werden. Seit Cato ahnden die Zensoren bei Rittern nicht nur militärische Vergehen, sondern prüfen auch ihre physische und moralische Tauglichkeit für den Kampf. Die letzte aufsehenerregende Ausstoßung aus dem Senat stammt aus dem Jahr 97 v. Chr. Die Zensoren L. Valerius Flaccus und M. Antonius schritten gegen einen Volkstribun namens Duronius ein, weil er ein Gesetz zur Einschränkung des Tafelluxus mit der Begründung abrogiert hat, dass den Bürgern die Freiheit gebührt, im Luxus zu Grunde zu gehen.
2 Kernprobleme der Forschung Ein wesentlicher Aspekt zensorischer Maßnahmen bestand in der Veröffentlichung und Publizität des Vorwurfes. Die Nachrichten über das Vorgehen der Zensoren wurden in weiterer Folge auch von den Annalisten, die über die Ereignisse nach
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Jahren geordnet berichteten, und Historikern wie Livius aufgegriffen. Diese Berichte wurden auch von der Exemplarliteratur, die uns etwa durch Cicero, Plutarch, Festus und Gellius greifbar ist, aufgenommen und vor dem Hintergrund der stoischen Gesellschaftsethik interpretiert. Im modernen Schrifttum wird bisweilen der Eindruck vermittelt, dass es sich bei der Tätigkeit der Zensoren um eine routinemäßige Arbeit handelte und dass nur jene Fälle besonders erwähnt werden, die aus dem Rahmen des Gewohnten herausfielen (Schmähling 1938). Dies würde bedeuten, dass die Quellen sich eher auf Ausnahmefälle beziehen und nur wenige Nachrichten über den normalen Geschäftsgang der Zensoren zur Verfügung stehen. Andere Autoren gehen davon aus, dass sich die Maßnahmen der Zensoren in der Zeit der römischen Republik auf besondere Vorkommnisse beschränkten (Baltrusch 1988; El Beheiri 2012). Die vorhandenen Quellen würden so ein reales Bild über die Tätigkeit der Zensoren zeichnen. In jedem Fall gehört das regimen morum zu jenen Bereichen, deren Darstellung Gefahr läuft, stark von dem Vorverständnis beeinflusst zu werden, mit dem sich spätere Autoren den Quellen nähern. Im modernen Schrifttum ist die Frage nach dem Ursprung des regimen morum unterschiedlich beantwortet worden. Mit dieser Frage hängt auch die Einordnung der Kompetenz innerhalb des Gefüges der res publica und die politische Bewertung der Maßnahmen zusammen. Im 19. Jahrhundert wurden einige grundlegende Thesen formuliert, die auch auf spätere Autoren einen Einfluss ausgeübt haben. Carl Ernst Jarcke (1824) vertrat die Ansicht, dass der Zensus durch den legendären König Servus Tullius eingeführt worden ist und mit der Einführung der Zensur im Jahre 443 v. Chr. das regimen morum in das Amt eingegliedert worden ist, dessen hauptsächlichste Aufgabe in der Ahndung von Handlungen bestand, die zwar moralisch verwerflich, strafrechtlich jedoch nicht strafbar waren. Rudolf von Jhering (1852) ist davon ausgegangen, dass das regimen morum seinen Ursprung in der sittenrichterlichen Tätigkeit der gens zur Zeit der Vorherrschaft der patrizischen Geschlechter gehabt hat. Die Oberhäupter der einzelnen Familien haben eine unbeschränkte privatrechtliche Freiheit genossen, der subjektive Wille war keinerlei Beschränkungen unterworfen. In diesem Sinne konnte jeder pater familias mit seinen Familienmitgliedern und seinem Eigentum ganz nach Gutdünken verfahren. Die einzelnen Familien waren aber auch in den weiteren Verband der gens eingebunden, der ihnen Schutz, Hilfe und Unterstützung gewährte. Die patrizischen gentes konnten ihre Vorherrschaft nun gerade dadurch schützen, dass sie innerhalb ihrer Verbände für moralische Integrität sorgten. Aus der Tatsache, dass die Einführung der Zensur in zeitlicher Nähe mit der lex Cannuleia (442 v. Chr.) steht, durch die die Möglichkeit zur Eingehung einer gültigen Ehe zwischen Patriziern und Plebejern geschaffen wurde, schließt Jhering (1852), dass durch die Schaffung des Amtes die Sittenaufsicht auch auf plebejische Familien ausgedehnt werden sollte, die ja im rechtlichen Sinne über keine gens verfügten. Bei dieser Auffassung tritt die zeitliche Nähe zum Zwölftafelgesetz hervor, was dazu geführt hat, dass im regimen morum ein Schritt zur Trennung zwischen Recht und Sitte gesehen wurde (Kaser 1938, 1939a, b). Theodor Mommsen (1871) hat in seinen Arbeiten zum römischen Staatsrecht die politische Bedeutung des regimen morum hervorgehoben. Er geht zwar davon aus,
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dass das regimen morum schon sehr früh mit der Zensur verbunden gewesen ist, seine Bedeutung durch die Übertragung der lectio senatus, der Zusammenstellung der Senatsliste, zugenommen hat. Betroffen waren im System Mommsens grundsätzlich alle Mitglieder des Gemeinwesens, einfache Bürger, Ritter und Senatoren. Mommsen betont, dass die Zensoren bei der Verhängung der Sanktionen allein ihrem Gewissen verantwortlich waren und willkürlich vorgehen konnten. Ihrem politischen Charakter gemäß waren die Zurücksetzungen, die die Bürger je nach ihrem Platz in der res publica erfahren haben, immer nur bis zur nächsten Amtsperiode gültig. Eberhard Schmähling (1938) übernimmt die These Jherings vom Ursprung des regimen morum in der Sittenaufsicht der gens und verknüpft sie mit der Auffassung Mommsens von einer allumfassenden Willkür der Amtsträger. Diese Zusammenschau ergibt ein Bild der Zensoren als mit umfassender Ermessensfreiheit ausgestatteten Magistrate, die durch eine – die gesamte Bürgerschaft erfassende – Kontrolle dem Sittenverfall in der römischen Republik den Kampf ansagen. Im Anschluss an Mommsen ist die frühere Auffassung, dass es sich beim regimen morum um eine Ergänzung des Strafrechts handelte, in den Hintergrund getreten. Die Maßnahmen der Zensoren wurden nicht mehr als Ergebnis eines quasikriminalen Verfahrens verstanden, sie stellten vielmehr rein administrative Akte der Zensoren dar (Kunkel 1995). In jenen Fällen, in denen das Vorgehen der Zensoren Züge eines Gerichtsverfahrens annimmt, geschieht dies als Folge der Sachzusammenhänge. Von Kunkel wird der militärischen Seite der Kompetenz besondere Bedeutung beigemessen. Bei der Überprüfung der Ritter, die mit staatlichem Pferd dienten, zeigt sich die Verbindung von militärischen und politischen Aspekten deutlich. Die Ritter mit Staatspferd bildeten innerhalb der Abstimmungsordnung der Zenturiatskomitien eine eigene Gruppe, die einen beträchtlichen Einfluss auf den Ausgang der Abstimmungen ausüben konnte. Die Gewährleistung der inneren Kohäsion dieser Gruppe war eine wichtige Aufgabe (Kunkel 1966, 1971, 1972, 1995). Die militärischen Aspekte des Amtes werden auch von J. Michael Rainer (2006) betont. Eine Untersuchung der Quellen unter mehr chronologischen als systematischen Gesichtspunkten (Bleicken 1975; Baltrusch 1988; El Beheiri 2012) ergibt, dass das regimen morum eng mit dem Übergang der Vorherrschaft von dem patrizischen Geschlechterstaat auf die patrizisch-plebejische Amtsnobilität verbunden war (in diesem Sinne auch unter anderen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen Pólay 1971) Die Zugehörigkeit zur Führungsschicht hing nicht mehr mit der Abstammung, sondern mit der Verbundenheit mit der aus den mores maiorum abgeleiteten Wertordnung ab. Das regimen morum der Zensoren richtete sich vorwiegend gegen qualifizierte Mitglieder des Gemeinwesens. Die Publizität der Akte diente der Klärung des Wertemaßstabes. Die verhängten Sanktionen bestanden im Ausschluss aus der jeweiligen Gesellschaftsgruppe. Mit nachlassender Kohäsion innerhalb der Führungsschicht, schwindet auch die politische Unterstützung der von den Zensoren verhängten Maßnahmen und das regimen morum wird zu einem Instrument der Lösung von aktuellen politischen Spannungen zwischen einzelnen Bürgern.
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Kapitel 31
Konfliktlösung in den Städten Francesca Lamberti
1 Überblick Wie wurden Konflikte zwischen Privatpersonen auf der Ebene der städtischen Gerichtsbarkeit innerhalb des Römischen Reiches gelöst? Eine solche Fragestellung bedarf zeitlicher und räumlicher Abgrenzung. Denn gewisse Antworten können mit einem höhen Wahrscheinlichkeitsgrad insbesondere für die Zeit, die vom letzten Jahrhundert der Republik bis zu der Severerzeit reicht, geliefert werden. Die Veränderungen des verwaltungsrechtlichen Systems und der Organisation der Provinzen nach der Zeit der Militäranarchie führten zu wesentlichen Änderungen, die kompliziert zu verfolgen sind. Auch was den territorialen Kontext der Untersuchung angeht, wird man sich in diesem Kapitel auf den westlichen Teil des Römischen Reichs konzentrieren, in dem meist eine gewisse Uniformität der Lösungen vorauszusetzen ist. Die viel differenziertere Lage im Osten ist im Beitrag von Georgy Kantor (→ 26. Kantor) skizziert worden. Vor dem Bundesgenossenkrieg prozessierten die Einwohner der Gemeinden, die sich in der Nähe Roms befanden, vor dem römischen praetor (urbanus oder peregrinus), während in die anderen, weiteren Gemeinden des ager Romanus, der römische Prätor praefecti iure dicundo mit Gerichtsgewalt sandte, die die Justiz in direkter Ausstrahlung Roms verwalteten. Leider sind wir nicht darüber informiert, inwieweit die Gerichtsbarkeit der Präfekte ausreichte, und ob ihre Gewalt in allen Präfekturen gleich war (zuletzt zum Thema Gallo 2018). Neben den von Rom gesendeten praefecti blieben in einigen Gemeinden vermutlich auch autonome Einrichtungen einer lokalen Gerichtsbarkeit: es ist zu vermuten, dass sich solche je nach der jeweiligen Gemeindeverfassung anders verhielt (Kaser und Hackl 1996). In den Jahren 90-89 v. Chr. wurde das römische Bürgerrecht allen Bewohnern der F. Lamberti (*) Università del Salento, Dipartimento di Scienze Giuridiche, Lecce, Italien E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_31
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südlich des Flusses Po gelegenen Städte Italiens zuerkannt. Es wird vorwiegend vermutet, dass nach den ersten leges de civitate eine komplette Reorganisation hinsichtlich verwaltungs- und jurisdiktionsrechtlicher Aspekte der Gemeinden Italiens stattfand: trotz mancher Ausnahmen wiesen die italischen Städte ab dem letzten Jahrhundert der Republik eine „munizipale“ Stadtverfassung auf, mit IIviri oder IVviri an der Spitze der Gemeinde, einer curia samt Dekurionenstand und regelmäßigen Komitien und Wahlverfahren. Hinsichtlich des Privatrechts wissen wir, dass das römische Stadtrecht und das Formularverfahren ziemlich getreu auf italischer Ebene angewendet wurden: die zentrale Regierung maß in den meisten Fällen den örtlichen Hauptmagistraten auch eine (eingeschränkte) Gerichtsgewalt bei, mit sukzessiver Tendenz auf eine Harmonisierung der jurisdiktionellen Aspekten in den unterschiedlichen civitates Italiens (Wieacker 1988; Laffi 1999, 2007). Für die cäsarische Zeit stehen uns zwei wichtige epigraphische Zeugnisse zur Verfügung, die sog. lex Rubria de Gallia Cisalpina (CIL I 205, XI 1146), ein Gesetzesfragment, das im Jahr 1760 in Veleia gefunden wurde und das damit eng verbundene sog. fragmentum Atestinum (CIL I2 600), das 1880 in Este gefunden wurde. Beide Fragmente, die um die vierziger Jahre des letzten Jahrtausends v. Chr. zu datieren sind, liefern u. a. Informationen über die Kompetenzverteilung zwischen den örtlichen Gerichtsmagistraten und dem römischen Prätor. Das fragmentum Atestinum (Z. 10 ff.) weist auf eine revocatio Romae (und somit auf ein vadimonium Romam faciendum) hin, die aus einer lex Roscia (des Jahres 41 v. Chr.) zurückgeht: Es ergibt sich daraus, dass bestimmte Streitsachen der Gerichtsbarkeit der Munizipalmagistrate entzogen wurden. Ebenso sind in beiden Texten Streitwertgrenzen der iurisdictio der magistratus municipales gesetzt, die unumgänglich sind. Dieser Umstand deutet auf eine Kompetenzverteilung zwischen den lokalen Behörden und dem römischen Prätor hin, die jedoch monetarisch und sachlich am Ende der Republik in den verschiedenen Gemeinden Italiens unterschiedliche Züge gehabt haben könnte (Kaser und Hackl 1996; Laffi 1999). Das prätorische Edikt in Rom enthielt Bestimmungen zur Sicherung der Munizipalgerichtsbarkeit: Das Edikt verhieß beispielsweise Strafklagen gegen denjenigen, der einem Befehl eines ius dicens nicht gehorcht hatte, einer in ius vocatio nicht gefolgt war und keinen vindex gestellt hatte (D. 2.3.1 Ulp. 1 ad ed., Torrent 1970; Domingo 1993; Mantovani 1999), und enthielt Detailregeln über das vadimonium Romam faciendo (Lenel 1927; zuletzt Donadio 2011). Höchstwahrscheinlich beinhalteten die nach ihm nachgeformten Edikte der Provinzstatthalter und die Edikte der Munizipalmagistrate ähnliche Bestimmungen. Für die spanischen Munizipalgesetze der flavischen Zeit schreibt Kap. 85 der lex Irnitana ausdrücklich vor, dass die Gerichtsmagistrate des municipium die meisten prozessualen Vorschriften aus dem Edikt des Provinzstatthalters öffentlich ausstellen sollen (in suo magistratu, quotidie maiorem partem cuiusque diei). Im Rahmen der Provinzverwaltung schickte Rom seit sullanischer Zeit Statthalter (praesides) in die Provinzen, die nicht nur die Gerichtsbarkeit ausübten, sondern die volle Zivil- und Militärverwaltung der Provinz innehatten. Seit der augusteischen Reform der Provinzialverwaltung wurden in die sog. senatorischen Provinzen proconsules (Mantovani 1993–1994; Wieacker 1988; Wesch-Klein 2016) gesendet
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(die z. T. die Gerichtsbarkeit selbst ausübten, z. T. diese Funktion an Magistrate prätorischen Ranges, die legati proconsulis pro praetore, delegierten, D. 1.16.13, Pomp. 10 ad Q. Muc.). In die sog. kaiserlichen Provinzen (die provinciae Caesaris) wurden legati Augusti pro praetore gesendet. In eine dritte Gruppe von Provinzen, bei denen der Kaiser als „direkter Herrscher“ (und direkter Nachfolger der bisherigen Herrscher) auftrat, die stärker unter seiner Kontrolle standen, wurden praefecti Augusti (wie z. B. der praefectus Aegypti) oder procuratores gesendet (Faoro 2011): In beiden Fällen handelte es sich um Prominente aus dem Ritterstand. Im Bereich der Strafgerichtsbarkeit war Nichtbürgern gegenüber die coercitio des Statthalters sehr weit angelegt: In der Regel (insbesondere im frühen Prinzipat) übte der praeses seine Gewalt nach Formen und Regeln, die sehr stark an das Recht der quaestiones perpetuae angelehnt waren, aus (Santalucia 1998). Falls es sich um Kapitalvergehen römischer Bürger handelte, waren die Statthalter dazu verpflichtet, wenn der Angeklagte es forderte, im Rahmen des ihm als civis Romanus zustehenden Provokationsrecht, die Klage dem römischen Kaiser zu verweisen (Act. Apost. 25.9–12). Verwies er nicht, riskierte er in der ausgehenden Republik und in der frühen Prinzipatszeit selbst nach der lex Iulia de vi publica angeklagt zu werden (D. 48.6.7, Ulp. 8 de off. proc.; Garnsey 1968; Santalucia 1998). Die schrittweise Vergabe des Bürgerrechts an eine wachsende Anzahl an Provinzeinwohnern sollte die Kaiser davon überzeugen, die Kapitalgewalt sukzessive an die Statthalter zu delegieren. Ab dem Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. sollten die gesamten proconsules, praefecti und procuratores (nach manchen Autoren auch diejenigen aus dem Ritterstand: Pflaum 1950; Faoro 2011) die Kapitalgewalt innehaben (→ 26. Kantor). Unsere Kenntnisse in Sachen städtischer Gerichtsbarkeit in den westlichen Provinzen des römischen Reichs ab dem frühen Prinzipat sind auf den Bereich der Zivilsachen beschränkt. Die wichtigsten Zeugnisse, die wir darüber besitzen, bilden die Fragmente spanischer Munizipalgesetze aus der Flavischen Zeit, von denen die lex Malacitana, die lex Salpensana und insbesondere die lex Irnitana die umfangreichsten sind (dazu insb. D’Ors und D’Ors 1998; Lamberti 1993, 2002–2003, 2016). Diese Tatsache kann natürlich mit den Umständen der Textüberlieferung zusammenhängen (denn es fehlen die Einleitungskapitel solcher Gesetze, die u. U. auch zu neuen Erkenntnissen in der Sache führen könnten). Es ist jedoch wahrscheinlich, dass zumindest für die romanisierteren westlichen Provinzen, die Munizipal- und Kolonialmagistrate nur für privatrechtliche Angelegenheiten und für Multprozesse zuständig waren. Ob der Normenkomplex, auf dem die flavischen Munizipalgesetze beruhen, schon aus der augusteischen Zeit stammt (und direkt mit den prozessualen Reformen in Verbindung zu setzen ist, die durch die leges Iuliae iudiciorum privatorum und publicorum eingeführt wurden) oder erst in flavische Zeit zu datieren ist, ist eine noch umstrittene Frage (Talamanca 1999; zuletzt Lamberti 2016). In den Gemeindeverfassungen, die uns zur Verfügung stehen, werden die municipia nach dem italischen Muster geregelt: Die Gerichtsbarkeit in Zivilsachen wird den Hauptmagistraten der Stadt, den IIviri iure dicundo zugewiesen (dies ist der Fall sowohl bei der lex Coloniae Genetivae Iuliae, Kap. 85, aus caesarischer Zeit als
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auch bei der lex Irnitana, Kap. 84). Diese Häupter teilen sich die Verwaltungssaufgaben mit den aediles (oder IIviri aedilicia potestate). Während i. d. R. die IIviri i. d. die Komitien und die Sitzungen der curia führen, die Gerichtsbarkeit ausüben und die Munizipalwahlen verwalten, sind die aediles für die Ordnung und Sauberkeit der Stadt und der Märkte, die Märktepolizei, die öffentlichen Feierlichkeiten und andere Verwaltungsaufgaben zuständig; sie haben i. d. R. auch eine Jurisdiktion bis zu einem gewissen Streitwert (Irn. 19). Im Hinblick auf die Konfliktlösung regeln die genannten Gemeindeverfassungen die Munizipalgerichtsbarkeit und die prozessualen Fragen nach dem Muster des stadtrömischen Formularprozesses. Das Verfahren ist in einen Abschnitt vor dem Gerichtsmagistrat (in iure) und einen vor dem Urteilsgericht (apud iudicem) geteilt (→ 21. Klinck). Im Gegensatz zu manchen Auffassungen scheint das Formularprozess zumindest in Spanien noch für das 2. Jahrtausend n. Chr. bezeugt zu sein (Nörr 2008; Buzzacchi 2013; → 26. Kantor). Wie schon bei den italischen Städten enthielten die spanischen Munizipalgesetze eine Festlegung der Reichweite der munizipalen Jurisdiktion. Im Exemplar der lex Irnitana wurde dem IIvir iure dicundo die Jurisdiktion für Klagen mit einem Streitwert bis 1000 Sesterzen zugesprochen. Angesichts der Tatsache, dass Irni ein spanisches municipium geringer Größe war, dürfte höchstwahrscheinlich in reicheren Städten wie Malaca oder Salpensa der Streitwert höher gewesen sein. In der sog. lex Rubria lag die Grenze (schon ein Jahrhundert zuvor) auf 15.000 Sesterzen. Es ist deshalb anzunehmen, dass jedes Stadtgesetz eine unterschiedliche (und für die jeweilige Gemeinde gültige) Streitwertgrenze fixierte. Auch die sachliche Zuständigkeit des IIvir iure dicundo erstreckt sich nach Kap. 84 der lex Irnitana nicht auf Gewaltdelikte (de vi), auf Freiheitsklagen (de libertate), auf gewisse Kontraktsklagen (pro socio, fiduciae, mandati, depositi), auf Klagen aus Vormundschaft und Pflegschaft (tutelae, ex lege Laetoria) und auf weitere infamierende Klagen (de sponsione in probrum, de dolo malo et fraude, furti, iniuriarum). Die Vorschrift sieht jedoch vor, dass die Parteien über die Streitwertgrenze von 1000 Sesterzen und über die sachliche Zuständigkeit einverständlich verfügen können, dass also auch solche Klagen vor dem IIvir iure dicundo im municipium eingereicht werden können. Obwohl Kap. 84 eine komplexe Syntaxis hat und die genannte Auslegung nicht unumstritten ist (s. Wolf 2000), drängen jedoch logische und praktische Überlegungen zu einer Interpretation, die die Prorogationsklausel (Irn. 84, ll. 17 s.: de is rebus item, si uterque inter quos ambigetur volet, rell.) sowohl auf die Streitwertgrenze als auch auf die sachliche Kompetenz des Duumvir anwendbar hält. Es ist daher zu vermuten, dass die Munizipalgesetze der Zeit dem Statthalter nur diejenigen Fälle reservierten, bei denen die eine oder die andere Partei nicht vor Ort prozessieren wollte, und (Irn. 84) darüber hinaus die praeiudicia de capite libero vorbehielten, d. h. spezielle Klagen, die über den Freiheits- oder Sklavenstatus einer Person entschieden (González 1986; Kaser und Hackl 1996; Lamberti 2016). Die Regel erklärt sich für Zivilsachen aus der Notwendigkeit, das tribunal des Statthalters – wo er sein conventus hielt – zu entlasten. Darüber hinaus konnte man
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auf diese Art und Weise den Einwohnern des municipium freie Entscheidung lassen, ihre Streitigkeit von ihnen bekannten Behörden örtlich bewältigen zu lassen oder die eigene Klage doch bei dem Statthalter einzureichen (und insofern die „lokale Autonomie“ bewähren zu lassen). Auch Überlegungen über die Höhe der Prozesskosten und -steuer könnten eine Rolle gespielt haben (Haensch 2015). Nach dem Muster des Formularprozesses enthalten die spanischen Munizipalgesetze entsprechenden Vorschriften, um den Verfahrensabschnitt in iure vor dem IIvir einzuleiten und den apud iudicem Abschnitt vorzubereiten und einzuleiten. Sollte der IIvir nach Kap. 84 keine Zuständigkeit haben (oder wollten die Parteien seine Zuständigkeit nicht begründen), stand ihm nach Erscheinen der streitenden Parteien die Aufgabe zu, den Geladenen dem Kläger versprechen zu lassen, sich an einem bestimmten Tag am Gerichtsort des Statthalters zu stellen (Ladungsvadimonium: „omnium rerum [quoqu]e de vadimonio promittendo in eum [locum in] quo is erit, qui [e]i provinciae praerit, futurusve esse videbitur … IIvir(i), qui ibi i(ure) d(icundo) praeerit, iuris dictio … esto“). Im Falle hingegen, dass der örtliche Gerichtsmagistrat zuständig war, sahen die Munizipalgesetze detaillierte Verfahrensvorschriften vor. Das Urteilsgericht (apud iudicem) wurde entweder von einem Einzelrichter (iudex unus) oder von einem Gremium (recuperatores) entschieden. Kap. 86 der lex Irnitana wies den Duumviri auf, innerhalb von fünf Tagen nach Amtsantritt drei Teillisten (decuriae) zu erstellen und diese öffentlich auszustellen: Sie sollten zu gleichen Teilen Mitglieder des ordo decurionum und anderer wohlhabender Bürger der Gemeinde beinhalten. In der Liste der Geschworenen durften decuriones und municipes stehen, die für das Jahr nicht am Richteramt gehindert waren, ein Mindestalter von 25 Jahren hatten und ein Mindestvermögen von (in Irni) 5000 Sesterzen besaßen. In den darauffolgenden Kapiteln (87–88) regelte das Gesetz das Wahlverfahren, womit die Parteien auf der Basis genannter Listen zur Richterwahl gelangten. Was das iudex unus (nicht hingegen die recuperatores) anging, konnten die Parteien auch einen Geschworenen vorschlagen, dessen Namen nicht in den Richterlisten enthalten war. Der Duumvir sollte den listenfremden Richter, sofern dieser bestimmten allgemeinen Erfordernissen genügte (nach der lex Irnitana sollte er municeps sein), den Parteien erteilen. Wichtige Vorschriften der spanischen Stadtgesetze betreffen auch das sog. intertium denuntiare und das intertium dare. Der IIvir i.d. soll nach Kap. 90 der lex Irnitana den Parteien und dem Richter intertium dare, d. h. ein Datum festlegen, an dem die Streitsache vor den Geschworenen diskutiert werden kann. Die Parteien und der Richter konnten sich auch in dies non iudiciales treffen, um die Klage schnell zu einem Ende zu führen. Dem Richter war erlaubt, eine oder mehrere Male zu vertagen (diem diffindere), um sicher zu sein, mit den Parteien alle Einzelheiten des Falles diskutiert zu haben. Er sollte jedoch irgendwann sein Urteil abgeben (sententiam dicere), denn die lex Irnitana (Kap. 91) sah als autonomen Tatbestand, der den Täter den Parteien gegenüber schadensersatzpflichtig machte, die Tatsache vor, dass der Geschworene weder vertagte noch zu einem Urteil kam (denì de justice).
