Katastrophen in der Antike 3805346018, 9783805346016

Erdbeben, Vulkanausbrüche, Hungerkatastrophen oder Seuchen - das Leben in der Antike war geprägt von verheerenden Katast

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German Pages 160 [161] Year 2013

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Titel
Impressum
Inhalt
1. Sinn und Zweck der Beschäftigung mit Katastrophen in der Antike
2. Naturkatastrophen
3. Epidemien
4. Hungerkatastrophen
5. Kriegerische Katastrophen
6. Politische Katastrophen
7. Finanzkatastrophen
8. Brandkatastrophen
9. Schiffskatastrophen
10. Private Katastrophen
Chronik der in diesem Buch behandelten Katastrophen
Bibliographie
Bildnachweis
Dank
Personenregister
Ortsregister
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Katastrophen in der Antike
 3805346018, 9783805346016

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Holger Sonnabend

Katastrophen in der Antike

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2013 Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt/Mainz ISBN: 978-3-8053-4601-6 Gestaltung: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main Umschlagabbildung: Ausbruch des Vesuv 79 n. Chr. / Gemälde von François Reynaud © akg-images Druck: betz-druck GmbH, Darmstadt

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten. Printed in Germany on fade resistant and archival quality paper (PH 7 neutral) · tcf Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter: www.zabern.de

Lizenzausgabe für die WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt ISBN: 978-3-534-25570-2 Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Umschlagabbildung: Ausbruch des Vesuv by Pierre Jacques Volaire © North Carolina Museum of Art/CORBIS www.wbg-wissenverbindet.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-4643-6 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-8053-4644-3 (Buchhandel) eBook (PDF): 978-3-534-26814-6 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-26815-3 (für Mitglieder der WBG)

Inhalt

1. Sinn und Zweck der Beschäftigung mit Katastrophen in der Antike 2. Naturkatastrophen 3. Epidemien

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4. Hungerkatastrophen

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5. Kriegerische Katastrophen 6. Politische Katastrophen

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7. Finanzkatastrophen

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8. Brandkatastrophen

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9. Schiffskatastrophen

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10. Private Katastrophen

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Bibliographie

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Bildnachweis

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Chronik der in diesem Buch behandelten Katastrophen

Dank

Personenregister Ortsregister

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Caligula pflegte sich öffentlich darüber zu beklagen, in welchen Zeiten man doch leben müsse. Sie zeichneten sich durch keine allgemeinen Katastrophen aus. Die Herrschaft des Augustus sei durch die Niederlage des Varus, die des Tiberius durch den Einsturz der ­Zuschauer-Tribüne bei Fidenae berühmt geworden. Seine eigene Regierungszeit drohe durch Wohlstand in Vergessenheit zu geraten. Und so wünschte er sich immer wieder ­Niederlagen der Heere, eine Hungerkatastrophe, eine Pest, Feuer und ein Erdbeben. Sueton in der Biographie des römischen Kaisers Caligula (37–41 n. Chr.)

1. Sinn und Zweck der Beschäftigung mit Katastrophen in der Antike Ein ganzes Buch voller Katastrophen? Und dazu noch aus einer längst vergangenen Zeit? Wozu soll das gut sein? Sicher kann es bei einem solchen Vorhaben nicht darum gehen, beim Lesen jenes fast wohlige Schaudern zu erzeugen, das sich häufig einstellt, wenn man sich mit Unglücksfällen beschäftigt, von denen man selbst nicht tangiert ist. Und sicher soll auch nicht ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sensationen bedient werden. Vielmehr stehen bei dem Unternehmen drei übergeordnete Gesichtspunkte im Mittelpunkt. Erstens ist mit diesem Buch ein Beitrag zur historischen Katastrophenforschung zu leisten. In dieser Hinsicht hat sich nicht nur in der Alten Geschichte, sondern in den Geschichtswissenschaften überhaupt in den letzten Jahren viel getan. Zweitens geht es zwar auch um die Präsentation und Rekonstruktion der Katastrophen an sich, aber zugleich um deren Bedeutung für die Menschen, die diesen Katastrophen ausgesetzt gewesen sind. Drittens ergibt sich daraus die Möglichkeit, den immensen Erfahrungsschatz, den die Antike im Hinblick auf Katastrophen aller Art gesammelt hat, zur Orientierung auch in Bezug auf moderne Katast­ rophen zu nutzen. Gerade die Antike, wie man mit vollem althistorischen Selbstbewusstsein hinzufügen darf. Katastrophen gab es zu allen Zeiten, in der Steinzeit ebenso wie im Mittelalter und in der Neuzeit. Jedoch ist die Antike die früheste Phase der menschlichen Geschichte, die aufgrund ihrer Schreibfreudigkeit genügend Material zur Verfügung gestellt hat, um Katastrophen angemessen dokumentieren zu können. Demzufolge liefert die Antike gewissermaßen das reflektierte Urerlebnis der Katastrophe. Hier können Verhaltensweisen, Reaktionen und Deutungsmuster in ihrer ganzen elementaren Anfänglichkeit studiert werden. Und hier können Defizite in der Verarbeitung von Katastrophen ebenso verdeutlicht wie erprobte Möglichkeiten des erfolgreichen mentalen und psychischen Umgangs mit ihnen aufgezeigt werden. Was verstehen wir unter einer „Katastrophe“? Eine „Umkehr“, eine „Wendung“, wird der auf den exakten Wortsinn bedachte, des Griechischen kundige Altphilologe antworten. Denn das griechische Substantiv katastrophé kommt vom griechischen Verb katastrépho, und das bedeutet „umkehren, umwenden“, auch „umstürzen“. Damit impliziert die Originalbedeutung schon 7

einmal als Voraussetzung für die Zuweisung eines Vorganges in die Kategorie „Katastrophe“, dass dadurch etwas vorher Bestehendes verändert, radikal verändert wird. Im Allgemeinen wird „Katastrophe“ heute denn auch definiert als ein plötzlich und unerwartet eintretender Unglücksfall größeren Ausmaßes, mit erheblichem Schaden für die Menschen und ihre Umwelt, die in der Regel umfangreiche Hilfs- und Rettungsmaßnahmen notwendig machen. Konkret denkt man dabei an Naturkatastrophen, also an Erdbeben, an Vulkanausbrüche, an Überschwemmungen. Naturkatastrophen werden in diesem Buch selbstverständlich einen breiten Raum einnehmen. Der Schauplatz der antiken Geschichte war der Mittelmeerraum, und dieser war damals wie heute außerordentlich anfällig, was seismische Aktivitäten und damit verbundene Erdbeben angeht. So gibt es eine Fülle von Informationen über Naturkatastrophen in der Antike – Pompeji ist nur der bekannteste Fall gewesen, reiht sich aber ein in eine ganze Serie vergleichbarer Katastrophen. Als katastrophal können aber auch Seuchen und Epidemien empfunden werden oder die in der Antike ebenfalls nicht seltenen Hungersnöte, die viele Menschen das Leben kosteten. Gleiches gilt für Kriege. Sie sind in der Antike gleichsam der Normalfall gewesen, es gab praktisch kein Jahr, in dem nicht an irgendeiner Stelle der antiken Welt ein Krieg geführt worden ist. Manche sind als besonders katastrophal in die Geschichte eingegangen, zumindest, was die eine Seite der Beteiligten betrifft. So war für die Athener das Scheitern der Flottenexpedition nach Sizilien im Peloponnesischen Krieg (415–413 v. Chr.) ein ähnlicher Schock wie für die Römer das Desaster in der legendären Schlacht von Cannae gegen Hannibal und seine Karthager (216 v. Chr.). Damit ist man bei Katastrophen angelangt, bei denen nicht irgend­welche Naturgewalten am Werk waren, sondern für die die Menschen ganz a­ llein verantwortlich gewesen sind: Kriege sind Katastrophen, die potenziell zu verhindern sind, was bei Erdbeben nicht der Fall ist. Daher beschränkt sich die vorliegende Darstellung nicht allein auf „konventionelle“ Katastrophen. Sie erweitert das katastrophale Spektrum auf anthropogene Vorgänge und Ereignisse, die jedenfalls für die Betroffenen eine einschneidende Bedeutung hatten. Dazu gehören politische Katastrophen wie Bürgerkriege, Attentate, Umstürze und Revolutionen. Dabei auch wirtschaftliche und finanzielle Katastrophen ins Visier zu nehmen, bedeutet nicht, dem Zeitgeist zu huldigen, sondern eine die antike Katastrophen-Bilanz mit prägende Realität zu beschreiben. Man könnte in diesem Zusammenhang freilich auch den Begriff „Krise“ verwenden. Worin aber liegt der Unterschied zwischen „Krise“ und 8

„Katastrophe“? Im Kern darin, dass Krisen sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, während Katastrophen plötzlich und unerwartet eintreten. Aber auch diese Definition kann nur beschränkt Gültigkeit beanspruchen. Denn auch Katastrophen erweisen ihren „katastrophalen“ Charakter häufig erst durch die mittel- oder längerfristigen Konsequenzen. Insofern kann man darüber streiten, ob die wirtschaftlichen Probleme, von denen das bis dahin prosperierende Römische Reich im 3. Jahrhundert n. Chr. betroffen war, nicht eher als Krise denn als Katastrophe zu bezeichnen sind. Tatsächlich handelte es sich um eine langsame, schon in den Jahrzehnten zuvor angelegte Entwicklung, die jedoch von den meisten Menschen als eine abrupte Verschlechterung ihrer ­Lebensverhältnisse erlebt wurde. Eine Katastrophe ist es nun aber ganz ohne Zweifel, wenn jemand durch Feuer seinen gesamten Besitz verliert. Umso gravierender ist der Brand großer Teile einer ganzen Stadt – wie geschehen im Jahre 64 n. Chr., als die Weltstadt Rom brannte, woran man Kaiser Nero die Schuld gab, welcher seinerseits die Verantwortung den (wenigen) Christen von Rom zuschob. Doch das ist, wie zu zeigen sein wird, längst nicht die einzige verheerende Brandkatastrophe in der Antike gewesen. Katastrophal war für einen Reeder oder einen Kapitän der Verlust des Schiffes. Hunderte von Wrackfunden im Mittelmeer beweisen, dass die Schifffahrt auf dem Meer eine riskante Angelegenheit sein konnte. Doch auch auf Flüssen konnte einen das unbarmherzige Schicksal ereilen, und nicht alle hatten so viel Glück wie der Passagier eines Schiffes, das in den glorreichen Zeiten des Imperium Romanum auf dem Neckar unterwegs war und dann ­unvermittelt in große Schwierigkeiten geriet … Katastrophengeschichte ist immer auch Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Wie die Menschen Katastrophen der verschiedensten Art wahrnehmen, deuten, wie sie darauf reagieren, welche Konsequenzen sie ziehen (wenn sie denn das Glück haben zu überleben) – das lässt immer auch Rückschlüsse zu auf die Befindlichkeit einer Gesellschaft. Bekanntlich ist es nicht so, dass alle Menschen zu allen Zeiten auf dieselbe Weise auf Katastrophen reagierten, auch wenn es evident ist, dass sich manche Verhaltensweisen über die Zeiten hinweg immer wiederholen. Aber jede Gesellschaft, auch die der Griechen und der Römer, verfügte über ein spezifisches Katastrophen-Wahrnehmungs-Schema und ein spezifisches Katastrophen-Reaktions-Schema. Abschließend behandelt das vorliegende Buch eine Art von Katastrophe, die im Allgemeinen unberücksichtigt bleibt, wenn von diesem Thema die Rede ist: die Katastrophe im ureigensten privaten Bereich, die für fast alle Zeitgenossen ohne jedes Interesse ist, die Betroffenen aber genau so hart treffen kann wie die 9

größte Naturkatastrophe. Gemeint sind private, individuelle Schicksalsschläge wie Tod, Krankheit, Unfall, plötzliche Armut. Solche Fälle hat es zu allen ­Zeiten in Hülle und Fülle gegeben, ohne dass sie – sieht man einmal von entsprechenden Vorkommnissen in den höchsten Kreisen der Gesellschaft ab – allgemein prominent zur Kenntnis genommen worden wären. Die Quellen, die darüber Auskunft geben, sind – neben den zahlreich erhaltenen, allerdings vornehmlich auf Ägypten bezogenen Papyri – Inschriften, insbesondere Grabinschriften, die in der Antike noch weitaus auskunftsfreudiger gewesen sind als die heutigen, und Weihinschriften, in denen man sich an die Götter wandte, um sie um Hilfe in einer Notlage zu bitten oder ihnen für eine erwiesene Hilfe zu danken. So reicht der Bogen also von den großen Naturkatastrophen, von denen die Menschen als Gemeinschaft betroffen waren, bis hin zu den ganz privaten Schicksalen, die in ihrer Intensität nicht als minder gravierend empfunden wurden.

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2. Naturkatastrophen Im Schatten von Pompeji Wie heißt die Stadt in Griechenland, die 426 v. Chr. von einem schweren Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami verwüstet wurde? Die Antwort lautet: ­Orobiai. Wer diese Antwort sofort parat hat, darf für sich zu Recht einen ­Expertenstatus reklamieren. Wie heißen die beiden Städte in Italien, die 79 n. Chr. durch den verheerenden Ausbruch des Vesuv verschüttet wurden? Wer die Antwort auf diese Frage weiß, erntet keine Lorbeeren, sondern darf sich höchstens damit rühmen, in der historischen Allgemeinbildung nichts Entscheidendes versäumt zu haben. Pompeji und Herculaneum sind gewissermaßen die Synonyme für die antike Naturkatastrophe schlechthin. Jedoch war dieses Ereignis, so gravierend es auch gewesen ist, nicht die schlimmste Naturkatastrophe, die es in der Antike gegeben hat. Erst die besonderen Umstände verhalfen Pompeji und Herculaneum zu jener Prominenz, die dafür verantwortlich ist, dass sich heute regelmäßig Ströme von Touristen aus aller Welt durch diese beiden Städte ergießen. Verpackt unter einer dicken Schicht aus Lava und Bimsstein, harrten die verschütteten Städte jahrhundertelang der Wiederentdeckung, die dann im 18. Jahrhundert erfolgte, zu intensiven archäologischen Forschungen führte und dem modernen Besucher das einmalige Erlebnis beschert, sich in einer Stadt zu bewegen, die fast noch genauso aussieht wie in jenen verhängnisvollen Tagen im August des Jahres 79 n. Chr. Orobiai hingegen blieb diese Popularität versagt. Der Ort befand sich an der Nordwestküste von Euboia und war in der Antike wegen seines Apollon-Orakels auch überregional bekannt. Als die Katastrophe hereinbrach, flüchteten viele in die Berge, doch nicht wenige Menschen kamen ums Leben. Von der Siedlung blieb kaum noch etwas übrig. Lange Zeit lag die Stätte brach, bis in byzantinischer Zeit an dieser Stelle eine neue Siedlung entstand. Touristen kommen nicht hierher, um der Katastrophe von 426 v. Chr. zu gedenken, sondern um sich an den Badestränden von Rovies, wie die moderne Siedlung heißt, zu vergnügen. Der Vesuv, Pompeji und Herculaneum haben die anderen Naturkatastrophen der Antike in den Schatten gestellt. Ohne dass man ihnen deswegen einen Vorwurf machen kann, verdecken sie den Umstand, dass es in der Antike massenhaft Naturkatastrophen gegeben hat. Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsuna11

Schauplatz einer der bekanntesten Naturkatastrophen der Antike: Herculaneum, im Hintergrund der Vesuv, der 79 n. Chr. auch Pompeji zerstörte

mis, auch Überschwemmungen waren gewissermaßen an der Tagesordnung. Der mediterrane Mensch hatte mit der Katastrophe zu leben, sie gehörte gleichsam zu seiner alltäglichen Erfahrung – wie es in vielen Regionen der Mittelmeerwelt, vor allem in Italien, Griechenland und der Türkei, auch heute noch der Fall ist. Über viele dieser Katastrophen liegen in den Quellen nur lapidare Informationen vor. Häufig werden sie von den antiken Historikern und Chronisten nur en passant erwähnt, stehen also gar nicht im Mittelpunkt dessen, was sie eigentlich sagen wollen. Nie hätte man erfahren, dass es 64 n. Chr. in Neapel ein – allerdings wohl nicht allzu schweres – Erdbeben gegeben hat, wäre nicht zeitgleich Kaiser Nero im dortigen Theater aufgetreten, um seine Gesangskünste zum Besten zu geben. Der Biograph Sueton (Nero 20,3) berichtet, dass während der Vorstellung durch das Erdbeben die Mauern des Theaters ins Wanken gerieten, der Kaiser jedoch ungerührt weitersang. Der Historiker Tacitus (ann. 15,34) kennt eine etwas andere Version: „Als alle Zuschauer weggegangen waren, stürzte das Theater in sich zusammen, ohne einen Menschen zu verletzen.“ 12

Das Erdbeben ist Nebensache, der Auftritt des Kaisers die Hauptsache. Und auch ein Ausbruch des Aetna auf Sizilien wäre auf ewig im Dunkel der Katastrophengeschichte verborgen geblieben, hätte Sueton (Cal. 51,1) nicht verraten, dass der römische Kaiser Caligula, der zwischen 37 und 41 n. Chr. regierte, ­einen Besuch in Messina eiligst abbrach, weil ihm „der Rauch aus dem Gipfel des Aetna und sein Rumoren Furcht einflößte“. Bei den Griechen verhielt sich dies nicht anders, wie sich an vielen Beispielen demonstrieren ließe. Wenn die Katastrophen in diesen Zusammenhängen also nur eine marginale Rolle spielen, so gibt es auch keine Möglichkeit, Näheres über sie herauszufinden.

Die Katastrophe von Helike Zum Glück ist aber auch eine ganze Reihe von Naturkatastrophen außerordentlich gut dokumentiert, so dass wir uns nicht über deren Ablauf, sondern auch über deren Folgen und die Reaktionen der Menschen detailliert unterrichten können. Eine schlimme Katastrophe, in ihren Auswirkungen sicherlich nicht weniger gravierend als der Untergang von Pompeji, fand 373 v. Chr. in Griechenland statt. Ort des Geschehens: die Stadt Helike in der nördlichen Peloponnes am Golf von Korinth. Touristenreisen nach Helike erübrigen sich, denn die einst wohlhabende und deswegen auch blühende Stadt gibt es nicht mehr. Sie ist im Meer versunken, als Ergebnis des furchtbaren Zusammenwirkens von einem Erdbeben und einem Tsunami. Ein wahres Schreckensszenario muss sich damals, in einer kalten Winternacht, in und um Helike abgespielt haben. Rückblickend schreibt im 1. Jahrhundert v. Chr. der griechische Historiker ­Diodor (15,48): „Niemals zuvor sind griechische Städte von einer solchen Katastrophe betroffen worden, und niemals zuvor sind ganze Städte mitsamt ihren Einwohnern verschwunden.“ Diese Aussage mag man noch damit relativieren, dass die antiken Autoren immer von der Tendenz geleitet gewesen sind, die Katastrophe, die sie gerade beschrieben, als die schlimmste aller Zeiten zu charakterisieren. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich damals ein ungewöhnlich schweres Unglück ereignete – so schwer, dass der Name „Helike“ bis in die Spätantike hin­ ein synonym für ein schreckliches Inferno stand. Wie sich aus den Angaben der antiken Schriftsteller rekonstruieren lässt, lief die Naturkatastrophe folgendermaßen ab: Mitten in der Nacht begann die Erde heftig zu beben. In Panik liefen die Menschen aus ihren Häusern ins Freie. Viele jedoch wurden unter den einstürzenden Mauern, Dächern und Wänden 13

begraben. Am Morgen präsentierte sich die einst so stolze Stadt Helike als ein Trümmerfeld. Die Überlebenden befanden sich noch im Schockzustand, als sie ein, wie es Diodor formuliert, „noch größeres und noch unglaublicheres Unglück“ traf: „Das Meer türmte sich zu einer immensen Höhe, und eine riesige Flutwelle überschwemmte alle samt ihrer Heimatstadt.“ Helike versank im Meer aufgrund eines gewaltigen Tsunamis, und dies, obwohl das Zentrum der Stadt mehr als zwei Kilometer vom Meer entfernt lag. Auch die benachbarte Stadt Bura, in den Bergen gelegen, wurde von der Naturkatastrophe schwer in Mitleidenschaft gezogen. Angeblich kamen alle Bewohner, die sich in der Stadt aufhielten, ums Leben. Sie waren so überrascht, dass sie nicht mehr fliehen konnten. Heute wird, sobald eine Naturkatastrophe geschehen ist, eine umfangreiche Hilfsmaschinerie in Bewegung gesetzt. Soldaten, Rotes Kreuz, private Organisationen erscheinen am Ort des Geschehens und versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie kümmern sich um die Überlebenden, um die Obdachlosen. Regelmäßig tauchen auch, wenn die Gefahr vorüber ist, Politiker auf, sorgsam darauf bedacht, dass ihr Erscheinen auch von den Medien registriert wird. Sie kümmern sich um die Betroffenen und versprechen schnelle und unbürokratische Hilfe, versichern zudem, alles zu tun, um zukünftig besser gegen solche Katastrophen gewappnet zu sein. Wie verhielt es sich in dieser Hinsicht in der Antike? Der Fall Helike beweist, wie viele andere Beispiele, dass Unterstützung von außen eine Selbstverständlichkeit war. Helike gehörte zum Achäischen Bund, einer Vereinigung von insgesamt zwölf Stadtstaaten. Kaum war die Nachricht von dem Unglück publik geworden, schickte der Bund 2.000 Helfer zum Ort der Tragödie. Viel ausrichten konnten sie allerdings nicht mehr, denn die Stadt Helike gab es nicht mehr, sie war in den Fluten verschwunden. Zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen moderner Naturkatastrophen gehört der offenbar nicht zu zähmende Wunsch vieler Menschen, nach der Katastrophe den Ort des Unglücks persönlich in Augenschein nehmen. Für dieses Phänomen hat sich der Begriff „Katastrophentourismus“ eingebürgert. Man könnte zu der Ansicht neigen, dass sich manche Dinge niemals ändern, wenn man erfährt, dass es einen solchen Katastrophentourismus auch im Fall Helike gegeben hat. Einheimische Fischer machten ein lukratives Geschäft daraus, neugierig herbeigereiste Zeitgenossen mit ihren Booten entlang der Küste zu chauffieren und ihnen dabei die auf dem Meeresgrund verstreuten Reste der versunkenen Stadt Helike zu zeigen. Unter diesen Neugierigen befand sich gelegentlich 14

auch Prominenz wie der Geograph Eratosthenes, zu dessen Verdiensten unter anderem die nahezu exakte Berechnung des Erdumfangs zählte. Er bestieg ein Boot, und die Fischer erzählten ihm, am Grund des Meeres befinde sich eine bronzene Statue des Gottes Poseidon. In den Händen halte er ein Seepferd, dessen gezackte Formen eine Gefahr für die Netze der Fischer darstelle. Viel später, in der römischen Kaiserzeit, gab der Reiseschriftsteller Pausanias (7,24,13) zu, unter Wasser eigentlich gar nicht viel erkannt zu haben: „Die Reste von Helike sind noch gut erkennbar, aber nicht mehr so gut, da sie vom Salzwasser entstellt sind.“ Tatsächlich dürfte sich das Vergnügen der Touristen an der submarinen Besichtigung der versunkenen Stadt Helike im Laufe der Zeit in immer engeren Grenzen gehalten haben, weil man praktisch nichts mehr sah. Doch bis in die Neuzeit hinein gab es Reisende, die von Erfolgserlebnissen berichteten. So notierte am Ende des 18. Jahrhunderts der italienische Reisende Xavier Scrofani, der 1794/95 eine Tour durch Griechenland unternahm: „Von einem kleinen Kahn aus sehe ich auf dem Grund des Meeres die Reste von ­Helike. Das Meer hat einen großen Teil der Mauern dieser Stadt, ebenso seine Häuser und seine Tempel beschädigt. Aber man erkennt noch eine Straße, eine Ecke des ­Theaters und ein anderes großes Gebäude, das man für das Senatslokal hält.“

Man darf getrost davon ausgehen, dass hier mehr Imagination als Realität im Spiel war. Authentischer waren hingegen die archäologischen Forschungen der letzten Jahre. In einer Lagune wurden Ruinen entdeckt, die man mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem antiken Helike identifizieren darf. Hundertprozentige Sicherheit besteht indessen noch nicht, zumal sich die Landschaftsformation – und auch der Küstenverlauf – seit der Antike doch verändert haben.

Zerstörung und Auferstehung von Rhodos Keiner der Bewohner von Helike hat die Naturkatastrophe, die sich in einer kalten Winternacht des Jahres 373 v. Chr. ereignete, überlebt. Für sie kam jede Hilfe zu spät. Jedoch: Hilfe war da. Und das war kein Einzelfall. Antike Opfer von Naturkatastrophen konnten sich, wenn sie das Desaster überlebt hatten, darauf verlassen, dass man sich um sie kümmerte. Das hatte weniger mit Humanität zu tun als vielmehr mit politischen Beweggründen. Im Fall von Helike erfolgten die wenn auch wirkungslosen Hilfsmaßnahmen aufgrund der Solidarität innerhalb einer politischen Organisation (des Achäischen Bundes). Eine 15

andere Motivation lag den Hilfsaktionen in der Zeit des Hellenismus zugrunde – also jener Zeit nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.), die geprägt war von der Herrschaft konkurrierender griechisch-makedonischer Könige. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Fall Rhodos. Die griechische Insel vor der Küste Kleinasiens liegt inmitten einer seismisch höchst aktiven Zone, war und ist demzufolge immer wieder teils schweren Erdbeben ausgesetzt. 227 v. Chr. gab es ein besonders heftiges Erdbeben, das immense Schäden verursachte. Viele Gebäude waren zerstört, auch der Hafen war in Mitleidenschaft gezogen worden. Zu beklagen war auch der Verlust eines Weltwunders: Der „Koloss von Rhodos“, eine monumentale Statue des Gottes Helios, 66 Jahre zuvor aufgrund eines Gelübdes errichtet, stürzte ebenfalls ein. Er durfte damit das zweifelhafte Privileg für sich beanspruchen, die kürzeste „Lebens­ dauer“ unter allen Sieben Weltwundern der Antike gehabt zu haben. Rhodos war damals eine reiche Handelsrepublik. Reich geworden war man, weil man wusste, wie man zu Geld kam. Es hätte den Bürgern von Rhodos keine Probleme bereitet, den Wiederaufbau nach dem Erdbeben selbst zu finanzieren. Doch man wählte einen anderen, einen raffinierten und gleichzeitig doch auch naheliegenden Weg. Nach und nach besuchten eloquente Abgesandte der Stadt die einzelnen Könige und Fürsten in der großen, weiten Welt des Hellenismus. Sie schilderten die Auswirkungen des Erdbebens in den schwärzesten Farben. Wie die antiken Quellen betonen, traten sie dabei aber so ­würdevoll auf, dass keiner auf die Idee kam, es mit Bittstellern zu tun zu haben. Doch ihr Anliegen war ganz klar: Sie wollten finanzielle und materielle Mittel einwerben, um den Wiederaufbau durchzuführen und dabei möglichst die ­eigenen Kassen zu schonen. Und die Rechnung ging auf, denn die Rhodier waren zusätzlich zu allem anderen auch noch geschickte Psychologen. Frei­ mütig sagten sie ihren königlichen Gastgebern, wie viel Geld oder welche Mittel sie von deren monarchischen Kollegen erhalten hatten. Und da zwischen den hellenistischen Herrschern eine gesunde (und manchmal auch ungesunde) Rivalität herrschte, war jeder bemüht, die anderen in Sachen Freigebigkeit zu übertrumpfen. So konnten die Gesandten aus Rhodos überall reich beschenkt die Heimkehr antreten. Was sie an Hilfszusagen im Gepäck hatten, konnte sich wirklich sehen lassen. Hieron und Gelon, die Herrscher von Syrakus, gaben zum Beispiel 75 Silbertalente für den Wiederaufbau der Stadtmauern und der Docks. König Antigonos Doson von Makedonien spendierte, wie buchhalterisch genau festgehalten wurde, 10.000 Dachbalken von 8 bis 16 Ellen Länge, 5.000 Querbalken, sieben Ellen lang, 3.000 Talente Eisen, 1.000 Talente Pech und viele andere Materialien mehr. Auch bei Seleukos, dem Herrscher Syriens, 16

schauten die rhodischen Abgesandten vorbei und zogen auch dort mit reicher Ernte wieder ab. Bei alledem wollte auch der König von Ägypten, Ptolemaios III. mit dem Beinamen Euergetes I. nicht zurückstehen. Er versorgte die Rhodier mit Geld und Fachpersonal, das bei dem Wiederaufbau Hand anlegen sollte. Dank der gebefreudigen Könige konnten sich die Rhodier nun daranmachen, die durch das Erdbeben verursachten Schäden zu beseitigen. Und zufrieden stellten sie am Ende fest: Die Stadt Rhodos erstrahlte nun in neuem Glanz, sie war sogar schöner als vor dem Erdbeben. Nur das Weltwunder Koloss richtete man nicht mehr auf. Da hielten sich die Rhodier an einen alten Orakelspruch, der, allerdings etwas obskur, lautete: „Was gut liegt, soll man nicht ­bewegen.“ Nach einem Bericht des römischen Antiquars Plinius (Naturalis historia 14,41) machte das kolossale Erdbeben-Opfer aber auch in diesem Zustand noch eine gute Figur: „Der Koloss wurde nach 66 Jahren durch ein Erdbeben umgestürzt, doch auch liegend erregt er noch Staunen. Nur wenige können seinen Daumen umfassen, seine Finger sind größer als die meisten Standbilder. Weite Höhlungen klaffen in den zerbrochenen Gliedern. Innen sieht man ­große

Der antike Hafen von Phalasarna an der Westküste Kretas ist heute komplett verlandet – ­vermutlich eine Folge des Seebebens von 365 n. Chr.

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Steinmassen, durch d ­ eren Gewicht man die Statue beim Aufstellen stabilisiert hatte.“ Heute liegt der Koloss nicht mehr dort, wo ihn die Rhodier einst nach dem Erdbeben liegen gelassen haben. Als im 7. Jahrhundert n. Chr. die Araber kamen, wurden die wertvollen Trümmer abtransportiert.

Römische Kaiser als Katastrophenhelfer Ptolemaios trug den richtigen Beinamen. „Euergetes“ war das griechische Wort für „Wohltäter“. Und als euergesía pflegten die Griechen damals die Verpflichtung der Herrschers zu bezeichnen, sich in allen Lebenssituationen großzügig zu zeigen. Freigebigkeit war eine herrschaftslegitimierende Kategorie, geradezu notwendig, um als Monarch allgemeine Akzeptanz zu finden. Die euergesía gehörte demzufolge in der Zeit des Hellenismus zu den elementaren Herrscher­ tugenden. Naturkatastrophen waren eine gute Gelegenheit, um zu beweisen, dass man bereit war, die Erwartungen zu erfüllen und sich als „Euergetes“ zu betätigen. Und so nutzte man auch gerne das Erdbeben von Rhodos, um seine Freigebigkeit zu demonstrieren. Auf die Bereitschaft zur Hilfe von Seiten des Staates konnten auch die Bewohner des Römischen Reiches bauen, vor allem in der Kaiserzeit. Auch hier achtete der Kaiser ganz persönlich darauf, dass die Opfer von Naturkatastrophen in ihrem Unglück nicht allein blieben. In aller wünschenswerten Deutlichkeit zeigte sich dies bei einem schweren Erdbeben, dass 17 n. Chr. weite Teile Kleinasiens erschütterte. Dieses Erdbeben ist als das „12-Städte-Beben“ in die Chroniken eingegangen, weil nicht weniger als zwölf große Städte in Mit­ leidenschaft gezogen wurden. Der römische Historiker Tacitus weiß darüber Folgendes zu berichten (ann. 2,47): „In diesem Jahr wurden 12 bekannte Städte in Kleinasien von einem Erdbeben getroffen. Da es zur Nachtzeit eintrat, war das Unheil noch überraschender und furchtbarer. Es half auch das bei solchen Unglücksfällen übliche Rettungsmittel der Flucht ins Freie nicht viel, da die Bewohner von klaffenden Erdrissen verschlungen wurden. Man erzählt, es hätten sich hohe Berge gesenkt, in steiler Höhe sei erschienen, was vorher Ebene gewesen war, und unter den Trümmern seien Flammen hervorgeschossen.“

Kaiser in Rom war zu dieser Zeit Tiberius, der Nachfolger des großen Augustus. Erst drei Jahre zuvor hatte er die Herrschaft angetreten, doch beim 12-StädteBeben stellte er unter Beweis, dass er (jedenfalls in dieser Phase seiner Regierung noch) das Einmaleins des erfolgreichen Kaisers beherrschte. Kaum war 18

Nach dem 12-Städte-Beben ließ sich Kaiser Tiberius auf Münzen als Katastrophenmanager feiern

die Nachricht von dem verheerenden Erdbeben in Rom angekommen, wurden Tiberius und seine Zentrale aktiv. Am schwersten hatte es die Stadt Sardes, die einstige Metropole der lydischen Könige, getroffen. Die Bewohner erhielten für Maßnahmen zum Wiederaufbau einen sofortigen Betrag in Höhe von 10 Millionen Sesterzen zugewiesen. Außerdem wurden ihnen für einen Zeitraum von fünf Jahren die sonst an die römische Staatskasse zu zahlenden Steuern erlassen (dieses Privileg erhielten auch die übrigen elf von der Naturkatastrophe heimgesuchten Städte). Außerdem schickte er einen Mann seines Vertrauens nach Kleinasien, der vor Ort die anstehenden Arbeiten koordinieren sollte. War bei den hellenistischen Herrschern das Motiv zu helfen die Erfüllung der Erwartungen, die man mit ihnen in ihrer Eigenschaft als „Wohltäter“ verband, so handelte der römische Kaiser gemäß der patronalen Verpflichtungen, die ihm seine Position auferlegte. Er war der Patron aller Römer, er war der „Vater des Vaterlandes“ (pater patriae), der seine Schutzbefohlenen niemals im Stich lassen durfte. Im Gegenzug revanchierten sich diese mit absoluter Loyalität und Treue zum Herrscher. Von der patronalen Pflichterfüllung des Kaisers profitierten 17 n. Chr. die Städte in Kleinasien, die ihrerseits wussten, wie sie sich dem hilfsbereiten Herrscher erkenntlich zu zeigen hatten. Sie stifteten ihrem Patron eine kolossale Statue, die auf dem Caesar-Forum in Rom aufgestellt wurde. Tiberius wusste seine Unterstützung ebenfalls in angemessener Weise publik zu machen. Er ließ Münzen in Umlauf bringen, die mit der Legende Civitatibus Asiae Restitutis (etwa: „Nach der Wiederherstellung der Städte Asiens“) an seine segensreiche Tätigkeit erinnerten.

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Auch die allegorischen Frauenfiguren auf der Basis eines Altars aus Puteoli (Kampanien) sollten die Fürsorge des Kaisers nach dem 12-Städte-Beben in Kleinasien dokumentieren

Eine antike Mega-Katastrophe Fragt man nach den schwersten Naturkatastrophen der Antike, so nimmt einen traurigen Spitzenplatz ein Ereignis von nach damaligen geographischen Vorstellungen globalen Ausmaßen ein. Es handelt sich um ein Erdbeben in Kombination mit einem fürchterlichen Tsunami, dessen Auswirkungen von der Ostküste des Mittelmeeres bis nach Sizilien zu spüren waren. Das Datum dieser Tragödie war der 21. Juli 365 n. Chr. Die antiken Berichte überschlagen sich geradezu in dem Bestreben, Begriffe und Bezeichnungen dafür zu finden, was sich im Sommer 365 auf dem Mittelmeer abspielte. Nach Ammianus Marcellinus, dem Autor eines großen Geschichtswerkes, soll das Unglück „die ganze Weite des Erdkreises“ erfasst haben. Der christliche Schriftsteller Hieronymus vermerkt, diese Katastrophe habe die ganze bewohnte Welt heimgesucht. Er schreibt (Chron. 2,44c): „Das Meer überflutete die Küsten und verursachte ­viele Leiden für zahllose Völker auf Sizilien und den anderen Inseln.“ 20

Als Christ dachte er an eine Neuauflage der Sintflut. Schadensberichte kolportieren die antiken Gewährsleute auch aus Kreta, Nordafrika und vor allem aus Alexandria, der großen, stolzen Hafenstadt in Ägypten, einst von ­Alexander dem Großen gegründet und auch im Römischen Reich eine Stadt mit Welt­ format. Ammianus Marcellinus liefert eine sehr detaillierte Beschreibung dessen, was sich damals, an jenem verhängnisvollen Juli-Tag, zwischen Palästina und Sizilien abgespielt haben soll (26,10,15–19). Kurz nach Sonnenaufgang lieferten Blitz und Donner die Ouvertüre. Dann begann die Erde zu zittern, das Meer teilte sich und strömte wieder zurück: „Der Schlund der Tiefe öffnete sich. Die vielgestaltigen Arten der Meerestiere wurden, im Schlamm zappelnd, sichtbar, und die weiten Täler und Höhen, die die Natur bei ihrer Entstehung unter unermesslichen Fluten verborgen hat, wurden damals, wie man glauben darf, den Sonnenstrahlen zugänglich. Viele Schiffe waren so wie auf trockenem Boden gestrandet, und eine Menge Menschen liefen ohne Furcht zwischen den kleinen zurückgebliebenen Tümpeln umher, um Fische und ähnliche Tiere mit den Händen zu sammeln.“

Diese Sorglosigkeit aber sollte den neugierigen Menschen zum Verhängnis ­werden: „Da erhoben sich die Meereswogen wie im Zorn über den erzwungenen Rückzug in umgekehrter Richtung, brachen durch die brodelnden Untiefen über Inseln und weit ausgedehnte Strecken des Festlands mit Gewalt herein und machten unzählige Gebäude in den Städten und wo sie sonst zu finden waren dem Erdboden gleich.“

Und nun kam es zu einem wahren Inferno: „Als niemand mit einem Zurückfluten der Wassermassen rechnete, töteten und verschlangen diese viele tausend Menschen. Bei dem heftigen Strudel der zurückbrandenden Fluten sanken viele Schiffe, wie man später sah, als sich die Brandung des stürmischen Elements gelegt hatte, und die beim Schiffbruch ums Leben gekommenen Seeleute lagen auf dem Rücken oder mit dem Gesicht nach unten am Strand.“

Der Historiker erinnert sich, persönlich ein Schiff gesehen zu haben, das bei der Stadt Methone auf der Peloponnes an Land geschleudert worden war, wo es als stummer Zeuge der Naturkatastrophe von 365 n. Chr. liegen blieb. Eine Kontrollinstanz zur Bestätigung oder auch zur Relativierung der antiken Berichte (neben Ammianus und Hieronymus haben auch verschiedene andere Autoren, sowohl christlicher als auch nichtchristlicher Couleur, über das Desaster Schilderungen geliefert) sind die modernen archäologischen und 21

g­ eologischen Forschungen. Dabei konnte der Nachweis erbracht haben, dass sich die Katastrophe von 365 tatsächlich ereignet hat – eine Feststellung, die nicht selbstverständlich ist, denn antike Autoren (selbst Historiker) haben gelegentlich, aus den unterschiedlichsten Gründen, Katastrophen auch schlicht ­erfunden. Das gilt zum Beispiel für die römischen Bürgerkriege in der Endphase der Republik, als Größen wie Caesar, Pompeius, später Octavian (der nach­ malige Kaiser Augustus) und Marcus Antonius um die Macht kämpften. Die erbitterten politischen und militärischen Auseinandersetzungen lassen die beschreibenden und kommentierenden Autoren von einem grotesken Szenario unterschiedlichster Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Unwettern, Finsternissen (sie zählten in der Antike auch zu den Naturkatastrophen), Erd­ beben oder Heuschreckenplagen begleiten. Diese waren mit Sicherheit nicht real, sondern dienten der darstellerischen Absicht, das Chaos auf der politischen Bühne mit angeblichem Chaos in der Natur zu verbinden, als Zeichen für die gestörte Harmonie zwischen Göttern und Menschen. 365 ereignete sich eine reale Katastrophe – es fragt sich nur, ob sie wirklich so verheerend war, wie es die antiken Informanten behaupten. Nachgewiesen werden konnte das ­Epizentrum westlich von Kreta. Die Insel wurde damals sehr stark in Mit­ leidenschaft gezogen. Als Folge der Katastrophe verschoben sich Oberflächenniveau und Küstenverlauf in der Weise, dass die Insel sich Richtung Osten neigte, mit der weiteren Konsequenz, dass die Häfen im Osten (man kann das heute noch sehen) im Meer versanken. Verifiziert werden konnten auch die Berichte, die davon sprechen, dass der gesamte östliche Mittelmeerraum – und also auch die Millionenstadt Alexandria – von der Katastrophe betroffen wurden. Nordafrika und Sizilien sind als Schauplätze dieser Katastrophe von 365 dagegen eher unsicher. Vielleicht wurden lokale Schadensereignisse aus ungefähr derselben Zeit mit der großen Katastrophe im Osten der mediterranen Welt in Verbindung gebracht. Was aber bezweckten die antiken Autoren dann mit der Konstruktion einer Mega-Katastrophe? Grundsätzlich war man über die gesamte Antike hinweg der Ansicht, dass Naturkatastrophen entweder ein Zeichen oder eine Strafe der Götter waren. Als das Römische Reich ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. christlich wurde, hat man diese Vorstellung ohne weiteres auf den Christengott über­ tragen. Ammianus Marcellinus, eine der Hauptquellen für die Katastrophe von 365, war kein Christ. In traditioneller Weise war er davon überzeugt, dass sich große politische Umwälzungen durch Anomalien in der Natur ankündigten. Bei Ammianus war die überdimensionierte Katastrophe von 365 wohl ein Vorspiel für eine grandiose militärische Katastrophe, die 13 Jahre später stattfand 22

und mit der der Historiker bezeichnenderweise sein Geschichtswerk abgeschlossen hat. Damals, im Jahr 378, erlebten die Römer bei Adrianopel (dem heutigen Edirne im türkisch-griechisch-bulgarischen Grenzgebiet) eine verheerende Niederlage gegen die Goten, bei der, zu allem Überfluss, Kaiser Valens ums Leben kam. Mit 365 hatten die Götter ein Zeichen für 378 gegeben, und weil die Niederlage von Adrianopel so gravierend war, musste auch die Katastrophe von 365 entsprechend dramatisiert werden. Bei den christlichen Autoren kamen andere Deutungsmuster zum Tragen. Hieronymus, einer der Hauptvertreter, instrumentalisierte die Katastrophe für eine Abrechnung mit Kaiser Iulian, der zwischen 361 und 363 regierte und von den Christen mit dem Beinamen Apostata („der Abtrünnige“) versehen worden war, weil er die alten römischen Kulte reaktivieren wollte. Das ließ sich der Christengott nicht gefallen, und er setzte mit der grandiosen Katastrophe ein Zeichen, das alle davor warnen sollte, vom rechten, d. h. dem christlichen Glauben abzufallen. Dazu passt eine von den Christen im Zusammenhang mit dem Ereignis von 365 kolportierte Geschichte. Im dalmatinischen Epidauros soll sich etwas Wundersames begeben haben. Die Bewohner fürchteten, die meterhohen Wellen würden ihre Stadt zerstören. In ihrer Not wandten sie sich an einen alten Mönch namens Hilarius. Dieser erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen und lieferte einen eindrucksvollen Beleg dafür, dass man mit Hilfe Gottes jene Naturgewalten, die durch ihn außer Rand und Band geraten waren, auch wieder zähmen konnte: Der Mönch malte, gebannt beobachtet von den Bewohnern von Epidauros, das christliche Kreuzsymbol in den Sand und hob beschwörend seine Hände in Richtung des tobenden Meeres. Das Wasser­ massen türmten sich daraufhin zunächst in Furcht erregende Höhen auf, um dann langsam wieder in sich zusammenzufallen.

Erdbebenzone Antiochia Verschiedene Aspekte der Erfahrung, Wahrnehmung und Handhabung von Naturkatastrophen liefern in geradezu exemplarischer Weise auch die historischen Berichte über ein schreckliches Erdbeben, das 526 n. Chr. Antiochia, die berühmte Metropole am Fluss Orontes im nördlichen Syrien, erfasste. Heute liegt die Stadt an der türkisch-syrischen Grenze und trägt den Namen Antakya. Diese Region ist bis heute in Bezug auf Erdbeben extrem gefährdet. Die Chronik der schweren Erdbeben zeigt eine relative hohe Frequenz einschlägiger Vorkommnisse. 65 v. Chr. wurde die Stadt von einem Erdbeben betroffen, das 23

auch viele andere Städte in Syrien zerstörte und 170.000 Todesopfer gefordert haben soll. Ein weiteres schweres Desaster ereignete sich in der frühen Kaiserzeit, als in Rom Kaiser Caligula (37–41 n. Chr.) regierte. Der exzentrische Herrscher stellte nach dieser Naturkatastrophe Gelder für die Überlebenden und für den Wiederaufbau zur Verfügung. Schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde Antiochia von einem verheerenden Beben im Jahre 115 n. Chr. Diese Katastrophe hat in den römischen Quellen deswegen viel Beachtung gefunden, weil sich zu diesem Zeitpunkt Kaiser Traian höchstpersönlich in der Stadt aufhielt. Er hatte hier auf dem Weg zu einem Feldzug gegen die Parther Station gemacht. In seiner Begleitung befand sich auch seine Familie. Am Morgen des 13. Dezember war dann ein fürchterliches Erdbeben ausgebrochen. In der ­Beschreibung Cassius Dios heißt es (68,24–25): „Zunächst ertönte ganz überraschend ein furchtbares Brüllen, dem ein entsetzliches Beben folgte. Die ganze Erde wurde in die Höhe gehoben, auch die Gebäude sprangen empor. Einige von ihnen wurden nur nach oben gerissen, um dann zusammenzustürzen und in Trümmer zu fallen, während andere, wie in einem Wellengang hin und her geschüttelt, umstürzten und mit ihrem Schutt weithin auch unbebaute Flächen bedeckten. Das Krachen der splitternden und brechenden Holzbalken zusammen mit Ziegeln und Steinen war zutiefst schreckenerregend. Auch Staub wirbelte in riesigen Wolken auf, so dass niemand mehr etwas sehen oder sagen oder verstehen konnte.“

Auch die Menschen hatten schwer zu leiden: „Was die Menschen betraf, so gerieten viele auch außerhalb ihrer Häuser in arge Bedrängnis. Sie wurden nämlich gewaltsam in die Höhe gerissen und emporgeworfen und dann, wie von einer Klippe stürzend, auf die Erde geschmettert, wodurch sie teils Verstümmelungen davontrugen, teils ums Leben kamen. Sogar einige Bäume sprangen mitsamt ihren Wurzeln in die Luft. Von den Leuten aber, die in ihren Häusern geblieben waren, starben so viele, dass man ihre Zahl nicht feststellen kann. Denn sehr viele tötete an sich schon die Wucht der zusammenstürzenden Trümmer, und eine große Menge erstickte im Schutt. Wer aber nur mit einem Teil des Körpers eingeklemmt unter Steinen und Holzbalken lag, hatte grässlich zu leiden, konnte er doch weder länger leben noch auf der Stelle sterben. Trotzdem wurden, wie bei einer derart riesigen Menge zu erwarten, sogar noch viele von ihnen gerettet, kamen jedoch nicht ohne Schaden davon. Zahlreiche Menschen verloren Beine und Arme, andere erlitten Schädelbrüche, andere wieder erbrachen Blut. Einer von ihnen war auch der Konsul Pedo, der sofort verstarb. Kurz gesagt, es gab damals keine Art von Verletzung, die den Menschen erspart geblieben wäre. Und da der Himmel viele Tage und Nächte hindurch die Erde erbeben ließ, befanden sich die Leute in schlimmer, hoffnungsloser Lage. Die einen lagen begraben unter den eingestürzten Gebäuden und fanden so den Tod, andere mussten an Hunger sterben, sofern sie sich nicht zufällig in einem Hohlraum, der

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durch schräg geneigte Balken entstanden war, oder auch in einer gewölbten Säulen­ halle befanden und dort am Leben geblieben waren.“

Cassius Dios Bericht über das Antiochia-Beben von 115 n. Chr. ist eine der detailliertesten und eindringlichsten antiken Beschreibungen, was die Auswirkungen einer Naturkatastrophe für die Menschen angeht. Das gilt auch für jene Passage, in der er darlegt, was geschah, als das Erdbeben endlich nachgelassen hatte: „Einer, der seine Füße auf die Ruinen zu setzen wagte, bemerkte plötzlich eine noch lebende Frau. Sie war nicht allein, sondern hatte auch noch einen Säugling bei sich. Und indem sie sich selbst und das Kind mit ihrer Milch ernährt hatte, war es ihr gelungen, die Katastrophe zu überstehen. Die Leute gruben die Frau aus und brachten sie zusammen mit dem Kind wieder zu Kräften. Daraufhin untersuchten sie auch die anderen Schutthaufen, doch konnten sie niemanden mehr am Leben finden, außer einem Kind, das an der Brust der toten Mutter noch zu trinken versuchte. Als sie dann die Leichen herausholten, konnten sie selbst nicht länger glücklich sein, dass sie selbst gerettet worden waren. So groß waren die Schicksalsschläge, die damals Antiochia getroffen hatten.“

Und was war mit dem Kaiser und seiner Familie geschehen? Deren Schicksal war für die antike Berichterstattung natürlich besonders interessant. Traian hatte Glück. Er befand sich, als die Erde zu beben anfing, gerade in einem Gebäude und rettete sich mit einem spektakulären Sprung aus dem Fenster. Das trug ihm ein paar Prellungen ein, doch sonst passierte ihm nichts. Im Hippodrom der Stadt wartete er mit vielen anderen über mehrere Tage hinweg das Ende des Bebens und der Nachbeben ab. So hatte er die Katastrophe also relativ unbeschadet überstanden. Die Angriffspläne für den Krieg gegen die Parther waren allerdings durcheinandergeraten. Denn aufgrund der schweren Schäden in der Stadt und der Umgebung war die militärische Logistik erheblich erschwert, so dass der Feldzug nur mit Verspätung angetreten werden konnte. Offenbar war der Kaiser nicht so abergläubisch wie viele seiner Zeitgenossen, die eine solche Naturkatastrophe als ein schlechtes Omen für eine so große kriegerische Unternehmung angesehen hätten. Diese aber gestaltete sich zunächst sehr erfolgreich, die kaiserlichen Legionen drangen bis zum Persischen Golf vor. Dann allerdings erfolgte die Gegenoffensive der Parther, und die Römer mussten sich zurückziehen. Traian überließ die weitere Kriegführung einem seiner Untergebenen und machte sich auf die Rückreise nach Rom, das er jedoch nie erreichen sollte. Am 7. August 117 n. Chr. starb er in Selinus in Kilikien. Antiochia kam auch in der Folgezeit nicht zur Ruhe, war immer wieder der Schauplatz von teils heftigen Erdbeben. 341, kurz nach dem Tod Konstantins des Großen, dauerte ein solches Erdbeben gleich mehrere Tage lang, manche 25

Quellen sprechen sogar von vielen Monaten, wobei aber wohl einzelne kleinere Beben zu einem Teil des großen Bebens gemacht worden sind. 458 erfolgte erneut ein schweres Erdbeben. Trotz dieser virulenten Gefahr kam jedoch niemand auf die Idee, die Stadt zu verlassen und sich woanders anzusiedeln. Dafür war die „Krone des Ostens“, wie man Antiochia nannte, als Wohnort viel zu attraktiv, denn hier kulminierten Handel und Wandel. Man sonnte sich in ­seinem Wohlstand, was auch für die kommunalen Finanzen galt: Als eine der ganz wenigen Städte im oströmischen Raum verfügte Antiochia über den Luxus ­einer Straßenbeleuchtung. Gleichzeitig war Antiochia eine der wichtigsten Städte des Christentums. In den 40er Jahren des 1. Jahrhunderts war hier die Bezeichnung „Christen“ geboren worden, als sich die Mitglieder der dortigen Gemeinde diesen Namen gaben. Später war Antiochia Bischofssitz und häufiger Tagungsort von kirchlichen Konzilien. Wahrzeichen der Stadt war seit der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts die Goldkuppel jener prächtigen Kirche, die Konstantin der Große den Christen Antiochias gestiftet hatte und „Große ­Kirche“ genannt wurde. Dann schlugen im Mai des Jahres 526 n. Chr. die Naturgewalten in einer Weise zu, wie sie selbst die an Katastrophen gewöhnten Bewohner von Antio-

