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German Pages 632 Year 2022
Tobias Janotta Komplementarität der Leidenschaften
Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie
Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät
Begründet von Michael Schmaus †, Werner Dettloff † und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst
Herausgegeben von Isabelle Mandrella und Martin Thurner
Band 70
Tobias Janotta
Komplementarität der Leidenschaften
Die Lehre von den affektiven Tugenden im Speculum universale des Radulfus Ardens (gestorben um 1200)
ISBN 978-3-11-075764-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075892-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075897-9 ISSN 0580-2091 Library of Congress Control Number: 2022930262 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Janinae uxori
Inhaltsverzeichnis Vorwort
XVII
Einleitung 1
Hinführung zum Thema der Arbeit
3
2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk 5 2.1 Sein literarisches Schaffen 5 2.1.1 Das Speculum universale 5 2.1.1.1 Handschriftliche Überlieferung, kritische Editionen und Übersetzungen 6 2.1.1.2 Datierung und Abfassung 9 2.1.1.3 Die Gliederung des Werkes und ihre Besonderheiten 15 2.1.1.4 Der übergeordnete Rahmen: Die Bestimmung der Ethik als Wissenschaft 20 2.1.1.5 Beobachtung zur Methodik des Autors und Tendenzen innerhalb des Werkes 24 2.1.1.6 Überlegungen zum Titel des Werkes und seiner literarischen Gattung 33 2.1.2 Das Predigtwerk (Homiliae) 38 2.1.3 Das Briefcorpus (Libri epistularum) 40 2.2 Zur Biografie des Radulfus Ardens 41 2.2.1 Name und Herkunft 41 2.2.2 Akademisches Wirken und Predigttätigkeit 43 2.2.3 Sein Begräbnisort und die Frage nach dem Kaplanat bei Richard Löwenherz 47 2.3 Das geistige Umfeld des Radulfus Ardens im Spiegel seiner Werke 49 2.3.1 Kontroverse Positionen im Umfeld der Kathedralschulen 49 2.3.2 Zwei Entwicklungslinien in der Tugendlehre 53 3
Präzisierung des Ziels der Untersuchung in Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur 62
VIII
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Die Affekte und ihre Bedeutung für die Entstehung der Tugenden und Laster 1 1.1
Anthropologische Vorbemerkungen 73 Die Seelenlehre: Die grundlegenden Kräfte der menschlichen Seele und das ganzheitliche Menschenbild des Radulfus Ardens 73 1.1.1 Die Bestimmung der menschlichen Seele als Einheit 74 1.1.2 Die einzelnen Fähigkeiten der menschlichen Seele im Überblick 78 1.1.3 Die Seelenkräfte als Grundlage für die Aufteilung in fünf Tugendgruppen 85 1.2 Die Komplementarität der Tugenden: Der Mensch als ein von Gegensätzen bestimmtes Wesen 91 1.2.1 Die grundlegende Bestimmung der Tugend im Speculum universale 93 1.2.2 Einführung in das System der Komplementärtugenden am Beispiel von Klugheit und Aufrichtigkeit 98 1.2.3 Die bisher im Speculum universale gefundenen Komplementärtugenden 102 1.2.4 ‚Komplementäre Sprache‘? – Stilistische Besonderheiten bei der Darstellung komplementärer Gedankengänge 105 1.2.5 Die Bedeutung der Komplementarität für den Aufbau der Tugendtraktate 108 1.2.6 Weitere für das Verständnis der Komplementarität relevante Textstellen 110 1.2.6.1 ‚Komplementäre Didaktik‘ – Praktische Hinweise zur Selbstreflexion, zum guten Unterricht und zur Austilgung einzelner Laster 111 1.2.6.2 Die Komplementarität im Verhältnis zwischen Gott und Mensch 115 1.2.6.3 Überlegungen zu den Ausnahmen vom Prinzip der Komplementärtugenden 116 1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘? – Die komplementäre Anlage der menschlichen Natur und ihre heilsgeschichtliche Einbettung 122 1.3.1 Die drei Ebenen der Komplementarität im Wesen des Menschen 122 1.3.2 Die Beschädigung der menschlichen Natur durch den Sündenfall und ihre Erlösung durch Jesus Christus 130
Inhaltsverzeichnis
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
3
Die drei Grundemotionen des Menschen und ihre systematische Stellung zueinander 135 Grundlegende Bestimmungen 135 Das Verhältnis zwischen Liebe und Hass und ihrem Gefolge 136 Die Stellung der Geringschätzung 138 Weitere Bestimmungen 143 Die Affekte als prägende Einflüsse der Charakterentwicklung 143 Die Affekte als Feinde und Freunde des Menschen 145 Die Bedeutung der Affekte bei der Entstehung der Tugenden und Laster aus dem menschlichen Willen 154 Zwischenfazit
161
Zweiter Teil: Buch 11 – Die amativen und oditiven Tugenden 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4 1.2.3 1.2.4
2 2.1
Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11 167 Die Sonderstellung von Buch 11 167 Inhaltlicher Überblick 169 Die beiden Strukturelemente der Gliederung von Buch 11 170 Die amativen und oditiven Affekte als Grundlage der acht zentralen Komplementärtugendpaare von Buch 11 171 Das Gefolge der amativen und oditiven Seelenkraft und ihre Bedeutung für den Aufbau des Buches 171 Die systematische Aufteilung des Buches in zwei Bereiche 172 Überlegungen zur Anordnung der acht Komplementärtugendpaare 173 Schematische Übersicht zum Grundgerüst von Buch 11 176 Der Prozess, in dem aus den Affekten Tugenden entstehen, und seine begrifflich-methodischen Konsequenzen 177 Inhaltliche Skizze der acht zentralen Komplementärtugendpaare von Buch 11 182
Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden 187 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘ 188 2.1.1 Begriffliche Ausdifferenzierung: Die ‚species‘ von Liebe und Hass und die beiden Aspekte der Liebe 188 2.1.2 Die ‚filie‘ aus dem Bereich der Gottesliebe 196 2.1.2.1 ‚deuotio‘ 197 2.1.2.2 ‚uotum‘ 198 2.1.2.3 ‚obsecutio‘ 198
IX
X
2.1.2.4 2.1.2.5 2.1.2.6 2.1.2.7 2.1.2.8 2.1.3 2.1.3.1 2.1.3.2 2.1.3.3 2.1.3.4 2.1.3.5 2.1.4 2.1.4.1 2.1.4.2 2.1.5 2.1.6 2.1.6.1 2.1.6.2 2.1.6.3 2.1.6.4 2.1.6.5 2.1.6.6 2.1.7 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5
Inhaltsverzeichnis
‚inuisceratio‘ 198 ‚delectatio‘ 199 ‚laudatio‘ 199 ‚desiderium‘ 200 ‚agonizatio‘ 200 Die ‚filie‘ aus dem Bereich der Nächstenliebe 201 ‚benignitas‘ 208 ‚amicitia‘ 209 ‚communitas‘ 212 ‚beneficentia‘ 218 ‚concordia‘ 220 Die ‚filie‘ aus dem Bereich der Gottes- und der Nächstenliebe 222 ‚gratitudo‘ 223 ‚cultus‘ 226 Zusammenfassung und Übersicht zu den Tochtertugenden der Liebe und ihre weitere Unterteilung in Unterarten 229 Die ‚species‘ aus dem Bereich der Güte 231 ‚euitatio scandali‘ 232 ‚latitudo caritatis‘ 234 ‚congratulatio‘ 236 ‚misericordia‘ / ‚compassio‘ 244 ‚condescensio‘ 251 ‚uoluntaria subiectio‘ 254 Die ‚species‘ aus dem Bereich der Wohltätigkeit: Der Traktat über das Almosen 260 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘ 265 Die begriffliche Ausdifferenzierung von Hoffnung und Furcht und ihr komplementäres Verhältnis zueinander 266 Die ‚filie‘ aus dem Bereich Hoffnung und Furcht 274 Das Komplementärtugendpaar ‚emulatio‘ – ‚exterritatio‘ 279 Die ‚emulatio‘ und ihre Bedeutung für die Funktion der ‚exempla‘ im Speculum universale 283 Das komplementäre Verhältnis von ‚emulatio‘ und ‚exterritatio‘ im Detail 285 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘ 288 Grundlegende Bestimmungen zu den beiden Affekten Freude und Zorn 290 Begriffliche Ausdifferenzierung: Die ‚species‘ von Freude und Zorn 292 Das komplementäre Verhältnis von ‚gaudium‘ und ‚ira‘ im Detail 300 Das Komplementärtugendpaar ‚letitia‘ – ‚tristitia‘ 304
Inhaltsverzeichnis
2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.2.1 2.6.2.2 2.6.2.3 2.6.3 2.7 2.7.1 2.7.2 2.8 2.8.1 2.8.1.1 2.8.1.2 2.8.1.3 2.8.2
2.9
3
3.1 3.1.1
Die beiden Affekte Fröhlichkeit und Traurigkeit und der Aufbau ihrer Darstellung 306 Begriffliche Ausdifferenzierung: Die ‚species‘ von Fröhlichkeit und Traurigkeit 308 Das komplementäre Verhältnis von ‚letitia‘ und ‚tristitia‘ im Detail 312 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘ 315 Die beiden Affekte Heiterkeit und Scham und ihr Zusammenhang mit dem Gewissen 316 Exkurs: Der Begriff ‚conscientia‘ im Speculum universale 318 Sammlung relevanter Aussagen zum Gewissen 318 Versuch einer Zusammenfassung zur Bedeutung des Begriffs 321 Der Ertrag für das Verständnis der Affekte ‚serenatio‘ und ‚pudor‘ und ihre Stellung in Buch 11 322 Die ‚species‘ von Heiterkeit und Scham und ihr komplementäres Verhältnis zueinander 323 Das Komplementärtugendpaar ‚gloriatio‘ – ‚penitentia‘ 326 Die beiden Affekte Sich-Rühmen und Reue und die Eigenheiten ihrer Darstellung 326 Die ‚species‘ von Sich-Rühmen und Reue und ihr komplementäres Verhältnis zueinander 329 Der Traktat über Sanftmut und Strenge und seine Bedeutung als systematischer ‚Schlussstein‘ von Buch 11 334 Das Komplementärtugendpaar ‚mansuetudo‘ und ‚rigor‘ 337 Die grundlegende Bestimmung von Sanftmut und Strenge 337 Die inhaltlichen Aspekte der beiden Tugenden 338 Die ‚species‘ von Sanftmut und Strenge und ihr komplementäres Verhältnis zueinander 340 Beschaffenheit und Aufgaben der amativen und oditiven Tugenden im Diesseits und im Jenseits unter der Perspektive der Komplementarität 343 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 11 für die Frage nach der Bedeutung des komplementären Denkens für die Anlage des Werkes 345 Die Affektenlehre im Speculum universale im exemplarischen Vergleich mit den antiken Grundlagen und mittelalterlichen Ansätzen 349 Die antiken Grundlagen und ihre christliche Aneignung als Ausgangspunkt der mittelalterlichen Konzeptionen 351 Die unterschiedlichen Vorstellungen zur ‚Therapie der Affekte‘ in den hellenistischen Philosophenschulen 352
XI
XII
3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
Inhaltsverzeichnis
Augustinus und die christliche Umdeutung der antiken Affektkonzeptionen 358 Neue Perspektiven auf die Affekte im 12. Jahrhundert 362 Die Affekte bei Petrus Abaelardus und Bernhard von Clairvaux 362 Die Affekte in der pseudoaugustinischen Schrift De spiritu et anima 371 Der Ertrag der Spurensuche: Einige Überlegungen zur Stellung der Affektenlehre des Radulfus Ardens im 12. Jahrhundert 378
Dritter Teil: Buch 12 – Die kontemptiven Tugenden 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2
1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4 1.3
2 2.1
Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12 387 Der Hauptteil von Buch 12 und die vier Glieder der Geringschätzung 388 Funktion und Herkunft der ‚distinctiones contemptus‘ 388 Die Aufgliederung des Hauptteils und seine konkreten Inhalte 390 Die Komplementarität in der Programmatik von Buch 12 393 Die Einleitung von Buch 12 und die systematische Bestimmung der Geringschätzung 397 Die Geringschätzung als Mittelposition zwischen Liebe und Hass 398 Die vier Entwicklungsstufen der Geringschätzung und ihre Bedeutung für die Komplementarität der kontemptiven Tugenden 400 ‚tepor‘ 401 ‚negligentia‘ 406 ‚accidia‘ 409 ‚contemptus‘ 412 Zwischenfazit zur Bestimmung des ‚contemptus‘ und seiner Funktion als Grundlage der kontemptiven Komplementärtugenden 416
Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden 420 ‚Mundum contempnere‘ – Die Komplementärtugenden aus dem Bereich des ersten Gliedes der Geringschätzung 420 2.1.1 Grundlegende Bestimmungen zum ‚contemptus mundi‘ 421 2.1.1.1 Der ‚mundus‘-Begriff und die fünffache Aufgliederung des ‚amor mundi‘ 422
Inhaltsverzeichnis
2.1.1.2 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.2.3 2.1.2.4 2.1.2.5 2.1.2.6 2.1.3 2.1.3.1 2.1.3.2 2.1.4 2.1.4.1 2.1.4.2 2.1.5 2.1.5.1 2.1.5.2
2.1.5.3 2.1.6 2.1.6.1 2.1.6.2
2.1.6.3
XIII