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2 Kernprobleme und Forschungsbericht Vor der Entdeckung der lex Irnitana im Jahr 1986 und der sog. lex Rivi Hiberiensis im Jahr 2006 (eine lex paganica, die ebenso einige Informationen über den Formularprozess in Spanien in der Zeit Kaiser Hadrians liefert, Beltrán Lloris 2006; Buzzacchi 2013) waren unsere Kenntnisse über die prozessualen Regeln, die die römischen und lateinischen Städte in den westlichen Provinzen regelten, viel fragmentarischer. Darüber hinaus hat insbesondere das flavische Stadtgesetz wichtige Informationen auch hinsichtlich des Formularverfahrens in Italien geliefert. Wir wissen beispielsweise jetzt definitiv aufgrund Irn. 86, dass die Parteien auch einen listenfremden Richter für ihre Streitigkeit wählen konnten, und dass die Regel bestimmt auch für Rom und Italien gal. Dieser Umstand war vor der Entdeckung des Munizipalgesetzes umstritten (La Rosa 1958, 1989). Irn. 91 liefert wichtige Informationen über die diffissio diei und das sog. lis damni iudici esse. Durch Irn. 85 ist außerdem der Umstand bestätigt worden, der schon in der lex Rubria einen Anhaltspunkt zu haben schien, dass den Munizipalmagistraten auch Mittel zur Verfügung stehen, die magis imperii quam iurisdictionis waren, wie beispielsweise interdicta und stipulationes, die bis dahin die herrschende Lehre den Statthaltern vorbehalten glaubte (González 1986; D’Ors und D’Ors 1998; zuletzt Torrent 2008). Dennoch sind noch viele Fragen offen. Es bleibt beispielsweise fraglich, ob die verfahrensrechtlichen Regelungen der spanischen Munizipalgesetze auf ein augusteisches Gesetz (lex Iulia municipalis) zurückgehen (D’Ors und D’Ors 1998; Talamanca 1999) oder auf eine neue Fassung zurückzuführen sind, die als gemeinsame Vorlage der flavischen Stadtrechte diente und die ebenso in flavischer Zeit verfasst sein sollte (in diesem Sinne bspw. Luraschi 1989; Lamberti 1993; unentschieden Lamberti 2016). Es ist auch in Frage gestellt worden, inwieweit die detaillierten prozessualen Vorschriften der spanischen Stadtgesetze tatsächlich in der Provinz angewandt und durchgesetzt wurden. Eine vor der spanischen Entdeckung (häufig vertretene) Lehrmeinung behauptet, dass das Formularverfahren außerhalb Italiens nur eine formelle Geltung gehabt hätte, während in den Provinzen (zumindest in den kaiserlichen Provinzen) sich sehr früh die cognitio extra ordinem durchgesetzt hätte (Wlassak 1919; Simshäuser 1973; Talamanca 1990), u. a. weil im Falle der statthalterlichen Gerichtsbarkeit die Zuständigkeit zum Formularverfahren sowie zur cognitio e.o. anders als in Rom in den gleichen Händen vereinigt war. Sowohl die lex Irnitana als auch die lex Rivi Hiberiensis haben jedoch zu einem (partiellen) Paradigmenwechsel geführt: Zumindest in den senatorischen Provinzen habe das Formularverfahren noch bis in das 2. Jahrtausend n. Chr. hinein Geltung und Anwendung gehabt, wie man aus den spanischen Zeugnissen entnehmen kann (Hackl 1999; Spagnuolo Vigorita 2003; Nörr 2008; Buzzacchi 2012). Eine vor Kurzem aufgefundene Wachstafel aus Augustobona Tricassium, in der Gallia Lugdunensis, die ein vad(i)moniu(m) Nertae für die Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. bezeugt, hat neue Fragen hinsichtlich der Lebendigkeit des Formularprozesses auf provinzialer Ebene aufgeworfen und die Debatte wiederbelebt (Frei-Stolba et al. 2016).
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Viele offene Detailfragen beziehen sich auf das praktische Funktionieren von Rechtseinrichtungen wie das intertium, die comperendinatio, das diem diffindi und das lis damni iudici esse, die insbesondere im Kap. 91 der lex Irnitana erwähnt werden, aber im Prinzip auf stadtrömisches Recht verweisen, ohne dass sie im Detail im Gesetz beschrieben werden. Es handelt sich im Grunde um Probleme, die ohne neue Befunde keine (definitive?) Antwort erhalten können.
3 Bibliographie Beltrán Lloris F (2006) An irrigation decree from Roman Spain: the Lex Riui Hiberiensis. J Roman Stud 96:147–197 Buzzacchi C (2013) Lex Rivi Hiberiensis: per un’indagine sul processo civile nelle province. L’Erma di Bretschneider, Roma Domingo R (1993) Estudios sobre el primer título del edicto pretorio. 2. El edicto de competencia jurisdiccional. Universidade de Santiago de Compostela, Santiago de Compostela Donadio N (2011) Vadimonium e contendere in iure. Tra ‚certezza di tutela‘ e ‚diritto alla difesa‘. Giuffrè Editore, Milano D’Ors A, D’Ors X (1998) Lex Irnitana. Texto bilingüe. Universidade de Santiago de Compostela, antiago de Compostela Faoro D (2011) Praefectus, procurator, praeses. Genesi delle cariche presidiali equestri nell’Alto Impero Romano. Le Monnier, Firenze Frei-Stolba R, Hartmann B, Roms C (2016) Vadimonium Nertae. Zum römischen Privatrecht in den gallischen Provinzen (Taf. 20). Tyche 31:149–155 Gallo A (2018) Prefetti del pretore e prefetture. L’organizzazione dell’agro romano in Italia (IV-I sec. a.C.). Edipuglia, Bari Garnsey P (1968) The criminal jurisdiction of governors. J Roman Stud 58:51–59 González J (1986) The lex Irnitana. A new copy of the flavian municipal law. J Roman Stud 76:147–243 Hackl K (1999) Il processo civile nelle province. In: Milazzo F (Hrsg) Gli ordinamenti giudiziari di Roma imperiale. ‚Princeps‘ e procedure dalle Leggi Giulie ad Adriano. Atti del Convegno di diritto romano, Copanello 1996. ESI, Napoli, S 299–317 Haensch R (2015) From free to fee? Judicial fees and other litigation costs during the high empire and late antiquity. In: Kehoe DP, Ratzan DM, Yiftach U (Hrsg) Law and transaction costs in the ancient economy. University of Michigan Press, Ann Arbor, S 253–272 Kaser M, Hackl K (1996) Das römische Zivilprozessrecht, 2. Aufl. C. H. Beck, München, S §§ 24–§§ 27 Laffi U (1999) Osservazioni sul contenuto e sul testo del ‚fragmentum Atestinum‘. In: González J (Hrsg) Ciudades privilegiadas en el Occidente romano. Secretariado de Publicaciones, Universidad de Sevilla, Sevilla, S 159–176 Laffi U (2007) Colonie e municipi nello stato romano. L’Erma di Bretschneider, Roma Lamberti F (1993) Tabulae Irnitanae. Municipalità e ius Romanorum. Jovene Editore, Napoli Lamberti F (2002–2003) L’Irnitana maggiorenne. Memorias de historia antigua 23–24:21–39 Lamberti F (2016) La giurisdizione nei municipia dell’occidente romano e il cap. 84 della lex Irnitana. In: Haensch R (Hrsg) Recht haben und Recht bekommen im Imperium Romanum. Das Gerichtswesen der römischen Kaiserzeit und seine dokumentarische Evidenz. University of Warsaw, Faculty of Law and Administration, Chair of Roman Law and the Law of Antiquity, Warszawa, S 183–211 La Rosa F (1958) Decemviri e centumviri. Labeo 4:14–54 La Rosa F (1989) La lex Irnitana e la nomina del giudice. Iura 40:63–74
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Kapitel 32
Konfliktlösung im römischen Heer Gabriele Wesch-Klein
1 Übersicht Rechtsstellung des Soldaten Mit der Schaffung eines stehenden Heeres durch den ersten Prinzeps Augustus (30 v. Chr.–14 n. Chr.) verlor die allgemeine Wehrpflicht an Bedeutung, wurde aber nie abgeschafft. Der Militärdienst galt aufgrund regelmäßiger Soldzahlungen, Aufstiegschancen, des in Lagern und zugehörigen Zivilsiedlungen herrschenden Lebensstandards offensichtlich als attraktiv. Soldaten, die mehrheitlich im Alter von ca. 17–18 Jahren eingetreten sein dürften, dienten in der Kaiserzeit ca. 25–30 Jahre, bis sie als ehrenhaft Entlassene ihr weiteres Leben als Veteranen zubringen konnten. Das Römische Heer fußte wie alle Streitkräfte auf dem Prinzip des Gehorsams und der Gehorsamspflicht. Rechte, Aufgaben sowie Kompetenzen von Soldaten und Offizieren waren klar definiert. Verstieß ein Soldat gegen dieses Regelwerk, die disciplina militaris, hatte er mit Bestrafung zu rechnen. Die Rechtsquellen legen von Verstößen einzelner wie von Kollektiven ein beredtes Zeugnis ab. Eine Auflistung von Militärstrafen verdanken wir dem römischen Juristen Modestinus (erste Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.). Sie reichen von körperlicher Züchtigung, Straf arbeit über zwangsweise Versetzung, Degradierung, unehrenhafte Entlassung (Dig.49,16,3,1) bis hin zur Todesstrafe. Diese stand etwa auf Tätlichkeiten gegenüber dem Vorgesetzten, wobei die Schwere des Vergehens mit dessen Rang stieg (Dig.49,16,6,1–2), den Verrat von Geheimnissen an den Feind (Dig.49,16,6,4) oder Flucht während des Kampfgeschehens als erster (Dig.49,16,6,3; vgl. Dion.Hal. ant.9,50,6–7).
G. Wesch-Klein (*) Universität Heidelberg, Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_32
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G. Wesch-Klein
Des Weiteren begingen Soldaten Straftaten, die ebenso von Zivilisten ausgeführt werden konnten, wie beispielsweise Diebstahl oder Inzest. Daher teilte man die von Soldaten verübten Straftaten in zwei Gruppen ein: in mit Strafe bedrohte Handlungen, die nur ein Soldat begehen konnte, und in solche, die ebenfalls von Zivilisten verübt wurden (Dig.49,16,2). Gemäß Arrius Menander handelt es sich bei allem, womit der Soldat gegen die Disziplin verstieß, um ein Militärdelikt (Dig.49,16,6 pr.); ausdrücklich erwähnt er segnitas (Trägheit), contumacia (Frechheit) und desidia (Untätigkeit). Diverse Vergehen, derer sich sowohl Zivilisten als auch Soldaten schuldig machen konnten, wurden bei Soldaten strenger bestraft als bei Zivilisten. Als Beispiele führt der unter Alexander Severus (222–235 n. Chr.) wirkende Jurist Aemilius Macer unter Berufung auf seinen unter Septimius Severus (193–211 n. Chr.) und Caracalla (211–217 n. Chr.) tätigen Kollegen Arrius Menander die Ausübung der verpönten Schauspielkunst und den betrügerischen Selbstverkauf in die Sklaverei an (Dig. 48,19,14). Gemäß Modestin wurde Majestätsbeleidigung bei Soldaten härter bestraft als bei Zivilisten (Dig. 48,4,7,4: maxime exacerbatur in milites). Da der Soldat mit einer derartigen Handlung seinem Eid zuwider handelte, war eine harte Strafe angemessen. Disziplinarische Verstöße ahndeten die Vorgesetzten, meist die Zenturionen, direkt (Dig.49,16,13,4). Schwerere Vergehen von Soldaten und Streitigkeiten von Soldaten untereinander wurden im Lager vor einem Militärgericht verhandelt, dem der Kommandeur oder ein eigens als Richter eingesetzter Offizier vorstand (Dig. 48,3,9). Der Form nach waren diese Prozesse formulare Einzelrichterprozesse, deren Beisitzer der Richter aus den Reihen der Offiziere nahm. Schwere Fälle wurden an den Statthalter verwiesen. In den sogenannten Einlegionenprovinzen fungierte der Statthalter ohnedies zugleich als Kommandeur der dort stationierten Legion. In den Provinzen kam dem Statthalter die oberste Gerichtsbarkeit sowohl in zivilen als auch in militärischen Belangen zu; ihm eignete die Kapitalgerichtsbarkeit über römische Bürger. Der Statthalter seinerseits konnte den Herrscher in Rom als höchste richterliche Instanz im Reich um sein Urteil bitten. Römische Bürger hatten die Möglichkeit, gegen den Urteilsspruch des Statthalters beim Herrscher Widerspruch einzulegen. Der Militärdienst legte dem Einzelnen in Hinblick auf diverse Rechtshandlungen Beschränkungen auf. Wohl aufgrund einer Disziplinarvorschrift des ersten Prinzeps Augustus (30 v. Chr.–14 n. Chr.) war Soldaten die Eheschließung untersagt. Ebenso durften Soldaten diverse Rechtsgeschäfte nicht vornehmen. Beispielsweise waren Erwerb und Pachtung von Nutzland (praedia) verboten, denn der Soldat sollte durch landwirtschaftliche Aufgaben nicht von seinem Dienst abgehalten werden (Dig. 18,1,62pr.; 19,2,50; 49,16,9pr. und 13pr.; vgl. Cod.Iust. 4,65,31 und 35 [Verbot Häuser zu mieten]; 12,35,15; Jung 1982, S. 942–945; Ausnahmen: Erwerb väterlichen Besitzes, der wegen Steuerschulden zur Veräußerung durch den Fiskus anstand: Dig. 49,16,9pr. und spätestens seit Beginn des 3. Jh. n. Chr. ererbter Grundbesitz; Dig.49,16,9,1). Hingegen konnten Häuser gekauft werden, desgleichen in einer anderen Provinz gelegenes Nutzland, da dieses vom Soldaten aufgrund der räumlichen Distanz nicht selber bewirtschaftet werden konnte.
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Anderseits sind die Vorteile bemerkenswert, die ein Soldat aus dem Ansehen seines Berufes bzw. der Bedeutung des exercitus Romanus zog. Die stete Sorge der Herrscher um Loyalität, Ruhe und Ordnung in den Streitkräften führte zu einer Vielzahl von Privilegien. Auffällig ist zunächst das Bemühen, Soldaten vor nach teiligen Folgen ihrer mangelnden Rechtskenntnis zu schützen (Dig. 22,6,9,1; Inst.2,11pr.; Cod.Iust. 1,18,1). Wurde ein Soldat eines Kapitalverbrechens überführt, blieben ihm entehrende Todesarten und Folterung erspart. Im Fall der Zwangsvollstreckung konnte nach einem Reskript Caracallas (216 n. Chr.) der Sold erst gepfändet werden, wenn der Gläubiger nicht mehr in andere Vermögensgegenstände vollstrecken konnte (Cod.Iust. 7,53,4). Grundsätzlich war die Vollstreckung auf das beschränkt, was ein Soldat zu leisten im Stande war (quod facere potest). Damit war er gegenüber einem Zivilisten deutlich im Vorteil, denn für gewöhnlich waren Schuldknechtschaft und Verlust aller Habe und letztlich Infamie die Folge der Zwangsvollstreckung (Kaser 1971, S. 482–483 mit Anm. 48).
Soldatentestament Ein Soldat genoss bei der Errichtung eines testamentum militis zahlreiche Vorteile gegenüber Zivilisten, denn dieses war von den meisten Testamentsvorschriften befreit (Dig. 29,1; Inst. 2,11). Selbst ein unfertiges Testament war im Todesfall gültig (Dig. 29,1,35). Ein in der Hausgewalt seines Vaters stehender Sohn, dem an sich keine testamenti factio zukam, konnte dank kaiserlicher Konstitutionen von Augustus über sein peculium castrense, also über das, was er als Soldat erworben hatte, ein Testament errichten (Inst. 2,12pr.; Ulpian, epit. 20,10); Hadrian dehnte dieses Vorrecht auf Veteranen aus (Inst.2,12pr.; Lehmann 1982, S. 266–269). Auch Freigelassene, die Militärdient leisteten, durften über ihr peculium castrense frei testieren (Dig. 38,2,3,6; vgl. 38,2,42,1). Das Soldatentestament war weitestgehend von formalen Vorschriften befreit. Personen, welchen sonst der Erwerb von Erbschaften oder Vermächtnissen unmöglich war, namentlich Unverheirateten, denen die Sittengesetze des Augustus (erlassen 18 v. Chr.) den Erwerb einer Erbschaft oder eines Vermächtnisses untersagten, sowie Latiner und Peregrine konnten von einem Soldaten wirksam in vollem Umfang zu Erben bestimmt bzw. mit einem Vermächtnis bedacht werden. Vom Soldaten eingesetzte Kinderlose, die gemäß der lex Papia nicht mehr als die Hälfte einer Erbschaft oder eines Vermächtnisses erwerben durften, erhielten das Ganze (Gai. Inst. 2,109–111; siehe auch Dig. 29,1,1pr.; 29,1,24; 29,1, 40pr.; 37,13,1,1; Inst. 2,11 und12 pr.; Gai. epit. 10,1–3). Gemäß dem Zivilrecht mussten sui heredes ausdrücklich enterbt werden; in einem Soldatentestament reichte deren Übergehen. Die fehlende Enterbung eines heres suus führte beim Testament eines Soldaten anders als beim Zivilisten nicht zu dessen Ungültigkeit. Bevorrechtigt war der Soldat zudem dadurch, dass er über Teile seines Vermögens testamentarisch verfügen konnte, also gegebenenfalls testamentarische und Intestaterbfolge parallel zum Zuge kamen; ebenso war die Erbeinsetzung auf Zeit oder unter auflösender Bedingung zulässig (Gai. 2,109; vgl. Dig.