Die Phlegräischen Felder in Kampanien sind seit der Antike seismisch höchst aktiv. Hier das Heiligtum der Augustalen in Bacoli

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chia noch nicht erlebt hatten. Die Stadt war damals voll von Menschen. Zu den etwa 200.000 Einwohnern kamen viele auswärtige Besucher hinzu, die hier das bevorstehende Himmelfahrtsfest feiern wollten. Das verheerende Beben begann am 20. oder 29. Mai – die Quellen sind hier nicht eindeutig – gegen ­Mittag. Einer der wichtigsten Informanten ist der zeitgenössische Historiker Johannes Malalas, seines Zeichens Autor einer Weltchronik. Sein besonderes Interesse an der Katastrophe von 526 rührte daher, dass er selber aus Antiochia stammte und also das Schicksal seiner Heimatstadt zu beschreiben hatte. Wahrscheinlich war er sogar Augenzeuge jener verhängnisvollen Vorgänge, die aus der „Krone des Ostens“ eine weitgehend zerstörte Stadt machten. Bei Malalas (419–420) ist zu lesen, wie das Erdbeben praktisch alles zerstörte, wie die Gebäude einstürzten und die Menschen unter den Trümmern begraben wurden. Zu dem dadurch bereits verursachten Chaos trat dann noch ein Feuersturm hinzu, den Marcellinus Comes, ein weiterer byzantinischer Chronist, damit erklärt, dass der Wind offenes Feuer aus den Küchen der Häuser in die einstürzenden Gebäude trug. Dies hatte verheerende Auswirkungen, die ganze Stadt stand in Flammen. So blieben vom stolzen Antiochia am Ende nur Ruinen übrig. Außer einigen Häusern am Fuße der Berge rings um die Stadt war alles verschwunden. Auch die den Christen heiligen Stätten, die Kirchen und die Klöster waren nicht verschont worden. Die „Große Kirche“ mit der goldenen Kuppel schien den Flammen zunächst trotzen zu wollen, was viele gläubige Menschen hoffen ließ, Gott wolle ihnen damit ein Zeichen der Rettung geben. Doch nach sieben Tagen wurde auch dieses Gotteshaus ein Opfer der Flammen. Was die Zahl der Menschen angeht, die bei dieser Naturkatastrophe ums Leben gekommen sind, liefern die Quellen unterschiedliche Angaben: Malalas spricht von 250.000, der byzantinische Geschichtsschreiber Prokop, ebenfalls ein Zeitgenosse, nennt die Zahl 300.000. Solche Zahlen sind in den antiken Bilanzen von Naturkatastrophen häufig nur die Chiffren für „sehr viel“. Gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass tatsächlich Zehntausende das Inferno nicht überlebten. Somit stellt das Antiochia-Erdbeben von 526 eine der schlimmsten Naturkatastrophen der gesamten Antike dar. Nach der Chronik des Zacharias von Mytilene (8,4) war die Zahl der Toten auch deswegen so hoch, weil die Menschen, als die Katastrophe begann, beim Mittagessen gewesen waren: „Es war Sommer, und während sie aßen und Speisen im Mund hatten, fielen ihre Häuser über ihren Köpfen zusammen.“ Die Chronisten verfügten auch über genauere Informationen, was die tragischen Bedingungen angeht, unter denen viele der Opfer ums Leben kamen. 27

So ist bei Malalas zu erfahren, dass viele Menschen, die durch das Erdbeben verschüttet worden waren, unter den Trümmern nur noch tot geborgen werden konnten. Es war nicht gelungen, sie rechtzeitig zu befreien. Der Chronist Theophanes (Chron. 172 f.) berichtet: „Einige Menschen waren auch noch am ­Leben, als sie unter den Ruinen begraben lagen, aber sie wurden vom Feuer ­verbrannt, das aus der Erde kam.“ Neben den vielen namenlosen Opfern traf es auch die Prominenz. So gehörte zu denjenigen, die bei der Katastrophe ums Leben kamen, der Bischof von Antiochia. Dem Oberhaupt der städtischen Christen hatten herabfallende Trümmer den Kopf abgetrennt. Die Toten wurden, sofern man in der Lage war, sie sofort zu bergen, auf große Haufen geschichtet und dann gleich unter den Ruinen begraben. An geordnete Bestattungen auf den Friedhöfen war in ­diesem Chaos nicht zu denken. Kaiser im Oströmischen Reich war damals Iustin, der Onkel des nachmals so berühmten Kaisers Justinian. Als die schlimmen Nachrichten aus Antiochia die Hauptstadt Konstantinopel erreichten, wusste der Kaiser, was man von ihm erwartete: auf jeden Fall genug Betroffenheit zeigen. Nach dem – allerdings sehr viel späteren – Zeugnis des byzantinischen Chronisten Georgios Kedrenos (640–641) gab sich Iustin außerordentlich bewegt und verfiel in ritualisierte Trauerbekundungen: „Er warf seine Krone und seine kaiserliche Kleidung beiseite, und weinte, gekleidet in schmutzige Lumpen, mehrere Tage lang, und selbst an Festtagen betrat er die Kirche in erbärmlichen Gewändern, weil er es nicht ertragen konnte, irgendwelche Zeichen seiner Macht anzulegen.“

Die Bewohner von Konstantinopel taten es dem Kaiser nach und erwiesen den Opfern und Betroffenen in Antiochia ihre Reverenz, indem sie sich ebenfalls in Lumpen kleideten und sieben Tage lang fasteten und beteten. Man freute sich in Antiochia über die solchermaßen geleistete Solidarität. Doch mehr noch war man glücklich über die materiellen und finanziellen Hilfen, die umgehend aus Konstantinopel eintrafen. Kronprinz Justinian und dessen Gattin Theodora wollten bei dieser Welle der Hilfsbereitschaft nicht zurückstehen, und so stifteten sie erhebliche Mittel für den Wiederaufbau von Kirchen, ­Bädern und Hospizen. Als das Schlimmste vorüber war, setzten hitzige Debatten über die Ursachen dieser so schlimmen Katastrophe ein. Für die christlichen Chronisten ist die Angelegenheit klar: Dieses Unglück hatte Gott gesandt. Das dürfte auch der allgemeinen Einschätzung entsprochen haben. Theomenia ist der entsprechen28

de griechische Begriff, der in den Quellen dafür verwendet wird. Prokop hat dagegen eine andere Erklärung zu bieten. Seiner Meinung nach war Justinian schuld, den er in seinen Anekdota als „Dämon in Menschengestalt“ desavouiert (und dies, obwohl er in seinen anderen historischen Schriften nicht müde wurde, das Loblied auf Justinian zu singen). Der Neffe des noch amtierenden Kaisers habe, so Prokop kryptisch, mit heimlicher Macht und infolge seiner dämonischen Natur der Menschheit viele Leiden zugefügt. Eine solche Sichtweise war nicht ganz ungewöhnlich und auch nicht ohne Vorbilder. Man verwendete sie in der Antike gerne als Argument gegen als hybrid empfundene Herrscher. Das war beispielsweise auch bei dem persischen Großkönig Xerxes oder dem römischen Kaiser Nero der Fall gewesen. Die Götter bzw. Gott rächten über die rebellierende Natur die Untaten dieser Potentaten. Gott also hatte den Menschen eine unfassbare Strafe gesandt, und so mussten die Bewohner von Antiochia alles daransetzen, den erzürnten Gott wieder zu besänftigen. Das gelang nur, wenn man sich in der reinsten Form der christlichen Religion verschrieb und all jene Mittel anwandte, die man kannte, um das Ziel zu erreichen. In den Tagen nach dem Beginn des Erdbebens wurde in ganz Antiochia gebetet und gefastet. Und Gott erhörte das Flehen der Menschen, wie der Kirchenschriftsteller Johannes von Ephesos berichtet (299–301): „Am dritten Tag des Unglücks – es war ein Sonntag – wurde am westlichen Teil des Himmels ein erleuchtetes Kreuz entdeckt. Und alle, die überlebt hatten, sahen es und waren beglückt. Sie riefen ‚Herr, erbarme dich‘, eine Stunde lang. Danach zeigte sich die Gnade Gottes auf die folgende Weise: 30 oder 40 Tage später wurden Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder lebend in den Trümmern gefunden. Alle waren erstaunt und überzeugt, dass die Barmherzigkeit Gottes überfließend war, weil er seine Gnade den Lebewesen nicht verweigerte.“

Überhaupt überschlagen sich die christlichen Berichte in der Darstellung von Wundereignissen. Malalas sagt zusammenfassend: „Noch viele weitere Wunder geschahen, die mit Worten nicht zu beschreiben sind und deren Geheimnis nur der unsterbliche Gott kennt.“ Wer von den Chronisten Worte fand, schrieb von den Räubern, die nicht davor zurückschreckten, den Menschen, die während des Bebens verzweifelt aus der Stadt flohen, ihr ganzes Hab und Gut abzunehmen, das sie bei sich führten. Außerdem durchsuchten sie die Ruinen der zerstörten Stadt nach Schätzen und schändeten sogar die Leichen, um Wertsachen zu finden. Das schrie nach Strafe und Gerechtigkeit, und Gott enttäuschte die rechtschaffenen Menschen nicht. Nur kurze Zeit später fanden die Übeltäter, wie Malalas befriedigt mitteilt, auf völlig unerklärliche Weise den Tod. Gott hatte mit den 29

Menschen wieder seinen Frieden gemacht. Wie sonst sollte man es sich erklären, dass schwangere Frauen, die unter den Ruinen verschüttet gewesen waren, noch 20 oder 30 Tage später unverletzt geborgen wurden? Und manche von ihnen hatten unter den Trümmern sogar gesunde Kinder zur Welt gebracht. Doch einen dauerhaften Frieden hatte Gott mit den Menschen offenbar nicht geschlossen. So musste es jedenfalls den Christen erscheinen, und im ­byzantinischen Antiochia waren fast alle Christen. Nur zwei Jahre später bebte die Erde erneut. Gerade erst hatte man sich von den Auswirkungen der vorigen Erdbebens erholt, und noch war gar nicht alles wieder aufgebaut. Am 29. November 528 – jetzt war Justinian gerade in seinem zweiten Jahr als Kaiser – dauerte das Erdbeben zwar nur eine Stunde, doch wieder verloren viele Menschen ihr Leben. Sogar eine genaue Zahl der Opfer ist überliefert, was voraussetzt, dass nach der Katastrophe eine traurige Bestandsaufnahme vorgenommen ­wurde: 4.870 Tote waren zu beklagen. Und all die Gebäude, die man mühsam neu aufgebaut hatte, stürzten wieder in sich zusammen: „All die Pracht, mit der die Stadt durch die Großzügigkeit des Kaisers und durch die von den Bürgern auf eigene Kosten errichteten Gebäude versehen worden war, wurde zerstört.“

So sagt der Chronist Theophanes. Und groß war die Furcht vor Nachbeben. Die Bevölkerung floh in Scharen entweder in benachbarte Städte oder verschanzte sich in den Höhlen der Berge. Und wieder lief die übliche Prozedur an, um den erbosten Gott zu besänftigen. In Antiochia, in den Städten ringsum und in der Hauptstadt Konstantinopel wurde gemeinsam gebetet. Die Menschen, die in der Stadt selbst geblieben waren, beteten ebenfalls, mit bloßen Füßen, sie weinten, warfen sich in den Schnee (der Winter muss damals früh gekommen sein) und flehten Gott um Gnade an. Auch ein Wunder soll wieder eine Rolle gespielt haben: Ein alter Mann sprach die Empfehlung aus, man solle an die Haustüren die Worte „Christus ist mit uns, halte ein“ schreiben. Tatsächlich sollen danach die Erdstöße nachgelassen haben. Das war die christliche Sicht der Dinge. Hilfreicher war die praktische Unterstützung aus Konstantinopel, doch die Religion blieb weiter dominant. Man beschloss, der Stadt einen anderen, erdbebensicheren Namen zu geben. Aus Antiochia wurde Theopolis, die „Gottesstadt“. Allerdings musste man bei all den Vorkehrungen irgendetwas übersehen haben: Vier Jahre nur blieb man von einer Katastrophe verschont, dann begann die Erde schon wieder zu beben. Danach scheint einige Jahre Ruhe eingekehrt zu sein, doch diese Ruhe war trügerisch. Weitere schwere Erdbeben sind für die Jahre 580 und 587 bezeugt. Bei der ersten Katastrophe soll der Stadtteil Daphne 30

völlig zerstört worden sein. Bei dem zweiten Beben kamen schätzungsweise 60.000 Menschen ums Leben. Diese Zahl ergab sich, als die Behörden die Zahl der alimentierten Brotempfänger vor und nach dem Erdbeben berechneten. Die Chronik des Schreckens lässt sich bis in die Gegenwart fortsetzen, und es ist zu befürchten, dass diese Region immer wieder für katastrophale Schlag­ zeilen sorgen wird.

Die Katastrophe von Santorin Schriftliche Quellen zu Naturkatastrophen in der Antike sind nicht frei von Tücken und Fallstricken. Indes fällt die Rekonstruktion antiker Naturkatastrophen noch schwerer, wenn keine Textquellen zur Verfügung stehen. Natur­gemäß ist dies bei jenen Katastrophen der Fall, die vor der Verwendung der Schrift (bei den Griechen war dies erst seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. der Fall) stattgefunden haben. Hier schlägt dann die Stunde der Archäologen, der Geologen, der Geoarchäologen und überhaupt der Naturwissenschaftler. Sie ent­wickeln häufig die ­unterschiedlichsten Theorien und Lösungsansätze, wie das Beispiel Santorin zeigt. Santorin, von den Griechen meist Thera genannt, ist eine der attraktivsten Inseln der Gruppe der Kykladen, deren südlichsten Teil sie zugleich bildet. Wer

Durch den verheerenden Vulkanausbruch im 17. Jahrhundert v. Chr. wurden große Teile der griechischen Insel Santorin (Thera) buchstäblich in die Luft gesprengt

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zum ersten Mal nach Santorin kommt und keine Gelegenheit gehabt hat, sich im Vorfeld über Geographie, Geologie und Geschichte der Insel zu informieren, staunt über ihre eigenartige Gestalt. Sie gleicht in ihrer Form einem Viertelmond oder einer Sichel. Steil ragen die Felsen nach oben, wo sich fast trotzig die Häuser der Inselstadt erheben. Die Sichel umrahmt zwei kleine Inseln, von den Griechen Palaia Kameni und Nea Kameni genannt. Beide Inseln sind Vulkaninseln und liegen in der Caldera der Vulkaninsel Santorin. Die eigenartige Gestalt von Santorin ist das Ergebnis einer nun tatsächlich gigantischen Vulkan-Eruption, durch die die Insel buchstäblich explodierte und in der Folge jene so charakteristische Form annahm. Was diese Eruption für die damaligen Bewohner von Santorin bedeutete, lässt sich erahnen, auch wenn keine schriftlichen Berichte vorliegen. Es kann davon ausgegangen werden, dass kaum jemand die Katastrophe überlebt hat. Welche Dramen, welche Tragödien sich abspielten, bleibt völlig im Dunkeln. Ein Touristenmagnet ist die Stadt Akrotiri im Süden von Santorin. Manche sprechen gern vom „griechischen Pompeji“. Das ist in gewisser Hinsicht nicht unzutreffend, denn die Ausgrabungen in Akrotiri (das ist der moderne Name, wie die Stadt in der Antike hieß, ist unbekannt) brachten eine Stadtanlage zum Vorschein, die noch viel von dem zeigt, wie sie aussah, bevor der Vulkan ausbrach. Akrotiri zeigt aber auch die Schäden, die der Vulkan anrichtete, außerdem sind Spuren von Erdbeben zu erkennen. Akrotiri wird gern als eine „minoische“ Stadt bezeichnet. Tatsächlich stand sie in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. stark unter dem Einfluss der Kultur der ca. 100 km südlich gelegenen Insel Kreta. Dem Mythos zufolge war König Minos der kreative Kopf hinter der kretischen Kultur, die man zu Recht als die erste europäische Hochkultur bezeichnet. Nach Santorin strahlte der Glanz der Kreter in der Weise aus, dass sich die Bewohner von Akrotiri in Städtebau, A ­ rchitektur und Kunst stark an den minoischen Vorbildern orientierten. Von der ganzen Herrlichkeit blieb indes nicht viel übrig, als der Vulkan die Insel in die Luft sprengte. Wann diese Naturkatastrophe, die ohne Frage zu den schwersten der gesamten Antike gezählt werden muss, genau stattgefunden hat, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. In diesem Punkt weichen die Meinungen der Gelehrten nach wie vor relativ deutlich voneinander ab. Es gibt eine Frühdatierung in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts v. Chr., die unter anderem durch Bohrungen im Grönland-Eis zustande gekommen ist. Damit konkurriert die Spätdatierung, die die Katastrophe rund ein Jahrhundert später, also gegen Ende des 16. Jahrhunderts v. Chr., ansetzt. Das sind keine rein akademischen Fragen, denn die damit zusammenhängenden Aspekte sind wiederum 32

von großer Bedeutung für den Untergang der minoischen Kultur auf Kreta. Der griechische Archäologe Spyridon Marinatos, seines Zeichens Ausgräber von ­Akrotiri, war der Protagonist einer Aufsehen erregenden These. Er vertrat die Ansicht, der Vulkan-Ausbruch auf Santorin habe nicht allein dieser Insel schwersten Schaden zugefügt, sondern eine riesige Flutwelle ausgelöst, die für die Zerstörung der großen Paläste auf Kreta (Knossos, Phaistos, Malia, Kato Zakros) verantwortlich gewesen sei. Das wäre dann eine Naturkatastrophe von wahrhaft gigantischen Dimensionen gewesen, wenn auf ihr Konto auch das Ende der ersten europäischen Hochkultur gegangen wäre. Jedoch spricht, neben einer gewissen sachlichen Unwahrscheinlichkeit, auch die Chronologie gegen diese These – ­jedenfalls dann, wenn man sich, wofür eine Menge spricht, der Frühdatierung der Santorin-Katastrophe anschließt. Die kretischen Paläste wurden nach der Mitte des 15. Jahrhunderts v. Chr. zerstört. Wenn die Eruption des Santorin-Vulkans auf ca. 1620 v. Chr. anzusetzen ist, wird man unmöglich einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen herstellen können. Die minoische Kultur auf Kreta ging wohl nicht durch eine Naturkatastrophe, sondern eher durch kriegerische Einwirkung (von Seiten der Mykener) zugrunde. Spyridon Marinatos, der 1974 beim Einsturz einer Mauer inmitten des Ausgrabungsgeländes von Akrotiri ums Leben kam, ist auch der prominenteste Vertreter einer These gewesen, die bis heute durch die Reiseführer und die Medien geistert. Kurz gefasst lautet sie: „Santorin war Atlantis“. Genauer gesagt: Der Ausbruch des Santorin-Vulkans ist der historische Kern der Geschichte von Atlantis – jenem sagenhaften Kontinent, der durch eine große Naturkatastrophe unterging. Der griechische Philosoph Platon hat die Geschichte von Atlantis ausführlich erzählt, sie auch ausdrücklich im Meer „jenseits der Säulen des Herakles“, also westlich der Straße von Gibraltar verortet. Atlantis soll also draußen auf dem Atlantik gelegen haben – das bedeutete aus der Sicht der mediterran denkenden Griechen im Prinzip nichts anderes als „außerhalb der Welt“, mithin: nicht existent. Atlantis ist eine „Utopie“ im wahrsten Sinne dieses Wortes: ein „Nicht-Ort“. Es bedurfte zur Konstruktion dieses mythischen Szenarios auch keiner tatsächlichen Katastrophe, die als Ausgangs- oder Vergleichspunkt hätte fungieren müssen. Platons Atlantis ist gewissermaßen eine Mixtur aus unzähligen Erfahrungen mit Naturkatastrophen, wie man sie im Mittelmeerraum zur Genüge machen konnte. Der Historiker als Spielverderber – eine bekannte Rolle, die aber die Touristikbehörde von Santorin sicher nicht daran hindern wird, weiter die Glasboden-Boote mit dem Namen „Atlantis“ in die Caldera zu schicken, wo man dann à la Helike gebannt ins Meer starrt, um noch Spuren des versunkenen Kontinents zu entdecken. 33

Noah und seine Frau in der Arche – auf einer Münze der römischen Kaiserzeit aus Apameia Kibotos in Phrygien (auf der Vorderseite Kaiser Septimius Severus). Die Stadt war eine Hochburg der antiken Diaspora-Juden

Die Sintflut und andere Überschwemmungen Vulkanausbrüche und Erdbeben gehörten in der Antike, wie heute, zu den spektakulärsten Formen von Naturkatastrophen. Immer wieder werden in den Quellen aber auch Überschwemmungs-Katastrophen thematisiert. Der Klassiker ist die biblische Sintflut, die ihre vorderorientalische Entsprechung im ­Gilgamesch-Epos und ihre griechische Entsprechung im Deukalion-Mythos hat. Diese Parallelität zeigt bereits an, dass es müßig ist, nach der Historizität solcher Ereignisse zu fragen. Die Sintfluten sind in vielen Kulturen Sinnbilder für große Katastrophen, ohne dass dabei eine reale Katastrophe Pate gestanden hätte. Dies muss festgehalten werden, auch wenn immer wieder Forscher mit der sensationellen Mitteilung an die Öffentlichkeit treten, auf dem Berg Ararat Spuren der Arche Noah entdeckt zu haben. In Italien wurde es fast zur Gewohnheit, sich mit dem Hochwasser des Tiber auseinandersetzen zu müssen. In den Zeiten der Republik hatte sich der römische Senat mit dem Problem zu befassen, in der Kaiserzeit war dies die Obliegenheit des Kaisers in seiner Funktion als oberster Patron, als „Vater des Vaterlandes“. Dabei tauchte auch die an sich naheliegende Idee auf, durch Prävention künftige Hochwassergefahren zu minimieren. Doch dabei stieß man, wie Kaiser Tiberius, der zwischen 14 und 37 n. Chr. regierte, auf überraschende Widerstände. Der römische Historiker Tacitus hat den Fall recherchiert. Im Jahre 15 n. Chr. – Tiberius war gerade in seinem zweiten Jahr als Kaiser – war der Tiber durch Dauerregen stark angestiegen. Die tiefer gelegenen Stadtteile von Rom standen bereits unter Wasser. Viele Menschen waren obdachlos, es waren auch Todesopfer zu beklagen. Zunächst wurde die Angelegenheit im Senat beraten. Routinemäßig wurde der Vorschlag gemacht, die Sibyllinischen Bücher z­ u 34

konsultieren. Dabei handelte es sich um eine Sammlung von Orakelsprüchen mit Handlungsanweisungen für jede Gelegenheit. In der Regel wurden dann Bittgänge, Gebete, Sühnezeremonien und Opfer als Rezepte empfohlen und in die Tat umgesetzt. Überraschenderweise schaltete sich nun aber Kaiser Tiberius mit einem eigenen Vorschlag ein. Er forderte das Gremium auf, darüber nachzudenken, ob man nicht Mittel und Wege finden könne, wie man den Fluss eindämmen und damit das Hochwasser in den Griff bekommen könne. Zwei Senatoren erhielten den Auftrag, sich nach Möglichkeiten zur Realisierung des kaiserlichen Wunsches zu suchen. Sie dachten nach und kamen zu dem Ergebnis, dass das Hochwasser des Tiber vor allem von den Seen und Flüssen verursacht wurde, die mit ihm in Verbindung standen. Wenn man die Flüsse und Seen durch ein System von Kanälen ableiten würde, wäre das Problem gelöst. Der Kaiser war zufrieden und ermunterte die Senatoren, sofort ans Werk zu gehen. Jedoch konnte man solch gravierende Eingriffe in die Natur nicht ohne die Zustimmung der Städte und Gemeinden in den betreffenden Landstrichen vornehmen. Man lud zu einer Anhörung im römischen Senat, bei dem die kommunalen Vertreter ihre Ansichten vortragen durften. Fast alle waren von dem Plan nicht eben begeistert. Sie fürchteten, dass sie die Leidtragenden sein würden, weil nun vielleicht nicht mehr der Tiber über die Ufer treten würde, wohl

In der Antike trat der Tiber immer wieder über die Ufer. Maßnahmen zur Regulierung waren aber umstritten

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Ein Weltwunder im Regen – auch Ephesos und der berühmte Tempel der Artemis waren oft Überschwemmungen ausgesetzt

aber die Flüsse und Seen vor ihrer Haustür. Die Stadtväter von Reate hatten ­einen philosophisch, ökologisch und theologisch gebildeten Vertreter geschickt. Seine Worte vor den ehrwürdigen Senatoren gibt Tacitus in indirekter Rede so wieder (ann. 1,79): „Für das Wohl der Menschen habe doch wohl die Natur selbst am besten gesorgt, die den Flüssen ihre Mündungen, ihren Lauf, ihren Ursprung und ihr Ziel zugewiesen habe. Berücksichtigen müsse man doch auch die religiösen Vorstellungen der Bundesgenossen, die den heimatlichen Flüssen Heiligtümer, Haine und Altäre gestiftet hätten. Ja sogar der Tiber selbst wolle gewiss nicht, dass er, seiner Nebenflüsse beraubt, in geringerer Herrlichkeit dahin­ ströme.“ Was der Tiber nicht wollte, wollten Senatoren und Kaiser auch nicht, und so wurde der Plan einer Katastrophen-Prävention zu den Akten gelegt.

Poseidon, der Erderschütterer Warum kam es überhaupt zu Naturkatastrophen? Für die meisten Menschen in der Antike war, wie die Fallbeispiele bereits gezeigt haben, die Antwort auf diese Frage völlig klar: Naturkatastrophen waren das Werk von Göttern. Sie 36

wollten den Menschen auf diese Weise entweder ein Zeichen geben oder sie wollen damit eine Strafe verhängen. Als Zeichen konnten sie auf bevorstehende Umwälzungen politischer oder kriegerischer Art hinweisen, als Strafe sanktionierten sie moralische oder religiöse Verfehlungen der Menschen. In jedem Fall reagierte man, und das war bei Griechen und Römern ziemlich deckungsgleich, mit Gebeten und Opfern, auch mit ritualisierten Zeremonien. All dies diente dazu, sich mit den Göttern zu versöhnen, ihnen keinen Anlass mehr dazu zu geben, den Menschen eine schreckliche Naturkatastrophe zu schicken. An welche Götter aber sollte man sich konkret wenden? Waren alle aus dem großen Vorrat an Göttern, den Römer und Griechen hatten, gleichermaßen verantwortlich, gewissermaßen in einer Art konzertierter Aktion? Oder gab es ganz bestimmte Götter, die als Adressaten von Opfer- und Bußhandlungen in Frage kamen, weil sie die Auslöser der Katastrophen waren? Die Christen hatten es später leichter, sie konnten sich an den einen Gott wenden (wie übrigens auch die Juden und später die Muslime). Bei den Römern herrschte einige Unsicherheit. Der antike Autor Aulus Gellius, der im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte, hat das diesbezügliche Dilemma seiner Landsleute einfühlsam beschrieben (Noct. Att. 2,28): Die „alten Römer“, wie es der alte Römer Gellius bemerkenswerterweise ausdrückt, führten zwar brav die traditionellen Zeremonien durch, wenn es ein Erdbeben gab oder ein Erdbeben gemeldet wurde (als Vormacht in Italien pflegten die Stadtrömer immer auch die Sühnung für Katastrophen in allen übrigen römischen Gebieten mit zu übernehmen), doch waren sie sich nicht sicher, welche Gottheit denn nun zuständig war. Nicht auszudenken, was passieren konnte, wenn man sich an den falschen Gott wandte und der richtige dann beleidigt wäre. Dieser würde sich vermutlich rächen, indem er gleich eine neue Katastrophe schickte. So einigte man sich salomonisch auf eine allgemeine Formel: si deo si deae (wir opfern – „sei es einem Gott, sei es einer Göttin“). Die Griechen machten sich das Leben nicht so schwer. Sie hatten als Verantwortlichen Poseidon ausgemacht, den sie auch mit dem Beinamen „Erderschütterer“ versahen (auf Griechisch heißt das ennosigaios). Er war sogar noch mehr der Gott der Naturkatastrophen als der Gott der Meere, als den man ihn heute meistens sieht. Die Rolle des Erderschütterers spielt Poseidon, den die Römer als Neptun kannten, bereits in den Epen Homers. So ist die Zuweisung also recht früh erfolgt. Poseidon war leicht beleidigt, deswegen musste man sich mit ihm gut stellen. Versäumnisse wurden hart bestraft, wie es beispielsweise die Bewohner der Stadt Tralleis in Kleinasien schmerzlich erleben mussten. Ihre Stadt war von einem Erdbeben heimgesucht worden. Daraufhin wandten sie sich an jene Instanz um Hilfe, die von der gesamten griechischen Welt als 37

­ uskunftsstelle in allen problematischen Lebensfragen in Anspruch genomA men wurde: das Orakel von Delphi. Dieses teilte mit, dass man es versäumt habe, dem Poseidon einen Altar zu errichten und ihn durch Opfer und Hymnen zu ehren. Da habe sich der Gott missachtet gefühlt und habe der Stadt Tralleis als unfreundlichen Gruß ein Erdbeben geschickt. Die Bewohner von Tralleis ­achteten künftig genau darauf, die Opferhandlungen für Poseidon ­akkurat und regelmäßig zu vollziehen. Das scheint tatsächlich geholfen zu ­haben. Jedenfalls hören wir im Zusammenhang mit Tralleis seitdem nichts mehr von schweren Erdbeben.

Wissenschaftler melden sich zu Wort Kleinasien ist, wie man weiß, auch heute noch ein hochgefährdetes Erdbebengebiet. Und man weiß heute auch, woran das liegt: Es ist die besondere tektonische Lage zwischen der eurasischen und der afrikanischen Erdplatte. In der Antike wusste man dies noch nicht. Gleichwohl gab es eine Reihe von klugen Köpfen, die sich mit der herkömmlichen Deutung – Erdbeben kommen von den Göttern – nicht zufriedengeben wollten. Schon Thales von Milet, der ­Pionier aller naturwissenschaftlichen Betrachtungen, hatte im 6. Jahrhundert

Katastrophen können auch schleichend kommen. Ablagerungen des Mäanders in Kleinasien schnitten die Stadt Herakleia am Latmos vom Meer ab. Den Latmischen Golf verwandelten sie in einen See

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Auch das altehrwürdige Olympia blieb von Erdbeben nicht verschont. 522 und 551 n. Chr. wurde der Zeus-Tempel schwer beschädigt

v. Chr. eine Erdbeben-Theorie entwickelt, mit der er auf heutigen SeismologenKongressen sicher keine Chance hätte, die aber damals revolutionär war. Negierte er doch die göttliche Provenienz der Erdbeben und ersetzte Poseidon durch die Vorstellung von einer Erdscheibe, die auf dem Weltmeer, dem Okéanos, schwimmt – und wenn es auf dem Meer einen Sturm gibt, dann beginnt die Scheibe zu schaukeln und es kommt zu Erdbeben. Weniger die Theorie als solche als vielmehr der Umstand, dass Thales mit einer götterfreien ErdbebenInterpretation auskam, war das eigentlich Revolutionäre. Und sein Beispiel machte Schule. Immer wieder gab es griechische Wissenschaftler, die ohne ­religiöse Rücksichten nach den natürlichen Ursachen für ein Erdbeben fahndeten. Andere richteten ihr Augenmerk auch auf das Phänomen des Vulkanismus, aber die stärkste Herausforderung waren die Erdbeben. Der bedeutendste unter diesen Wissenschaftlern war der Universalgelehrte Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.). Seine „pneumatische“ Theorie hatte einen solch großen Einfluss, dass sie sich bis in die frühe Neuzeit hielt. Die Erde, so lehrte Aristoteles, ist an sich trocken, doch wird ihr durch Regenfälle Feuchtig39

keit zugeführt. Bei der Erwärmung der Erde durch die Sonne und durch ein unter der Erde brennendes Feuer entsteht außerhalb und innerhalb der Erde ein Luftstrom (das Pneuma). Dieser bewegt sich mal nach außen, mal nach innen, gelegentlich teilt er sich auch. Weil das Pneuma der beweglichste aller Körper ist, kann nicht das Wasser, sondern muss diese Luftströmung die Ursache der Bewegung sein. Doch selbst ein Aristoteles hatte nicht die Autorität, alle Menschen von seinen Lehren zu überzeugen und sie Poseidon abspenstig zu machen. Die meisten ignorierten die naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche und blieben bei der religiösen Deutung von Naturkatastrophen. Es war ja auch allemal beruhigender, sich an ein bekanntes Wesen wie einen durch Gebete und Opfer zu zähmenden Gott wenden zu können, als sich mit anonymen, unkontrollierbaren Kräften unter der Erdoberfläche auseinandersetzen zu müssen.

Pompeji Das Kapitel „Naturkatastrophen in der Antike“ kann nicht geschlossen werden, ohne noch einen Blick auf Pompeji zu werfen. Der Ausbruch des Vesuv im Sommer 79 n. Chr. und der Untergang der reichen kampanischen Städte Pompeji und Herculaneum ist ein Teil und nur ein Teil einer höchst aktiven antiken Katastrophenlandschaft. Und doch wird Pompeji, wird Herculaneum immer ein Faszinosum bleiben. Blühende Städte, mitten aus dem Leben gerissen; der plötzliche Ausbruch eines Vulkans, der als erloschen galt; das Schicksal der Menschen, das durch die berühmten Briefe des Plinius und durch die archäologischen Forschungen so plastisch und so unmittelbar vor Augen tritt; ein Kaiser (Titus), der sich um die Überlebenden kümmerte (in Pompeji kamen schätzungsweise 2.000 Menschen ums Leben); die spektakuläre Wiederentdeckung der untergegangenen Städte in der Neuzeit – das alles sind Zutaten, die den Vesuv-Ausbruch von 79 n. Chr. in der allgemeinen Wahrnehmung zu der antiken Naturkatastrophe machen. Global betrachtet, war sie jedoch nur eine von vielen, manchmal sogar schlimmeren.

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3. Epidemien Die Pest in Athen „Wer schon vorher ein Leiden hatte, dem ging es immer über in dieses Leiden. Die anderen aber befiel ohne irgendeinen Grund plötzlich aus heiler Haut zuerst eine starke Hitze im Kopf und Rötung und Entzündung der Augen, und innen war sofort alles, Schlund und Zunge, blutig rot, und der Atem, der herauskam, war sonderbar und übelriechend. Dann entwickelte sich daraus ein Niesen und Heiserkeit, und ziemlich schnell stieg danach das Leiden in die Brust nieder mit starkem Husten. Wenn es sich danach auf den Magen warf, drehte es ihn um, und es folgten Entleerungen der Galle auf all die Arten, für die die Ärzte Namen haben, und dies unter großen Qualen. Die meisten bekamen dann ein leeres Schlucken, verbunden mit einem heftigen Krampf, der bei einigen bald nachließ, bei anderen erst sehr viel später. Wenn man von außen anfasste, war der Körper nicht besonders heiß, auch nicht bleich, sondern leicht gerötet, blutunterlaufen und bedeckt von einem dichten Kranz kleiner Blasen und Geschwüre. Aber nach innen war die Fieberhitze so stark, dass man selbst die allerdünnsten Kleider und Musselindecken abwarf und es nicht anders aushielt als nackt. Am liebsten hätte man sich in kaltes Wasser gestürzt, und viele Kranke, die ohne Pflege waren, taten dies auch und stürzten sich in die Brunnen, gepeinigt von unstillbarem Durst. Es machte keinen Unterschied aus, ob man viel oder wenig trank. Und die ganze Zeit quälte man sich in der hilflosen Unrast und Schlaflosigkeit. Solange die Krankheit auf ihrem Höhepunkt stand, fiel auch der Körper nicht zusammen, sondern widerstand den Schmerzen mehr, als man erwarten konnte. Daher starben die meisten am siebenten oder neunten Tag an der inneren Hitze, ohne ganz entkräftet zu sein. Kamen sie aber davon, stieg das Leiden tiefer hinab in den Unterleib, starke Geschwüre traten dort auf, dazu kam noch ein wässriger Durchfall, so dass die meisten an diesem starben, vor lauter Erschöpfung. Denn das Übel durchlief von oben her, vom Kopf, wo es sich zuerst festsetzte, den ganzen Körper. Und hatte einer das Schlimmste überstanden, so erkannte man dies daran, dass die Krankheit an den Gliedmaßen dauernde Spuren hinterließ. Sie überzog nämlich auch die Schamteile, die Finger und die Zehen. Vielen gingen diese verloren, manchen auch die Augen. Andere hatten beim ersten Aufstehen jegliche Erinnerung verloren und kannten sich selbst und ihre Angehörigen nicht mehr. 41

Die unfassbare Natur der Krankheit überfiel jeden mit einer Wucht, die über das Menschenmaß hinausging. Und insbesondere war Folgendes ein klares Zeichen, dass sie etwas anderes war als die bekannten Krankheiten: Die Vögel und die Tiere, die sonst an die Leichen gehen, rührten entweder die vielen nicht beerdigten Körper nicht an oder verendeten, wenn sie davon fraßen. Der Beweis: Es wurde ein deutliches Schwinden solcher Vögel beobachtet. Man sah sie überhaupt nicht mehr, auch nicht in der Nähe einer Leiche. Die Hunde zeigten diese Wirkung noch deutlicher, weil sie mit den Menschen zusammenlebten.“ Das ist eine der berühmtesten Beschreibungen einer verheerenden Epidemie. Sie ist ein klassisches Lehrbeispiel, das immer wieder herangezogen wird, wenn man in der Geschichte nach Fällen sucht, in denen eine kollektiv ausgebrochene Krankheit für die Betroffenen schreckliche Folgen hatte. Der Text stammt aus der Feder des Thukydides (2,49–50), seines Zeichens der größte Historiker der Antike (oder zumindest einer der größten). Er hat nur ein einziges Werk geschrieben – die Geschichte des „Peloponnesischen Krieges“, jener großen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden griechischen Großmächten Athen und Sparta, die insgesamt 27 Jahre, von 431 bis 404 v. Chr., dauerte. Im zweiten Jahr des Krieges, also im Jahr 430 v. Chr., brach die Seuche aus. Thukydides hat diese grassierende tödliche Krankheit in aller Ausführlichkeit beschrieben. Seine Aussagen haben einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit – nicht nur, weil er ein gewissenhafter und zugleich nüchterner Historiker war, dem nicht an Sensationen und Ausschmückungen gelegen war, sondern auch, weil er die Epidemie selbst miterlebte und sogar ebenfalls von ihr infiziert war („diese Krankheit will ich darstellen, der ich selbst krank war und selbst andere leiden sah“). Diese „Pest“, wie man sie allgemein auch bezeichnet (Thukydides verwendet den griechischen Begriff loimós), traf die Athener zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Gerade hatte der Krieg gegen die Militärmacht Sparta begonnen. Es war ein Krieg mit langem Anlauf. Sparta war die traditionelle Führungsmacht in der griechischen Welt gewesen. Doch nach der erfolgreichen Abwehr der Perser (mit den berühmten Schlachten von Marathon 490 v. Chr., Salamis 480 v. Chr. und Plataiai 479 v. Chr.), die vor allem auf das Konto der Athener ging, war Athen zu einem ernsthaften Rivalen Spartas geworden. Und letztlich war es, neben dem Drängen der Bundesgenossen, die „Furcht Spartas vor dem Wachstum Athens“ (wie Thukydides erkannt hatte), welche die Macht von der Peloponnes in den Krieg mit Athen zwang. Hinzu kam noch ein ideologischer Gegensatz: Sparta war ein Hort der Oligarchie, also der Herrschaft 42

einer extremen Elite, während Athens schon seit einiger Zeit das innovative Projekt einer Demokratie realisiert hatte. Auf Anweisung des Strategen Perikles, des Lenkers der athenischen Politik seit mehr als zehn Jahren, verfolgte Athen im Kampf gegen Sparta zunächst eine Strategie der Defensive. Die Spartaner nahmen das Angebot dankend an und fielen in Attika ein, wo sie, weil sich ihnen niemand entgegenstellte, die Felder verwüsteten. Die Landbevölkerung hatte Perikles zusammen mit den Stadtbewohnern hinter den Mauern Athens versammelt, so dass eine drangvolle Enge herrschte. Es waren nur wenige Tage nach dem Einfall der spartanischen Armee vergangen, als die Seuche in der Stadt ausbrach. Die Ärzte waren hilflos, da sie nicht wussten, um was für eine Krankheit es sich handelte. Akte der Hilflosigkeit waren auch die Bittgänge zu den Tempeln der Götter – diese waren nicht bereit oder willens, zu helfen. Gerüchte machten die Runde. Die Spartaner, so hieß es, hätten in Piräus, dem Hafen von Athen, die Brunnen vergiftet. Dort sei die Krankheit auch zuerst ausgebrochen. Später war die Rede von einer globalen Seuche. Aufgekommen sei sie im fernen Afrika, in Äthiopien. Danach habe sie Ägypten und Libyen heimgesucht, außerdem weite Teile des persischen Reiches. Aber man war sich nicht sicher. Klar war nur, dass man der Katastrophe vollkommen hilflos gegenüberstand. „Man fand auch“, konstatiert Thukydides (2,51) resigniert, „erwiesenermaßen kein einziges Hilfsmittel, dessen Anwendung wirkliche Hilfe versprochen hätte. Was dem einen genützt hatte, schadete dem anderen.“ Nicht nur die physischen, auch die psychischen Begleitumstände der Seuche waren verheerend: „Das Schrecklichste an dem ganzen Übel war die Mutlosigkeit, sobald sich einer krank fühlte. Denn sie überließen sich gleich der Verzweiflung, gaben sich völlig auf und leisteten keinen Widerstand.“ Wer von den Betroffenen überlebte, hatte immerhin die Garantie, dass ein Rückfall ausgeschlossen war, denn „zweimal befiel die Krankheit dieselbe Person nicht“. Diese schreckliche Epidemie lebend überstanden zu haben, gab ihnen, wie Thukydides betont, das Gefühl, „es könnte ihnen nie mehr eine andere Krankheit den Tod bringen“. Wie lebte es sich in einer Stadt, die sich mitten im Krieg befand, die von ­außen militärisch bedroht wurde, in der Zehntausende von Menschen zusammengepfercht waren und die im Innern von einer grausamen Seuche erfasst worden war? Laut Thukydides kam es bald zu ernsthaften Spannungen – dies wohl auch deswegen, weil ein paar Monate nach ihrem Ausbruch auch Perikles ein Opfer der Epidemie wurde. Über die Infizierung des Perikles berichtet ­dessen Biograph Plutarch (Per. 38): 43

„Um diese Zeit [429 v. Chr.] scheint die Pest auch Perikles ergriffen zu haben, nicht in einem akuten und heftigen Anfall wie bei den anderen, sondern in Form einer schleichenden Krankheit, die sich in vielfach wechselndem Verlauf lange hinzog. Sie zehrte langsam seinen Körper auf und untergrub die Spannkraft seines Geistes.“

Der erfahrene, respektierte Politiker Perikles hatte es verstanden, ein Chaos zu verhindern, auch wenn viele ihm die Schuld an dem Übel gaben, weil es schließlich sein Plan gewesen war, die Menschen auf engstem Raum in der Stadt ­zusammenzuziehen, bei miserablen hygienischen Verhältnissen. Dennoch hatte Perikles mit seiner bloßen Präsenz immer noch integrierend gewirkt. Nach ­seinem Tod aber war es mit der Disziplin vorbei – jedenfalls, wenn man Thukydides trauen darf, was aber bei einem so großen Historiker zu empfehlen ist. So kam es etwa zu einer Verwilderung der Begräbnissitten. Man konnte (oder wollte) die vielen Toten, deren Zahl mehrere Tausende betrug, nicht mehr ordentlich bestatten. „Jeder begrub, wie er konnte“, sagt Thukydides. Das bedeutete zum Beispiel: Familien, die schon viele Opfer zu beklagen hatten und keinen Platz oder kein Geld mehr für weitere Gräber hatte, legten ihre Toten einfach auf einen von anderen errichteten Scheiterhaufen und zündeten ihn an. Andere wiederum warfen die Leiche, die sie mit sich trugen, auf eine Leiche, die bereits brannte, ohne sich um den weiteren Verlauf der Dinge zu kümmern. Überhaupt machte sich nach Thukydides eine Verrohung der Sitten breit. Wenn man möglicherweise nur noch einen Tag zu leben hatte, warum sollte man sich da hehre Ziele setzen? So lebten die Menschen in den Tag hinein, bestrebt, „das Angenehme möglichst rasch und lustvoll zu genießen“. Die Pest von Athen dauerte zunächst mehrere Monate, dann nahm sie an Intensität ab. Der Krieg ging indessen weiter. Dann kam die Krankheit wieder zurück, forderte noch einmal viele Todesopfer, bevor sie im Jahre 426 v. Chr., vier Jahre nach dem Ausbruch, endgültig verschwand. Sie hinterließ schwere Schäden, moralisch, psychisch, demographisch. Und sie hinterließ ratlose Ärzte, die sich nicht erklären konnten, um was für eine Krankheit es sich dabei gehandelt hatte. Dabei hatte die Medizin zu dieser Zeit schon einen relativ hohen Entwicklungsstand, nicht zuletzt dank der Forschungen eines Hippokrates. Der Arzt aus Kos war ein Zeitgenosse dieser Ereignisse, er lebte von etwa 460 bis 370 v. Chr. In Diagnostik und Therapierung von Krankheiten war er zu bahnbrechenden Erkenntnissen gelangt. In seinem umfangreichen Œuvre, dem Corpus Hippocraticum, befinden sich auch sieben Bücher mit dem Titel Epidemiai, von denen nicht alle, aber mutmaßlich wenigstens zwei auf den Meister selbst zurückgehen. „Epidemie“ ist dabei nicht die Bezeichnung für eine bestimmte Krankheit, sondern der Name für ein Leiden, das viele Men44

schen, zeitlich begrenzt, gleichzeitig erfasst (gemäß der Etymologie epi = „über“ und demos = „Volk“, also eine Krankheit, die sich auf das ganze Volk erstreckt). Doch Hippokrates hat den Athenern nicht helfen können oder wollen. So blieb ihnen nur übrig, sich an die göttlichen Mächte zu wenden, denn trotz der Fortschritte, die in dieser Zeit in der Medizin erzielt wurden, glaubten die meisten Menschen daran, dass Krankheiten etwas seien, wofür die Götter verantwortlich waren. Außerdem kursierten damals in Athen manche obskure Weissagungen und Orakelsprüche, mittels derer man versuchte, das Unerklärliche erklärbar zu machen. So holte man einen Spruch aus der Versenkung, der da gelautet hatte: „Kommen wird einst der dorische Krieg und mit ihm die Seuche.“ Die Spartaner waren von ihrer Herkunft her Teil der sprachlichen und ethnischen Gruppe der Dorer, und so konnte sich der Spruch nur darauf beziehen, dass dem Krieg, der nun ausgebrochen war, notwendig die Epidemie folgen musste. Naturgemäß hat die historische und speziell die medizinhistorische Forschung viel Energie in die Lösung des Rätsels investiert, was das für eine Epidemie gewesen ist, die damals in Athen wütete. Trotz der präzisen Beschreibung der Symptome, wie sie Thukydides geliefert hat, herrscht bis heute keine Einigkeit über die Art der Krankheit. Meistens wird sie als „Pest“ bezeichnet, doch ist dies eine reichlich unspezifische Benennung. Das Angebot, das als Ergebnis von medizinischen Ferndiagnosen unterbreitet wird, ist sehr vielfältig. Es reicht von Masern über Pocken und Fleckenfieber bis hin zu Typhus und Lungenpest. Es ist anzunehmen, dass die Ursache einer der schlimmsten Epidemien der Geschichte für immer ein Rätsel bleiben wird. Und dies trotz der Worte, mit denen Thukydides seine Beschreibung der Seuche eingeleitet hat (2,48): „Es möge nun jeder, Arzt oder Laie, über sie seine Meinung sagen, woher sie wahrscheinlich ihren Ursprung genommen hat und welche Erreger die Kraft zu so tiefgreifenden Veränderungen bergen. Ich will nur beschreiben, wie sie verlief. Die Merkmale, an denen man sie am ehesten wiedererkennen könnte, um dann im Bilde zu sein, falls sie noch einmal auftreten sollte, die will ich darstellen.“

Die „Pest“ von Athen war nicht die erste große Epidemie (oder Pandemie), von der die Menschheit betroffen war. Um diese Aussage zu bestätigen, genügt ein Blick in die Bibel. Im Alten Testament gibt es im Rahmen der Moses-Erzählung die bekannte Geschichte von den „Zehn Plagen“, mit denen der störrische Pharao von Ägypten bestraft wurde (2. Buch Mose). Zu diesen Plagen gehören eine Viehpest und die schwarzen Blattern. Über die Historizität dieser „Zehn Plagen“ kann man eigentlich nicht streiten. Es ist derselbe Fall wie bei der Sintflut, 45

die es als solche nie gab, der in der biblischen Erzählung eine metaphorische Bedeutung zukommt. Das gilt etwa auch für die bekannte Geschichte von den Philistern, die die Bundeslade stehlen und daraufhin von einer Serie von Krankheiten heimgesucht werden (1 Samuel 5). Die Botschaft ist immer dieselbe: Wer sich frevelhaft verhält, wird von Gott bestraft. Jedoch waren die Krankheiten als solche natürlich real und bekannt, sonst hätte man mit ihnen nicht argumentieren können. In Ägypten kannte man, wie aus Papyri hervorgeht, bereits seit etwa 1250 v. Chr. (damals regierte im ruhmreichen Land am Nil der Pharao Ramses II. ) das Phänomen der massenhaft auftretenden Pocken. In Homers Ilias muss man, wenn man am Anfang des Werkes beginnt, nicht lange lesen, um sogleich auf eine Pest zu stoßen (1,8) – den Griechen von Apollon gesandt als Strafe dafür, dass Agamemnon während des Trojanischen Krieges die Tochter des Priesters Chryses als Kriegsbeute genommen hatte und sich von den Bitten des Vaters, sie freizulassen, nicht hatte erweichen lassen. Aber auch die Trojaner trifft der göttliche Zorn. Apollon und Poseidon hatten ihnen beim Bau der Stadtmauern geholfen, ohne den abgemachten Lohn zu erhalten. Das lassen sich die beiden Götter natürlich nicht gefallen und schreiten zu einer konzertierten Strafaktion. Während Poseidon aus den Tiefen des Meeres ein Ungeheuer an Land schickt, das allerlei Verwüstungen anrichtet, schießt Apollon tödliche Pestpfeile ab, die den Menschen Krankheit, Tod und Leid bringen. Wieder fungiert, wie in der Bibel, die Epidemie als göttliches Instrument zur Disziplinierung sündiger Menschen, und man kann mit Gewissheit davon ausgehen, dass es solche Epidemien auch bereits in homerischer oder sogar vorhomerischer Zeit real gegeben hat. Über die Art der Krankheit lassen sich angesichts der pauschalen Nennung einer „Pest“ jedoch keine konkreten Angaben machen. Gleiches gilt für entsprechende Passagen bei dem griechischen Autor Hesiod, der zu Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. Lehrgedichte verfasste und dabei im Zusammenhang mit Hungerkatastrophen auf kollektive Krankheiten rekurriert (erg. 102,243). Wie es in dieser frühen Phase der griechischen Geschichte um die Heilungschancen bestellt gewesen ist, lässt sich angesichts fehlender Quellen nicht mit Sicherheit sagen. Jedoch ist es mehr als wahrscheinlich, dass ärztliche Kunst hier keine Chance hatte. In der Ilias wenden sich die von der Krankheit geplagten Menschen nicht an Mediziner, sondern an die Götter, die sie als die Verursacher des Unglücks ansehen. Als Reaktion auf Apollons Giftpfeile ergeht ein Orakelspruch, wonach der König Laomedon seine Tochter Hesione opfern soll, um die Stimmung der Götter zu verbessern und sie zur Heilung der Krankheit zu veranlassen. 46