Genauere Bestimmung und ethische Wertung der weltlichen Güter als ‚uana‘ 423 Die ‚uoluntaria paupertas‘ und mögliche Komplementärtugenden 431 Aufbau, Gliederung und thematische Schwerpunkte des Traktats 431 Die Armut als spezifisch christliche Tugend und Kernbestandteil der ‚imitatio Christi‘ 433 Die ‚species‘ der Armut und ihre ethische Bewertung 436 Systematisch-kritische Betrachtung des Phänomens im Rahmen komplementärer Denkstrukturen 446 Die Kapitel über den ‚amor diuitiarum‘ und ihre Relevanz für die Komplementarität im Traktat über die Armut 455 Die Suche nach Komplementärtugenden der ‚uoluntria paupertas‘ und ihre Ergebnisse 463 Das Komplementärtugendpaar ‚uoluntaria uilitas‘ – ‚amor honoris spiritualis‘ 467 Die ‚species‘ der Ehre und ihre ethische Bewertung 469 Die Ambivalenz des ‚amor uilitatis secularis‘ als Ausgangspunkt für die Bestimmung seiner Komplementärtugend 471 Die ‚uoluntaria subiectio‘ und ihre Komplementärtugend 475 Die ‚species‘ der Macht und ihre ethische Bewertung 477 Die Ambivalenz der ‚uoluntaria subiectio‘ als Ausgangspunkt für die Bestimmung ihrer Komplementärtugend 482 Das Komplementärtugendpaar ‚uoluntarius suidespectus‘ – ‚fuga infamie‘ 483 Die Definition des Lobes, seine ‚species‘ und deren ethische Bewertung 484 Die Ausführungen zu den Übeln, die aus der ‚uana gloria‘ entstehen und ihre Relevanz für die Komplementarität im Traktat über die Armut 491 Die ‚fuga infamie‘ als Korrektiv des ‚contemptus uane glorie‘ 495 Das Komplementärtugendpaar ‚uoluntarius labor siue afflictio‘ – ‚naturalis refectio corporis‘ 496 Die Definition der Lust, ihre ‚species‘ und deren ethische Bewertung 497 Die eschatologischen Exkurse in den Kapiteln 119 und 120 und ihre Relevanz für die Komplementarität der Tugenden und die Anthropologie 506 Die ‚naturalis refectio corporis‘ als Korrektiv des ‚contemptus uoluptatis‘ 510
XIV
2.2 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.1.3 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 2.3.2.5 2.3.2.6 2.3.2.7 2.3.2.8 2.3.3 2.4 2.5
3 3.1 3.2
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3
Inhaltsverzeichnis
‚Neminem contempnere‘ – Komplementäre Denkstrukturen im Bereich des zweiten Gliedes der Geringschätzung 512 ‚Se contempnere‘ – Die Komplementärtugenden aus dem Bereich des dritten Gliedes der Geringschätzung 515 Das Komplementärtugenpaar ‚humilitas‘ – ‚honorantia sui‘ 516 Die Definition der Demut, ihre Arten und deren ethische Bewertung 516 Die ‚modi humilitatis‘ und ihre Bedeutung für das Verständnis der Demut 522 Die ‚honorantia sui‘ als Korrektiv der ‚humilitas‘ 524 Die ‚filie‘ der Demut und der Traktat über den Gehorsam 526 ‚recognitio peccati proprii‘ 527 ‚inculpatio sui solius in ingruentibus‘ 528 ‚uoluntaria subiectio‘ 529 ‚uoluntaria obedientia‘ 530 ‚uoluntaria paupertas‘ 535 ‚uoluntaria uilitas‘ 535 ‚uoluntaria postremitas‘ 535 ‚uoluntaria pax‘ 537 Die Kapitel über die ‚superbia‘ und ihre Relevanz für die Komplementarität im Traktat über die Demut 545 ‚Contempnere se contempni‘ – Komplementäre Denkstrukturen im Bereich des vierten Gliedes der Geringschätzung 551 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 12 für die Frage nach der Bedeutung des komplementären Denkens für die Anlage des Werkes 555 Die Lehre von der Geringschätzung im Speculum universale im Kontext der zeitgenössischen ‚contemptus mundi‘-Literatur 559 Die ‚vanitas mundi‘ als zentraler Aspekt christlicher Spiritualität 560 Zwei typische Beispiele der zeitgenössischen ‚contemptus mundi‘-Literatur in Gegenüberstellung mit dem ‚contemptus‘Begriff im Speculum universale 565 Allgemeine Informationen zur mittelalterlichen ‚contemptusmundi‘-Literatur 565 Beispiel 1: De vanitate rerum mundanarum von Hugo von Sankt Viktor 569 Beispiel 2: De miseria conditionis humanae von Innozenz III 576 Der Ertrag der Gegenüberstellung 581
Inhaltsverzeichnis
Schluss: Weiterführende Einzelaspekte Allgemeine Hinweise
595
Quellen- und Literaturverzeichnis Register
613
599
585
XV
Vorwort Nox habet consilium, id est tempus silens et uacans.
(RADULF. ARD., Spec. uniu. 9, 48)
In der Tat ist diese Arbeit, die am 09. November 2020 als Inauguraldissertation zur Erlangung der theologischen Doktorwürde vom Promotionsausschuss der KatholischTheologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg angenommen wurde, nicht nur an vielen arbeitsreichen Tagen, sondern auch – offenbar ganz im Sinne des Radulfus Ardens – in ungezählten nächtlichen Stunden entstanden. Auf diese Weise konnte das Vorhaben, den Text der bisher kaum untersuchten Bücher 11 und 12 des Speculum universale systematisch zu erschließen und damit dem interessierten Fachpublikum zugänglich zu machen, zu einem glücklichen Ende gebracht werden. Dass dieses doch recht umfangreiche Projekt einen so gelungenen Abschluss gefunden hat, verdankt sich nicht nur den oben erwähnten vielen Stunden der oftmals mühsamen, aber stets gewinnbringenden und immer wieder unterhaltsamen Arbeit, sondern auch der tatkräftigen Mithilfe vieler anderer Menschen, die mich in den letzten Jahren unterstützt, gefördert und motiviert haben. Hier ist natürlich an erster Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Stephan Ernst zu danken. Er war es, der mich im Rahmen eines Seminars zur Tugendethik im Wintersemester 2010/2011 zuerst auf die Konzeption der Komplementärtugenden im Speculum universale aufmerksam gemacht hat – einen Ansatz, der mich von diesem Zeitpunkt an faszinierte und nicht mehr losgelassen hat. Prof. Dr. Stephan Ernst unterstütze mich in der Folgezeit einerseits durch seinen Rat und seine Fachkenntnisse bei der Arbeit mit Radulfus Ardens; andererseits sorgte er aber auch für die materielle Grundlage, indem er sich unermüdlich für die Finanzierung meines Vorhabens einsetzte. Besonders wertvolle Erfahrungen konnte ich dabei während der Editionsarbeit im Rahmen des DFG-Projekts zur kritischen Edition des Speculum universale und bei der Mitarbeit am Lehrstuhl für Moraltheologie in den Bereichen Lehre und Forschung gewinnen. Zu danken habe ich ebenso Frau Dr. Claudia Heimann, die mich während meiner Zeit im Editionsprojekt in die Paläografie einführte und mir damit gleichermaßen fachkundig und geduldig eine Kompetenz vermittelte, ohne die mein Dissertationsprojekt kaum umsetzbar gewesen wäre – schließlich liegen die Bücher 11–14 aktuell nur in handschriftlicher Form vor. Auch Prof. Dr. Dr. Christof Müller ist zu danken, der das Zweitgutachten zu meiner Dissertation angefertigt hat. Er und das gesamte Team des Zentrums für Augustinusforschung in Würzburg (ZAF) haben mich zudem über viele Jahre hinweg bei meinem Fortkommen auf vielfältige Weise unterstützt. Daneben bin ich der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Dank verpflichtet. Sie förderte mich im Rahmen eines Promotionsstipendiums von 2014–2017 sowohl materiell als auch ideell und sorgte somit in der ersten Phase meines Dissertationsprojekts für ein solides Fundament. https://doi.org/10.1515/9783110758924-203
XVIII
Vorwort
Ebenfalls danke ich Herrn Dr. Marco Bleistein und Herrn Nicolas Kusser für die umsichtige und tatkräftige Durchsicht der Dissertation unmittelbar vor der Abgabe im November 2020 von Herzen. Dass meine Dissertationsschrift in der renommierten Reihe Veröffentlichungen des Grabmanninstituts (VGI) erscheinen kann, ist für mich eine besondere Ehre. In diesem Zusammenhang ist zum einen Frau Katharina Zühlke vom Walter De GruyterVerlag ein herzlicher Dank auszusprechen. Sie koordinierte und unterstützte die Veröffentlichungsarbeit engagiert und stets freundlich. Zum anderen danke ich Frau Anne Stroka für die sehr professionelle Betreuung der Drucklegung. Schließlich gilt mein Dank dem Bistum Würzburg und dem Würzburger Lehrstuhl für Moraltheologie / Theologische Ethik für die großzügige finanzielle Unterstützung der Veröffentlichung. Ebenso danke ich der Unterfränkischen Gedenkjahrstiftung der Universität Würzburg, die durch die Prämierung der Dissertation im Jahr 2021 und der damit verbundenen Dotation ebenfalls einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Veröffentlichung der Arbeit geleistet hat. In ganz besonderer Weise habe ich darüber hinaus jedoch meiner Frau Janine zu danken, die mir nicht nur hilfsbereit und geduldig bei meinem Vorhaben zur Seite stand, sondern mir auch – als Mathematik- und Wirtschaftslehrerin – immer wieder liebevoll und motivierend im Sinne des ‚inconsultis consilium dare‘ (nach Radulfus Ardens die 9. Art des geistigen Almosens) bewusst machte, dass für eine glückliche Lebensführung neben der Wissenschaft auch noch ökonomische und lebenspraktische Aspekte zu berücksichtigen sind. Zudem hat sie mich bei der Erstellung des Namensregisters unterstützt. Ihr ist diese Arbeit gewidmet. Germering, 10. Februar 2022
Einleitung
1 Hinführung zum Thema der Arbeit Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die affektiven Tugenden (‚uirtutes affectiue‘) im Speculum universale des Frühscholastikers Radulfus Ardens zu untersuchen. Dieses Werk gilt mit einem Umfang von 14 Büchern als die umfangreichste und beste Darstellung der Ethik der frühscholastischen Theologie.1 Hinter dem Konzept der ‚uirtutes affectiue‘ steht die Vorstellung, dass sich aus den Gefühlen des Menschen – genauer gesagt aus den drei Grund-Emotionen Liebe (‚amor‘), Hass (‚odium‘) und Geringschätzung (‚contemptus‘) – Tugenden entwickeln können. Oder mit anderen Worten: In den Büchern 11 und 12, in denen die amativen, oditiven und kontemptiven Tugenden behandelt werden, geht Radulfus Ardens der Frage nach, wie die Leidenschaften des Menschen sittlich gestaltet werden müssen, um zu einer glücklichen Lebensführung beitragen zu können. Warum – so ließe sich fragen – wird gerade dieser Aspekt genauer untersucht? Dafür lassen sich v. a. zwei Gründe anführen, nämlich ein historischer und ein systematischer: Erstens ist das Speculum universale aus theologiegeschichtlicher Perspektive von Bedeutung, da es einen wichtigen Entwicklungsschritt bei der Herausbildung der theologischen Ethik als eigenständige Disziplin darstellt. Deshalb hat Johannes Gründel von moraltheologischer Seite in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Verstandestugenden (‚uirtutes discretiue‘) in den Büchern 7–10 in den Blick genommen und sich dabei auch mit ihren anthropologischen Grundlagen auseinandergesetzt. Um den ohnehin großen Umfang seiner Untersuchung nicht noch weiter auszudehnen, ging er auf die affektiven Tugenden nicht genauer ein, betonte aber ausdrücklich, dass eine eigenständige, ausführliche Untersuchung dieses Teilbereiches notwendig wäre.2 Somit ist es ein zentrales Anliegen der Arbeit, diese Lücke zu füllen und damit einen Beitrag zum genaueren Verständnis der theologischen Ethik des Radulfus Ardens zu leisten. Zweitens bedarf eine systematische Besonderheit der Tugendlehre im Speculum universale einer eingehenderen Untersuchung: Der Autor weist vielen der von ihm behandelten Tugenden eine Komplementärtugend (‚uirtus collateralis‘) zu. Das bedeutet, dass keine Verhaltensweise für sich steht, sondern immer nur durch die gegenseitige Ergänzung mit ihrem Gegensatz zur Ausprägung kommt. Die Beleuchtung dieses Strukturmerkmals im Bereich der Bücher 11 und 12 wird demnach auch einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, welche Bedeutung die Komplementarität der Tugenden für den tugendethischen Entwurf des Radulfus Ardens insgesamt hat. Dies ist umso mehr von Interesse, da es für die durchaus modern
1 Vgl. GEYER, Radulfus Ardens 89. 2 GRÜNDEL, Verstandestugenden 4 f.: „Einer weiteren späteren Arbeit muß es vorbehalten bleiben, die Tugenden des begehrenden und des zornmütigen Strebevermögens und die eigene Gruppe der sogenannten kontemptiven Tugenden darzustellen.“ https://doi.org/10.1515/9783110758924-001
4
1 Hinführung zum Thema der Arbeit
erscheinende Idee, dass nur die komplementäre Bezogenheit zweier gegensätzlicher Verhaltensweisen den Menschen zum Tun des Guten befähigt, in der Theologiegeschichte kaum Vorbilder gibt und sie offenbar auch nach Radulfus Ardens auch nicht weiter aufgegriffen wurde. In der Einleitung werden zunächst allgemeine Informationen zum Autor, zu seinem Werk und zu dem aktuellen Forschungsstand dargeboten. Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil wird die Anthropologie des Radulfus Ardens in den Blick genommen. Dabei geht es darum, das Prinzip der Komplementärtugenden grundlegend zu erklären und die Bedeutung der Affekte für die Entstehung der Tugenden und Laster herauszuarbeiten. Im zweiten Teil werden die amativen und otitiven Tugenden in Buch 11 im Detail analysiert und anschließend wird der Versuch unternommen, die Affektenlehre des Radulfus traditionsgeschichtlich einzuordnen. Im dritten Teil geht es um die kontemptiven Tugenden in Buch 12 und deren Bezüge zum ‚contemptus mundi‘-Gedanken in der mittelalterlichen Literatur.