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29,1,6; 29,1,19pr.; 36,1,3,1; 49,17,19,2; Inst. 2,14,5; Cod. Iust. 6,21,12 und 6,50,7; Kaser 1971, S. 681; Schmetterer 2012, S. 76–79). Schließlich unterlag ein Soldat hinsichtlich der Gewährung von Legaten nicht den Beschränkungen der lex Falcidia; er konnte somit mehr als Dreiviertel seines Nachlasses wirksam als Legat aussetzen (Dig. 29,1,18pr.; Kaser 1971, S. 681; Steinwenter 1925, Sp. 2350). Während es einem Soldaten möglich war, seine Rechte gerichtlich selber durchzusetzen (Cod.Iust. 2,12,9), war ihm die Prozessführung für eine andere Person, selbst für Vater oder Mutter, untersagt, da solche Aktivitäten der utilitas publica, also dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Dienstpflichten und der uneingeschränkten Kampfbereitschaft des Soldaten zuwiderliefen (Dig. 3,3,8,2; Cod. Iust. 2,12,7. 9 und 13; Inst. 4,13,11; Jung 1982, S. 948–953; Kaser and Hackl 1996, S. 212 mit Anm. 21). Allerdings konnte er bei Streitigkeiten um die Freiheit eines Verwandten als Prozessvertreter (adsertor in libertatem) auftreten (Dig. 40,12,3,1). Diese Regelung ist verständlich, denn die Frage, ob jemand frei oder Sklave war, war von allgemeinem Interesse. Außerdem konnte der Status eines der nächsten Angehörigen auf den Personenstand und den Beruf des Soldaten gravierende Rückwirkungen haben, denn Unfreie waren vom Dienst im exercitus Romanus ausgeschlossen (Dig. 49,16,11). Ebenso durften Männer, über deren standesrechtlichen Status Unklarheit bestand, keinen Wehrdienst leisten (Dig. 49,16,8),
Konflikte mit Zivilisten Soldaten gerieten auch mit Zivilisten in Streitigkeiten, zu deren Beilegung oft genug eine richterliche Entscheidung gesucht wurde. Als gesichert kann gelten, dass sich der Soldat als Kläger gegen einen Zivilisten der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu bedienen hatte; allerdings hatten Prozesse, die Soldaten führten, offenbar Vorrang vor anderen, wurden also schneller entschieden. Da sich ein Soldat nicht unerlaubt aus dem Lager entfernen durfte, benötigte er für eine Klageverfolgung aus eigenem Recht die Erlaubnis seines Befehlshabers (Behrends 1970, S. 219–220). Bleibt zu klären, wie es sich mit Passivprozessen verhielt. Behrends vertritt gegenüber älteren Ansichten, die Mommsen (1899, S. 288) prägte, die Auffassung, dem Soldaten sei, wenn er beklagt wurde, ein privilegium fori zugekommen, das heißt, der Kläger musste dem Soldaten ins Lager folgen (vgl. Jung 1982, S. 954–960). War ein Soldat im dienstlichen Auftrag unterwegs, konnte er bis zu seiner Rückkehr nicht gerichtlich belangt werden; das heißt, ihm erwuchsen aus seiner Abwesenheit rei publicae causa keine Nachteile. Soldaten durften zudem, da ihre Anwesenheit bei der Truppe Vorrang hatte, nicht an einen entfernten Gerichtsort als Zeugen vorgeladen werden. Allerdings war es einem Mann, der Soldat wurde, nachdem er vor Gericht geladen worden war, untersagt, das Verfahren an seinen Gerichtsstand zu ziehen (Dig. 5,1,7).
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Familiäre Konflikte Der Papyrus Cattaoui recto (BGU I 112 = FIRA III 19 = M.Chr. 372) beinhaltet eine Sammlung von eherechtlichen Entscheidungen der Statthalter von Ägypten bzw. von ihm eingesetzter Richter aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. Da damals Soldaten aufgrund der Disziplinarvorschriften die Eheschließung versagt war, konnten sie weder eine rechtsgültige Ehe eingehen noch legitime Kinder zeugen. Bisweilen gingen Soldaten quasi-Ehen ein, das heißt die Frau gab ihrem „Mann“ eine Mitgift (dos). Um diese und einen weiteren als Darlehen gewährten Geldbetrag kam es nach der Trennung zwischen dem Soldaten Gemellus und seiner Partnerin Chtinbois in Koptos zum Streit. Gemäß richterlichem Entscheid vom 25. Februar 134 n. Chr. durfte der Soldat die dos behalten, da er als Soldat nicht heiraten konnte, ihm der Betrag folglich nicht wirksam gewährt worden war. Das Darlehen hingegen musste Gemellus zurückzahlen (P.Cattaoui 1,14–3,10). Soldaten zeugten während ihrer aktiven Zeit Kinder, die, weil unehelich, rechtlich gesehen illegitim, folglich nur mit ihrer Mutter und deren Verwandten verwandt waren (Inst. 3,5,4). Daher beantragte im Jahr 114 n. Chr. der Veteran Longinus die gesetzliche Anerkennung seiner beiden, ihm während seiner Militärzeit bei der cohors I Thebaeorum von seiner Lebensgefährtin, einer römischen Bürgerin, geborenen Söhne. Das Begehren wurde vom Statthalter Marcus Rutilius Lupus abschlägig beschieden, wohl weil er sonst die geduldete Verbindung der Eltern als Ehe indirekt anerkannt hätte; die Kinder blieben somit weiterhin unehelich und damit rechtlich vaterlos (P. Cattaoui 3,11–22). Um dennoch ihre Vaterschaft rechtskräftig belegen zu können, ließen Soldaten Dokumente aufsetzen, die die Geburt ihres Kindes unter Angabe von dessen Namen, Geburtstag und Mutter mittels Zeugen beurkundeten. Ausgefertigt wurden die Testate im Standlager der Einheit; ein Soldat musste also nicht eine zivile Instanz aufsuchen, sondern konnte diese Rechtsakte direkt in seinem Lager vornehmen lassen. Als Grund für Beantragung dieser Nachweise benannten die Väter die ihnen infolge des Militärdienstes auferlegten Beschränkungen: idcirco se hanc testationem interposuisse dixit propter districtionem militarem (Corp.P.Lat.159–161, ausgefertigt zwischen 123–138 n. Chr.). Seit Kaiser Hadrians Entscheid (119 n. Chr.), die illegitimen Soldatenkinder in der dritten Erbklasse als Erben ihres natürlichen Vaters zuzulassen (BGU I 140 = M.Chr. 373 = FIRA I 2. Aufl. 78), war ein Abstammungsnachweis nicht zuletzt in Hinblick auf die Erbberechtigung von entscheidender Bedeutung.
2 Kernprobleme der Forschung Qualifizierte neuere Arbeiten zum Soldatenrecht sind rar gesät. So fehlte bis zur Studie von Behrends (1970) eine Untersuchung der von Soldaten sowohl unterei nander als auch mit Zivilisten geführten Privatprozesse. Eine umfassende Erörte-
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rung der Entwicklung der Rechtsstellung des römischen Soldaten von den Anfängen Roms bis auf Diokletian verdanken wir Jung (1982). Er befasste sich unter anderem ausführlich mit der Stellung des Soldaten im Zivilprozess. Die Wiener Dissertation von Schmetterer (2012) beleuchtet ebenfalls unterschiedliche Aspekte der rechtlichen Stellung des Soldaten in der Prinzipatszeit. Erwähnung verdient zudem der Aufsatz von Lehmann (1982) zum Eigenvermögen des Soldaten unter väterlicher Gewalt. In Hinblick auf die antiken Quellen sei vorausgeschickt, dass die auf uns gekommenen juristischen Zeugnisse zum Soldatenrecht mehrheitlich aus dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. stammen. Doch ist wahrscheinlich, dass die sich in ihnen spiegelnde Rechtspraxis schon früher Usus war.
3 Bibliographie Behrends O (1970) Die römische Geschworenenverfassung. Schwartz, Göttingen Jung JH (1982) Die Rechtsstellung des römischen Soldaten. Ihre Entwicklung von den Anfängen Roms bis auf Diokletian. In: Temporini H, Haase W (Hrsg) Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II.14: Principat. de Gruyter, Berlin/New York, S 882–1013 Kaser M (1971) Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht, 2. Aufl. C. H. Beck, München Kaser M, Hackl K (1996) Das römische Zivilprozessrecht, 2. Aufl. C. H. Beck, München Lehmann B (1982) Das Eigenvermögen der römischen Soldaten unter väterlicher Gewalt. In: Temporini H, Haase W (Hrsg) Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II.14: Principat. de Gruyter, Berlin/New York, S 183–284 Mommsen T (1899) Römisches Strafrecht. Duncker & Humbolt, Leipzig Schmetterer C (2012) Die rechtliche Stellung römischer Soldaten im Prinzipat. Harrasowitz, Wiesbaden Steinwenter A (1925) Lex Falcidia. In: Kroll W (Hrsg) Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswiss. Neue Bearbeitung begonnen von G. Wissowa, Bd 12,2. Metzler, Stuttgart, S 2346–2353
Teil V
Länder und Regionen
Kapitel 33
Konfliktlösung und Konfliktvermeidung im antiken Israel Eckart Otto
1 Überblick Das Rechtssystem des antiken Israels im ersten vorchristlichen Jahrtausend ist dadurch geprägt, dass es weitgehend unabhängig von staatlicher Organisation als Laiengerichtsbarkeit funktioniert hat. In der ersten Hälfte dieses Jahrtausends hat der Staat erst im Übergang vom 7. zum 6. Jahrhundert in Gestalt rechtsgeschulter Richter Kontrollfunktion über die lokalen Laiengerichte übernommen. Mit dem Verlust der Staatlichkeit in der babylonischen Katastrophe zu Beginn des 6. Jahrhunderts ging in der zweiten Hälfte des Jahrtausends die staatliche Kontrolle zugunsten eines zunehmend priesterlich-religiösen Einflusses auf das Recht in persischer und hellenistischer Zeit verloren. Das biblische Recht Israels, dessen Hauptquelle die Tora der Mosebücher ist, hatte drei zu unterscheidende Funktionen. Das Strafrecht dient der Sicherung wechselseitiger Handlungserwartungen durch den Schutz von Handlungsnormen mittels der Generalprävention, das Konfliktregelungsrecht ohne Sanktionsfunktion als Vorläufer des modernen Zivilrechts soll der Gewaltminimierung durch Konfliktregelung und das Sakralrecht der Regelung des Verkehrs mit der göttlichen Sphäre dienen.
E. Otto (*) Ludwig Maximilians-Universität München, Evangelisch-theologische Fakultät, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_33
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E. Otto
2 Kernprobleme der Forschung Als ein Kernproblem der Forschung des biblischen Rechts im antiken Israel gilt die Lösung der Frage, wie die profanen Funktionen des Rechts mit seiner religiösen Rechtslegitimation verknüpft wurden, wie also Recht und Offenbarung miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Die neuere Forschung geht davon aus, dass mit einer erst literarisch sekundären Theologisierung des Rechts zu rechnen ist, das ursprünglich durch seine profanen Funktion der Gewaltreduzierung ausreichend legitimiert war und erst mit einer zunehmenden gesellschaftlich-sozialen Differenzierung der religiösen Legitimation der Funktion der Pazifizierung sozialer Konflikte bedurfte (Otto 1988). In der Alttestamentlichen Bibelwissenschaft wird bis heute kontrovers über den Ursprung der Gesetze des Zivil- und Strafrechts diskutiert worden. Da das kasuistische Zivilrecht Parallelen im babylonischen Codex Hammurapi und anderen mesopotamischen Codices des Keilschriftrechts aufweist, ging man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts davon aus, dass die Rechtssätze des biblischen Zivilrechts wohl unter Vermittlung von vorisraelitischen Kanaanäern in Israel rezipiert worden sind, während die Rechtssätze des apodiktischen Rechts unter Einschluss des Dekalogs Gottesrecht aus der Wüste seien. Diese Annahmen haben sich nicht bestätigt. Für das kasuistische Zivilrecht des 1. Jahrtausends bedarf es nicht der Hypothese einer Rezeption von Keilschriftrecht des 2. Jahrtausends, um den Ursprung dieser Rechtssätze zu erklären. Vielmehr zeigt die hebräische Weisheit, dass in der Bevölkerung ein nomologisches Wissen beheimatet war, das in der lokalen Laiengerichtsbarkeit zur Anwendung kam, aus der die kasuistischen Rechtssätze hervorgingen. Das apodiktische Recht war nicht in der Wüste offenbartes Recht, sondern diente im Ursprung dem Schutz von Grundnormen der Familie als Rechtsgemeinschaft, ehe es an die Gerichtsinstitutionen abwanderte, die die Strafrechtsfunktion an sich zogen. Zusammen mit dem Zivilrecht wurde es schließlich theologisiert zur Tora. Werden im Verlauf des ersten Jahrtausends in einem komplexen literarischen Prozess alle Rechtssätze mit den drei Grundfunktionen von Strafrecht, Zivilrecht und Sakralrecht theologisiert auf die Offenbarung des Gottes Israel am Gottesberg Sinai zurückgeführt, so haben doch die Rechtssätze des Straf- und Konfliktregelungsrecht zunächst ihre eigene profane Rechtsbegründung in der Gewalt aufgrund von Konflikten minimierenden Funktion des Rechts. Im Strafrecht bedient sich das antike Israel der prinzipiell dem Strafrecht innewohnenden Paradoxie, die Gewalt in Konflikten aufgrund des Bruchs von Handlungsnormen durch die Androhung von Gewalt der Sanktion des Normenbruchs zu verhindern. Im antiken Zivilrecht Israels soll die pazifizierende Funktion der Konfliktregelung durch den Parteienausgleich zur Geltung gebracht werden. Das zivilrechtliche Konfliktregelungsrecht Das zivilrechtliche Konfliktregelungsrecht ist formgeschichtlich durch seinen zweigliedrig kasuistischen Aufbau von Fallbeschreibung in der Protasis („wenn …“) und Konfliktregulierung in der Apodosis („dann …“) gekennzeichnet, wofür der Rechtssatz zur Körperverletzung in Exodus 21, 18–19 ein gutes Paradigma abgibt:
33 Konfliktlösung und Konfliktvermeidung im antiken Israel
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„Wenn Männer miteinander streiten und einer den anderen mit einem Stein oder einer Hacke schlägt, sodass er zwar nicht stirbt, aber bettlägerig wird, falls er wieder aufstehen und draußen auf einen Stock gestützt umhergehen kann, soll der, der geschlagen hat, straffrei bleiben. Nur muss er dem Geschlagenen für die Zeit seines Daheimbleibens eine Entschädigung zahlen und für seine Heilkosten aufkommen.“ Dem kasuistischen Recht geht es im Torgericht – das Tor des Ortes ist der Tagungsort lokaler Gerichtsbarkeit – um ausgleichende Regulierung von Konflikten durch Verfahren in Gestalt des Rechtspalavers der Konfliktparteien, wobei dieses Verfahren allein schon die Funktion eines Ventils hat, um den Zorn der geschädigten Partei zu dämpfen, was noch dadurch verstärkt wird, dass sich Rede und Gegenrede der Parteien unter Beteiligung der Öffentlichkeit der lokalen Rechtsgemeinde in die Länge ziehen kann, ehe es zu einem Urteil in Gestalt eines Streitbeendigungsvorschlags kommt, sodass auch der Faktor Zeit und die Erschöpfung der beteiligten Parteien zur Abkühlung des Zorns der Geschädigten und zur Besänftigung der Gemüter beitragen können (Otto 1996). Mit Amos Oz kann man geradezu von einer „gesegneten Erschöpfung“ in Konflikten sprechen, die erst ermögliche, Konflikte, die unlösbar zu sein scheinen, zu beenden. Das gilt schon für das antike Konfliktregelungsrecht. Es handelt sich also um ein Schlichtungsrecht zur Heilung gestörter Sozialbeziehungen innerhalb der Gemeinde, wobei es sich bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. auf dem Lande um eine reine Laiengerichtsbarkeit ohne Beteiligung staatlicher Institutionen und ohne juristisch ausgebildetes Personal handelt. In der Laiengerichtsbarkeit wird von der Partei der Geschädigten Anklage erhoben. Die Gerichts öffentlichkeit übernimmt eine Zeugenfunktion und spricht das Urteil in Gestalt eines Streitbeendigungsvorschlags, der erst mit der Zustimmung beider Streitparteien rechtsgültig wird, sodass solange geredet und gestritten werden muss, bis eine Zustimmung beider Seiten möglich wird. Die Rechtssätze des kasuistischen Zivilrechts haben nicht die Rechtsgeltung moderner Gesetze positiven Rechts nach kontinentaleuropäischem Rechtsverständnis, sodass die Gerichte nicht den zu verhandelnden Fall rechtshermeneutisch auf den Gesetzestext beziehen. Vielmehr haben die Rechtssätze wie die Urteile Vorschlagscharakter, indem sie den laikalen Rechtsgemeinden Hinweise darauf geben, auf welche Fallmerkmale zu achten hilfreich sein kann, um einen Fall in einem Streitbeendigungsvorschlag einer Lösung zuzuführen. Im Falle der Körperverletzung ist nach Exodus 21, 18–19 darauf zu achten, dass es sich um eine nicht tödliche Verletzung handelt, die auch nicht auf Dauer vom öffentlichen Leben ausschließt. Sind diese Fallmerkmale gegeben soll als Urteil statt einer Strafe nur eine Wiedergutmachung in Form der Zahlung von Heilkosten und des Verdienstausfalls verfügt werden. Auch soll sichergestellt werden, dass der Täter nicht vorsätzlich gehandelt hat, sondern die Verletzung vielmehr als Folge eines Streits ad hoc zugefügt wurde. Der Funktion der kasuistischen Rechtssätze des Konfliktregelungsrechts, der Lokalgerichtsbarkeit als Anhalt für die Urteile im Sinn der Streitbeendigungsvorschläge zu dienen, entspricht auch ihre Entstehung im Kontext dieser Laiengerichtsbarkeit, da sie selbst das Ergebnis von Rechtsentscheidungen dieser Gerichte sind, die ihre Urteile in Gestalt von Rechtserzählungen, die den keilschriftlichen Gerichts protokollen vergleichbar waren, tradierten. Sie bewahrten die Urteile im kollektiven
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Gedächtnis, indem sie die Erzählungen zu allgemeinen kasuistischen Sätzen verdichteten und so als Vorbild applikabel auf ähnlich gelagerte Fälle machten. Auf diese Weise konnte durch die Rechtssätze ein Maß an Rechtskontinuität in der Entscheidungsfindung der lokalen Rechtsgemeinde gesichert werden, und, indem die Rechtssätze zwischen den lokalen Rechtsgemeinden ausgetauscht wurden, so etwas wie überregionale Rechtssicherheit entstehen. So wurde die Schlichtungsfunktion des Rechts mit wachsender überregionaler Autorität von Rechtsentscheidungen gesteigert. Insgesamt haben die Rechtssätze des kasuistischen Rechts die Funktion, Rache der geschädigten Partei an der des Verursachers des Schadens zu unterbinden zugunsten der Wiedergutmachung des Schadens. Auf diese Weise wird die Dialektik von Gewalt und Gegengewalt außer Kraft gesetzt und Rache umgelenkt auf die Wiedergutmachung von Schaden, was im Interesse der Gemeinschaft ist, wenn der Schaden nicht noch durch die Rache verdoppelt wird. Nur Tötungsdelikte sind prinzipiell im biblischen Recht von Wiedergutmachung durch Ersatzleistung ausgenommen, was das biblische Recht vom Keilschriftrecht Mesopotamiens unterscheidet. Die Idee der Inkommensurabilität eines Menschenlebens hat ihren Grund in der biblischen Anthropologie, die in späterer Zeit durch das Motiv der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Genesis 1,26) ausgedrückt wird. Das Paradox der Gewaltminderung durch Gewaltandrohung im Strafrecht Wie das Gewalt pazifizierende Konfliktregelungsrecht hat auch das Gewalt der Sanktion androhende Strafrecht eine Gewalt mindernde Funktion, das Gewalt androht, um Gewalt durch den Bruch von grundlegenden Handlungsnormen zu verhindern. Die Paradoxie des Strafrechts ist eine doppelte, wenn es, hier als Paradigma genommen, die vorsätzliche Tötung eines Menschen in Exodus 21, 12–14 mit der Todessanktion belegt: „Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, soll getötet werden. Hat er ihm aber nicht aufgelauert, sondern Gott es seiner Hand geschehen lassen, dann werde ich dir ein Heiligtum bestimmen, wohin er fliehen soll. Doch wenn jemand an seinem Nächsten vorsätzlich handelt, indem er ihn hinterlistig umbringt, dann sollst du ihn von meinem Altar entfernen, damit er hingerichtet wird.“ Dieser Rechtssatz unterscheidet zwischen Mord, der durch Vorsatz gekennzeichnet ist, und Tötung ohne Vorsatz. Möglicherweise ist schon die fahrlässige Tötung schon Jahrhunderte vor Antifon, der diesen Tatbestand im griechischen Recht beschrieb, im Blick. Deuteronomium 19, 4–5 rechnet dazu nämlich den Arbeitsunfall mit folgender Tatbestandsdefinition: „zum Beispiel, wenn er (der Täter) mit einem anderen in den Wald geht, um Bäume zu fällen, seine Hand mit der Axt ausholt, um einen Baum zu fällen, das Eisenblatt sich vom Stil löst und den anderen trifft, sodass dieser stirbt“ In diesem Fall wird das Geschehen nach Exodus 21, 13–14 der Gottheit zugeschrieben, die „es seiner Hand geschehen ließ“, was eine Umschreibung für höhere Gewalt ist, sodass in diesem Fall keine Todessanktion angezeigt ist, sondern der Täter am Altar des Heiligtums Asyl finden kann, bis die Frage des Vorsatzes und damit der Fall gerichtlich geklärt ist. Eine Pazifizierung von Gewalt durch Verfahren greift auch hier, insofern im ursprünglichen Recht die Tötung eines Menschen die
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Todesstrafe in jedem Fall nach sich zog, nun aber durch das Rechtsverfahren die Erfolgshaftung zu einer Verschuldenshaftung einige Jahrhunderte vor Drakon, Solon und Antiphon weiter entwickelt und zwischen Mord sowie fahrlässiger Tötung/ Körperverletzung mit Todesfolge unterschieden werden konnte. Die doppelte Paradoxie des Strafrechts besteht darin, dass durch die Generalprävention angedrohter Strafgewalt ein potentieller Täter abgeschreckt werden soll, eine Gewalttat wie die eines Mordes zu begehen und also jede Form der Strafgewalt überflüssig wird. Dafür wird im Strafrecht das Risiko in Kauf genommen, dass der Generalprävention zum Trotz die zu schützende Handlungsnorm dennoch gebrochen wird, so dass zum Schaden, der durch das Verbrechen für die Gemeinschaft entstanden ist, nun ein zweiter Schaden durch Vollzug der Sanktion, zum Mord also die Tötung des Täters hinzukommt, der Schaden also verdoppelt wird. Das biblische Recht ist hier aufgrund der Anthropologie, die von dem inkommensurablen hohen Wert des menschlichen Lebens ausgeht, einen sehr konsequenten Weg zu seinem Schutz gegangen, der aber mit hohen Risiken für die Rechtsgemeinschaft behaftet ist. Den Rechtssy stemen stehen auch andere Möglichkeiten zur Verfügung, die das Risiko der Schadensverdoppelung durch Strafe vermeiden sollen. Der afrikanische Student Gideon Syambwa (1983) hat eine Studie zum Vergleich des biblischen Rechts mit dem seines Stammes in Ghana vorgelegt, in der er aufzeigt, dass in seinem Stamm im Falle des Tötungsdelikts innerhalb einer Familie keine strafrechtlichen Konsequenzen gezogen werden, sondern die für die Familie negativen Wirkungen des vergossenen Blutes auf die Familie durch kultische Reinigungsriten eingedämmt werden, um auf diese Weise zu verhindern, dass die Familie neben dem Getöteten noch ein zweites Mitglied verliert, die Heilung der gestörten Sozialbeziehungen in der Familie also der Magie überantwortet werden. Die Frage nach der ursprünglichen Rechtsfunktion im antiken Israel Besteht im antiken Israel ein Nebeneinander von kasuistischem Zivilrecht in Gestalt eines Konfliktregelungsrecht neben dem Strafrecht, so stellt sich die Frage, welche dieser beiden Rechtsfunktionen die ursprünglichere ist, ob also die Straffunktion zur Sicherung der wechselseitigen Handlungserwartungen der Funktion der Konfliktregelung vorausgeht oder umgekehrt. Auch in den Grundlagenfächern der Rechtswissenschaft wird diese Frage diskutiert. Von Vertretern der Rechtsethnologie wird ausgehend von Malinowski (1959) der Ursprung des Rechts in Reziprozitätsbeziehungen gesehen, die eine Affinität zur Funktion des Rechts haben, Konflikte zu schlichten. Diese Position wird u. a. auch von Sigrist (1979, S. 105–125) vertreten. Umgekehrt hat Hoebel (1968, S. 29 ff.) gerade in der Sicherung von Handlungsnormen durch Prävention der Sanktionsandrohung bei Bruch einer Handlungsnorm die ursprüngliche Funktion des Rechts gesehen. Luhmann (1972, S. 145 ff.) erklärte daran anknüpfend die Sicherung von wechselseitigen Handlungserwartung zur Grundfunktion des Rechts: „ Vergeltung ist die elementare, nahezu voraussetzungslos institutionalisierbare, zeitlich-sachlich-soziale Generalisierung des Rechts; sie ist gleichsam das zuerst einfallende Rechtsprinzip. Sie soll die Erwartung als Erwartung erhalten -nicht sie durch Beseitigung des Sachschadens noch nachträglich erfüllen. Der Schwerpunkt liegt in der expressiven Funktion.