Die Große Pest unter Kaiser Mark Aurel Am 7. März 161 n. Chr. übernahm Kaiser Mark Aurel nach dem Tod seines Vorgängers Antoninus Pius die Herrschaft im Römischen Reich. Sein Mitkaiser war Lucius Verus, den Antoninus Pius bereits einige Jahre zuvor adoptiert hatte. Adoption war in dieser Zeit das probate Mittel bei der Besetzung des höchsten Amtes im Imperium Romanum. So war gewährleistet, dass nicht irgendwelche Familienmitglieder, sondern „die Besten“ Kaiser wurden. Leicht war es zu dieser Zeit allerdings nicht mehr, römischer Kaiser zu sein. Zu schaffen machte den Regierenden die insgesamt labile außenpolitische Situation. Ein dauerhafter Krisenherd war die Grenze im Osten des Römischen Reiches. Dort hatten es die Römer schon seit längerem mit den Parthern zu tun, die große Teile des Vorderen Orients und Asiens kontrollierten. 162 n. Chr. starteten die Römer wieder einmal eine militärische Offensive gegen den Dauergegner im Osten. Die militärische Führung übertrug Mark ­Aurel seinem kaiserlichen Partner Lucius Verus. Die Offensive der römischen Legionen verlief insgesamt sehr erfolgreich. Das zwischen beiden Mächten stets umkämpfte Armenien wurde gewonnen, zudem führte ein Feldzug nach Mesopotamien über Seleukia bis zur parthischen Königsresidenz in Ktesiphon, wo die Römer die Burg des parthischen Großkönigs Vologaises IV. in Brand setzten. Von seiner Basis in Syrien aus konnte Lucius Verus in den Jahren bis 166 in militärischer Hinsicht nur Erfolgsmeldungen in Empfang nehmen. Dann kehrte er mit seiner Armee nach Italien zurück und feierte am 12. Oktober in Rom einen prächtigen Triumph. Rom stand nach dem Sieg über die Parther im Osten wieder glänzend da. Doch dann zeigte sich, dass der Sieg außerordentlich teuer erkauft war. Soldaten aus der Armee des Lucius Verus begannen, über schwere Krankheitssymptome zu klagen. Da die Zahl der Betroffenen rapide anstieg, wurden Nachforschungen angestellt. Es ergab sich ein klarer Zusammenhang zwischen dem Feldzug gegen die Parther und dem Ausbruch der Epidemie. Erstmals war sie bei den Legionären im Jahr zuvor aufgetreten, als sie sich in der Stadt Nisibis befanden, die in der heutigen Osttürkei gelegen war. Von dort breitete sich die Krankheit mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Westen aus, zunächst bis zur kleinasiatischen Küste, dann nach Athen, auf den Balkan, nach Italien und schließlich in die Hauptstadt Rom. Dort sollen nach dem Bericht des antiken Historikers Cassius Dio, der nicht lange nach diesen Ereignissen geschrieben wurde, täglich 2.000 Menschen ums Leben gekommen sein. Jeder vierte Erkrankte fiel, so heißt es, der Krankheit zum Opfer. Schwer getroffen wurden von der Pest auch Gallien und Spanien, und sogar Britannien 47

soll in Mitleidenschaft gezogen worden sein, dessen Bewohner sich doch in – wie sich zeigte, trügerischer – insularer Sicherheit wiegten. Der Verlust an ­demographischer Substanz war immens: In vielen Städten gab es nicht mehr genug Kandidaten für die Besetzung der kommunalen Ämter, so dass hier die ansonsten hohen Hürden bei der Qualifikation drastisch gesenkt wurden. Genauere Vorstellungen über das Ausmaß der Katastrophe vermitteln Papyri aus Ägypten. Die Auswertung der Steuerlisten lässt vermuten, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung infolge der grassierenden Krankheit starb. Diese Epidemie war ganz offenkundig eine Pandemie. Sie erreichte einen geographischen Radius wie keine andere bekannte Seuche zuvor. Die „Pest“ in der Zeit der römischen Kaiser Mark Aurel und Lucius Verus konnte sich auch deswegen so weit ausbreiten, weil das Römische Reich eine exzellente Infrastruktur bot – bestens angelegte Straßen und überregionale Verkehrswege, günstige Schifffahrtsverbindungen, außerdem einen hohen Grad an Urbanisierung mit Städten, in denen viele Menschen auf relativ engem Raum zusammenlebten. So wurde der perfekte Ausbau des Imperiums zu einer tödlichen Falle, an die zuvor niemand gedacht hatte. Erfahrungen mit Seuchen dieses Ausmaßes lagen bei den Römern bis dahin nicht vor. Zwar gibt es bereits aus den Zeiten der Republik einige Nachrichten über Epidemien, deren Radius sich aber auf Italien beschränkt haben dürfte. Allerdings wird man hier auch die Italien-zentrierte Perspektive der Autoren der römischen Republik mit berücksichtigen müssen. Sie notierten vor allem, was in Rom und Italien, weniger, was in der großen weiten Welt passierte. Für den Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. beispielsweise berichtet Livius (10,47,6) von einer schweren Epidemie in Italien. Wie man es in solchen Fällen gewohnt war, schlug man in den Sibyllinischen Büchern nach, um sich Rat zu holen. Dabei handelte es sich um eine Sammlung von Orakelsprüchen, die im Tempel der kapitolinischen Trias in Rom deponiert war. Die Empfehlung der Sibyllinen lautete: Zuständig sei der griechische Heilgott Asklepios (die Römer nannten ihn Aesculapius, im Deutschen spricht man von Aeskulap), dessen Heiligtum in Epidauros solle man aufsuchen. Die Römer schickten sofort eine Gesandtschaft unter der Leitung des verdienten Senators Quintus Ogulnius Gallus nach Griechenland. Am Ziel angekommen, entwendete man den Gott in Form einer Schlange, mit der man per Schiff zurück Richtung Italien segelte. In Rom schwamm die Schlange dann ganz selbstständig auf die Tiberinsel. Diesen Wink des Heilgottes nahmen die Römer zum Anlass, dem Asklepios dort einen Tempel zu errichten. Diese Episode aus dem Jahr 292 v. Chr. zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Römer wie die Griechen epidemische Krankheiten als Phänomene begriffen, 48

die von den Göttern gesandt worden waren und die demzufolge auch nur von den Göttern wieder in Ordnung gebracht werden konnten. Medizinischer Sachverstand stand den Römern in dieser Zeit offensichtlich noch nicht zur Verfügung, und wenn, dann vertraute man sich doch lieber den höheren Mächten an als Menschen, die behaupteten, solche Krankheiten diagnostizieren und vielleicht sogar therapieren zu können. Bei der großen Epidemie, die unter Mark Aurel und Lucius Verus ausgebrochen war, waren die Reaktionen jedoch bereits differenzierter. Zunächst suchte man noch, wie man es gewohnt war, nach Gründen, warum man sich den Zorn der Götter zugezogen haben könnte. Die Spur führte zu den römischen Sol­ daten, die die Hauptstadt der Parther geplündert hatten – schließlich war die ­Seuche zuerst bei den Legionären aufgetreten. Wie der spätantike Historiker ­Ammianus Marcellinus berichtet (23,6,24), glaubte man, die Ursache sei die Schändung eines Tempels in der Residenz des parthischen Großkönigs gewesen. Dabei sei ein heiliges Gefäß zerbrochen worden, aus dem eine tödliche Substanz entwichen sei, die zu der Krankheit geführt habe. Woher diese ­Geschichte stammt, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Kam das Gerücht aus der von der Seuche geplagten römischen Bevölkerung? Oder waren es die Parther, die den Feldzug der Römer von ihren eigenen Göttern bestrafen ließen? Hochkonjunktur hatten in dieser Zeit überall in den von der Seuche betroffenen Gebieten die Orakelstätten. Doch alles Sühnen und alles Opfern war vergeblich, die Epidemie hörte nicht auf zu wüten. Die Pest des 2. Jahrhunderts n. Chr. rief allerdings auch die Ärzte auf den Plan. Nicht umsonst lebte in dieser Zeit einer der berühmtesten Mediziner der Antike. Galen stammte aus Pergamon und war zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Epidemie etwa 36 Jahre alt. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie und hatte eine gründliche medizinische Ausbildung genossen. Nachdem er zunächst als Gladiatorenarzt in Pergamon gewirkt hatte (und in dieser Eigenschaft sicherlich nicht unter Beschäftigungslosigkeit gelitten hatte), wurde er in der Hauptstadt Rom Leibarzt am kaiserlichen Hof. Dort gehörte auch Kaiser Mark Aurel, der häufig an Krankheiten litt, zu seinen Patienten. Schon zu dieser Zeit war Galen eine absolute Kapazität. Seinen Ruf baute er noch dadurch aus, dass er neben seiner praktischen ärztlichen Tätigkeit eine ganze Reihe von Schriften verfasste, die ihn zum einen als einen treuen Jünger des großen Hippokrates, zum anderen aber auch als einen Mediziner auswiesen, der bei der Diagnose und der Therapie von Krankheiten nach neuen Wegen suchte. Wie verhielt sich der berühmte Arzt Galen, als in Rom und in vielen Teilen des Imperiums die große Pest ausbrach? Der Modearzt war zu diesem Zeit49

punkt an seinem Arbeitsplatz am kaiserlichen Hof in der Hauptstadt des Römischen Reiches. Sicher ist, dass er, als immer mehr Menschen erkrankten, Rom verlassen hat – fluchtartig, sagen manche und suggerieren damit auch eine Flucht vor der Verantwortung. Jedenfalls begab er sich zurück in seine Heimatstadt Pergamon, wo die Lage allerdings auch nicht viel sicherer war. Und als ihn Kaiser Mark Aurel 168 n. Chr. – inzwischen grassierte die Seuche bereits fast zwei Jahre lang – aufforderte, sich nach Aquileia zu begeben, um in der strategisch wichtigen Stadt den dort stationierten Soldaten zu helfen, die von der Pest infiziert worden waren, ließ er sich nicht lange bitten, sondern eilte sogleich von Pergamon nach Oberitalien. Hier hatte er die Gelegenheit, die Symptome und die Auswirkungen der Krankheit genauer zu beobachten. Begleitet wurde sie von Fieber, Durchfall, Entzündungen im Hals und einem signifikanten, am neunten Tag auftretenden Hautausschlag. Das lässt die moderne medizinhistorische Forschung daran denken, dass es damals eine Pocken-Epidemie gewesen ist, die große Teile des Imperium Romanum so schwer in Mitleidenschaft gezogen hat. Was die Ursache der Epidemie anging, so war Galen der Ansicht, dass hier verpestete Luft verantwortlich gewesen sei. Commodus, der Sohn Mark Aurels, war von dieser Deutung so beeindruckt, dass er sich von seinen Ärzten einen Ortswechsel verordnen ließ. Er verließ die mit Kranken überfüllte Hauptstadt und begab sich aufs Land, nach Laurentum in Latium, wo er hoffte, dass der Lorbeerduft, der seine dortige Villa umgab, die Epidemie abhalten würde. Die Normalbürger von Rom hatten nicht die Möglichkeit, sich in die möglicherweise rettende Sommerfrische auf dem Lande zu begeben. Sie mussten sich damit behelfen, wohlriechende Salben in Ohren und Nase zu befördern. Dass dieses unkonventionelle Mittel geholfen hat, kann man allerdings mit Fug und Recht bezweifeln. Insgesamt standen sowohl die Mediziner und wie die Laien der Seuche ähnlich hilflos gegenüber, wie es gut 600 Jahre zuvor bei der großen Epidemie in Athen der Fall gewesen war. Die Zahl der Opfer muss in die Hunderttausende gegangen sein, auch wenn in dieser Hinsicht nur Schätzungen möglich sind. Doch die große geographische Ausdehnung wie vor allem auch die lange Dauer der Krankheit wirkten sich außerordentlich negativ auf die Demographie des Römischen Reiches aus. Denn sie dauerte mehrere Jahre, wobei man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob spätere Massenerkrankungen, von denen in den antiken Quellen die Rede ist, tatsächlich noch Teil dieser Epidemie gewesen sind, die 166 n. Chr. ausgebrochen ist. Jedoch kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie von 166 bis etwa 170 n. Chr. nahezu ungebremst wütete, dann etwas an Intensität verlor, bevor sie 177 n. Chr. neu aufflammte und schließlich nach 180 n. Chr. allmäh50

lich abebbte. Lucius Verus, der die Truppen angeführt hatte, die sich im heutigen Ostanatolien erstmals mit der Seuche infiziert hatten, starb zu Anfang des Jahres 169 n. Chr. Mark Aurel, der Kaiser, der so gerne ein Philosoph gewesen wäre, sich stattdessen aber nicht nur mit der Pest, sondern auch mit Kriegen an der Donaugrenze herumzuschlagen hatte, starb am 17. März 180 n. Chr. im Alter von knapp 60 Jahren. Starben die beiden Kaiser ebenfalls an der Pest? Viele Historiker sind dieser Meinung, andere favorisieren eine individuelle Krankheit, im Falle Mark Aurels Krebs. Unumstritten ist dagegen, dass die sozialen Auswirkungen der Epidemie gravierend gewesen sind. In Stadt und Land war der Verlust an Substanz hoch. Auch die wirtschaftlichen Folgen waren bedeutend, denn in vielen Produktionsbetrieben oder auch in der Landwirtschaft wurden Arbeitskräfte Opfer der Seuche. Allerdings sollte man nicht so weit gehen wie ein Teil der historischen Forschung, der nicht der Versuchung widerstehen kann, mit dieser Epidemie zugleich den Untergang des Römischen Reiches eingeleitet zu sehen. Zwar gab es im 3. Jahrhundert n. Chr. eine veritable reichsweite Krise, die sich auf politischem, militärischem und wirtschaftlichem Sektor bemerkbar machte. Jedoch waren für deren Entstehung andere Faktoren als die „große Pest“ verantwortlich.

Die „Cyprianische Pest“ Cyprianus ahnte sicherlich nicht, dass mit seinem Namen einmal eine Epidemie verbunden werden würde. Viel lieber hätte er es gesehen, als guter Christ und einflussreicher Kirchenmann in die Geschichte einzugehen. 248 n. Chr. wurde er Bischof von Karthago, dort starb er auch zehn Jahre später – auf sehr gewaltsame Weise, denn Kaiser Valerian, einer der härtesten Christenverfolger unter den römischen Imperatoren, ließ ihn hinrichten. In seiner Amtszeit war er in schwere Auseinandersetzungen innerhalb der Kirchen in Nordafrika verstrickt. Es ging dabei um das Verhalten jener Christen, die während der Verfolgungen durch Kaiser Decius (249–251) vom Glauben abgefallen waren, um ihr Über­ leben zu sichern. Es waren also unruhige Zeiten, in denen der Bischof Cyprianus lebte und wirkte, und dies nicht nur wegen der religionspolitischen Turbulenzen, sondern auch wegen der allgemeinen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Krise, in die das Römische Reich im 3. Jahrhundert geraten war. Zu allem Überfluss brach dann auch noch in weiten Teilen des Reiches eine Epidemie aus, die man deswegen die „Cyprianische Pest“ nennt, weil aus der Feder des Bischofs 51

die ausführlichste Beschreibung dieser grassierenden Krankheit vorliegt. Man hätte sie auch als „Decianische Pest“ bezeichnen können, denn sie brach 250 n. Chr., im zweiten Regierungsjahr des Kaisers Decius aus. Ihr Ursprungsherd soll in Äthiopien gelegen haben. Über Ägypten und Nordafrika erreichte sie dann auch schnell Europa, wo sie eine hohe Zahl an Opfern forderte. Die Symptome der Krankheit finden sich in den Aufzeichnungen des Cyprianus: Durchfall, Fieber, Erbrechen, Entzündungen an den Augen, die zur Blindheit führen konnten, Taubheit und Lähmungserscheinungen machten den Betroffenen so sehr zu schaffen, dass vor allem die Alten und Schwachen sie nicht überlebten. Aus christlicher Sicht beklagt Cyprianus, dass den Patienten kaum geholfen wurde. Die Verwandten und Angehörigen hätten sich nicht um die Kranken gekümmert, hätten vielmehr die Flucht ergriffen, um der Gefahr der Ansteckung zu entgehen. Für die Christen war die Epidemie darüber hinaus eine Strafe, die Gott den Nichtchristen geschickt hatte. Aus ihrer Sicht konnte es kein Zufall sein, dass die Seuche ausbrach, als Decius gerade die reichsweite Verehrung des Kaisers angeordnet hatte. Diese Maßnahme sollte dazu dienen, angesichts der vielen Krisen der Zeit die Bindung zwischen Herrscher und Untertanen zu stärken. Die Christen durften sich von ihrem Glauben her nicht an der kultischen Adoration des Kaisers beteiligen und gerieten auf diese Weise ins Visier der Obrigkeit, die ihnen eine staatsferne Gesinnung vorwarf. Die Christen betrachteten die Krankheit als gerechte Sühne für die Verfolgungen, denen sie daraufhin ausgesetzt waren. Allerdings gerieten sie anfangs in einen Erklärungsnotstand, wenn sie gefragt wurden, wieso denn auch Christen unter den Opfern der Seuche seien. Unmöglich konnte der Herr doch auch seine eigene Gemeinde bestrafen wollen. Doch die Theologen fanden eine Lösung: Die Heiden sollten bestraft, die Christen geprüft werden. Die Kirche entdeckte ein Argumentationsmuster, das in der Folgezeit bei Katastrophen immer wieder zum Tragen kam und dem der Kirchenvater Augustinus die kanonische Form gab: Christen sollten durch Unglücksfälle dieser Art daran erinnert werden, dass das wahre Paradies nicht auf Erden, sondern im Himmel sei. Die christliche Interpretation der Pest unter Decius führte im Zuge der Auseinandersetzungen dann allerdings wiederum dazu, dass umgekehrt die Nichtchristen die Christen für diese Epidemie verantwortlich machten. Nicht der Gott der Christen habe sie geschickt, vielmehr seien die Verursacher die römischen Staatsgötter, die sich auf diese Weise an den Christen rächen wollten, die ihnen nicht die gebührende Verehrung erwiesen. So bot die Katastrophe viel Stoff für die weltanschaulichen Kämpfe zwischen den Christen und den Heiden und wurde in den Kontext der jeweiligen Wahrnehmungswelt eingeordnet. 52

Die Pest von Byzanz In den Jahren von 527 bis 565 n. Chr. regierte in Konstantinopel Kaiser Justinian. Er zählt, wie immer man auch seine kaiserlichen Leistungen einschätzen will (und das geschieht in den Quellen und in der modernen Forschung sehr kontrovers), zu den exponiertesten Herrscherpersönlichkeiten der Antike. Untrennbar ist mit seinem Namen der groß angelegte Versuch verbunden, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und das Römische Reich in seiner alten Gestalt, nur diesmal unter christlichen Vorzeichen, wiederherzustellen. Denn seit 476 n. Chr. gab es das einstige Weströmische Reich nicht mehr, nur noch das Oströmische Reich mit der Hauptstadt Konstantinopel. Das Weströmische Reich war nicht zuletzt im Strudel der großen Völkerwanderung untergegangen. Fast wäre Justinian das große Unternehmen gelungen, immerhin schaffte er es, die Herrschaft über Nordafrika und Italien zurückzugewinnen. Untrennbar ist mit dem Namen Justinian auch der Name Theodora verknüpft. Sie war seine Frau, Rat- und Impulsgeberin, manchmal sogar die eigentliche Herrscherin. Untrennbar verbunden ist mit dem Namen Justinian außerdem die Kodifizierung des Rechts, der nach ihm benannte Codex Iustinianus, der für die europäische Rechtstradition von herausragender Bedeutung gewesen ist. Untrennbar ist aber mit dem Namen Justinians auch ein trauriges, dramatisches, desaströses Kapitel in der Geschichte des Oströmischen Reiches verbunden, die nach ihm benannte „Justinianische Pest“. Persönlich trug er an der Pest natürlich keine Schuld, aber sie vollzog sich während jener Zeit, in der er Kaiser war, und daher muss sein Name herhalten, um diese Pandemie begrifflich zu erfassen. Hierbei handelte es sich, was die geographischen Dimensionen, die zeitliche Ausdehnung und die Zahl der Opfer angeht. um eine der schlimmsten Seuchen, die es nicht nur in der antiken Geschichte, sondern in der Geschichte überhaupt gegeben hat. Der Vordere Orient war in der Antike und so auch in der byzantinischen Zeit ohnehin sehr anfällig für Epidemien. Schon einige Jahre vor Justinians Regierungsantritt war die Gegend um die Stadt Edessa von einer schweren Seuche heimgesucht worden. Die „Justinianische Pest“ gilt in der medizinhistorischen Forschung als die erste Epidemie bzw. Pandemie, die tatsächlich diesen Namen verdient. Sie brach im Jahre 541 n. Chr. aus, im 14. Jahr der Regierung des Kaisers Justinian. Die Keimzelle lag in Ägypten, genauer gesagt in Pelusion im Delta des Nils. Über den weiteren Verlauf berichtet der oströmische Geschichtsschreiber Prokop (Bella 2,22): „Dann teilte sich die Krankheit und erfasste in der einen 53

Richtung Alexandria und den Rest von Ägypten, in der anderen Richtung die Grenze nach Palästina. Von dort aus dehnte sie sich auf die ganze Welt aus, wobei sie immer dann voranschritt, wenn die Zeiten dafür günstig waren.“ Der Begriff „ganze Welt“ muss hier nicht als eine Übertreibung angesehen werden. Prokop meinte die aus der Sicht von Konstantinopel bekannte, zivilisierte Welt. Und tatsächlich erreichte die Pest einen geographischen Radius, der vergleichbar war mit der verheerenden Katastrophe in der Zeit der Kaiser Mark Aurel und Lucius Verus. Sie erfasste Teile Nordafrikas, viele Regionen in Südeuropa, und auch vom Rhein wurden Krankheitsfälle gemeldet, die ganz offenbar im Zusammenhang mit der Pandemie standen. Aber nicht nur die geographische Ausbreitung, sondern auch die Dauer machte die „Justinianische Pest“ zu einer der verheerendsten Katastrophen der Antike. Nachdem sie mehr als zehn Jahre gewütet und unzählige Todesopfer gefordert hatte, wurde sie von offizieller kaiserlicher Seite für beendet erklärt. Doch schon bald flammte sie wieder auf – dies auch deswegen, weil man kein Mittel gegen sie kannte. Es handelte sich um einen neuen, von den Ärzten bis dahin nicht diagnostizierten Erreger. Nach modernen Erkenntnissen handelte es sich bei der „Justinianischen Pest“ um die Beulenpest. Weil man ihr gegenüber machtlos war, brach sie immer wieder aus. Die Gefahr der Infektion blieb immens hoch: Noch 200 Jahre später trieb derselbe Infektionsherd sein Unwesen in der gesamten Mittelmeerwelt. Danach allerdings gab es in Europa und auch im Reich von Byzanz keine Pest mehr. Erst im Mittelalter sollte sie wieder zu einer tödlichen Bedrohung werden. Die über die medizinischen Auswirkungen der „Justinianischen Pest“ hinausgehenden Folgen sind in der historischen Forschung häufig überschätzt worden. Insbesondere gilt dies für die Behauptung, durch die Pest sei das Reich von Byzanz so sehr geschwächt worden, dass es den Arabern nach dem Tode Mohammeds (632) ziemlich mühelos gelingen konnte, weite Teile des Reiches in ihren Besitz zu nehmen und zu islamisieren. Ganz ohne Zweifel bedeutete die Pest einen erheblichen Verlust an Substanz, sowohl in demographischer als auch politischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Gleichwohl gibt es Faktoren, die in weitaus stärkerem Maße dazu beigetragen haben, dass der arabischen Expansion ein solch großer Erfolg beschieden war. Die finanziellen Schwierigkeiten, in die Justinian das Reich mit seinem Abenteuer im Westen gestürzt hatte, sind hier ebenso zu nennen wie die langwierigen Auseinandersetzungen mit den persischen Sassaniden im Osten, die die militärischen Kräfte stark ­beansprucht hatten.

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4. Hungerkatastrophen Sieben fette Jahre, sieben magere Jahre „Ägypten ist ein Geschenk des Nils.“ So lautet ein bekanntes, immer wieder zitiertes Diktum des griechischen Historikers Herodot. Im 5. Jahrhundert v. Chr. formuliert, enthält es tatsächlich eine wichtige Botschaft: Ohne den Nil hätte Ägypten niemals zu einem prosperierenden Staat, zu einer der ersten Hochkulturen überhaupt werden können. Das Land bestand zum größten Teil aus Wüste, der Nil war seine Lebensader. Alljährlich im Sommer, ab Mitte Juli, trat der Nil über seine Ufer, aufgrund der sommerlichen Regenfälle im äthiopischen Hochland. Im September erreichte die Nilschwelle ihren Höhepunkt, um im Oktober wieder abzuklingen. Diese vier Monate waren für die Ernährungssituation in Ägypten entscheidend. Ein großer Teil der Ernte hing davon ab, dass man die segensreiche Wirkung der Überschwemmungen nutzte und die Risiken minimierte. Dazu diente ein ausgeklügeltes System von Kanälen, die die Wassermassen so regulierten, dass sie keinen Schaden anrichteten, sondern im Gegenteil die Felder fruchtbringend bewässerten. So galt die Sorge der Pharaonen, der Bürokraten und der Bauern dem Wasserstand des Nils. Stieg er zu sehr an, bedeutete dies Hunger, Normalität bedeutete reiche Ernte. Mit sogenannten Nilometern wurde der jeweilige Wasserstand im ganzen Niltal gewissenhaft kontrolliert. Der schmale Grat zwischen Überfluss und Not, auf dem die alten Ägypter wandelten, hat seinen berühmtesten Ausdruck in der biblischen Geschichte von den sieben fetten Kühen und den sieben mageren Kühen gefunden (1. Moses 41). Der Pharao hat einen Traum: Er steht am Nil, und aus dem Wasser steigen sieben schöne, fette Kühe. Dann tauchen sieben weitere Kühe aus dem Nil auf, jedoch hässlich und mager. Und diese mageren Kühe fressen die fetten Kühe auf. Der erschreckte Pharao lässt die Traumdeuter zu sich kommen. Die richtige Deutung liefert ihm Joseph, dem er eine weitere Facette seines Traumes verraten hat: Er sah sieben Ähren auf einem Halm wachsen, alle voll und dick. Dann erschienen sieben dürre Ähren, die die sieben dicken Ähren verschlangen. Joseph eröffnet dem Pharao, dass beide Motive – die Kühe und die Ähren – auf dasselbe hinweisen sollen: „Die sieben schönen Kühe sind sieben Jahre, und die sieben guten Ähren sind dieselben sieben Jahre. Es ist ein und derselbe Traum. Die sieben mageren und hässlichen

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Kühe, die nach jenen aufgestiegen sind, das sind sieben Jahre, und die sieben mageren und versengten Ähren sind sieben Jahre des Hungers … Siehe, sieben reiche Jahre werden kommen in ganz Ägyptenland. Und nach ihnen werden sieben Jahre des Hungers kommen, so dass man vergessen wird alle Fülle in Ägyptenland. Und der Hunger wird das Land verzehren, dass man nichts wissen wird von der Fülle im Lande vor der Hungersnot, die danach kommt, denn sie wird sehr schwer sein.“

Gemäß dieser Deutung seiner Träume trifft der Pharao sofort Vorkehrungen für die prophezeiten sieben fetten und sieben mageren Jahre. Als Koordinator setzt er Joseph ein, ausgestattet mit allen Vollmachten. Dieser sorgt dafür, dass in den sieben fetten Jahren üppige Vorräte an Getreide angelegt werden: „Und Joseph sammelte die ganze Ernte der sieben Jahre, da Überfluss im Lande Ägypten war, und tat sie in die Städte. Was an Getreide auf dem Felde rings um eine jede Stadt wuchs, das tat er hinein. So schüttete Joseph das Getreide auf, über die Maßen viel wie Sand am Meer, so dass er aufhörte zu zählen, denn man konnte es nicht zählen … Als nun die sieben reichen Jahre um waren im Lande Ägypten, da fingen an die sieben Hungerjahre zu kommen, wie Joseph gesagt hatte. Und es ward eine Hungersnot in allen Landen, aber in ganz Ägyptenland war Brot. Als nun ganz Ägyptenland auch Hunger litt, schrie das Volk zum Pharao um Brot. Aber der Pharao sprach zu allen Ägyptern: Geht hin zu Joseph, was der euch sagt, das tut. Als nun im ganzen Lande Hungersnot war, tat Joseph alle Kornhäuser auf und verkaufte den Ägyptern. Denn der Hunger ward je länger je größer im Lande. Und alle Welt kam nach Ägypten, um bei Joseph zu kaufen. Denn der Hunger war groß in allen Landen.“

Ursachen und Gründe Ägypten ist mit seiner speziellen geographischen Situation – Land der Wüste mit dem Nil als Lebensader – ein Sonderfall. Die metaphorische Joseph-Geschichte beweist, wie eng Elend und Segen beieinanderlagen. Doch auch in anderen Teilen der antiken Welt war Hunger immer wieder ein Thema, und immer wieder ist in den Quellen von Engpässen bei der Ernährung bis hin zu schweren Hungerkatastrophen die Rede. Analysiert man die dabei genannten Gründe und Ursachen, so kristallisieren sich bestimmte Faktoren als Schwerpunkte heraus: Es gab Hungersnöte wegen Dürreperioden und, umgekehrt, wegen Überschwemmungen, welche die Ernte vernichteten. Es gab Hungersnöte, die durch Heuschreckenplagen hervorgerufen wurden. Es gab weiterhin Hungersnöte, für die Störungen der Transportwege, sei es zu Land oder zu Wasser, verantwortlich waren. Davon betroffen waren vor allem große Städte wie Rom, die ganz von der Lebensmittelzufuhr von außen abhängig waren. 56

Und es gab schließlich, als dritte Gruppe, Hungersnöte, die von Menschen gemacht wurden – entweder von Spekulanten oder von ambitionierten Politikern, die versuchten, durch eine künstliche Verknappung der Ressource Getreide ihre Ziele zu erreichen.

Hungerkatastrophen bei Herodot Eine ergiebige Quelle für Hungersnöte in der frühen antiken Welt ist der griechische Geschichtsschreiber Herodot, der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte und wirkte. Seiner Erzählfreude sind die Beschreibungen einiger bemerkenswerter Fälle von Hungerkatastrophen im östlichen Mittelmeerraum zu verdanken, ­deren historischer Wert nicht in jedem Fall zweifelsfrei ist, die aber dennoch geeignet sind, das Phänomen der Hungerkatastrophe in der Antike an sich zu beleuchten. An einer Stelle (1,94) beschäftigt sich Herodot mit dem Volk der Lyder im westlichen Kleinasien. Ihnen schreibt er viele Besonderheiten zu, deren Erwähnung typisch ist für diesen Historiker, der sich nicht nur für die große Geschichte, sondern auch für Kultur und Alltag interessierte. Die Lyder, so konstatiert er, hatten ganz ähnliche Sitten wie die Griechen, abgesehen davon, dass sie ihre Töchter als Dirnen gehen ließen. Sie waren die ersten, die Münzen aus Gold und Silber prägten, und sie waren die ersten Kaufleute. Sie waren auch, wie man hinzufügen muss, ein sehr reiches Volk, vor allem dank der Edelmetallvorkommen. Nicht umsonst wurde ihr König Kroisos in der latinisierten Form „Krösus“ zum Sinnbild eines reichen Mannes. Trotzdem muss es auch im reichen Lydien zu Hungerkatastrophen gekommen sein. Das teilt Herodot mit, als er belegen will, warum die Lyder als Erfinder von Würfel-, Knöchel- und Ballspielen gelten dürfen. Zugleich referiert er an dieser Stelle die Auffassung von der kleinasiatischen Herkunft der Etrusker, die bei ihm den griechischen Namen „Tyrsener“ tragen: „Zur Zeit des Königs Atys, des Sohnes des Manes, herrschte in ganz Lydien eine große Hungersnot. Eine Zeitlang ertrugen sie die Lyder geduldig. Als sie aber immer länger dauerte, suchten sie Abhilfe, und jeder ersann etwas anderes. Damals wurden das Würfel-, das Knöchel- und das Ballspiel und alle anderen Arten von Spielen erfunden mit Ausnahme des Brettspiels, dessen Erfindung die Lyder nicht für sich in Anspruch nehmen. Durch diese Kurzweil vertrieben sie den Hunger, indem sie einen ganzen Tag hindurch spielten, um die Esslust nicht aufkommen zu lassen. Den nächsten Tag wieder aßen sie und spielten nicht. So lebten sie 18 Jahre lang. Als die Not aber nicht

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nachließ, sondern sie sogar noch mehr bedrängte, schied der König alle Lyder in zwei Gruppen und ließ sie losen. Die eine Hälfte sollte im Lande bleiben, die andere musste auswandern.“

Die Auswanderer, so schildert Herodot den weiteren Verlauf, begaben sich mit genügend Proviant auf die Schiffe und suchten nach einer neuen Heimat, die sie schließlich in Italien fanden, wo die „Tyrsener“ zu den Begründern der ­etruskischen Kultur geworden seien. Sicher ist es nicht zu empfehlen, die ­Geschichte, so wie sie hier erzählt wird, für glaubwürdig zu halten. Sich mit ­Spielen die Zeit zu vertreiben, um den Appetit zu unterdrücken, und das immerhin 18 Jahre lang, ist kaum als eine geeignete Rezeptur anzusehen, um mit Hungerkatastrophen umzugehen. Hier haben sich also viele fiktive und mythische Elemente in die Darstellung eingeschlichen. Doch von grundsätzlicher Bedeutung für die Folgen von Hungerkrisen ist der Umstand, dass die Lyder sich zur partiellen Auswanderung entschlossen haben sollen, damit die noch vorhandenen Ressourcen für die nun nicht mehr so große Zahl von Menschen in der Heimat ausreichten. Hunger als Auslöser für Migrationsvorgänge darf auch bei anderen Völkerwanderungen in der Antike vorausgesetzt werden. Dies war vor allem dort der Fall, wo die Versorgungsstrukturen nicht so institutionalisiert gewesen sind wie etwa in den hellenistischen Königreichen oder im Rom der Kaiserzeit. Eine andere Funktion hat eine Hungerkatastrophe, die Herodot auf der Insel Thera (Santorin) verortet (1,150–154). Diese Erzählung beginnt damit, dass eine Delegation aus Thera mit dem König an der Spitze beim Orakel von Delphi vorstellig wird, wo ihnen die Pythia rät, eine Stadt in Libyen zu gründen (damit war Afrika gemeint – die Griechen nannten den Kontinent zur Zeit ­Herodots „Libyen“). Doch es geschieht nichts in dieser Richtung. Denn keiner weiß genau, wo „Libyen“ liegt, keiner will sich auf eine Reise ins Ungewisse einlassen, und so bleibt der Spruch unbeachtet. Doch dann beginnt eine lange Dürreperiode, sieben Jahre lang fällt auf der Insel kein Regen. Alle Bäume verdorren, bis auf einen einzigen. Wieder fragt man in Delphi um Rat nach, wieder kommt der Hinweis auf die Gründung einer Stadt in Afrika. Nach langen Irrungen und Wirrungen wird diese Aufforderung endlich in die Tat umgesetzt. Die Stadt, deren Gründungsgeschichte Herodot hier referiert, ist das später so prosperierende Kyrene. Wie im Fall Lydien, so spielt auch hier die Hungersnot eine Rolle im Zusammenhang mit Auswanderung. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied. Diesmal wird die Dürre von den Göttern geschickt, um die Menschen an den Spruch der Pythia zu erinnern, die ihrerseits das Sprach58

rohr des Gottes Apollon ist. Man muss den Worten der Götter folgen, so lautet die Botschaft. Die von Herodot genannte Hungersnot ist, vom strengen historischen Standpunkt aus gesehen, ein Konstrukt. Grundsätzlich wurde der Boden der Insel auch als ertragreich gerühmt (Schol. Pind. P 4,11). Allerdings gab es in historisch besser zu überblickenden Phasen der Geschichte von Thera gelegentlich große Engpässe bei der Versorgung. Kurz nach dem Tod Alexanders des Großen, um 330 v. Chr., musste die getreidereiche Tochterstadt Kyrene ­einspringen, um die Mutterinsel aus einer schweren Hungersnot zu befreien. 15.000 Scheffel Getreide fanden damals den Weg von Nordafrika nach Thera. Allerdings betraf die damalige Krise nicht allein Thera, sondern auch andere Inseln der Ägäis und Städte auf dem Festland.

Hungerkrisen in Rom Rom war die glanzvolle Metropole eines – nach damaligen Kategorien – globalen Imperiums. Rom war eine Stadt, deren Einwohnerzahl in der frühen Kaiserzeit auf 1 Million zuging. Ein weitaus weniger glanzvolles Kapitel der Geschichte dieser ruhmreichen Stadt war die Versorgung all dieser Menschen mit Lebensmitteln, vor allem mit Getreide und Brot. Das war eine politische und logistische Herausforderung, die von den Verantwortlichen häufig nicht bewältigt werden konnte – sei es in den Zeiten der Republik von den Senatoren und den für die Getreideversorgung zuständigen Beamten, sei es in der Kaiserzeit durch den Kaiser und seine Administration. Die Folge waren zum Teil verheerende Hungerkrisen bzw. Hungerkatastrophen, wenn man in diesem Zusammenhang dann von einer „Katastrophe“ sprechen will, wenn dabei viele Menschen ums Leben kamen, weil sie buchstäblich verhungerten. In der „guten alten Zeit“ hatte es in Rom keine Schwierigkeiten gegeben, die Versorgung mit Lebensmitteln zu gewährleisten. Die Äcker der Bauern in Italien brachten genug Ertrag. Doch ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. entwickelte sich die Regionalmacht Rom zu einer Hegemonialmacht. Durch die drei Punischen Kriege gegen Karthago kam Rom in den Besitz Siziliens und Nordafrikas. Die beiden Neuerwerbungen wurden, neben Ägypten, zu den Kornkammern Italiens. Die einheimische Landwirtschaft konzentrierte sich auf den Anbau von Wein und Oliven, das lebenswichtige Getreide wurde von außen bezogen. Das war die Quelle vieler Gefahren und Risiken, auch wenn die Getreideversorgung bereits in der Zeit der Republik institutionalisiert worden war. Damals oblag die cura annonae, wie die Römer diesen Aufgabenbereich nannten, dem 59

Gremium der Aedilen, zu deren Obliegenheiten insgesamt die Kontrolle der städtischen Infrastruktur gehörte. In der Kaiserzeit wurde die Getreideverteilung noch weiter staatlich institutionalisiert, blieb in letzter Konsequenz aber immer eine Sache des Kaisers, der auf diese Weise seine patronalen Verpflichtungen ganz sichtbar erfüllen konnte. Eine der schwersten Versorgungskrisen erlebte die Stadt Rom im Jahre 57 v. Chr., und dies inmitten einer Zeit der größten politischen Turbulenzen. Die Republik befand sich in einer chronischen Krise, die Adligen wetteiferten um persönliche Macht und persönlichen Reichtum. 57 v. Chr. waren der große Feldherr Pompeius und Iulius Caesar die dominierenden Persönlichkeiten. Caesar befand sich zu dieser Zeit gerade im Krieg in Gallien, den er vom Zaun gebrochen hatte, um die beteiligten Legionen auf seine Seite zu bringen. Dem Redner und Politiker Cicero sind wichtige Informationen über eine akute Hungersnot zu verdanken, unter der in dieser Zeit viele der Bewohner Roms zu leiden hatten und die von den Verantwortlichen auch politisch instrumentalisiert wurde. Dabei nennt er die aus seiner Sicht wichtigsten Gründe, die zu einer Versorgungskrise führen konnten (dom. 11): „Teils hatten unsere Getreideprovinzen kein Getreide, teils hatten sie es – wahrscheinlich wegen der Launen der Verkäufer – in andere Gebiete verfrachtet, teils hielten sie es, um so bessere Preise zu erzielen, wenn sie erst bei Eintritt einer Hungersnot eingriffen, in ihren Speichern zurück, um es kurz vor der neuen Ernte zu verfrachten.“

Wie das Volk auf die katastrophale Versorgungslage reagierte, beschreibt der griechische Historiker Cassius Dio (39,9,2): „Damals war in der Stadt eine schlimme Hungersnot ausgebrochen. Das ganze Volk stürmte ins Theater … und anschließend auf das Kapitol, wo gerade der Senat seine Sitzung hielt. Dort drohte die Masse erst damit, dessen Mitglieder eigenhändig umzubringen, dann, sie samt den Tempeln zu verbrennen.“

Die Quellen zu dieser Hungerkrise des Jahres 57 v. Chr. lassen den Schluss zu, dass hier politisch interessierte Kreise die Hände im Spiel hatten. Die Richtung weist Plutarch in seiner Pompeius-Vita (49), wenn er dessen innerrömischen Rivalen Clodius mutmaßen lässt: „Indem Cicero sich für den Antrag zur Behebung des Getreidemangels einsetzte, machte er Pompeius gewissermaßen wieder zum Herren aller Länder und Meere, die die Römer beherrschten. Denn seinem Kommando wurden nun die Häfen, Handelsplätze, Lebensmittelmärkte, mit einem Wort, alles, worüber Seefahrer und Bauern verfügten, unterstellt.“

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Tatsächlich hatte Cicero zuvor einem Antrag zugestimmt, der seinem innenpolitischen Verbündeten Pompeius ein außerordentliches Kommando von fünf Jahren Dauer zur Behebung der Engpässe verschaffte. Offenkundig ging es darum, Pompeius vor dem Hintergrund der Machtstellung, die sich Caesar zur selben Zeit im Gallischen Krieg erarbeitete, ein Äquivalent zu bieten. Dies geschah auf Kosten der Bevölkerung von Rom, deren Hunger man bewusst einkalkulierte, um politische Pluspunkte zu sammeln. In der Kaiserzeit gehörten die Kontrolle über die Getreideversorgung und die Vermeidung von Hungerkrisen dann zu den wichtigsten Aufgaben des Herrschers. Schon der erste Prinzeps Augustus bekämpfte 22 v. Chr. erfolgreich eine Hungersnot, bestimmte Beamten zur Organisation der Getreide­ verteilung insbesondere an Bedürftige und vergaß nicht, sich dieser Maßnahmen in seinem Tatenbericht, den er kurz vor seinem Tod (14 n. Chr.) verfasste, zu rühmen (res gestae 5): „Die Diktatur, die mir in Abwesenheit und Gegenwart sowohl vom Volk als auch vom Senat unter dem Konsulat des M. Marcellus und L. Arruntius angetragen wurde, habe ich nicht angenommen. Nicht abgelehnt aber habe ich, als größter Mangel an Brotgetreide herrschte, die Sorge um die Beschaffung von Nahrungsmitteln, derer ich mich so annahm, dass ich innerhalb weniger Tage durch meine Aufwendungen und meine Fürsorge für die ganze Stadt von der Furcht und der bereits spürbaren Gefahr befreien konnte.“

Diese knappen Worte reichen aus, um Augustus als einen Herrscher erscheinen zu lassen, dem das Wohl des Volkes über alles ging, der selbst aber keine außergewöhnlichen politischen Ambitionen hegte. Bei Cassius Dio (54,1) ist die ­Szenerie des Jahres 22 v. Chr. geradezu zu einem allgemeinen KatastrophenSpektakel geworden: „Während Marcus Marcellus und Lucius Arruntius Konsuln waren, wurde die Stadt [Rom] erneut vom Fluss [Tiber] überschwemmt und unter Wasser gesetzt. Außerdem trafen Blitze neben vielen anderen Objekten auch die Standbilder im Pantheon, so dass selbst der Speer aus der Hand des Augustus fiel. In ganz Italien aber wütete die Pest, weshalb niemand an Ackerbau dachte … Die Römer aber, bedrängt von Krankheit und Hunger, waren der Meinung, dass diese Heimsuchungen nur deshalb über die gekommen seien, weil sie nicht auch damals Augustus zum Konsul hatten.“

Gemäß der Empfehlung, gerade den Katastrophen-Berichten aus der Antike nicht in allen Punkten Glauben zu schenken, wird man bei dieser Darstellung des griechischen Historikers zwei Einschränkungen vornehmen müssen: Erstens konnten antike Berichterstatter nicht immer der Versuchung widerstehen, 61

eine Katastrophe nicht isoliert geschehen zu lassen, sondern immer im Verbund mit anderen Katastrophen. Da man überwiegend der Meinung war, bei solchen Desastern seien die Götter am Werk, ließ man sie, zumindest literarisch, ihr katastrophales Können gleich auf mehreren Ebenen beweisen. Zweitens geht es in dem Bericht Dios darum, Augustus in einem hellen Licht erscheinen zu lassen, gewissermaßen als einen generellen Heilsbringer im Angesicht der Katastrophe. Gleichwohl hatte Augustus auch in späteren Phasen seiner Herrschaft Schwierigkeiten, dass Problem der Getreideversorgung strukturell in den Griff zu bekommen. Zwischen 5 und 9 n. Chr. kam es in der Hauptstadt ­wiederholt zu Engpässen bei den lebenswichtigen Getreidezufuhren, mit der Folge, dass die geplagte – vor allem ärmere – Bevölkerung zu revoltieren begann. Nach nicht unwahrscheinlichen Berichten soll der deprimierte Augustus einmal sogar daran gedacht haben, sich durch selbst auferlegten Nahrungsentzug das Leben zu nehmen. Die Knappheit an Getreide für die Bevölkerung in Italien resultierte vermutlich daraus, dass Rom zu dieser Zeit eine Reihe von Kriegen führte – in Germanien, wo die „Schlacht im Teutoburger Wald“ den imperialen Träumen ein Ende setzte, und auch in Illyrien. Die Getreidereserven des Imperiums gingen an die kämpfenden Soldaten, die Zivilisten blickten auf leere Teller. Auch seine Nachfolger hatten immer wieder mit drohenden oder tatsächlich eingetretenen Hungerkatastrophen zu kämpfen. Der prononcierten Meinung des Satirikers Juvenal nach waren es – in der von ihm geprägten berühmten Formulierung – vor allem „Brot und Spiele“, wonach das römische Volk der Kaiserzeit verlangte. Häufig genug erfüllte sich nur der zweite Teil dieser Forderung: Spiele mit Gladiatoren oder Wagenlenkern zu veranstalten, erwies sich als einfacher, als die Nahrungsversorgung einer Millionenstadt zu sichern. Immer wieder sorgten Missernten, Transportprobleme oder Spekulationen für gefährliche Engpässe. Das bekam auch Kaiser Claudius zu spüren, der zwischen 41 und 54 n. Chr. an der Spitze des Imperiums stand. Im Winter 51 n. Chr. erreichte die Getreidenot katastrophale Ausmaße, und das Volk begann wieder zu revoltieren, wie sich den einschlägigen Quellen entnehmen lässt. So heißt es bei dem Historiker Tacitus (ann. 12,43): „Viele Wunderzeichen erschienen in diesem Jahr. Unglücksvögel ließen sich auf dem Kapitol nieder, durch häufige Erdstöße stürzten Häuser ein, und während die Furcht vor weiterem Unheil um sich griff, wurden von der Volksmenge in ihrer Aufregung alle schwächlichen Leute niedergetreten. Auch Getreidemangel und die daraus entstandene Hungersnot wurden als Vorzeichen angesehen. Und nicht nur im Geheimen klagte

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Die Münze zeigt auf der Vorderseite Kaiser Nero, auf der Rückseite die Getreide- und Ackerbau Göttin Ceres

man darüber. Denn als Claudius Recht sprach, umringten sie ihn mit erregtem Geschrei, trieben ihn in die äußerste Ecke des Forums und setzten ihm mit Gewalt zu, bis er mit einer Schar Soldaten die zornige Menge durchbrach. Dass nur für 15 Tage – und nicht mehr – Lebensmittel für die Stadt vorhanden waren, stand fest, und nur durch die große Güte der Götter und die Milde des Winters konnte der äußersten Not abgeholfen werden.“

Die gewaltbereiten städtischen Massen veranlassten den verschreckten Patron, nach Auswegen aus den Missständen zu suchen. Wie der Biograph Sueton (Claud. 18 f.) darlegt, überlegte der Kaiser, wie er einer drohenden Hungerkatastrophe im Winter begegnen könnte. Seine Lösung war, den Händlern lukrative Gewinne in Aussicht zu stellen, indem er ihnen garantierte, bei einem etwaigen Verlust der Getreideschiffe in den Winterstürmen für die Kosten aufzukommen. Weiterhin aber diente die Versorgung mit Getreide auch als politisches Druckmittel. Das zeigte sich an den Umständen, unter denen 69 n. Chr. der Flavier Vespasian an die Macht kam. Er war der Gewinner in den chaotischen Verhältnissen, die nach dem Tod Neros eingetreten waren, als nicht weniger als vier Generäle mit ihren Legionen um dessen Nachfolge wetteiferten. Zugute kam ihm dabei die Tatsache, dass er Ägypten und damit die reichen Getreidevorräte des Landes kontrollierte. Die Drohung, die lebenswichtigen Exporte nach Rom zu stoppen, verhalf ihm mit dazu, seine Ansprüche durchzusetzen. Damit erweckte er die bedenkliche Tradition aus den Zeiten der späten Republik wieder zum Leben, mit dem Hunger ein ­politisches Spiel zu treiben.