2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk Obgleich in der Forschung der letzten 100 Jahre zahlreiche Spekulationen über die Lebensumstände des Radulfus Ardens angestellt wurden, lässt sich mit absoluter Gewissheit nur eines sagen: Bisher konnte – abgesehen von seinen eigenen Schriften – keine einzige historische Quelle ausgemacht werden, in der der Autor des Speculum universale zweifelsfrei erwähnt wird. Daraus folgt, dass letztlich alle Überlegungen zu seiner Biografie unmittelbar mit seinem literarischen Schaffen zusammenhängen. Aus diesem Grund muss zu Beginn dieses Abrisses auch auf seine Werke eingegangen werden (Punkt 1). Da das Speculum universale sein literarisches Hauptwerk und der primäre Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist, wird es ausführlich beschrieben. Daneben hat er auch zahlreiche Predigten (Homiliae) und möglicherweise auch ein Briefcorpus (Libri epistularum) verfasst. Auch auf diese beiden Werke wird kurz eingegangen. Erst auf dieser Grundlage können Überlegungen zu seinem Leben angestellt werden (Punkt 2). Für das Verständnis seines Werkes ist zudem der geistesgeschichtliche Kontext der Entstehung von Bedeutung, der zum Abschluss dieses Kapitels grob skizziert wird (Punkt 3).
2.1 Sein literarisches Schaffen 2.1.1 Das Speculum universale Wie bereits erwähnt ist das Speculum universale mit seinen 14 Büchern und über 1100 Kapiteln die umfangreichste Darstellung theologischer Ethik im 12. Jahrhundert3, obgleich es unvollendet geblieben ist. Ausgehend von einer fein ausdifferenzierten Anthropologie entwickelt der Autor darin eine Gesamtschau der Tugendlehre und unternimmt den Versuch, alle denkbaren positiven und negativen Verhaltensweisen des Menschen vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens inhaltlich zu bestimmen und systematisch zu ordnen. Dazu gehören auch die affektiven Tugenden, die in den Büchern 11 und 12 behandelt werden und die das zentrale Thema dieser Arbeit darstellen. Die im Folgenden dargebotene Einführung zum Speculum universale geht in fünf Schritten vor: Erstens wird darauf eingegangen, in welcher Form der Text zum aktuellen Zeitpunkt überhaupt zugänglich ist. Zweitens wird der aktuelle Kenntnisstand zur Datierung des Werkes wiedergegeben. Drittens liefert ein Überblick zur
3 Diese Bewertung des Werkes findet sich erstmals bei GEYER, Radulfus Ardens 89 (vgl. n. 1). Sie wurde in der Forschung mehrfach aufgegriffen und bestätigt (vgl. bspw. GRÜNDEL, Verstandestugenden 3; HEIMANN, Einleitung VII oder ERNST, Einleitung 1 11). https://doi.org/10.1515/9783110758924-002
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Gliederung des Speculum universale eine erste inhaltliche Orientierung. Anhand dessen ist es auch möglich, die Schrift innerhalb der tugendethischen Entwicklungslinien des 12. Jahrhunderts zu verorten. In einem vierten Schritt wird genauer beleuchtet, wie Radulfus Ardens die Ethik als Wissenschaft bestimmt. Damit wird der übergeordneten Rahmen abgesteckt, in den seine tugendethische Konzeption eingebettet ist. Im fünften Schritt wird schlaglichtartig beleuchtet, wie der Autor methodisch bei der Abfassung des Werkes vorgegangen ist. Darauf aufbauend werden im sechsten und letzten Schritt schließlich einige Überlegungen zur literarischen Gattung des Speculum universale angestellt. 2.1.1.1 Handschriftliche Überlieferung, kritische Editionen und Übersetzungen Der Text des Speculum universale liegt aktuell immer noch nicht vollständig als kritische Edition vor.4 Es gibt aber Teileditionen.5 Diesbezüglich sind zuerst die von Claudia Heimann und Stephan Ernst herausgegebenen Bände 2416 und 241A7 der Reihe Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis (CCM) zu nennen. Der erste der beiden Bände enthält die Bücher 1–5, der zweite die Bücher 7–10. Sodann existiert eine Ausgabe nebst Übersetzung der Kapitel 31–92 von Buch 8 in Band 171 der Reihe Studies and Texts des Pontifical Institute of Mediaeval Studies in Toronto (STPIMS).8 Sie wurde von Christopher Evans erarbeitet und umfasst die Quästionen über die Sakramentenlehre, berücksichtigt jedoch nicht alle Handschriften.9 Neben diesen Textausgaben stellt die Teilübersetzung der Bücher 1 und 5, die Stephan Ernst vor kurzem in Band 41 der Reihe Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters (HBPhMA) vorgelegt hat, ein weiteres wichtiges Hilfsmittel
4 Johannes Gründel, der die Bedeutung einer kritische Gesamtedition des Werkes für seine weitere Erforschung bereits vor annähernd einem halben Jahrhundert hervorgehoben hat (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 3 f.) konnte dieses Vorhaben selbst nicht mehr realisieren (vgl. DERS., Geleitwort). 5 Neben den im Folgenden beschriebenen beiden Teileditionen findet sich in der Literatur hin und wieder der Hinweis auf eine Edition der Bücher 1 und 7, die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Dissertation in Paris entstanden sein soll. Sie wurde aber offensichtlich nie veröffentlicht (vgl. LE PAUL, Étude du Speculum universale sowie DERS., Le „Speculum universale“). Vgl. dazu z. B. GRÜNDEL, Verstandestugenden 3 n. 17. 6 RADULFUS ARDENS, Speculum universale. Libri I–V (ed. C. HEIMANN / S. ERNST) (CCM 241), Turnhout 2011; rezensiert bei MANDRELLA, Rez. Heimann / Ernst. 7 RADULFUS ARDENS, Speculum universale. Libri VII–X (ed. C. HEIMANN / S. ERNST) (CCM 241A), Turnhout 2020. 8 RADULPHUS ARDENS, The Questions on the Sacraments. Speculum universale 8.31–92 (ed. C. P. EVANS) (STPIMS 171), Toronto 2010. Ein besonderes Augenmerk liegt in dieser Ausgabe auf der Frage, in welchem Umfang die Sakramentenlehre des Radulfus Ardens von zeitgenössischen Vorlagen – wie etwa den Institutiones des Simon von Tournai oder den Sententiae des Petrus Lombardus – abhängig ist (vgl. dazu EVANS, Introduction 15–20). 9 So geht aus dem entsprechenden Passus (EVANS, Introduction 11–15) hervor, dass die durchaus nicht unwichtige Handschrift B von ihm nicht berücksichtigt wurde.
2.1 Sein literarisches Schaffen
7
zur Texterschließung dar; zudem existiert ein Beitrag, der Auszüge aus dem Traktat über das Almosen in Buch 11 (c. 49–96) in Übersetzung präsentiert.10 Obgleich durch diese Arbeiten wichtige Teile des Werkes für die genauere inhaltliche Erschließung zugänglich gemacht wurden und auch schon ein dritter Band der CCM-Edition angekündigt wurde, der die Bücher 11–14 und damit den noch ausstehenden Teil des Werkes enthalten wird, muss sich die vorliegende Untersuchung weitestgehend auf die Handschriften stützen.11 Deswegen ist es unumgänglich, kurz auf die handschriftliche Überlieferung und die Qualität der einzelnen Textzeugen einzugehen. Die Skizze stützt sich dabei auf die jüngste Beschreibung der Handschriften von Claudia Heimann, die den neuesten Forschungsstand dazu widerspiegelt.12 Demnach existieren heute noch neun Textzeugen des Werkes, von denen fünf (P, B, L, Pa, V) den Text vollständig (bzw. zum größten Teil) enthalten und vier (Ps, Pu, Pi, Vo) unterschiedlich lange Auszüge daraus wiedergeben. In der folgenden tabellarischen Übersicht sind die Handschriften absteigend nach ihrer Qualität angeordnet:
P
Codices Paris BN lat. und
Ende . / Anfang . Jahrhundert
Pu
Codex Paris BN lat.
Spätes . Jahrhundert
Ps
Codex Paris BN lat.
Zweite Hälfte . Jahrhundert
B
Codex Besançon BM
Ende . / Anfang . Jahrhundert
Vo
Codex BAV Ottob. lat.
. Jahrhundert
L
Codices Lissabon BN Fondo Iluminado und
vollendet
Pi
Codex Paris BM ms.
. Jahrhundert
Pa
Codex Paris BM ms.
Spätes . Jahrhundert
V
Codices BAV Vat. lat. I und II
. Jahrhundert
Grundsätzlich ist dazu zu sagen, dass die Handschriften aus dem späten 12. und dem frühen 13. Jahrhundert sowie die Abschriften aus dem späten Mittelalter qualitativ relativ hochwertig sind, während diejenigen aus dem 14. Jahrhundert (hier sind in erster Linie Pa und V zu nennen) eindeutig dem verdorbenen Überlieferungsstrang zugeordnet werden können.13 Diese Erkenntnis ist im Rahmen der vorliegenden 10 ERNST (Hrsg.), Wie entstehen die Tugenden und Laster?; DERS. / JANOTTA, Typologie von Almosen. 11 Der Verfasser konnte bei seinen Untersuchungen des Speculum universale auf vorläufige Abschriften der ersten 119 Kapitel von Buch 11 und des gesamten 12. Buches zurückgreifen. In diesem Zusammenhang ist Frau Dr. Claudia Heimann und Frau Dr. Anette Löffler für ihr wohlwollendes Entgegenkommen zu danken. 12 Vgl. HEIMANN, Einleitung XXXVIII–CVIII und ergänzend dazu ERNST, Einleitung 2 XXXVI–LVIII. 13 Vgl. HEIMANN, Beobachtungen 166 f.
8
2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Untersuchung v. a. deshalb bedeutsam, da gerade in älteren Veröffentlichungen zum Speculum universale nahezu ausschließlich Pa, V und Pi als Textgrundlage verwendet wurden, weshalb die dort angeführten Zitate tendenziell fehlerhaftes oder teilweise verändertes Textmaterial enthalten.14 Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Martin Grabmann, der sich als erster zur handschriftlichen Überlieferung des Speculum universale äußerte, nur die drei eben genannten verdorbenen Handschriften erwähnte.15 Seitdem konnten in der Forschung grundlegende Neuerkenntnisse gewonnen werden: Zum einen hat sich Johannes Gründel im Vorfeld seiner Darstellung der Verstandestugenden damit auseinandergesetzt. Er ermittelte weitere Textzeugen und erkannte im ersten Band der Handschrift P zurecht eine qualitativ hochwertige Textgrundlage.16 Jedoch sah er noch nicht, dass die beiden Codices 3229 und 3240 zusammengehören (den zweiten Band bezeichnete er als Pr), und legte seinen Ausführungen neben dem ersten Band von P immer wieder auch die verderbte Handschrift Pa zugrunde. Erst Claudia Heimann identifizierte in ihrer eben erwähnten umfassenden Beschreibung und Neubewertung der handschriftlichen Überlieferung im Zuge der CCM-Edition die beiden Bände von P eindeutig als Leithandschrift. Bei ihren Untersuchungen kam sie zu dem Ergebnis, dass die Handschrift in jedem Fall am Ende des 12. oder zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden sein muss und dass die beiden Bände, die im Verlauf ihrer Geschichte getrennt wurden, den Text des Speculum universale nahezu vollständig überliefern und nur sehr wenige Fehler enthalten.17 Daneben zog sie für die Edition auch erstmals die Handschrift L mit heran, die Johannes Gründel noch nicht kannte, da sie erst 1980 durch einen Artikel von André Vernet18 wiederentdeckt worden war. Dieser Fund warf auch die bisher noch ungeklärte Frage auf, warum ein unmittelbar nach seiner Entstehungszeit gegen Ende des 12. Jahrhunderts kaum rezipiertes Werk im 15. Jahrhundert fast komplett abgeschrieben wurde.19
14 Vgl. z. B. die Ausführungen über die Überlieferungssituation des Speculum universale bei HÖDL, Schlüsselgewalt 1 242 und LANDGRAF, Einführung 84. Dieses Problem wurde zuerst in HÖDL, Rez. Gründel 380 angesprochen; auf der Grundlage neuer Erkenntnisse zur Handschrift B heißt es dort: „Sobald man B in die textkritischen Studien einbezieht, erscheinen die beiden anderen Kronzeugen des Speculum P [scil. Pa] und V als stammverwandt und in hohem Maße verderbt.“ 15 Vgl. GRABMANN, Geschichte 1 248. 16 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 53–99. 17 Der erste Band beinhaltet die Bücher 1–5 und 7–8, der zweite die Bücher 9–14. 18 VERNET, Raoul Ardent. 19 Vgl. dazu HEIMANN, Beobachtungen 167. Sie spricht in Zusammenhang mit der Verbreitung der Predigten auch von einer möglichen ‚Renaissance‘ des Radulfus im 15. Jahrhundert (vgl. ebd. 169 f.); ähnlich äußerte sich bereits HÖDL, Rez. Gründel 380 zu den zwei verlorenen Handschriften aus Tours (T und To): „Die beiden Handschriften … zeigen, daß das Speculum des Radulfus auch noch im Spätmittelalter gelesen wurde.“
2.1 Sein literarisches Schaffen
9
Insgesamt ergaben sich durch diese Erkenntnisse Änderungen im Stemma, als deren wichtigstes Ergebnis festzuhalten ist: Die Stellung der Handschrift P ist singulär. Sie entstand unmittelbar nach dem Tod des Radulfus Ardens oder sogar noch zu seinen Lebzeiten und wurde offensichtlich vom Schreiber selbst verbessert. Vermutlich stellt sie eine direkte Abschrift des Autografen oder des Ideografen dar. Aus diesen Gründen ist sie als Leithandschrift anzusehen20 und bildet damit die Textgrundlage für die Untersuchung der Bücher 11 und 12 im zweiten und dritten Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Für die Darstellung der Seelenlehre und der Anthropologie des Radulfus Ardens im ersten Hauptteil kann jedoch die bereits abgeschlossene Teiledition der Bücher 1–5 herangezogen werden. 2.1.1.2 Datierung und Abfassung Wie anfangs erwähnt, hängt die Frage nach der Entstehungszeit des Speculum universale eng mit der Frage nach dem Leben und Wirken seines Autors zusammen. Neben seinen (höchst seltenen) persönlichen Aussagen im Werk lassen v. a. die von ihm zitierten Quellen genauere Rückschlüsse auf den Abfassungszeitraum zu. Daher werden in diesem Abschnitt zunächst die wichtigsten Erkenntnisse zur Quellenlage und Datierung des Werkes wiedergegeben; sodann werden Überlegungen dazu angestellt, in welcher Reihenfolge Radulfus Ardens bei der Abfassung der einzelnen Bücher vorgegangen ist und aus welchen Gründen das Speculum universale als unvollendet anzusehen ist. (1) In welchem Zeitraum das Werk geschrieben wurde, war in der Forschung lange unklar. Zuerst hat sich Martin Grabmann mit dieser Frage beschäftigt. Er datierte das Speculum universale auf der Grundlage unzuverlässiger Angaben in den Zeitraum um 1100.21 Bernhard Geyer konnte kurze Zeit später aufgrund von Beobachtungen am Text von Buch 10 nachweisen, dass diese These auf falschen Annahmen beruhte und die Abfassungszeit ca. 100 Jahre später zwischen dem dritten und vierten Laterankonzil anzusetzen ist. Radulfus Ardens zitiert dort nämlich in einer kanonistischen Erörterung über die Bedingungen für die Gültigkeit eines Gesetzes in Zusammenhang mit den Benefizien (Pfründen) einen ‚canon lateranis concilii‘.22 Bei dem erwähnten Konzil muss es sich – so Bernhard Geyer – um das III. Lateranense
20 Vgl. HEIMANN, Einleitung XCII–CII. Eine ähnliche Bewertung des ersten Bandes von P hat bereits Johannes Gründel in Erwägung gezogen (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 93). 21 Vgl. GRABMANN, Geschichte 1 246–257. 22 Spec. uniu. 10, 37 (CCM 241A, p. 571): „Vnde et derogatum est canoni Thelessori de inchoando ieiunio a Septuaginta et canoni laterani concilii de non promittendo alicui ecclesiastico beneficio non uacante, de non conferendis pluribus beneficiis, dignitatibus uel ecclesiasticis alicui persone et de domo episcopi construenda edili iuxta ecclesiam in qua pasceret pauperes.“ Es handelt sich hierbei um eine Entlehnung aus den Canones 8, 13 und 14 des dritten Laterankonzils (vgl. Concil. Lateran. III 8.13 f. (p. 191.194)).