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aher ist Rache zunächst ‚mit Recht‘ maßlos“ (a.a.O., S. 155). Diese Alternativen D sind für die Rechtsfunktionen des biblischen Rechts wenig tragfähig. Vielmehr sind beide Rechtsfunktionen gleich ursprünglich, nur sind sie in unterschiedlichen Segmenten der Gesellschaft beheimatet (Otto 1988). Das Strafrecht ist in Gestalt des sog. apodiktischen Rechts, das sich in einigen Geboten des Dekalogs, der seinen Kern in Gesetzen des Strafrechts wie dem Tötungsverbot hat, und in den entsprechen Formulierungen des Todesrechts wie in Exodus 21,12 erhalten hat, als Grenzrecht in gentilen Gemeinschaften wie den Großfamilien beheimatet. Als Grenzrecht wird dabei ein Recht bezeichnet, das bei Übertretung seiner Normen den Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft in Gestalt der Todessanktion nach sich zieht. Es hat im Ursprung in der Familie beheimatet die Funktion, Normen, die für die Familien überlebenswichtig sind, zu sichern. Der Raum der Großfamilie war der Ursprungsort der Straffunktion des biblischen Rechts, die durch den pater familias ausgeübt wurde, während das Konfliktregelungsrecht seinen Ursprung in der lokalen Rechtsgemeinde einer Vielzahl von Familien hat. Da derartige laikale Ortsgemeinschaften als im Ursprung akephale Gesellschaften keine dem pater familias in den Großfamilien vergleichbare Autorität der Rechtsdurchsetzung kannten und bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. der Staat keine Funktion im Rechtsleben auf dem Lande hatte, waren ursprünglich die akephalen lokalen Rechtsgemeinden auf den Kompromiss zur Konfliktregelung als Rechtsfunktion beschränkt. Die Familie war also mit dem Sanktionsrecht als Grenzrecht betraut keineswegs ein gewaltfreier Rechtsraum im Gegensatz zum interfamiliar – öffentlichen Raum der Gewaltpazifizierung durch Konfliktregelung. Erst im Laufe der israelitischen Rechtsgeschichte wanderte die Straffunktion des Rechts in Gestalt des Strafrechts aus dem Kontext der Familie aus und wurde an die lokalen Gerichte verlegt, so dass nunmehr auch im Strafrecht eine Pazifizierung der Strafgewalt durch Verfahren möglich wurde, wie es an Exodus 21, 12–14 mit der Unterscheidung von vorsätzlichem Tat des Mordes und nicht vorsätzlicher Tat der fahrlässigen Tötung/Körperverletzung mit Todesfolge ablesbar ist. Im apodiktischen Grenzrecht der familiaren Rechtsgemeinschaft musste jede Form der Tötung eines Menschen innerhalb der Familie unabhängig von den Tatumständen mit dem Tode sanktioniert werden, wie Exodus 21, 12 zeigt. Ehe die lokalen Gerichte die Straffunktion auch bei Kapitalverbrechen an sich zogen, kamen bei der Familiengrenzen überschreitende Tötung eines Menschen die Blutrache und bei der Körperverletzung die Talion „Auge um Auge, Zahn um Zahn …“als Rechtsinstitutionen der unmittelbaren Rechtsreaktion der Geschädigten oder ihrer Familien zum Zuge, die aber mit Überführung des Strafrechts an die Lokalgerichte an Bedeutung verloren. Das zeigt sich literarisch im Bundesbuch Exodus 21–23, dem ältesten Rechtkorpus der Hebräischen Bibel, darin, dass die Talionsformel der Körperverletzung in Exodus 21, 24–25 durch kasuistisches Konfliktregelungsrecht wie Exodus 21, 18–19 gerahmt und außer Kraft gesetzt wird, wobei die Konfliktregelungslösungen sich gegen den Straf- und Rachegedanken durchsetzt, weil so die Verdoppelung des Schadens zugunsten der Wiedergutmachung vermieden wird. Sowohl das Strafwie das zivilrechtliche Konfliktregelungsrecht bedürfen neben den profanen Rechtslegitimationen, Gewalt zu verhindern oder zu pazifizieren, keiner religiösen Legi timation. Erst als die israelitische Gesellschaft einer zunehmenden sozialen
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Differenzierung in arme und reiche Schichten angesichts einer zunehmenden Hie rarchisierung und Arbeitsteilung der Gesellschaft unterworfen wurde, geriet die profane Rechtslegitimation mit der sozialen Zerklüftung der sie tragenden lokalen Gerichte in die Krise, die durch eine Theologisierung des Rechts mit der Rückführung auf Gott als Rechtsquelle am Sinai aufgefangen wurde (Otto 1988). Mit der Theologisierung des Rechts verbunden war eine Ausdifferenzierung von Recht und Ethik, die als Auswanderung der Ethik als eigenständig aus dem Recht zu beschreiben ist. Gewaltminimierung im Ethos der hebräischen Weisheit Neben den in der Tora der fünf Mosebücher versammelten Rechtsüberlieferungen hat die hebräische Weisheit der Proverbien ein Ethos der Konfliktvermeidung entwickelt, das auch für die Funktion der Streitbeendigung in der lokalen Gerichts institution von grundlegender Bedeutung ist. Die israelitische Weisheit der Proverbien hat ihren Ursprung in der Erziehung und Ausbildung der Jugend. Sie verbindet mit dieser Aufgabe eine eigenständige Ethik (Otto 1994, S. 117–174), die ihre Grundlage im weisheitlichen Erfassen von Ordnungsstrukturen im Miteinander der Menschen hat, um daraus Ratschläge für eine erfolgreiche Lebensführung abzuleiten. Ethisches Verhalten ist für die weisheitlichen Autoren in den biblischen Proverbien ein Verhalten, das die erkannte Ordnung in Natur und Gesellschaft zum Maßstab des Handelns nimmt, wobei weisheitliches Denken Ordnungen aus empirischen Erfahrungen ableitet und konstante Zusammenhänge und Verknüpfungen von Ursache und Wirkung konstatiert. Dazu gehört auch die Einsicht in häufige Ursachen von Konflikten, woraus Ratschläge zur Vermeidung und Beilegung von Konflikten abgeleitet werden. Die Weisheitslehrer machen negative Emotionen als eine Ursache von Konflikten aus, die es zu beherrschen gilt: „Ein zorniger Mensch verursacht Streit, ein langmütiger stillt den Streit“ (Proverbien 15, 18) Hass, Zorn und Wut werden unter die negativen Emotionen gerechnet, die Streit auslösen oder verschärfen: „Kohle ist Glut und Holz für Feuer, und ein streitbarer Mensch entzündet den Streit“ (Proverbien 26, 21) Zu den Haltungen, die Streit auslösen, gehört für weisheitliche Ethik auch die Abwertung und Verachtung eines anderen Menschen: „Wenn du verächtlich handelst, indem du dich über andere Menschen erhebst, und wenn du es mit Überlegung tust – die Hand auf den Mund. Denn Druck auf die Milch führt zu Butter, Druck auf die Nase zu Blut und Druck auf den Zorn zu Streit“ (Proverbien 30, 31–32) Eine Haltung, die den Zorn beherrscht und ihm nicht freien Lauf lässt, sondern Langmut übt, die die Hand auf den Mund legt und sich zurücknimmt, empfiehlt der Weisheitslehrer in Proverbien 1. Die Lehrer der Weisheit sind an der Vermeidung von Konflikten durch eine innere Haltung der Langmut und der Zurückhaltung bei der Durchsetzung eigener Interessen gegenüber anderen Menschen orientiert, was ethische Maxime sind, die für das Funktionieren der laikalen Gerichtsbarkeit dringend geboten sind. Den
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eisheitslehrern geht es anders als der Tora nicht nur um Rechtsverfahren der KonW fliktregelung, sondern auch um die Vermeidung von Konflikten durch eine innere Haltung der Langmut, die auch von der Verfolgung des eigenen Vorteils zurücktreten kann, um einen offenen Konflikt zu vermeiden oder zu entschärfen. Eine solche Haltung werde sich, davon sind die Weisheitslehrer überzeugt, langfristig als die einem krassen Durchsetzen der eigenen Interessen überlegen erweisen. „Wenn deine Augen etwas sehen, bringe es nicht sofort vor Gericht. Was wirst du sonst hinterher machen, wenn dein Nächster dich beschämt?“ (Proverbien 25, 7–8) Die Haltung der Langmut erweist sich noch dann, wenn ein Konflikt vor Gericht ausgetragen wird, als dem Zorn überlegen, ist doch die laikale Ortsgerichtsbarkeit, die Urteile in zivilrechtlichen Konflikten nur als Streitbeendigungsvorschläge fällt, auf die Kompromissbereitschaft der Streitparteien angewiesen. Die Weisheitslehrer nehmen für ihre Empfehlung von Langmut keine theologischen Argumente als Begründung in Anspruch, sondern vertrauen auf die Erfahrung, die sie bestätigt. Reflektionen auf Konfliktpazifizierung in der hebräischen Prophetie Die theologische Dimension der Reflektion auf Konfliktlösungen kommt in der hebräischen Prophetie umso deutlicher zur Geltung am Beispiel des Konflikts, den JHWH, der Gott Israels, mit seinem Volk aufgrund des Bruchs grundlegender Normen hat, auf den JHWH mit Zorn und der Ankündigung der Vernichtung und Auslöschung reagiert. In dem Prophetenspruch Hosea 11, 1–9 wird theologisch ein neuer Weg gewiesen, der nicht zur Vernichtung von Gottes Gegenüber führt, sondern ein Leben jenseits des Konfliktes eröffnet: „(V.1) Als Israel ein Knabe war, gewann ich (sc. Gott) ihn lieb; aus Ägypten rief ich meinen Sohn. (V.2) Wie ich sie rief, so gingen sie fort von meinem Angesicht. Den fremden Göttern opferten sie und den hölzernen Götterbildern räucherten sie. (V.3) Und ich lehrte Ephraim laufen und ich nahm sie auf meinen Arm. Aber sie erkannten nicht, dass ich sie liebte.(V.4) Mit menschlichen Seilen zog ich sie, mit Stricken der Liebe, und ich war für sie wie diejenigen, die ein kleines Kind an ihre Wangen heben, und ich neigte mich ihnen zu, gab ihnen zu essen. (V.5) Er kehrt zurück zum Land Ägypten, und Assyrien wird sein König sein, denn sie weigern sich umzukehren. (V.6) Es tanzt ein Schwert in seinen Städten und tötet seine Söhne und frisst sie ihrer Pläne wegen. (V.7) Aber mein Volk hält an seiner Abkehr von mir fest und zum Gott Baal rufen sie und hören auf, meinen Namen in Ehren zu halten. (V.8) Wie soll ich dich hingeben, Ephraim, wie soll ich dich ausliefern, Israel; wie soll ich dich hingeben wie Adma, wie soll ich dich zurichten wie Zeboim (Städte bei Sodom und Gomorra)? Es kehrt sich gegen mich mein Herz. Mit Macht entbrennt mein Mitleiden. (V.9) Ich werde die Glut meines Zorns nicht vollstrecken, ich werde mich nicht hinwenden, um Ephraim zu vernichten, denn Gott bin ich und nicht ein Mensch, in deiner Mitte ein Heiliger. Ich werde nicht kommen, um zu verbrennen“ Der erste Teil dieses Prophetenwortes stellt in grausamen Bildern das Scheitern der Geschichte Israels mit seinem Gott fest. Der Exodus wird umgekehrt und zu seinem Ausgangspunkt in der Sklaverei nun in Assyrien zurückführen. Wird so das Scheitern in der Gegenwart als ein Scheitern in der Geschichte expliziert und die Vernichtungsankündigung zu einem äußersten Punkt geführt, so schlägt im zweiten
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Teil die Perspektive um. Mit einem adversativen Neuansatz „wie soll ich dich hingeben Ephraim, wie soll ich dich hingeben wie Adma …“ eingeleitet lässt der Text nun in das Herz Gottes schauen. „Es kehrt sich gegen mich mein Herz. Mit Macht entbrennt mein Mitleiden. Ich werde die Glut meines Zorns nicht vollstrecken“. Das Herz, der innerste Wesenskern Gottes, wendet sich gegen ihn selbst. Zorn und Liebe stehen gegeneinander. Der Zorn ist Gottes Reaktion auf die Abkehr Israels von seiner Liebe, die sich in der Befreiung aus der Sklaverei im Exodus offenbart hat. Diese dialektische Spannung von Zorn und Liebe in Gottes Herzen wird von Gott als Schmerz empfunden, der zu seinem Mitleiden entbrennt. Die hebräische Wurzel nḥm kann das Empfinden von Leid im Sinn des Mitleidens als Gegensatz zum Mitleid (Hamburger 1985, S. 67) bezeichnen und darin die Identifikation Gottes mit dem Vernichtungsschicksal für den Menschen ausdrücken. In Gottes Schmerz gründet die Überwindung seines Zorns durch das Mitleiden. Arbeitet Gott im Mitleiden seinen Zorn durch und überwindet damit das Böse, das der Menschen ihm zufügt, so eröffnet er dem Menschen eine Zukunft jenseits der Vernichtung. Gott reagiert auf die Gewalt der Zurückweisung seiner Liebe und seiner Gebote nicht mit der Gegengewalt von Zorn und Vernichtung, sondern überwindet in der schmerzvoll mitleidenden Selbstüberwindung als Überwindung seines Zorns das Böse des Menschen. Damit ist die Dialektik von Gewalt und Gegengewalt im Verhältnis von Gott und Mensch aufgehoben. Der Mensch ist nicht Mittel des Erweises triumphaler Überlegenheit Gottes, sondern Gott erniedrigt sich in der Identifikation mit der Schwachheit des Menschen und eröffnet ihm so eine neue Zukunft. Hier wird ein Handlungsmodell entworfen, das Vorbild für den Umgang auch des Menschen mit dem Menschen sein kann. In der Selbstüberwindung liegt der Schlüssel zur Aufhebung der Dialektik von Gewalt und Gegengewalt, nicht nur, wie etwa von Clausewitz 1832 meinte, in der Erschöpfung der Ressourcen zum Kampf, oder wie noch jüngst Amoz Oz mit Bezug auf den Nahostkonflikt sagte, in der „gesegneten Erschöpfung“. Letzter Grund in dem in Hosea 11 entfalteten Modell für die Unterbrechung der Dialektik von Gewalt und Gegengewalt ist ein Herzensumsturz aufgrund von Liebe. Der in der Liebe zum Menschen gründende Verzicht auf Selbstdurchsetzung ist nicht wider die Vernunft des Menschen. Die Verwirklichung des Selbst im anderen Menschen, die ihn nicht als Mittel zum Zweck des eigenen Lebens betrachtet, ist die wahre Verwirklichung des Selbst. Das höchste Maß der Vernunft zeigt sich darin, so zu handeln, wie Hosea 11 es für Gottes Handeln als Vorbild für den Menschen entfaltet.