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Die Katastrophe von Edessa Über die Leiden der Menschen während einer Hungerkatastrophe gibt es in den antiken Quellen verhältnismäßig wenige Informationen. Gelegentlich ist die Rede davon, dass die Menschen Gräser, Wurzeln, Rinde und Blätter aßen. Der Arzt Galen berichtet im 2. Jahrhundert n. Chr. mit Bezug auf die damals hungernde Landbevölkerung in Kleinasien (6,749): „Sie aßen Zweige und Sprossen von Bäumen und Sträuchern, und Knollen und Wurzeln von unverdaulichen Pflanzen. Sie aßen wilde Kräuter und kochten frisches Gras.“ Als der römische Kommandant Sulla 87 v. Chr. die Stadt Athen belagerte, brach dort, wie es bei Belagerungen in der Geschichte häufig der Fall war, eine Hungersnot aus. Die Belagerten verzehrten zunächst das ganze Vieh, danach kochten sie Felle und Häute, und schließlich gingen einige in ihrer Verzweiflung dazu über, menschliches Fleisch zu essen. Kannibalismus scheint in Zeiten katastrophaler Versorgungsengpässe keine Seltenheit gewesen zu sein. Als während des großen Sklavenaufstandes auf Sizilien 132 v. Chr. die Stadt Tauromenion (das heutige Taormina) belagert wurde, in der sich die Sklaven verschanzt hatten, sollen sie zuerst die Kinder, dann die Frauen und schließlich einander aufgegessen haben. Diese Angabe, die sich bei dem Historiker Diodor findet (34/35,2,20), wird man als glaubwürdig einstufen können, auch wenn hier die Tendenz zum Tragen gekommen sein mag, die Sklaven als besonders barbarisch darzustellen. Die eindringlichste Schilderung einer antiken Hungerkatastrophe stammt aus der Stadt Edessa. Diese Stadt im Norden Syriens (das heutige Sanliurfa im Südosten der Türkei) litt zwischen 499 und 502 n. Chr. unter einer schreck­ lichen Hungersnot. Der Zeitzeuge Josua Stylites hat sie in seiner Chronik genau beschrieben. Auslöser der Katastrophe waren Schwärme von Heuschrecken, die die ganze Ernte vernichteten. Die Menschen stürzte dieses Ereignis ins tiefste Unglück (Chron. 38): „Sie säten Hirse für den Eigengebrauch, aber das genügte nicht, weil sie nicht gedieh. Bevor das Jahr zu Ende ging, hatte das Hungerelend die Leute zur Bettelei gezwungen. Sie verkauften ihr Hab und Gut für die Hälfte des Wertes, Pferde und Ochsen, Schafe und Schweine. Und da die Heuschrecken alle Feldfrüchte vernichtet hatten und weder Grünfutter noch sonstige Nahrung für Menschen und Tiere übrig gelassen hatten, gaben viele ihre Geburtsorte auf und wanderten in andere, nördlich und westlich gelegene Gebiete aus. Und die Kranken, die in den Städten waren, ebenso wie die Alten, Jugendliche, Frauen und Kinder, die Hunger leiden mussten, da sie nicht in der Lage waren, so weit zu gehen und zu den entferntesten Orten zu fliehen, flohen in die ­Städte, um durch Betteln ein Auskommen zu finden.“

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Der Kaiser kümmert sich um die Versorgung der Bevölkerung – das ist die Botschaft dieser Münze des Kaisers Mark Aurel (138 bis 161 n. Chr.). Das Bild der Annona mit Kornähren und Füllhorn soll zeigen: Keine Hungersnot zu befürchten

Zu all dieser Not brach nun auch noch eine Pest aus – häufig waren Hunger­ katastrophen in der Antike von Epidemien begleitet: „Und jene, die in der Stadt waren, wanderten über die Straßen, pflückten Halme und Blätter von Pflanzen und aßen sie. Sie schliefen in den Portiken und Straßen, Tag und Nacht über die Schmerzen des Hungers klagend. Und ihre Körper schwanden dahin, sie waren in einer furchtbaren Lage und glichen, angesichts der Auszehrung, Schakalen. Die ganze Stadt war voll von ihnen, und sie begannen in den Straßen und auf den Portiken zu sterben. Die Pest wurde schlimmer in dieser Zeit, besonders im November. Und auch im ­Dezember, als Eis und Frost kamen, da sie sich nachts in den Portiken und auf den Straßen aufhielten, kam der Schlaf des Todes während des natürlichen Schlafes über sie. Kinder und Säuglinge jammerten in jeder Straße. Von einigen waren die Mütter gestorben, andere hatten ihre Mütter verlassen, weil sie ihnen nichts geben konnten, wenn sie nach etwas zu essen fragten. Tote Körper lagen ausgestreckt in jeder Straße, und die Bürger waren nicht in der Lage, sie zu bestatten, weil sie bei der Rückkehr von der Bestattung des einen schon wieder weitere Tote vorfanden.“

Bei der Schwere der Katastrophe half auch das kaiserliche Krisenmanagement nicht. Zwar ließ der byzantinische Herrscher Anastasios den Bewohnern von Edessa Geld und Getreide zukommen, doch reichten die Hilfsmittel nicht aus, um die Not zu lindern. So steht der Name Edessa für eine der schlimmsten Hungerkatastrophen, die es in der Antike gegeben hat.

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5. Kriegerische Katastrophen Katastrophe der besonderen Art Wenn die Natur rebelliert, wenn Epidemien Zehntausende oder Hunderttausende von Menschen dahinraffen, wenn eine Hungerkrise eine große Zahl von Opfern fordert – in all diesen Fällen gibt es im Normalfall niemanden, der in der Lage wäre, diesen Vorgängen positive Aspekte abzugewinnen. Im Normalfall, wie man betonen muss, denn in Bezug auf Naturkatastrophen beispielsweise versuchte der römische Philosoph Seneca (ca. 4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) dadurch Trost und Zuversicht zu verbreiten, dass er, inspiriert von der Lehre der Stoa, behauptete, es sei eine besondere Ehre, von einem Erdbeben unter der Erde begraben zu werden. Christliche Autoritäten wie der Kirchenvater Augustinus sahen einen Trost darin, dass Gott die Menschen gemahnen wolle, ihr Glück nicht auf Erden, sondern im Himmel zu suchen. Und natürlich hat es zu allen Zeiten und mithin auch in der Antike Menschen gegeben, die aus Natur-, Hunger- und Krankheits-Katastrophen ihren wirtschaftlichen Profit gezogen haben. Häuser, die bei einem Erdbeben zerstört wurden, mussten wieder aufgebaut werden. Unternehmer standen bereit, diesen Wiederaufbau durchzuführen und damit Gewinn zu machen. Ärzte stellten bei epidemischen Krankheiten, auch wenn sie nicht wirklich helfen konnten, den Patienten oder, wenn diese verstorben waren, den Angehörigen hohe Rechnungen aus. Und selbst bei Hungerkatastrophen gab es häufig genug skrupellose Menschen, die ihre gut gefüllten Getreidespeicher sorgsam hüteten und diese bei einer Hungersnot erst öffneten, wenn sie damit einen politischen oder wirtschaftlichen Vorteil erzielten. Doch das waren insgesamt Ausnahmen. Ansonsten gab es bei solchen Katastrophen keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Völlig anders, so scheint es, verhält es sich bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Für den Verlierer ist die Niederlage eine Katastrophe, für den Sieger ein Glücksfall. Man kann das Spektrum der historischen Katastrophen damit um den Aspekt der im Ergebnis geteilten Katastrophe erweitern. Aber das ist wiederum nur die eine Seite der Medaille. Denn es zeigt sich bei einer historischen Betrachtung, dass sogar für den Verlierer eine Katastrophe positive Wendungen haben kann, wenn auch nicht aktuell, sondern erst in der späteren Betrachtung und Interpretation. ­Einige signifikante Beispiele können dieses Phänomen wie auch das Phänomen 66

der kriegerischen Katastrophe an sich für die Antike erhellen, in allen, häufig sehr weitreichenden Konsequenzen, die damit jeweils verbunden gewesen sind.

Der „Trojanische Krieg“ (2. Jahrtausend v. Chr.) Etwas beruhigt hat sich ein Streit, der noch bis vor kurzem nicht nur die akademische Welt in Wallung gebracht hatte: Was hat es mit Troja, was mit dem Trojanischen Krieg auf sich? Diese Diskussion muss an dieser Stelle nicht neu aufgerollt werden, zumal man den starken Eindruck hat, dass in dieser Angelegenheit einstweilen alles gesagt worden ist. Troja war, das darf man festhalten, weder ein unbedeutendes Provinznest noch eine gigantische Weltstadt. Troja war eine wichtige Hafenstadt an der Verbindungsstelle zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Aufgrund dieser bedeutenden handelspolitischen und strategischen Bedeutung war Troja im Verlauf des 2. Jahrtausends v. Chr. auch häufiger der Schauplatz von kriegerischen Auseinandersetzungen, veranlasst von Mächten wie den mykenischen Griechen, die von der Peloponnes aus Raub- und Plünderungszüge an der kleinasiatischen Westküste unternahmen. Davon zeugen in den Ruinen Trojas verschiedene Zerstörungshorizonte, die partiell allerdings auch auf Erdbeben zurückzuführen sind. Diese einzelnen, periodisch wiederkehrenden Züge verdichteten sich in der Geschichte von dem einen Trojanischen Krieg, so, wie er vor allem aus der Ilias Homers, aber auch aus vielen anderen antiken Texten bekannt ist. Wenn es den Trojanischen Krieg in der Realität ebenso wenig gegeben hat wie dessen epische Protagonisten (Agamemnon, Achilles, Hektor, Odysseus und all das andere, das kriegerische Geschehen aktiv oder passiv begleitende Personal), so bedeutet dies auf der anderen Seite nicht, dass dieser Stoff für das Thema „kriegerische Katastrophen“ wertlos wäre. Denn mag es sich bei der Troja-­ Geschichte auch um einen Mythos handeln, so sind in diesen Mythos doch elementare Kriegserfahrungen eingegangen, die die Griechen in der mykenischen Zeit, also in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts v. Chr., sammeln konnten. So gehörte in den martialischen Zeiten der mykenischen Epoche die Belagerung, Zerstörung und Plünderung von Städten zum Inventar des kriegerischen Alltags. Und auch das Leid der Unterlegenen, wie es in der Beschreibung des Trojanischen Kriegs überliefert ist, dürfte dem Schicksal entsprochen haben, das die­ jenigen zu erleiden hatten, deren Städte von fremden Armeen erobert wurden. Eine spezifisch epische – und weniger realistische – Komponente der Geschichte vom Trojanischen Krieg besteht indes darin, dass auch die Sieger nicht 67

viel Freude an dem Erfolg hatten. Das zeigen vor allem die berühmten Aben­ teuer des Odysseus, dem die Götter, im Gegensatz zu seinen Mitkämpfern, nicht die sofortige Rückkehr in seine Heimat Ithaka erlauben, sondern ihn auf eine zehnjährige Irrfahrt über das Meer schicken. Das geschieht nicht, um Homer die Gelegenheit zu geben, mit der Odyssee ein zweites bedeutendes Epos vorzulegen (wobei der Dichter der Ilias und der Dichter der Odyssee aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin nicht identisch sind). Vielmehr spiegelt sich in den Reisen des Odysseus die Erfahrung vieler Kämpfer dieser Zeit wider, dass eine gesicherte Heimkehr nach einem Krieg alles andere als selbstverständlich gewesen ist. Und wenn Odysseus nach seiner Rückkehr erleben muss, dass „Freier“ nicht nur um seine Ehefrau Penelope, sondern auch um die Nachfolge als Oberhaupt seines oikos, also seines engeren Herrschaftsbereiches, wetteiferten, so reflektiert sich darin eine wahrhaft katastrophale Realerfahrung vieler adliger Kämpfer, die lange unterwegs gewesen waren, um sich an Kriegszügen zu beteiligen.

Marathon, Salamis, Plataiai (490–479 v. Chr.) Aus der immer noch dominierenden eurozentrischen Perspektive waren die Kriege der Griechen gegen die Perser zu Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. der Auftakt zu einer grandiosen Epoche der griechischen, auch der europäischen Geschichte. Sie ermöglichten einen Boom auf dem Gebiet der Politik, Kultur und Wirtschaft, repräsentiert durch die Vorzeigemacht Athen, die einen entscheidenden Anteil daran hatte, dass den persischen Ambitionen auf Eroberungen in Europa ein Riegel vorgeschoben worden war. Für die Perser indes waren die berühmten Schlachten von Marathon (490 v. Chr.), Salamis (480 v. Chr.) und Plataiai (479 v. Chr.) veritable Katastrophen mit langfristigen Folgen für die Machtposition der regierenden Achämeniden-Dynastie. Denn: Niederlagen waren im Erfolgskatalog der persischen Könige nicht vorgesehen. Oder noch klarer formuliert: Sie durften sich eigentlich keine militärischen Niederlagen leisten, weil die Position des Königs, angesichts der Stärke des iranischen Adels, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf kriegerischen Erfolgen beruhte. September 490 v. Chr. Ein persische Flotte unter dem Kommando des medischen Adligen erreicht die Küste Attikas. Entsendet hat sie der Großkönig Dareios I. Ihr Auftrag: Unterwerfung der Athener, Versklavung der Bevölkerung Attikas. Das weitere Ziel: die Eroberung Griechenlands. Dahinter steht die grenzenlose hegemoniale Doktrin der Perser, wonach ihnen die Weltherrschaft zukommt. Erwartet werden die Perser von einem Heer, das die Athener unter 68

der Führung des Miltiades eilig zusammengestellt haben. Ort des Geschehens ist die Ebene von Marathon, etwas mehr als 40 Kilometer von Athen entfernt an der Ostküste Attikas gelegen. Die Perser vertrauen auf die Bogenschützen, ihre wirkungsvollste Waffe. Die Athener reagieren mit einem einfachen, aber erfolgreichen Konzept: Die schwerbewaffneten Fußtruppen, die Hopliten, eilen im Laufschritt auf den Gegner zu. Die Perser, die mit einer solchen Attacke nicht gerechnet haben, ziehen sich unter großen Verlusten auf ihre Schiffe zurück. Nach den griechischen Quellen verlieren sie 6.400 Mann, von den Athenern sterben 192. Sie werden später an Ort und Stelle unter einem imposanten Grabhügel bestattet, den man heute noch sehen kann. Die Perser unternehmen einen weiteren Versuch. Mit einer solchen Niederlage können sie nicht zum Groß­ könig zurückkehren. Sie umfahren mit ihren Schiffen das Kap Sunion, die Südspitze Attikas. Doch inzwischen haben die Kämpfer von Marathon die Strecke nach Athen abermals im Laufschritt zurückgelegt und erwarten nun erneut die fremden Eindringlinge. Das lässt die Moral der Perser völlig sinken, und sie kehren über die Ägäis nach Kleinasien zurück. In Athen wird gefeiert, die Schlacht von Marathon wird zu einem Mythos, später kreiert man aus dem Umstand, dass während dieser kriegerischen Aus­ einandersetzung so viel gelaufen wurde, die Geschichte vom Marathonläufer, der mit der Siegesmeldung auf den Lippen tot auf dem Marktplatz von Athen zusammenbricht. Ende September 480 v. Chr. Vor der Insel Salamis, im Saronischen Golf vor der Küste Athens gelegen, trifft die riesige Flotte der Perser auf die Flotte der Athener und die Kontingente der mit ihnen verbündeten griechischen Städte. Diesmal ist der persische Großkönig höchstpersönlich dabei, und Xerxes, Sohn und Nachfolger des Dareios, hat das Unternehmen „Unterwerfung Griechenlands“ generalstabsmäßig geplant. Eine Niederlage darf er sich nicht erlauben. Die Perser, allen voran die ebenso misstrauischen wie ambitionierten Adligen, erwarten von dem König positive Nachrichten. Xerxes ist im Frühjahr 481 v. Chr. von Sardes in Kleinasien aus aufgebrochen. Er kalkuliert mit einem kombinierten See- und Landunternehmen. Seine Truppen überqueren den Hellespont (heute Dardanellen), die Flotte fährt parallel an der nordägäischen Küste entlang. Landheer und Schiffe nehmen dann, sich weiterhin an der Küste orientierend, Kurs in Richtung Süden. In Griechenland herrscht helle Aufregung. Im Gegensatz zu Marathon haben sich diesmal auch die Spartaner, die stärkste Militärmacht in Griechenland, der Abwehr der Perser angeschlossen. Bei den Thermopylen, dem engen Pass, der das nördliche mit dem mittleren Griechenland verbindet, vollbringen 300 69

Säulentrommeln des 480 v. Chr. von den Persern zerstörten ersten Parthenon-Tempels ­wurden später an der Nordseite der Akropolis wieder eingebaut

Spartaner unter dem Kommando des Leonidas eine später immer mehr glorifizierte Glanzleistung. Sie halten das persische Heer auf und geben den Griechen damit die Gelegenheit, sich auf den Angriff der Perser vorzubereiten und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Doch aufzuhalten ist Xerxes nicht. Es gelingt ihm, die Sperrung zu durchbrechen. Die 300 gefallenen Spartaner werden zur Legende. Wanderer werden aufgefordert, ihre große Leistung und ihre Bereitschaft, für die Freiheit Griechenlands zu sterben, in Sparta zu verkünden. In Athen koordiniert Themistokles die Aktionen. Er ist der Architekt der athenischen Flotte, denn ganz richtig hat er erkannt, dass den Persern nicht beizukommen ist, wenn man nicht über schlagkräftige Schiffe verfügt. Athen wird vorsorglich evakuiert. Xerxes und seine Truppen fallen in die Stadt ein, zerstören die Tempel auf der Akropolis. Genauso wichtig wie dieser Erfolg ist für ihn, seine Großtaten nach Persien zu melden. Boten werden nach Susa, der Residenzstadt, geschickt und berichten von einem grandiosen Sieg. Nun muss er nur noch die Flotte der Griechen besiegen, dann sitzt er wieder fest im Sattel. In den Gewässern vor Salamis kommt es zur entscheidenden Schlacht. ­Xerxes selbst geht nicht an Bord, er weiß, was er seinem königlichen Ruf schuldig ist. Er lässt sich seinen Thron bringen, postiert ihn auf einem Platz auf der 70

Vorhöhe und verfolgt von dieser Loge aus das kriegerische Geschehen, das sich unten abspielt. Und was er sieht, ist schockierend. Lange wogt der Kampf zwischen den Schiffen hin und her, dann erringen die Griechen die Oberhand. Den Resten der persischen Flotte bleibt nichts anderes übrig als zu fliehen. Xerxes verlässt seinen luftigen Thron und weiß, dass er in eine schwierige Lage geraten ist. Er kann nicht nach Persien zurückkehren, ohne einen Erfolg zu präsentieren. Eine Chance sieht er noch: Der Krieg muss dann eben zu Lande gewonnen werden. Doch weil es bereits Herbst ist, zieht er sich nach Kleinasien zurück. Im Herbst und im Winter wird in der Antike kein Krieg geführt. Die Aktionen im Frühjahr darauf überlässt er dem Feldherrn Mardonios, der ebenfalls zur Herrscherfamilie gehört. Im Königspalast von Susa wartet er nun auf Siegesmeldungen aus dem fernen Griechenland. Diese bleiben jedoch aus: In der großen Landschlacht bei Plataiai in Böotien im Frühjahr 479 v. Chr. siegen abermals die Griechen. Im gleichen Jahr schlägt eine griechische Flotte bei Mykale in der Bucht von Milet erneut die Kontingente der Perser. Der Krieg ist beendet, die Perser müssen ihre europäischen Träume begraben. Ein paar Jahre später bringt der athenische Dramatiker Aischylos sein Stück „Die Perser“ auf die Bühne. Als Ort der Handlung wählt er Susa, den persischen Königshof. Aus der Perspektive der Verlierer können die Athener noch einmal in einem Schauspiel den Sieg über die Perser genießen. Ein Bote übermittelt Xerxes, der Königinmutter Atossa und dem Hofstaat die Nachricht von der vernichtenden Niederlage in Griechenland. König Dareios, der Vater des Xerxes, wird aus der Unterwelt herbeigerufen. Gemeinsam bricht man in lautes und nicht enden wollendes Jammern und Klagen aus. Aischylos lässt sich keine platte Genugtuung zuschulden kommen. Er versteht es, die Emotionen der Perser menschlich darzustellen. Doch keine Frage: Seine „Perser“ sind auch ein Dokument des Triumphes der Griechen. Die verlorenen Kriege gegen die Griechen sind für die Perser, vor allem aber für den verantwortlichen König Xerxes nichts anderes als eine Katastrophe. Man hat hohe Verluste erlitten, viele Schiffe verloren. Man hat an Prestige eingebüßt und den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Für König Xerxes wird das Regieren schwieriger, im Lande regt sich eine starke Opposition. Er kann seine Herrschaft aber noch einige Jahre aufrechterhalten, bis er 465 v. Chr. schließlich Opfer einer Verschwörung von Adligen wird. Der Koloss Perserreich wankt, auch wegen der Unruhen im Innern, aber er fällt noch nicht. Das Ende sollte erst einige Jahrzehnte später kommen, als sich der junge Makedonen­ könig Alexander, von der Nachwelt „der Große“ tituliert, in wenigen Jahren das gesamte Perserreich erobert und die Dynastie der Achämeniden auslöscht. 71

Die Katastrophe der Athener in Sizilien (413 v. Chr.) Nach der Zurückschlagung der Perser waren die Athener noch die strahlenden Sieger gewesen. Sie reklamierten wegen ihres entscheidenden Anteils an diesem Erfolg nun eine Führungsrolle in der griechischen Welt. Dadurch kollidierten sie mit den tradierten Herrschaftsansprüchen der alten Vormacht Sparta. Die Gegensätze mündeten 431 v. Chr. in eine große und langwierige militärische Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta sowie den jeweiligen Verbündeten, die als der „Peloponnesische Krieg“ in die Geschichte eingegangen ist. Lange Zeit hielten sich die Kräfte die Waage. Doch dann erlebten die Athener die „Sizilische Katastrophe“. Sie begann 415 v. Chr. als ein verwegenes Abenteuer. Im demokratischen Athen waren Kräfte ans Ruder gekommen, die von einer Großmachtstellung Athens träumten, weit über das Mutterland und die ägäische Inselwelt hinaus. In ihr Visier geriet die reiche Insel Sizilien mit der mächtigen, wohlhabenden Stadt Syrakus. An die Spitze einer Flotte wurde ­Nikias gestellt, eigentlich ein Vertreter der gemäßigten Richtung, was hegemoniale Unternehmungen anging. Den Vorwand für die große Expedition lieferten ein Hilferuf der Stadt Segesta und die Unterstützung, die Syrakus den Spartanern geleistet hatte. Weit über 100 Schiffe stachen damals in See, Richtung Sizilien, in der Hoffnung auf Ruhm und Beute. Doch das Abenteuer endete mit einem kompletten Desaster, mit der schlimmsten militärischen Katastrophe, die Athen je ereilt hatte. Zuerst zog sich die Belagerung von Syrakus viel mehr in die Länge, als es die ungeduldige athenische Strategie vorgesehen hatte. Weder die Besatzung der Flotte, die in den Großen Hafen von Syrakus eingelaufen war, noch das Landheer konnten sich entscheidend durchsetzen. Zudem bekam Syrakus Hilfe von außen in Gestalt eines Hilfskontingents aus Sparta. So wurde im Lager der Athener erwogen, die Belagerung abzubrechen und in die Heimat zurückzukehren. Hätten sie dies getan, wäre ihnen viel erspart geblieben. Doch ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als Nikias sich zum Abbruch der Expedition entschlossen hatte, kam es – genau am 27. August des Jahres 413 v. Chr. – zu einer Mondfinsternis. Solche astronomischen Phänomene wurden in der Antike, ebenso wie Natur­ katastrophen, als Zeichen der Götter angesehen. Man konsultierte also die religiösen Sachverständigen, die man auch bei solchen militärischen Unternehmungen immer dabeihatte. Die Priester interpretierten die Finsternis als ein ungünstiges Vorzeichen und empfahlen, mit der Abfahrt noch zu warten – und zwar nach der rituellen Formel 3 mal 9 noch genau 27 Tage. 72

Diese Verzögerung besiegelte das Schicksal der Athener und führte sie direkt in die Katastrophe. Die Syrakusaner gingen nun aufs Ganze, sperrten den Hafen, in dem sich die Schiffe der Athener befanden. Ein von Nikias angeordneter Durchbruchversuch scheiterte. Die Besatzungen der Schiffe, ohnehin nervös wegen der langen, ergebnislosen Belagerung, gerieten in Panik, als man eine Seeschlacht im Hafen gegen die Flotte von Syrakus verlor. Nikias blieb nichts anderes übrig, als ihrem Wunsch nachzugeben, das Heil in einer Flucht über Land zu suchen. Natürlich wusste man, dass man von Sizilien nach Athen kaum zu Fuß gelangen konnte. Das Ziel war vielmehr die Nachschubbasis in Katane, dem heutigen Catania. Doch diese sollte niemand erreichen: Die traurige, demoralisierte Armee wurde von den Soldaten aus Syrakus aufgerieben. Viele kamen ums Leben, am Ende waren nur noch 7.000 Mann von der einst so stolzen Armada der Athener übrig. Alle wurden gefangen genommen, auch der Kommandant Nikias. Mit ihm machten die Sieger aus Syrakus kurzen Prozess: Wie sein Mitkommandant Demosthenes wurde er hingerichtet. Die geschlagenen 7.000 hatten zwei Optionen vor Augen: entweder in die Sklaverei verkauft oder in die berüchtigten Latomien, die Steinbrüche von Syrakus, zur Zwangsarbeit geschickt zu werden. Fast alle beteten um die Sklaverei, denn aus den Latomien, das wusste man, kam kaum jemand lebend heraus. In der Biographie des Nikias schreibt der antike Autor Plutarch (29): „Die meisten Athener kamen in den Steinbrüchen um, durch Krankheit oder durch mangelnde Ernährung. Denn sie erhielten nur etwa ein Pfund Getreide und einen Viertelliter Wasser täglich. Sehr viele waren aber auch geflohen. Sie wurden verkauft oder versteckten sich unter den Sklaven. Diejenigen, die verkauft wurden, bekamen ein Pferd auf die Stirn eingebrannt.“

Noch drastischer fällt die Beschreibung der Verhältnisse bei dem ansonsten so nüchternen Geschichtsschreiber Thukydides aus, der diese Vorgänge als Zeitgenosse miterlebt hat (7,87): „Die in den Steinbrüchen arbeiten mussten, behandelten die Syrakusaner in der ersten Zeit sehr grausam. Auf eingeschnittenem und engem Raum dicht zusammengedrängt, litten sie anfangs noch unter der Sonne und der stickigen Hitze, da kein Dach sie schützte. Andererseits brachten die folgenden kühlen Herbstnächte durch den Wetterumschwung Krankheiten. Und weil sie wegen der Enge des Raumes alles an einem Ort tun mussten und noch dazu die Toten ebenfalls hier übereinandergeschichtet lagen, die an ihren Wunden, der Änderung der Witterung oder dergleichen gestorben waren, so herrschte ein unerträglicher Gestank. Außerdem wurden sie von Hunger und Durst gequält, denn sie gaben einem jeden von ihnen acht Monate hindurch ein Maß Wasser

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und zwei Brote. Und von allen Leiden, die Menschen an einem solchen Ort zu erwarten haben, blieb ihnen auch kein einziges erspart. So verbrachten sie ungefähr 70 Tage zusammen. Danach wurden alle außer den Athenern und den Leuten aus Sizilien und Italien, die an dem Feldzug teilgenommen hatten, freigelassen.“

Der Ausgang der Expedition nach Sizilien war eine Katastrophe – in dem doppelten Sinn eines plötzlich eintretenden, in seinem Verlauf und Ausgang nicht erwarteten Ereignisses zum einen und eines folgenreichen Vorfalls zum anderen. Die Athener in der Heimat waren schockiert. Darüber berichtet Thukydides (8,1): „Als die Nachricht nach Athen kam, wollte man es lange Zeit nicht glauben, selbst den fähigsten Soldaten nicht, die dem Krieg entronnen waren und genauen Bericht erstatteten.“

Doch dann setzte sich allmählich die Gewissheit durch, und nun befand sich ganz Athen im Schockzustand: „Alles Elend brach von allen Seiten auf sie herein, und rings um sie standen nach ­diesem Ereignis Furcht und größte Bestürzung. Verloren hatten jeder Einzelne und die ganze Stadt viele Schwerbewaffnete, viele Reiter und eine Jungmannschaft, für die keine zweite vorhanden war. Das bedrückte sie sehr.“

Die Furcht der Athener, die Syrakusaner würden nun ihrerseits einen Angriff unternehmen, erwies sich zwar als unbegründet. Doch die Katastrophe von Syrakus leitete auf längere Sicht das Ende der Großmacht Athen ein. Die Niederlage in Sizilien bedeutete einen enormen Verlust an Substanz, und dies nicht nur in militärischer, sondern auch in wirtschaftlicher und moralischer Hinsicht. 413 v. Chr. trat das Desaster ein. Neun Jahre später war der gesamte Peloponnesische Krieg für die Athener zur Katastrophe geworden. Sparta siegte, Athen musste kapitulieren. Zwar konnte man sich danach noch einmal erholen. Doch die Zeiten, in denen die Athener die Führungsrolle unter den griechischen Stadtstaaten innehatten, waren endgültig vorbei. Statt Hegemon in einem auch den westlichen Mittelmeerraum umfassenden Großreich zu sein, war Athen nun eine Regionalmacht von nicht viel mehr als lokaler Bedeutung. Unter der Akropolis dachte man zwar gerne an die glanzvollen Zeiten vor dem Krieg ­zurück, übte sich aber nun in Bescheidenheit.

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Cannae (216 v. Chr.) Die Römer hielten es wie die Perser: Man sah sich in aller Bescheidenheit als der Beherrscher der Welt. Bei den Römern hieß dies victor omnium gentium, „Sieger über alle Völker“. Demzufolge waren Niederlagen nicht vorgesehen, und viele militärische Niederlagen hatte Rom in seiner antiken Hochphase auch nicht einzustecken. Doch dann kam ein Feldherr aus Karthago und versetzte die Senatoren am Tiber erst in Erstaunen, dann in Unruhe und schließlich in Entsetzen, Trauer und Verzweiflung. Cannae. Diesen Namen nur zu erwähnen, konnte in Rom gefährlich werden – jedenfalls nach dem schicksalhaften Jahr 216 v. Chr., in dem Hannibal bei diesem Ort in Apulien den Römern eine verheerende Niederlage beigebracht hatte. Das Ereignis gehört zum Zweiten Punischen Krieg, der 17 Jahre lang, von 218 bis 201 v. Chr., dauerte. „Punisch“ heißt der Krieg deswegen, weil die Stadt Karthago, im heutigen Tunesien gelegen, einst von phönizischen Händlern aus der Stadt Tyros (im Libanon) gegründet worden war und die Römer die

Auf dem Schlachtfeld von Cannae erlitten die Römer eine Niederlage mit traumatischer Langzeitwirkung

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Phönizier auf Lateinisch Poeni nannten. „Zweiter“ Punischer Krieg heißt diese große Auseinandersetzung deswegen, weil es bereits einen Ersten Punischen Krieg gegeben hatte, der zwischen 264 und 241 v. Chr. stattfand. Damals siegten die Römer und lösten die Karthager als militärische Vormacht im west­ lichen Mittelmeerraum ab. Der Zweite Punische Krieg war die Revanche Karthagos für die Niederlage im Ersten Punischen Krieg. Eine treibende Kraft war Hannibal aus der einflussreichen Familie der Barkiden. Auch wenn die von den Römern kolportierte Geschichte, er habe seinem Vater Hamilkar schon als Neunjähriger ewige Feindschaft gegen Rom schwören müssen, in die gut gefüllte Abteilung „Erfindungen der Römer“ gehört, so hatte der ehrgeizige Hannibal, der bei Ausbruch des Zweiten Punischen Krieges knapp 30 Jahre alt war, ein dezidiertes Interesse daran, das ramponierte Image der Karthager zu korrigieren und ihnen wieder jene macht- und handelspolitische Position zu verschaffen, die sie bis zum ­ersten Krieg innegehabt hatten. Die Art und Weise, wie Hannibal 218 v. Chr. den Krieg gegen die Römer eröffnete, war spektakulär und gehört zu den auch in der breiteren Öffentlichkeit bekanntesten Episoden aus der gesamten antiken Geschichte. Der karthagische Feldherr wählte den unkonventionellen und für die Römer völlig überraschenden Weg direkt über die Alpen nach Italien. Dies war ein strapaziöser Zug – es war bereits Spätherbst, und Hannibal hatte 38.000 Fußsoldaten, 8.000 Reiter und, nicht zu vergessen, 40 Kriegselefanten über die auch ihm völlig unbekannten Alpen zu führen. Das riskante Unternehmen gelang, auch wenn es einige Verluste gab. Von den 40 Elefanten kam nur einer in der Po-Ebene an. Nachdem er die Alpen überquert hatte, eilte Hannibal in Italien von Sieg zu Sieg. Die römischen Legionen waren überfordert und konnten den Eindringling und seine Armee nicht daran hindern, immer weiter Richtung ­Süden vorzustoßen. Schließlich kam es am 2. August 216 v. Chr. bei Cannae zu jener denkwürdigen Schlacht, die Hannibals Ruf begründete, einer der größten Feldherrn aller Zeiten gewesen zu sein, und die Römer in eine tiefe Depression mit traumatischer Wirkung stürzte. Militärhistoriker pflegen jene Taktik, die Hannibal bei Cannae wählte, als „Umfassungsschlacht“ zu bezeichnen. Hannibal verfügte über eine Truppe von etwa 50.000 Mann. Die Römer unter der Führung der beiden Konsuln Lucius Aemilius Paullus und Gaius Terentius Varro hatten acht Legionen plus Hilfstruppen aufgestellt, in der Summe über 80.000 Mann. Doch trotz numerischer Überlegenheit hatten die Römer keine Chance gegen Hannibal und seine Karthager – eben dank der Umfassungsschlacht, was bedeutete, dass die punische Reiterei die römi76

sche Kavallerie an den Flügeln angriff, verdrängte und so die Legionen einschließen konnte. Die Verluste auf römischer Seite waren immens. Auch einer der beiden Konsuln war ums Leben gekommen. In der Hauptstadt ging die Furcht um, Hannibal würde nun nach Rom ziehen und die Stadt im Triumph einnehmen. Manche sahen ihn bereits auf dem Kapitol, dort, wo der Tempel der göttlichen Trias Jupiter, Juno und Minerva thronte. Aber Hannibal hatte andere Pläne. Der Ruf Hannibal ad portas („Hannibal vor den Toren“) malte ein Schreckensszenario an die Wand, das nicht der Realität entsprach. Hannibal zog nicht nach Rom, sondern weiter nach Süden. Die Römer ließen ihn unbehelligt, zum einen, weil sie sich nicht noch eine weitere demoralisierende Niederlage abholen wollten, zum anderen, weil sie völlig richtig kalkulierten, dass Hannibal nicht ewig in Italien bleiben könne. Das wollte er tatsächlich nicht, sondern es ging ihm darum, Rom in der Substanz seiner Herrschaft zu treffen, und das war das Bundes­ genossensystem in Italien. Ohne die Bundesgenossen, die Soldaten und Tribute ablieferten, so hatte der Karthager klar erkannt, stand die römische Herrschaft auf tönernen Füßen. Womit er nicht gerechnet hatte: Roms Partner blieben standfest, auch wenn mancher es attraktiv fand, unter dem Schutz Karthagos wieder autonom zu werden. So reiste Hannibal noch ein paar Jahre erfolglos werbend durch Italien, bevor er nach Nordafrika zurückkehrte. Dort entschieden die Römer in der Schlacht von Zama (202 v. Chr.) den Zweiten Punischen Krieg dann doch noch für sich. Hannibal blieb, bis zu seinem Tod 183 v. Chr., letztlich nur die Rolle als Söldnerführer in der griechischen Welt. War Cannae für Rom eine Katastrophe? Akut war dies im August 216 v. Chr. ganz sicher der Fall. Ein Invasor in Italien, eine verheerende Niederlage, die schweren Verluste bei den Soldaten, aber auch bei Teilen der senatorischen Oberschicht, die bei Cannae dabei gewesen waren – all dies hatte eine demoralisierende Wirkung. Diese Behauptung lässt sich auch dann aufstellen, wenn man in Rechnung stellt, dass die antiken Hauptquellen – der griechische Historiker Polybios und mehr noch der römische Geschichtsschreiber Livius – bemüht sind, aus der Retrospektive die Situation als besonders dramatisch erscheinen zu lassen, damit das glückliche Ende des Krieges insgesamt dadurch umso bewundernswerter wirkt. Man forschte nach den Ursachen für die Niederlage bei Cannae und stieß dabei auf das angebliche Fehlverhalten zweier Vestalinnen namens Opimia und Floronia. Die Vestalinnen waren die Priesterinnen der Vesta, der römischen Göttin des Herdfeuers. Ihre Aufgabe bestand darin, im Tempel der Vesta auf dem Forum Romanum das heilige Feuer zu bewachen, das als Symbol für die 77

Ewigkeit Roms galt und deshalb nie verlöschen durfte. Vestalin zu sein, bedeutete eine große Ehre, war aber auch mit einer Reihe von Verpflichtungen verbunden. So hatte man vor Antritt des Amtes ein Keuschheitsgelübde abzulegen. Bei der Aufarbeitung der Niederlage von Cannae kam die Prüfungskommission nun zu der Auffassung, dass die beiden Vestalinnen dieses Gelübde gebrochen hätten. Als Strafe hätten die Götter daraufhin das Desaster von Cannae geschickt. Um die Götter zu versöhnen, musste nach Auffassung der Priester und der Senatoren ein Exempel statuiert werden. Opimia und Floronia wurden unter Anklage gestellt, die eine beging daraufhin Selbstmord, die andere wurde lebendig begraben – innerhalb der Stadtmauern an der Porta Collina, wie es das Sakralgesetz vorschrieb (Liv. 22,57,5). Somit waren die Schuldigen gefunden und bestraft worden. Ob sich daraufhin die Gemüter in der Bevölkerung beruhigten, erscheint indes nicht sicher. Auf lange Sicht war Cannae für die Römer keine Katastrophe mehr, woraus sich der Schluss ziehen lässt, dass Katastrophen im Laufe der Zeit ihre katastrophale Wirkung auch verlieren können. Entscheidend dafür war in diesem Fall der Umstand, dass Hannibal den Krieg dann doch noch verlor. Cannae war ­gewissermaßen ein Weckruf für die Römer gewesen, für Senatoren, Soldaten und Volk. Nun bündelte man alle Kräfte und schlug die karthagische Bedrohung nicht nur zurück, sondern ging als strahlender Sieger aus dem Krieg hervor. Doch die Erinnerung an eine der schwärzesten Stunden der römischen Geschichte blieb – als eine stete Mahnung, es nicht mehr so weit kommen zu lassen.

Spartacus Eine Welt ohne Sklaven? Das wäre für die Römer, wie früher bereits für die Griechen, eine Katastrophe gewesen (jedenfalls in der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes). Zwar ist das Etikett „Sklavenhaltergesellschaft“, das früher die marxistische Forschung der Antike angeheftet hat, längst in der historischen Mottenkiste gelandet. Doch dass die wirtschaftliche und soziale Ordnung sowohl in Griechenland als auch in Rom zu einem erheblichen Teil auf der Sklavenarbeit beruhte, ist ein Faktum und kann nicht bestritten werden. Insofern war es für die römischen Senatoren und Großgrundbesitzer mehr als beunruhigend, als im Jahre 73 v. Chr. Nachrichten von einem Aufstand der Sklaven in Süditalien in die Hauptstadt drangen. In der Gladiatorenschule von Capua hatten Sklaven, die dort als Kämpfer tätig sein mussten, einen Ausbruch gewagt. Ihr Anführer trug den Namen Spartacus und stammte aus Thrakien. 78

Was zunächst nach einem normalen Fluchtversuch aussah, entwickelte sich rasch zu einer wahren Massenbewegung. Denn den Gladiatoren, die von Berufs wegen gut zu kämpfen verstanden, schlossen sich bald viele weitere Sklaven an. Dabei handelte es sich vor allem um Sklaven, die auf den großen landwirtschaftlichen Gütern in der Umgebung arbeiteten. Spartacus übernahm energisch die Führung, sorgte dafür, dass sich die stetig wachsende Schar seiner Mitstreiter in einem geordneten Rahmen bewegte. Und weil man damit rechnen musste, dass die bisherigen Besitzer Jagd auf die entlaufenen Sklaven machen würden, verschaffte man sich bei Überfällen so viele Waffen, dass man Auseinandersetzungen nicht mehr zu scheuen brauchte. Da die Zahl der Spartacus-Sklaven ständig zunahm, sah sich der Senat in Rom zum Eingreifen gezwungen. Man schickte ihnen einen Heer entgegen, unter der Leitung nicht eines Konsuls, aber immerhin eines Praetors, also gewissermaßen eines Mannes aus der zweiten Reihe der politischen Riege. Spartacus hatte sich mit seinen inzwischen Tausenden Mitkämpfern an den Hängen des Vesuv verschanzt. Hier erlebte die römische Armee, immerhin 3.000 Mann stark, ihre erste Schlappe – für manche in Rom allerdings auch eine veritable Katastrophe: Es gelang Spartacus und seinem wichtigsten Helfer, dem Kelten Krixos, die römischen Truppen zurückzudrängen. Eine Niederlage gegen ein Sklavenheer – für die Römer war dies ein Schreckensszenario. Ganz neu war diese Erfahrung allerdings nicht: Einige Jahrzehnte zuvor hatte es auf Sizilien schon einmal einen großen Sklavenaufstand gegeben, initiiert von dem aus Syrien stammenden Eunus. Der hatte sich sogar, nach einer Reihe von militärischen Erfolgen, zum König ausrufen lassen und in dieser Eigenschaft zeitweilig fast ganz Sizilien kontrolliert. 132 v. Chr., neun Jahre nach seinem Ausbruch, war es den Römern dann gelungen, den Aufstand niederzuwerfen. Spartacus sollte kein zweiter Eunus werden, und so mobilisierte der Senat weitere Soldaten, um die Dinge wieder in den Griff zu bekommen. Doch alle Versuche waren zum Scheitern verurteilt. Die Erfolge von Spartacus und seiner Truppe ermutigte weitere Sklaven, ihre Herren zu verlassen und mit Spartacus in eine glückliche Zukunft zu ziehen. Bald waren es mindestens 40.000 Sklaven, die sich dem ehemaligen Gladiator angeschlossen hatten. Doch wie sollte ihre Zukunft aussehen? Sie sahen sich sicher nicht als das, was sich die Vertreter der inzwischen nicht mehr taufrischen marxistischen Geschichtswissenschaften nachträglich erträumt haben – als Kämpfer für eine freie Gesellschaft und gegen Unterdrückung. Jegliche Ideologie war Spartacus und seinen Leuten fremd, vor allem Ideologien, die erst viele Jahrhunderte später aufkamen. Was Spartacus wollte und was die Sklaven wollten, die ihm folgten, war schlicht die 79

i­ndividuelle Freiheit und nicht irgendeine, den Kategorien der damaligen Zeit wesensfremde Neuordnung der Gesellschaft. Und diese Vorgabe diktierte dann auch das weitere Vorgehen der Sklavenarmee. Die Aufständischen marschierten nach Norden, in Richtung Alpen, um von dort in die jeweiligen Heimat­ regionen zurückzukehren. Ihre Kampfkraft war indes ungebrochen, und die römischen Feldherrn hatten immer noch kein wirkungsvolles Mittel gefunden, um die bestens organisierten Sklaven militärisch zu besiegen. In Oberitalien feierten die SpartacusLeute weitere kriegerische Erfolge, sogar gegen ein römisches Heer, das von beiden Konsuln kommandiert wurde. Dann aber, kurz vor dem Ziel, gab es eine Kehrtwende. Eine von Krixos angeführte Gruppe gab die Devise aus: ­Abrechnung statt Heimat. Nun, da man gezeigt hatte, dass man unbesiegbar war, wollte man es den ungeliebten Herren noch einmal – und zwar endgültig – zeigen. Mit etwa 15.000 Mann setzte sich Krixos ab, um seinen Plan in die Wirklichkeit umzusetzen, und zog nach Italien zurück. Das sollte ihm zum Verhängnis werden, denn er wurde von einem römischen Heer besiegt. Auch Spartacus blieb in Italien – aus welchen Gründen, darüber sind nur Spekulationen möglich. Authentische Zeugnisse von Seiten der Sklaven liegen nicht vor, alles, was über den Spartacus-Aufstand bekannt ist, stammt aus der Feder griechischer und römischer Autoren. Vermutlich musste er dem Wunsch von Mitstreitern nachgeben, die ihm treu geblieben waren und weitere Groß­ taten erwarteten. Die Römer bliesen nun aber zum Generalangriff. Mit allen Vollmachten ausgestattet, nahm Marcus Licinius Crassus, einer der einflussreichsten Politiker in Rom (später Mitglied des Ersten Triumvirats neben Caesar und Pompeius), den Kampf gegen Spartacus und seine Armee auf. Noch einmal gewann Spartacus eine Schlacht, in der Nähe von Picenum. Doch dann drängte Crassus mit seinen Legionen die Sklaven immer weiter nach Süden und verhinderte mit einer Linie von Befestigungen, die von Küste zu Küste reichte, ein Entkommen der Sklaven nach Norden. Was mit einer Katastrophe für die Römer begonnen hatte, endete mit einer Katastrophe für Spartacus und die Sklaven. Der Versuch, über das Meer zu entkommen, scheiterte, weil kilikische Piraten ihre Zusage, Schiffe zur Verfügung zu stellen, nicht einhielten. 71 v. Chr. – der Aufstand dauerte nun bereits zwei Jahre – gelang es der Armee des Spartacus, die Linie der Römer zu durchbrechen. Doch weiter als bis nach Lukanien, der Landschaft im Süden Italiens, kam man nicht. In einer entscheidenden Schlacht wurde die Armee des Spartacus von den Legionen des Crassus vollständig aufgerieben. Spartacus selbst 80

fand in der Schlacht den Tod: Anders als in einem berühmten Hollywood-Film gehörte er nicht zu jenen 6.000 überlebenden Sklaven, die Crassus an der Via Appia, der großen römischen Überlandstraße, auf dem Weg nach Capua ans Kreuz schlagen ließ – zur Mahnung und zur Abschreckung, damit kein Sklave mehr auf die Idee kommen sollte, sich mit den römischen Herren anzulegen. Getötet im Krieg, die Überlebenden hingerichtet nach dem Krieg – der Spartacus-Aufstand, der eigentlich, nach dem Willen des Initiators, gar kein Aufstand war, sondern eine organisierte Maßnahme zur individuellen Freiheitsgewinnung von Sklaven, war nach einigen anfänglichen Erfolgen eklatant gescheitert. Den Sklaven in Italien, vor allem jenen, die in der Landwirtschaft tätig waren, ging es danach auch nicht besser als vorher, im Gegenteil: Die Politiker und die Besitzer achteten darauf, dass sich diese Vorgänge nicht wiederholten. Für Rom wandelte sich die Katastrophe in einen Triumph, auch wenn die vorhergehenden Nieder­ lagen gegen das Spartacus-Heer nicht vergessen wurden.

Carrhae (53 v. Chr.) Für Crassus, der Spartacus den entscheidenden militärischen Schlag versetzt hatte, waren die geschilderten Ereignisse das Sprungbrett in das Rampenlicht der großen Politik, zumal er nicht müde wurde, mit Verweis auf seine Rolle beim Spartacus-Aufstand permanent Werbung in eigener Sache zu betreiben. Ein Jahr nach dem Sieg über Spartacus bekleidete Crassus zusammen mit dem bereits renommierten Feldherrn Pompeius das Konsulat. In der Folgezeit avancierte er zu einem der reichsten Männer in Rom, nicht zuletzt wegen unkonventioneller, gleichwohl höchst lukrativer Immobiliengeschäfte. Er kaufte billig Grundstücke, auf denen die Häuser abgebrannt waren, und betrieb auf diesen eine Luxussanierung. Viele fanden auch, dass seine private Feuerwehr verdächtig schnell am Unglücksort war, wenn es irgendwo in Rom brannte. Die Zeit des Crassus war für Rom eine politisch turbulente Zeit. In der „späten Republik“, wie man sie gemeinhin nennt, nahm der einst für den Staat gesunde Konkurrenzkampf der Adligen deswegen dramatische Züge an, weil sich die Energien der Einzelnen nicht mehr auf diesen Staat, sondern auf die persönlichen Vorteile richteten. Zu den herausragenden Figuren im Poker um die Macht wurden Iulius Caesar und Pompeius. Sie verbanden sich 60 v. Chr. zum sogenannten Ersten Triumvirat, mit dem Ziel, ihre jeweiligen Einzelinteressen so lange gemeinsam zu verfolgen, wie man den anderen noch brauchte. Crassus wurde als dritter Mann ins Bündnis aufgenommen, weil er so reich war und 81

weil die beiden anderen, insbesondere Caesar, Geld bei der Gestaltung der weiteren Karriere gut gebrauchen konnten. Die Katastrophe des Spartacus-Bezwingers Crassus begann damit, dass er sich einredete, er müsse es seinen beiden Kollegen auch in Sachen militärische Qualitäten gleichtun. Pompeius galt ohnehin als der größte Feldherr, den Rom aufzuweisen hatte, vor allem, nachdem es ihm in der Mitte der 60er Jahre v. Chr. gelungen war, die Seeräuberplage im östlichen Mittelmeer zu beseitigen. Caesar hatte in Spanien einige Meriten gewonnen und machte sich nun, ab dem Jahr 58 v. Chr., daran, Gallien zu unterwerfen. So sah sich Crassus, der Dritte im Bunde, im Zugzwang. Er ließ sich ein, wie er meinte, einträgliches und ruhmbringendes Kommando übertragen – den Krieg gegen die Parther. Sie waren, in der Tradition der persischen Achämeniden, die großen Gegner Roms im Osten, beherrschten große Teile Asiens und machten keinen Hehl aus weiteren hegemonialen Ambitionen, die auch den Osten des Römischen Reiches betrafen. So war der Euphrat als Grenze zwischen Rom und dem Partherreich immer besonders umkämpft. Crassus träumte von einem künftigen Einzug in die Ruhmeshalle römischer Feldherrn und marschierte 53 v. Chr., als Caesar Gallien schon ziemlich im Griff hatte, mit einer riesigen Armee in Richtung Euphrat. Die Schlacht zwischen Römern und Parthern fand an einem berühmten historischen Ort statt. In den römischen Quellen heißt er Carrhae, in den griechischen Quellen Karrhai, original jedoch Harran. Hier, im nördlichen Mesopotamien, hatte gemäß der biblischen Überlieferung Abraham einst vom Herrn die Aufforderung erhalten, in das Gelobte Land zu ziehen. Crassus erlebte bei Carrhae sein antikes Waterloo. Der unerfahrene Feldherr verstand es nicht, der schwerfälligen Phalanx seiner Legionen gegenüber den gefährlichen berittenen Bogenschützen der Parther und deren Spezialität, der vorgetäuschten Flucht, einen Vorteil zu verschaffen. Er musste erkennen, dass der Kampf gegen eine organisierte Sklaventruppe wie die des Spartacus etwas völlig anderes war als ein Krieg gegen die berühmte Reiterarmee des parthischen Großkönigs. Crassus selbst kam bei Carrhae ums Leben, wie 20.000 seiner Soldaten auch, seine Legionen mussten kapitulieren, 10.000 Soldaten gerieten in parthische Kriegsgefangenschaft, anderen glückte die Flucht in benachbarte Staaten. Das war zunächst einmal die ganz persönliche Katastrophe des Crassus, denn der Krieg gegen die Parther war sein Krieg gewesen – nicht irgendwie sachlich ­motiviert, sondern ganz allein aus Prestigegründen. Das war bei Caesars Krieg in Gallien nicht anders, aber Caesar war siegreich, also hatte er alles richtig gemacht. Crassus hatte verloren, also hatte er alles falsch gemacht. Auch wenn 82

sich „Carrhae“ ein wenig nach „Cannae“ anhörte und mancher römische Zeitgenosse an das Desaster gegen Hannibal 216 v. Chr. im Zweiten Punischen Krieg gedacht haben mag – wirkliche Vergleiche wollte niemand ziehen. Tatsächlich waren die Römer damals von Hannibal im eigenen Land angegriffen worden. Carrhae aber war das schmachvolle Ergebnis eines einzelnen, übereifrigen Politikers, der sich so gern auch militärische Meriten anheften wollte. So lautete denn auch die offizielle Devise: Carrhae war nicht Zeichen für eine Schwäche Roms, sondern das Ergebnis davon, dass man einem unfähigen Feldherrn das Kommando überlassen hatte. Ein Punkt jedoch machte Carrhae für alle Senatoren, ja für alle Römer zu einer Schmach: Es war den Parthern gelungen, den Römern die Feldzeichen der Legionen abzunehmen. Sie waren gewissermaßen das Allerheiligste, Ausdruck der Identität und der Stärke, Mittel zur Stärkung der soldatischen Moral. Dass sie verloren gegangen waren, dazu noch an den Erzfeind im Osten, das empfanden viele Römer als Katastrophe, das war fast noch schlimmer als der Ausgang der Schlacht selbst. 33 Jahre später, also 20 v. Chr., gelangten die Feldzeichen von Carrhae wieder in römischen Besitz, als Ergebnis von Verhandlungen, die Kaiser Augustus mit den Parthern geführt hatte. Das war ein großer Prestigeerfolg für den Kaiser, den er auch entsprechend propagierte. Damit war für die Römer das katastrophale Kapitel „Carrhae“ zu den Akten gelegt, zumal eine befürchtete Gegenoffensive der Parther nach Carrhae nicht stattgefunden hatte. Zum Glück für die Römer waren die Parther zu sehr in innere Thronstreitigkeiten verwickelt gewesen, als dass sie an eine solche Unternehmung hätten denken können.