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
im Jahr 1179 handeln, da dort erstmals Regelungen zur Kumulation von Benefizien geschaffen wurden. Die Ergebnisse des IV. Lateranense hat Radulfus Ardens dagegen sicher noch nicht gekannt, da er im weiteren Verlauf des Kapitels die Rechtsunsicherheit bei Ehehindernissen (besonders in Bezug auf die Verwandtschaftsgrade) beklagt – ein Bereich, zu dem das IV. Laterankonzil im Jahr 1215 umfangreiche Regelungen erlassen hat.23 Die Fertigstellung und vermutlich auch die Entstehung des Werkes kann damit eindeutig auf den Zeitraum zwischen 1179–1215 festgelegt werden.24 In der Forschung wurden seitdem einige Bemühungen unternommen, diesen Zeitraum weiter einzugrenzen. Dabei werden nun zunächst die Überlegungen zum ‚terminus ante quem‘ wiedergegeben, sodann wird die Frage nach dem ‚terminus post quem‘ behandelt. – Zunächst vertrat Marie-Thérèse d’Alverny aufgrund der grafischen Gestaltung und des Schriftstils der Handschrift P die These, dass das Speculum universale vor dem Jahr 1200 abgefasst sein muss.25 Da es jedoch fragwürdig erscheint, allein aufgrund eines paläografischen Befundes eine so genaue Datierung vorzunehmen, wurde an dieser Bestimmung zurecht Kritik geübt.26 Johannes Gründel folgte den Ausführungen d’Alvernys, ohne sich allerdings auf das Jahr 1200 festzulegen27, während Claudia Heimann deutlich dafür plädiert, den ‚terminus ante quem‘ „zumindest ca. 1200, oder gar vor 1215“28 anzunehmen. – Eine wesentlich schwerer zu beantwortende Frage ist, wann Radulfus Ardens mit der Arbeit begonnen hat. Hier können nur quellenkritische Studien Licht ins Dunkel bringen; d. h. anhand der zweifelsfrei datierbaren Autoren, die im Speculum universale zitierten wurden, kann im Rückschluss der entsprechende Zeitraum ermittelt werden. Problematisch ist dabei erstens, dass er viele Autoren zitiert, die zeitlich ebenfalls nur ungenau eingeordnet werden können, und zweitens, dass oft kaum zu bestimmen ist, wer von wem abgeschrieben hat. Dennoch hat Damien Van den Eynde Mitte des letzten Jahrhunderts den Versuch unternommen, den Abfassungszeitraum von seinem Beginn her weiter
23 Nachdem Radulfus Ardens die verschiedenen unzulänglichen Reglementierungen zu den Ehehindernissen wiedergegeben hat, kommt er in Spec. uniu. 10, 37 (CCM 241A, p. 571 f.) zu dem Schluss: „[…] fecerunt nos quasi liberos, ut in eis gradibus quos uoluerimus, separemus et quos uoluerimus, coniungamus. […] Propter huiusmodi sacramentum matrimonii hodie uersum est laicis in derisionem.“ Das IV. Lateranense hat hingegen den vierten Verwandtschaftsgrad (‚consanguinitas‘) als Grenze festgelegt und damit diesem Mangel Abhilfe geschaffen (vgl. dazu ausführlich GEYER, Radulfus Ardens 77–80). 24 Vgl. GEYER, Radulfus Ardens 89. Er hatte diese Untersuchung bereits vorher in zwei kleineren Beiträgen angekündigt: DERS., Rez. Schmoll sowie DERS., Siebenzahl. 25 Vgl. D’ALVERNY, L’obit. 26 Vgl. v. a. BALDWIN, Masters 1 40 n. 276. 27 GRÜNDEL, Verstandestugenden 10: „Nach den Untersuchungen von D’Alverny fällt der Tod des Radulfus bereits auf den 12. September des Jahres 1200 oder auf den gleichen Tag einige Jahre zuvor.“ 28 HEIMANN, Einleitung XXXIII.
2.1 Sein literarisches Schaffen
11
einzugrenzen.29 Radulfus Ardens habe, so schreibt er, einen ganzen Abschnitt zum dritten Laterankonzil in Buch 10 aus dem 1193 vollendeten Verbum adbreviatum des Petrus Cantor († 1197) übernommen. Johannes Gründel hat diese These in seiner Darstellung der Verstandestugenden nicht direkt diskutiert, sondern weitere mögliche Parallelen untersucht. Auch Carla Casagrande und Silvana Vecchio schließen sich ihr nur unter Vorbehalt an.30 John Baldwin dagegen bemühte sich darum, die von Damien Van den Eynde vermutete Abhängigkeit deutlicher aufzuzeigen und vertrat die Ansicht, Radulfus Ardens habe Teile seines anekdotischen Materials hauptsächlich von Petrus Cantor übernommen. Zu diesem Ergebnis war er durch Vergleiche hinsichtlich der ‚exempla‘ gekommen: Von diesen Erzählungen (meist über Mönchsväter und Heilige), die eigentlich aus den Vitae patrum stammen, verwende Radulfus Ardens, so Baldwin, Kurzfassungen, die auch bei Petrus Cantor zu finden seien.31 Genauere Textvergleiche zeigten aber, dass die entsprechenden Textabschnitte nicht identisch, sondern nur sehr ähnlich sind. Im Fall der Äußerungen zum dritten Laterankonzil finden sich bspw. auch im Decretum Gratiani vergleichbare Stellen, sodass eher von einer gemeinsamen Vorlage auszugehen ist. Zudem ist im Fall der ‚exempla‘ mindestens eine Erzählung im Speculum universale deutlich länger als im Verbum adbreviatum. Claudia Heimann schließt daher sogar die Möglichkeit nicht aus, dass evtl. Petrus Cantor umgekehrt die einschlägigen Passagen von Radulfus Ardens abgeschrieben hat.32 Wie unklar die Lage in dieser Hinsicht ist, wurde durch die Untersuchungen der Bücher 11 und 12 weiter bestätigt. So führen sowohl Radulfus Ardens als auch Petrus Cantor ein Gedicht des Hildebert von Lavardin (‚de quatuor bonis et quatuor malis‘) an.33 Dieser Befund würde auf den ersten Blick dafür sprechen, dass einer von beiden vom anderen abgeschrieben hat, jedoch zeigt sich auf den zweiten Blick, dass es sich auch hier – ähnlich wie bei den Vitae patrum und dem Decretum Gratiani – um damals weit verbreitetes Allgemeingut handelt. Vor diesem undurchsichtigen Hintergrund bleibt also festzuhalten, dass die Entstehungszeit des Speculum universale nicht exakt und der ‚terminus post quem‘ nur äußerst vage festgelegt werden kann. Auch in diesem Bereich sind weiterführende Neuerkenntnisse nur durch tiefergehende Quellenstudien am Text der Bücher 7–14 zu erwarten.
29 Vgl. VAN DEN EYNDE, Précisions; damit wäre entsprechend der Datierung des Verbum adbreviatum die Abfassungszeit des Speculum universale zwischen 1193 und 1200 anzusetzen. 30 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 335 sowie CASAGRANDE / VECCHIO, Les péchés 59 n. 2. HÖDL, Schlüsselgewalt 1 241 folgt der Annahme gar widerspruchslos. 31 Vgl. BALDWIN, Masters 1 40 sowie DERS., Masters 2 30 n. 273. 32 Die Diskussion findet sich in ausführlicher Form bei HEIMANN, Einleitung XXXIII–XXXVII. 33 Vgl. dazu ausführlich Punkt 1.1.1 des dritten Hauptteils der vorliegenden Arbeit.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
(2) Zudem besteht Unklarheit darüber, auf welchen Umfang das Werk angelegt war. Sicher ist indes, dass es in der Form, in der es heute noch existiert, unvollständig ist und allem Anschein nach auch niemals fertiggestellt wurde. Zunächst fällt dabei ins Auge, dass Buch 6 komplett fehlt. Eine Bemerkung aus Buch 11, er habe sich ‚weiter oben‘ (‚superius‘) zum Gebet ausführlich geäußert34, könnte zwar vermuten lassen, dass er es fertiggestellt hat oder diesbezüglich zumindest schon ein genaues Konzept im Kopf hatte. Jedoch findet sich in einigen Handschriften, die das Werk vollständig enthalten, am Ende von Buch 5 ein Hinweis darauf, dass Buch 6 über das Gebet (‚de oratione‘) ausgelassen wurde, da zunächst wichtigere Aufgaben (‚maiora‘) anstanden.35 Ob damit die Abfassung der übrigen Bücher oder völlig andere Dinge, wie etwa die Arbeiten als Kaplan für König Richard36, gemeint waren, lässt sich nur mutmaßen.37 Diese Bemerkung spricht trotz des Verweises in Buch 11 deutlich dafür, dass Buch 6 nie geschrieben wurde. Allem Anschein nach sollte das Werk auch nicht mit Buch 14 enden. Dass ein Buch 15 geplant war, lässt sich nicht mit abschließender Sicherheit beweisen, jedoch spricht v. a. ein belastbares Indiz dafür: Zu Beginn von Buch 13 benennt Radulfus Ardens die drei Bereiche des Äußeren Menschen, nämlich Wort (‚uerbum‘), Sinn (‚sensus‘) und Werk (‚opus‘)38. Dieser Aufgliederung zufolge kündigt er an, zuerst die Disziplin der Sprache (‚custodia oris‘), zweitens die Disziplin der Sinne (‚custodia sensuum‘) und drittens die Richtigkeit der Werke (‚rectitudo operum‘) zu behandeln. Während die ersten beiden Themen in den Büchern 13 und 14 dargestellt werden, äußert er sich zur Richtigkeit der Werke nicht mehr. Es kann daher zumindest mit einiger Berechtigung vermutet werden, dass die Abfassung eines weiteren Buches oder zumindest weiterer Kapitel geplant war. Für ersteres würde immerhin der Umstand sprechen, dass Buch 14 mit (laut Handschrift P) 82 Kapiteln bereits recht umfangreich ist und daher durchaus ein 15. Buch geplant gewesen sein könnte. Auch die Thematik des letzten Kapitels von Buch 14 – dort geht es um Sodomie
34 Spec. uniu. 11, 60 (P, fol. 78va): „Sed quoniam superius de oratione sufficienter locuti sumus, nunc pertransimus.“ 35 Am Ende von Buch 5 findet sich in den Handschriften P, L, Pa und V dazu folgende Bemerkung (CCM 241, p. 451): „Hinc deest liber sextus in quo proposuerat magister Radulfus se de oratione tractaturum, quem quia ad maiora festinabat, quosque cetera consumasset, distulit, sed postea morte interueniente perficere non potuit.“ 36 Vgl. zu dieser These Punkt 2.3 der Einleitung. 37 Zu der ersten Erklärung tendiert GRÜNDEL, Verstandestugenden 39 f.; die Überlegungen von WOLF, La préface könnten als Grundlage für die zweite Erklärung herangezogen werden. 38 Spec. uniu. 13, 1 (P, fol. 161ra): „Mores exterioris hominis in tribus considerantur: in uerbo, in sensu, in opere. Enimuero quod mente conceptum est, uerbo proferimus; quod prolatum est quomodo faciendum sit, sensu discernimus; quod discretum est operando, ad effectum perducimus. […] Itaque mores exterioris hominis bene formantur per custodiam oris, per custodiam sensuum, per rectitudinem operationis.“ Vgl. dazu auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 280–283.