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Kapitel 34
Konfliktlösung im alten Ägypten Birgit Jordan
1 Überblick Dieser Beitrag basiert auf Material in ägyptischer Schrift und Sprache bis einschließlich Demotisch und geht nicht chronologisch vor, sondern orientiert sich an den Akteuren und den Prozessen von Konfliktbehandlungen. Zunächst sollen die unmittelbar Beteiligten, also die Konfliktparteien und ihre Streitgegenstände, dann Dritte und relevante Weitere betrachtet werden. Die Regelungsstrategien reichen von Selbsthilfe über Durchsetzung einer Position mit Hilfe parteiischer und neutraler Dritter bis zu Lösungen, die alle wesentlichen Interessen miteinander in Einklang zu bringen versuchen. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Abschlussproblem der Konfliktbewältigungen. Diese Perspektivwahl bewahrt vor der Rekonstruktion von Entwicklungslinien, die sich womöglich vage informierten Verallgemeinerungen oder modernen Vorannahmen verdanken. Ebenfalls systematische, je anders organisierte Zugänge zum Thema bieten Bontty (1997, S. 150–173) und Müller-Wollermann (2004, S. 259–272). Die Zeitangaben folgen der Tabelle aus Shaw (2000, S. 479–483), die Gestaltung der Bibliographie richtet sich nach den Vorgaben des Verlages. Die Konfliktparteien waren in der überwiegenden Anzahl der überlieferten Fälle miteinander bekannt und erwarteten eine Fortsetzung der Beziehung. Der Papyrus pBerlin 9010 (um 2345–2200 v. Chr., publ. Sethe 1926) berichtet von der Auseinandersetzung um einen Nachlass, die wohl der älteste Sohn des Verstorbenen mit einem anderen Verwandten austrägt, im Siutprozess (pBM 10591 rt., 170 v. Chr., publ. Thompson 1934, S. 5–33) geht es u. a. um die Ansprüche von Nachkommen eines Vaters, aber verschiedener Mütter. Vor allem das Material aus Deir el-Medine, einer von der Arbeitsgemeinschaft zur Herstellung der Königsgräber bewohnten
B. Jordan Bad Vilbel, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_34
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Siedlung (ca. 1500–1100 v. Chr.), lässt keine Zurückhaltung erkennen, Konflikte innerhalb der Familie öffentlich auszutragen, etwa Vater gegen Sohn (pDeM 27; Eyre 1984, S. 100) bzw. gegen Tochter (oKairo 25725; oLouvre E 3259; Toivari 1997, S. 155, 162). In anderen chronologischen und sozialen Kontexten wird sogar ausdrücklich zur Zurückstellung der Familienloyalität aufgefordert (dazu Jin 2014, S. 149). Seltener ist die Dokumentation von Streitigkeiten unter Fremden (Fall des Mes, s. u.), gar in sozial oder wirtschaftlich asymmetrischen Lagen. Im Oasenmann, einem dem literarischen Register zuzurechnenden Text, wird der Protagonist auf seinem Weg zu Handelsgeschäften von einem ihm unbekannten Funktionär trickreich beraubt. Er versucht daraufhin, bei dessen Vorgesetzten zu seinem Recht zu kommen. Die kurze Beratung, die der um Entscheidung angerufene hohe Herr mit seinen Begleitern abhält (pBerlin P 3023; pAmherst I, B1 75–80, ca. 2000–1780 v. Chr., übers. Kurth 2003, S. 71), erhellt, dass Bekanntschaft für die Konfliktbehandlung für wichtig gehalten wurde, denn sie spekulieren über eine bestehende Geschäftsbeziehung zwischen den Konfliktparteien und plädieren dafür, lediglich die weggenommenen Sachen zurückgeben zu lassen, ohne den Raub zu bestrafen. Funktionärsethiken, die sich etwa in Ratgebern („Weisheitslehren“) und autobiographisch stilisierten Auskünften auf Grabwänden finden, beschreiben Recht als Mittel, Schwache vor Starken zu schützen (Jin 2014, S. 151–155), während an Aufsteiger gerichtete Empfehlungen jüngeren Datums davor warnen, ohne Protektion gegen Stärkere zu prozessieren (Chascheschonqi 8,x+10, 3. Jh. v. bis 2. Jh. n. Chr., übers. Quack 2007, S. 282) oder empfehlen, mittels Geld und anderen Formen der Beziehungspflege Unannehmlichkeiten vorzubeugen (Ani 22, 10–13, ca. 1300–950 v. Chr., übers. Quack 1994, S. 119). Konflikte zwischen Institutionen (Verwaltungen, Tempeln, Grabanlagen), ihren Angehörigen und Anderen wurden seit dem Alten Reich in normativen Texten antizipiert und Zuwiderhandlungen gegen teils sehr detailliert formulierte Verbote mit drastischen Sanktionen bedroht. Willems (1990, S. 41) zufolge lässt sich aus der et-Tod-Inschrift Sesostris’ I. (1956–1911 v. Chr.) der tatsächliche Vollzug einer Verbrennungsstrafe ablesen. Eine schriftliche Gesetzgebung außerhalb dieses Themenfeldes ist erst mit Beginn der Ptolemäerzeit (frühes 3. Jh. v. Chr.) erschließbar (Lippert 2012, S. 4 f.). Bekanntgewordene Streitigkeiten drehen sich ganz überwiegend um bewegliche und unbewegliche, materielle und immaterielle Gegenstände: Ansprüche auf Ackerland, Häuser, Grabplätze, Textilien, metallene Objekte, sonstige verschiedenwertige Sachen, Lebensmittel in einem umfassenden Sinne, von Brot und Bier über Getreidesäcke und Saatgut bis zu Nutztieren, außerdem Einkommen, Titel und Ämter. Dabei stand nach Auffassung mindestens einer Partei die unberechtigte Nutzung bzw. der missglückte Transfer der genannten Gegenstände im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Diebstahl, gewaltsame Wegnahmen, Erbstreitigkeiten, Nicht- oder unvollständige Zahlungen, Rückgabeprobleme und Uneinigkeit über die Güterverteilung bei Haushaltsauflösungen wurden damit zugleich erfasst. Feine Abstufungen von Ehrverletzungen und deren Ahndung scheinen in Altägypten keine Rolle gespielt zu haben oder wurden nicht dokumentiert bzw. noch nicht identifiziert. Wie mit Gewalttaten, also Tötungen, Körperverletzungen und sexuellen Attacken, umgegangen wurde, lässt sich den Quellen genau besehen nur schwer entnehmen
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(Müller-Wollermann 2004, S. 72 f.); selbst Belege für ein allgemeines Tötungsverbot sind vage (Eyre 1984, S. 93; Hoch und Orel 1992, S. 91 f., 96–106; Baines 1999, S. 11 f. und Fn. 4). Konfliktlösungen, die ohne Beteiligung Dritter ausgehandelt werden, hinterlassen selten Spuren, sind aber etwa in Briefen greifbar (Müller-Wollermann 2004, S. 263). Fehde und Rache als regelgeleitete Formen bilateraler Konfliktregelung ohne Hinzuziehung neutraler Dritter sind schlecht (Baines 1999, S. 14–16) bzw. in Deir el-Medine gar nicht (Allam 1973a, S. 23) belegt. Selbsthilfe als konfliktregelndes Handeln in Eigeninitiative, das nach erfolglosen Versuchen, einvernehmliche Lösungen zu erzielen, durch die Einschätzung, die Einschaltung Dritter gelinge nicht rechtzeitig oder sei gescheitert, geleitet wird, lässt sich in einer spektakulären Ereignisfolge (Müller 2004, S. 180–183) beobachten, die etwas missverständlich als erster Streik der Weltgeschichte ihren Weg in die moderne Wahrnehmung gefunden hat. Die Spezialisten zur Herstellung von Königsgräbern, die so exzellent versorgt wurden (Warburton 2014, S. 450), dass Überschüsse anfielen, stellten in der Regierungszeit Ramses’ III. Defizite in ihrer Entlohnung fest, wodurch sie sich in dessen 29. Jahr (1155/1154 v. Chr.) veranlasst sahen, mit Demonstrationszügen an ihren Vorgesetzten vorbei in verschiedenen benachbarten Tempelanlagen Abhilfe zu verlangen. Moderne Spekulationen über eine Wirtschaftskrise nehmen Klagen, man hungere und sterbe, allzu wörtlich, denn die Forderungen wurden aus den offenbar reichlichen Vorräten der Tempel wenigstens teilweise erfüllt. Die Konfliktlinie scheint innerhalb der Hierarchie von Deir el-Medine sowie zugleich zwischen den Institutionen „Wesir/Staat“, Stadt Theben und den Tempelwirtschaften verlaufen zu sein, mit entsprechender Verantwortungsdiffusion. Assmann (2009, S. 11–13) führt das Fehlen einer Heldenepik im alten Ägypten auf die „Hochschätzung des Rechts“ zurück; man habe die „Werte der Integration und Kooperation über alles“ gestellt, und selbst Götter tragen Konflikte vor Gericht aus, also unter Einschaltung Dritter. Unter „Dritten“ verstehe ich Personen, Kollektive oder Institutionen, die von mindestens einer der Konfliktparteien mit der Auseinandersetzung befasst werden. Es gibt in den ägyptischen Belegen keine Anhaltspunkte dafür, dass eine hoheitliche Institution von sich aus bei Bekanntwerden einer Streitigkeit zwischen „Normalägyptern“ aktiv wurde oder werden musste; die Initiative eines Beteiligten oder auch eines Beobachters war offenbar Voraussetzung. Einige Texte aus verschiedenen Epochen und Genres erwähnen eine bestimmten Gruppen explizit vorgeschriebene Whistleblowerpflicht (pTurin 1875 3,3; pTurin 1880 rt. 4,3–4, s. u., Chascheschonqi 3,21 f.), die sich aber auf Normverletzungen besonders geschützter Einrichtungen zu beschränken scheint. In einigen der sog. Kultvereinssatzungen, die gegen Ende unseres Betrachtungszeitraums in demotischer Schrift und Sprache überliefert sind, wird die Hinzuziehung externer Dritter im Falle von Konflikten zwischen den jährlich wechselnden Mitgliedern mit Strafzahlungen bedroht (Arlt und Monson 2010, S. 119 mit Fn. 37). Ein Kollisionsfall könnte im komplexen Siutprozess (pBM 10591 rt. 6,3; dazu Seidl 1962, S. 155) vorliegen. Als Beleg für die nicht-gerichtliche Einschaltung Dritter kann ein Teil des komplizierten Verfahrens, das die sog. Stèle Juridique (Kairo JE 52453, ca. 1580–1550
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v. Chr.; Ganley 2004, S. 57–67) dokumentiert, einstehen; sie zeigt die offenbar einvernehmlich erzielte Lösung eines Streits unter Brüdern vom oberen Ende der ägyptischen Gesellschaft, der sich an geliehenen und untergangenen Sachen von sub stanziellem Wert entzündet hatte und durch eine lukrative Amtsübertragung beendet wird, deren rechtliche Absicherung im Einvernehmen mit den zuständigen Organisationen untermauert wird, um weiteren Konflikten vorzubeugen. Ob der Lösungsvorschlag vom Schuldner vorgebracht oder von seinem Bruder oder den anonymen Büroangehörigen nahegelegt wurde, lässt der Text offen. Das rekonstruierbare altägyptische Subsidiaritätsprinzip sieht vor, dass zunächst lokale Autoritäten allein oder in Gremien unterschiedlicher Zusammensetzung über die vor sie gebrachten Streitigkeiten zu befinden hatten. Dabei wird in Funktionärs ethiken (locus classicus Maxime 18 Ptahhotep 264–276, ab ca. 2000 v. Chr., übers. Parkinson 1997, S. 255 f.) die Verpflichtung betont, den Beschwerdeführern geduldig und aufmerksam zuzuhören, schon weil bereits dadurch auch erfolglose Kläger mit abschlägigen Bescheiden zu versöhnen seien. Die Verpflichtung des um Vermittlung oder Entscheidung angegangenen Dritten, darüber hinaus aktiv zu werden, steht im Mittelpunkt der Geschichte vom Oasenmann, der seine geraubten Sachen durch Beschwerde beim Vorgesetzten des Übeltäters zurückzuerlangen sucht (Kurth 2003, S. 71–97). Dabei vertritt er seine Sache in für die Ägypter offenbar derart kunstvoller Weise, dass der davon unterrichtete König die Protokollierung dieser Reden und die Verzögerung der Konfliktlösung veranlasst, damit er in den Genuss möglichst vieler guter Argumente für die von der Göttin Maat verkörperte Weltordnung, vor allem das Recht auf rechtliches Gehör und die Pflichten von Staatsfunktionären kommen kann. Als der hartnäckige Oasenmann nach neunmaligem Versuch, den ja mit großer Ausdauer zuhörenden Funktionär zu einer aktiven Befassung mit seinem Fall zu bewegen, droht, sich an eine andere Instanz zu wenden, wird er über den Hintergrund unterrichtet und erhält nicht nur seine Sachen zurück, sondern auch den Posten des schließlich doch abgeurteilten Beklagten. Versuche, zwischen Versöhnung, Mediation, Schlichtung und Urteil eine klare Differenzierung in der Quellensprache selbst nachzuweisen (Seidl 1968, S. 32; Jin 2003, S. 225–228, 2014, S. 199–204), sind strittig (McDowell 1990, S. 22 f.; Lippert 2008, S. 31, 181). Die vorliegenden Aufzeichnungen gestatten es nicht, von gerichtlichen Schlichtungs- oder Mediationsversuchen zu sprechen, anders als dies etwa der gegenwärtige § 278 ZPO vorschreibt. Die Streitparteien hatten Gelegenheit, ihre divergierenden Positionen vorzutragen und Beweismittel heranzuschaffen, die Mitglieder der Kollegialgerichte stellten Fragen und veranlassten eigene Untersuchungsschritte. Falls überhaupt der Ausgang eines Verfahrens überliefert ist, enthält er die dichotome Formel, wonach einer im Recht, der andere im Unrecht sei, dazu öfter die durch Eid mit konditionaler Selbstverfluchung verstärkte Versicherung der unterlegenen Partei, nunmehr dies und das leisten zu wollen. Auch dem späten pMattha Recto (3. Jh. v. Chr., übers. Stadler 2004, S. 189–207 sowie Jordan 2015, Tafeln pMattha Recto 01–09), der die gerichtliche Behandlung heute zivilrechtlich einzuordnender Konflikte be- und vorschreibt, lässt sich kein Hinweis auf vermittelnde Handlungen entnehmen.
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Hatte sich in Deir el-Medine ein Fall von bilateralen Lösungsversuchen bis zur Einbeziehung des Gerichts entwickelt, das in wechselnder Zusammensetzung aus Vorgesetzten und anderen sozial begünstigten Mitgliedern der Arbeitsorganisation sowie fallweise auch auswärtigen Funktionsträgern bestand, konnte dieses das Verfahren aktiv vorantreiben oder zur weiteren Regelung an das Wesirbüro weiterleiten, was wohl mindestens geschah, soweit Staatseigentum betroffen war (oBM 65930; oBM 65956; McDowell 1990, S. 156–158, 166). Zur Klärung der Täterschaft bei Diebstählen oder wenn es um Nutzungsrechte an Grundstücken und Gebäuden ging, konnten auf Initiative einer Partei Götter, d. h. deren Bilder, hinzu gezogen werden, die auch Auskunft zum Wert von Gütern, zur Aussicht auf Beförderungen und zu Ähnlichem erteilten. Diese Bewegungsorakel, über deren Mechanismen viel spekuliert wurde (McDowell 1990, S. 109–111, 127), klärten Fakten, wurden aber offenbar nicht als allwissend betrachtet. Belegt ist etwa bei Nichtgefallen des Bescheids die Konsultation weiterer Götterbilder (pBM 10335; Jin 2001, S. 98 f.) bzw. desselben Gottes mehrmals (oKairo CG 25555; McDowell 1990, S. 140). Die Streitaustragung vor Gericht, besonders wenn externe Mitglieder und Götterbilder hinzugezogen wurden, rückt den jeweiligen Fall bewusst in die Öffentlichkeit und betont deren Relevanz bei der Konfliktregelung. Die Kalksteinscherbe oDeM 133 (Allam 1973b, S. 100 f.) dokumentiert, dass das Publikum einer Sitzung mitsamt Orakelbescheid nicht überzeugt werden konnte und auf weiteren, selbst initiierten Untersuchungen bestand. Ein Topos altägyptischer Funktionärsethik lautet, „zwei Brüder“ oder „beide Streitparteien“ so beschieden zu haben, dass beide zufrieden seien (Kloth 2002, S. 80 f.; Müller-Wollermann 2004, S. 261). Der hier eingesetzte Begriff „zufriedenstellen“ bzw. „zufrieden sein“ meint einen Zustand, in dem Frieden, Sattheit und allgemeine Zustimmung herrschen, wäre aber als Beleg für vermittelnde Konfliktlösungen überinterpretiert, sondern lässt sich sparsamer als Beschreibung der besonderen Leistung verstehen, Fälle so abzuschließen, dass keine der Parteien weitere Aktivitäten unternimmt. Besonders in Urkunden ab der Spätzeit sind verschiedene Abschlusstechniken auszumachen, um die zwischen Personen auftretenden Interessenkonflikte möglichst rasch und eindeutig regeln zu können, vorwiegend durch die Herstellung, den Austausch und die private Archivierung schriftlicher Beweismittel. Abstandsschriften etwa erkennen explizit die Pflicht an, Einwände seitens Dritter abzuwehren, z. B. pMattha Recto 0603 (übers. Stadler 2004, S. 199 x+VI,3). Einige Fallgeschichten aus Deir el-Medine belegen die Bearbeitung ein und derselben Angelegenheit in aufeinanderfolgenden Verfahren: Laut oGardiner 53 wurden vier bis fünf Prozesse um eine Eselin geführt, oOIC 12073 zeigt, dass über 18 Jahre hinweg wegen Zahlungsausstandes für einen Fetttopf verhandelt wurde, elf Jahre sind es nach oTurin CG 57381, ebenfalls wegen Nichtzahlung. Nach pDeM 27 musste ein Mann unter Androhung des Verlusts von Nase und Ohren und der Verschickung nach Kusch schwören, sich einer bestimmten Frau nicht mehr zu nähern, was er aber trotzdem tat und sie schwängerte – er schwor dann eben nochmals. Entgegen moderner Erwartung scheint es, dass nicht die im Prozess Unterlegenen, sondern die ins Recht Gesetzten neue Verhandlungen anstrengten, dann tendenziell
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eher vor Gerichten mit stärkerer Anteilnahme auswärtiger Kollegiumsmitglieder. Dabei ging es nicht um eine Revision des Spruches, sondern um die Durchsetzung der in der Regel auch per Eid durch den Verlierer abgesichert geglaubten Konsequenzen. Der Nachweis des Vollzugs der in den Eiden genannten Sanktionen – Verdopplung der Zahlung, Körperstrafen, Zwangsarbeit – lässt sich derzeit kaum führen (McDowell 1990, S. 183–186; Jin 2014, S. 301); einmal (oGardiner 53; McDowell 1990, S. 175) scheint zumindest Verprügelung vollzogen worden zu sein. Warum das Gericht in Deir el-Medine harte Sanktionen androhte, aber nicht konsequent exekutierte (Allam 1973a, S. 106, 138, 142; Müller-Wollermann 2004, S. 264–266), ist derzeit unentscheidbar. Was den 18 Jahre währenden Rechtsstreit um die ausstehende Zahlung eines Fetttopfes angeht, so lässt sich im Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, dem Polizeichef, keine Trübung erkennen (McDowell 1990, S. 178); man verkehrt weiter geschäftlich miteinander und es scheint, dass der sozial unterlegene, allerdings wohlhabende Gläubiger (McDowell 1990, S. 116) einfach seinen Anspruch öffentlich aufrechterhalten wissen wollte. All das mag eher auf die Konfliktlösungsmechanismen in einer Dorfgemeinschaft hindeuten, die zugleich als Arbeitsorganisation funktionierte: Man blieb ohnehin im Gespräch, konnte aber auf ein stärker formalisiertes Verfahren zurückgreifen, auch um die „öffentliche Meinung“ zu mobilisieren. In einem Fall (oKairo 25556; McDowell 1990, S. 156, 175) wurden offenbar das Gericht und die Öffentlichkeit von Deir el-Medine eingesetzt, um ein Verfahren vor einer anderen Behörde zu verhindern. Der Streit von Horus und Seth (s. u.) und auch die Stèle Juridique verdeutlichen über die Dorfsituation hinaus die Rolle der Dritten und weiterer Beteiligter an der Konfliktlösung; erst wenn niemand mehr Einwände vorbringt, ist sie erfolgreich und dauerhaft. Eine Interpretation (Vittmann 1996, S. 38 f., v. a. Fn. 43; Jin 2014, S. 226, Fn. 1331) der Lederhandschrift Berlin P 10470 (ca. 18.–17. Jh. v. Chr.) nimmt für die einvernehmliche Lösung eines Konflikts gar einen Stakeholderansatz an: In dieser Dokumentation der Übertragung einer Frau, d. h. wohl ihrer Arbeitskraft, müssen nicht nur Empfänger, Geber und Wesirbüro zustimmen, sondern auch das Verfügungsobjekt namens Senbet. Leider sind Einwände von ihrer Seite nicht überliefert. Einen Instanzenweg sowie offenbar leistungsfähige Archive bei verschiedenen Institutionen belegt der in seinem Grab in Saqqara dokumentierte langwierige Rechtsstreit des Mes und seiner Verwandten um Anteile an den Erträgen von Ackerland, auf die sie seit rund 300 Jahren Anspruch erhoben (um 1200 v. Chr., publ. Gardiner 1905). Der Fall erlaubt dennoch nicht, bereits aus der bloßen Inanspruchnahme einer staatlichen Gerichtsbarkeit deren Rechtsprechungsmonopol abzuleiten. Die Beschuldigten in den Untersuchungen der Grabplünderungen (pBM 10383; Peet 1930, S. 17 f.) und der als Haremsverschwörung (pTurin 1875; pLee; pRollin; dazu Vernus 2003, S. 108–120) bekannt gewordenen Affäre am Hof Ramses’ III. (1184–1153 v. Chr.) wurden offenbar ad hoc gebildeten und geheim tagenden Kommissionen zugeführt (Müller-Wollermann 2004, S. 267). Das wird in einem wohl parallelen Fall aus dem Alten Reich auch so gewesen sein (Weni, ca. 2350–2280 v. Chr., übers. Hofmann 2002, S. 229–232).
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Als narrativ gestaltete Erörterung der Grenzen konsensualer Konfliktlösung lässt sich die auf den ersten Blick der religiösen Sphäre zuzuordnende Geschichte vom Streit um das Erbe des Osiris verstehen, der zwischen dessen Bruder Seth und Osiris’ Sohn Horus ausgetragen wird, und zwar vor einem göttlichen Gerichtshof unter Vorsitz des parteiischen Sonnengottes, der ganz offen für seinen Favoriten Seth eintritt, während Horus sich auf die fast uneingeschränkte Solidarität seiner mächtigen Mutter Isis verlassen kann, die zugleich Seths und Osiris’ Schwester ist (ca. 1160 v. Chr., übers. Junge 1990). Die bedingungslose Konsensorientierung des Verfahrens trotz eingesetzter agonaler Elemente torpediert über Jahrzehnte hinweg jede Lösung: Wann immer einer der Kandidaten sich gegen den anderen durchgesetzt hat, genügt der Protest eines beliebigen Beteiligten, um das Verfahren wieder aufzurollen. Ein zunächst nicht angenommener Vorschlag, Seth mit einem guten anderen Posten zu entschädigen und die Erbschaft dem Sohn zuzubilligen, wird schließlich am glücklichen Abschluss des Falles, nachdem alle, teils aufgrund körperlichen Zwangs, zugestimmt haben, doch noch durchgeführt. Wesentlich zum Abschluss des Falles hatte ein Briefwechsel mit dem verstorbenen Gott Osiris beigetragen; auch sonst ist die Bereitschaft, Tote zu kontaktieren, damit sie Schädigungen Lebender unterlassen oder zugunsten ihrer Familie intervenieren, belegt (Überblick: Verhoeven 2003). Tote gehören im alten Ägypten zur erweiterten Öffentlichkeit, nicht nur über letztwillige Verfügungen oder in der verdünnten Form eines kulturellen Gedächtnisses. Wie das Einschalten ferner Dritter und Vierter scheitern kann, zeigt pRylands 9 (ca. 513 v. Chr., übers. Quack 2007, S. 22–54). Es geht um den langwierigen, teils gewalttätigen Streit um lukrative Priesterämter. Schließlich akzeptieren die Betroffenen widerwillig einen unvorteilhaften Kompromissvorschlag, nachdem man zu der Einsicht gelangt ist, dass die eingeschalteten hochrangigen Funktionäre nicht zu beabsichtigen scheinen, sich in dieser Provinzangelegenheit konfrontativ zu engagieren (Moreno Garcia 2013, S. 1059 f.)
2 Kernprobleme der Forschung Interpretation und Auswahl der sehr unregelmäßig greifbaren Belege hängen stark von den nicht immer kenntlich gemachten Vorannahmen der Forscher ab. Einigkeit in Sachen Konfliktlösung im alten Ägypten besteht nur in einem Punkt: Dass es keinen spezialisierten Juristenstand gegeben habe, vielmehr staatliche und Tempelfunktionäre neben ihren anderen Pflichten auch streitbehandelnde Tätigkeiten ausgeübt hätten (für viele: Lippert 2008, S. 29, 44, 77 f., 180 f.; Jin 2014, S. 22), wobei die Stellenbeschreibungen mangels Alternativen häufig aus Funktionärstiteln abgeleitet werden müssen. Zum Ausmaß staatlicher Aktivitäten hinsichtlich des Rechtswesens und zur Existenz allgemeiner Gesetzgebung gibt es im Wesentlichen zwei Positionen: Mit einer gewissen Bereitschaft, vagen Anspielungen viel Information zu entnehmen und Partikularzeugnisse großzügig zu verallgemeinern, lässt sich ein plausibles,
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a llerdings lückenhaftes Bild weitgehend staatlich kontrollierter Rechtspflege zeichnen, das allerdings erst ab dem Neuen Reich nennenswert belegt sei. Moderne Bearbeiter betonen durchweg zu Recht die Sonderstellung von Deir el-Medine und warnen vor der Überdehnung der Befunde. Dennoch werden mitunter aus Einzelbelegen den Erwartungen entsprechende weitreichende Folgerungen gezogen, etwa dass mit harten Strafen bedrohte Delikte der leider schlecht dokumentierten staatlichen Gerichtsbarkeit vorbehalten gewesen seien, was nach Lippert (2008, S. 77) aus oBM 65930, oIFAO 1277 folge. Die Extremposition vertritt Lorton (1977, S. 4–6), der eine Kriminalgerichtsbarkeit mit entsprechender Gesetzgebung annimmt. Eine skeptischere Haltung ist weniger geneigt, den frühen Staaten die von den Quellen behaupteten Vereinheitlichungs- und Kontrollleistungen zuzutrauen (z. B. Baines 1999, S. 11; Moreno Garcia 2014, S. 223–225). Manchmal wirken Beschreibungen der altägyptischen Gesellschaft (etwa Jin 2014, passim) ein wenig idyllisch, was der Quellenauswahl (normative Texte, Bekundungen eigener Exzellenz in sog. autobiografischen Inschriften) geschuldet sein wird. Ein Idyll war Altägypten sicher nicht: Die Vorwürfe gegen Angehörige des Chnum-Tempels in Elephantine (Vittmann 1996, S. 45–56) umfassen Gewaltanwendung, Verstöße gegen die priesterliche Berufsordnung bis zu groß angelegten Unterschlagungen von Eigentum des Tempelbetriebs, ohne dass wir erfahren, welche der Anschuldigungen in einen juristischen Prozess oder eine andere Form der Konfliktlösung gemündet wären, wenn überhaupt. Ob es berechtigt ist, aus der Mitteilsamkeit der Quellen ab dem Ende des Neuen Reiches zu folgern, es handele sich um Verfallsperioden einer sonst eher friedlichen, wertorientierten Gesellschaft (so Vernus 2003, S. 148; zu den oft naiven Interpretationen altägyptischer Quellen Moreno Garcia 2009, S. 189–191) oder ob aus früheren Zeiten einfach weniger Zeugnisse dieser Art erhalten blieben, lässt sich hier nicht klären.