Alesia (52 v. Chr.) In Deutschland wurde der Cherusker Arminius, den man in Luthers Zeiten mit dem kernigen Phantasienamen „Hermann“ versehen hatte, im 19. Jahrhundert zu einem Nationalhelden, weil er 9 n. Chr. in der Schlacht im Teutoburger Wald die Römer besiegt hatte. In Frankreich wurde der Arverner Vercingetorix, der seinen Namen nicht ändern musste, im 19. Jahrhundert zu einem Nationalhelden, obwohl er 52 v. Chr. in der Schlacht von Alesia gegen die Römer verloren hatte. Alesia ist bis heute im kollektiven historischen Gedächtnis der Franzosen ein fester Begriff und zudem der Prototyp eines, wie man das in der Wissenschaft seit einiger Zeit gerne formuliert, „Erinnerungsortes“. Alesia ist aber auch ein höchst instruktiver Fall für die historische Katastrophenforschung. 83

Dass Alesia für die damaligen Gallier eine Katastrophe gewesen ist, kann angesichts des Umstandes, dass sie dadurch ihre Freiheit einbüßten und Teil des Imperium Romanum wurden, nicht bezweifelt werden. Und doch war die Katastrophe geeignet, Alesia bei den späteren Franzosen zu einem positiv konnotierten Mythos werden zu lassen – wie auch Vercingetorix, der in der Schlacht von Alesia die gallischen Kontingente kommandierte. Die merkwürdige kriegerische Katastrophe von Alesia gehört in den Kontext des „Gallischen Krieges“, den zwischen 58 und 51 v. Chr. der Römer Iulius Caesar führte. Es war ein Krieg gegen die Kelten im heutigen Frankreich, der ganz wesentlich von dem Wunsch Caesars diktiert gewesen war, sich durch außenpolitische Erfolge eine innenpolitisch verwertbare Machtstellung zu verschaffen. Eine Niederlage in Gallien wäre für ihn eine Katastrophe gewesen. So also mobilisierte er alle Kräfte, und trotz heftiger Gegenwehr der einzelnen keltischen Stämme gelang es ihm in den Jahren nach 58 v. Chr., große Teile des heutigen Frankreich unter seine Kontrolle zu bekommen. Doch immer noch gab es Widerstand, und 52 v. Chr. stand in Alesia die große Entscheidungsschlacht an. Vercingetorix war es angesichts der Gefahr, die von Caesar ausging, gelungen, eine Allianz der ansonsten rivalisierenden keltischen Stämme zu schmieden. Man übertrug ihm den Oberbefehl, und so wurde der Anführer der ­Arverner zum großen Gegenspieler Caesars. In Gergovia, der Hauptstadt der Arverner, bereiteten die vereinigten gallischen Armeen Caesar eine empfind­ liche militärische Schlappe. Danach allerdings ging eine weitere Schlacht ver­ loren, und Vercingetorix zog sich mit etwa 80.000 Mann in die Festung von Alesia zurück, die sich auf dem Hochplateau des Mont Auxois im heutigen Burgund befand. Caesar lieferte in Alesia sein militärisches Meisterstück ab, das er in seinen Commentarii de bello Gallico auch gebührend (manche sagen: über Gebühr) gewürdigt hat. Um Alesia herum wurde ein Belagerungsring gezogen, mit dem Ziel, die Belagerten entweder auszuhungern oder zur Aufgabe zu zwingen. Ein gallisches Entsatzheer zog seinerseits einen Belagerungsring um die Römer, die damit sowohl zu Belagerern als auch zu Belagerten wurden. Letztlich aber gelang es Caesar, diese Gefahr zu bannen. Erst wurde das Entsatzheer besiegt, und dann gaben Vercingetorix und seine Leute auf. Caesar hat diese dramatischen Ereignisse vordergründig nüchtern beschrieben, dabei aber doch mit großer Suggestivkraft seine Genialität gepriesen. Auch andere Autoren zeigten sich beeindruckt, allen voran der griechische Caesar-Biograph Plutarch (Caes. 27): 84

„So ist der Kampf um Alesia aus vielen Gründen berühmt geworden, und das mit Recht. Denn was in diesem Kampf an Wagemut und erfindungsreicher List geleistet wurde, sucht seinesgleichen. Es bleibt aber wohl das größte Wunder, dass Caesar mit den zahlreichen Scharen der äußeren Angreifer sich schlagen und den Sieg erringen konnte, ohne dass die Verteidiger der Stadt das Geringste ahnten, ja – und dies ist noch erstaunlicher – dass nicht einmal die Römer auf dem stadtwärts gerichteten Verteidigungsring etwas merkten. Diese erfuhren erst dann von dem Sieg, als sie von Alesia her das Heulen der Männer und das Wehklagen der Frauen hörten, die gesehen hatten, wie die Römer auf der anderen Seite massenhaft silber- und goldbeschlagene Schilde, blutbesudelte Panzerrüstungen, Trinkgeschirre und gallische Zelte in ihr Lager schleppten … Schließlich ergaben sich auch die Verteidiger von Alesia, nachdem sie selber schwere Not gelitten und auch Caesar in harte Bedrängnis gebracht hatten.“

Vercingetorix zeigte in der Stunde der Niederlage Würde und Haltung. In prachtvoller Rüstung und hoch zu Ross erschien er vor Caesars Tribunal, sprang vom Pferd, legte seine Waffen ab, setzte sich zu Füßen des Römers nieder und wartete ab, was passieren würde. Es war ihm kein günstiges Schicksal beschieden: Er wurde nach Rom gebracht, wo ihn Caesar in seinem Triumphzug mitführen wollte. Doch weil Caesar nach der Unterwerfung Galliens noch jahrelang in Bürgerkriege involviert war, musste der Held der Gallier sechs Jahre in einem Kerker in Rom ausharren, bevor er nach seiner Vorführung im Triumph hingerichtet wurde. Mit der Schlacht von Alesia war das Schicksal der Gallier besiegelt. Sie waren nun Untertanen der Römer, mussten Steuern zahlen und eine militärische Besatzung hinnehmen. Eine Katastrophe? Die Schlacht an sich war, angesichts der hohen Zahl der Todesopfer, natürlich ein Desaster. Doch rasch arrangierten sich die gallischen Oberschichten mit den neuen Gegebenheiten. Gallien wurde innerhalb des Imperiums zu einer romanisierten Vorzeigeprovinz. Davon zeugen noch heute allerorten die Reste einst prächtiger Bauten aus der Römerzeit. Aber, wie man weiß, ist „Geschichte“ keine statische Angelegenheit. Jede Zeit formt sich ihre eigenen Bilder des Geschehenen. In Frankreich begann man im 19. Jahrhundert, den Gallischen Krieg zu heroisieren und zu idealisieren. Der ­Nationalismus brauchte historische Helden, und großzügig blendete man den Umstand aus, dass zwar nicht Vercingetorix, aber viele seiner Epigonen zu römischen Kollaborateuren wurden. Gefragt aber waren Freiheitshelden und Widerstandskämpfer, und da bot sich der Arverner als glänzendes Vorbild an. Gerade Napoleon III. war in dieser Hinsicht eifrig tätig. 1866 entstand auf dem Mont Auxois die heute noch zu besichtigende monumentale Statue des Vercingetorix, die in den Gesichtszügen nicht zufällig eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Kaiser aufweist. Im Zweiten Weltkrieg wurde Vercingetorix zur 85

g­ eschichtlichen Galionsfigur der Résistance. So wandelte sich die Katastrophe im Gallischen Krieg für die Nachfahren der Gallier doch noch zu einem positiven Ereignis, vielseitig verwendbar als politisches Argument. Denn wie schrieb Napoleon III., der im Nebenberuf auch Historiker war, in seiner Histoire de ­Jules César? Eigentlich, so der Kaiser, habe Frankreich damals bei Alesia schon mitgesiegt, denn die Römer brachten die Kultur, die auch zur Kultur Frankreichs wurde: „Deshalb sind wir mehr die Abkömmlinge der Sieger als die der Besiegten.“ Die Katastrophe wurde im Nachhinein zu einem Triumph.

Teutoburger Wald (9 n. Chr.) 9 n. Chr.: Die Römer verlieren die Schlacht im Teutoburger Wald. Die sorglosen Legionen des Legaten Quinctilius Varus werden von den Germanen in einen Hinterhalt gelockt und fast vollständig aufgerieben. Held der Germanen ist der Cherusker Arminius, von dem die Planungen stammen. Varus weiß, was der Kaiser von ihm verlangt, übernimmt die Verantwortung und tötet sich selbst. Die berühmte „Schlacht im Teutoburger Wald“, die man in ihren Grund­ zügen in diesen dürren Worten skizzieren könnte – eine Katastrophe? Natürlich nicht für die Germanen. Immerhin blieb ihnen das Schicksal der Nachbarn westlich des Rheins, der Gallier, erspart, die trotz des energischen Einsatzes des Arvernerkönigs Vercingetorix letztlich keine Chance gegen die Legionen Iulius Caesars hatten. Der größte Teil Germaniens blieb frei – als Germania ­libera, das „freie Germanien“, wie die Römer das Gebiet zwischen Rhein und Elbe nannten. So, wie der französische Nationalstolz Vercingetorix als Widerstandskämpfer und Freiheitsheld feierte, so kürten die Deutschen – ebenfalls im 19. Jahrhundert – Arminius bzw. Hermann zu ihrem Idol. Auch er leistete Widerstand, aber im Gegensatz zu dem Helden der Franzosen hatte er Erfolg. Die Franzosen konterten Anfälle deutscher Selbstgefälligkeit, indem sie darauf verwiesen, dass ihren Vorfahren die Zugehörigkeit zum Imperium Romanum gar nicht schlecht bekommen sei. Man habe Kultur, man habe Zivilisation gelernt, während die freien Germanen im Zustande barbarischer Urwüchsigkeit verharrt hätten. Das konnten die Spätgermanen wiederum nicht auf sich sitzen lassen. Die Franzosen hätten, so argumentierten sie, von den Römern gelernt, was Dekadenz und Luxus sei. Die Germanen hingegen seien dank Hermanns Großtaten authentisch und unverbraucht geblieben. Die antiken Germanen teilten die spätere Wertschätzung für Arminius allerdings nicht einmütig. Sein Ende war jedenfalls weniger rühmlich, als man es bei einem germanischen 86

Freiheitshelden erwarten könnte: Zwölf Jahre nach der Schlacht im Teutoburger Wald wurde er von Verwandten ermordet. Und im Übrigen kann man getrost davon ausgehen, dass Arminius alles im Sinn hatte, nur nicht den Freiheitskampf neuzeitlicher Prägung. Seine Motive sind zwar nicht genau zu rekonstruieren, jedoch hat es den Anschein, als habe er mit dem Überfall auf die Legionen des Varus seine Stellung bei den Germanen verbessern wollen. Für die Römer war die Schlacht im Teutoburger Wald jedoch ganz unbestreitbar eine Katastrophe, vergleichbar mit der desaströsen Niederlage gegen die Karthager bei Cannae, damals, im Zweiten Punischen Krieg. Man schaue sich nur die blanken Zahlen an: drei Elite-Legionen besiegt, über 20.000 gefallene Soldaten, unzählige Verwundete, viele Gefangene. Für den römischen Kaiser Augustus war der Ausgang der Schlacht im Teutoburger Wald ganz ohne Einschränkung eine Katastrophe. Denn die Eroberung Germaniens bis zur Elbe war sein ganz persönliches Projekt gewesen – nicht etwa, weil er die Germanen so gerne in seinem Reich haben wollte oder weil er germanische Übergriffe auf das Römische Reich befürchtet hätte. Es ging vorrangig darum, der römischen Öffentlichkeit und allen voran den Senatoren und den Militärs zu beweisen, dass er seine herausgehobene politische Position auch wirklich verdiente. Denn Prestige erwarb man sich auch im kaiserzeitlichen Rom vor allem dadurch, dass man kriegerische Erfolge vorweisen konnte. Germanien erschien Augustus als das geeignete Exerzierfeld. Und tatsächlich sah es, vor der Schlacht am Teutoburger Wald, ganz so aus, als könne er sein ehrgeiziges Ziel, die Grenze des Römischen Reiches bis zur Elbe auszudehnen, auch erreichen. Weil Augustus der Ansicht war, die Germania libera bereits so weit „befriedet“ zu haben (das war die römische Terminologie: Man unterwarf nicht fremde Völker, sondern man brachte ihnen den Frieden – dies jedoch immer erst nach einem vorherigen Krieg), dass man bereits darangehen konnte, zivile administrative Strukturen zu entwickeln, beauftragte er Quinctilius Varus mit der Koordination der Aktionen in Germanien. Dieser Varus war alles andere als ein Militärexperte. Vielmehr war er ein Fachmann für Rechtswesen und Verwaltung. Das hört sich allerdings im Fall des Varus seriöser an, als es in der Realität gewesen ist. So hatte sich Varus vor seiner Tätigkeit in Germanien in Syrien außerordentlich unbeliebt gemacht. Der römische Autor Velleius Paterculus bilanzierte in genialer Kompaktheit (2,117,2): „Varus kam als armer Mann in das reiche Syrien und verließ als reicher Mann das arme Syrien.“ Auch als Feldherr war er gänzlich ungeeignet, und sicher hatte er seinen Anteil an der Katastrophe im Teutoburger Wald. Nach der bewährten Methode, dem jeweiligen Befehlshaber die Verantwortung für militärische Niederlagen 87

zuzuschieben, ließ Augustus seinen (angeblich) spontanen Ausspruch in die ­Öffentlichkeit kolportieren: „Varus, gib mir meine Legionen wieder.“ Indem man offiziell von dem bellum Varianum, dem „Krieg des Varus“ sprach (statt etwa, wie sonst üblich, vom bellum Germanicum) war die Schuldfrage auch von dieser Seite geklärt und der eigentlich verantwortliche Kaiser aus der Schusslinie. Vergessen wurde die Katastrophe im Teutoburger Wald von den Römern nicht. Dies auch schon deswegen, weil sechs Jahre später Germanicus, der Neffe des nunmehrigen Kaisers Tiberius, den Ort der Schlacht fand und sich dort von dem Ausmaß des römischen Desasters überzeugen konnte. Er erschien mit seinem Heer an jener Stätte, an der die Spuren der Schlacht noch deutlich sichtbar waren – zumal die römischen Soldaten damals nicht bestattet worden waren. Beschrieben hat diese Situation der römische Historiker Tacitus (ann. 1,16,2 f.): „So ergriff denn den Caesar [= Germanicus] das Verlangen, den Kriegern und ihrem Anführer die letzten Ehren zu erweisen, da auch das ganze anwesende Heer in Jammerstimmung war wegen der Verwandten, der Freunde, überhaupt wegen der Wechselfälle der Kriege und des Schicksals der Menschen. Vorausgeschickt wurde Caecina, um das unübersichtliche Waldgebiet zu erkunden und Brücke und Dämme über die feuchten Sümpfe und trügerischen Moore anzulegen. Dann betraten sie die Stätten der Trauer, die durch Anblick und Erinnerung Grauen erregten. Im ersten Lager des Varus wurde durch seinen weiten Umfang und die Absteckung des Feldherrnplatzes die Arbeit von drei Legionen sichtbar. Daraufhin erkannte man an dem halbverfallenen Wall und dem flachen Graben, dass dort schon Reste gelagert hatten, die dezimiert worden waren. Mitten auf dem Feld bleichende Knochen, zerstreut oder in Haufen, je nachdem, ob die Soldaten die Flucht ergriffen oder Widerstand geleistet hatten. Daneben lagen zerbrochene Waffen und Pferdegerippe, zugleich sah man an den Baumstümpfen vorn angenagelte Menschenschädel. In den benachbarten Hainen standen die Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribunen und die Centurionen ersten Ranges geschlachtet hatten. Und Überlebende dieser Niederlage, der Schlacht oder der Gefangenschaft entronnen, erzählen, hier seien die Legaten gefallen, dort die Legionsadler geraubt worden. Sie zeigten, wo Varus die erste Wunde beigebracht wurde, wo er durch seine unselige rechte Hand mit eigenem Stoß den Tod gefunden habe. Sie zeigten, auf welcher Anhöhe Arminius zum Heer gesprochen, wie viele Galgen für die Gefangenen, was für Martergruben es gegeben habe und wie er mit Feldzeichen und Legionsadlern voller Übermut seinen Spott getrieben habe.“

Quellenkritisch ist anzumerken, dass Tacitus eine bewusst dramatische Szenerie entwirft, um die germanischen „Barbaren“ in einem besonders schlechten Licht erscheinen zu lassen. In der Substanz ist die Schilderung jedoch zuverlässig, und sie beweist, dass die „Varus-Schlacht“ nicht nur ein paar Jahre 88

s­ päter, als Germanicus den Schlachtort aufsuchte, sondern auch noch gut ein Jahrhundert später, als Tacitus sein Geschichtswerk verfasste, ein wichtiges Thema gewesen ist. Anlässlich der 2.000-jährigen Wiederkehr der „Schlacht im Teutoburger Wald“ (die tatsächlich, wie die archäologischen Forschungen wahrscheinlich gemacht, wenn auch nicht definitiv bewiesen haben, bei Kalkriese in der Nähe von Osnabrück stattgefunden haben dürfte) wurde 2009 in Fachkreisen, aber auch in den Medien viel über die Bedeutung dieses Ereignisses diskutiert. Handelte es sich dabei wirklich um einen Vorgang von „welthistorischem Rang“? Oder wurde die Schlacht in ihrer Wirkung maßlos überschätzt? Immerhin gab es auch nach 9 n. Chr. noch eine römische Germanienpolitik, auch wenn sich die römischen Kaiser im Wesentlichen an die Leitlinie coercendi intra terminos imperii des Kaisers Augustus hielten, also Außenpolitik künftig nur innerhalb der Grenzen des Römischen Reiches zu betreiben. Doch waren die Gebiete östlich des Rheins in der Kaiserzeit keine Tabuzone, wurde doch gegen Ende des 1. Jahrhunderts der römische Limes errichtet, der Teile Germaniens bis zu seinem Fall 260 n. Chr. inkorporierte. Jedoch hat es kein Kaiser – nicht einmal im 2. Jahrhundert der expansionsfreudige Traian – gewagt, ein Ziel wie die Ausdehnung des Imperiums bis zur Elbe vorzugeben. Hier scheint die Katastrophe von 9 n. Chr. doch in sehr starkem Maße nachgewirkt zu haben.

Die Katastrophe des Valerian (260 n. Chr.) Der Name des römischen Kaisers Valerian, der von 253 bis 260 n. Chr. an der Spitze des Römischen Reiches stand, steht für eine zunächst einmal ganz persönliche Katastrophe, die aber auch eine Katastrophe für das römische Herrschaftssystem insgesamt gewesen ist, weil Valerian eben der oberste Repräsentant des Imperiums war: Als erster und einziger römischer Kaiser geriet er in Gefangenschaft. Valerian war in einer für Rom unruhigen Zeit an die Macht gekommen. Die glorreichen Zeiten, in denen überall, wo Roms Fahnen wehten, Sicherheit und Frieden, die viel beschworene pax Romana, herrschte, waren einstweilen vorbei. Das 3. Jahrhundert n. Chr. war die erste große Krisenzeit des Imperiums. Im Innern gab es wirtschaftliche und soziale Probleme, die dazu führten, dass auch die außenpolitischen Verhältnisse für Rom schwieriger wurden. An Rhein und Donau machten den Römern germanische Völker zu schaffen, im Osten waren es die persischen Sassaniden, die aus der Schwäche des Imperiums 89

­ apital zu schlagen versuchten. Und dies nicht ohne Erfolg: Der Euphrat wurK de zu einer Achillesferse im nun ohnehin labilen Grenzverteidigungssystem der Römer. Die Kaiser hatten alle Hände voll zu tun, mussten sich darüber hinaus auch immer wieder der Usurpatoren und Prätendenten im eigenen Lager erwehren. Nach seinem Herrschaftsantritt 253 n. Chr. richtete Kaiser Valerian sein Augenmerk sofort auf den Osten und auf die Sassaniden. Sein großer Gegenspieler war Sapor I., seines Zeichens seit 240 n. Chr. persischer Großkönig. In der Tradition der alten persischen Könige setzte er ganz auf die Offensive. Bereits einige der Vorgänger Valerians hatten seinen Tatendrang zu spüren bekommen. Nun überquerte er mit seinen Armeen mehrmals den Euphrat und nahm Gebiete in Syrien in Besitz. Daraufhin startete Valerian eine große Gegenoffen­ sive. In ihrer Zuverlässigkeit nicht über jeden Zweifel erhabene Quellen beziffern die numerische Größe seines Heeres mit 70.000 Mann. Bei Edessa, dem heutigen Sanliurfa ganz im Osten der heutigen Türkei, trafen die beiden Herrscher und die beiden Armeen aufeinander. Die Perser siegten, und der Sassanide Sapor triumphierte. Denn ihm war etwas gelungen, was noch niemand erreicht hatte: einen leibhaftigen römischen Kaiser in die Hände zu bekommen. Zu den Eigenschaften der Perserkönige gehörte es nicht nur, große Taten zu vollbringen, sondern diese Taten auch in gebührender Weise der übrigen Welt mitzuteilen. Das Ergebnis dieses kommunikativen Dranges waren die Res Gestae Divi Saporis, wie der ins Lateinische übertragene Titel in der Wissenschaft lautet, „Die Taten des göttlichen Sapor“. Gestaltet war der Text als eine dreisprachige Inschrift, eingraviert in die Felswand Naqsh-i Rustam in der iranischen Provinz Fars, dort, wo bereits die Könige der Achämeniden Felsgräber errichten ließen. Über Valerian und seine Gefangennahme ist dort zu lesen: „Im dritten Feldzug, als wir nach Karrhai und Edessa vorstießen und Karrhai und Edessa belagerten, marschierte Kaiser Valerian gegen uns, mit einer Heeresmacht von 70.000 Mann. Und auf der jenseitigen Seite von Karrhai und Edessa hat mit Kaiser Valerian eine große Schlacht gegen uns stattgefunden, und wir nahmen Kaiser Valerian mit eigenen Händen gefangen und die Übrigen, den Praefekten der Praetorianer und Senatoren und Offiziere, alle, die auch immer Führer jener Heeresmacht waren, alle diese ergriffen wir mit den Händen und deportierten sie in die Landschaft Persis.“

Zur Illustration dieses Ruhmesberichts in eigener Sache ließ der stolze Sapor auch noch ein Felsrelief anbringen, auf dem er zu Pferde abgebildet ist, und neben ihm steht der unglückliche Kaiser Valerian. Noch drei weitere Plätze in seinem Reich machte Sapor zu solchen Erinnerungsorten. 90

Über Valerians weiteres Schicksal liegen keine gesicherten Berichte vor. Wahrscheinlich ist der Kaiser in der persischen Gefangenschaft gestorben. Nach Rom zurückgekehrt ist er jedenfalls nicht, und es ist auch nicht bekannt, dass die Römer irgendwelche Anstrengungen unternommen hätten, den Kaiser aus seiner misslichen Lage zu befreien. Das lag wohl auch an seinem Sohn, Mitkaiser und Nachfolger Gallienus, der zu seinem Vater nicht im allerbesten Verhältnis stand und nun die Macht allein innehatte. Die Gefangennahme des Kaisers war ein Novum in der römischen Geschichte. Immer wieder waren Herrscher an der Spitze ihrer Legionen ins Gefecht gezogen, ohne jemals den Gegnern in die Hände gefallen zu sein. Nicht einmal dem Kriegskaiser Traian (98–117 n. Chr.), der in so viele Schlachten ritt wie kaum ein anderer, war diese Katastrophe passiert. Nur Augustus, der erste römische Kaiser, hatte eine Aversion gegen das Kriegführen in der ersten Reihe. Er zog es vor, seinen befähigten Feldherrn das operative Geschäft zu überlassen und, am besten noch psychosomatisch krank, im Feldherrnzelt auf die Siegesnachricht zu warten. Für Valerian waren die Vorgänge von Edessa 260 n. Chr. ganz sicher eine Katastrophe, auch für das römische Prestige in der Region, denn das Faktum der Gefangennahme an sich, aber auch die propagandistische Verwertung durch Sapor I. waren für die Römer eine Demütigung. Politisch und militärisch hielten sich die Folgen dieses an sich unerhörten Ereignisses jedoch in Grenzen. Die Sassaniden vermochten den Sieg von Edessa und das Schicksal Valerians nicht dahingehend auszunutzen, ihre Position an der umkämpften Euphratgrenze entscheidend zu verbessern. Das lag auch daran, dass die Römer in den Herrschern der reichen Oasenstadt Palmyra wichtige Helfer fanden, die als mit Rom verbündete Klientelkönige die Aufgabe übernahmen, die Sassaniden in Schach zu halten. Später allerdings entwickelte die palmyrenische Königin Zenobia eigene politische Ambitionen und gründete ein unabhängiges Sonderreich, in dem sie sich als römische Kaiserin stilisierte. Palmyra war für Rom die Rettung und verhinderte, dass die spektakuläre Gefangennahme Valerians zu einem politischen Desaster wurde. Wie die Masse der Reichsbevölkerung über dieses Ereignis dachte, ist mangels entsprechender Quellenberichte schwer zu rekonstruieren. Glücklich über die persönliche Katastrophe Valerians waren auf jeden Fall die Christen. Das hört sich unchristlich an, hatte aber seine speziellen Gründe. Denn Valerian ist auch der erste römische Kaiser gewesen, der reichsweite, systematische Christenverfolgungen durchführen ließ. Gemeinhin steht in dieser Hinsicht eher Nero im Generalverdacht. Jedoch ist das, was dieser exzentrische Herrscher 64 n. Chr. in Rom inszeniert hat, nicht als planmäßige Christenverfolgung zu bezeichnen. Die Anhän91

Unter dem römischen Kaiser Decius (249 bis 251 n. Chr.) gerieten die Christen reichsweit ins Visier des Herrschers

ger Jesu in der Stadt waren damals nur deswegen in das kaiserliche Visier geraten, weil Nero einen Sündenbock für den Brand von Rom brauchte, den er nicht selbst gelegt hatte, von dem aber viele meinten, er habe dies getan. Das war eine punktuelle Aktion gewesen, doch Valerian meinte es ernst. Per Gesetz wurden die Christen verfolgt, getötet, ihr Vermögen konfisziert. Prominente christliche Würdenträger fielen der Verfolgung zum Opfer. Ursache war nicht etwa eine prinzipiell antichristliche Haltung des Kaisers Valerian. Aber er hatte von einem seiner Vorgänger gelernt. Kaiser Decius hatte nur kurz regiert (von 249 bis 251 n. Chr.), und doch wird er in den historischen Darstellungen oft als derjenige geführt, der erstmals in großem Stil den Christen im Imperium Romanum nachgestellt habe. Doch hatte er nur einen Erlass herausgegeben, der das Opfer für den Kaiser zur Pflicht gemacht hatte – eine subtile Methode, um die angesichts der Krisen der Zeit verunsicherte Bevölkerung hinter den Kaiser zu scharen. Die Christen durften dieses Opfer gemäß den Vorschriften ihrer Religion nicht leisten und sahen sich daher als angebliche Staatsfeinde schweren kaiserlichen Sanktionen ausgesetzt. Valerian knüpfte an diese Strategie an und bereicherte sie um die alte „Methode Nero“: Um von der eigenen Verantwortung für die Missstände abzulenken, musste die Schuld auf andere abgewälzt werden. Dafür boten sich die immer zahlreicher werdenden Christen an, die so anders lebten und redeten als die „normalen“ Römer, die den traditionellen Staatsgöttern ­huldigten. Die Staatsgötter aber waren, so die krude Argumentation, deswegen verstimmt und rächten sich, indem sie ihre schützende Hand von den Römern nahmen und auf diese Weise Kriege, Krisen und Katastrophen zuließen. Das war, in der Terminologie der Römer, eine Störung der pax deorum, des „Friedens mit den Göttern“. Dass sich die Christen bestens dazu eigneten, bei Katastrophen als Blitzableiter zu fungieren, hatte bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. der einflussreiche christliche Schriftsteller Tertullian erkannt (Apologeticum 40): 92

„Wenn der Tiber über seine Ufer tritt, wenn der Nil die Felder nicht bewässert, wenn das Wetter nicht umschlagen will, wenn die Erde bebt, wenn es eine Hungersnot oder eine Seuche gibt, dann ertönt stets sogleich der Ruf: ‚Die Christen vor die Löwen!‘“

Diese Stelle ist im Übrigen auch deswegen sehr instruktiv, weil sie zeigt, welche Naturphänomene von den damaligen Zeitgenossen als Katastrophen empfunden wurden. Jedenfalls freuten sich die Christen ganz unverhohlen darüber, dass der Christenverfolger Valerian seine gerechte, natürlich von Gott bewirkte Strafe gefunden habe. Und sie malten sich, ohne zu wissen, was mit ihm bei den Persern wirklich geschehen war, die für den gefangenen Kaiser schrecklichsten Szenarien aus. Laktanz, der Autor des Werkes De mortibus persecutorum („Von den Todesarten der Verfolger“) verbreitete die imaginäre Version, man habe Valerian bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Das war christliches Wunschdenken. Alle Nachrichten, auch die späteren von orientalischer Seite, über das Schicksal des Kaisers Valerian sind Hypothesen und Spekulationen.

Adrianopolis (378 n. Chr.) Wer sich in der türkischen Millionenstadt Istanbul auf die Suche nach römischen Altertümern macht, stößt unweigerlich auf eine große, noch bestens erhaltene Wasserleitung. Der Aquädukt überspannt den belebten Atatürk-Boulevard, den täglich Tausende von Autos und Fußgängern passieren. Schlagen die Touristen in den Reiseführern nach, um weitere Informationen über dieses technische Wunderwerk zu erhalten, so wird ihnen mitgeteilt, dass es sich um eine Wasserleitung handelt, die im 4. Jahrhundert n. Chr. von dem römischen Kaiser Valens vollendet wurde, weshalb das Bauwerk auch unter dem Namen „Valens-Aquädukt“ firmiert. So hat sich dieser Kaiser Valens große Verdienste um die Wasserversorgung von Konstantinopel erworben, wie Istanbul damals hieß, nachdem Kaiser Konstantin die Stadt zu seiner Residenz gemacht hatte. Andererseits ist er aber auch ein Kaiser, der mit einer Katastrophe der besonderen Art in die Annalen der römischen Geschichte eingegangen ist. War Valerian de erste Kaiser, der während eines Feldzugs in Gefangenschaft geriet, so war Valens der erste Kaiser, der während einer militärischen Auseinandersetzung ums Leben gekommen ist. Man mag sich wundern, dass dies nicht schon früher einmal passiert ist, weil sich die römischen Kaiser (mit Ausnahme des Augustus) häufig genug direkt ins Gefecht stürzten. Sie hatten es aber alle überlebt – bis zu jenem ­verhängnisvollen Tag, als Kaiser Valens in der Schlacht gegen die Goten bei 93

Adrianopel (dem heutigen Edirne im türkisch-griechisch-bulgarischen Grenz­ gebiet) ums Leben kam. 57 Jahre alt war der aus Illyrien stammende Kaiser, als er 378 starb. An die Macht gekommen war er am 28. März 364, als Kaiser Valentinian I. – sein ­Bruder – ihn zum Herrscher des östlichen Teils des Imperiums ernannt hatte. In dieser Eigenschaft fiel ihm vor allem die Aufgabe zu, die Grenzen zu schützen. Die Westwanderung der Hunnen hatte zu erheblichen Turbulenzen geführt, indem sie nun ihrerseits diverse Völkerschaften in Bewegung brachten. Dazu gehörten auch die Goten, denen Valens dann in der für ihn finalen Schlacht bei Adrianopolis gegenüberstehen sollte. Zuvor gab es aber auch noch eine Reihe von Auseinandersetzungen mit den Sassaniden, den Dauergegnern im Orient, die 260 mit der Gefangennahme Valerians hatten triumphieren können. Die Schlacht bei Adrianopolis, einer Gründung Kaiser Hadrians, fand am 9. August 378 statt. Die Goten, die von anderen Stämmen unterstützt wurden, diktierten gegen die Legionen des Valens von Anfang an das Geschehen. Die Soldaten gerieten angesichts des Ansturms der Goten in Panik, man verließ fluchtartig das Schlachtfeld. Doch die meisten der römischen Kämpfer wurden aufgegriffen und getötet, so auch Kaiser Valens höchstpersönlich. Seine Leiche wurde nicht gefunden, was bis heute zu allerlei Spekulationen Anlass gibt. An seinem Tod an der Schlacht besteht indes kein Zweifel. Im Rückblick mag die Schlacht von Adrianopolis als eine wesentliche Station des unaufhaltsamen Abstiegs des Römischen Reiches erscheinen, der schließlich in die Auflösung des weströmischen Kaisertums 476 n. Chr. mündete. Die Zeitgenossen kannten die längerfristigen Entwicklungen noch nicht. Wie schätzten sie die Bedeutung des Ereignisses ein? Hauptzeuge ist der Historiker Ammianus Marcellinus, der das letzte große Geschichtswerk der Antike in ­lateinischer Sprache abfasste. Er ist gewissermaßen der Chronist und Deuter der Zeitläufe, die er bis zu seinem Tod (nach 395) aufmerksam verfolgte. Sein Opus begann er 96 n. Chr. mit dem Herrschaftsantritt von Kaiser Nerva – und ließ es enden mit dem Tod von Kaiser Valens in der Schlacht von Adrianopolis. Dieser Schlusspunkt war bei einem konzeptionell begabten Geschichtsschreiber wie Ammianus Marcellinus selbstverständlich kein Zufall. Er wollte damit andeuten, dass diese Schlacht eine Zäsur darstellte – jedoch nicht in dem pessimistischen Sinn, das nun alles vorbei sei. Vielmehr verband er diesen Schluss mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und tatsächlich war Adrianopolis nicht das Ende des Römischen Reiches. Vielmehr zogen die Nachfolger des unglücklichen Valens die richtigen Konsequenzen aus diesem Ereignis und aus anderen krisenhaften Erscheinungen. Vor allem Theodosius I. erwarb sich 94

g­ roße Verdienste – bei den Christen ohnehin, weil er dafür sorgte, dass ihre Religion, die ein Konstantin erlaubt hatte, nun zur einzig erlaubten Religion im Reich, mithin zur Staatsreligion, wurde. Aber auch durch militärpolitische, fiskalische und administrative Maßnahmen brachte er das schlingernde Staatsschiff wieder ­einigermaßen auf Kurs. Und selbst mit seinem Tod am 17. Januar 395 endete seine politische Wirksamkeit nicht. Per Testament verfügte er die Teilung der Herrschaft unter seinen beiden Söhnen Arcadius und Honorius. Mittelfristig war dies die Voraussetzung für die Teilung des Römischen Reiches in ein Westreich mit der Hauptstadt Ravenna und ein Ostreich mit der Hauptstadt Konstantinopel. Diese Regelung trug zumindest im Osten, wo einst V ­ alens regiert hatte, zu einer Stabilisierung der Verhältnisse bei. Eine Katastrophe war der Tod des Valens in der Schlacht von Adrianopolis dennoch, und das nicht nur für ihn persönlich, seine Familie, seine Anhänger. Denn ganz unabhängig davon, dass Valens im Reich viele Gegner hatte und viele der Meinung waren, er beherrsche sein Amt nicht, sei ein schlechter Kaiser, war der Tod eines Kaisers auf dem Schlachtfeld eben doch eine Novität, ein Schock, der sich zumindest für eine gewisse Zeit demoralisierend auswirkte.

Rom 410: Die Goten kommen 387 v. Chr., in den alten Zeiten der römischen Republik, standen die Kelten unter ihrem Anführer Brennus vor Rom, drangen in die Stadt ein und waren kurz davor, sie zu erobern und zu plündern. Die berühmten Gänse der Juno sollen, so will es die von den Römern selbst propagierte Legende, die Verteidiger aufgeweckt haben, denen es so doch noch gelungen sei, die ungebetenen Gäste zu vertreiben. 216 v. Chr., als Hannibal die Römer in der Schlacht von Cannae in Apulien vernichtend geschlagen hatte, herrschte in der Hauptstadt Rom große Furcht: Würde der Feldherr aus Karthago nun nach Rom ziehen, die Stadt einnehmen, erobern, zerstören, plündern? Die Furcht war, wie sich zeigte, unbegründet. Hannibal hatte andere Pläne und zog nach Süditalien ab, um mit einer diplomatischen Offensive Roms Partnerstädte auf seine Seite zu bringen. Das gelang ihm nicht, und so war die Gefahr endgültig vorüber. Danach war Rom, die Ewige Stadt, Mittelpunkt eines immer größer werdenden Weltreiches, für Eindringlinge von außen eine Tabuzone. In den Zeiten eines Caesar, eines Augustus, eines Traian oder eines Hadrian war es ganz ­undenkbar, dass die Hauptstadt in irgendeiner Weise gefährdet sei. Allenfalls 95

geriet sie ins Visier, wenn, wie in der Phase der späten Republik, Bürgerkrieg herrschte und die Protagonisten sich nicht davor scheuten, gegen Rom zu marschieren, um ihre Konkurrenten auszuschalten. In der großen Reichskrise des 3. Jahrhunderts n. Chr. machte sich dann allerdings auch in Rom gelegentlich Nervosität bereit, wenn fremde Völker, die die Grenzen des Reiches überschritten hatten, auch Italien ins Visier nahmen. Von dieser Furcht zeugen bis heute die Reste der einst mächtigen „Aurelianischen Mauer“, jener Stadtbefestigung, die Kaiser Aurelian (270–275) anlegen ließ, um die Metropole vor etwaigen Angriffen von Seiten germanischer Völkerschaften zu schützen. Diese jahrhundertelange relative Unbeschwertheit und Sicherheit, mit der die Bewohner der Stadt Rom leben durften, wurde abrupt beendet, als im August 410 die Goten kamen. Genauer: Es war der 24. August des Jahres 410, und die Goten waren die Westgoten (oder noch genauer: die Visigothen, wie sie sich selber nannten, was mit der Himmelsrichtung „Westen“ nichts zu tun hatte). Ihr Anführer hieß Alarich oder, wie ihn die Römer bezeichneten, „Alaricus“. Die reinen Fakten hinsichtlich dessen, was am 24. August 410 mit dem Einmarsch der Goten in Rom und ihrem Abzug am 27. August passierte, zu rekonstruieren, ist außerordentlich problematisch. Das liegt daran, dass nicht etwa zu wenige, sondern im Gegenteil zu viele Quellen vorhanden sind, die sich der Schilderung und Deutung dieser Ereignisse gewidmet haben. Auf jeden Fall kam der Angriff der Goten nicht überraschend. Vielmehr hatte König Alarich aus der Drohung, die Stadt zu plündern, im Vorfeld so etwas wie ein rhetorisches Stilmittel gemacht. Dabei wollten die Goten eigentlich gar nicht plündern. Vielmehr standen sie schon lange mit den römischen Instanzen in Verbindung, um ihre Hauptziele zu verwirklichen: die Zahlung von Geld und vor allem die Überlassung von Siedlungsgebieten auf dem Boden des Römischen Reiches. Sie hatten sogar schon militärische Dienste für die Römer geleistet und forderten dafür nun eine Belohnung. Der verantwortliche Westkaiser Honorius und seine Bürokraten zeigten keine klare Haltung, so dass Alarich vor dem August 410 bereits zweimal mit seinem Heer vor Rom erschienen war, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Als sich seine römischen Verhandlungspartner weigerten, auf alle seine Wünsche einzugehen, machte Alarich seine Drohungen wahr. Seine Truppen erhielten freie Bahn für die Erstürmung und Plünderung der Stadt. Auf viel Gegenwehr stießen sie dabei nicht. Denn Rom war nicht mehr die wirkliche, sondern nur noch die symbolische Hauptstadt des Römischen Reiches. Im Osten hatte Konstantinopel, im Westen Ravenna der Ewigen Stadt 96

den Rang abgelaufen. Und Kaiser Honorius war denn auch während der Plünderungen in jenen Augusttagen nicht vor Ort, sondern in seiner Residenz in Ravenna. Aber auch wenn die Regierungszentrale nicht mehr in Rom war, so lebten in der altehrwürdigen Stadt am Tiber doch immer noch viele Menschen, die stolz auf ihre Tradition waren. Als nun Alarich am 24. August das Signal zur Plünderung gab, ließen sich seine Goten nicht lange bitten. Schließlich war die Aussicht auf Beute etwas, das die Truppe zusammenhielt. Aus öffentlichen und privaten Gebäuden nahmen sie alles mit, was ihnen wertvoll und kostspielig erschien. Als sie am 27. August wieder abzogen, lag Rom zwar nicht in Trümmern. Doch es gab kaum einen Bewohner, der nicht ganz persönlich unter dem Gotensturm zu leiden gehabt hätte – und sei es nur, dass man hatte mit ansehen müssen, wie die Krieger in den Häusern nach Geld, Schmuck und anderen Pretiosen gesucht hatten. In die Hände fiel Alarichs Leuten auch die Schwester des Westkaisers Honorius und des inzwischen verstorbenen Ostkaisers Arcadius, den Söhnen des großen Theodosius. Galla Placidia wurde verschleppt und

267 n. Chr. plünderten die Heruler Athen. Aus den Trümmern errichteten die Athener eine Schutzmauer

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musste später den Goten Athaulf heiraten – für sie der Beginn eines außer­ ordentlich turbulenten Lebens. Damit wurde Galla Placidia zugleich die Ehefrau des westgotischen Königs. Denn Alarich, der Architekt der Eroberung Roms, war kurze Zeit nach dem denkwürdigen Ereignis gestorben. Die Goten zogen von Rom aus weiter Richtung Süditalien, offenbar in Absicht, von dort aus nach Afrika überzusetzen. Doch das Unternehmen scheiterte. Alarich starb kurz darauf bei Cosenza und fand im Fluss Busento sein Grab. Nachfolger wurde Athaulf, der die Westgoten zunächst nach Gallien und dann nach Spanien führte, wo sie auf dem Boden des Weströmischen Reiches ein eigenes Reich errichteten. In den antiken Quellen hat kaum ein Ereignis der Spätantike eine solch breite und intensive Resonanz gefunden wie die Eroberung von Rom durch die Westgoten im Jahre 410. Dabei zeigt sich auch eine außerordentlich große Vielfalt der Beurteilungen, die letztlich nicht mehr allzu viel mit dem Vorgang an sich zu tun hatten. Es hat den Anschein, als hätten die Autoren, die dazu Stellung genommen haben, die Gelegenheit genutzt, ihre grundsätzliche Einstellung zu Gott und der Welt anhand dieses Ereignisses zu dokumentieren. Dabei kann zunächst kein Zweifel daran bestehen, dass für die meisten Zeitgenossen der August 410 ein Schock war – nicht so sehr wegen der Folgen, denn Alarich und seine Leute waren ja schnell wieder abgezogen, sondern allein wegen der Tatsache, dass so etwas überhaupt geschehen konnte. Die Stadt Rom, nach der Datierung der Römer am 21. April des Jahres 753 v. Chr. von Romulus gegründet, mithin im August 410 stolze 1.162 Jahre alt (das nicht existente Jahr „0“ darf man bei der Addition von vorchristlichen und nachchristlichen Jahreszahlen nicht mitzählen, muss also vom Ergebnis ein Jahr abziehen), galt als Hort der Sicherheit, war trotz der Tatsache, dass die Stadt selbst inzwischen ins politische Abseits geraten war, immer noch das Sinnbild von Größe und Bedeutung. Wenn die Goten drei Tage lang in dieser Stadt ungestört plündern konnten, dann musste das wie ein Fanal erscheinen. Und wo war der Kaiser geblieben? Warum hatte sich Honorius nicht um die Menschen um Rom gekümmert, war stattdessen in Ravenna geblieben? Nach Auskunft vieler Quellen war er ein schwacher Herrscher, der ganz unter der Kontrolle seiner Ratgeber stand, die hinter seinem Rücken ihre eigene Politik betrieben. Zu einer bloßen Karikatur wurde Honorius bei dem oströmischen Geschichtsschreiber Prokop verzerrt, der im 6. Jahrhundert eine viel zitierte, gleichwohl höchstwahrscheinlich fiktive Anekdote kolportierte. Demnach besaß Kaiser Honorius ein Lieblingshuhn namens Roma. Als man ihn am 24. August 410 in seiner Residenz Ravenna über die dramatischen Vorgänge in Rom 98

informierte und dabei die Worte wählte: „Um Roma ist es geschehen“, soll er gemeint haben, mit seinem Huhn gehe es zu Ende. Groß war seine Erleichterung, so heißt es, als er erfuhr, dass es sich nur um die Stadt Rom handelte. Gut erfunden, aber eben auch überspitzt dargestellt, ist diese Geschichte wenig ­geeignet, das reale Reaktionspotenzial auf die Eroberung von Rom durch die Westgoten darzulegen. Hilfreicher ist es zu hören, was der berühmte lateinische Kirchenvater ­Hieronymus zu den Ereignissen zu sagen hatte. Es klingt reichlich pathetisch, wenn er schreibt (Ep. 123,16,4): „Die Stimme stockt mir, und vor Schluchzen kann ich nicht weiter diktieren. Die Stadt Rom ist eingenommen, die zuvor die ganze Welt besiegt hatte.“ Wie ist diese Reaktion zu erklären? Zum einen hatte Hieronymus sehr enge persönliche Beziehungen zu der einstigen Weltstadt am Tiber. So hatte er sich dort einige Jahre zuvor als enger Mitarbeiter des Bischofs Damasus betätigt. Zum anderen spielte Rom im Weltbild der Christen traditionell eine wichtige Rolle als jene Stadt, in der die Apostel Petrus und Paulus ihr Martyrium durchlitten haben sollten. Von christlicher Seite her bestand nach dem August 410 tatsächlich einiger Erklärungsbedarf. Viele Gläubige fragten sich, wie Gott dies hatte zulassen können. Eine Antwort gab der schon damals einflussreiche Kirchenvater ­Augustinus, der Mann für schwierige theologische Fälle. Er war ebenfalls ein Zeitgenosse. Im November 354 geboren, stand er zum Zeitpunkt der Katastrophe im 56. Lebensjahr. Gott habe, so lautete seine Deutung der Vorgänge und seine Instruktion für die Christen, mit diesem schweren Schlag den Menschen zeigen wollen, dass es nicht auf die irdischen Dinge ankomme. Nicht auf Erden spiele sich das wahre Leben eines Christen ab, sondern im Himmel. Da es aber weiterhin Skeptiker gab, beauftragte er den von der Iberischen Halbinsel stammenden, ebenfalls christlichen Schriftsteller Orosius mit der Abfassung eines historischen Werkes. Die Vorgabe lautete, Beweise dafür zu liefern, dass nicht, wie viele Heiden immer noch behaupteten, die Christen schuld seien an allem Übel, das auf der Welt geschehe (und somit auch nicht an der Katastrophe von 410). Orosius war folgsam und legte ein paar Jahre später das Opus Historia adversus paganos vor („Geschichte gegen die Heiden“). Darin unternahm er den Versuch, anhand einer ausführlichen Darstellung der Geschichte Roms zu zeigen, dass die Christen für den Niedergang Roms nicht die Verantwortung tragen konnten, weil es bereits in vorchristlicher Zeit Krisen, Kriege, Krankheiten und Katastrophen gegeben habe. Was den konkreten Fall 410 angeht, bemühte sich Orosius, den von den Goten angerichteten Schaden 99

zu bagatellisieren. Aus Respekt vor dem christlichen Glauben habe Alarich (der ebenfalls Christ war, wenn auch arianischer, damit häretischer Ausprägung) bei der Plünderung Roms Kirchen und andere heilige Stätten verschont. 45 Jahre nach dem ungebetenen Besuch der Westgoten wurde Rom von einer weiteren Plünderung heimgesucht. Wieder waren es Germanen, die unter dem Kapitol auftauchten und einiges Unheil anrichteten. Diesmal handelte es sich um die Vandalen, deren Name nicht unbedingt die freundlichsten Assoziationen hervorruft. Das ist jedoch nicht so sehr ihre Schuld gewesen, sondern eher die eines geschichtskundigen französischen Bischofs, der während der Französischen Revolution den Terror der Jakobiner zu geißeln bestrebt war, nach ­einem geeigneten historischen Vergleich suchte und dabei auf die Vandalen stieß. Das war die Geburtsstunde des sprichwörtlich gewordenen Ausspruchs „Hausen wie die Vandalen“. Indes geschieht den echten Vandalen damit Unrecht. Sie hatten 429 n. Chr. in Nordafrika ein eigenes Reich mit der Hauptstadt Karthago gegründet, und dies durchaus im Einklang mit dem weströmischen Kaiser. Valentinian III. hatte mit dem Vandalen-König Geiserich einen förm­ lichen Vertrag geschlossen, in dem er ihm das nordafrikanische Territorium überlassen hatte. Nach dem Tod Valentinians kam es zu einigen politischen Verwicklungen, die Geiserich zum Anlass nahm, am 2. Juni 455 einen Angriff auf Rom zu unternehmen. 14 Tage lang trieben die Vandalen ihr Unwesen in der Ewigen Stadt, viel länger als die Westgoten und sicher nicht mit friedens­ nobelpreisverdächtiger Rücksichtnahme und Behutsamkeit. Indes glaubten sich die Vandalen, weil sie sich in einem regelrechten Kriegszustand mit der neuen kaiserlichen Regierung befanden, nach Kriegsrecht zu solchen Plünderungen legitimiert. Für die Masse der stadtrömischen Bevölkerung indes dürfte es gleichgültig gewesen sein, welche Motive hinter dem Unternehmen standen. Sie hatten in diesen 14 Tagen schwer zu leiden, das Vertrauen in Kaiser und Staat schwand mehr und mehr. Insofern war die vandalische Eroberung von Rom 455 tatsächlich eine zumindest subjektiv empfundene Katastrophe. Sie war es aber auch objektiv: Denn der Angriff auf Rom bewirkte eine weitere moralische Destabilisierung und war insofern ein weiterer Mosaikstein, der zum endgültigen Niedergang im Jahr 476 betrug, als mit dem Abgang des jungen Kaisers Romulus Augustulus das weströmische Kaisertum definitiv endete.

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6. Politische Katastrophen Eine politische Katastrophe ist, wenn man eine passende Definition anbieten möchte, eine Katastrophe, die sich auf den Staat, seine Institutionen und seine führenden Repräsentanten bezieht. In dieser Hinsicht ist die Antike sehr ­ertragreich gewesen.