2.1 Sein literarisches Schaffen
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(‚ignominia siue abhominatio‘), die wiederum eine Unterart der Ausschweifung (‚luxuria‘) ist – scheint als Abschluss für ein großangelegtes und kunstvoll aufgegliedertes Werkes über Ethik völlig unpassend, sodass allem Anschein nach auch die Ausführungen über die Disziplin der Sinne selbst unabgeschlossen sind.39 Abgesehen von diesem alleine schon äußerlich hervortretenden unfertigen Charakter des Werkes hat sich auch bei der detaillierteren inhaltlichen Untersuchung der Bücher 11 und 12 im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der Eindruck verstärkt, dass auch die Arbeit an den vorhandenen Texten nicht abgeschlossen wurde. So finden sich zum einen immer wieder systematische bzw. argumentative Brüche.40 Da sie offenkundig nicht dem mangelnden Können des Autors anzulasten sind – schließlich finden sich solche Unklarheiten in den ersten fünf Büchern fast überhaupt nicht –, könnten sie möglicherweise schlicht einem Zeitmangel beim Abfassen der letzten Bücher geschuldet sein. Ein weiteres Indiz dafür wird in Zusammenhang mit den Leitfragensammlungen sichtbar, die Radulfus Ardens meist zu Beginn inhaltlich zusammenhängender Abschnitte bzw. Traktate präsentiert. Dabei handelt es sich um eine Art ‚Exposé‘, das längere Passagen vorstrukturiert und so das Verständnis erleichtert. Während er seine Gedankenführung bspw. in den ersten fünf Büchern genau an diesen Leitfragen ausrichtet, stößt der Leser in den Büchern 11 und 12 immer wieder auf Fälle, in denen anfangs angekündigte Fragen überhaupt nicht behandelt werden41 oder Themen, die eigentlich in voneinander getrennten Kapiteln behandelt werden müssten, innerhalb eines Kapitels ineinander übergehen und dadurch schwer zu verstehen sind42. So entsteht der Eindruck, dass es sich zumindest bei den eben genannten Büchern (genauere Untersuchungen zu den Büchern 13 und 14 stehen noch aus) um Rohfassungen handelt, die nicht mehr komplett durchgesehen bzw. korrigiert wurden und in denen der Autor auch keine Übergänge mehr geglättet oder fehlende Informationen eingefügt hat. Mit diesem Problemkomplex hängt eine weitere wichtige Frage zusammen: In welcher Reihenfolge hat Radulfus Ardens die Bücher verfasst? Er verweist immer wieder auf frühere Kapitel und verwendet dabei gewöhnlich den Begriff ‚superius‘. Daher wurde in der Forschung angenommen, dass er die einzelnen Bücher nacheinander und aufeinander aufbauend verfasst hat.43 Dass aber auch auf Themengebiete 39 Dies ist bereits Johannes Gründel aufgefallen (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 41). 40 Vgl. dazu im Detail die Ausführungen im zweiten und dritten Hauptteil der Arbeit und im Überblick die beiden Zwischenfazit-Kapitel (2.9. bzw. 2.5) zu diesen Abschnitten. 41 Ein solcher Fall findet sich z. B. im Traktat über den Geiz (‚auaritia‘) in Buch 12 (c. 49–52), in dem die dritte Leitfrage (‚quantum malum auaritia sit‘) in Kapitel 48 zwar angekündigt, aber nicht klar beantwortet wird oder in Buch 11 im Traktat über das Almosen (c. 47–96), in dem die zwölfte Leitfrage nirgends behandelt wird (vgl. dazu Punkt 2.1.7 im zweiten Teil der Arbeit). 42 Hier ist auf den Abschnitt über die Tochtertugenden der Demut (‚humilitas‘) in Buch 12 zu verweisen, der ohne ersichtlichen Grund völlig unübersichtlich gegliedert ist (vgl. Punkt 2.3.2 des dritten Hauptteils). 43 Vgl. dazu bspw. GRÜNDEL, Verstandestugenden 39–42.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
verwiesen wird, die offensichtlich nie ausformuliert wurden (wie z. B. auf das Gebet), legt allerdings eher nahe, dass er immer wieder an unterschiedlichen Passagen gearbeitet hat, aber schon genau wusste, welche Themen er an welcher Stelle im Speculum universale behandeln wollte. Eine solche Vorstellung vom Entstehungsprozess des Werkes würde auch gut zu einer Beobachtung in der Leithandschrift P passen: Hier finden sich gegen Ende von Buch 8 – also auf den letzten Seiten des ersten Bandes – einige umfangreiche Ergänzungen, die mithilfe von Asterisken in den bestehenden Text eingefügt wurden.44 Diese Hinzufügungen sind in den später entstandenen Handschriften im Text enthalten. Von daher liegt die Vermutung nahe, dass diese Ergänzungen als Erweiterungen anzusehen sind, die möglicherweise noch zu Lebzeiten des Autors oder nur kurz danach entstanden sind und dann eingearbeitet wurden. Dieses Gedankenspiel ist zu einem gewissen Maß spekulativ, jedoch kann unter Berücksichtigung der Entstehungszeit von P keineswegs ausgeschlossen werden, dass sich an der Gestalt der Handschrift Rückschlüsse auf den finalen Zustand des Speculum universale ziehen lassen. Nimmt man all diese Beobachtungen und Vermutungen zusammen, erscheint die bereits von Johannes Gründel geäußerte Annahme, dass Radulfus Ardens womöglich vor der Vollendung des Werkes gestorben ist, sehr wahrscheinlich.45 Er machte diesbezüglich auch darauf aufmerksam, dass sich gerade in den späteren Büchern persönliche Bemerkungen von Radulfus Ardens finden, die Rückschlüsse darauf zulassen könnten, dass es ihm während der Arbeit gesundheitlich möglicherweise zunehmend schlechter ging. So begegnet ab Buch 9 immer wieder die Formulierung ‚deo largiente‘, mit der er offensichtlich seine Hoffnung zum Ausdruck bringt, das Werk noch fertigstellen zu können. Auch am Ende von Buch 12 äußert er sich in ähnlicher Weise in Rückschau auf die Darstellung der Tugenden des Inneren Menschen.46 Gründel interpretiert diese Beobachtung dahingehend, dass Radulfus Ardens möglicherweise schon sehr alt bzw. krank war, sein Ende kommen sah und fürchtete, sein Werk nicht mehr vollenden zu können.47 Folgt man dieser Sichtweise, wäre er über der Arbeit gestorben und konnte bspw. in Buch 8 noch einige Ergänzungen vornehmen, während ihm dies bei anderen Büchern – z. B. Buch 11 und Buch 12 – nicht mehr gelang. Dieses Gesamtbild hat wie gesagt einiges für sich; bevor aber nicht weitere Textfragmente oder zumindest noch belastbarere Hinweise innerhalb des vorliegenden Textes gefunden werden –
44 Dies geschah zum einen durch umfangreiche Randnotizen (vgl. z. B. P, fol. 129v) oder durch die Einfügung ganzer Seiten (vgl. z. B. P, fol. 131r). 45 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 41. 46 Vgl. etwa Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 143vb–144ra): „Ceterum quoniam hec ad exteriorem hominem pertinent, quando de homine exteriori Deo largiente loquituri sumus et de istis pariter exponemus, nunc uero reticemus.“ Oder ebd. 12, 145 (P, fol. 159va): „Ecce de uirtutibus interioris hominis, quantum nobis prebuit diuina munificentia loquuti sumus.“ 47 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 19 f.
2.1 Sein literarisches Schaffen
15
immerhin könnte man die Bemerkungen des Autors als Ausdruck seiner Gottesfürchtigkeit interpretieren – handelt es sich dabei jedoch um reine Mutmaßungen. 2.1.1.3 Die Gliederung des Werkes und ihre Besonderheiten In der Forschung herrscht allgemein Konsens darüber, dass die Gliederung des Speculum universale unter der theologischen Literatur seiner Zeit durch einige Besonderheiten hervorsticht, die auch die Bewertung des Werkes als Höhepunkt der tugendethischen Reflexion im 12. Jahrhundert mitbegründen.48 Daher gilt es, den aktuellen Stand der Forschung zusammenzufassen, wobei in erster Linie die knappen Ausführungen von Johannes Gründel zu diesem Thema sowie ein ausführlicher jüngerer Beitrag von Stephan Ernst zum Ausbau der Tugendsysteme im 12. und 13. Jahrhundert maßgeblich sind.49 In welchen Punkten sich die zeitgenössischen theologisch-ethischen Schriften in ihrer Aufgliederung von der des Speculum universale unterscheiden, lässt sich am besten vor dem Hintergrund einer kurzen Übersicht zur Konzeption des Werkes sichtbar machen, die durch das unten angefügte Schema und darauf folgende Erläuterungen dargeboten wird:50 ALLGEMEINE TUGENDLEHRE Buch
Buch Buch Buch Buch
Wissenschaftslehre und Bestimmung der Ethik im Rahmen der Wissenschaften / Gliederung des Stoffes / Begriffsdefinitionen von Gut und Böse sowie Tugend und Laster / Seelenlehre / Ur- und Erbsündenlehre Soteriologie / Gnade und Freiheit / prägende Einflüsse für die Entstehung von Tugenden und Lastern (‚occasiones‘) Die Feinde des Menschen: Das Fleisch, die Dämonen, weltlich ausgerichtete Menschen und weltliche Versuchungen Die Freunde des Menschen: Der menschliche Geist, die Engel, geistig ausgerichtete Menschen und Gott Die Entwicklung des guten und bösen Willens aus Gedanken und Affekten und seine habituelle Verfestigung in Form von Tugenden und Lastern SPEZIELLE TUGENDLEHRE
Buch Buch
Das Gebet (fehlt) Die Tugenden des Inneren Menschen Die diskretiven Tugenden Glaube – Gottes- und Trinitätslehre
48 Vgl. v. a. GRÜNDEL, Verstandestugenden 24–36 sowie ERNST, Estote prudentes 557–561; DERS., Tugendethik 53–55; DERS., Passiones animae 135–143; DERS., Klug wie die Schlangen 46–50; DERS., Sittlichkeit 264–273; DERS., Einleitung 1 11–26. 49 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 24–26 sowie ERNST, Tugendsysteme. 50 Die Übersicht orientiert sich an ERNST, Einleitung 1 23 f.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
(fortgesetzt) SPEZIELLE TUGENDLEHRE Buch Buch Buch Buch
Buch Buch Buch Buch
Glaube – Christologie, Sakramentenlehre und Eschatologie Klugheit Gerechtigkeit / Tapferkeit / Maßhaltung Die affektiven Tugenden Liebe (amative Tugenden) Hass (oditive Tugenden) Geringschätzung (kontemptive Tugenden) Die Tugenden des Äußeren Menschen Disziplin der Worte: Reden und Schweigen Disziplin der Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten Richtigkeit der Werke (fehlt)
An diesem Aufriss zeigt sich, dass das Werk grundsätzlich in zwei Teile geteilt ist. In der allgemeinen Tugendlehre (Bücher 1–5) bestimmt Radulfus Ardens die Ethik als Wissenschaft, definiert wichtige Grundbegriffe und stellt die anthropologischen Grundlagen seiner Tugendlehre dar. Auf diesem Fundament entfaltet er in der speziellen Tugendlehre (Bücher 7–14) die einzelnen Tugenden inhaltlich: In den Büchern 7–12 behandelt er die Tugenden des Inneren Menschen, die aus der Vernunft und den Affekten entstehen. Dieser Bereich ist durch ein Einleitungs- und ein Schlusskapitel klar abgegrenzt, nämlich das erste Kapitel von Buch 7 und das letzte Kapitel von Buch 12.51 Im Anschluss daran stellt er in den Büchern 13 und 14 die Tugenden des Äußeren Menschen dar. Insgesamt lassen sich also – ausgehend von den verschiedenen Kräften der menschlichen Seele – fünf Tugendgruppen ausmachen: Die diskretiven Tugenden (Bücher 7–10), die aus der Vernunft entstehen; die amativen und oditiven Tugenden (Buch 11), die aus Liebe und Hass entstehen; die kontemptiven Tugenden (Buch 12), die aus der Geringschätzung entstehen, und schließlich die Tugenden des Äußeren Menschen (Bücher 13–14), die aus der belebenden Kraft (‚uegetabilitas‘) und der Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung (‚sensualitas‘) hervorgehen. Ohne dass an dieser Stelle bereits geklärt ist, was diese Begriffe konkret bedeuten, lässt sich daran auf den ersten Blick erkennen, dass Radulfus Ardens ein Gesamtbild der Theologie entwirft, das vom Menschen und seinem sittlichen Können in Gestalt der Seelenkräfte und der daraus entstehenden Tugenden ausgeht. Zu dieser grundlegenden Aufgliederung des Stoffes (‚ordo dicendorum‘) äußert er sich auch selbst und zwar im 11. Kapitel von Buch 1. Dabei strukturiert er seine Gedankenführung mithilfe von zehn Leitfragen vor. Diese bilden im Prinzip den gesamten Inhalt des Speculum universale ab und können somit gewissermaßen als ein Exposé des Werkes gelten: Die Fragen 1–8 beziehen sich dabei auf die Themen
51 Diese beiden Kapitel werden im Detail unter Punkt 1.1.3 des ersten Hauptteils besprochen.
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der allgemeinen Tugendlehre in den Büchern 1–5, Frage 9 bezieht sich auf das Einleitungskapitel der speziellen Tugendlehre und der zehnte Punkt, der eher eine Ankündigung als eine Frage ist, bezieht sich auf die gesamte Entfaltung der Einzeltugenden in den Büchern 7–14.52 .