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Kapitel 35
Hellenismus Nadine Grotkamp
1 Überblick Konfliktlösung präsentiert sich in den drei vorchristlichen Jahrhunderten, die man mit dem Stichwort Hellenismus zusammenfasst, einerseits großräumiger, andererseits kleinteiliger als in der vorhergehenden und der nachfolgenden Epoche. Großräumiger, da die Herrschaftsräume nun größer sind – nicht nur in den Nachfolgestaaten des Alexanderreiches, den Diadochenreichen der Ptolemäer mit ihrem Kern in Ägypten, der Seleukiden im Nahen und Mittleren Osten und den Antagoniden in Mazedonien selbst und noch einigen anderen kleineren Königtümern, sondern durch die Verbindung von Städten zu Städtebünden. Kleinteilig wird das Bild zum einen durch die große Anzahl von Instanzen, die im Konfliktfall bemüht werden, ihre unterschiedlichen Namen und teilweise nur flüchtige Existenz. Die Kleinteiligkeit des Bildes ist zum Teil der Quellenlage geschuldet, da die literarische Überlieferung für die gesamte Epoche eher dünn ist und Inschriften (Thematische Sammlung Thür und Taeuber 1994) und Papyri (Auswahl in Übersetzung z. B. Bagnall und Derow 2008) eine verhältnismäßig große Bedeutung zukommt. Für die Geschichte der Konfliktlösung ist dies insofern von Vorteil, als von vornherein Texte der Rechtspraxis und auch die sonstigen materiellen Hinterlassenschaften von Losmaschinen über Reliefdarstellungen von Audienzszenen zu den Resten von Gebäuden von vornherein eine größere Beachtung gefunden haben. Dies geht aber auch mit einer sehr kleinteiligen Forschung einher. Am besten dokumentiert sind private Konflikte, ihre Austragung und ihre Lösung im ptolemäischen Ägypten (Grotkamp 2018). Hier bestand eine große Vielfalt von Gerichten, deren genaue Herkunft unklar ist, ebenso wie die Abgrenzung zu anderen Stellen, die von der Bevölkerung bei Streitigkeiten mit unterschiedlichsten N. Grotkamp (*) Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_35
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Personen von Nachbarn, Geschäftspartnern, Familienangehörigen bis hin zu Räubern um Hilfe gebeten wurden (Wolff 1970; Lippert 2008). Am häufigsten überliefert sind Eingaben, die nominell an den König gerichtet waren, die aber auf regionaler Ebene von Strategen bzw. bereits auf lokaler Ebene von den jeweiligen Dorfvorstehern durch Vorladung der Parteien bearbeitet wurden. In allen Regionen belegt ist zudem die Tätigkeit von drei unterschiedlichen Spruchkörperschaften. Ein dikasterion bestand aus etwa zehn per Los bestimmten Männern, während die zu dritt verhandelnden chrematistai vom König bestellt wurden. Diese beiden Spruchkörper verhandelten in Griechisch, während die laokritai sich der ägyptischen Sprache bedienten. Von ihrer Tätigkeit zeugen nicht nur einige wenige, aber umfangreiche Prozessprotokolle in demotischer Sprache, sondern hunderte auf Tonscherben notierte Tempeleide (Lippert 2008; Kaplony-Heckel 1963). Soweit Gruppierungen eine festere Organisation annahmen oder soweit andere als die genannten Personen Einfluss üben konnten, so sind auch in diesen Zusammenhängen Eingaben belegt, etwa an den Vorstand der jüdischen Gemeinde (politeuma) oder an die örtliche Flusswache (Jördens 2010). Auch Privatleute konnten zur Vollstreckung ihrer Urteile auf einen Funktionär, den praktor zurückgreifen. Es ist anzunehmen, dass das Nebeneinander von Gerichten nach einheimischer Tradition, Gerichten in griechischer Tradition (→ 19. Thür; → 22. Lanni) und neuen Institutionen, die entweder vom König geschaffenen wurden oder denen die Streitentscheidung in Rechtsfällen als Nebenaufgabe zuwuchs, auch in den anderen hellenistischen Monarchien anzutreffen war. Im Seleukidenreich ist die Überlieferungslage wesentlich schlechter, auch wenn die keilschriftliche Überlieferung nicht mit der Eroberung Alexanders endet. So belegen Tontafeln aus Babylon noch die rechtsprechende Tätigkeit der Tempelverwaltung (šatammu) in seleukidischer Zeit. Daneben werden königliche Richter erwähnt. (Oelsner et al. 2003). Wegen der spärlichen Überlieferung und dem völligen Fehlen von griechischen Alltagstexten ist es aber nicht möglich, hier zu untersuchen, wie sich das Nebeneinander mehrerer Gerichte gestaltete. Etwas anders sieht es für die griechischen Städte in den Herrschaftsbereichen der hellenistischen Könige aus. Der alltägliche Konflikt ist hier auch nicht greifbar, aber außergewöhnliche Auseinandersetzungen haben Spuren im literarischen und epigraphischen Material hinterlassen. Zum einen bestanden hier die städtischen Gerichte weiter (Walser 2012). Daneben treten nun wie in Ägypten Richter und rechtsprechende Funktionsträger, die vermutlich von Königen eingesetzt wurden. So ist in Karien ein seleukidischer oder ptolemäischer archidikastes bezeugt (Bikerman 1938, S. 207; Ma 1999, S. 269) an der Levante rechtsprechende oikonomoi und Strategen. Gelegentlich sind Könige selbst als entscheidende Instanz belegt, so entschied beispielsweise Seleukos II. in einem Streit zwischen Priester und Mylasiern, die die Entscheidung in Stein eingravieren ließen. In anderen Fällen sandten sie Richter, so Antiochos II., der Richter aus Teos nach Bargykia sandte. Dass in Streitigkeiten zwischen den Bürgern einer Stadt nun Richter aus anderen Städten tätig wurden, ist ein in hellenistischer Zeit verbreitetes Phänomen. Man unterscheidet allgemein das Mittel „angerufene Stadt“ von dem Mittel „fremde Richter“. Wurde eine Stadt angerufen (polis ekkletos), so wurde über den Fall vor
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dem gewöhnlichen Gericht der angerufenen Stadt entschieden, Kläger und Beklagte hatten also in die andere Stadt zu reisen. Dieses Mittel wurde zur Regelung besonderer Konflikte innerhalb der Stadt (Thür 2003, S. 220) ebenso herangezogen wie bei Streitigkeiten zwischen zwei Städten (Harter-Uibopuu, S. 139–143) oder für Streitigkeiten zwischen Bürgern von verschiedenen Städten (Gauthier 1972, S. 308–338) Als „fremde Richter“ bezeichnet man heute das Phänomen, dass eine kleine Gruppe von drei bis 15 Männern aus einer oder mehreren anderen Städten für einige Wochen in die andere reiste, um in Streitigkeiten zwischen den dortigen Bürgern zu vermitteln und gegebenenfalls zu entscheiden (Walbank 1994, S. 148; Marshall 1980, S. 636–640; Cassayre 2010, S. 131–154). In der älteren Forschung sprach man gelegentlich von Rechtskommissionen. Inschriften, die zu Ehren der entsandten Richter errichtet wurden, verweisen in der Regel darauf, dass die regulären In stitutionen die Konflikte ihrer Bürger untereinander nicht schnell genug bearbeiten konnten, so dass viele Fälle unbearbeitet liegen blieben. Gegenwärtig sind über 300 solcher Inschriften bekannt. Darüber hinaus ist die zumindest geplante Tätigkeit der fremden Richter auch in einigen wenigen normativen Texten bezeugt. Diese legen nahe, dass auf Richter von außerhalb vor allem in Sondersituationen wie der Rückkehr von Exilanten, dem Zusammenschluss von zwei Städten oder vergleichbaren Fällen zurückgegriffen wurde, in denen sich größere Bevölkerungsteile gegenüberstanden. Eine ähnliche Reisetätigkeit war auch für das gemeinsame Gericht zweier Städte auf der Peloponnes (Thür und Taeuber 1994, Nr. 17) vorgesehen, um Fälle zu behandeln, in denen sich je ein Bürger aus beiden Städten gegenüber standen. Dies war jedoch nicht der übliche Weg, um auch Nichtbürgern den Zugang zur Gerichtsbarkeit zu eröffnen. Ansonsten sind unterschiedliche Formen der Öffnung der Gerichte für Nichtbürger belegt (→ 13. Harter-Uibopuu). Immer wieder vereinbarten Städte miteinander, dass zumindest in bestimmten Fällen die Bürger der jeweils anderen Stadt vor bestimmten Gerichten verklagt werden sollten und ein Zugriff auf die Person und das Vermögen der Bürger der anderen Stadt ohne Gerichtsverfahren unzulässig sei. Diese Verträge werden allgemein als Rechtsgewährungs- oder Rechtshilfeverträge bezeichnet, sie selbst bezeichnen sich oft als symbola (Gauthier 1972). Zugang zur Gerichtsbarkeit vermittelten auch Isopolitie-Verträge, mit denen den Bürgern einer anderen Stadt die gleichen Rechte gewährt wurden wie den eigenen, oder die Vereinigung von Städten (sympolitie), wahrscheinlich auch die Ehrung von Einzelnen und größeren Gruppen als Gastfreunde (proxenoi). In wieweit in den sogenannten Bundesstaaten gesonderte Gerichte auf Bundes ebene errichtet wurden, die auch über Konflikte zwischen einzelnen Bürgern entschieden, ist nicht sicher, insgesamt aber angesichts der bekannten Tatsachen unwahrscheinlich (Beck 1997; Grotkamp 2013). Schiedsgerichtsbarkeit über Streitigkeiten zwischen Städten gehört zwar auf den ersten Blick nicht zu den Konflikten, die Gegenstand dieses Handbuchs sind, doch gestaltete sich der Übergang fließend. So ist bei Weideübergriffen kaum zu differenzieren, ob einzelne Herdenbesitzer der jeweiligen Städte miteinander in Konflikt lagen oder jeweils die
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g esamte Stadt. Die Mechanismen sind hier ähnlich wie bei Konflikten zwischen Einzelpersonen, und als Schiedsrichter wurden häufig benachbarte Städte angerufen (Ager 1996). In Konfliktfällen wurden nachweislich auch überweltliche Instanzen bemüht. So wurden beim Verlust von Objekten gelegentlich Orakel befragt, ob eine bestimmte Maßnahme erfolgversprechend sei (Anagnostou-Canas 1998; Zauzich 2000). Nicht speziell hellenistisch sind Fluchtafeln, mit denen der göttliche Zorn auf einen Übeltäter gelenkt werden sollte. Die demotischen Tempeleide wurden bereits oben erwähnt. Die Überlieferung gestattet verstreute Einblicke in Verfahrensregeln. So bestand sowohl in Ägypten wie in einigen Städten in Sizilien die Möglichkeit, aus der Menge der ausgelosten Richter einzelne abzulehnen. Sowohl in die Vereinbarungen zwischen den Städten wie in die Normsetzung der hellenistischen Könige werden Regelungen zur Beweisführung aufgenommen (Hellebrand 1934). Häufig dokumentiert sind zudem Regelungen, die die Vollstreckung gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränken. In der theoretischen Literatur der Zeit wird Konfliktlösung, Konflikt und Gerichtsbarkeit an unterschiedlichen Stellen berührt, aber kaum eigens zum Thema gemacht. Ein solcher Texttyp sind Ausführungen über das gute Königtum (Fürstenspiegel), die für so gut wie alle Philosophenschulen belegt sind, von denen aber nur wenig überliefert ist. Aus etwa von Polybios und Plutarch überlieferten Anekdoten wird deutlich, dass die Erwartungshaltung bestand, dass ein König sich der Streitigkeiten und Probleme von allen Personen, die sich an ihn wendeten, anzunehmen habe. Gerechtigkeit zählte zu einer der die Könige auszeichnenden Tugenden, die durch das Gerichthalten demonstriert werden konnte. Sowohl in diese Schriften wie auch in den Abhandlungen über die Städte wird das Ideal des harmonischen Zusammenlebens propagiert, in Reisebeschreibungen an die Ränder der bewohnten Welt finden sich Darstellungen von Gesellschaften, die ohne Gerichte auskommen.
2 Kernprobleme der Forschung Konfliktlösung im Hellenismus wird in der Forschung nur selten übergreifend thematisiert. Gute Übersichten bieten aus rechtshistorischer Sicht Thür (2003, S. 220–223) und Kränzlein (2005) sowie aus sozialgeschichtlicher Sicht Walbank (1994, S. 147–163). Für Ägypten war lange Zeit das in der Einführung in die Papyrologie von Mitteis (1912) gezeichnete Modell der Gerichtsorganisation prägend. Dies liegt auch den Spezialstudien wie etwa von Berneker und Hellebrand zugrunde. Seit der umfassenden Diskussion der Quellen durch Hans-Julius Wolff (1970, zugespitzt 1966) sind diese jedoch in ihren Grundannahmen, nicht aber in den Einzelbeobachtungen überholt. Aus ägyptologischer Perspektive fasst Lippert (2008) den aktuellen Forschungsstand zusammen. Einen Einstieg in die keilschriftliche Überlieferung gibt das Handbuch der Orientalistik (Oelsner et al. 2003).
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Ein Dauerthema der juristischen Papyrologie ist die Interaktion von Verwaltungsfunktionären und Kollegialorganen. Während die ältere Forschung davon ausging, dass die Zulassung von Klagen über die Funktionäre zu erfolgen hatte (Mitteis 1912), erkannte man später unabhängig voneinander bestehende Rechtsschutzmechanismen, wobei nun umstritten war, ob die Tätigkeit der Funktionäre überhaupt als Gerichtsbarkeit bezeichnet werden kann (so Semeka 1913; Zucker 1911, Berneker) oder etwas grundlegend anderes sei (Mitteis 1912; Partsch 1920; Wolff). Ähnlich gelagert ist die Debatte, wie weit die Ähnlichkeit zwischen Fluchtafeln und Klageschrift in einem Gerichtsverfahren reicht (Versnel 1991; Dreher 2010). Inwieweit sich in den hellenistischen Zeiten Institutionen aus der Zeit vor der Eroberung durch die makedonisch-griechischen Heere behaupten konnten und wo insbesondere die eng mit den indigenen Kulturen verbundenen Erscheinungen ihren Ursprung haben, ist eine lang diskutierte, aber angesichts der Quellenlage nur schwer zu beantwortende Frage. Jedenfalls sind sowohl in Ägypten (Allam 1991) wie in Babylonien (Neumann 2007) längere Traditionen gut denkbar. Eng damit verbunden ist die Frage, in wie weit sämtliche Gerichtsbarkeit ihren Ursprung beim König hat. Diese Frage ist insofern für die hellenistische Zeit von besonderer Bedeutung, da die Königtümer gelegentlich als absolute Herrscher bezeichnet werden. Sie liegt auch der Studie von Wolff (Wolff 1970) zugrunde, der sie glaubte, positiv beantworten zu können. In eine ähnliche Richtung tendierte für die Seleukiden Bikerman (1938, dazu Ma 2012), der jedoch auch die Königsideologie mit in den Blick nahm. Im Zusammenhang mit der Debatte, wie es mit der Staatlichkeit antiker Herrschaft bestellt war, wird vor allem mit Blick auf Ägypten diskutiert, wie weit der Arm der Zentrale reichte. So wurde ab den 1970er-Jahren zunächst gefragt, inwieweit die Möglichkeit bestand, sich einer Verfolgung durch Verwaltung und geschädigte Personen zu entziehen (Briant 1976), was auch klassisch strafrechtliche Fragen, etwa, was überhaupt und in welcher Weise als Verbrechen angesehen wurde, neu auf den Plan rief (Rupprecht 1991). Nach vollzogenem Perspektivwandel wurde dann dargelegt, wie kleinteilig die Präsenz von Polizeibehörden im weiten Sinne selbst auf dem Land war, was der These von der fehlenden Durchgriffsmöglichkeit vormoderner Staaten widerspricht (Thompson 1997; Bauschatz 2013). Neben der Polizeiarbeit ist aus den gleichen Perspektiven das Thema Vollstreckung neu in den Blick gekommen (Rupprecht 1997; Rubinstein 2010). Fremde Richter, Asylie und Schiedsverträge stehen im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit die städtische Exklusivität in hellenistischer Zeit abnimmt (Walbank 1994, S. 146). Die verstärkte Beschäftigung mit diesen Phänomenen ist zudem auf die stärkere Berücksichtigung epigraphischer Quellen in der griechischen Rechtsgeschichte zurückzuführen, da diese Vereinbarungen besonders häufig in Stein verewigt wurden. Basis für eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der fremden Richter sind die Studien von Louis Robert (1973/2007), auf den die Trennung der unterschiedlichen Formen der Beteiligung von Nichtbürgern an der Rechtsprechung und die heutige Terminologie zurückgehen. Die Übersicht von Marshall (1980), die auch den älteren Forschungsstand erschließt, hat den Vorteil, dass sie nicht mit der römischen Eroberung endet. Das Thema wird nach wie vor intensiv
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bearbeitet, so konnte in jüngerer Zeit etwa nach regionalen Unterschieden gefragt werden (Crowther 2008). Grundlegend zu Rechtsgewährungsverträgen ist die Studien von Gauthier (1972); regionale Übersichten mit unterschiedlichem Akzent liefern Thür und Taueber (1994) für Arkadien und Chaniotis (1996) für Kreta. Schiedsgerichtsbarkeit vor allem zwischen den Städten haben Ager (1996) und Harter- Uibopuu (1998) erforscht, die wenigen Papyrusbelege sind bei Modrzejewski (1952) versammelt; die grundlegende Auseinandersetzung mit dem Phänomen ist nach wie vor die Studie von Steinwenter (1925/1971). Verfahrensregeln werden und wurden kaum unter der Überschrift „Hellenismus“ behandelt. Eine Zusammenstellung der der Epigrafik zu entnehmenden Beobachtungen ist in dem Kommentar zu den prozessrechtlichen Inschriften (Thür und Taeuber 1994) sowie bei Cassayre (2010) greifbar, einen einfachen Zugang zum Verfahrensrecht in Ägypten bietet die Einführung von Lippert (2008). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte in der Papyrologie modernen juristischen Aspekten gegliederter Zugriff (etwa Hellebrand 1934; Berneker 1930, 1939). Die Zeugnisse aus der hellenistischen Zeit wurden zudem teilweise bei Arbeiten zum Prozess im römischen Ägypten, teilweise unter dem Oberbegriff ‚Griechisches Recht‘ mitbehandelt. Seitdem haben sich die Akzente verschoben, Debatten entzünden sich aber lediglich an Einzelfragen. So wird im Zusammenhang mit der größeren Bedeutung von Mediengeschichte gegenwärtig diskutiert, welche Rolle die schriftliche Dokumentation hatte und weshalb und wie Dokumente in privaten und öffentlichen Archiven aufbewahrt wurden (Übersicht über die Strömungen bei Cassayre 2010, S. 249). Die theoretischen Überlegungen zu Konflikt, Konfliktlösung und Gerichtsbarkeit der hellenistischen Zeit sind bislang nicht eigens erforscht worden. Einige Hinweise liefern Übersichtsdarstellungen zum politischen Denken der Zeit (Aalders 1975; Gehrke 1998), die Reiseberichte sind Gegenstand der Forschung zu antiken Romanen und Utopien. Größere Aufmerksamkeit erfährt das Thema hellenistische Königsideologie (Luraghi 2013; Ma 2012). Ausgehend von Schubart (1937) geht man nach wie vor davon aus, dass ein guter König sich um die Rechtspflege zu kümmern hat. Auch wenn dies durch weitere Detailstudien gestützt wird, etwa zum Bild des guten Beamten, das ein Papyrus zeichnet (Crawford 1978), oder durch die Einzelheiten des Lobes auf König und Königin in den mehrsprachigen Priesterdekreten (Pfeiffer 2004), so ist dem nicht zu entnehmen, dass sämtliche Rechtsprechung vom König auszugehen hat.