Das Attentat auf Iulius Caesar Rom, Iden des März des Jahres 44 v. Chr., Theater des Pompeius. An diesem Tag, dem 15. März, findet eines der bekanntesten Attentate der Weltgeschichte statt. Prominentes Opfer ist Gaius Iulius Caesar, der Diktator, damals der mächtigste Mann in Rom. Verübt wird die Tat von einer Gruppe von Senatoren, von denen viele ihre Posten Caesar verdanken. Zwei ausführliche und weitgehend glaubwürdige Berichte über die Tat liefern die antiken Biographen Sueton und Plutarch. Beide schrieben in relativ großem zeitlichen Abstand zum Ausgangsereignis, etwa um 100 n. Chr. bzw. etwas ­später. Ihre Caesar-Biographien sind nicht isoliert konzipiert, sondern im Kontext größerer Darstellungen. Bei Sueton fungiert die Caesar-Vita als Auftakt einer Sammlung von insgesamt zwölf Biographien römischer Kaiser mit dem Titel De Vita Caesarum („Über das Leben der Kaiser“). Sie reichen in chronologischer Reihenfolge bis zu Domitian (81–96 n. Chr.), dem letzten Vertreter der Dynastie der Flavier. Caesar gilt heute nicht als der erste römische Kaiser, das war sein Großneffe und Adoptivsohn Augustus. Jedoch war Caesar der Ahnherr der iulisch-claudischen Dynastie, wie die erste Herrscherdynastie von Augustus bis Nero genannt wird. Zudem hatte Caesar dadurch, dass er noch im Februar 44 v. Chr., kurz vor seinem Tod, die Diktatur auf Lebenszeit angenommen hatte, aus der republikanischen Ordnung in Rom ein monarchisches System gemacht. So hatte Sueton gute Gründe, die Liste der römischen Kaiser mit Caesar beginnen zu lassen. Suetons Darstellung gilt als weitgehend vertrauenswürdig. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass er über zuverlässige Quellen verfügte. Eine Zeitlang arbeitete er als Kanzleichef des Kaisers Hadrians und hatte in dieser Eigenschaft freien Zugang zu den kaiserlichen Archiven, die er eifrig nutzte. Auch die Angaben bei Plutarch kann man als zuverlässig einstufen. Der ­griechische Schriftsteller, der insgesamt 227 Werke verfasste, unternahm viele 101

Reisen und hatte ein Netzwerk guter Freunde und Bekannter. Das versetzte ihn in die Lage, sich auch für die Biographien, die er schrieb, gute Materialien beschaffen zu können. Diese Biographien waren als Doppel- oder Parallelbio­ graphien gestaltet. Jeweils einem „großen Griechen“ stellte er einen „großen ­Römer“ zur Seite. Das Kriterium der Vergleichbarkeit war dabei eine gemein­ same herausragende Eigenschaft (meist positiver, gelegentlich aber auch nega­ tiver Art). Caesar kombinierte er mit dem Makedonenkönig Alexander, dem die ­Römer den Beinamen „der Große“ gegeben hatten. Alexander, der Eroberer Asiens, schien Plutarch die adäquate Ergänzung zu Caesar zu sein, der im ­Gallischen Krieg dafür gesorgt hatte, dass das heutige Frankreich eine römische Vergangenheit aufweist. Die beiden antiken Autoren näher zu charakterisieren, wenn es um das Attentat auf Caesar geht, ist nicht überflüssig, sondern im Gegenteil wichtig: Auch aufgrund von literarischen und dramatischen Überarbeitungen hat sich der Stoff mitunter so weit von der historischen Realität entfernt, dass es ratsam erscheint, zu den Wurzeln zurückzukehren. Anschließend ist die Frage zu klären, ob das Attentat auf Caesar als eine politische Katastrophe eingestuft werden kann. Betrachten wir zunächst die detaillierte Schilderung bei Plutarch (Caes. 66): „Vor dem Sitzungsraum verwickelte Brutus Albinus den Antonius absichtlich in ein langes Gespräch, um ihn festzuhalten. Denn Antonius stand loyal zu Caesar und war ein ungewöhnlich kräftiger Mann. Als Caesar den Saal betrat, erhoben sich die Senatoren ehrerbietig von ihren Sitzen. Einige von Brutus’ Freunden stellten sich hinter Caesars Stuhl, die anderen gingen ihm entgegen, als wollten sie das Gesuch des Tullius Cimber unterstützen, der für seinen verbannten Bruder um Gnade bat, und ohne Pause mit Bitten ihn bestürmend, folgten sie ihm zu seinem Sessel. Caesar nahm Platz, dann lehnte er das Gesuch rundweg ab, und als sie heftiger in ihn drangen, wies er jeden, der das Wort an ihn richtete, barsch zurück. Da fasste Tullius mit beiden Händen seine Toga und riss sie ihm vom Hals herunter. Dies war das verabredete Zeichen zum Angriff. Zuerst traf ihn Casca mit dem Dolch im Nacken, doch ging der Stich nicht tief und war nicht tödlich, da Casca, was man verstehen kann, im ersten Augenblick der kühnen Tat vor Aufregung zitterte. Caesar vermochte sich umzudrehen, den Dolch zu packen und festzuhalten. Und zusammen riefen beide – der Verwundete auf Lateinisch: ‚Verruchter Casca, was tust du?‘, Casca auf Griechisch, zu seinem Bruder gewendet: ‚Bruder, hilf!‘ Schauderndes Entsetzen fasste diejenigen, die nicht eingeweiht waren. Sie wagten aber weder zu fliehen noch Caesar zu helfen, kein Laut kam über ihre Lippen. Die Verschwörer aber holten alle die Schwerter hervor und umringten den Überfallenen. Wohin sich Caesar wendete, überall zuckten Hiebe, fuhren ihm Klingen vor Gesicht und Augen hin und her. Er wurde durchbohrt wie ein wildes Tier, sich windend unter den Händen seiner Mörder. Denn es war ausgemacht, dass jeder das Opfer treffen und von seinem Blut kosten müsse. So führte auch Brutus einen

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Streich und verwundete ihn am Unterleib. Einige Berichte fügen hinzu, Caesar habe sich eine Zeitlang gegen die Angreifer gewehrt und sich schreiend hin und her geworfen, um den Stößen zu entgehen. Aber als er Brutus mit gezogenem Schwert unter den Gegnern erblickte, zog er die Toga über das Haupt und leistete keinen Widerstand mehr. Er brach am Sockel, auf dem die Statue des Pompeius stand, zusammen – aus Zufall oder weil die Mörder ihn dorthin gedrängt hatten. Sein Blut spritzte über das Standbild, es sah aus, als leite Pompeius selber die Rache an seinem Feind, der, zu ­seinen Füßen hingesunken, aus vielen Wunden blutend, mit dem Tod rang. 23 Mal soll er getroffen worden sein. Auch die Mörder hatten sich gegenseitig verwundet, da so viele Schwerter nach seinem Körper zielten.“

Plutarch erwähnt in seiner eindringlichen Schilderung eine Reihe von Namen, die bei der Ermordung Caesars eine wichtige Rolle spielten. Zunächst Marcus Antonius, der Weggefährte Caesars, mit ihm zusammen in diesem Jahr 44 v. Chr. Konsul; dann Brutus, ebenfalls ein enger Vertrauter Caesars, der sich aber den Verschwörern angeschlossen hatte; Tullius Cimber, ein einflussreicher Senator; Casca aus der prominenten Familie der Servilier. Caesar stirbt im Theater des Pompeius zu Füßen von dessen Statue – ein beziehungsreiches ­Szenario, denn Pompeius war einst der große innenpolitische Gegenspieler Caesars gewesen, ermordet 48 v. Chr. vor der Küste von Alexandria, wohin er nach der entscheidenden Schlacht gegen Caesar bei Pharsalos geflohen war. Bei Sueton (Caes. 82) wird das Attentat folgendermaßen dargestellt: „Etwa um die 5. Stunde [zwischen 10 und 11 Uhr vormittags] machte sich Caesar auf den Weg, weil ihm Decimus Brutus riet, er solle doch den zahlreich versammelten und seit längerer Zeit auf ihn wartenden Senat nicht vergeblich sitzen lassen. Eine Schrift, die ihm unterwegs ein Unbekannter überreichte und die eine Anzeige des Verschwörungsplans enthielt, steckte er zu den übrigen Akten, die er in der Linken trug, um sie später zu lesen. Daraufhin brachte er ein Opfer dar. Aber die Opfertiere kündigten keinen glücklichen Ausgang an, obwohl man gleich mehrere geschlachtet hatte. Trotzdem ging er ohne Rücksicht auf diese religiösen Bedenklichkeiten in die Kurie. Dort sah er Spurinna und sagte zu ihm mit ironischem Lächeln, um ihn als falschen Propheten hinzustellen: ‚Die Iden des März sind also ohne Schaden für mich gekommen‘, worauf jener warnend erwiderte: ‚Gekommen sind sie, aber noch nicht vorbei.‘ Als Caesar Platz nahm, stellten sich die Verschwörer, scheinbar um ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen, im Kreis um ihn herum. Sofort trat Cimber Tillius, der die erste Rolle übernommen hatte, näher an ihm heran, so als ob er ihn um etwas bitten wollte. Da Caesar ihn durch einen Wink abschlägig bescheidet und durch eine abwehrende Bewegung auf später verweist, fasst Cimber ihn auf beiden Schultern an der Toga. Da ruft Caesar: ‚Das ist ja Gewalt!‘ Gleichzeitig verwundet ihn der eine Casca von hinten dicht unterhalb der Kehle. Caesar ergreift Cascas Arm und durchsticht ihn mit einem Schreibgriffel. Als er nun aufspringen will, wird er durch eine zweite Verwundung

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daran gehindert. Und wie er nun sieht, dass von allen Seiten Dolche gegen ihn gezückt werden, verhüllt er sein Haupt mit der Toga und zieht zugleich mit der linken Hand den Faltenbausch bis zu den Knöcheln nieder, damit der untere Teil seines Körpers bedeckt würde und er mit Anstand fiele. In dieser Haltung wird er von 23 Stichen durchbohrt. Nur bei dem ersten Stoß ließ er einen Seufzer, aber kein Wort vernehmen. Allerdings berichten einige Leute, er habe dem auf ihn eindringenden Marcus Brutus auf Griechisch zugerufen: ‚Auch du, mein Sohn?‘ Als alle geflüchtet waren, blieb er eine Zeitlang, von allen verlassen, tot liegen, bis endlich drei einfache Sklaven seine Leiche in einer Sänfte, aus der ein Arm heraushing, in sein Haus zurücktrugen. Von den vielen Wunden war nach Ansicht seines Leibarztes Antistius nur eine tödlich gewesen, nämlich die zweite, die er in der Brust erhalten hatte.“

In allen wesentlichen Punkten stimmen Plutarch und Sueton in ihren Beschreibungen von Caesars Schicksalsstunde überein. Die etwa 60 Verschwörer, alles Mitglieder des römischen Adels, hatten ihr Ziel erreicht: Sie hatten den Diktator, den Tyrannen, ermordet und damit, so glaubten sie jedenfalls, jene Republik gerettet, die Caesar, der Alleinherrscher, zerstört hatte. Aus ihrer Sicht war damit eine Katastrophe für den Staat abgewendet worden. Das genügte als Legitimation für das Attentat, denn schon die alten Griechen lehrten: Der Mord an einem Tyrannen ist nicht nur erlaubt, sondern Pflicht. Der Mord an Caesar war der vorläufige Höhepunkt einer Zeit voller Krisen, in die sich die römische Elite selbst gestürzt hatte. Begonnen hatte sie gut 90 Jahre vorher. Damals, im Jahre 133 v. Chr., war der Volkstribun Tiberius Gracchus ermordet worden. Den konservativen Senatskreisen war er ein Dorn im Auge gewesen, weil er eine Neuverteilung des landwirtschaftlichen Grund­ besitzes gefordert hatte – dies allerdings weniger, weil er sein Herz für die kleinen Bauern entdeckt hatte, sondern weil er sich um die Wehrfähigkeit der Römer sorgte. Denn zu den unangenehmen Rückwirkungen der Weltherrschaft, die die Römer zu dieser Zeit (nach den damaligen Kategorien von „Welt“) aus­ übten, gehörten massive politische, soziale und wirtschaftliche Probleme. „Politische Probleme“ heißt: Die römische Aristokratie war strukturell und mental nicht darauf eingestellt, ein ganzes Weltreich beherrschen. Aus Furcht, ein ­Einzelner aus der Gruppe könne zu viel Macht zu erwerben, beließen sie politisch alles beim Alten, so als ob man sich noch in jenen Zeiten befinden würde, als Rom nur eine unbedeutende Stadt am Tiber gewesen war. Tiberius Gracchus sprengte die Konventionen, als er sich zum Anwalt der Interessen jener Bauern machte, die als Soldaten für Rom in aller Welt führten und die, wenn sie nach vielen Monaten oder auch Jahren in die Heimat zurückkehrten, feststellen mussten, dass ihr herrenloser Bauernhof zugrunde gegangen war. Das Land 104

kauften dann reiche Großgrundbesitzer auf. Hier setzte die Reform des Tiberius Gracchus an, indem er eine Höchstgrenze für agrarischen Grundbesitz festlegte und gleichzeitig die Unveräußerlichkeit der kleinen Güter propagierte. Dadurch sollte das römische Heer seiner Nachschubbasis sicher sein können, denn die Soldaten wurden damals noch ad hoc unter den Bauern ausgehoben. Tiberius Gracchus versuchte, seine Reformen auch unter Umgehung der gesetzlichen Vorschriften durchzusetzen. Damit wurde er zum Protagonisten ­einer neuen politischen Kultur oder, besser gesagt, Unkultur. Denn die herkömmlichen Spielregeln der Politik spielten keine Rolle mehr, auch die Gewalt wurde als Element der Politik salonfähig. Tiberius Gracchus bekam dies als Erster am eigenen Leib zu spüren. Als er sich, wiederum gegen jede Tradition, zum zweiten Mal um das Volkstribunat bewarb, eskalierte die Situation. Seine senatorischen Gegner mobilisierten ihre Klientel, um den lästigen Tiberius Gracchus zu beseitigen. Sie stürmten zu Hunderten die Volksversammlung und erschlugen den Abweichler sowie etwa 300 seiner Anhänger. Die Leiche des Volkstribunen wurde nicht ordnungsgemäß bestattet, sondern in den Tiber geworfen. Ein ähnliches Schicksal erwartete zehn Jahre später Gaius, den Bruder des Tiberius Gracchus. Auch er wollte sich als Reformer profilieren, ging dabei aber diplomatischer und behutsamer vor, was ihn jedoch nicht davor schützte, ebenfalls ins Visier seiner Gegner zu geraten. Mord und Totschlag standen bei der politischen Auseinandersetzung einmal mehr auf der Tagesordnung. Gaius geriet in eine verzweifelte Lage und sah schließlich keinen anderen Ausweg mehr, als sich von einem seiner Sklaven töten zu lassen (das war in der römischen Aristokratie die vornehme Variante des Selbstmords). Danach kam es zu massiven Kämpfen zwischen den Gegnern und den Anhängern der Gracchen, bei denen mehr als 3.000 Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Der Tod der Gracchen wirkte sich für Rom katastrophal aus. Der Begriff ist angebracht, denn nun kam es zu langanhaltenden Krisen, Gewaltausbrüchen und Bürgerkriegen, die bis in die Zeit Caesars andauerten. Sie bewirkten letztlich eine gravierende Wandlung des politischen Systems. Das Gefährliche war, dass sich die Gewalt immer mehr potenzierte, die Hemmschwelle, sich dieses Mittels der politischen Auseinandersetzung zu bedienen, immer niedriger wurde. Lang ist die Liste prominenter Senatoren, die nach den Gracchen gewaltsam ums Leben gekommen sind. Insbesondere war es das Regime des konservativen Lucius Cornelius Sulla (Lebensdaten 138–78 v. Chr.), durch das die Spirale der Gewalt weiter vorangetrieben wurde und, nach einer kurzen Zeit der trügerischen Ruhe, die Katastrophe der römischen Republik weiter ihren Lauf nahm. Sulla war der Erste, der zur Durchsetzung seiner eigenen politischen Interessen 105

mit Soldaten einen Marsch auf die Hauptstadt Rom unternahm (1922 kopiert von dem italienischen Faschistenführer Mussolini, der sich ohnehin großzügig im Arsenal der alten römischen Politik und Nomenklatur bediente). Danach initiierte er die berühmt-berüchtigten „Proskriptionen“: Die Namen seiner tatsächlichen oder angeblichen Gegner wurden auf Listen publik gemacht, und jeder, der einen von ihnen fasste, war berechtigt, diesen zu töten. Das Vermögen der Proskribierten fiel dem Staat bzw. Sulla und seinen Leuten zu. Diese Verfolgungen brachten viel Leid für viele Familien und vergifteten das politische Klima weiter. Etwa 10.000 Gegner soll Sulla auf diese Weise beseitigt ­haben. Prominente Namen tauchen unter Sullas Opfern auf, so zum Beispiel Lucius Cornelius Cinna, der in der Wahl seiner Mittel allerdings ebenso wenig zimperlich wie sein Gegenspieler Sulla war. Als er für eine Zeitlang Rom kontrollierte, herrschte in der Hauptstadt des Imperiums der blanke Terror. Als er fest im Sattel der Macht saß, gestützt auf seine Soldaten und willfährige senatorische Helfer, machte sich Sulla daran, Maßnahmen zu treffen, die einen neuen Sulla verhindern sollten. Er ließ sich vom Senat zum Dictator ­ernennen, mit dem Auftrag, den Staat neu zu ordnen und dazu die entsprechenden Gesetze auf den Weg zu bringen. Das Ergebnis war ein konservatives ­Reformwerk, ganz auf die Interessen seiner politischen Freunde im Senat ausgerichtet, die wollten, dass alles so blieb, wie es mal gewesen war. Das wollten ihre Gegner, die man damals „Popularen“ nannte, auch, denn schließlich stammten sie ebenfalls aus dem Adel. Nur wollten sie, nach dem Vorbild der Gracchen, eigene Wege gehen, die ihnen letztlich auch persönlich zugute­ kamen. Nach getaner Arbeit legte Sulla 79 v. Chr. die Diktatur nieder und zog sich ins Privatleben zurück. Das trug ihm später von Seiten Caesars den Vorwurf ein, er habe das „politische ABC“ nicht verstanden, sei in dieser Hinsicht also ein Analphabet gewesen. Nur kurzfristig waren Sullas restaurative Gesetze dazu geeignet, die Lage zu beruhigen. Ab 70 v. Chr. begannen die Auseinandersetzungen von neuem. Als starker Mann profilierte sich Pompeius, der eigentlich keiner der rivalisierenden Gruppierungen innerhalb der römischen Aristokratie zuzuordnen war, sondern nur von allen bewundert, respektiert und geliebt werden wollte. Im Schatten des großen Pompeius vollzog sich der Aufstieg Caesars. Er stammte aus der alten patrizischen Familie der Iulier, deren Ruhm jedoch im Laufe der Zeit verblasst war. Caesar war ehrgeizig genug, um den Ruf seiner Familie wieder aufzupolieren und dabei Karriere zu machen. Seine politische Laufbahn verlief, trotz mancher Turbulenzen, zunächst ganz in geordneten Bahnen. Er bekleidete öffentliche Ämter und kletterte in der Hierarchie der römischen 106

­ olitiker langsam, aber sicher nach oben. Zu den alten Senatoren vom Schlage P eines Sulla stand er von Anfang an in Distanz, auch deswegen, weil er von seiner familiären Herkunft her zum Lager der Popularen gehörte. 60 v. Chr. schloss Caesar zusammen mit Pompeius und dem reichen Crassus das sogenannte Erste Triumvirat – eine Koalition, in der jeder seine eigenen Ziele verfolgte, sich aber so lange mit den anderen zusammentat, wie es zum Erreichen dieser Ziele notwendig war. Caesar wurde dank dieses Bündnisses 59 v. Chr. Konsul, danach bekam er ein Kommando in Gallien, das er sogleich zu einem großen Krieg nutzte, an dessen Ende die Inkorporierung Galliens ins Römische Reich stand. Das politische Tagesgeschäft erledigte für Caesar während seiner Abwesenheit sein wichtigster Helfer Clodius, damals eine der schillerndsten Figuren in der römischen Politik. Er verfügte auch über eine schlagkräftige private Miliz, die er in den Straßenkämpfen gerne und häufig einsetzte. Caesars Gegner schickten gegen Clodius und seine Truppen Milo ins Rennen. Auch er verfügte über gut ausgebildete Straßenbanden, und die leidgeprüfte stadtrömische Bevölkerung erlebte in den 50er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. immer wieder das traurige Spektakel von Straßenschlachten mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Am 18. Januar 52 v. Chr. kam es dann zur Katastrophe. An der Via ­Appia, jener großen Straße, die von Rom aus ihren Ausgang Richtung Süden nimmt, trafen die Banden Milos und des Clodius wieder einmal aufeinander. Clodius fand dabei den Tod, hatte aber das posthume Glück, dass er von seinen Freunden ordentlich bestattet wurde, statt, wie bei Tiberius Gracchus geschehen, von den Gegnern in den Tiber geworfen zu werden. Milo hatte Glück, in Cicero einen redegewandten Verteidiger zu finden. Dieser sorgte dafür, dass er in dem Prozess, den Milos Gegner angestrengt hatten, von dem Vorwurf, ­Clodius mutwillig ermordet zu haben, freigesprochen wurde. Die Leute des Clodius, so lautete die allerdings wenig originelle Verteidigungsstrategie, hätten zuerst angegriffen, Milo habe sich lediglich verteidigt. Die Katastrophe der römischen Republik nahm weiter ihren Lauf. Caesar hatte 51 v. Chr. den Krieg in Gallien beendet. Nun wollte er nach Rom zurückkehren. Doch seine senatorischen Gegner trauten ihm nicht. Sie wussten um die Machtstellung, die sich Caesar in Gallien dank der ihm gegenüber loyalen Legionen verschafft hatte. So drohten Caesar bei seiner Ankunft in Rom Prozesse, an deren Ende er ins politische Abseits manövriert worden wäre. So ging er aufs Ganze und überquerte mit seinen Soldaten am 10. Januar 49 v. Chr., den Rubicon, den Grenzfluss zwischen Gallien und Italien. Es begann ein erbittert geführter Bürgerkrieg, wobei sich auf der Gegenseite Caesars alter Partner 107

Pompeius als Feldherr befand. In der Schlacht von Pharsalos 48 v. Chr. errang Caesar den entscheidenden Sieg und konnte sich in den folgenden Jahren daranmachen, seine persönliche Machtstellung auszubauen. Den Senat hatte er weitgehend mit Leuten besetzt, die auf seiner Seite standen und/oder von ihm abhängig waren. Die alte Republik schien am Ende, eine Monarchie – die ­Monarchie Caesars – Faktum zu sein, Dann kamen die Iden des März und lenkten die Geschicke Roms in eine andere Richtung. Die etwa 60 Verschwörer, die das Attentat durchführten, hatten ganz unterschiedliche Motive. Einige wollten alte Rechnungen begleichen, andere, wie der von Caesar eigentlich protegierte Brutus, verfolgten wohl auch eigene politische Ziele, und manche mochten tatsächlich von der Rückkehr zur alten Republik träumen. Aber war Caesars Ermordung an den Iden des März 44 v. Chr. tatsächlich eine Katastrophe? Zunächst einmal war dies natürlich die persönliche Katastrophe Caesars, aber es war auch eine Katastrophe für all diejenigen, die dem ermordeten Diktator Amt und Würden verdankten oder die von ihm in anderer Weise abhängig gewesen waren. Vor allem aber war sie eine Katastrophe, weil durch sie der römische Staat und das Römische Reich in einen weiteren, langen und überaus erbitterten Bürgerkrieg gestürzt wurde, der wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte, wenn Caesar länger am Leben geblieben wäre. 44 v. Chr. starb Caesar, erst 13 Jahre später war der Bürgerkrieg vorbei, der unzählige Menschen nicht nur in Italien, sondern auch in vielen anderen Provinzen des Imperium Romanum das Leben kostete. Die Protagonisten waren Caesars 19-jähriger Großneffe und Adoptivsohn Octavian, der später unter dem Namen Augustus der erste römische Kaiser werden sollte, sowie Marcus Antonius, der alte Weggefährte Caesars. Der Krieg der beiden Caesar-Epigonen um die Macht stürzte den römischen Staat erst recht ins Chaos. Die CaesarMörder erlebten nicht die Rückkehr zur Republik, sondern sie mussten aus ­Italien fliehen. Bei Philippi wurden sie 42 v. Chr. von den vereinten Armeen des Antonius und Octavian besiegt. Brutus und Cassius, die Anführer der Verschwörung, begingen daraufhin Selbstmord. Das war nicht nur ihre ganz persönliche Katastrophe, sondern auch die Katastrophe derjenigen, die mit ihnen die Hoffnung auf eine Rückkehr der alten republikanischen Freiheit für die aristokratischen Eliten verbunden hatten. Nach dem Vorbild von Caesar, Pompeius und Crassus schlossen die beiden Rivalen Antonius und Octavian 43 v. Chr. (noch vor Philippi) ein Bündnis, das durch die Hinzunahme des eher blassen Lepidus wieder zu einem Triumvirat wurde – zum „Zweiten Triumvirat“, das im Gegensatz zur Erstausgabe sogar 108

ganz offiziell vom Volk sanktioniert wurde. Was folgte, war eine grausame ­Abrechnung mit den innenpolitischen Gegnern. Die Proskriptionen der Triumvirn stellten sogar das entsprechende Vorgehen des Diktators Sulla in den Schatten. 2.300 prominente Senatoren und weitere Angehörige der Oberschicht fielen den Verfolgungen zum Opfer und sorgten für eine erhebliche Dezimierung der alten Herrschaftsträger. Es ging den Triumvirn bei diesen Proskriptionen nicht nur um die physische Beseitigung unliebsamer Konkurrenten. ­Genauso wichtig war deren Vermögen, das konsequent konfisziert wurde und der Finanzierung des Kampfes gegen die Caesar-Mörder diente. Das bekannteste Opfer dieser Proskriptionswelle war Marcus Tullius Cicero. Lange hatte der Redner und Politiker angesichts der turbulenten politischen Entwicklungen eine schwankende Haltung eingenommen. Mal war er für, mal gegen den Diktator Caesar gewesen. Nach den Iden des März hatte er jedoch klar Stellung bezogen: Der Mord an Caesar war der Mord an einem Tyrannen und insofern gerechtfertigt. Damit hatte Cicero aber ebenso sein eigenes Todesurteil ausgesprochen wie durch den Umstand, dass er in einer Serie von Reden vor dem Senat Antonius massiv angriff (die „Philippischen Reden“, so benannt nach dem historischen Vorbild, die im 4. Jahrhundert v. Chr. der Athener ­Demosthenes gegen den makedonischen König Philipp II. gehalten hatte). Die dramatischen Ereignisse um den Tod Ciceros, der erst gegen Ende seines ­Lebens zur politischen Höchstform auflief, hat Plutarch in seiner Cicero-Biographie beschrieben. An jenem 7. Dezember 43 v. Chr. hielt sich Cicero in seiner Landvilla beim heutigen Gaeta in Latium auf. Dorthin hatte er sich geflüchtet, wohl wissend, dass er auf der Todesliste der Triumvirn ganz oben stand. Seine Sklaven waren besorgter um sein Leben als er selbst. Sie wollten ihn nicht in dem Haus auf seine Mörder warten lassen und trugen ihn mit einer Sänfte zum Meer hinunter. Das war die Situation, als die von Antonius und Octavian gedungenen Mörder erschienen (Plutarch Cic. 48 f.): „Indessen kamen die Mörder schon heran, der Centurio Herennius und der Militärtribun Popilius, dem Cicero einst, als dieser wegen Mordes an seinem Vater vor Gericht stand, als Verteidiger beigestanden hatte. Begleitet wurden sie von ihren Schergen. Da sie die Türen verschlossen vorfanden, schlugen sie sie ein, und da kein Cicero zu sehen war und die Leute drinnen sagten, sie wüssten nichts, da soll ein junger Mensch, der von Cicero in den höheren Wissenschaften ausgebildet worden war, ein Freigelassener seines Bruders Quintus mit Namen Philologos, dem Militärtribunen verraten haben, dass die Sänfte durch die dicht bewachsenen, schattigen Laubengänge zum Meer hinuntergetragen werde. Der Militärtribun nahm einige Leute mit und rannte herum zum Ausgang, während Herennius im Laufschritt durch die Laubengänge eilte. Cicero

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­ emerkte sein Kommen, befahl den Trägern, die Sänfte an Ort und Stelle niederzusetb zen, und schaute selbst, indem er nach seiner Gewohnheit die linke Hand ans Kinn legte, mit starrem Blick auf die Mörder – von Staub bedeckt, mit ungeschorenem Haar und Bart und das Gesicht von Kummer verzehrt, so dass die meisten sich abwandten, als Herennius ihn abschlachtete. Er erhielt den tödlichen Hieb in den Hals, den er aus der Sänfte vorstreckte, im 64. Lebensjahr. Dann schlugen sie ihm, wie es Antonius ihnen befohlen hatte, den Kopf und die Hände ab, mit denen er die Philippischen Reden geschrieben hatte … Als die abgeschnittenen Körperteile nach Rom gebracht wurden, war Antonius gerade dabei, Wahlen zu leiten. Er vernahm die Nachricht, sah die Beweisstücke und rief aus, dass die Proskriptionen jetzt ein Ende hätten. Kopf und Hände Ciceros ließ er über den Schiffsschnäbeln auf der Rednertribüne aufstecken – ein scheußlicher Anblick für die Römer, die jedoch nicht Ciceros Gesicht zu sehen glaubten, sondern ein Abbild der Seele des Antonius.“

In der Folgezeit teilten die Triumvirn das Imperium unter sich auf, wobei von den Protagonisten Antonius den Osten und Octavian den Westen erhielt. Und während Antonius den (rein politisch motivierten) Avancen der ägyptischen Königin Kleopatra immer weniger zu widerstehen vermochte, stilisierte sich Octavian in Italien zum Hüter des wahren Römertums. Die machtpolitischen Gegensätze zwischen den beiden Triumvirn (Lepidus spielte erwartungs­ gemäß eine völlig untergeordnete Rolle) entluden sich zunächst in verbalen Auseinandersetzungen. Doch dann spitzte sich die Situation immer mehr zu. Die Entscheidung fiel 31 v. Chr. in der Schlacht von Aktion (lateinisch Actium), an der Einfahrt zum Golf von Ambrakia in Griechenland. Octavians Flotte, kommandiert von seinem unentbehrlichen Helfer Marcus Agrippa, besiegte die vereinten Kontingente des Marcus Antonius und der Kleopatra. Die Geschlagenen flohen nach Alexandria, beide begingen, unter dramatischen Umständen, später Selbstmord. Octavian war am Ziel. 13 Jahre nach dem Tod seines Adoptivvaters Caesars hatte er sich in blutigen Bürgerkriegen durchgesetzt, nachdem er zuvor, gemeinsam mit und in der Gegnerschaft zu Antonius, das Römische Reich ins Chaos und in eine Katastrophe gestürzt hatte. Das wusste der politisch versierte Octavian nur zu gut. Er wusste auch, dass sich die römische Bevölkerung jetzt nach Ruhe und Frieden sehnte. Und er hatte aus der Katastrophe Caesars gelernt, dass den Senatoren in Rom eine unverhüllte Alleinherrschaft nicht vermittelbar war. Aus all diesen Überlegungen entstand ein neues Herrschaftssystem, das der Architekt Octavian, der sich ab 27 v. Chr. „Augustus“, also etwa „der Erhabene“, nennen ließ, selbst als „Prinzipat“ bezeichnete. Augustus gab sich als der „Erste unter Gleichen“, der im Prinzip nur die alte Republik wieder110

hergestellt habe – gewissermaßen eine monarchische Ordnung im republikanischen Gewand. Und die Masse der Bevölkerung freute sich darüber, dass jemand da war, der den ersehnten inneren Frieden garantierte, auch wenn der Betreffende an der Schaffung der Missstände, deren Beseitigung er sich nun rühmte, entscheidend mit beteiligt gewesen war. Caesars Ermordung war eine Katastrophe. Aber letztlich war sie auch dafür verantwortlich, dass Rom nun unter der Ägide von Kaisern (die allerdings nicht alle so moderat regierten wie der erste Kaiser Augustus) eine lange Phase der inneren Konsolidierung und Stabilisierung erlebte. Nicht umsonst gilt bis heute die römische Kaiserzeit, jedenfalls bis zu jener Phase, als sich im 3. Jahrhundert erstmals größere Krisensymptome bemerkbar machten, als eine der glücklichsten Epochen der antiken Geschichte.

Andere Attentate in der Geschichte der Antike Lang ist die Liste der Herrscher, die in der Antike zum Opfer von Attentaten wurden. Schon der Nach-Nachfolger des Augustus kam auf gewaltsame Weise ums Leben. Doch wird man kaum sagen können, dass Caligulas Tod am 24. Januar 41 n. Chr. von den Zeitgenossen als Katastrophe empfunden worden ist. Und auch bei den heutigen Historikern ist dies nicht der Fall. Eher ist die Einschätzung zutreffend, dass Caligula selbst eine Katastrophe, sein Tod mithin für den römischen Staat und das Römische Reich eine Wohltat gewesen ist. Bemerkenswerterweise hatte Caligula zu Lebzeiten darüber Klage geführt, dass sich unter seiner Regierung keine Katastrophen ereignen würden (Suet. Cal. 31): „Die Herrschaft des Augustus sei durch die Niederlage des Varus, die des Tiberius durch den Einsturz der Zuschauer-Tribüne bei Fidenae berühmt geworden. Seine ­eigene Regierung drohe durch Wohlstand in Vergessenheit zu geraten. So wünschte er sich immer wieder Niederlagen der Heere, eine Hungerkatastrophe, eine Pest, Feuer und ein Erdbeben.“

Mit der „Niederlage des Varus“ rekurrierte der Kaiser auf die berühmte Niederlage im Teutoburger Wald gegen Arminius und seine Germanen. Das Unglück von Fidenae, einer Stadt in Latium, hatte 27 n. Chr. stattgefunden. Während eines Gladiatorenspiels stürzte damals das hölzerne Amphitheater ein. Laut Sueton (Tib. 40) kamen dabei 20.000 Menschen ums Leben, laut Tacitus (ann. 4,62) gab es 50.000 Tote und Verletzte. Der Historiker teilt auch Einzelheiten über diese Katastrophe mit, die Caligula im Gedächtnis geblieben war: 111

„Bei Fidenae hatte ein gewisser Atilius, seines Standes ein Freigelassener, den Bau eines Amphitheaters begonnen, um Gladiatorenspiele zu veranstalten. Dabei legte er aber weder die Fundamente auf festen Boden, noch sicherte er das Holzgefüge des Oberbaus durch starke Klammern. Denn er hatte dieses Geschäft ja nicht unternommen, um überschüssige Geldmittel zu investieren, oder aus kleinstädtischem Ehrgeiz heraus, sondern aus schnöder Gewinnsucht. Dann strömten die Menschen in Scharen herbei, gierig auf solche Darbietungen, weil sie unter der Herrschaft des Tiberius auf Volksbelustigungen verzichten mussten, Männer und Frauen jeden Alters, wegen der Nähe des Ortes zu Rom in noch größerer Menge. Umso schrecklicher war das Unheil, als das überfüllte Bauwerk dann plötzlich aus den Fugen ging, indem es nach innen stürzte oder in seine äußeren Teile zerbrach und die unermessliche Menge der Menschen, die dem Schauspiel gespannt folgten oder ringsum standen, in die Tiefe riss und unter sich begrub. Jene, die gleich zu Beginn des Einsturzes den Tod gefunden hatten, entgingen, wie das bei einem solchen Schicksal der Fall ist, wenigstens der Qual. Mehr zu bedauern waren diejenigen, die nach dem Verlust von Gliedmaßen noch am Leben waren. Sie versuchten bei Tage mit den Augen, bei Nacht an dem Geschrei und Jammern ihre Frauen oder Kinder zu erkennen. Rasch wurden die übrigen Angehörigen durch die Nachricht herbeigetrieben: Dieser beklagte seinen Bruder, jener einen Verwandten, ein anderer seine Eltern. Auch Leute, deren Freunde oder Angehörige aus einem ganz anderen Grund nicht zu Hause waren, schwebten trotzdem in Angst. Und solange noch nicht bekannt war, wen dieses Unglück ereilt hatte, weitete sich durch die Ungewissheit die Furcht noch aus. Als man begann, die Trümmer wegzuräumen, liefen alle zu den Toten hin, um sie zu umarmen und zu küssen. Und oft gab es Streit, wenn trotz eines allzu entstellten Gesichts die Ähnlichkeit in Gestalt und Alter zu einem Irrtum beim Wiedererkennen geführt hatte.“

Tacitus erwähnt in diesem Zusammenhang auch Maßnahmen, mit denen von Menschen verursachte Katastrophen in Zukunft verhindert werden sollten. Erstens verfügte der römische Senat, dass niemand Gladiatorenspiele veranstalten dürfe, dessen Vermögen weniger als 400.000 Sesterzen betrug. Zweitens beschlossen die Senatoren in Rom, dass ein Amphitheater künftig nur dann erbaut werden dürfe, wenn zuvor die Festigkeit des Bodens geprüft worden sei. Die Katastrophenvorsorge, die man sich nach dem Unglück von Fidenae verordnete, war allem Anschein nach erfolgreich. Von weiteren Unglücken dieser Art ist in den Quellen nicht die Rede. Außerdem ging man nach und nach dazu über, solche Amphitheater ganz in Stein zu bauen (wie das Colosseum in Rom), wodurch das Risiko eines Einsturzes ebenfalls reduziert wurde. Die Passage mit der Klage des Kaisers Caligula ist im Übrigen für das römische Verständnis dessen, was alles unter dem Begriff „Katastrophen“ subsumiert werden konnte, sehr erhellend: Kriege, Unfälle, Hunger, Krankheit, Brand und Naturkatastrophen. Gefreut haben dürfte sich Caligula unter diesen 112

Voraussetzungen jedenfalls über ein Erdbeben, dass sich bereits eine Woche nach seinem Herrschaftsantritt, am 23. März des Jahres 37 n. Chr., im fernen Antiochia ereignete. Aber er muss es bei der Bilanzierung katastrophaler Ereignisse wieder vergessen haben, wenn man den Ausspruch bei Sueton in Rechnung stellt. Das Zitat hat man gerne als Beweis dafür angeführt, dass Caligula entweder nicht zurechnungsfähig oder aber ein sadistisches Scheusal gewesen sei. Vielleicht aber sah sich der Nachfolger von Augustus und von Tiberius um die Chance gebracht, sich als patronaler Katastrophenmanager profilieren zu können, was, wie gesehen, für das Renommee des Kaisers immer von Bedeutung gewesen ist. Der Tod des Caligula, der keine Katastrophe war, war das Ergebnis eines Komplotts, an dem eine Reihe von Senatoren und Leibwächter des Kaisers beteiligt waren. Auf dem Weg vom Theater in den Palast wurde er ermordet. Auch weitere Kaiser fielen in der Folgezeit Attentaten oder Morden zum Opfer, Herrscher, die wie Domitian (ermordet 96 n. Chr.) oder Commodus (ermordet 192 n. Chr.) als Tyrannen klassifiziert worden waren und deren Tod wie bei Caligula keine katastrophalen Auswirkungen hatten. Vielmehr sind sich die Quellen in der Bewertung einig, dass mit ihrem Tod wieder geordnete Verhältnisse einkehrten. Eine Ausnahme bildet indes der gewaltsame Tod des spätantiken römischen Kaisers Valentinian III., der mittelfristig für das Römische Reich eine Katastrophe darstellte. Dieser Kaiser regierte das Reich in einer äußerst kritischen Phase. An die Macht gekommen war er im Jahre 425 n. Chr. – ein Datum, das nicht allzu fern vom Jahr 476 liegt, als mit der Absetzung des Romulus Augustulus die Geschichte des weströmischen Kaisertums und auch des Weströmischen Reiches endete. Valentinian hatte prominente Eltern: Sein Großvater war Theodosius I., der das Christentum zur Staatsreligion gemacht hatte und der für die Teilung des Römischen Reiches verantwortlich gewesen war, weil er in seinem Testament die Herrschaft seinen beiden Söhnen Arcadius und Honorius übertragen hatte. Seitdem gab es mit Ravenna im Westen und Konstantinopel im Osten zwei Machtzentren, die sich langsam, aber stetig auseinanderentwickelten. Seine Mutter war Galla Placidia, die Tochter des Theodosius, die nach ihrer Ehe mit dem Westgoten-König Athaulf mit Constantius III.verheiratet wurde, der, als faktischer Westkaiser, jedoch früh starb. 425 wurde Valentinian, gerade einmal sechs Jahre alt, offiziell Kaiser des Westreiches. In dieser Eigenschaft stand er bis 437 unter der Vormundschaft seiner Mutter Galla ­Placidia. Seine Regierung war nicht unbedingt mit Erfolgen gepflastert. Im ­Gegenteil: Das wankende Imperium hatte in dieser Zeit weitere Rückschläge zu 113

verkraften. Die Vandalen drangen ins römische Nordafrika vor und gründeten dort ein eigenes Königreich. In Gallien und Spanien etablierten sich die Westgoten. Den erfolgreichen Heermeister Aetius, der 451 in der denkwürdigen Schlacht auf den Katalaunischen Feldern die Hunnen besiegt hatte, ermordete er eigenhändig während einer Audienz. Diese Tat aber, hinter der die Furcht vor der Macht des Aetius stand, war gewissermaßen auch sein eigenes Todes­ urteil: Einige Monate später wurde Valentinian III. von den Anhängern des Aetius getötet. Das war das Ende eines im Prinzip erfolglosen Kaisers, aber auch eine Katastrophe. Denn mit Valentinian III. starb der letzte Vertreter der von Theodosius I. begründeten Dynastie. Trotz aller Turbulenzen war die dynastische Kontinuität ein Faktor der Stabilität gewesen. Die restlichen 21 Jahre bis zum Untergang des weströmischen Kaisertums verliefen auch deswegen so chaotisch, weil nun keine kaiserliche Familie mehr existierte, die den verunsicherten Zeitgenossen Halt, den Soldaten einen Bezugspunkt und den zunehmend dominierenden Heermeistern Paroli hätte bieten können. In der Geschichte der antiken Griechen gab es zwei klassische Attentate, die lange vor Caesars Ermordung stattfanden. Das eine traf als Opfer Hipparchos, den Sohn des Peisistratos, seines Zeichens Tyrann in Athen. 514 v. Chr. wurde er bei dem Fest der Panathenäen von zwei vornehmen Athenern namens Harmodios und Aristogeiton ermordet. Eigentlich galt der Anschlag auch Hippias, dem Bruder des Aristogeiton, doch blieb dieser unversehrt. Harmodios wurde gleich nach dem Attentat getötet, Aristogeiton wurde interniert, gefoltert und hingerichtet. Wenige Jahre später wurde Hippias gestürzt, die Tyrannis war beendet. Athen entwickelte sich zu einem demokratischen Staat, dem ersten überhaupt in der griechischen Welt. Harmodios und Aristogeiton, die „Tyrannenmörder“, wurden zu Legenden, zu Ikonen der Demokratie stilisiert. Gleichwohl dürfte ihre Motivation bei dem Attentat sehr viel profanerer Natur gewesen sein. Wie insbesondere der griechische Historiker Thukydides nahelegt, waren wohl mehr persönliche – homoerotische – Beweggründe im Spiel. Eine Katastrophe war der Anschlag nur für das Opfer und für die Täter, nicht aber für die politische Entwicklung in Athen. Von den posthumen Ehren hatten die beiden Tyrannenmörder denn auch nicht mehr viel. Ein Schock, ja tatsächlich auch eine Katastrophe war die Ermordung des Königs Philipp II. von Makedonien im Jahr 336 v. Chr. – jedenfalls für all diejenigen, die mit ihm sympathisierten und die große Hoffnungen in ihn setzten. Unter seiner Regie waren die Makedonen, die bis dahin eine überwiegend passive Rolle in der großen Politik gespielt hatten, zur führenden Macht in ­Griechenland geworden – und dies mit überwiegend militärischen Mitteln. Die 114

Herrschaft der Makedonen bedeutete das praktische Ende der freien und ­souveränen Polis, auch wenn Philipp sich alle Mühe gab, die Griechen auf seine Seite zu bringen. Als Einstandsgeschenk versprach er ihnen die Befreiung der Griechen in Kleinasien von der Herrschaft der Perser. Dieses Vorhaben brachte ihm jedenfalls dort viel Beifall ein. Doch das abrupte Ende des ambitionierten Monarchen kam 336 v. Chr., und dies unter spektakulären Umständen. Am Königshof fand die Hochzeit von Philipps Tochter Kleopatra mit Alexander von Epirus statt. Der Mörder vollbrachte seine Tat in aller Öffentlichkeit. Es handelte sich um Pausanias, einen Leibwächter des Königs. Doch allen war klar, dass dieser Pausanias nicht aus eigenem Antrieb handelte. Wer den Auftrag zum Attentat gegeben hatte, ist bis heute ungeklärt. Die Liste der Verdächtigen ist lang und reicht von Philipps Ehefrau Olympias über seinen Sohn Alexander, den man später „den Großen“ nannte, bis hin zum Perserkönig. Alle hatten sie ihre Motive, alle stehen bis heute im Verdacht, den Mord an Philipp geplant und in Auftrag gegeben zu haben. Doch an dieser Stelle kommt es nicht auf die Beantwortung dieser Frage an. Wichtiger sind die historischen Konsequenzen. Mit Philipp II. starb der Architekt der makedonischen Großmachtbildung, starb weiterhin die Integrationsfigur für Adel, Soldaten und Volk, starb derjenige, der der makedonischen Politik im Alleingang den Kurs vorgegeben hatte. Dennoch kam es nach Philipps Tod nicht zum völligen innenpolitischen ­Zusammenbruch. Dies lag an dem entschiedenen Vorgehens seines Sohnes ­Alexander, der unverzüglich das Heft des Handelns ergriff. Als Erbe und Nach­folger Philipps beseitigte er unliebsame Konkurrenten und verstand es auf der anderen Seite, alte Freunde und Ratgeber des ermordeten Königs für sich zu gewinnen. Eine Katastrophe drohte jedoch in Griechenland. Hier wurden sofort jene Kräfte wach, die sich mit der makedonischen Herrschaft nur so lange hatten abfinden können, wie Philipp noch am Leben gewesen war. Unter der Führung der Stadt Theben, die noch einige Jahrzehnte zuvor selbst eine griechische Großmacht gewesen war, probten die Griechen den Aufstand gegen die Herrschaft der Makedonen, mit dem Ziel, die alte Freiheit wiederzugewinnen. Aus der Sicht Alexanders entwickelten sich die Dinge tatsächlich bedrohlich. In vielen Städten wurden die von den Makedonen eingesetzten Regierungen gestürzt. Dazu aktivierte man die militärischen Kontingente. Doch auch hier handelte Alexander schnell und entschlossen, um es nicht zur Katastrophe kommen zu lassen. Der Aufstand der Thebaner und der mit ihnen verbündeten Städte wurde brutal niedergeschlagen. Vor allem die Rädelsführer aus Theben bekamen den Zorn des neuen Königs der Makedonen 115

zu spüren: Die Stadt Theben wurde dem Erdboden gleichgemacht. Geschont wurde allein das Haus des Dichters Pindar. So endete der Tod Philipps nicht für die Makedonen, sondern für die Thebaner mit einer Katastrophe.