‚quid bonum, quid malum, quid uirtus, quid uitium dicatur?‘ . ‚quam sit utilis uirtus quamue perniciosum uitium?‘ . ‚utrum uirtus sit gratuita uel naturalis, utrum substantialis uel accidentialis?‘ . ‚unde uirtutes et unde uitia oriuntur?‘ . ‚quare sit difficilis ortus uirtutum, facilis ortus uitiorum?‘ . ‚quibus consiliariis uitia et quibus consiliariis uirtutes nobis suggerantur?‘ . ‚quomodo nobis surgant?‘ . ‚in quibus auxiliis adolescant?‘ . ‚que sint species uirtutum et uitiorum?‘ . ‚de singulis erit disputandum?‘
Buch , c. – Buch , c. – Buch , c. . Buch , c. – (Seelenlehre) Buch , c. – und Buch , c. – (Sündenfall und Erlösung) Bücher und (Feinde und Freunde des Menschen) Buch (Willen) Buch , c. – (‚occasiones‘) Buch , c. Buch , c. -Buch , c.
Damit unterschiedet sich das Speculum universale in seinem Aufbau zunächst von den Sententiae des Petrus Lombardus († 1160). Sie waren bereits einige Jahrzehnte zuvor entstanden und dass Radulfus Ardens sie gut kannte, steht außer Zweifel; schließlich führt er bspw. in den Büchern 7 und 8 neben kurzen Zitaten auch mehrere längere Passagen aus dem 3. und 4. Buch daraus an.53 Offensichtlich übernahm er ihre dogmatisch-heilsgeschichtliche Aufgliederung in die vier Traktate Gotteslehre, Schöpfungslehre, Christologie und Sakramentenlehre aber ganz bewusst nicht, sondern ordnete stattdessen die von ihm behandelten dogmatischen Themen in den Gesamtzusammenhang der Tugendethik ein, wie in der folgenden Tabelle an einigen Beispielen deutlich wird:54
52 Spec. uniu. 1, 11 (CCM 241, p. 17): „Inspiciendum est primo quid bonum, quid malum, quid uirtus, quid uitium dicatur; secundo quam sit utilis uirtus quamque perniciosum uitium; tertio utrum uirtus sit gratuita uel naturalis, utrum substantialis uel accidentalis; quarto unde uirtutes et unde uitia oriantur; quinto quare sit difficilis ortus uirtutum, facilis ortus uitiorum; sexto quibus consiliariis uitia et quibus consiliariis nobis uirtutes suggerantur; septimo quomodo in nobis surgant; octauo in quibus auxiliis adolescant; nono que sint species uirtutum et que uitiorum; decimo de singulis erit disputandum.“ 53 Dies trat bei der Arbeit am Quellenapparat der Bücher 7 und 8 klar hervor. Ähnliche Beobachtungen machte auch Christopher Evans hinsichtlich der Kapitel 31–92, wie sich an den Quellenangaben in seiner Teiledition zeigt. 54 Vgl. dazu auch HEIMANN, Einleitung XII. Dass er die dogmatischen Abhandlungen dabei nicht nur äußerlich aus den Traktaten herauslöst und dann lose in seinen eigenen Gedankengang einfügt, sondern sie auch systematisch mit seiner Tugendlehre verknüpft, wurde am Beispiel der
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Dogmatisches Thema Fundstelle im Werk
Tugendethischer Bezugspunkt
Soteriologie
Buch , c. –
Gnadenlehre
Buch , c. –
Dämonologie
Buch , c. –
Die Feinde des Menschen
Angelologie
Buch , c. –
Die Freunde des Menschen
Gotteslehre
Buch , c. –
Die Tugend des Glaubens (‚fides‘)
Trinitätslehre
Buch , c. –
Christologie
Buch , c. –
Sakramentenlehre
Buch , c. –
Eschatologie
Buch , c. –
Ekklesiologie
Buch , c. – Die Tugend der Eintracht (‚concordia‘)
Die Freiheit des Menschen und ihre Wiederherstellung durch Christus
Ebenso wenig orientiert sich der Aufbau des Speculum universale bspw. an der Schrift De sacramentis christianae fidei von Hugo von Sankt Viktor († 1141), die ihm – wie aus einigen Zitaten klar hervorgeht55 – offensichtlich ebenfalls bekannt war.56 Auch die von Petrus Abaelardus († 1142) verwendete und auf Augustinus zurückgehenden Dreiteilung ‚fides‘, ‚caritas‘ und ‚sacramentum‘57 verwendet er nicht. Dabei wäre die Übernahme dieses Schemas durchaus nahegelegen, da Petrus Abaelardus im Bereich der Ethik ähnliche Interessensschwerpunkte wie Radulfus Ardens hatte.58 Während diese drei Autoren und die in ihrem Umfeld entstandenen Schriften also offensichtlich kaum Impulse für den Aufbau des Speculum universale lieferten, scheint sich Radulfus Ardens eher an den Theologen aus dem sogenannten Porretanerkreis59 orientiert zu haben. Sowohl Alanus von Lille († 1202) als auch Simon von Tournai († ca. 1201) gehen dabei von der durch Macrobius und Cicero überlieferten pagan-antiken Lehre von den Kardinaltugenden aus und entwickeln eigene tugendethische Ansätze: Alanus trennt in seinem um 1160 entstandenen Traktat De virtutibus et de vitiis et de donis spiritus sancti die ‚theologia moralis‘ (Moraltheologie)
Erlösungs- und Erbsündenlehre in einem eigenen Beitrag bereits ausführlich gezeigt (vgl. JANOTTA, Soteriologie). 55 So übernimmt Radulfus Ardens aus diesem Werk bspw. die Glaubensdefinition im 6. Kapitel von Buch 7 und ist auch bei seiner systematischen Zuordnung der Affekte von einzelnen Aussagen daraus beeinflusst (vgl. dazu im Detail Punkt 3.2.2 des zweiten Hauptteils). 56 Vgl. HEIMANN, Einleitung XIf. 57 Vgl. HÖDL, Summa. 58 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 24 und ERNST, Tugendsysteme 361 f. 59 Der Begriff bezeichnet im weitesten Sinne alle Theologen, in deren Schriften sich Einflüsse des Denkens von Gilbert von Poitiers († 1155) feststellen lassen. Genauere Informationen dazu finden sich unter Punkt 3.2.
2.1 Sein literarisches Schaffen
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klar von der ‚theologia rationalis‘ (Dogmatik) ab und bestimmt die Tugend als ihre eigentliche Kategorie.60 Im Bemühen, die philosophische Tugendlehre in den christlichen Glauben zu integrieren, unterscheidet er zwischen politischen Tugenden (‚uirtutes politicae‘), die aus dem rechten Gebrauch der natürlichen Veranlagungen des Menschen entstehen, und den katholischen Tugenden (‚uirtutes catholicae‘), die sich zwar inhaltlich nicht von den politischen unterscheiden, jedoch im Gegensatz zu diesen durch die gnadenhaft geschenkte ‚caritas‘ angereichert und vervollkommnet wurden. In der Absicht, das Zusammenspiel von menschlicher Natur und göttlicher Gnade noch genauer zu bestimmen, geht Simon in den nahezu zeitgleich entstandenen Institutiones in sacram paginam noch einen Schritt weiter und differenziert erstmals zwischen den (rein natürlichen) vier Kardinaltugenden einerseits und den (von Gott geschenkten) drei theologischen Tugenden andererseits.61 Obwohl diese beiden Ansätze durchaus inhaltliche Parallelen zum Speculum universale erkennen lassen – beide Autoren verwenden z. B. ebenso wie Radulfus Ardens die philosophische Tugenddefinition des Boethius62 –, gibt es dennoch beträchtliche Unterschiede. So arbeiten sich Simon und Alanus in erster Linie an dem aus der Antike tradierten Schema der vier Kardinaltugenden ab und setzen ihrer eigenen systematischen Reflexion damit letztlich relativ enge Grenzen. Bei Radulfus Ardens hingegen spielt dieses Schema kaum mehr eine Rolle63 und er lässt die einzelnen Tugenden aus den Seelenkräften hervorgehen und teilt sie im Zuge dessen in die fünf oben schon genannten Tugendgruppen ein. Damit hat er ein völlig neuartiges und von der pagan-antiken Lehre unabhängiges Tugendsystem entwickelt, das systematisch mit seiner Anthropologie verknüpft ist. Diese Konzeption geht nochmals deutlich über die Ansätze der Zeitgenossen hinaus, zumal er neben den porretanischen Schriftstellern auch Vertreter anderer theologischer Denkrichtungen
60 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 25. 61 Vgl. dazu im Detail ERNST, Ethische Vernunft 273–289 sowie DERS., Tugendsysteme 362–366. 62 Vgl. z. B. ERNST, Tugendsysteme 364. 63 Der Begriff ‚Kardinaltugenden‘ (‚uirtutes cardinales‘) kommt im gesamten Werk überhaupt nur an zwei Stellen vor: das erste Mal im 5. Kapitel von Buch 4 in Zusammenhang mit den tugendhaften Affekten (‚affectus uirtuales‘), die die Grundlage aller Tugenden – und damit auch der Kardinaltugenden – sind. Allerdings wird der Begriff an dieser Stelle explizit den ‚philosophi‘ zugewiesen, wodurch ihn Radulfus Ardens klar von seiner eigenen Konzeption unterscheidet (vgl. dazu Spec. uniu., 4, 5 (CCM 241, p. 238 f.): „Naturales uero et uirtuales affectus sunt, ut affectus quattuor uirtutum cardinalium quas naturaliter philosophi cognouerunt, sed tamen nulli eas uirtutes ueras nisi per Dei gratiam adipisci ualuerunt.“ sowie Punkt 2.2.2 im ersten Hauptteil der Arbeit); das zweite Mal kommt der Begriff im 157. Kapitel von Buch 11 in Zusammenhang mit der Tugend des Gesangs (‚cantus‘) ohne erkennbare systematische Relevanz vor (vgl. dazu Spec. uniu., 11,157 (P, fol. 105ra): „Sicut quippe tres sunt consonantie in uocali modulatione uidelicet diatessaron quattuor uocum, diapente quinque diapason octo, sic et in armonia morali tres sunt consonantie scilicet diathessaron quattuor cardinalium uirtutum et diapente eorumdem quattuor cum fidei adiectione siue quinque sensuum in armonia morali bene consonantium et diapason octo beatitudinum.“ sowie Punkt 2.5.2 im zweiten Hauptteil).
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
wie etwa Bernhard von Clairvaux († 1153) rezipiert und damit offenkundig den Versuch einer Synthese der verschiedenen Entwicklungslinien unternimmt.64 Aufgrund dieser innovativen und systematisch kohärenten Anlage kann das Speculum universale zurecht als Höhepunkt der Ausdifferenzierung der Tugendlehre im 12. Jahrhundert gelten.65 Jedoch scheint es so, dass dieser originelle aber zugleich durchaus komplexe Ansatz in der Folgezeit häufig nicht verstanden oder aber nicht für gut befunden wurde.66 Mit welcher Perspektive spätere Leser offensichtlich mehrheitlich an das Werk herangegangen sind, lässt sich gut am Beispiel der Handschrift Ps beobachten: Bei der Zusammenstellung dieses Fragments löste der Schreiber die Kapitel über die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhaltung aus dem System des Speculum universale heraus und ordnete sie in einem Buch 3 ‚de quattuor uirtutibus cardinalibus‘ wieder in das aus der antike tradierte Schema ein. Die Kapitel, die mit Tugend der Liebe in Verbindung stehen, wurden in einem Buch 4 gesammelt. 2.1.1.4 Der übergeordnete Rahmen: Die Bestimmung der Ethik als Wissenschaft Nachdem nun die Gliederung des Werkes in einer ersten Übersicht präsentiert und die Eigenständigkeit seiner Anlage vor Augen geführt wurde, sollen einige der eben erwähnten Termini näher erläutert werden, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, in welchen übergeordneten Rahmen Radulfus Ardens seinen tugendethischen Ansatz eingebettet hat. Zu Beginn von Buch 1 bestimmt er in den Kapiteln 1–10 die Ethik als Wissenschaft und unterteilt sie in ihre Teilbereiche. Ein genauerer Blick darauf lohnt sich deshalb, weil hier das Anliegen der Ethik klar formuliert und dem Tugendbegriff eine zentrale Bedeutung zugewiesen wird. Der Autor geht dabei in vier Schritten vor: – Gleich in der Vorrede zu Buch 1 betont er, dass er sich im Speculum universale hauptsächlich mit der Ethik (‚ethica‘) und dabei besonders mit der Ethik des Inneren Menschen (hier als ‚ethica interior‘ bezeichnet) beschäftigen wird.67 Nachdem er die Wissenschaft bzw. Kunst (‚scientia siue ars‘) als eine ‚uera perceptio mentis‘ bestimmt hat, die die unendliche Fülle der Dinge auf begrenzte Weise erfasst, teilt er sie grundlegend in vier Bereiche ein: die Theorik (‚theorica‘), die Ethik (‚ethica‘), die Logik (‚logica‘) und die Mechanik (‚mechanica‘).68 Der Ethik
64 Vgl. ERNST, Ethische Vernunft 324. 65 Vgl. ERNST, Tugendsysteme 366–372. 66 Vgl. dazu z. B. GRÜNDEL, Verstandestugenden 288. 67 Spec. uniu. 1, praef. (CCM 241, p. 3): „Primus liber describit et diuidit scientiam et assumens ethicam eam quoque describit et diuidit, assumens interiorem ethicam eam quoque describit et diuidit.“ 68 Spec. uniu. 1, 1 (CCM 241, p. 6): „Scientia est uera perceptio mentis infinita finite comprehendens. […] Scientia uero siue ars quadrifariam recipit partitionem. Diuiditur siquidem in theoricam, ethicam, logicam et mechanicam.“ Diese vierfache Aufteilung der Wissenschaften orientiert sich offenbar am Didascalicon des Hugo von St. Viktor (vgl. HEIMANN, Einleitung XVf.).