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Kapitel 36
Konfliktlösung im römischen Ägypten Patrick Sänger
1 Überblick Die Möglichkeiten, die einer Person zur Konfliktlösung im römischen Ägypten zur Verfügung standen, lassen sich – wie auch heute – in gerichtliche und außergerichtliche Streitbeilegung unterteilen. Die Verteilung der Quellen ist unausgewogen: Einer Masse an Papyri, die die gerichtliche Streitbeilegung betreffen, steht eine geringe Anzahl an Zeugnissen gegenüber, die die außergerichtliche Sphäre beleuchten. Die gerichtliche Streitbeilegung lag, anders als in ptolemäischer Zeit, in welcher Rechtsuchende Gerichte und Amtsträger zur Lösung von Konfliktsituationen aufsuchen konnten, nur mehr in Händen letzterer: Gerichtliche Streitbeilegung fand also im römischen Ägypten ausschließlich im Rahmen des sogenannten „Kognitionsprozesses“ statt, war also Ausdruck der cognitio extra ordinem, der Gerichtsbarkeit staatlicher Amtsträger (Kaser und Hackl 1996, S. 437–514). Oberster Richter war in Ägypten, wie in jeder anderen römischen Provinz, der Statthalter, der praefectus Aegypti. Ihm unterstand eine Reihe an Administrativpersonal, das, wie die verschiedenen Verwaltungsressorts zugeordneten prokuratorischen Amtsträger oder der archidikastes (Erzrichter) in Alexandria, entweder für die gesamte Provinz oder für kleinere Verwaltungseinheiten zuständig war; zu nennen sind etwa für die Epistrategie (eine regionale Verwaltungseinheit, die mehrere Gaue bzw. Verwaltungsbezirke vereinigte) der Epistratege und für die Gaue, die das administrative Grundgerüst Ägyptens darstellten, die Strategen – beide Ämter haben ihre Wurzeln in der Ptolemäerzeit. Sie alle konnten Richter im „Kognitionsprozess“ sein, wenngleich dies nicht in allen Fällen dem eigentlichen Aufgabenbereich des jeweiligen Amtsträgers entsprach (vgl. dazu weiter unten). Zu betonen ist f erner, P. Sänger (*) Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Alte Geschichte, Institut für Epigraphik, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3_36
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dass keiner der in den Papyri fassbaren „Richter“ diese Tätigkeit professionell ausübte. Vielmehr handelte es sich um Personen, die verschiedene Verwaltungsposten in der Reichsadministration jeweils auf bestimmte Zeit übernahmen. Im Fall des praefectus Aegypti konnte die Prozesseinleitung zwei Formen annehmen. Zum einen gab es die parangelia (litis denuntiatio), mit der üblicherweise die Ladung auf den Konvent (conventus) erfolgte – Gerichtsversammlungen, die an bestimmten Tagen an festgelegten Orten der Provinz unter dem Vorsitz des Statthalters abgehalten wurden. Das Verfahren gestaltete sich derart, dass die ladende Partei ein Schreiben an den Strategen richtete, mit dem der Prozessgegner zum Erscheinen auf dem Konvent aufgefordert wurde; der Stratege wurde in diesem Schreiben auch darum gebeten, die Zustellung des Ladungsschreibens an den Prozessgegner zu veranlassen (Foti Talamanca 1979, S. 79–100, 316–319). Die parangelia präsentiert sich demnach als private Initiative unter amtlicher Mitwirkung. Sie führt nur dann zum Ziel, wenn ihr der Prozessgegner Folge leistet. Deswegen ist die parangelia zwar eine relativ unkomplizierte, ihrer Durchsetzungskraft nach aber eher schwache Form der Prozesseinleitung – auch wenn beim Fernbleiben des Prozessgegners ein Versäumnisverfahren eingeleitet werden konnte (zur contumacia siehe Kaser und Hackl 1996, S. 477–481). Zum anderen bestand die Möglichkeit, einen Prozess vor dem praefectus Aegypti mittels evocatio einzuleiten. Sie betraf die Ladung des Prozessgegners unter Mitwirkung des jeweiligen Richters, wobei diese aktive Involvierung von der ladenden Partei zu beantragen war (Kaser und Hackl 1996, S. 473). Die Beantragung erfolgte mittels Petition bzw. Eingabe (hypomnema), die man dem praefectus Aegypti entweder an seinem Amtssitz in Alexandria oder beim Konvent aushändigte. Die Petition an sich kommt dabei keiner Ladung des Beklagten gleich. Sie sollte allgemein bewirken, dass der praefectus Aegypti einschritt und prozessual tätig wurde oder den Fall an einen anderen Richter verwies. Dass eine Petition die evocatio einer beklagten Person durch den Statthalter nach sich gezogen hätte, ist in Ägypten bislang nicht nachgewiesen (Foti Talamanca 1979, S. 197–200, 316–319), was jedoch nicht heißen muss, dass es diese Form der Ladung nicht gegeben hat; schließlich konnte sich der Statthalter aufgrund seiner umfassenden Amtsgewalt jederzeit an eine beklagte Person wenden, wenn er einen Prozess einleiten wollte. Evoziert wurde vor das Statthaltergericht vielleicht eher mittels evocatio litteris ad magistratum datis, der Evokation einer beklagten Person, die nach einem diesbezüglichen Schreiben des prozessierenden Richters an den lokalen Amtsträger durch letzteren erfolgte. Dieses Verfahren ist möglicherweise durch Giss. I 34 = M.Chr. 75 (Oxy., 266) nachgewiesen, wo dem Strategen eine derartige, vom archidikastes ausgestellte Anweisung ausgehändigt wurde. Ferner kann auf P.Hamb. I 4 = Jur.Pap. 86 (Ars., 87) verwiesen werden. In diesem eidlichen Gestellungsversprechen wird eine beklagte Person dokumentiert, die nach einem Brief des praefectus Aegypti an den Strategen beim Königlichen Schreiber (nach dem Strategen der höchstrangige Amtsträger eines Gaus und hier in dessen Vertretung) vorstellig werden musste, um ihr Erscheinen vor dem Tribunal des Statthalters eidlich zu bekräftigen. Ein ähnliches Verfahren scheint auch in der Petition P.Flor. I 6 (Herm., 210) angesprochen zu sein, die eine beklagte Person an den dioiketes (Prokurator, dem die Finanzverwaltung Ägyptens oblag) richtet (Z. 3–5 mit BL I 134; siehe Sänger 2011, S. 79–80).
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Nachdem die Kläger ihre Petitionen dem praefectus Aegypti übermittelt hatten, in denen sie ihre Klagen und Bitten vorbrachten, wurden sie schriftlich über den Entscheid des Statthalters informiert. Bis zum Ende des 2. Jahrhunderts erhielten die Petenten entweder ihre Petition zurück, an deren Ende der statthalterliche Entscheid – ab der Mitte des 2. Jahrhunderts als kurzer Vermerk (subscriptio) stilisiert – gesetzt wurde, oder sie mussten sich nach Alexandria begeben, wo ihre Petitionen zu Sammelrollen verarbeitet wurden. Deren Zusammensetzung richtete sich nach dem jeweiligen Entscheid des praefectus Aegypti, so dass diese Rollen mit Sammel-subscriptiones versehen wurden. Im 3. Jahrhundert setzte sich schließlich eine Bearbeitungsweise durch, die sich bereits im Verlauf der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts angekündigt hatte und ebenfalls durch die Herstellung von Sammelrollen charakterisiert war. Im Unterschied zu den Sammel-subscriptiones wurde nun aber jede Petition jeweils mit einer subscriptio versehen (Haensch 1994). Der Übergang zu Sammelrollen bedeutete, dass sich die Petenten nach Alexan dria begeben mussten, um sich über den Entscheid des praefectus Aegypti zu informieren; dort wurden die Rollen ausgehängt und damit öffentlich einsehbar gemacht. Aufbewahrt wurden die Petitionen im Statthalterarchiv; diese Verwaltungspraxis ist ab dem 3. Jahrhundert sicher nachzuweisen (Haensch 1992, S. 255–256, 1994, S. 505–506). Um ihre Petitionen auf dem Amtsweg weiterzuverwenden, mussten die Petenten nun Abschriften anfertigen lassen, die von Zeugen beglaubigt und als Doppelurkunden – die untere Abschrift blieb sichtbar, während die obere zusammengerollt und versiegelt wurde – gestaltet waren. Kopien, die dem privaten Gebrauch dienten, mussten dieser formalen Gestaltung freilich nicht entsprechen (Sänger 2011, S. 141–142, 227–229). Da eine unmittelbare Erreichbarkeit des praefectus Aegypti nicht immer gegeben war und keineswegs damit gerechnet werden konnte, dass dieser dem Ansuchen des jeweiligen Petenten entsprach – sowie zumindest ab dem Beginn des 3. Jahrhundert eine Reise nach Alexandria unternommen werden musste, um die statthalterliche subscriptio zur Kenntnis zu nehmen – war es zweifellos weniger aufwendig, sich mit einer Petition an einen lokalen Amtsträger zu wenden und diesen um sein Einschreiten oder sogar sein richterliches Urteil zu bitten. Tatsächlich sind auch zumindest doppelt so viele Petitionen an den Strategen wie an den praefectus Aegypti erhalten. Signifikant ist auch die Häufigkeit jener Petitionen, mit denen man sich an Epistrategen und lokale Vertreter des römischen Militärs (centuriones, decuriones und beneficiarii) wandte; ihre Zahl ist aber deutlich geringer als die der an den praefectus Aegypti gerichteten Petitionen (Kelly 2011, S. 32–33). Im Kontext der potenziellen Adressaten von Petitionen ist darauf hinzuweisen, dass als Amtsträger, zu deren Kompetenzbereich die Gerichtsbarkeit gehörte, allein der praefectus Aegypti und der iuridicus – jener Prokurator, der auf Provinzebene mit der Administration der Rechtsprechung betraut war – erachtet werden können. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch der Prokurator des idios logos, der richterliche Kompetenzen über jene Sachverhalte besaß, die sein Verwaltungsressort (herrenloser und konfiszierter Besitz) betrafen. Hinsichtlich ihrer Urteilsfindung waren diese Amtsträger übrigens nicht dazu verpflichtet, römisches Recht anzuwenden; dies hätte der römischen Herrschaftspraxis widersprochen, die das
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lokale Gewohnheitsrecht grundsätzlich tolerierte (Bryen 2013, S. 46, 141–142, 146–148, 163–164; Wolff 2002, S. 113–114, 119–121; Mélèze Modrzejewski 2014, S. 257–258, 283–285). Alle anderen Amtsträger, die man in Petitionen um ein richterliches Urteil bat, verfügten streng genommen über keine Gerichtsbarkeit – zumindest nicht nachweislich. Theoretisch konnten sie nur dann als Richter fungieren, wenn der praefectus Aegypti die Lösung eines Rechtsstreites an sie delegierte, und derartige Fälle sind auch belegt (iudices delegati). Offensichtlich kam es aber dennoch vor, dass sich Parteien zur Erlangung eines richterlichen Urteils direkt an Amtsträger wandten, die eigentlich keine eigenständige Gerichtsbarkeit ausübten. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Amtsträger weisungsungebunden agieren und aufgrund ihrer amtlichen Autorität Hilfsmaßnahmen einleiten und Lösungen herbeiführen konnten. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass solche Amtsträger Gerichtsverhandlungen führten und Urteile fällten, ohne dass eine vorangehende Delegation nachzuweisen wäre (Kelly 2011, S. 83–84). Diese „Beamtenkognition“ folgte in Ägypten, wie am Beginn dieses Beitrages bereits angedeutet, vorrömischen Traditionen. Als Amtsträger, der umfassende Aufgaben im Rechtswesen des römischen Ägypten zu übernehmen hatte, ist der bereits angesprochene, (wie der Epistratege und Stratege) ebenfalls in der Ptolemäerzeit wurzelnde archidikastes zu nennen. Es wurde bereits erwähnt, dass sich seine Zuständigkeit über die gesamte Provinz erstreckte, womit er zu den höchsten Amtsträgern Ägyptens gehörte. Bekleidet wurde das Amt, bei dem es sich um keine Prokuratur handelte, von alexandrinischen Honoratioren oder (nach 200 n. Chr.) Ratsherren (in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts auch von ausgedienten ritterlichen Offizieren, überwiegend Kohortenpräfekten). Inwiefern der archidikastes, dessen Büro das sogenannte katalogeion in Alexandria war, eine eigenständige Gerichtsbarkeit besaß, ist vorläufig nicht zu klären (Sänger 2011, S. 70–71). Es ist aber gut bezeugt, dass er die administrative Drehscheibe eines stereotypen Verfahrens war, das der Schuldeintreibung diente und als Mahn- und Vollstreckungsverfahren bezeichnet wird; Paul Jörs (1918, S. 95, Anm. 1, 1919, S. 1) beschrieb es als „Urkundenvollstreckung“. Dieses Verfahren konnte dann eingeleitet werden, wenn ein Gläubiger eine öffentliche Urkunde als Beweis für das der eingeforderten Schuld zugrunde liegende Geschäft vorlegen konnte. Als öffentliche Urkunden galten staats-, gerichts- und banknotarielle Verträge (syngraphe, synchoresis, diagraphe). Besaß der Gläubiger keine öffentliche Urkunde, musste er den privaten Kontrakt vor der Einleitung des Mahn- und Vollstreckungsverfahren amtlich registrieren lassen, ein Verfahrensgang, der demosiosis genannt wurde und der ebenfalls beim archidikastes zu beantragen war. Das Mahn- und Vollstreckungsverfahren, das hauptsächlich in Zusammenhang mit Darlehensgeschäften begegnet (Sänger 2011, S. 139, 164), gliederte sich grob in drei Abläufe: Erstens die Zustellung des Mahnbescheides (diastolikon) an den Schuldner; zweitens die Pfändung (enechyrasia); drittens die Einweisung in den Besitz des Schuldners (embadeia). Das Mahnverfahren war mittels Eingabe an den archidikastes einzuleiten; in dieser erläuterte der Petent den Sachverhalt, paraphrasierte die zugrunde liegende öffentliche Urkunde und bat den Adressaten, den Stra-
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tegen mit der Zustellung des Antrages an den Schuldner zu beauftragen. Lag der angestrebten Mahnung eine private Urkunde zugrunde, wurde ihr Wortlaut vollständig in den Antrag des Gläubigers kopiert und zusätzlich zu der Zustellung des Mahnbescheides um ihre demosiosis ersucht. In beiden Fällen wurde im Büro des archidikastes sodann eine Kopie des Antrages erstellt und diese mit einer Verfügung des archidikastes an den Strategen versehen, die die Zustellung des Mahnbescheides an den Schuldner betraf. Der mit der Zustellungsverfügung des archidikastes versehene, kopierte Antrag ging an den Gläubiger zurück, der ihn dann in seine Eingabe an den Strategen inkorporierte und diesen um Weiterleitung an den Schuldner bat. Diese Eingabe wiederum wurde im Strategenbüro kopiert und mit einer Zustellverfügung des Strategen an einen untergeordneten Amtsträger versehen, der schließlich die Übermittlung des Mahnbescheides an den Schuldner vornehmen sollte; Empfang und Überbringung des Bescheides bestätigten der Schuldner und der jeweilige Überbringer mit ihren Unterschriften. Nicht nur im Mahnverfahren fungierte der archidikastes als zentrale Anlaufstelle. Auch das embadeia-Verfahren musste, sofern es auf hypothekarisch gesicherten Darlehen beruhte, durch eine Eingabe an diesen Amtsträger eingeleitet werden; die enechyrasia entfiel im Fall von hypothekarisch gesicherten Darlehen. Anders gestaltete sich die Einleitung des enechyrasia- und des embadeia-Verfahrens bei einem hypallagmatisch gesicherten Darlehen (womit der Schuldner verpflichtet war, bestimmte Gegenstände für ein eventuelles Vollstreckungsverfahren zur Verfügung zu stellen, dem Gläubiger an diesen Gegenständen aber – anders als bei der Hypothek – keine Rechte einräumte, die ähnlich solchen an einem Eigentum gewesen wären; vgl. Rupprecht 1995, S. 428–429), denn die Eröffnung dieser Verfahren war beim praefectus Aegypti zu beantragen. Nachdem der in Alexandria angesiedelte und ebenfalls auf ptolemäischen Vorläufern beruhende Spruchkörper der Chrematisten die enechyrasia und embadeia zu beschließen hatte, war es aber der archidikastes, der die Verfügung über die beschlossene Pfändung oder Besitzeinweisung (chrematismos enechyrasias/embadeias) an den Gläubiger übermittelte, der dann wieder jenen Amtsträger zu kontaktieren hatte, der dem Schuldner die jeweilige Benachrichtigung überbringen sollte. Zusätzlich zu den Aufgaben, die dem archidikastes im Rahmen des formalen Ablaufes des Mahn- und Vollstreckungsverfahrens oblagen, konnte der Schuldner diesem Amtsträger laufend auf das Verfahren bezogene Einsprüche (antirresis) einreichen, auf die der Gläubiger mit einer Replik reagieren konnte. In beiden Fällen gestalteten sich die eingereichten Urkunden als Eingaben. Die Eintreibung ausständiger Schulden leitet zu dem Aspekt der außergerichtlichen Streitbeilegung über. Da Petitionen, die verschiedenen Amtsträgern zur Lösung von Rechtsstreitigkeiten eingereicht wurden, in vielen Fällen nicht als Ausdruck einer de iure vorhandenen Gerichtsbarkeit der Adressaten angesehen werden können, sollte hier anstatt von außergerichtlicher Streitbeilegung präziser von informellen Formen der Konfliktlösung gesprochen werden, an denen Vertreter staatlicher Autorität nicht beteiligt waren und die demnach in die private Sphäre gehören.
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Diese Formen haben, wie bereits betont, in den Quellen weit weniger Spuren hinterlassen als die Justiz der Amtsträger, die damit teilweise einhergehende Gerichtsbarkeit und das Mahn- und Vollstreckungsverfahren. Konkret ist zunächst auf den Aspekt der Selbstjustiz einzugehen, der nur schwer zu fassen ist. Grundsätzlich verwundert das freilich wenig, wenn man bedenkt, dass Selbstjustiz nur dann zweifelsfrei identifiziert werden kann, wenn sie von Rechtsuchenden in ihren Klagen explizit angesprochen wird. Das wird in den Fällen unterlassen worden sein, in denen die Petenten selbst den Rechtsstreit durch einen Akt von Selbstjustiz verursacht oder verschärft hatten und nun die Reaktion der Gegenpartei beklagten. Aber auch abgesehen davon bieten die Papyri keine Hinweise darauf, dass Selbstjustiz in Ägypten eine übliche Form der Streitbeilegung gewesen wäre. Ihre grundsätzliche Existenz ist deswegen aber nicht in Abrede zu stellen, was anhand einiger an den praefectus Aegypti gerichteter Petitionen auch exemplifiziert werden kann. Sie wurden von Schuldnern eingereicht, deren Gläubiger die Schuldeintreibung selbst in die Hand genommen und dazu kein ordentliches Verfahren eingeleitet hatten (Tenger 1993, S. 121–127; Kelly 2011, S. 249–252). Dass die Papyri dem Aspekt der Selbstjustiz eine untergeordnete Bedeutung für die Streitbeilegung im römischen Ägypten zuweisen, deckt sich mit dem Befund der Ptolemäerzeit, der in dieselbe Richtung deutet (Bauschatz 2013, S. 8–37, 162–163, 173–175). Ähnlich ist sich die Quellenlage für beide Epochen auch dahingehend, dass im Fall von informeller Streitbeilegung dieselben Verfahrensweisen dokumentiert sind. Es handelt sich um die Schiedsgerichtbarkeit und um statuarisch festgelegte Gerichtsbarkeit innerhalb von Vereinigungen. Beide Verfahren können mitei nander verglichen werden: die Vereinbarung über die Einsetzung eines Schiedsgerichts (pactum compromissi) sowie jene, in der der jeweilige Schiedsrichter die Übernahme der ihm übertragenen Funktion bestätigte (receptum arbitri), wurden durch die statuarischen Bestimmungen ersetzt; insofern könnte auch die interne Streitbeilegung einer Vereinigung als Schiedsgerichtbarkeit umschrieben werden (San Nicolò 1927, S. 299). Neben den mehr als 500 Petitionen informieren über 100 Prozessprotokolle, welche Delikte zur Anklage gebracht wurden. Am häufigsten geht es um Vermögensschäden oder Gewaltausübung; über Sexualdelikte wird dagegen an keiner Stelle berichtet (Kelly 2011, S. 163–166). Strafrechtliche Ahndung nach einem Gerichtsverfahren ist nur in den wenigsten Fällen tatsächlich dokumentiert (Kelly 2011, S. 184–194; Bryen 2013, S. 133, 137). Vermögensschäden und Vertragsangelegenheiten lassen sich als Hauptbereich der Schiedsgerichtbarkeit anführen (Mélèze Modrzejewski 1952, S. 250–251). Gemäß P.Mich. V 243, 3–8 (Ars., 14–37), dem Statut einer unbekannten Vereinigung aus dem römerzeitlichen Tebtynis, betrafen Vergehen, die intern durch Geldstrafen geahndet wurden: die Nichterfüllung statuarisch festgelegter Verpflichtungen, die Missachtung der Sitzordnung bei Festmählern sowie Beschuldigungen, Beleidigungen, Intrigen und Korruption unter Mitgliedern; die Bestrafung schlechten Benehmens unter dem Einfluss von Wein sollte dagegen allgemein nach dem Ermessen der Vereinigung erfolgen (Boak 1937, S. 217, 218–219).