Todesfälle normaler Art Alexander der Große wurde zum großen Eroberer. In knapp zehn Jahren unterwarf er mit seiner Armee fast ganz Asien, wurde er zum Zerstörer des mächtigen Reiches der Achämeniden. Erst am Indus endete der Feldzug, und dies auch nur deshalb, weil sich die Soldaten weigerten, Alexander weiter zu folgen. Doch auch so wurde der Makedone eine historische Persönlichkeit der Superlative: Niemals in der Geschichte hat jemand in jüngeren Jahren in kürzerer Zeit ein größeres Reich erobert. Bei Alexander ging alles sehr schnell, auch das Leben: Er starb mit gerade einmal 32 Jahren, am 10. Juni 323 v. Chr., in Babylon. Über die Todesursache wird bis heute spekuliert. Malaria und Lungenentzündung werden als mögliche Krankheiten genannt, und natürlich hat die antike Gerüchteküche auch einen Giftmord im Angebot. Wie aber wirkte sich der Tod Alexanders politisch aus? War sein Tod eine politische Katastrophe? Immerhin war Alexander die große Integrationsfigur gewesen, das Reich, das er geschaffen hatte, war ganz auf seine Person zugeschnitten. Tatsächlich gehört die Zeit nach dem Tod Alexanders zu den unruhigsten, die es in der gesamten Antike gegeben hat. Bekannt ist diese Phase unter dem Namen „Diadochenkriege“, das heißt die Kriege der „Nachfolger“ Alexanders. Indes hatte Alexander keinen legitimen Nachfolger, sieht man einmal von einem zum Zeitpunkt seines Todes noch gar nicht geborenen Sohn ab. Die Nachfolger, die sich nun mehrere Jahrzehnte lang erbittert bekriegten, waren die Generäle und Mitstreiter Alexanders und dann auch, weil die Kämpfe so lange dauerten, deren Erben und Epigonen. Das Ziel aller an diesen Auseinandersetzungen Beteiligten war es in der ersten Phase nach dem Tod Alexanders, dessen Nachfolge im gesamten Reich anzutreten. Als sich dieses Ziel nicht realisieren ließ, waren alle bestrebt, wenigstens einen Teil des riesigen Alexander-Reiches unter ihre Kontrolle zu bringen. Das Ganze vollzog sich in dauerhaften, erbittert geführten militärischen Auseinandersetzungen, die nicht nur Tausenden von Soldaten, sondern auch einem nicht unerheblichen Teil der Zivilbevölkerung auf den Schauplätzen der gewaltsam ausgetragenen Rivalitäten das Leben kosteten. Das war vor allem der Fall, wenn, was häufig 116

In der alten phrygischen Königsstadt Gordion zerschlug Alexander den berühmten ­„Gordischen Knoten“ – gemäß eines Orakelspruchs die Garantie für die Eroberung Asiens

vorkam, einzelne Städte belagert und dabei partiell ausgehungert oder zerstört wurden. Das politische, wirtschaftliche und soziale Leben war für einige Jahre paralysiert – und das in einem geographischen Radius, der sich von Griechenland über Kleinasien, Ägypten und den Vorderen Orient bis ins mittlere Asien erstreckte. Für die Menschen war die Ära der Diadochen eine Zeit des permanenten Chaos, der Unsicherheit, der Not und des Elends. Es sollte bis über 50 Jahre nach dem Tod Alexanders dauern, bis sich die Dinge endgültig konsolidiert und stabilisiert hatten. Dann bildeten sich drei Großreiche (das Reich der Seleukiden, das Reich der Antigoniden, das Reich der Ptolemäer) heraus, die neben einigen kleineren Mächten wie vor allem Pergamon in der Folgezeit das politische Geschehen diktierten. Es begann die Ära des – nach einer Wort­ prägung des deutschen Historikers Johann Gustav Droysen – „Hellenismus“, in der die Geschichte von einem bemerkenswerten Kulturtransfer zwischen dem Okzident und dem Orient geprägt gewesen ist. Diese Phase des Hellenismus, die bis zur Eroberung der neu entstandenen monarchisch regierten griechisch117

makedonischen Territorialstaaten durch die Römer dauerte (am längsten konnte sich das ptolemäische Ägypten halten, das erst 30 v. Chr. römisch wurde), sieht heute kein Historiker mehr als eine Epoche des Niedergangs an. Solche katastrophischen Anwandlungen hatten jedoch noch viele Historiker des 19. Jahrhunderts, insbesondere deutscher Provenienz, die es nicht verwinden konnten, dass die glorreiche „klassische“ Zeit nun endgültig vorbei war. Für die antiken und modernen Anhänger des klassischen Griechenland war und ist Athen das Aushängeschild der griechischen Glanzzeit des 5. Jahrhunderts v. Chr. Und gleichsam der Repräsentant dieser Kulturmacht Athen war Perikles. Geboren um 495 v. Chr., wurde der Abkömmling der angesehenen Adelsfamilie der Alkmaioniden zur politisch führenden Kraft in Athen. Zwar war die Polis Athen demokratisch organisiert, aber schon diese erste Demokratie der Weltgeschichte erbrachte den Nachweis, dass innerhalb einer solchen Ordnung einzelne Persönlichkeiten über längere Zeiträume hinweg die Politik bestimmen können. Insgesamt 15 Jahre lang bekleidete Perikles das Amt des Strategen, neben dem Archontat das höchste Amt, das der demokratische Staat Athen zu vergeben hatte. Das Volk hatte so viel Vertrauen in Perikles, dass es ihn immer wieder wählte, Jahr für Jahr. Perikles wurde zur Lichtgestalt, zum Vorzeige-Athener, der nicht nur den politischen Kurs bestimmte, sondern die attische Metropole auch kulturell auf Hochglanz brachte. Die viel bewunderten Bauten auf der Akropolis – Parthenon, Erechtheion, Nike-Tempel, Propyläen – entstanden unter seiner Ägide. Der Demokratie verhalf er zum endgültigen Durchbruch, indem er, gemeinsam mit seinem politischen Mitstreiter Ephialtes, den Areopag, den alten, immer noch einflussreichen Adelsrat, definitiv entmachtete. 429 v. Chr. starb Perikles als eines der vielen Opfer der verheerenden Pest, von der Athen im Jahr zuvor erfasst worden war. Was bedeutete der Tod dieser Größe für die Stadt und für Griechenland? Riss er eine solche Lücke, dass man von einer „Katastrophe“ sprechen kann? In den antiken Quellen gibt es angesichts seiner Erfolgsbilanz erstaunlich viel Kritik an Perikles. Die Liste der Vorwürfe ist lang und reicht von seinem politischen Leben bis in sein Privatleben. Er habe Günstlingswirtschaft betrieben, Gelder veruntreut (und zwar die Gelder des Delisch-Attischen Seebundes, die zur Abwehr der Perser gedacht waren und die Perikles für die Finanzierung der Akropolis-Bauten einsetzte), Athen außenpolitisch in gefährliche Gewässer gesteuert. Ganz konkret sah er sich dem Vorwurf ausgesetzt, Athen in den „Peloponnesischen Krieg“ mit dem ­großen Rivalen Sparta getrieben zu haben. Auch moderne Historiker teilen ­diese Ansicht. Der Krieg brach 431 v. Chr. aus und dauerte bis 404 v. Chr., also 118

27 Jahre lang. Am Ende hatte Sparta gesiegt, Athen seinen Status als Großmacht verloren. Aus dieser Perspektive kann der Tod des Perikles zu Beginn des Krieges nicht als Katastrophe angesehen werden, wenn er denn wirklich der aggressive Kriegstreiber gewesen sein sollte – der er allerdings kaum gewesen ist. Der Tod des Perikles beraubte Athen einer Integrationsfigur, brachte Kräfte an die Spitze des Staates, die, wie sein Nachfolger Kleon, einen radikalen, offensiven Kurs gegen Sparta fuhren, mit der Folge, dass die athenische Außenpolitik jene Besonnenheit und Weitsicht verlor, durch die sie sich in der Ära des Perikles ausgezeichnet hatte. In diesem Sinne darf der Tod des Perikles zu den politischen Katastrophen der Antike gezählt werden. Dies war offenbar auch die Ansicht der Zeitgenossen, wenn man dem – teilweise von zeitbedingtem Pathos erfüllten – Bericht Plutarchs (Per. 39) trauen darf: „Die Ereignisse öffneten den Athenern bald die Augen über den Verlust, den sie erlitten hatten, und sie machten kein Hehl daraus, wie sehr sie Perikles zurücksehnten. Solange er lebte, hatten viele seine Macht als drückende Bürde empfunden, unter der ihre Energien hätten verkümmern müssen. Sobald er ihnen aber nicht mehr im Wege stand und sie andere Redner und Demagogen am Werke sahen, fanden sich dieselben Männer in der Überzeugung zusammen, dass sich noch nie in einem Charakter hohes Selbstgefühl mit größerer Mäßigung, freundliche Güte mit würdevollerem Ernst gepaart habe. Seine viel beneidete Machtstellung aber, die man früher Monarchie und Tyrannis genannt hatte, war, wie sich jetzt erwies, ein schützendes Bollwerk des Staates gewesen. Von nun an riss in ihm jene schrankenlose Verderbnis und Gemeinheit ein, die sich bis dahin ohnmächtig hatte verbergen müssen. Denn Perikles hatte sie zurückgedrängt und dadurch verhindert, dass sie sich entfalten und zum unheilbaren Übel auswachsen konnte.“

Der Tod des Mark Aurel Mark Aurel – oder, korrekter, Marcus Aurelius – gilt als ein „guter“ Kaiser im Reigen der römischen Herrscher. Er regierte von 161 bis 180 n. Chr., war ein gewissenhafter Monarch und hatte zugleich ein Faible für die stoische Philosophie. Gleichwohl hatte er sich mit den ersten Vorboten der Völkerwanderung auseinanderzusetzen. Länger als ihm recht war, musste er an der Donaugrenze weilen und mit seinen Truppen die germanischen Stämme der Markomannen, Quaden und Sarmaten bekämpfen. Mark Aurel starb am 17. März 180, wahrscheinlich in der Nähe des heutigen Wien, jedenfalls nicht in der Reichshauptstadt Rom. Vermutlich wurde er Opfer der in seiner Regierungszeit grassierenden Pest. 119

Über den Tod des Mark Aurel liefert die – freilich trübe – Quelle der Historia Augusta, eine spätantike Sammlung von Kaiserbiographien, einige detaillierte Informationen (MA 28). Der Autor lässt Mark Aurel philosophisch sterben, indem er seinen um das Krankenlager versammelten Freunden sagt: „Was weint ihr um mich, statt vielmehr an die Pest und das Massensterben zu denken?“ Am siebten Tag ließ er nur noch seinen Sohn Commodus vor, den er aber gleich wieder wegschickte, um ihn nicht anzustecken. Dann starb er, und die Historia Augusta schickt noch ein Gerücht hinterher: „Es heißt, er habe, da er die Entwicklung des Sohnes voraussah, wie sie nach seinem, des Vaters, Tod eingetreten ist, dessen Tod gewünscht, damit dieser nicht, nach seinen eigenen Worten, einem Nero, Caligula und Domitian gleiche.“

Tatsächlich war die Herrschaft des Commodus ein Kontrast zu der Regierung seines Vaters, wie er schärfer nicht sein konnte. Commodus entwickelte sich zu einem Tyrannen und Despoten, der wenig übrig hatte für die konziliante Politik seines Vaters. Mark Aurel hatte immer auf ein gutes Verhältnis zu den Senatoren geachtet, Commodus stützte sich ganz auf die Soldaten und die Praetorianer. Es gab zahlreiche Verschwörungen gegen ihn, einer letzten fiel er am 31. Dezember 192 zum Opfer. Auch wenn man berücksichtigen muss, dass Commodus in den vorliegenden Quellen auch deswegen so negativ porträtiert wird, um seinen ­Vater umso glänzender dastehen zu lassen, kann kein Zweifel daran bestehen, dass seine Herrschaft für den römischen Staat alles andere als segensreich gewesen ist, ja sogar den Namen „Katastrophe“ verdient, weil mit ihm die stabile Linie römischer Kaiser endete, die mit Traian ihren Anfang genommen und mit Hadrian, Antoninus Pius und Mark Aurel ihre Fortsetzung gefunden hatte. Und so fest gefügt war die staatliche und soziale Ordnung in Rom nicht mehr, als dass sie, wie früher bei Caligula oder Nero, einen Willkürherrscher ohne weiteres verkraften konnte. Die Reichskrise des 3. Jahrhunderts war nicht nur eine ­Kaiserkrise, sondern hatte vielfältige Ursachen. Doch Commodus hatte einen nicht geringen Anteil daran, dass Roms beste Zeit nun vorüber war.

Umstürze, Bürgerkriege, Revolutionen Politische Katastrophen traten in der Antike nicht nur in Form von Attentaten, Morden oder Todesfällen in Erscheinung. Ebenso sorgten Umstürze, Bürgerkrieg und Revolutionen für Turbulenzen. In Rom war die politische Ordnung eher stabil, so dass sich die Betrachtung des Phänomens der politischen Kata120

strophe vor allem auf den Bereich der griechischen Welt konzentriert. Rom war zunächst eine Monarchie gewesen, als etruskische Könige über die Stadt am Tiber herrschten. Dann erfolgte um 500 v. Chr. der Übergang zur Republik, jedoch nicht, wie die römische Überlieferung vermitteln will, auf revolutionärem, sondern auf evolutionärem Weg. Der letzte König wurde nicht gewaltsam vertrieben, sondern man machte Schluss mit der Praxis, dass einer zeitlich unbegrenzt herrschten durfte, indem man die Amtszeit auf ein Jahr reduzierte. Das hat nichts Revolutionäres und schon gar nichts Katastrophales an sich. Die Republik war eine streng aristokratische Ordnung, innerhalb derer sich in den sogenannten Ständekämpfen die aus den Eliten der Patrizier und der Plebejer entstandene Nobilität etablierte. Jedoch spricht man in Bezug auf die Zeit zwischen 133 und 44 v. Chr., nach dem Vorbild von Theodor Mommsen, von der „Römischen Revolution“. Tatsächlich war die Zeit zwischen den Gracchen und der Ermordung Iulius ­Caesars von gewaltsamen Auseinandersetzungen, von politischen Morden und einer Serie von Bürgerkriegen geprägt – mit teilweise katastrophalen Folgen für Politik und Gesellschaft. Eine Revolution war dies indes nicht, jedenfalls nicht dann, wenn man den neuzeitlichen Revolutionsbegriff zugrunde legt. Der Übergang von der Republik zur monarchischen Ordnung des Prinzipats, initiiert durch den ersten Kaiser Augustus, war das Ergebnis heftiger, verlustreicher Bürgerkriege gewesen. Im Gegensatz zu Caesar verstand es Augustus jedoch, seiner Monarchie einen moderaten, auch das politische Stilempfinden der Eliten berücksichtigenden Anstrich zu geben. Die römische Kaiserzeit war, aufgrund einer solchen Mitgift, frei von politischen Katastrophen, jedenfalls, was das politische System betrifft. Ganz anders verhielt es sich in der griechischen Staatenwelt. Hier gab es in klassischer Zeit mehrere Hunderte freier, jeweils autonomer Stadtstaaten, in ­denen häufig genug um die richtige politische Ordnung gerungen wurde. Diese Auseinandersetzungen waren nicht selten gewaltsamer Natur. Die vorherrschende politische Ordnung war die Oligarchie. Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. lag das Modell der athenischen Demokratie vor. So kam es immer wieder zu internen Konflikten zwischen Demokraten und Oligarchen oder auch zwischen Demokraten bzw. Oligarchen untereinander. Das führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, für die die Griechen den Namen „Stasis“ prägten. Die klassische Beschreibung einer solchen Stasis hat der griechische Historiker Thukydides am Beispiel eines Bürgerkriegs in der Polis Kerkyra im Jahr 427 v. Chr., zu Beginn des Peloponnesischen Krieges, geliefert (3,70–84). Hier kam es zwischen Oligarchen und Demokraten zu blutigen Auseinandersetzungen 121

katastrophalen Ausmaßes, wobei auch die außenpolitischen Konstellationen eine wichtige Rolle spielten. Für diese Zustände trugen nicht irgendwelche Natur­gewalten die Verantwortung, sondern der Mensch ganz allein. Thukydides ­veranlassten diese Vorgänge zu einer allgemeinen Reflexion über Wesen und Bedeutung von Bürgerkriegen (3,82): „So ins Unmenschliche steigerte sich dieser Bürgerkrieg und wurde desto stärker so empfunden, als er der allererste dieser Art war. Später jedoch ergriff das Fieber so ziemlich die gesamte griechische Welt, da in den zerrissenen Gemeinwesen allerorten die Volksführer sich um Athens Eingreifen bemühten und die Adligen um Spartas. Solange noch Frieden war, mochte es wohl an Vorwänden fehlen, auch an Gelegenheit, sie zu Hilfe zu rufen. Als aber der Krieg erklärt war und damit die Bündnisse beiden Seiten wichtig wurden, die Schwächung der gegnerischen und dadurch zugleich Neugewinn eigener, war für jeden geplanten Umsturz fremde Hilfe leicht zu erhalten. So brach in ständigem Aufruhr viel Schweres über die Städte herein, wie es zwar geschieht und immer wieder sein wird, solange der Mensch sich vom Wesen her gleich bleibt, aber doch schlimmer oder harmloser und in immer wieder anderen Formen, wie es jeweils der Wechsel der Umstände mit sich bringt. Denn im Frieden und Wohlstand ist die Denkart der Menschen und ganzer Völker besser, weil keine aufgezwungenen Notwendigkeiten sie bedrängen. Aber der Krieg, der das leichte Leben des Alltags aufhebt, ist ein gewalttätiger Lehrer und stimmt die Leidenschaften der Menge nach dem Augenblick.“

Für Kerkyra endete der Bürgerkrieg in einem Blutbad. Und Thukydides hat keine positive Botschaft parat: Der Mensch ändert sich nicht, er wird in der Zukunft immer wieder so handeln. So wird es immer auch politische Katastrophen geben. Überblickt man den weiteren Verlauf der Geschichte bis in die Gegenwart, wird man nicht umhinkommen, dem berühmten Historiker Recht zu geben.

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7. Finanzkatastrophen Finanzkatastrophen in der Antike? Der Börsencrash von 1929 war eine Finanzkatastrophe globalen Ausmaßes. In der Gegenwart veranlasst die „Euro-Krise“ viele Experten und Politiker dazu, ein katastrophales Szenario an die Wand zu malen. Aber gab es auch in der Antike wirtschaftliche und finanzielle Katastrophen, die die Fundamente ganzer Staaten zum Wanken brachten? Hier ist zunächst Vorsicht und Behutsamkeit angebracht. Die antiken Staaten – und das gilt gleichermaßen für die griechischen Poleis, die hellenistischen Reiche und das Imperium Romanum – waren in wirtschaftlicher und finanzpolitischer Hinsicht nicht in komplexe globale Strukturen eingebunden, wie es in der Moderne der Fall ist.

Römische Republik Am ehesten war das Römische Reich für ökonomische Krisen und Katastrophen anfällig. Immerhin erstreckte sich dieses Imperium über die gesamte Mittelmeerwelt und umfasste auch Gebiete im nördlichen und mittleren Europa. Es gab in diesem Imperium ein einheitliches Währungssystem, und es gab Gruppen in der Gesellschaft, denen an einer Maximierung ihres Profits gelegen war. Dazu gehörten die Unternehmer und die Bankiers, vor allem aber die publicani. So hießen in der Zeit der römischen Republik jene Geschäftsleute, die für den Staat Geschäfte abwickelten – sei es als Pächter von staatlichen ­Besitzungen wie etwa den Bergwerken, sei es (vor allem) als Organisatoren der Einnahmen aus den römischen Provinzen. Der Staat erhob die Steuern nicht direkt, sondern verpachtete sie an die publicani, die danach zusehen mussten, dass sie ihre Ausgaben wieder hereinholten. Natürlich wollten sie auch Gewinn machen, und so pressten sie häufig genug aus den Provinzen so viel Geld h ­ eraus, dass die Bevölkerung schwer darunter zu leiden hatte. Insbesondere in Kleinasien trieben die Steuerpächter ihre spekulativen Geschäfte auf die Spitze. Die römische Herrschaft war daher extrem unpopulär. Diese Stimmung machte sich der pontische König Mithradates VI. zunutze. Über mehrere Jahre hinweg wurde er im Osten zum gefährlichsten Gegner des römischen Herrschaftssystems. 88 v. Chr. sollen bei der sogenannten „Ves123

per von Ephesos“ 80.000 Römer und Italiker umgebracht worden sein, nicht zuletzt, weil diese hier erfolgreiche Finanzgeschäfte betrieben. Der Senat schickte Licinius Lucullus als verantwortlichen Feldherrn nach Kleinasien, der zwar einige militärische Erfolge verbuchen konnte, jedoch innenpolitisch keinen großen Rückhalt hatte. So wurde er 66 v. Chr. von dem populären Pompeius abgelöst. Für ihn hatte sich besonders der begabte Redner Cicero eingesetzt, der sich von dieser Hilfestellung einen Schub für seine eigene Karriere erhoffte. So hielt er in der Volksversammlung eine große, komplett überlieferte Rede „Über den Oberbefehl des Gnaeus Pompeius“. In dieser Rede präsentierte er eine ganze Reihe von Argumenten, um das Volk davon zu überzeugen, dass Pompeius der beste Mann sei, um die schwierige Lage in Kleinasien zu bewältigen. Denn die Aktionen des Mithradates hatten auch, wie Cicero in einer wichtigen Passage seiner Rede (19) betont, zu einer schweren Krise nicht nur an den Geldmärkten in Kleinasien, sondern auch in der Finanzmetropole Rom gesorgt: „Die publicani, ehrenwerte, hoch angesehene Männer, haben Spekulationskapitalien in jene Provinz gesteckt, deren Hab und Gut euch an und für sich nicht gleichgültig sein darf. Wenn wir nämlich in den Tributen immer die Lebenskraft des Staates erblickt haben, dann dürfen wir den Stand, der sie verwaltet, gewiss mit Recht als die Stütze der beiden anderen bezeichnen. Ferner treiben fleißige, tüchtige Männer aus den beiden anderen Ständen teils selbst in Asien Handel, und ihr müsst euch um sie dort in der Ferne kümmern, teils haben sie gewaltige Geldsummen in diese Provinz investiert. Euer Mitgefühl also verpflichtet euch, eine große Zahl von Mitbürgern vor Unglück zu bewahren, eure Klugheit, zu erkennen, dass das Unglück vieler Mitbürger notwendig Unglück für den Staat nach sich zieht. Denn erstens verschlägt es wenig, dass ihr den publicani die verlorenen Gefälle danach durch den Sieg zurückgewinnt. Weder werden dieselben Leute wegen ihrer Verluste die Mittel zur Erneuerung der Pacht besitzen, noch werden andere aus Angst Lust dazu haben.“

Nach diesem Appell an die Bürger, dem Schicksal der von Mithradates bedrohten Mitbürger in Kleinasien die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, widmet sich Cicero den Rückwirkungen der kleinasiatischen Geschäfte der Steuerpächter auf den römischen Geldmarkt – eine Passage, die sich in Terminologie und Argumentation sehr modern und nicht etwa fast 2.080 Jahre alt anhört. Die Textstelle kann als eine der wenigen antiken Bezüge auf eine sich anbahnende Finanzkatastrophe globalen Ausmaßes angesehen werden: „Zum Zweiten dürfen wir, durch Schaden klug geworden, auf keinen Fall die Lehre vergessen, die uns dasselbe Asien und derselbe Mithradates zu Anfang des Krieges in Asien erteilt hat. Damals, als viele Leute in Asien gewaltige Vermögenswerte verloren,

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stockte bekanntlich in Rom der Zahlungsverkehr, und so brach der Kreditmarkt zusammen. Unmöglich können ja auch in einem Staat viele Leute Geld verlieren, ohne noch mehr Leute mit sich in den Bankrott zu ziehen. Vor dieser Gefahr gilt es den Staat zu schützen. Denn glaubt mir – ihr seht es ja selbst – das hiesige Geld- und Kredit­wesen, das hier in Rom, auf dem Forum, seinen Mittelpunkt hat, ist eng verflochten mit jenen Vermögenswerten in Asien. Dort kann es nicht zum Krach kommen, ohne dass nicht auch hier der Geldmarkt, von denselben Stößen erschüttert, zusammenbricht. Darum müsst ihr euch fragen, ob ihr schwanken dürft, euch mit allem Eifer auf diesen Krieg zu werfen, in dem der Ruhm eures Namens, das Wohlergehen unserer Bündnispartner, gewaltige Einnahmequellen und das Vermögen zahlreicher Mitbürger, an dem auch der Staat ein Interesse hat, verteidigt werden.“

Die Krise in Kleinasien führte nicht zu einem Kollaps der römischen Finanzmärkte, auch wenn Cicero dieses Gespenst wortreich an die Wand malte und damit im Übrigen bei seinen Mitbürgern auf Zustimmung stieß. Pompeius erhielt den Oberbefehl, er konnte Mithradates besiegen, und die römischen Steuerpächter konnten in der Provinz wieder ihren lukrativen Geschäften nachgehen.

Währungskrise in der Kaiserzeit Die römische Kaiserzeit kann in der Retrospektive auch in wirtschaftlicher Hinsicht als eine Blütezeit erscheinen. Dies ist im Wesentlichen auch richtig, jedoch nur bis zur ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Dann begann sich im Römischen Reich eine schwere Krise bemerkbar zu machen, die viele, vor allem aber auch ökonomische und finanzpolitische Ursachen hatte. Vor allem der Westen des Reiches bekam diese Krise zu spüren, während die Wirtschaftskraft im Osten, insbesondere in den Städten, nicht sonderlich nachließ. Die wirtschaftlichen Probleme resultierten zu einem nicht unbeträcht­ lichen Teil aus der exzessiven Ausgabenpolitik, die die römischen Kaiser und ihre Bürokratien in den „guten“ Zeiten zuvor betrieben hatten. Die Bedrohung der Grenzen an Rhein, Donau und Euphrat erforderte dazu hohe Investitionen für das Militär. In der Folge kam es zu einem anhaltenden Verfall der römischen Währung durch eine chronische, von den Kaisern nicht zu bremsende Inflation. In der Konsequenz ergab sich daraus ein fast totaler Kollaps der Geldwirtschaft, diesmal tatsächlich mit katastrophalen Ausmaßen. Das ging so weit, dass die professionellen Geldwechsler sich weigerten, Münzen anzunehmen. Denn von dem einstigen Prinzip des staatlich garantierten Verhältnisses zwischen dem Metallgehalt der Münzen und deren normiertem Gewicht war man längst abgewichen. Weil das Geld praktisch wertlos ge­ 125

worden war, kehrten viele Menschen zum archaischen Tauschgeschäft zurück, das in diesen schwierigen Zeiten den unschätzbaren Vorteil hatte, ganz ohne Geld zu funktionieren. Erst Kaiser Diokletian, der 284 n. Chr. an die Macht kam, setzte bei seinem allgemeinen Krisenmanagement den Hebel auch bei der Geld- und Wirtschaftspolitik an. So konnte eine finanzielle Katastrophe verhindert werden. Gescheitert ist er allerdings mit dem Versuch, dirigistisch in die Preis- und Lohnpolitik einzugreifen. Das berühmte Höchstpreisedikt von 301 n. Chr. legte für alle Handelswaren, Lebensmittel, gewerblichen Erzeugnisse, Rohstoffe und Dienstleistungen gesetzliche Maximalpreise fest. Diokletian wollte auf diese Weise wirtschaftliche Stabilität erreichen. Dieses Ziel hat er jedoch klar verfehlt, denn nun entstand im ganzen Römischen Reich ein florierender Schwarzmarkt.

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8. Brandkatastrophen In Rom gab es zwei Gottheiten, die für das Feuer zuständig waren. Vesta war die Göttin des „guten“ Feuers, ihre Priesterinnen, die Vestalinnen, hüteten auf dem Forum Romanum das heilige Feuer, das die Unversehrtheit und das Glück der Stadt Rom garantieren sollte. Vulcanus war der Gott des „schlechten“, des zerstörerischen Feuers. Diese Bedeutung zeigt bereits sein Name an, der unverkennbar von dem Wort „Vulkan“ abgeleitet ist. Das Feuer der Vulkane erlebten die Römer am Beispiel des Vesuv und häufiger noch des Aetna in seiner ganzen destruktiven Kraft. Um den Gott Vulcanus zu besänftigen und das Feuer nicht zu einer tödlichen Gefahr werden zu lassen, ließen sich die Römer allerlei einfallen. Dazu gehörten Opfer, kultische Zeremonien und Rituale vielfältiger Art. So wurden beispielsweise am Volcania-Fest, das regelmäßig im August stattfand, lebende Fische aus dem Tiber ins Feuer geworfen.

Der Brand von Rom Das Feuer, das am 18. Juli des Jahres 64 n. Chr. in der Weltstadt Rom ausbrach, konnte nur von Vulcanus kommen. Es handelte es sich um die schlimmste Brandkatastrophe, die die stolze Metropole am Tiber bis dahin in ihrer gesamten Geschichte erlebt hatte. Das Feuer wütete sieben Tage lang und zerstörte ganze Stadtteile. Berühmtheit erlangte diese Katastrophe aber auch aus zwei anderen Gründen. Zum einen regierte damals in Rom der exzentrische Kaiser Nero, dessen Umgang mit der Katastrophe, vorsichtig ausgedrückt, ungewöhnlich war. Und zum anderen gerieten als vermeintlich Schuldige die Christen der Stadt Rom in das Visier der Öffentlichkeit, mit einem für sie außerordentlich erschreckenden Ende. Nero regierte seit 54 n. Chr. Damals hatte er als gerade einmal 17-Jähriger die Nachfolge des Claudius angetreten, dessen vierte und letzte Ehefrau Agrippina zugleich die Mutter Neros war. Der Name „Nero“ steht bis heute für das dekadente Rom der Kaiserzeit, der Kaiser selbst gilt als Inbegriff des Despoten und Tyrannen. Tatsächlich brachte er es in den 14 Jahren, in denen er das Römische Reich lenkte, auf ein ansehnliches Sündenregister. Zahlreiche Morde in der Verwandtschaft (auch die eigene Mutter Agrippina gehörte zu seinen Opfern) und in den senatorischen Kreisen gehen auf sein Konto. Befremdlich erschien 127

den Konservativen unter den Eliten auch die Passion des Kaisers für die Musik, die daran gipfelte, dass er öffentlich als Sänger in Erscheinung trat. Nero wäre eigentlich lieber Künstler als Kaiser gewesen, doch schätzte er die Position des Herrschers sehr, da sie ihm alle Freiheiten ließ. Der Staat, die Politik, die Mitbürger spielten für ihn nur eine sehr untergeordnete Rolle. Diesem Kaiser Nero war also alles zuzutrauen, auch, dass er seine eigene Hauptstadt in Brand setzte, um aus den Trümmern eine schönere, die Stadt seiner Träume auferstehen zu lassen. Tatsächlich kam sogleich, noch während das Feuer tobte, der Verdacht auf, der Kaiser höchstpersönlich habe seine Hände im Spiel. Über den großen Brand von Rom im Sommer 64 n. Chr. liegt ein sehr ausführlicher Bericht des römischen Historikers Tacitus vor (ann. 15,38– 44). Dessen Schilderung ist außerordentlich detailliert, sie beruht, aus der Rückschau von etwa 40 Jahren, auf guten Quellen und ist von einer dezent vorgetragenen, aber doch unverkennbaren kritischen Distanz zu Kaiser Nero geprägt. Als Angehöriger der senatorischen Oberschicht hatte Tacitus natur­ gemäß keine positive Einstellung zu Nero, hatte der Kaiser doch alles unternommen, um dieses adlige Führungsgremium in seine Schranken zu weisen und dadurch seine auf Soldaten und die Praetorianer gestützte Macht zu demonstrieren. Tacitus schreibt: „Daraufhin ereignete sich ein Unglück, ob durch Zufall oder die Hinterlist des Kaisers veranlasst, ist ungewiss – die Geschichtsschreiber haben beides berichtet. Jedenfalls war es schwerer und entsetzlicher als alles, was unsere Stadt durch die Gewalt des ­Feuers getroffen hat. Es brach in dem Teil des Circus [Maximus] aus, der zum Palatin und zum Caelius hin gelegen ist. Dort in den Verkaufsbuden, wo die Waren den Flammen Nahrung boten, entstand es, breitete sich vom Wind begünstigt sofort aus und ergriff den Circus in seiner ganzen Länge. Es lagen ja keine mit Brandmauern ver­ sehene Paläste oder mit Mauern umgebene Tempel dazwischen oder sonst etwas, was die Flammen hätte aufhalten können.“

So war es um die Anfänge der Katastrophe bestellt. Über den weiteren Verlauf und über das Schicksal der Menschen teilt Tacitus mit: „Der Brand rückte nun mit Ungestüm weiter vor, stieg zunächst in die Ebene hinab, dann auf die Höhen hinauf und verheerte dann wieder die niedriger gelegenen Teile. So machte er alle Rettungsversuche zunichte, weil er zu schnell voranschritt und die Stadt mit ihren engen, winkligen Straßen und unregelmäßigen Häuserreihen – so war eben das alte Rom – der Gefahr besonders ausgesetzt war. Dazu kamen das Wehgeschrei der verängstigten Frauen, die schwachen Greise und die kleinen Kinder, dazu die Leute, die sich selbst oder anderen helfen wollten, die Kranke wegschleppten oder auf sie warteten. Das Zögern der einen, die Eile der anderen: All dies war hinderlich.

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Immer wieder wurden Leute, die nach rückwärts blickten, durch Flammen von der Seite oder von vorn eingeschlossen. Und floh man nur bis in die nächsten Gassen, so wurden auch diese vom Feuer ergriffen. Selbst die Straßen, die man für zu weit entfernt gehalten hatte, sah man dennoch in der gleichen Gefahr. Am Ende wusste keiner mehr, welche Gegenden er meiden, welche aufsuchen sollte. Man füllt die Straßen, man wirft sich auf den Feldern hin. Manche hatten ihre ganze Habe verloren und nicht einmal für einen Tag zu essen. Manche kamen aus Liebe zu ihren Angehörigen um, die sie nicht retten konnten, obwohl ihnen selbst ein Rettungsweg offenstand. Dabei wagte es keiner, dem Feuer Einhalt zu gebieten, da viele Menschen dauernd Drohungen ausstießen und alle Löschversuche verhinderten. Einige warfen ganz offen Feuerbrände und schrien, sie wüssten wohl, von wem sie dazu den Auftrag hätten. Entweder wollten sie nur hemmungslos plündern oder sie handelten wirklich auf Befehl.“

Mit dieser letzten Bemerkung lenkt Tacitus die Aufmerksamkeit auf Kaiser Nero und dessen Rolle beim Brand von Rom: „Nero war damals in Antium und kehrte nicht eher nach Rom zurück, als bis sich das Feuer seinem eigenen Haus näherte, durch das er den Palatin mit den Gärten des ­Maecenas verbunden hatte. Dennoch konnte nicht verhindert werden, dass der Kaiserpalast, die Gebäude und ihre ganze Umgebung vom Feuer verzehrt wurden. Um das obdachlose und umherirrende Volk zu beruhigen, überließ ihm Nero das Marsfeld und die Bauten des Agrippa. Er ließ sogar seinen eigenen Park öffnen und Baracken errichten, um die hilflose Menge aufzunehmen. Auch wurden aus Ostia und den Nachbarorten Lebensmittel herbeigeschafft. Der Preis des Getreides wurde auf drei Sesterzen herabgesetzt. Diese Maßnahmen, so menschenfreundlich sie auch waren, blieben dennoch ohne Erfolg. Es war nämlich das Gerücht aufgekommen, Nero sei gerade zur Zeit des Brandes der Stadt auf seiner Hausbühne aufgetreten und habe die Zerstörung Trojas besungen, wobei er das gegenwärtige Unglück mit den Zerstörungsszenen der grauen Vorzeit verglich.“

Tacitus versteht es meisterhaft, seiner eigenen Ansicht in verklausulierter Form Ausdruck zu verleihen. Zunächst wird Nero als kompetenter Katastrophenmanager porträtiert, der alle notwendigen Maßnahmen ergreift. Sie sind aber „erfolglos“ – in dem Sinne, dass sie nicht geeignet sind, die Skepsis der Menschen gegenüber Nero zu zerstreuen, zumal dieser während des Feuers den unseligen Troja-Auftritt inszeniert haben soll. Im Weiteren zieht Tacitus eine Schadensbilanz: „Erst am sechsten Tag wurde der Feuersbrunst am Fuß des Esquilin ein Ende bereitet. Man riss nämlich auf große Strecken hin die Gebäude ab, so dass die verheerende Gewalt des Feuers auf freies Feld und gewissermaßen auf leere Luft stieß. Aber die Angst hatte sich noch nicht gelegt, und das Volk wagte es noch nicht, wieder zu hoffen. Und wirklich brach das Feuer wieder aus, und zwar in den Stadtteilen, die freier gelegen

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waren. Dabei war der Verlust an Menschen weniger groß. Dafür stürzten aber die Tempel der Götter und die dem Vergnügen gewidmeten Säulenhallen weithin zusammen.“

Nun macht Tacitus kein Hehl mehr daraus, wie er zu Nero steht (wobei er seine Meinung geschickterweise als die Meinung der Masse erscheinen lässt): „Bei diesem zweiten Brand war Neros Schande noch größer, weil er in den aemilianischen Grundstücken des Tigellinus ausgebrochen war [Tigellinus war der Praefekt der Praetorianergarde und einer von Neros engsten Verbündeten] und es den Anschein hatte, als suche Nero den Ruhm, eine neue Stadt zu bauen und nach seinem Namen zu benennen. Denn von den 14 Stadtteilen Roms blieben nur vier von dem Feuer verschont. Drei waren bis auf die Fundamente niedergebrannt, in den übrigen sieben standen nur noch wenige Trümmer von Gebäuden, zerstört und halb verbrannt.“

Mit Rom brannte nicht irgendeine Stadt. Rom – das war das Herz des Imperiums, mit einer langen, fast 800-jährigen Geschichte. Rom – das bedeutete auch immer, eine urbane und architektonische Visitenkarte der eigenen Leistungs­ fähigkeit vorzulegen. Bereits in den Zeiten der alten Republik wurde gebaut, mehr noch aber unter den Kaisern, die erkannt hatten, dass Baupolitik immer auch Herrschaftspolitik war. Mit der Brandkatastrophe vom Juli 64 n. Chr. wurden viele dieser öffentlichen Bauten ein Raub der Flammen, ebenso wie uralte Sakralbauten: „Die Zahl der vernichteten Paläste, Mietshäuser und Tempel festzustellen, ist nicht einfach gewesen. Jedenfalls sind mit verbrannt worden: das uralte Heiligtum, das Servius Tullus [einer der sieben legendären Könige von Rom] der Luna, der große Altar und Tempel, die der Arkader Euandros dem damals in Rom weilenden Herkulus geweiht hatte, der Tempel des Jupiter Stator, den Romulus stiftete, die Königsburg Numas [ebenfalls einer der sieben Könige] und das Heiligtum der Vesta mit den Penaten [den Hausgöttern] des römischen Volkes. Ferner waren die durch so viele Siege erworbenen Beutestücke vernichtet, die Denkmäler der griechischen Kunst sowie alte und unverfälschte Originale von Büchern großer Schriftsteller … Manche haben auch die Bemerkung gemacht, dass der Brand am 19. Juli begann, am gleichen Tag, an dem auch die Senonen das eroberte Rom in Asche legten.“

Diese letzte Angabe bezieht sich auf den sogenannten „Galliersturm“ des Jahres 387 v. Chr., als Kelten mit dem Senonen Brennus an der Spitze die Stadt Rom eroberten. Derlei Assoziationen und Relationen zwischen katastrophalen Ereignissen waren in der Antike – nicht nur bei den Römern, sondern auch bei den Griechen – sehr beliebt. Dahinter stand die Auffassung, dass Katastrophen nicht zufällig eintraten, sondern dass dahinter eine schicksalhafte, göttliche ­Regie stand. Daher hatten auch immer Mahner und Warner Konjunktur, die 130

aufgrund solcher Berechnungen künftige Katastrophen zu prognostizieren versuchten (so wie heute immer mal wieder das Ende der Welt angekündigt wird). Wer war verantwortlich für diese Brandkatastrophe, der viele Menschen zum Opfer fielen, die viele Römer obdachlos machte und große Teile der Stadt zerstörte? Viele meinten, Nero sei schuld, er selber habe den Befehl gegeben, um eine schönere, seinem eigenen Geschmack entsprechende Stadt bauen zu können und als großer Gründer in die Geschichte des Städtebaus einzugehen. Tatsächlich ging Nero, kaum dass man das Feuer endlich unter Kontrolle gebracht hatte, daran, seine Bauvorhaben in die Tat umzusetzen. Auch dieser Umstand wird von Tacitus nicht verschwiegen: „Übrigens machte sich Nero den Untergang seiner Vaterstadt zunutze und erbaute sich einen Palast, der nicht so sehr durch Gold und Edelsteine, die ja längst etwas Normales und durch Verschwendung Übliches waren, ein Wunderwerk sein sollte als durch Wiesen und Teiche, durch den Wechsel von einsamen Wäldern, freien Plätzen und Ausblicken.“

Der Palast, von dem hier die Rede ist, ist die berühmte Domus Aurea, das „Goldene Haus“ Neros, das heute dank intensiver archäologischer Forschungen im Herzen des antiken Rom wieder besichtigt werden kann. Während Tacitus nur suggestiv, nicht aber explizit eine Verantwortung ­Neros nahelegt, spricht der antike Kaiserbiograph Sueton Klartext. In seiner NeroVita heißt es (38): „Unter dem Vorwand, die Hässlichkeit der alten Gebäude und die Enge und Gewundenheit der Straßen beleidige sein Auge, steckte Nero Rom in Brand. Das konnte jeder mitbekommen: Eine ganze Reihe ehemaliger Konsuln ertappten seine Kammerdiener mit Pechkränzen und Fackeln auf ihrem Grund und Boden, wagten aber nicht, sie anzurühren. Einige Speicher in der Gegend seines Goldenen Hauses, auf deren Baugrund er ganz besonders spekuliert hatte, wurden mit Kriegsgerät zum Einsturz gebracht und dann erst in Brand gesetzt, denn ihr Mauerwerk bestand aus Stein. Sechs Tage und sechs Nächte hindurch wütete diese Feuersbrunst. Dem Volk blieb nichts anderes übrig, als in Grabdenkmälern und bei den Grabhügeln Zuflucht zu suchen. Damals brannten außer unzähligen Mietshäusern auch die Häuser altehrwürdiger Feldherrn nieder, die mit den erbeuteten Rüstungen der Feinde noch geschmückt gewesen waren, und dazu noch die Tempel der Götter, die noch von den Königen und später in den Kriegen gegen Karthago und Gallien gelobt und geweiht worden waren, und alles Mögliche, was sehenswert und einer Erwähnung wert war und die vergangenen Zeiten überdauert hatte.“

Auch Sueton stellt heraus, dass sich Nero während des Infernos als Sänger ­produziert haben soll: 131

„Er schaute sich diesen Brand aus der Ferne, vom Palast des Maecenas aus an. Nach seinen eigenen Worten machte ihn die Schönheit des Brandes glücklich, und er trug in seinem Bühnenkostüm, so wie ihn jeder kannte, einen Gesang über die Eroberung Trojas vor.“

Im Weiteren präsentiert Sueton eine wahre Kumulation an Katastrophen, die sich unter Kaiser Nero ereignet haben sollen. Er unterscheidet dabei zwischen Missetaten, die vom Kaiser selbst ausgingen, und weiteren „Schicksalsschlägen“. Dazu rechnet er eine Pest, „bei der in einem einzigen Herbst 30.000 Begräbnisse in die Bücher der Libitina [der römischen Göttin, die die Einhaltung der Beerdigungspflichten zu überwachen hatte] eingetragen wurden“, weiterhin schwere militärische Niederlagen in Britannien und Syrien. Auch bezüglich ­dieser zweiten Kategorie an Katastrophen wird der Kaiser als Schuldiger ausgemacht, gemäß einer von den frühesten Zeiten bis in die Spätantike nachweisbaren Vorstellung, der grausame und hybride Herrscher fordere Katastrophen aller Art gewissermaßen heraus. Dann sind es die Götter, die den „Dämon in Göttergestalt“ (so nannten byzantinische Autoren den Kaiser Justinian, der ebenfalls nach diesem Raster beurteilt wurde) bestrafen und sein Volk gleich mit. Auch der Historiker Cassius Dio, der etwa 100 Jahre nach Tacitus und ­Sueton sein Geschichtswerk veröffentlichte, hat keinerlei Zweifel daran, dass Nero Rom in Brand gesteckt habe. In seiner Schilderung ist zu lesen (62,16): „Danach verlangte Nero, sich einen zweifellos stets gehegten Wunsch zu erfüllen, nämlich bei Lebzeiten die ganze Stadt sowie das Reich zu vernichten … Und so ­schickte der Kaiser heimlich Männer aus, die sich als betrunken oder auch als anderweitig verbrecherisch ausgeben sollten, und ließ zuerst ein oder zwei oder auch meh­ rere Gebäude in verschiedenen Stadtteilen in Brand stecken, so dass die Leute ganz panisch wurden, da sie weder einen Anfang des Übels herausfinden noch der Heim­ suchung ein Ende bereiten konnten.“

Dio bekräftigt auch die Behauptung der anderen Quellen, dass bei der Bekämpfung des Feuers nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei: „Viele Häuser wurden zerstört, weil niemand half, sie zu retten, ja viele andere wurden gerade noch von den Helfern in Brand gesteckt. Denn die Soldaten einschließlich der Nachtwachen richteten ihr Augenmerk auf Plünderungen und zündeten, anstatt zu löschen, noch weitere Gebäude an.“

Cassius Dio bestätigt außerdem den skurrilen Auftritt Neros während des Feuers: „Während viele Römer, vom Schmerz überwältigt, sich direkt in die Flammen stürzten, stieg Nero zum Dach seines Palastes empor, von wo aus man den besten Überblick

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über den größeren Teil der Brandstellen hatte, legte das Gewand eines Kithara-Spielers an und besang, wie er selbst erklärte, die Einnahme von Troja, wie es jedoch den ­Zuschauern erschien, von Rom.“

Abgesehen von der Uneinigkeit über den Ort, an dem Nero sein Konzert gab, stimmen die Hauptquellen in ihrem Verdacht, der Kaiser habe das Feuer selbst gelegt, überein. Das war sicher auch die Meinung der Zeitgenossen. Derart in die Enge getrieben, sah sich Nero gezwungen, einen Befreiungsschlag zu unternehmen. Es kam darauf an, jemanden zu präsentieren, dem man die Schuld an dem Brand in die Schuhe schieben konnte. Der Blick fiel dabei auf die noch junge Christengemeinde von Rom. Die Christen galten in der römischen Gesellschaft als Außenseiter, weil sie ganz andere Kultpraktiken pflegten und sich nicht an den staatlichen Götterzeremonien beteiligten. Deshalb traute man ­ihnen auch alles zu, bis hin zu der Absurdität, zum Abendessen ein römisches Kind zu verspeisen. Diese Gruppe hielten Nero und seine Berater für geeignete Sündenböcke und Blitzableiter. Sie hatten Rom in Brand gesteckt, weil sie die Menschen hassten und weil sie, wie Religionskundige wussten, die Apokalypse, das Ende aller Dinge, von dem großen Weltenbrand begleitet sahen. Und was war der Brand der Weltstadt Rom anderes als der Brand der Welt? Der Katastrophe für die Stadt und ihre Bewohner folgte die Katastrophe für die Christen. Auch in dieser Hinsicht ist der Historiker Tacitus, weder ein Freund der Christen noch ein Freund Neros, sehr präzise. Zuerst charakterisiert er die Anhänger des christlichen Glaubens in einer für einen Angehörigen der römischen Oberschicht typischen Form (ann. 15,44,3): „Der Name Christus stammt von Christus, der unter Pontius Pilatus hingerichtet worden war. Dieser verderbliche Aberglaube war für den Augenblick unterdrückt worden, trat aber später wieder hervor und verbreitete sich nicht nur in Judäa, sondern auch in Rom, wo alle Gräuel und Abscheulichkeiten der Welt zusammenkommen. Man ergriff zuerst diejenigen, die sich öffentlich als Christen bekannten, dann auf deren Anzeige hin eine gewaltige Menge Menschen, Sie wurden weniger der Brandstiftung als des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht (odium humani generis) überführt. Bei der Hinrichtung wurde auch noch Spott mit ihnen getrieben, indem sie in Tierhäute gesteckt und von wilden Hunden zerfleischt wurden. Andere wurden ans Kreuz geschlagen oder, zum Feuertod verurteilt, nach Einbruch der Dunkelheit als nächtliche Fackeln verbrannt. Für dieses Spektakel hatte Nero seinen eigenen Park zur Verfügung gestellt, und er veranstaltete zugleich ein Circusspiel, wobei er sich in der Tracht eines Wagenlenkers unter das Volk mischte oder auf einem Rennwagen stand.“

Auch Sueton berichtet von den drastischen Sanktionen gegen die Christen, bringt diese aber nicht in einen Zusammenhang mit dem Brand von Rom. 133

­ etrennt voneinander, an zwei ganz unterschiedlichen Stellen, wird über diese G Vorgänge berichtet. Verhält es sich also so: Nero setzte Rom in Brand, die Christen mussten als Schuldige herhalten? Wie es aussieht, waren weder der Kaiser noch die Christen die Brandstifter, obwohl man es ihnen allgemein zutraute. Die Christen hatten überhaupt keinen Grund, in dieser Weise in Erscheinung zu treten, Tausende von Menschen zu töten oder obdachlos zu machen. Und Nero war zwar exzentrisch, aber nicht verrückt – mit einer solchen Tat hätte, das war ihm klar, selbst er die Grenzen des der Bevölkerung Zumutbaren überschritten. So ergibt sich eine gänzlich unspektakuläre Lösung: Das Feuer brach am 19. Juli ganz von selbst aus. Das war in Rom häufiger der Fall, immer wieder ist in den alten Zeiten der Republik, aber auch in der Kaiserzeit von Bränden in der Hauptstadt die Rede. Die Stadt Rom war keine geplante, sondern eine gewachsene Stadt, der zudem die Topographie mit den sieben Hügeln bestimmte Grenzen setzte. Die Straßen waren eng und gewunden, die Häuser standen dicht beieinander. Wenn Augustus behauptete, er habe aus einer Stadt aus Ziegeln eine Stadt aus Marmor gemacht, so galt dies für die prächtigen, repräsentativen Gebäude, nicht aber für die normalen Mietshäuser, drei bis vier Stockwerke hoch, mit Dachstühlen aus Holz, das Dach mit Ziegeln bedeckt. Sehr schnell breitete sich ein Feuer aus, vor allem, wenn, wie an diesem verhängnisvollen Sommertag des Jahres 64, die Winde ungünstig wehten. Und ein Feuer war auch schnell ausgebrochen: In den Wohnungen benutzten die Menschen offenes Feuer zum Kochen und als Beleuchtung Öllampen und Kerzen. Der antike Satiriker Juvenal, Chronist des Stadtlebens in Rom, notierte im 2. Jahrhundert n. Chr. (3. Satire): „Dort [in den Landstädten] sollte man leben, wo es keine Brände gibt, keine Angst in der Nacht.“

Denn wie ist es in der Stadt, in einer der Mietskasernen, wenn es dort brennt? „Schon ruft der Nachbar nach Wasser und schafft seine Habseligkeiten aus dem Haus, und bei dir selbst kommt der Qualm schon aus dem dritten Stock. Du hast aber noch gar nichts gemerkt, denn wenn die Panik im Erdgeschoss ausbricht, dann wird der oberste Mieter mit Sicherheit ein Opfer der Flammen, er, den nur noch die Dachziegel vorm Regen schützen, dort oben, wo die sanften Tauben ihre Eier legen.“

Zum Schutz vor den Bränden, die in der Hauptstadt Rom so häufig waren, ­wurde in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. eine Feuerwehr ins Leben gerufen. Diese war allerdings zunächst privater Natur und bestand aus 500 Sklaven des Marcus Licinius Crassus, des reichsten Mannes von Rom, Mitglied des 134

­ rsten Triumvirats zusammen mit Pompeius und Caesar. Brach irgendwo in Rom E ein Feuer aus, war Crassus sofort mit seinem Löschtrupp zur Stelle. Anstatt den Brand unverzüglich zu bekämpfen, trat er zunächst einmal in Verhandlungen mit dem Eigentümer des brennenden Hauses ein. Im Widerschein der lodernden Flammen und im Krach der einstürzenden Balken machte er ihm die Situation klar: Das Haus werde niederbrennen, womit keinem gedient sei. Er sei deswegen nicht nur bereit, das Feuer zu löschen, sondern auch, das Haus und das Grundstück zu einem – angesichts der Situation nicht exorbitanten – Preis zu kaufen. Die Bereitwilligkeit des Eigentümers, auf das Geschäft einzugehen, stieg in dem Maße, wie sein Haus immer mehr in sich zusammensank. Plutarch berichtet in ­ egen der Unsicherheit des seiner Crassus-Vita (2), sie seien aus „Furcht und w Kommenden“ auf das Angebot eingegangen, und so sei „der größte Teil Roms in die Hände des Crassus“ gelangt. Die erste staatliche Feuerwehr in Rom wurde von Kaiser Augustus gegründet, als Reaktion auf den Umstand, dass es in der Hauptstadt so häufig brannte. Zunächst rekrutierte er eine Truppe, die aus 600 Mann bestand. Deren Aufgabe war nicht nur die Bekämpfung akuter Brände, sondern auch die Prävention durch nächtliche Kontrollgänge. Doch der Erfolg blieb aus. 6 n. Chr. erlebte die Stadt eine verheerende Brandkatastrophe, bei der die kleine Truppe nicht viel ausrichten konnte. Augustus reagierte mit einer umfassenden Reform des Feuerwehrwesens. Das Kontingent wurde nun auf 7.000 Mann aufgestockt, Mitglieder waren Freigelassene, also ehemalige Sklaven. Diese vigiles („Wächter“) wurden militärisch organisiert, indem sieben Abteilungen zu je 1.000 Mann gebildet wurden. Die Stadt Rom bestand aus 14 Regionen, so dass jede dieser sieben Gruppen nun für zwei Regionen zuständig war. Um jederzeit einsatz­ bereit zu sein, wurden die Feuerwehrleute in Kasernen untergebracht, die über die ganze Stadt verteilt wurden. Auch technisch war die Truppe des Augustus bestens gerüstet. Sie arbeiteten nicht nur mit Wassereimern, sondern verfügten über eine hochmoderne Feuerspritze, die im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria von dem griechischen Ingenieur Ktesibios entwickelt worden war und bei der es sich um eine hydraulische Doppelkolben-Pumpe handelte. Das große Feuer von 64 n. Chr. konnte diese Truppe aber weder verhindern noch effizient bekämpfen. Dafür hatte es sich zu weit und zu schnell ausgebreitet. Kaiser Nero aber, das muss zu seiner Entlastung noch hinzu gefügt werden, kümmerte sich, als der Brand nach sieben Tagen endlich vorbei war, nicht nur um seinen neuen Palast. Er traf auch eine Reihe von Maßnahmen, um die ­Wiederholung einer solchen Katastrophe zu verhindern. Erstmals überhaupt in der Geschichte der Stadt Rom wurden städtebauliche Konzepte realisiert, in 135

denen der Brandschutz eine wichtige Rolle spielte. Vor allem kam es darauf an, die Straßen zu verbreitern, einerseits, um ein rasches Übergreifen der Flammen von Haus zu Haus zu verhindern, andererseits, um der Feuerwehr ein schnelleres Eintreffen am Einsatzort zu ermöglichen. Die Höhe der Häuser wurde ­limitiert, die gesetzliche Maximalhöhe lag nun bei 20,65 Metern. Man ließ die Innenhöfe frei und fügte Säulengänge an, um die Frontseiten der Mietshäuser zu schützen. Bis zu einer bestimmten Höhe sollten die Häuser ohne Gebälk, nur aus dem feuersicheren gabinischen oder albanischen Gestein errichtet werden. Weiterhin wurde dafür Sorge getragen, dass die Häuser keine gemeinsamen Wände mehr hatten, sondern ein jedes Haus nach beiden Seiten eigene Mauern. Auch die Privatleute wurden in die Pflicht genommen. Jeder musste jetzt Geräte zum Feuerlöschen in seinem Vorhof bereithalten.