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weist er die Aufgabe zu, den Menschen über die Sitten (‚mores‘) zu belehren und ihn dementsprechend zu formen. Mit anderen Worten: Die Ethik fragt nach der Gerechtigkeit und dem gerechten Verhalten (‚iustum‘).69 Die Existenz dieser vier Wissenschaften begründet sich aus einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang: Jede von ihnen stellt ein Heilmittel (‚antidotum‘) gegen die Beschwernisse der Unheilssituation des Menschen (‚molestias humane calamitatis‘) dar, die durch die Ursünde Adams herbeigeführt wurde. Die Ethik wehrt dabei die Strafe der Ungerechtigkeit (‚iniustitia‘) ab. Dies tut sie, indem sie den Willen wieder gerecht macht (‚uoluntatem iustificare‘), der durch das sündhafte Begehren der verbotenen Frucht dauerhaft fehlgeleitet ist und damit ungerecht wurde.70 Diese Bestimmung lenkt den Blick darauf, dass dem Willen im tugendethischen Ansatz des Speculum universale eine zentrale Bedeutung zukommt. Zudem deutet sich dabei indirekt an, wie wichtig die Affekte für die sittliche Qualität einer Handlung sind, da die einzelnen Willensregungen nichts anderes als die Konkretisierung der Affekte sind.71 – Nachdem er die Ethik von den übrigen Wissenschaften abgegrenzt hat, bestimmt er sie in einer ersten Definition als die Wissenschaft, nach deren Maßgabe der Mensch im Diesseits recht (‚recte‘) und im Jenseits glücklich (‚beate‘) lebt. Damit ist die ‚rectitudo uite‘ ihr Gegenstand und die ‚beatitudo‘ ihr Ziel.72 Indem er die Rechtheit des Lebens als Weg zu einem Ziel beschreibt, deutet er bereits die Vorstellung einer ‚uia uirtutum‘ an, die sich im weiteren Verlauf des Werkes immer wieder findet. Die eudämonistische Ausrichtung, die schon in der ersten Definition angedeutet ist, tritt in der zweiten noch genauer hervor: Hier wird der Ethik die Aufgabe zugewiesen, zwischen dem zu unterscheiden, was für die Erlangung des wahren Glücks (‚uera beatitudo‘) förderlich und was
69 Spec. uniu. 1, 1 (CCM 241, p. 6.8): „Ethica uero est scientia que in moribus nos informat et componit. Vnde et ethica dicitur, id est moralis. […] Itaque theorica inquirit de re an sit, quid, quanta, qualis sit, a quo et cur sit, ethica quid iustum sit, logica quid uerum sit, mechanica quid corporali miserie necessarium sit.“ 70 Spec. uniu. 1, 1 (CCM 241, p. 8): „Has igitur quattuor artes pius et misericors Deus proinde contulit nobis, ut essent nobis tanquam quattuor antidota contra quattuor molestias humane calamitatis. Natura nimirum humana in quattuor rebus fuerat corrupta per primariam in eisdem prothoplausti preuaricationem. […] In uoluntate peccauit, quoniam lignum uetitum concupiuit. […] quoniam concupiuit pomum uetitum, multatus est in uoluntate per iniquitatem […]. Itaque contra quattuor has incommoditates adhibentur quattuor remedia per quattuor prenominatas artes: theorica nimirum medetur ignorantie, ethica iniustitie, logica ineloquentie, mechanica miserie. Enimuero theorica intellectum illuminat, ethica uoluntatem iustificat, logica lingam disertam reddit, mechanica humanam miseriam fulcit.“ 71 Dieser Zusammenhang wird in Buch 5 ausführlich thematisiert (vgl. dazu den Punkt 2.2.3 des ersten Hauptteils der Arbeit). 72 Spec. uniu. 1, 2 (CCM 241, p. 11): „Ethica est scientia secundum quam in presenti uita recte uiuitur, ut in futura beate uiuatur. Ecce huius artis materia, ecce finis: materia uite rectitudo, finis beatitudo. Rectitudo uite preponitur ut uia, beatitudo sequitur ut meta.“
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
dafür hinderlich ist. Damit sind das Wählen des Guten (‚bona eligere‘) und das Meiden des Bösen (‚mala fugere‘) als Grundprinzipen der Ethik benannt73, woraus unmittelbar folgt, dass sowohl die Tugenden als auch die Laster thematisiert werden müssen. – Da es in der Ethik also um gerechtes und ungerechtes Tun geht, äußert er sich in Kapitel 5 erstmals genauer zur Tugend (‚uirtus‘) und zum Laster (‚uitium‘) und grenzt diese beiden Begriffe von den Sitten (‚mores‘) ab: Während Sitten nämlich alle gewohnheitsmäßigen Verhaltensweisen (‚consuetudinarii modi semet habendi‘) sind, die Lob oder Tadel nach sich ziehen74, sind Tugenden in erster Linie (‚potius‘) ein guter Zustand des Geistes und nicht des Körpers. Zudem kann es ohne den Glauben keine Tugend geben, weshalb ein ungläubiger Mensch nur gute Sitten, niemals aber Tugenden besitzen kann.75 Diese Aussagen weisen bereits auf die Trennung zwischen der Ethik des Inneren Menschen und des Äußeren Menschen und damit auf die geistigen und körperlichen Tätigkeiten der Seele voraus. Von daher ist auch völlig klar, dass es im Bereich des Äußeren Menschen bzw. der körperlichen Vollzüge, keine Tugenden und Laster im eigentlichen Sinne, sondern nur gute und schlechte Sitten bzw. Verhaltensweisen geben kann. Zudem betont Radulfus Ardens die Vorrangstellung des Glaubens (‚fides‘), zu der er sich zwar selten explizit äußert, die aber bei all seinen Ausführungen über Tugenden und Laster mitgedacht werden muss.76 – Auf dem Fundament dieser Grundbestimmungen unterteilt Radulfus Ardens die Ethik selbst in ihre verschiedenen Fachgebiete und präzisiert damit die Zielrichtung seiner Darstellung weiter: Der erste Unterbereich der Ethik behandelt nämlich den einzelnen Menschen (‚ethica solitaria‘), der zweite das Hauswesen
73 Spec. uniu. 1, 3 (CCM 241, p. 11 f.): „Diffinitur autem et hoc modo: Ethica est scientia diiudicans quid expediat uel non expediat ad uere beatitudinis consecutionem. Ex qua profecto diffinitione patet quod ethica tam de impedientibus quam de expedientibus, tam de malis quam de bonis tractat, sed de his ad fugam, de illis uero ad electionem.“ 74 Spec. uniu. 1, 4 (CCM 241, p. 13): „Dicitur autem ‘ethica’ grece, moralis latine eo quod de moribus agat. […] Qui sic describi possunt: Mores sunt consuetudinarii modi semet habendi in propriis affectionibus et motibus ad spiritualem laudem uituperiumue pertinentibus. […] Morum autem alii sunt boni, alii mali. Quid uero aliud sunt boni mores nisi uirtutes, et quid aliud mali mores nisi uitia?“ 75 Spec. uniu. 1, 5 (CCM 241, p. 13): „Sed differunt, quoniam omnis uirtus bonus mos est, non autem omnis mos bonus uirtus est. […] Omnis quippe uirtus bonum est mentis potius quam corporis. Rursus aliquis iudeus uel gentilis bonos et compositos habet mores, qui tamen nullas habet uirtutes. Vbi enim fides non est, uera uirtus esse non potest.“ 76 Diese Tatsache ist in Spec. uniu. 7, 3 (CCM 241A, p. 8 f.) konkret formuliert: „De his igitur agendum est et primum de fide. Fides quippe fundamentum est omnium uirtutum. Ex fide nimirum oriuntur omnes uirtutes aut originaliter aut propositiue […]. In fide quippe idem est fundamentum et finis.“ Vgl. dazu auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 290 f. Er weist hier darauf hin, dass auch Petrus Cantor dem Glauben eine Vorrangstellung unter den Tugenden zuweist und sich wohl ähnlich wie Radulfus Ardens dabei auf die Psychomachia des Prudentius bezieht.
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(‚ethica familiaris‘) und der dritte die Politik (‚ethica politica‘). Durch die erste – so fährt der Autor fort – wird man zu einem guten Menschen, durch die zweite zu einem guten Familienvater und durch die dritte zu einem guten Vorgesetzten.77 Während er auf den zweiten und dritten Bereich nicht genauer eingeht, unterteilt er die ‚ethica solitaria‘ nochmals in zwei Disziplinen, nämlich die Ethik des Inneren Menschen (‚ethica interioris hominis‘) und die Ethik des Äußeren Menschen (‚ethica exterioris hominis‘). Ziel der ersten ist die Reinheit des Herzens (‚munditia cordis‘) und der zweiten die Ehrenhaftigkeit des Äußeren Menschen (‚honestas exterioris hominis‘).78 Wie bereits vorher angedeutet wurde, kommt der Ethik des Inneren Menschen eine höhere Bedeutung zu, weil man sich nur dann äußerlich gut verhalten kann, wenn man innerlich – also im Herzen bzw. im Geist79 – auf rechte Weise geordnet ist. Damit meint die ‚munditia cordis‘ einen Zustand, in dem der Geist keiner Schändlichkeit (‚turpitudo‘) zustimmt und aus dem dann die ‚honestas exterioris hominis‘ gewissermaßen automatisch hervorgeht.80 Für den Aufbau des Speculum universale folgt daraus, dass der Schwerpunkt auf der ‚ethica interioris hominis‘ liegt und diese auch zuerst – nämlich in den Büchern 7–12 – und die ‚ethica exterioris hominis‘ erst danach – nämlich in den Büchern 13 und 14 – behandelt wird.81 Diese bedeutsamen Vorbemerkungen zur Bestimmung der Ethik als Wissenschaft lassen sich durch das folgende Schema zusammenfassen und veranschaulichen:
77 Spec. uniu. 1, 6 (CCM 241, p. 14): „Ethica tripartita est: diuiditur quippe in solitariam, in familiarem et in politicam. Solitaria docet quemadmodum unusquisque debeat regere seipsum, familiaris qualiter debeat regere domum, politica qualiter debeat regere populum sibi commissum. Per primam fies homo bonus, per secundam paterfamilias bonus, per tertiam prelatus bonus […].“ Diese dreifache Aufteilung der Ethik orientiert sich offenbar ebenfalls an der Wissenschaftseinteilung Hugos von St. Viktor (vgl. CASAGRANDE / VECCHIO, Les péchés 42). 78 Spec. uniu. 1, 6 (CCM 241, p. 14): „Rursus solitaria diuiditur in interiorem et exteriorem: interior reformat et informat hominem interiorem, exterior exteriorem. Interior tradit cordis munditiam, exterior exterioris hominis honestatem.“ 79 Radulfus Ardens verwendet diese Begriffe in Anlehnung an das Menschenbild der Bibel unterschiedslos. Dies zeigt sich noch deutlicher an seinen Ausführungen zur Seelenlehre (vgl. Punkt 1.1 im ersten Hauptteil). 80 Spec. uniu. 1, 7 (CCM 241, p. 14): „Enimuero qui bene regit interiora, bene reget exteriora, nec potest ordinatus esse in opere, qui inordinatus est in mente. […] Itaque qui compositus uult esse in exterioribus, prius compositionem statuat in interioribus. Alioquin labor suus labor est superuacuus.“ und ebd. 1, 8 (CCM 241, p. 15): „Est igitur ethica interior hominis interioris ordinatio modesta, concors et recta […].“ 81 Spec. uniu. 1, 7 (CCM 241, p. 14): „De interiori igitur ethica primitus occurrit agendum tum quia dignior, tum quia prior: dignior priuilegio nature, prior ordine discipline; dignior natura, prior causa. Anima enim dignior est corpore natura, compositio mentis prior est compositione corporis causa.“
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scientia / ars
2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
theorica
solitaria
ethica
familiaris
logica
politica
ethica interioris hominis
munditia cordis
ethica exterioris hominis
honestas exterioris hominis
mechanica Abb. 1: Die Wissenschaftseinteilung im Speculum universale.