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2 Kernprobleme der Forschung Eine zusammenfassende monografische Studie über das Justizwesen im römischen Ägypten hat Barbara Anagnostou-Canas (1991) vorgelegt. Hinsichtlich einer grundlegenden, die Abwicklung des Mahn- und Vollstreckungsverfahrens betreffenden Darstellung ist auf drei umfangreiche Artikel von Paul Jörs (1915, 1918, 1919) zu verweisen, die trotz ihres Alters nach wie vor maßgeblich sind. Als spezifische Aspekte, die im Kontext der gerichtlichen Streitbeilegung bislang gut untersucht wurden, sind die Prozesseinleitung sowie die Bearbeitungsweise der an den Statthalter gerichteten Petitionen hervorzuheben (Foti Talamanca 1979, S. 25–319, 1984; Haensch 1994); auch die Konventsordnung wurde eingehend gewürdigt (Foti Talamanca 1974; Haensch 1995). Genauer beleuchtet wurden unlängst auch die Kompetenzen, die militärische Amtsträger auf lokaler Ebene in der Rechtsprechung besaßen (Peachin 2007; Palme 2008) sowie die Einspruchnahme gegen ein Mahnverfahren beim praefectus Aegypti, die Rolle der eidlichen Gestellungsversprechen im Prozessverfahren und ein kaiserzeitliches Gerichtsprivileg für Veteranen (Sänger 2011, S. 66–91). Neben den gerade skizzierten rechtshistorischen Forschungsinteressen, die sich mit den administrativen Fragen der gerichtlichen Streitbeilegung, dem Prozessrecht und der Verfahrensabwicklung beschäftigen – jener Themenbereich, der in Abschn. 1 besprochen wurde –, sei im Folgenden noch speziell auf einen Trend eingegangen, der sich momentan verstärkt in der Beschäftigung mit dem Petitionswesen im römischen Ägypten abzeichnet. Es handelt sich dabei um den Versuch einer sozialhistorischen Interpretation der vorhandenen rechtshistorischen Quellen. Dieses Vorhaben wurde unlängst von Benjamin Kelly (2011) und Ari Z. Bryen (2013) unternommen, zum Teil unter Heranziehung sozialtheoretischer und (rechts)an thropologischer Modelle. Kelly (2011) legte eine umfassende und facettenreiche monografische Analyse des in den römischen Papyri fassbaren Petitionswesens vor und fragte nach der Rolle, die dieser amtlichen Form der Streitbeilegung im Bereich der sozialen Kontrolle zuzuschreiben sei; Bryen (2013) widmete sein Buch den in besagtem Quellenmaterial dokumentierten Gewaltdelikten und der Wechselbeziehung zwischen diesem Aspekt und dem im römischen Ägypten vorherrschenden Rechtssystem. In diesem Rahmen ist von Interesse, dass Bryen gegen Deborah Hobson (1993) argumentierte, die in einer einflussreichen Studie (vgl. Bagnall 1989, S. 209–211) dafür plädiert hatte, dass in Petitionen im Fall von Gewaltdelikten lediglich die Herstellung des status quo ante, also Entschädigung, nicht aber Bestrafung oder Vergeltung angestrebt worden sei. Dagegen betonte nun Bryen (2013, S. 129; vgl. Kelly 2003, S. 70–81), dass es den Petenten in derartigen Fällen immer um Bestrafung der Gegenpartei gegangen sei. Kellys Monografie (2011) verdient deswegen gesteigerte Aufmerksamkeit, weil sie unter anderem das Verhältnis von formeller und informeller Streitbeilegung im römischen Ägypten thematisierte. Das ist nicht nur für ein generelles Verständnis der verschiedenen Konfliktlösungsstrategien von großer Bedeutung, sondern auch deswegen beachtenswert, weil der informellen Streitbeilegung von der gegenwärti-
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gen rechtshistorischen Forschung kaum Beachtung geschenkt wird; die letzte Studie zur Schiedsgerichtbarkeit im römischen Ägypten ist über ein halbes Jahrhundert alt (Mélèze Modrzejewski 1952), und ein ganz ähnliches Bild bietet sich bezüglich der (von Kelly nicht berücksichtigten) internen Gerichtsbarkeit von Vereinigungen: die letzte Untersuchung, die diese von einem rechtshistorischen Standpunkt fokussierte, geht auf Mariano San Nicolò (1927) zurück, beschränkt sich aber weitgehend auf das hellenistische Material; nachfolgende Behandlungen fassen die einzelnen Bestandteile der Statuten zusammen (Boak 1937) oder verfolgen, wie aktuell festzustellen, sozialwissenschaftliche Ansätze (Venticinque 2010). Freilich ist es ein schwieriges Unterfangen, einzuschätzen, in welchem Verhältnis formelle und informelle Streitbeilegung im römischen Ägypten zueinander standen. Trotz der eindeutigen Gewichtung des papyrologischen Quellenmaterials ist daraus kein ebenso eindeutiger Schluss zu ziehen. Die Aufzeichnungen, die wir über informelle Streitbeilegung besitzen, müssen keineswegs repräsentativ sein, da vieles vielleicht in einem informellen Rahmen geregelt wurde, der keine schriftlichen Unterlagen hinterlassen hat (etwa Aushandlung zwischen den Streitparteien, Schlichtung vor einem Mediator); dass Urkunden, die eine auf private Initiative erfolgte Schlichtung (dialysis) zwischen zwei Streitparteien festhalten, deutlich zahlreicher unter den spätantiken als den römischen Papyri auftreten, mag indessen – unter anderem – einer unterschiedlichen Urkundenpraxis geschuldet sein (Gagos und van Minnen 1994, S. 40; Kelly 2011, S. 261–262). Dennoch hat man festgestellt, dass trotz des Umstandes, dass Rechtsuchende – wie in anderen antiken Kulturkreisen und Epochen – stark auf Selbsthilfe bzw. eigene Initiative angewiesen waren, um Verfahren einzuleiten und voranzutreiben (Hobson 1993; Bryen 2013, S. 43) und deren Abwicklung den Petenten für gewöhnlich einige Geduld abforderte (Kelly 2011, S. 75–122), im römischen Ägypten eine merkliche Bereitschaft zur Streitbeilegung vor staatlichen Autoritäten vorhanden gewesen zu sein scheint (Bagnall 1989, S. 211, 215). Hatte Hobson (1993) noch annehmen wollen, dass die Ausfertigung einer Petition die letzte Zuflucht darstellte, die einem Rechtsuchenden zu Gebote stand und erst dann gewählt wurde, wenn vorangehende Versuche der informellen Streitbeilegung gescheitert waren, wird dieses Postulat nun von Kelly grundlegend angezweifelt. Er zeigt, dass eine derartige lineare Deutung keine Gesetzmäßigkeit besitzt; vielmehr scheint es plausibler zu sein, von einem flexiblen und mitunter aus taktischen Überlegungen resultierenden Wechsel zwischen formellen und informellen Formen der Streitbeilegung zu sprechen. In diesem Kontext konnte eine Petition und deren Abgabe als (Druck)Mittel benutzt werden, um eine informelle Streitbeilegung herbeizuführen. Die Möglichkeiten, die die staatliche Justiz bot, um Konflikte zu lösen, könnten im römischen Ägypten demnach unterstützend auf Formen informeller Streitbeilegung gewirkt und diese untermauert haben. Damit wäre es möglich, dass die formelle Streitbeilegung im römischen Ägypten Mechanismen der sozialen Kontrolle beeinflusst hat, wobei das Petitionswesen eher von der gehobenen sozialen Schichten in Anspruch genommen worden sein dürfte; die Angehörigen der ärmsten Schichten haben sich daran offenbar nicht beteiligt (Kelly 2011, S. 123–167). Der Einfluss, den die gerichtliche Streitbeilegung und die „Beamtenkognition“ im römischen Ägypten auf den Bereich der sozialen
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Kontrolle eventuell ausübte, sei aber dahingehend zu relativieren, dass das Aufsetzen einer Petition bestehende Feindschaften oder Konflikte natürlich auch weiter fördern konnte – ein Aspekt des Petitionswesens, der dann keinen Beitrag zur sozialen Kontrolle zu leisten vermochte (Kelly 2011, S. 244–286, 287–326, 329–333). Vor diesem Hintergrund erweist sich der Themenkreis der Konfliktlösung im römischen Ägypten als flexibles Zusammenspiel von gerichtlicher bzw. unter amtlicher Autorität erfolgender und informeller Streitbeilegung. Basiert diese Rechtskultur zweifellos auf ptolemäischen Vorläufern (Kelly 2011, S. 330–331), so ist ihre Gestalt in römischer Zeit in gleichem Maße Ergebnis der Eingliederung Ägyptens in das Imperium Romanum und der damit einhergehenden administrativen Anpassungen.
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Stichwortverzeichnis
A access to justice 13, 283 actio 13, 16, 17, 86, 87, 91, 101, 103, 104, 161, 162, 200, 220, 224–228, 230, 235–237, 240, 242, 261, 267, 288 Adel 7, 64 Ädil 161, 257 Ägypten 7, 9, 19, 76, 149, 162, 198, 207, 284–288, 291, 292, 296, 297, 301, 349, 360, 373, 374, 376–378, 383, 384, 386, 388–391 agon 68, 211, 317, 321, 369 Agora 5, 115, 120, 190, 209, 211, 249, 268 Akten 73, 75, 76 Alexandria 117, 383–387 Amtsträger 137, 151, 154, 190, 192, 208–213, 216, 279, 297, 299, 383–389 anakrisis 212 Anwalt 15, 63, 67, 110 Appellation 286, 300 apud iudicem 225, 288, 341 archidikastes 374, 383, 384, 386, 387 Archiv 78, 110 Areopag 2, 7, 115, 127, 245, 248, 252, 286, 297 Aristokrat 313 Armut 14 Asyl 150, 208, 278, 356, 377 Athen 1–3, 5–9, 13–15, 20, 21, 31, 33, 74, 75, 115, 120, 127, 128, 138, 149, 151, 153, 155, 188, 189, 191, 207–209, 212, 213, 245, 248, 266–269, 297, 298 atimoi 16
auditorium 118, 120 Ausbildung 59 Auspeitschung 268, 318 Ausstoßung 222, 328 B Basilika 118, 121 Bauer 23, 287 Bauordnung 191 Begnadigung 257 Bekanntmachung, öffentliche 102 Beroia 321 Bestechung 17–19, 64, 210, 211, 214, 247, 320, 323 Bevölkerungsschicht 174 Beweis 61, 62, 179, 184, 192, 215, 238, 376, 386 Beweisaufnahme 184, 200, 223 Bischof 20 Bürger 3, 5, 6, 15, 16, 20, 21, 34, 43, 47, 49, 76, 98, 103, 110, 136, 147–150, 152–154, 159, 163, 188, 210, 214, 221, 222, 234, 235, 237, 240, 246, 247, 251, 257–259, 262, 276, 284–286, 291, 297, 298, 339, 341, 346, 375 C calumnia 182, 236 cancellus 119 Chancengleichheit 216
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021 N. Grotkamp, A. Seelentag (Hrsg.), Konfliktlösung in der Antike, Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa 1, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56100-3
393
394 Chrematisten 117, 297, 301, 374, 387 Cicero 332 Codex 78, 97, 109, 110 Hammurapi 354 coercitio 257, 258, 261, 339 cognitio 13, 18, 19, 129, 141, 239, 261, 262, 298, 342, 383, 386, 390 commercium 159 consilium 86, 130, 161, 259, 262, 328 consistorium 118 Constitutio Antoniniana 162 conubium 159 conventus 19, 119, 287, 340, 384 Corpus Iuris Civilis 8, 9, 41, 130, 297, 299 cubiculum 140 D damnatio memoriae 278 defixiones 4, 170 Deir el-Medine 365 Dekurionen 338 Delphinion 248 diaita 210 diaitētai 190, 210 Dialektik 55, 60, 74, 213, 356, 361 dialytai 190 dikai 14, 210, 246 dikasterion 116, 118, 120, 209, 210, 296, 297, 374 dike 209 Drakon 31, 208, 246, 248, 267, 270, 357 duumvir 338 E edictum perpetuum 234 Edikt des Prätors 91, 234, 338 Ehre 29, 240, 241, 267, 309–313, 318, 323, 347 Eid 32, 151, 179–185, 189, 194, 208, 210, 215, 217, 223, 236, 237, 239, 246, 249, 317, 346, 366, 368 steitentscheidender 180 Eingabe 128, 384 Emotion 61, 359 Zorn 359 ephetai 248 Ethik 332, 359 exceptio 204, 234–236, 238, 239
Stichwortverzeichnis Exil 31, 33, 99, 245, 248, 249, 268, 277, 278, 375 Experte 5, 48, 174, 291 F Fairness 215 Falschaussage 215 Familie 7, 31–33, 37, 40, 56, 130, 188, 189, 208, 223, 229, 246, 248, 249, 256, 332, 349, 354, 357, 358, 364, 369 Fehde 28, 32, 38, 39, 365 Fluch 56 Fluchtäfelchen 52, 53, 56, 132 Fluchtafeln 170, 377 Folter 347 formula 288 Formularverfahren 13, 103, 129, 233 Forum 1, 2, 117, 119, 139, 220, 234, 285, 295, 296, 298, 299 Frauen 14 Freiheitsstrafe 269 Fremde 14, 131, 155, 157, 158, 164, 209, 279 fremde Gerichte 193 fremde Richter 151,152, 375, 377 Frieden 65, 67, 138, 183, 256, 275, 354, 367 Frist 151 Funktionär 209, 214, 297, 377 Funktionärsethik 364, 366 furtum 276 G Gast 147, 148, 159 Gebäude 140 Gebühren 211 Geldbuße 269, 319 Geldstrafe 265 Gemeindevorstand 374 gens 40, 332, 333 Gerichtsgebühr 15 Gerichtsrede 3, 53, 60, 62, 188, 215, 217, 287, 300 Gerichtsstand 2, 151, 152, 285, 348 Geschlecht 171 Geschworenengericht 192, 193, 227, 247, 250 Gewalt 171, 174, 223 Gortyn 74, 115, 128, 179, 267, 269, 311 graphe 14, 21, 209, 246 Grenzstreitigkeit 198, 201 Gymnasiarch 321
Stichwortverzeichnis H Haft 130, 277, 278 Handlungsfähigkeit 31, 34 Haussuchung 228 Hauswüstung 269, 309, 313 Heiligtum 115, 117, 118, 132, 175, 189, 321 Heliaia 116 Heliasteneid 210 Hellanodike 318, 319 Herrschaft 3, 5, 17, 22, 142, 240, 283, 284, 286, 297, 300, 377 Hinrichtung 227, 248, 252, 265, 266 homo sacer 275, 278 hospitium 159 I IIviri iure dicundo 339. Siehe auch duumvir imperium 143, 224, 258 Infamie 16, 21, 201, 241 Inschrift 74, 77, 137, 138, 149, 151, 188, 190, 192, 242, 284, 285, 291, 364 internationales Privatrecht 157 Instanz 137 isonomia 97 iudices pedanei 261 iudicium domesticum 40, 130 in iure 340 ius gentium 158, 160–162, 299 iusiurandum 180 K Kaiser 86, 111, 260 Kasuistik 87, 91, 128 Keilschrift 8, 179, 374 Klageformel 73, 159, 181, 234, 235, 237–239 Klageschrift 211, 214, 215, 377 Klientel 32, 203 König 98, 128, 148, 149, 187, 220–222, 256, 266, 296, 360, 366, 374, 376–378 Königsideologie 378 komos 311 Konfliktvermeidung 353, 359 Kreta 378 Kreuzigung 277, 278 kyrios 128 L Ladung 21, 211, 384 Land 76, 154, 360, 377 Langmut 359, 360 laokritai 374
395 legis actio 103, 159, 220, 224, 225, 233, 240 lex Aquilia 276 Irnitana 339 Rubria de Gallia Cisalpina 338 litis contestatio 235 logographoi 15, 212 Losmaschine 214 Losverfahren 5, 209, 211, 214, 246, 247, 318, 319, 323, 374 M männlich 308 Magie 47, 52, 53, 56, 82, 277, 357 Magier 52, 53, 171 Magistrate 136, 137, 151 Mahnverfahren 386, 387, 389 Markt 340 Mediation 135, 187, 188, 190, 191, 194, 197, 202, 203, 366 Mediator 135, 140, 187, 202, 390 Memphis 117 Metöken 14, 148, 153–155, 248 Militärgericht 346 Minderjährige 15, 131, 267 mos maiorum 328 mündlich 217, 307 Mündlichkeit 4, 74, 78 municipium 234, 289, 300, 338, 340, 341 Munizipagesetz 102 Munizipalgerichtsbarkeit 338 Munizipalgesetz 297 N Nachbarschaftssachen 182 Nachbarschaftsstreitigkeiten 198, 201 Nichtbürger 5, 148, 159, 209, 290, 292, 298, 375 O Öffentliche Verhandlungsräume 52 Öffentlichkeit 2, 49, 128, 201, 217, 251, 277, 355, 367–369 Öffentlichkeitsprinzip 120, 122 Olympia 317 P Palladion 248 Papyri 7, 81, 128, 130, 163, 170, 207, 284, 291, 292, 298, 301, 349, 363, 373, 383, 384, 388–390
396 parricidium 277 Parteienausgleich 354 Parteilichkeit 319 pater familias 15, 129, 130, 132, 143, 277, 332, 347, 350, 358 Patriarchengericht 19 peregrini 16 Peripherie 76, 301, 377 Personalitätsprinzip 158 Petition 384, 385, 390 pharmaka 171 Politik 1, 2, 4, 48, 138, 153, 174, 260 Polizei 262, 377 pontifex 100, 257 Popularklage 129, 210, 251, 260, 314 postliminium 163 praefecti iure dicundo 337 praefectus praetorio 140, 239, 260 praescriptio fori 298 Prätor 1, 4–6, 16, 19, 86, 93, 101, 104, 107, 130, 141, 159, 181, 182, 184, 199, 204, 210, 224–227, 230, 231, 233–240, 257, 259, 261, 262, 285, 337, 338 peregrinus 160 praetorium 118, 119 Präzedenzfall 136 Priester 4, 22, 100, 138, 190, 256, 287 Priesterdekret 378 Princeps 85, 118, 135, 345, 346 Prinzeps 118, 345, 346 Privatdelikten 276 privilegium fori 348 Provinz 76, 78, 81, 102, 162, 239, 283, 285–288, 290, 300, 338, 342, 346, 383, 384, 386 Provinzstatthalter 137 provocatio 222, 257–259 Provokation 180 proxenia 149 Prozessbegründung 180 Prozesseinleitung 384, 389 Prozessflüche 172 Prozesskosten 341 Prozessvertretung 348 Q quaestiones 7, 15, 259, 260, 339 quaestiones perpetuae 259, 261, 339 quaestores parricidii 256
Stichwortverzeichnis R Rache 3, 7, 27, 28, 30–32, 34, 37–39, 50, 128, 132, 172, 173, 175, 179, 182–184, 222, 245, 251, 252, 255, 256, 261, 267, 269, 275, 276, 356, 358, 365 Rechtsarchäologie 121 Rechtsethnologie 357 Rechtsfindung 87, 88 Rechtsfunktionen 357 Rechtsgewährungsverträge 150 Rechtshilfeverträge 150, 375 Rechtsliteratur 87 Rechtspluralismus 292 Rechtsprinzipien 102 Rechtsquellen 85 recuperatores 237, 288, 341 regimen morum 327, 332, 333 Reinheit 308 Religion 4, 47, 50, 55, 169–171, 174, 176, 248, 275, 322 Reskript 23, 140, 347 revocatio Romae 338 Reziprozität 28, 30, 31 Richterbestellung 193, 210 Richtereinsetzung 236 Richterliste 237 Richterstadt 192 Ritual 39, 42, 51, 174, 180, 222–224, 229, 230, 308 Rom 117 Rügebrauch 268, 269 Rügebräuche 132, 308–310, 312–314 rusticitas 19 S sacer 222, 223, 227, 275 sacrum 261 Schandstrafe 265, 319 Schiedseinrede 204 Schiedsgutachter 201 Schiedsrichter 5, 33, 139, 143, 188–190, 192, 194, 198–202, 204, 210, 213, 318, 319, 376, 388 Schiedsspruch 2, 198–200 Schiedsverfahren 39, 117, 119, 187, 190–192, 195, 197–204, 288 Schiedsverhandlung 199 Schiedsvertrag 189, 198, 199, 204 Schlägereien 308
Stichwortverzeichnis Schlichter 135, 152 Schlichtung 77, 197, 366, 390 Schnellverfahren 250 Schranken 2, 100 schriftlich/Schriftlichkeit 6, 74, 75, 79, 99, 127, 138, 192, 215, 239, 307, 385 Schuldengesetz von Ephesos 191 Schwache 97, 364 Schwurgot 318 secretarium 118, 119, 122 Selbsthilfe 3, 17, 19, 27, 30, 32, 37–43, 151, 154, 187, 225, 227, 245, 250, 251, 266, 270, 388, 390 sella curulis 4, 117 Senat 66, 136, 141 senatus consultum 65, 76, 135, 277 Sicherung 235, 241 Sippe 32 Sklaven 14 Soldaten 347, 349 Soldaten 22, 23, 345, 346, 348, 349 Solon 21, 33, 74, 245, 246, 266–269, 311, 313, 357 sozialer Status 18 soziale Schichten 359 Sozialisation 47, 49 Sozialkontrolle 47, 49, 50, 54–56 spanischer Munizipalgesetze 339 Sparta 308, 313 spiegelnde Strafe 276 Sprichworte 307, 359 Staat 2, 14, 17, 139, 147, 149, 157, 189, 192, 209–211, 222, 246, 247, 251, 353, 358, 365 Stadt 49, 54 stasis 192 Statthalter 1, 5, 18, 19, 102, 129, 136, 141, 161, 234, 239, 284–289, 297, 338, 346, 349, 383, 384, 389 status 163 Statusverfahren 201 Strafe 173 Strafrecht 8, 157, 208, 221, 222, 227, 228, 257, 269, 270, 275, 279, 353, 354, 356, 357 Strafverfahren 6, 163, 201, 245, 246, 255, 260–262 Strafzwecke 278 Stratege 374, 383, 386 Streitwert 340 Streiwert 211 Stymphalos 152, 269 sylan 150
397 symbola 150, 375 synegoroi 215 T Talion 227, 228, 231, 270, 276, 358 Tempel 128, 250, 268, 320, 365, 374 Tempeleide 374 Tempelfunktionäre 369 Theater 3, 47, 51, 52, 119, 311, 312, 314 Todesstrafe 33, 154, 163, 247, 250, 256, 258, 265, 266, 268, 270, 276–279, 345, 357 Tötung 256 Tötungsdelikte 249 Tora 353, 354, 359, 360 tresviri capitales 262 Tribunal 18, 118, 119, 122, 285, 340, 384 Türeinschlagen 309, 311 U Überbietung 28–31 Unterschicht 22 Urkunde 80, 182, 191, 212, 215, 238, 242, 296, 367, 386, 387, 390 Urteil 216, 234 V vadimonium 117, 338 velum 119 Verbrechensflüche 172 Verfahrensrecht 137, 190, 192 Verfahrensregeln 376, 378 Vergleich 4, 6, 7, 106, 110, 188, 189, 192, 194, 197, 203, 212, 239, 286, 357 Verhaltensorientierung 307 Vermittlung 89, 187, 188, 194, 197, 202, 277, 354, 366 Veröffentlichung 137 Vertragsstrafe 198–200 Vertragsstreitigkeiten 201 vindex 229 vindicare 223 Volksversammlung 32, 34, 48, 51, 52, 193, 210, 222, 227, 245, 247, 250, 258 Vollstreckung 21, 39, 40, 152, 194, 199, 200, 209, 216, 224, 226, 227, 230, 231, 237, 240, 241, 256, 262, 347, 374, 376, 377, 386, 387, 389 Schiedsspruch 200 Vormund 14 Vorverfahren 212
398 W Wahrheit 60, 89, 141, 179, 182, 216, 237, 249 Weisheit 140 Weisheitsliteratur 354, 359, 364 Wergeld 33 Wesir 365 Wettkampf 172, 211 Z Zanes-Statuen 319, 321, 323 Zauberpuppen 170
Stichwortverzeichnis Zensur 327 Zeuge 132, 151, 152, 154, 224 Zeugen 14, 18, 55, 129, 132, 151, 152, 154, 192, 200, 212, 215, 216, 224, 226, 228, 231, 249, 348, 349, 385 Zivilrecht 104, 246, 347, 354, 357 Zorn 132, 222, 376 Züchtigung, körperliche 345 Zuständigkeit 107, 285, 288, 289, 291, 299 Zwölftafelgesetz 16, 33, 39, 99, 175, 220, 258, 314, 332