Der Brand von Alexandria Seitdem verfügte die Stadt Rom über die modernste Feuerwehr und die fortschrittlichsten Vorschriften zum Brandschutz in der gesamten antiken Welt. Sie überflügelten damit sogar die Griechen, die besonders in hellenistischer Zeit, also ab dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr., auf technologischem Gebiet Maßstäbe gesetzt hatten. Schon lange vor dem verheerenden Brand von Rom in der Zeit des Kaisers Nero hatte es in der bevölkerungsreichen ägyptischen Metropole Alexandria gebrannt. Hier waren die brandschutztechnischen Voraussetzungen zwar insofern günstiger, als Alexander der Große, der Gründer der Stadt, und die Ptolemäer, die nach Alexander über Ägypten herrschten, die Straßen besonders großzügig angelegt hatten (wenn auch nicht aus praktischen, sondern aus repräsentativen Gründen). 48 v. Chr. herrschte dennoch Großalarm: Die Stadt brannte – jedoch nicht infolge von Unachtsamkeit oder Fahrlässigkeit, sondern weil sich die Stadt im Kriegszustand befand. Unmittelbar beteiligt war der römische Feldherr Iulius Caesar, der sich im Bürgerkrieg, der zwischen den Anhängern des Herrschers Ptolemaios XIII. und den Anhängern von dessen Schwester Kleopatra tobte, auf die Seite der Prätendentin geschlagen hatte. Das Feuer brach aus, weil Caesar im Viertel um den Palast belagert wurde, dann den Leuchtturm von Pharos (eines der sieben Weltwunder der Antike) besetzte und von hier aus die Kriegsschiffe der Gegner in Brand setzte. Das Feuer geriet außer Kontrolle, erfasste auch die Speicher, die Arsenale und schließlich die berühmte Bibliothek von Alexandria. Das war eine kulturelle Katastrophe, denn diese Bibliothek war die größte ihrer Art in der gesamten 136

antiken Welt. Sie hatte bis dahin einen Bestand von 700.000 Büchern (genauer: Papyrusrollen). Wenn es auch nicht zutreffend ist (was immer wieder kolportiert wird), dass dabei die gesamte Bibliothek ein Raub der Flammen wurde, so wurden doch erhebliche Teile der Bestände verbrannt – Schätze der antiken Literatur, die damit unwiederbringlich verloren gingen. Für Caesar und Kleopatra wenigstens bedeuteten der Krieg und der Brand am Ende keine Katastrophe: Sie konnten sich mit Mühe und Not und mit Hilfe von außen gegen ihre Widersacher durchsetzen.

Der Brand von Jerusalem Krieg, Belagerung und Feuer bedeuteten auch für die Juden eine katastrophale Zäsur in ihrer Geschichte. Ein bis heute nachwirkendes Fanal ihrer Geschichte ist der Brand des Tempels von Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. wie auch der von den Römern verursachte Brand der Stadt überhaupt. Es war der vorletzte Akt in einem Krieg zwischen Römern und Juden, der 66 n. Chr. mit einem Aufstand der Juden begonnen hatte (der letzte Akt war der Fall der Festung Masada 73 oder 74 n. Chr.). Der Sieger von Jerusalem hieß Titus, Sohn des römischen Kaisers Vespasian. Ihm war es nach langer Belagerung gelungen, die Stadt Jerusalem zu erobern. Der jüdische Historiker Josephus, der zunächst auf jüdischer Seite an dem Aufstand beteiligt gewesen und dann auf die Seite der Römer gewechselt war, beschreibt die Eroberung und den Brand der Stadt am 3. September des Jahres 70 n. Chr. mit eindringlichen Worten (BJ 6,8,4): „Inzwischen hatten sich die Römer der Mauern bemächtigt, hatten die Feldzeichen auf den Türmen aufgestellt und mit viel Lärm den Siegesgesang angestimmt, war ihnen die Beendigung des Kampfes doch viel leichter gefallen, als es der Anfang hatte befürchten lassen. Sie konnten es selbst kaum glauben, dass sie, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, die letzte Mauer nehmen konnten, und sie kamen sich wie vor den Kopf gestoßen vor, als sie keine Feinde sichten konnten. Mit gezückten Schwertern ergossen sie sich nun in die engen Gassen, und wer ihnen in die Hände fiel, den schlugen sie nieder. In die Häuser warfen sie Brände, wo die Juden Zuflucht gesucht hatten, und legten sie in Schutt und Asche mit allem, was sie bargen. Oft, wenn sie bei ihrem Zerstörungswerk in ein Haus eingebrochen waren, stießen sie auf ganze Familien, die tot dalagen, und die Dächer waren voll von den Leichen der Hungertoten, ein Anblick, der sie so erschrecken ließ, dass sie die Häuser wieder verließen, ohne etwas anzurühren. So sehr sie jedoch die auf diese Weise ums Leben Gekommenen bemitleideten, so wenig galt dies gegenüber den Lebenden: Wer ihnen begegnete, erhielt den Todesstreich, und so waren die Gassen unpassierbar vor lauter Leichen, und das Blut floss in

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Strömen in der Stadt, so dass es manches Feuer löschte. Erst gegen Abend war des Mordens ein Ende, die Feuersbrunst aber raste die Nächte hindurch. Am 8. Gorpiaeus ging die Sonne über dem schwelenden Jerusalem auf, über der Stadt, die während der Belagerung solche Qualen auszustehen hatte, dass sie tatsächlich zu beneiden gewesen wäre, hätte sie seit ihrer Gründung ein gleiches Maß von Glück genießen dürfen.“

Josephus liefert hier ein Requiem für eine Stadt und ihren Tempel, von dem nichts anderes übrig blieb als die Westmauer, die den orthodoxen Juden heute als „Klagemauer“ dient. Er machte in Rom unter den flavischen Kaisern Karriere und erhielt deswegen den Namen „Flavius“. Josephus war auch Zeuge des großen Triumphzuges in Rom, der zu einer Demonstration römischer Stärke werden sollte, zugleich aber auch eine Demütigung für die Juden bedeutete. Auf dem Forum Romanum in Rom kann man an den Reliefs des Titus-Bogens noch heute erkennen, wie die Römer der jubelnden Menge neben anderen ­Beutestücken auch heilige Gegenstände aus dem zerstörten Tempel, etwa den Siebenarmigen Leuchter, präsentieren. Für die Juden war das Jahr 70 n. Chr. eine veritable Katastrophe. Die Stadt war zerstört, der Tempel niedergebrannt, jener „Zweite Tempel“, der nach der Zerstörung des „Ersten Tempels“ durch die Perser zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. für die Juden das Allerheiligste gewesen war. Es setzte sich mit dieser Katastrophe die lange Leidensgeschichte der Juden fort, die nun weniger eine Geschichte der Juden in Palästina, sondern der Juden in der Diaspora werden sollte.

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9. Schiffskatastrophen Persische Untergangsszenarien 492 v. Chr. Eine persische Flotte befindet sich in den nördlichen Gewässern der Ägäis auf dem Rückweg von militärischen Operationen in Makedonien und Thrakien. Die Aktionen stehen unter dem Kommando des Mardonios, der sich mit dem Landheer noch in Makedonien befindet. Bei der Umsegelung des Athos geraten die Schiffe in größte Gefahr: „Während der Umsegelung brach ein gewaltiger Nordsturm über sie herein, gegen den kein Mittel half. Er spielte ihnen übel mit. Zahlreiche Schiffe wurden gegen die Felsen des Athos geworfen. 300 Schiffe und über 20.000 Menschen sollen dabei den Untergang gefunden haben. Das Meer am Athos ist nämlich voll von Ungeheuern, von denen viele Menschen ergriffen und in die Tiefe gezogen wurden. Einige wurden gegen die Felsen geschleudert, wieder andere konnten nicht schwimmen und ertranken, manche erfroren. So übel erging es der Flotte.“

So berichtet der griechische Historiker Herodot (6,44) über eines der schwersten Schiffsunglücke in der Antike. Wer die Geschichte mit den Ungeheuern für Seemannsgarn hält, sollte bedenken, dass auch die an sich so aufgeklärten Griechen noch an die Existenz dämonischer Wesen glaubten, die in den Tiefen des Meeres ihr Unwesen trieben. Odysseus, gewissermaßen der Ahnherr aller antiken Seeleute, erlebte auf seinen Irrfahrten allerlei Abenteuer, etwa mit den schlürfenden bzw. speienden Fabelwesen Skylla und Charybdis oder den singenden Sirenen. Was Homer in dem Epos beschrieben hat, waren reale Erlebnisse von Kapitänen, deren Schiffe vermutlich untergegangen waren, ohne dass es dafür eine rationale Erklärung gegeben hätte. Skylla und Charybdis dürften in der Meerenge von Messina zu lokalisieren sein, einige der wenigen Passagen im Mittelmeer, in denen sich Gezeiten bemerkbar machen. Die Perser hatten mit ihren Flottenexpeditionen gegen die Griechen auch später kein Glück. Zwölf Jahre nach dem Scheitern ihrer Schiffe bei der Umseglung des Athos startete der Großkönig Xerxes höchstpersönlich eine Offensive zu Land und zu Wasser. Die Katastrophe ereilte die Perser diesmal in der Nähe des Vorgebirges Sepia. Wieder ist es Herodot, der genau beschrieben hat, was den Schiffen dort widerfuhr (7,188):

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„Die ersten Schiffe warfen an der Küste Anker, die übrigen ankerten hinter ihnen. Weil die Küste nicht breit war, lagen sie acht Schiffe tief mit den aufragenden Schnäbeln zum Meer hin. So verging diese Nacht. Am frühen Morgen aber wurde das Meer nach heiterem Himmel und völliger Windstille unruhig. Starkes Unwetter zog auf, und ein gewaltiger Nordostwind brach los, den die Bevölkerung der Gegend Hellespontier nennt. Wer das Anwachsen des Sturmes zeitig genug bemerkte und das Schiff günstig liegen hatte, konnte es noch an Land bringen, ehe der Sturm losbrach, und sich mit dem Schiff retten. Alle die Schiffe aber, die der Sturm auf offener See erfasste, warf er teils nach Ipnoi am Pelion, teils an die Küste. Andere wiederum strandeten am Vorgebirge Sepias selbst, andere wurden bei der Stadt Meliboia, andere bei Kasthanaia ans Land geschleudert.“

„Es muss ein fürchterlicher Sturm gewesen sein“, resümiert Herodot, um sodann auf den von den Griechen genannten Grund für die Katastrophe der feindlichen Flotte einzugehen: Nach der Version der Athener war der Sturm eine Gunst der Götter gewesen, die sie ihnen aufgrund eines Opfers und eines Gebetes erwiesen hätten. Wiederum darf man dies nicht als bloße Fiktion abtun: Aus der Sicht der Griechen walteten bei einem Sturm in der Tat göttliche Mächte. Die Bilanz für die Perser war verheerend: 400 Schiffe wurden vernichtet, dazu gab es viele Todesopfer, und außerdem war der Verlust von Schätzen zu beklagen, die sie mit sich geführt hatten. Des einen Leid, des anderen Glück: Herodot berichtet in diesem Zusammenhang von dem Schicksal eines Mannes namens Ameinokles. der in der Gegend über Landbesitz verfügte. Er entdeckte am Strand goldene und silberne Trinkgefäße, die nach der Katastrophe an Land gespült worden waren. Außerdem fiel ihm, neben vielen weiteren wertvollen Gegenständen, auch die Kriegskasse der Perser in die Hände und so wurde er durch diese Umstände ein zumindest materiell glücklicher Mann. Vier Tage dauerte der Sturm, dann setzte man die Fahrt mit den noch übrigen Schiffen fort, um die geplante Invasion Griechenlands in die Tat umzusetzen. Doch die Götter waren nicht auf der Seite der Perser: Bei Salamis erlebte die stolze Flotte des Großkönigs ein nunmehr militärisches Debakel.

Römisches Flottendesaster im Mittelmeer Heftige Stürme setzten auch in späteren Zeiten immer wieder Flotten zu, die im Mittelmeer unterwegs waren. Besonders empfindlich traf es 255 v. Chr. eine römische Flotte während des Ersten Punischen Krieges gegen die Karthager bei Sizilien. Der griechische Historiker Polybios (1,37) spricht in diesem Zusammenhang von der schlimmsten Katastrophe, die es je gegeben habe: „Die 140

Geschichte kennt keinen Fall eines größeren Unglücks, das mit einem Mal auf dem Meer stattgefunden hat.“ 364 Schiffe umfasste die Flotte, nur 80 überstanden den gewaltigen Sturm. Alle anderen versanken nach der Auskunft des Polybios entweder im Meer oder wurden von der Brandung an die Klippen und die Vorgebirge geschleudert, wo sie zerschellten. Die Küste war mit Leichen und Schiffsteilen bedeckt. Genaue Opferzahlen nennt Polybios nicht, weist aber den Konsuln, die an Bord waren, die Verantwortung für die Katastrophe zu, weil sie nicht auf die Warnungen der Kapitäne und Steuermänner gehört hätten, die einen anderen Kurs empfohlen hatten.

Katastrophe in der Nordsee Das Meer der antiken Welt war das Mittelmeer, das mare nostrum der Römer. Die Römer sind es aber auch gewesen, die der Antike neue geographische ­Horizonte erschlossen. Im Zuge der Germanenkriege in der frühen Kaiserzeit gelangten römische Flotten bis zur Nordsee. Dieses Gewässer machte auf sie ­einen ungewohnten Eindruck. Als Erster hatte Iulius Caesar in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr., während des Gallischen Krieges, eine Flotte über den Kanal nach Britannien geführt. Unter Kaiser Augustus operierten römische Flottenverbände häufiger in der Nordsee. In seinem Bericht notierte der Prinzeps stolz (26): „Meine Flotte segelte über den Ozean von der Mündung des Rheins in östliche Gegenden bis zu den Ländern der Kimbern, wohin weder zu Land noch zu Wasser irgendein Römer bis zu diesem Zeitpunkt gelangt war.“

16 n. Chr. war Germanicus in Germanien unterwegs. Eigentlich hieß er Nero Claudius Drusus, später, nach der Adoption durch Tiberius, Gaius Iulius ­Caesar, wie der berühmte Diktator Roms, der 44 v. Chr. ermordet worden war. Doch er war der Sohn des Drusus, des Stiefsohnes des Augustus, der bis zu seinem Tod 9 v. Chr. für den Prinzeps die Offensiven in Germanien geleitet hatte und dafür mit dem Ehrennamen „Germanicus“ belohnt worden war. Der Sohn hatte diesen Titel übernommen. Einfacher als die Genealogie des iulischclaudischen Hauses war die römische Außenpolitik nach dem Tod des Augustus (14 n. Chr.) und der Machtübernahme durch dessen Stiefsohn Tiberius (der seinerseits der Bruder von Drusus, dem Vater des Germanicus, war). Zwar ­hatte die vernichtende Niederlage in der „Schlacht im Teutoburger Wald“ 9 n. Chr. 141

den imperialen Ambitionen der Römer einen herben Dämpfer versetzt. Doch allein schon aus Prestigegründen wollte die kaiserliche Administration zunächst nicht darauf verzichten, in Germanien weiter Flagge zu zeigen. Aus ­dieser Zielsetzung resultierten die germanischen Feldzüge des Germanicus in den Jahren 14 bis 16 n. Chr. Der prominente Feldherr konnte einige Erfolge verbuchen, fand auch den Ort, an dem einige Jahre zuvor die Legionen des Varus die katastrophale Niederlage gegen Arminius hatten hinnehmen müssen. Auf Germanicus indes wartete eine Katastrophe anderer Art. Gegen Ende des Sommers des Jahres 16 n. Chr. hieß es, die Legionen in die Winterquartiere zu verfrachten. Das geschah sowohl auf dem Landweg als auch auf dem Seeweg. Zum Schicksal der Schiffsbesatzungen, die den Weg von der Amisia (Ems) in den Ozean (die Nordsee) nahmen, hat der römische Historiker Tacitus (ann. 2,23) eine ausführliche Beschreibung geliefert: „Anfangs rauschte die stille See vom Ruderschlag der 1.000 Schiffe oder wallte unter der Macht der Segel. Bald aber türmten sich schwarze Wolken zusammen, aus denen Hagelschauer niedergingen. Zugleich versperrten die unter wechselnden Stürmen regellos wogenden Fluten jede Sicht und behinderten das Steuern. Die erschreckten und mit den Gefahren des Meeres nicht vertrauten Soldaten machten, weil sie die Seeleute störten oder zum falschen Zeitpunkt zu unterstützen versuchten, die Bemühungen der Leute vom Fach zunichte. Allmählich wurden Himmel und Meer ganz die Beute des Südwindes. Dieser Wind wurde durch die feuchten Regionen Germaniens, durch dessen tiefe Ströme und gewaltigen Wolkenzug noch verstärkt, durch die Kälte des hohen Nordens noch furchtbarer. So ergriff er die Schiffe und zerstreute sie auf den offenen Ozean oder nach den Inseln hin, die mit schroffen Klippen oder verborgenen Untiefen Verderben androhten. War man diesen mit Mühe entgangen, so konnte man, da sich die Meeresströmung änderte und mit dem Wind in gleicher Richtung trieb, weder die Schiffe mit den Ankern festhalten noch die eindringenden Wassermassen ausschöpfen. Vieh, Gepäckstücke, auch Waffen wurden über Bord geworfen, um die Schiffsrümpfe zu entlasten … Ein Teil der Schiffe ging unter, mehrere strandeten an weit entlegenen Inseln, wo die Mannschaften, weil von Anbau durch Menschen nichts zu finden war, durch Hunger aufgerieben wurden, falls sie sich nicht von den Kadavern von Pferden ernährt hatten, die eben dort angetrieben wurden.“

Die Schiffskatastrophe in der Nordsee betrachtete Germanicus auch als seine persönliche Katastrophe, obwohl (oder weil) seine Trireme dem Unglück entkommen war. Tacitus sieht sich an dieser Stelle veranlasst, eine Lanze für den von ihm durchgängig freundlich porträtierten Germanicus zu brechen (diese literarische Freundlichkeit gegenüber Germanicus war ein Stilmittel des Historikers, um Kaiser Tiberius, den er überhaupt nicht schätzte, umso schlechter aussehen zu lassen): 142

„All die Tage und Nächte saß der Caesar [Germanicus] auf den Klippen und Ufervorsprüngen und gab sich selbst laut die Schuld an der Katastrophe [lateinisch ­exitium]. Mit Mühe hielten ihn seine Freunde davon ab, in den gleichen Fluten den Tod zu suchen.“

Der Plan eines heldenhaften Todes ist der eine Teil der Apologie des Tacitus für Germanicus. Der andere besteht aus der Charakterisierung der geographischen und klimatischen Verhältnisse in Germanien, die so ganz anders waren als in der vertrauten mediterranen Welt: „Wie viel der Ozean stürmischer ist als andere Meere, wie viel das Klima Germaniens rauer als anderswo, um so viel übertraf auch jenes Unheil durch Neuheit und Größe alle Vorstellung. Ringsum feindliche Gestade oder ein so unabsehbares und tiefes Meer, dass man glauben konnte, es sei das allerletzte, hinter dem kein Land mehr liege.“

Die Katastrophe am Ende der Welt – an diesem Leitmotiv richtet Tacitus seine Schilderung des Schiffsunglücks von 16 n. Chr. aus und verwendet dabei auch manche Versatzstücke, die er bereits in seiner Germania verwendet hatte, also jener geographisch-ethnographischen Schrift über Germanien und die Germanen, die er ein paar Jahre zuvor verfasst hatte. Tatsächlich aber wird er die Empfindungen der Überlebenden dieser Katastrophe weitgehend zuverlässig wiedergegeben haben. Allmählich kamen auch die Schiffbrüchigen wieder ­zurück, die es teilweise weit weg, sogar bis nach Britannien verschlagen hatte. Was sie erzählten, war bestens geeignet, den Ruf des hohen Nordens als einer Welt der Wunder und Zaubergestalten zu festigen: „Jeder, der aus der Ferne zurückgekommen war, wusste Wunderdinge zu erzählen von furchtbaren Wirbelstürmen, von unbekannten Vögeln, von Meeresungeheuern, von Zwittergestalten, halb Tier, halb Mensch, die sie gesehen hatten oder in ihrer Angst gesehen zu haben glaubten.“

Die Auswirkungen der Schiffskatastrophe auf die weiteren militärischen Unternehmungen in Germanien waren indes eher gering. Zwar wurde der Feldzug bald abgebrochen, doch hatte dieser Entschluss nichts mit dem Untergang der Schiffe zu tun. Vielmehr war das strategische Ziel der Operationen erreicht: Die Römer hatten den Germanen bewiesen, dass sie trotz der Niederlage im Teutoburger Wald militärisch durchaus noch handlungsfähig waren. Tacitus aber nutzte die Gelegenheit, den ungeliebten Kaiser Tiberius erneut in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen: Er rief Germanicus aus Germanien ­zurück, weil er ihm seine Erfolge nicht gönnte.

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Schiffswracks Zu den faszinierendsten Ausstellungsstücken archäologischer oder historischer Museen gehören die Wracks von Schiffen, die vor Jahrhunderten im Meer versunken sind. Sie sind die stummen Zeugen von Tragödien und Katastrophen, die sich auf dem Meer abgespielt haben. Neben den schriftlichen Quellen sind sie die wichtigsten Indikatoren für Schiffskatastrophen in der Antike. Die Zahl der im Mittelmeer entdeckten bzw. lokalisierten antiken Wracks geht inzwischen in die Hunderte. Noch viele weitere (wahrscheinlich Zehntausende) befinden sich auf dem Meeresboden, doch trotz modernster Methoden der Bergung werden etliche von ihnen nicht mehr ans Tageslicht befördert werden können. Die antiken Schiffe kreuzten in der Regel in küstennahen Gewässern, jedoch war auch dies keine Sicherheitsgarantie, wie die vielen Wracks beweisen, die an den Küsten des Mittelmeeres entdeckt wurden. Untiefen, Strömungen, Klippen und andere Risiken waren trotz des Vorhandenseins von Log- und Fahrtenbüchern (den Periploi, wie der griechische Begriff für diese Gattung lautete) ständige Quellen möglicher Unglücke. Manche Kapitäne scheuten auch nicht den Weg über das offene Meer. Dieses kühne Vorhaben konnte allerdings bei heftigen Stürmen direkt in eine Katastrophe führen, weil die meisten antiken Schiffe nicht hochseetauglich waren. Viele Museen schmücken sich heute mit Wracks, die der Archäologie und der Geschichtswissenschaft eine Unmenge an Informationen liefern – von der Bauweise der Schiffe über die Handelsrouten bis hin zur Ladung, die wiederum eine bedeutende Quelle für den über den Seeweg abgewickelten Güterverkehr darstellt. Was für die Wissenschaft ein Glücksfall ist, war für die Betroffenen jedoch eine Katastrophe, wie einige prominente Beispiele zeigen. Als Pionierleistung der Unterwasserarchäologie ist der „Schiffsfund von Mahdia“ in die Geschichte eingegangen. Aufgespürt wurde das Wrack 1907 vor der Küste Tunesiens. Bis heute liefert das gesunkene Schiff Stoff für gelehrte Kontroversen, und darüber hinaus darf es sich in periodischen Abständen auch immer einer hohen medialen Resonanz erfreuen. Das Schiff, dessen Reise vor Tunesien offenbar sehr abrupt endete, hatte eine kostbare Ladung an Bord, die nicht weniger als 200 Tonnen wog. Alles war prunkvoll: die Betten, die Vasen, die Kandelaber, die Säulen. Wann aber war dieses Schiff in See gestochen und aus welchen Gründen erreichte es nie seinen Bestimmungshafen? Am wahrscheinlichsten ist eine Datierung auf die Zeit um 100 v. Chr. oder etwas später. Diese chronologische Fixierung ergibt sich aus den Funden, die das Unglücksschiff so reichhaltig geladen hatte. Gestartet war es wahrscheinlich im griechi144

schen Hafen Piräus, das Ziel dürfte Rom gewesen sein, wo reiche und neureiche Kundschaft auf die wertvollen Waren aus dem Osten wartete. Diese Route ergibt sich aus einer Reihe von Indikatoren, vor allem aus der Konsistenz der Waren, die das Schiff mit sich führte. Etwa um die Zeit, als Iulius Caesar, der spätere Diktator, geboren wurde, stach das Schiff also in Athen in See, ohne sein Ziel Rom jemals zu erreichen. Wieso aber landete es schließlich auf dem Meeresboden vor der afrikanischen Küste, gut 500 Kilometer südlich der eigentlichen Route? Dieser Umstand hat zu manchen Diskussionen und auch zu Neuansätzen bei der Datierung und der mutmaßlichen Route des Schiffes geführt. Bleibt man indes bei der ursprünglichen Theorie, so könnte ein schwerer Sturm das Schiff vom rechten Weg abgebracht und die Besatzung in den Tod gerissen haben. Gut 200 Jahre vor dem Unglücksschiff von Mahdia war ein unbekannter ­Kapitän mit seiner Mannschaft und vielen Amphoren an Bord im östlichen Mittelmeer unterwegs. Wahrscheinlich hatte er eine Reihe von Inseln angelaufen: Samos gehörte dazu, wohl auch Paros und sicher Rhodos, wo Amphoren mit Öl und Wein geladen wurden. Dann nahm das Schiff Kurs auf Zypern, die Insel der schaumgeborenen Aphrodite. Etwa einen Kilometer vor der heutigen Hafenstadt Girne, dem antiken Kyrenia, kam es zur Katastrophe. Welches Szenario man dafür verantwortlich machen kann, ist bis heute rätselhaft geblieben. 1965 wurde das Wrack von einem Schwammtaucher gefunden. Die Spuren, die von den ­Archäologen unter die Lupe genommen wurden, legten nahe, dass nicht mehr als vier Mann an Bord gewesen waren. Denn entsprechend waren die Rationen abgezählt. Das Fehlen von wirklich wertvollen Gegenständen wird dahingehend interpretiert, dass das Schiff bereits in der Antike ausgeplündert worden ist, vielleicht sogar von Piraten, die dann auch für den Untergang verantwortlich gewesen sein könnten. Die Verhältnisse im östlichen Mittelmeerraum waren in den Jahren nach dem Tod Alexanders des Großen, als dessen Generäle um die Nachfolge stritten, unsicher genug, um eine solche Erklärung für plausibel zu halten. Auch der Fund einer Speerspitze im Wrack kann in diese Richtung gedeutet werden. In der Festung von Girne kann das bestens rekonstruierte Katastrophenschiff heute in allen Details bewundert werden, samt einer sorgfältigen ­Dokumentation der Bergung und der wissenschaftlichen Erforschung. Im Archäologischen Nationalmuseum von Athen lagern die Relikte eines Schiffes, dessen Untergang der Wissenschaft eines der bemerkenswertesten technischen Geräte der Antike bescherte. Das Schiff befand sich in den Gewässern nordwestlich von Kreta, in der Nähe der Insel Antikythera. Es war auf dem Weg von der kleinasiatischen Küste nach Italien oder Sizilien, als es in den 145

Fluten versank. Das Unglück ereignete sich wohl zwischen 70 und 60 v. Chr. An Bord befanden sich einige wertvolle Artefakte, eine Reihe außerordentlich wertvoller Kunstgegenstände wie vor allem die bronzene Statue eines Jünglings, hergestellt in der Zeit Alexanders des Großen. Vor allem aber barg das Wrack ein vom Umfang her kleines, in seiner Bedeutung aber großes Meisterwerk: den „Mechanismus von Kythera“, den manche heute leicht anachronistisch als den „ersten Computer“ bezeichnen. Es handelte sich dabei um einen Kasten mit einem zunächst mysteriösen Gerät aus Zahnrädern, Achsen und Zeigern, die mit griechischen Buchstaben und Zahlen beschriftet waren. Neueste Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem Fund von Antikythera um eine Art von antikem Kalender und Planetarium handelt. Nur dank der Schiffskatastrophe ist dieses Kunstwerk der Technik erhalten geblieben. Einmal mehr zeigt sich: Es gibt bei vielen Katastrophen nicht nur Opfer, sondern auch Profiteure – im Fall des „Mechanismus von Kythera“ Menschen, die sich Jahrhunderte nach dem Unglück über deren Hinterlassenschaften freuen dürfen. Keinen Grund zur Freude hatten die damals Betroffenen. Wer auf hoher See mit dem Schiff versank, hatte praktisch keine Chance zu überleben. Antike Seeleute konnten meistens nicht schwimmen, die Rettung aus Seenot steckte nicht einmal in den Kinderschuhen und war in keiner Weise institutionalisiert. Die Namen der Männer, die auf dem Schiff von Mahdia, auf dem Schiff von Girne und auf dem Schiff von Antikythera fuhren, bleiben für immer unbekannt. Für die Hinterbliebenen waren Schiffsunglücke mit tödlichem Ausgang auch deswegen so schwer zu ertragen, weil es in den meisten Fällen unmöglich war, die Toten zu bergen und ordentlich zu bestatten. In einer Gesellschaft, für die das Begräbnis nicht nur ein Akt der Pietät, sondern eine tief in der Religiosität wurzelnde Angelegenheit war, war der Gedanke an einen Leichnam auf dem Grund des Meeres eine fast unerträgliche Vorstellung. Ein griechisches Epigramm zeigt, dass in diesem Zusammenhang zwar keine Wunder geschahen, sich jedoch mitunter noch ein tröstlicher Ausgang einstellte. Der Text ­(Anthologia Graeca VII 665) widmet sich dem Schicksal des Seereisenden ­Promachos – einer der ganz wenigen Fälle, bei denen der Name des Opfers ­einer Schiffskatastrophe bekannt ist: „Segelst du über das Meer, trau weder dem langen noch tiefen Schiff; ein einziger Sturm richtet ob jedem Kiel. In einer einzigen Bö starb Promachos auch mit den Schiffern, denn in den gähnenden Schlund riss sie gemeinsam die See. Dennoch wurde ihm der Gott nicht gänzlich zum Feinde; es wurden ihm ja im heimischen Land Ehren der Toten und Grab von befreundeter Hand; denn die rauen Wogen des Meeres trugen den Leichnam darauf her an den offenen Strand.“

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Kein antiker Historiker berichtet von diesem Schiffsunglück, nur der kaiserzeitliche Grabstein für Gaius und Hortensius aus Dion: Das umgekippte Schiff weist auf eine solche Tragödie hin

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Glück gehabt Schiffe fuhren in der Antike nicht nur auf den Meeren, sondern auch auf den großen Strömen, Flüssen und Kanälen. Dort lauerten ebenfalls Gefahren, wie die Menge an Schiffswracks zeigt, die lokalisiert oder geborgen werden konnten. Teils waren sie in militärischer, teils in wirtschaftlicher Mission unterwegs. Auch wenn die Besitzer oder Nutzer der Schiffe ein Unglück überlebten, so war der materielle Schaden häufig genug erheblich. Doch die Vermutung, dass die Rettung von Leib und Leben am Ende wichtiger war, beweist in aller wünschenswerten Deutlichkeit ein Votivaltar mit Inschrift aus Marbach am Neckar. Der betreffende Schiffbruch ereignete sich im Jahr 227 n. Chr. Damals regierte in Rom Kaiser Severus Alexander. Von dem, was sich irgendwann in diesem Jahr auf dem Neckar abspielte, erfuhr der Kaiser natürlich nichts. Dazu war das Ereignis zu unbedeutend. Für den Kaufmann Lucius Licinius Divixtus allerdings war es so einschneidend, dass er den Göttern für dessen glücklichen Ausgang dankte und dies auch in einer Inschrift zum Ausdruck brachte. In der Übersetzung lautet der lateinische Text: „Zu Ehren des göttlichen Kaiserhauses. Dem Boni Casus [oder: Casses] hat der Kaufmann Lucius Licinius Divixtus aufgrund eines Gelübdes diesen Altar gesetzt, weil er nach einem Schiffsuntergang wieder zu guter Gesundheit gelangte und zu den Seinen zurückgekehrt ist. Im Konsulatsjahr des Albinus und des Maximus, froh, gern und nach Gebühr.“

Die Götter, denen der negotiator für seine Rettung dankte, sind nicht genau identifizierbar: Entweder handelte es sich um die Götter des glücklichen Zufalls oder um die Wegegottheiten. Anhand der Nennung der beiden Konsuln, die in diesem Jahr im Amt waren, lässt sich das Ereignis auf 227 n. Chr. datieren. Ganz unversehrt überstand der Kaufmann Divixtus das indessen Unglück nicht, denn die Angabe, er habe seine Gesundheit wiedererlangt, impliziert, dass er dabei Verletzungen erlitten hatte. Doch weil er überlebte, wurde aus dem Unglück keine Katastrophe.

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10. Private Katastrophen Um 410 v. Chr. stirbt in Athen ein Kind namens Ampharete. Die Großmutter lässt eine Grabstele errichten, mit ergreifenden Worten (Pfohl, Griechische ­Inschriften, Nr. 10): „Das Kind meiner Tochter halte ich da, das liebe. Als wir zusammen die Strahlen der Sonne mit den Augen schauten im Leben, hielt ich es so auf meinen Knien und jetzt halte ich tot das tote.“

Das Bild auf dem Grabstein, der aus pentelischem Marmor hergestellt ist, zeigt eine Frau, die auf einem Stuhl sitzt, mit der linken Hand auf den Knien die kleine Ampharete haltend, in der rechten Hand einen Vogel. Großmutter und Enkelin schauen sich an, das Kind streckt die Hand nach dem Vogel aus. Was ist die Geschichte hinter dieser lapidaren Auskunft? Warum kommen Mutter und Vater nicht zu Wort? Sind sie ebenfalls gestorben? Was passierte mit der kleinen Ampharete? Das bleibt im Dunkeln. Nur das Relief und die poetische Sprache auf der Stele zeugen von einem offensichtlichen familiären Drama. Ein Drama? Eine Tragödie? Ein Unglück? Oder doch eine Katastrophe? Kann man bei persönlichen Schicksalsschlägen tatsächlich von einer Katastrophe sprechen? Sind Katastrophen nicht Unglücksfälle, die eine große oder zumindest größere Menge von Menschen gleichzeitig betreffen? In der Umgangs- und Alltagssprache hat sich längst ein erweiterter Katastrophen-Begriff eingebürgert. Und wirklich: Ist es nicht eine Katastrophe für die Familie, wenn ein Kind stirbt? Oder wenn ein Händler bankrott macht? Wenn das Haus abbrennt? Katastrophen dieser Art gab es in der Antike – wie in der Gegenwart – unzählige. Die Quellenevidenz ist dort reichhaltig, wo prominente Persönlichkeiten betroffen waren, die im Fokus des allgemeinen Interesses standen. Ein Kaiser wie Augustus hatte, wie der einfache Mann von der Straße, seine privaten Probleme, und er hatte – jedenfalls aus seiner subjektiven Sicht – private Katastrophen zu überstehen. So war es für ihn unfassbar, dass seine beiden Enkel Gaius und Lucius so früh starben. Katastrophal waren diese Todesfälle für ihn nicht allein aus familiären, sondern auch aus politischen Gründen, hatte er doch geplant, diese Enkel in die Regelung seiner Nachfolge einzubeziehen. 149

Der Strymon wurde zu seinem Verhängnis: Der Grabstein aus Amphipolis im Norden ­Griechenlands (5./4. Jahrhundert v. Chr.) erzählt vom Tod des Diphilos, der in diesem Fluss ertrank

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Die privaten Katastrophen der antiken Normalsterblichen sind vor allem in Grabinschriften dokumentiert, die in der Regel mehr Informationen über die Verstorbenen, deren Leben und deren Tod enthalten als die Texte auf modernen Grabsteinen. Bei früh verstorbenen Kindern spiegeln sich, wie das Beispiel der kleinen Ampharete zeigt, auch die Empfindungen der Hinterbliebenen wider. Eine Katastrophe dürfte für die Familie auch der Tod der gerade einmal dreijährigen Theokrita aus Thessalien gewesen sein. Auf dem Grabstein, der im 3. oder 2. Jahrhundert v. Chr. errichtet wurde, ist zu lesen (Pfohl, Griechische Inschriften, Nr. 16): „Das dreijährige Mädchen des Damatrios, das lieb schmeichelte und schwatzte, ist zu den Toten gegangen, das einzige Kind, o Fremder, die Theokrita, deren Grab du da siehst, von der Jahreszeit Blumen umkränzt.“

Ein anderes Beispiel liefert ein Epigramm aus Smyrna (heute Izmir), zu datieren in das 2. Jahrhundert v. Chr. (Pfohl, Griechische Inschriften, Nr. 16): „Lieb schmeichelnd und schwatzend hast du deine Eltern unterhalten, hast die zwitschernde Stimme vom Munde hören lassen; aber dich, die Zweijährige, hat vom Schoße der Mutter weggenommen der unerbittliche Hades, dich, du süße Nikopolis. Sei gegrüßt, Kindchen, leicht möge deinen Körper der Staub umhüllen, des Sarapion prächtigen Spross.“

Nicht nur der Tod des Kindes war für eine Familie eine Katastrophe. Auch wenn der Familienvater, der den Lebensunterhalt zu sichern hatte, frühzeitig starb, konnte es zu großen Schwierigkeiten kommen. Die Witwen konnten nicht oder jedenfalls nicht immer mit fürsorglicher Hilfe von Seiten des Staates rechnen, auch wenn beispielsweise römische Kaiser wie Traian ihre patronalen Verpflichtungen auch dahingehend interpretierten, auch sozialpolitisch aktiv zu sein. Jedoch erst mit dem karitativen Wirken der christlichen Kirche fanden Witwen oder Waisen eine Absicherung, die es ihnen erlaubte, private Schicksalsschläge oder Katastrophen materiell zu überstehen.

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Chronik der in diesem Buch behandelten Katastrophen ca. 1620 v. Chr.: ca. 1180 v. Chr.: 492 v. Chr.: 490 v. Chr.: 480 v. Chr.: 480 v. Chr.: 479 v. Chr.: 430 v. Chr.: 429 v. Chr.: 427 v. Chr.: 426 v. Chr.: 413 v. Chr.: 387 v. Chr.: 373 v. Chr.: 336 v. Chr.: 323 v. Chr.: ca. 300 v. Chr.: 292 v. Chr.: 255 v. Chr.: 227 v. Chr.: 216 v. Chr.: 133 v. Chr.: 132 v. Chr.: 122 v. Chr.: nach 100 v. Chr.: 87 v. Chr.: 73 v. Chr.: 71 v. Chr.: ca. 70 v. Chr.: 66 v. Chr.: 65 v. Chr.: 57 v. Chr.: 53 v. Chr.:

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Vulkanausbruch auf Santorin (Thera) „Trojanischer Krieg“ Untergang einer persischen Flotte in der Nordägäis Persische Niederlage bei Marathon Untergang einer persischen Flotte in der Ägäis Niederlage der Perser bei Salamis Niederlage der Perser bei Plataiai Pest in Athen Tod des Perikles Bürgerkrieg in Kerkyra Erdbeben und Tsunami bei Orobiai Sizilische Expedition der Athener Galliersturm in Rom Untergang der Stadt Helike Tod Philipps II. von Makedonien Tod Alexanders des Großen Untergang eines Schiffes bei Kyrenia/Girne Epidemie in Rom Untergang einer römischen Flotte bei Sizilien Erdbeben auf Rhodos Niederlage der Römer in der Schlacht von Cannae Ermordung des Tiberius Gracchus Hungerkatastrophe in Tauromenion (Taormina) Ermordung des Gaius Gracchus Untergang des Schiffes von Mahdia Hungerkatastrophe in Athen Niederlage der Römer gegen Spartacus Niederlage des Spartacus gegen die Römer Untergang des Schiffes von Antikythera Finanzkrise in Kleinasien und Rom Erdbeben in Syrien Hungerkatastrophe in Rom Niederlage der Römer gegen die Parther bei Carrhae

52 v. Chr.: 52 v. Chr.: 48 v. Chr.: 44 v. Chr.: 43 v. Chr.: 42 v. Chr.: 9 n. Chr.: 15 n. Chr.: 16 n. Chr.: 17 n. Chr.: 37 n. Chr.: ca. 40 n. Chr.: 51 n. Chr.: 64 n. Chr.: 64 n. Chr.: 70 n. Chr.: 79 n. Chr.: 115 n. Chr.: 166 n. Chr.: 180 n. Chr.: 227 n. Chr.: 250 n. Chr.: nach 250 n. Chr.: 260 n. Chr.: 341 n. Chr.: 365 n. Chr.: 378 n. Chr.: 410 n. Chr.: 455 n. Chr.: 458 n. Chr.: 499 n. Chr.: 541 n. Chr.:

Ermordung des Clodius Niederlage der Gallier gegen die Römer bei Alesia Brand von Alexandria Ermordung Iulius Caesars Proskriptionen in Rom Niederlage der Caesar-Mörder bei Philippi Niederlage der Römer in der „Schlacht im Teutoburger Wald“ Hochwasser des Tiber Untergang einer römischen Flotte in der Nordsee 12-Städte-Erdbeben in Kleinasien Erdbeben in Antiochia Ausbruch des Aetna Hungerkrise in Rom Erdbeben in Neapel Brand von Rom Brand von Jerusalem Ausbruch des Vesuv, Zerstörung von Pompeji und Herculaneum Erdbeben in Antiochia Pest im Römischen Reich Tod Kaiser Mark Aurels Schiffsunglück auf dem Neckar Pest im Römischen Reich Währungskrise in Rom Gefangennahme des römischen Kaisers Valerian Erdbeben in Antiochia Erdbeben und Tsumani im östlichen Mittelmeer Tod des Kaisers Valens in der Schlacht bei Adrianopolis Plünderung der Stadt Rom durch die Westgoten Plünderung der Stadt Rom durch die Vandalen Erdbeben in Antiochia Hungerkatastrophe in Edessa Pest im Byzantinischen Reich

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Bibliographie G. J. Baudy: Die Brände Roms. Ein apokalyptisches Motiv in der antiken Historiographie (1991) K. Bergdolt: Die Pest. Geschichte des Schwarzen Todes (2. Aufl. 2011) G. A. Caduff: Antike Sintflutsagen (1986) K. Christ: Krise und Untergang der römischen Republik (6. Aufl. 2008) K. Christ: Geschichte der römischen Kaiserzeit (6. Aufl. 2010) A. Demandt (Hg.): Das Attentat in der Geschichte (2. Aufl. 2003) U. Fellmeth: Brot und Politik. Ernährung, Tafelluxus und Hunger im antiken Rom (2001) U. Fellmeth: Pecunia non olet. Die Wirtschaft der antiken Welt (2008) P. Garnsey: Famine and Food Supply in the Graeco-Roman World (1993) R. Geipel: Naturrisiken. Katastrophenbewältigung im sozialen Umfeld (1992) D. Groh/M. Kempe/F. Mauelshagen (Hgg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (2003) E. Guidoboni: Catalogue of Ancient Earthquakes in the Mediterranean Area up to the 10th Century (1994) G. Hellenkemper u. a. (Hgg.): Das Wrack. Der antike Schiffsfund von Mahdia (1994) K.-P. Johne (Hg.): Die Zeit der Soldatenkaiser. Krise und Transformation des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (2008) H. Kloft: Die Wirtschaft der griechisch-römischen Welt (1992) J. Le Gall: Le Tibre. Fleuve de Rome dans l’antiquité (1953) A. Lintott: Violence, Civil Strife and Revolution in the Classical City 750-330 B.C. (1982) M. Meier (Hg.): Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas (2005) M. Meier: „Die größte Erschütterung für die Griechen“ – Krieg und Naturkatastrophen im Geschichtswerk des Thukydides, in: Klio 87 (2005), S. 329– 345 H. Meller/J.-A. Dickmann (Hgg.): Pompeji – Nola – Herculaneum. Katastrophen am Vesuv (2011) A. Oliver-Smith/S. M. Hoffmann (Hgg.): Catastrophe and Culture. The Anthropology of Disaster (2002)

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Bildnachweis S. 12, 15, 17, 20, 26, 31, 36, 38, 39, 70, 75, 97, 147, 150: F. Daubner S. 19: Numismatik Lanz München, A. 94 (1999), L. 147 S. 34: Numismatik Lanz München, A. 150 (2010), L. 330 S. 35, 117: Foto H. Sonnabend S. 63: F. R. Künker, A. 216 (2012), L. 822 S. 65: F. R. Künker, A. 216 (2012), L. 1047 S. 92: F. R. Künker, A. 216 (2012), L. 1214

Dank Für wesentliche Unterstützung bei der Bildrecherche danke ich Constanze Hirth und Dr. Frank Daubner (Stuttgart).

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Personenregister Abraham 82 Aemilius Paullus 76 Aetius 114 Agrippina 127 Aischylos 71 Alarich 96–100 Alexander der Große 116, 136 Ameinokles 140 Ammianus Marcellinus 20–22, 49 Ampharete 149, 151 Anastasios 65 Antigonos Doson 16 Arcadius 95, 97, 113 Aristogeiton 114 Aristoteles 39f Arminius 83, 86–89, 111, 142 Athaulf 98, 113 Atossa 71 Augustinus 52, 66, 99 Augustus 6, 18, 22, 61f, 83, 87–89, 91, 93, 95, 101, 108, 110f, 113, 121, 134f, 141, 149 Aurelian 96 Brennus 95, 130 Brutus 102–104, 108 Caesar 19, 22, 60f, 80, 81f, 84–86, 88, 95, 101–111, 114, 121, 135, 136f, 141, 143, 145 Caligula 6, 13, 24, 111–113, 120 Casca 102f Cassius Dio 24f, 47, 60f, 132 Cicero 60f, 107, 109f, 124f Cimber 102f Claudius 62f, 127, 141 Clodius 60, 107 Commodus 50, 113, 120 Crassus 80–82, 107f, 134f Cyprianus 51f Decius 51f, 92 Deukalion 34

Diodor 13f, 64 Diokletian 126 Domitian 101, 113, 120 Droysen, Johann Gustav 117 Drusus 141 Eunus 79 Eratosthenes 15 Floronia 77f Galen 49f, 64 Galla Placidia 97f, 113 Gallienus 91 Geiserich 100 Gellius 37 Gelon 16 Georgios Kedrenos 28 Germanicus 88f, 141–143 Hadrian 94f, 101, 120 Hamilkar 76 Hannibal 8, 75–78, 83, 95 Harmodios 114 Herodot 55, 57–59, 139f Hesiod 46 Hieron 16 Hieronymus 20f, 23, 99 Hilarius 23 Hipparchos 114 Hippokrates 44f, 49 Homer 37, 46, 67f, 139 Honorius 95–98, 113 Iulian Apostata 23 Johannes von Ephesos 29 Johannes Malalas 27–29 Josephus 137f Josua Stylites 64 Justinian 28–30, 53f, 132 Juvenal 62, 134 Kleon 119 Kleopatra VII. 110, 115, 136f Konstantin der Große 25f, 95

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Krixos 79f Kroisos 57 Laktanz 93 Leonidas 70 Licinius Divixtus 148 Livius 48, 77 Lucius Caesar 149 Lucius Verus 47–49, 51, 54 Marcus Antonius 22, 103, 108, 110 Marcus Aurelius 119 Mardonios 71, 139 Marinatos, Spyridon 33 Milo 107 Minos 32 Mithradates VI. 123–125 Mohammed 54 Mommsen, Theodor 121 Mussolini, Benito 106 Napoleon III. 85f Nero 9, 12, 29, 63, 91f, 101, 120, 127–136, 141 Nerva 94 Nikias 72f. Noah 34 Odysseus 67f, 139 Olympias 115 Opimia 77f Orosius 99 Paulus 99 Pausanias 15, 115 Penelope 68 Perikles 43f, 118f Petrus 99 Pindar 116 Philipp II. 109 Platon 33 Plinius der Ältere 17 Plinius der Jüngere 40 Plutarch 43, 60, 73, 84, 101–104, 109, 119, 135 Polybios 77, 140f Pompeius 22, 60f, 80–82, 101, 103, 106–108, 124f, 135

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Prokop 27, 29, 53f, 98 Promachos 146 Ptolemaios III. Euergetes 17f Ptolemaios XIII. 136 Ramses II. 46 Sapor I. 90f Seleukos II. 16 Scrofani, Xavier 15 Seneca 66 Spartacus 78–82 Sueton 6, 12f, 63, 101, 103f, 111, 113, 131–133 Sulla 64, 105–107, 109 Tacitus 12, 18, 34, 36, 62, 88f, 111f, 128–133, 142f Terentius Varro 76 Tertullian 92 Tiberius Gracchus 104f, 107 Thales von Milet 38f Themistokles 70 Theodora 28, 53 Theodosius I. 94, 97, 113f Theokrita 151 Theophanes 28, 30 Thukydides 42–44, 73f, 114, 121f Tiberius 6, 18f, 34f, 88, 111–113, 141–143 Tiberius Gracchus 104f, 107 Titus 40, 137f Traian 24f, 89, 91, 95, 120, 151 Valens 23, 93–95 Valentinian I. 94 Valentinian III. 100, 113f Valerian 51, 89–94 Varus 6, 86–88, 111, 142 Velleius Paterculus 87 Vercingetorix 83–86 Vespasian 63, 137 Vologaises IV. 47 Xerxes 29, 69–71, 139 Zacharias von Mytilene 27 Zenobia 91

Ortsregister Adrianopolis 93–95 Äthiopien 43, 52 Aetna 13, 127 Akrotiri 32f Aktion 110 Alesia 83–86 Alexandria 21f, 54, 103, 110, 135f Alpen 76, 80 Antikythera 145f Antiochia 23–30, 113 Aquileia 50 Athen 41–45, 47, 50, 64, 68–74, 97, 114, 118f, 121f, 145, 149 Athos 139 Atlantis 33 Babylon 116 Britannien 47, 132, 141, 143 Busento 98 Cannae 8, 75–78, 83, 87, 95 Capua 78, 81 Carrhae 81–83 Donau 51, 89, 119, 125 Dion 147 Edessa 53, 64f, 90f Ems 142 Ephesos 29, 36, 124 Epidauros 23, 48 Euphrat 82, 90f, 125 Fidenae 6, 111f Gallien 47, 60, 82, 84f, 91, 98, 107, 114, 131 Gergovia 84 Helike 13–15, 33 Herculaneum 11f, 40 Illyrien 62, 94 Jerusalem 137f Kalkriese 89 Karthago 51, 59, 75–77, 95, 100, 131 Kato Zakros 33 Kerkyra 121f

Knossos 33 Konstantinopel 28, 30, 53f, 93, 95f, 113 Kreta 17, 21f, 32f, 145 Kyrene 58f Kyrenia (Girne) 145 Libyen 43, 58 Lydien 57f Mahdia 144–146 Marathon 42, 68f Marbach 148 Masada 137 Messina 13, 139 Methone 21 Neapel 12 Neckar 9, 148 Nil 46, 53, 55f, 93 Nisibis 47 Nordsee 141f Orobiai 11 Palmyra 91 Pergamon 49f, 117 Phaistos 33 Pharsalos 103, 108 Philippi 108–110 Piräus 43, 145 Plataiai 42, 68, 71 Pompeji 8, 11–13, 32, 40 Ravenna 95–98, 113 Reate 36 Rhein 54, 86, 89, 125, 141 Rhodos 15–18, 145 Rom 9, 18f, 24f, 34, 47–50, 56, 58–63, 75–83, 85, 87, 89, 91f, 95–101, 104–108, 110– 112, 119–121, 124f, 127–136, 138, 141, 145, 148 Rubicon 107 Salamis 42, 68–70, 140 Santorin (Thera) 31–33, 58 Segesta 72

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Smyrna 151 Spanien 47, 82 Sparta 42f, 70, 72, 74, 118f, 122 Susa 70f Syrakus 16, 72–73 Syrien 16, 23f, 47, 64, 79, 87, 90, 132 Tauromenion 64 Teutoburger Wald 62, 83, 86–89, 111, 141, 143

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Theben 115f Thermopylen 69 Tyros 75 Tiber 34–36, 48, 61, 75, 93, 97, 99, 104f, 107, 121, 127 Tralleis 37f Troja 67, 129, 132f Vesuv 11f, 40, 79, 127

Informationen Zum Buch Erdbeben, Vulkanausbrüche, Hungerkatastrophen oder Seuchen – das Leben in der Antike war geprägt von verheerenden Desastern jeglicher Art. Holger Sonnabend liefert mit diesem Buch ein detailliertes Katastrophen-Kompendium mit den wichtigsten antiken Katastrophentypen und deren Erscheinungsformen. Er schildert eindringlich, wie die Menschen mit Schicksalsschlägen im Alltag umgingen und welche Auswirkungen Kriege, Finanzkatastrophen oder Brände auf das politische, gesellschaftliche und religiöse Leben hatten. Auf der Grundlage zahlreicher antiker Quellen werden ausgewählte historische Unglücke beleuchtet und zugleich die antike Mentalität im Umgang mit Leid und Unheil erklärt.

Informationen Zum Autor Professor Holger Sonnabend lehrte nach seinem Studium der Geschichte und Germanistik zunächst an der Universität Hannover. Heute ist er außerplanmäßiger Professor für Alte Geschichte an der Universität Stuttgart.