2.1.1.5 Beobachtung zur Methodik des Autors und Tendenzen innerhalb des Werkes Ergänzend zur Einführung in Aufbau und Inhalt des Werkes wird nun schlaglichtartig beleuchtet, welche Methoden Radulfus Ardens beim Verfassen seines Werkes angewendet hat. Im Zuge dessen wird auch darauf eingegangen, dass im Speculum universale immer wieder Tendenzen sichtbar werden, die Rückschlüsse auf die persönliche Meinung des Autors und seine grundsätzliche Herangehensweise an theologisch-ethische Fragen zulassen. Auch hier wurde in der Forschung bereits Vorarbeit geleistet, wobei hauptsächlich auf die Monografie von Johannes Gründel und die Editionseinleitung von Claudia Heimann zu verweisen ist.82 Im Folgenden wird auf eine Reihe von grundlegenden Beobachtungen aufmerksam gemacht, die eine wichtige Verständnisgrundlage für die genauere Analyse der Bücher 11 und 12 darstellen. – An der Analyse des 11. Kapitels von Buch 1 wurde deutlich, dass Radulfus Ardens sein Werk mithilfe von zehn Leitfragen vorstrukturiert hat. Diese Methode wendet er im Speculum universale durchgehend an, sodass sich vor jedem inhaltlich zusammenhängenden Passus ein Abschnitt oder sogar ein ganzes Kapitel findet, in dem Leitfragen genannt werden, die den roten Faden des weiteren Gedankengangs bilden. Gerade seine Tugendtraktate sind oft sehr ähnlich aufgebaut. Wie dieses Fragenschema, das auch in den Büchern 11 und 12 häufig vorkommt, aufgebaut ist, lässt sich der folgenden Übersicht entnehmen:83
82 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 36–39.43–52 und HEIMANN, Einleitung VII–XX. 83 Dabei handelt es sich um eine Zusammenstellung häufig vorkommender, wichtiger Leitfragen auf der Grundlage der Untersuchung der Bücher 7–12, die so in keinem Tugendtraktat vorkommt – jedoch stellt sie auch keine rein abstrakte Idealform dar, da bspw. der Traktat über die Demut in Buch 12 fast genauso aufgebaut ist.
2.1 Sein literarisches Schaffen
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Wie lautet die Definition der jeweiligen Verhaltensweise? (‚Quid … sit?‘) Wie viele Arten gibt es von ihr? (‚Quot sint species … ?‘) Welche davon ist eine Tugend? (‚Que uirtus … sit?‘) Aus welchem Ursprung entsteht sie? (‚Unde … oriatur?‘) Wodurch wird sie in uns genährt? (‚Per que … in nobis nutriatur?‘) Was für eine große Tugend ist sie? (‚Quanta uirtus … sit?‘) Was sind ihre Grenzen? (‚Qui termini … sint?‘) Was ist ihre Komplementärtugend? (‚Que uirtus sit … collateralis?‘) Was sind ihre Tochtertugenden? (‚Que sint filie … ?‘) Was ist das ihr entgegengesetzte Laster? (‚Quid uitium contrarium … sit?‘) Wie viele Arten gibt es von ihm? (‚Quot sint species … ?‘) Was für ein großes Laster ist es? (‚Quantum uitium … sit?‘) Durch welche Zeichen zeigt es sich? (‚Per que signa … se demonstret?‘) Wie kann man ihm widerstehen? (‚Per que resistatur … ?‘ / ‚Per que curetur … ?‘)
Daran lässt sich gut erkennen, in welchen gedanklichen Schritten Radulfus Ardens grundsätzlich vorgeht: Er definiert zunächst (Frage 1) die jeweilige Verhaltensweise, ohne sie bereits als Tugend oder Laster zu werten. Danach teilt er sie in Arten (‚species‘) auf (Frage 2), von denen er jeweils mindestens eine als Tugend oder Laster wertet (Frage 3). In diesem Zusammenhang wird meist auch angegeben, aus welcher Seelenkraft oder aus welcher übergeordneten Tugend die besprochene Einzeltugend erwächst (Frage 4). Die Beantwortung dieser vier Fragen dient letztlich der systematischen Bestimmung der Tugend. Danach folgen meist längere praktische Erläuterungen, die konkretisieren, worin die Bedeutung der jeweiligen Tugend für den Alltag besteht (Frage 5) und wie man sie festigt (Frage 6). Dieser meist etwas längere Passus führt immer zu einer erneuten systematischen Reflexion zurück, wobei an dieser Stelle auch noch ein Untertraktat über eine oder mehrere Tochtertugenden (‚filie‘) eingeflochten sein kann (Frage 9). Im mittleren Teil werden die Grenzen der Tugend (Frage 7), ihre Komplementärtugend (Frage 8) und das ihr entgegengesetzte Laster ‚uitium contrarium‘ (Frage 10) bestimmt. Dieser dritte Schritt ist oft deutlich kürzer als die vorherigen praktischen Hinweise, jedoch für die Grundstruktur der Tugendlehre des Radulfus Ardens von ungleich größerer Bedeutung: Hier verbindet der Autor nämlich nicht nur die bisher angestellten Überlegungen in Form einer Synthese, sondern leitet meist auch zur unmittelbar daran anschließenden Behandlung des entgegengesetzten Lasters über. Diese Lastertraktate folgen an sich einem ähnlichen Schema wie der Tugendtraktat: Zuerst wird das Laster definiert und in Unterarten aufgeteilt (Fragen 10 und 11); dann alltagstaugliche Hinweise dazu gegeben, welche Schäden es anrichtet (Frage 12), woran man es erkennt (Frage 13) und wie man es loswird (Frage 14).84
84 Dass die Tugendtraktate einem bestimmten Schema folgen, hat bereits Johannes Gründel erkannt (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 37f.).
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
– Lassen auch die einzelnen Kapitel ein charakteristisches Vorgehen und wiederkehrende Strukturen erkennen? Zunächst lässt sich diesbezüglich festhalten, dass Radulfus Ardens seine Gedankengänge nicht so stark systematisiert und formalisiert hat, wie es später bei Theologen der Hochscholastik üblich war.85 So tragen die Kapitel im Speculum universale zwar fast immer eine Frage als Überschrift (‚questio‘), jedoch findet nur höchst selten eine tatsächliche Diskussion mit Argumenten und Gegenargumenten statt.86 Hin und wieder werden einzelne Positionen gegen mögliche Einwände verteidigt oder naheliegende Fragen zu erklärungsbedürftigen Aussagen gewissermaßen im Voraus beantwortet. Diese Passagen beginnen meist mit auffälligen Floskeln wie ‚sed queritur‘ oder ‚sed dices‘, die auf die jeweilige Frage bzw. den Einwand hinweisen, und enden mit einer Erläuterung, die die Position des Autors bekräftigt oder korrigiert und die im Allgemeinen durch ein ‚respondemus‘ gekennzeichnet ist.87 Die Gegenüberstellung von Argumenten und Gegenargumenten spielt demnach in den Gedankengängen des Autors kaum eine Rolle. Ebenso wenig versucht er, die einzelnen Wissensbereiche oder sogar das gesamte theologische Wissen aus Axiomen bzw. verschiedenen Typen von Leitsätzen abzuleiten, wie es bspw. Nikolaus von Amiens in der Ars fidei catholicae oder Alanus von Lille in den Regulae tun.88 Radulfus Ardens bedient sich stattdessen einer anderen Methode: Es lässt sich ein streng deduktives Vorgehen erkennen, das meist von einer oder mehreren Definitionen oder Grundaussagen ausgeht, diese dann in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, immer weitere Unterteilungen vornimmt und diese wiederum erläutert. Dieses Vorgehen ließ sich schon bei der Definition der Ethik zu Beginn von Buch 1 beobachten. Dadurch werden komplexe Zusammenhänge in konzentri-
85 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 36 f.; WEIJERS, Methods 95. 86 Vgl. HEIMANN, Einleitung XV. 87 Ein solches Schema findet sich z. B. bei der Erklärung zu einer Dilemmasituation in Spec. uniu. 10, 34 (CCM 241A, p. 564): „[…] sed queritur: Si contingat iudicem nosse accusati innocentiam, cum ille tamen secundum ordinem iudiciarium et leges dampnabilis appareat, quid super hoc casu facere debeat? Nam si eum liberare uelit, omnibus iniustus apparebit. Si uero eum dampnauerit, contra conscientiam suam ibit, quod graue peccatum est. Respondemus quod alium pro se iudicem debet statuere qui sana conscientia eum possit iudicare.“ Gelegentlich dient es auch der Entkräftung eines Gegenargumentes durch eine inhaltliche Konkretisierung wie in ebd. 12, 124 (P, col. 147rb): „Sed dices: Nonne homo post deum se pre ceteris debet diligere? Quomodo ergo seipsum debet contempnere? Ad quod respondemus: Quod est amor bonus et est amor malus; est et contemptus malus, est et contemptus bonus.“ Schließlich werden auf diese Weise auch fiktive Fragen beantwortet wie bspw. in ebd. 11, 3 (P, col. 62va): „Quomodo diligere Deum sit et naturalis et uirtualis amor, cum multi Deum non diligant, quia ignorant? Si enim eum agnoscerent creatorem, protectorem et benefactorem, utique diligerent. Sed quia eum nec agnoscunt nec credunt, ideo nec eum diligunt, sicut infans antequam agnoscat patrem eum non diligit, sed cognitum diligit. Si quis querat: Qua dilectione diligere debeamus Dei mandata, uirtutes et earum opera?, respondemus, quod uirtuali dilectione, que enim propter Deum tantum et ad Deum diliguntur.“ 88 Vgl. dazu im Detail DREYER, Nikolaus von Amiens 1–39.
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schen Kreisen erklärt und wiederholt, womit der Autor letztlich seinem im letzten Kapitel erwähnten Wissenschaftsverständnis folgt und tatsächlich den Versuch unternimmt, die unendliche Vielzahl der vorhandenen Dinge – im Bereich der Ethik also die unendliche Vielzahl von Verhaltensweisen – zu ordnen und durch einen systematischen Überbau ihre Bezüge zueinander aufzuzeigen. Diese Methode führt auf der einen Seite mitunter zu einem etwas schwerfälligen Stil, hilft aber andererseits, stets den Ausgangspunkt im Blick zu behalten. Dadurch fällt es leicht, die jeweils dazukommenden neuen Informationen genau in den übergeordneten Rahmen einzubauen. Eine solche wiederholend-systematisierende Gedankenführung lässt vermuten, dass die Texte entweder direkt für den Unterricht verfasst wurden oder dass zumindest eine jahrelange Unterrichtstätigkeit des Autors hier ihre Spuren hinterlassen hat. 89 Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass sich im Speculum universale zahlreiche Baumdiagramme (‚arbores‘) finden, die offenbar dazu dienen, komplizierte Zusammenhänge verständlich zu machen und übersichtlich darzustellen.90 In jedem Fall ist diese zerlegend-erklärende Vorgehensweise charakteristisch für das Werk. – Daneben fällt ins Auge, dass Radulfus Ardens oft heuristische Hilfsbegriffe verwendet, um möglichst alle relevanten Aufgliederungen zu ermitteln und zu bewerten. Besonders häufig nutzt er dabei Steigerungen von Adjektiven, wie etwa ‚malus‘ – ‚peior‘ – ‚pessimus‘ oder ‚bonus‘ – ‚melior‘ – ‚optimus‘. Weniger oft, aber immer noch recht häufig, kommt die Aufgliederung ‚incipiens‘ – ‚proficiens‘ – ‚perfectus‘ vor. Diese Begriffe bezeichnen meist den bereits erlangten Grad einer bestimmten Tugend.91 Da Radulfus Ardens die Briefe Senecas gut kannte, liegt hier sicherlich eine christliche Rezeption der stoischen Lehre vom ‚proficiens‘ vor.92 Wesentlich seltener finden sich die Ordnungsbegriffe ‚in uia‘ – ‚in partia‘. Sie gehören in den Kontext eschatologischer Überlegungen und beschreiben den Grad der Tugend, den man schon im Diesseits (also auf dem Weg) oder erst im Jenseits (also in der ewigen Heimat) erlangen kann.93 Darin spiegelt sich auch die Vorstellung einer ‚uia uirtutum‘ zu Gott wider, die das Erlösungsgeschehen als ein Wachsen in der Tugend beschreibt. Radulfus Ardens verwendet diese Hilfsbegriffe z. B. dazu, um
89 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 36–39. 90 Vgl. HEIMANN, Einleitung XII–XVI. 91 Wie bspw. bei der Unterteilung der guten Hoffnung in Spec. uniu. 11, 124 (P, col. 95ra): „Spes uero uirtualis est expectatio salutis eterne, etsi non promerente, tamen non omnino demerite. Hec autem triplex est. Nam alia est incipiens, alia proficiens, alia perfecta.“ 92 Dieser Begriff stellt die Übersetzung des griechischen Wortes ‚prokopton‘ dar, mit dem in der stoischen Philosophie ein Mensch bezeichnet wird, der zwar noch nicht im vollkommenen Sinne als Weiser gelten kann, aber auf dem Weg der Weisheit unterwegs ist und ihr ziemlich nahekommt (vgl. dazu z. B. FORSCHNER, Stoa 223 f.). 93 Wie z. B. bei der Aufteilung der Lust in Spec. uniu. 12, 119 (P, col. 143rb): „Maxima uero et summa uoluptas habetur in Dei fruitione. Verum hec duplex est. Nam prima est in uia, secunda in patria […].“
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
unterschiedliche Arten von Lastern anhand ihrer negativen oder Arten von Tugenden anhand ihrer positiven Auswirkungen einzuordnen.94 Dieser Methode kommt gerade im Hinblick auf die Komplementarität der Tugenden eine große Bedeutung zu, da fast alle Verhaltensweisen nicht per se schlecht oder gut sind, sondern unterschiedliche Unterarten auch verschieden gewertet werden. Je nachdem, wie viele Untergliederungen es gibt, führt Radulfus Ardens weitere Zwischenstufen ein;95 dabei geht er gelegentlich so weit, semantisch eigentlich unsinnige Bildungen wie Steigerungen von Superlativen zu verwenden.96 Die drei Beispiele, die hier erwähnt wurden, spielen im Speculum universale zwar eine wichtige Rolle, jedoch verwendet Radulfus Ardens noch viele andere heuristische Ordnungsbegriffe. An dieser Stelle geht es nicht um Vollständigkeit, sondern lediglich darum, ein Grundverständnis dafür zu vermitteln, wie er theologische Inhalte erschließt und wissenschaftlich darstellt. – Eine weitere Auffälligkeit stellt das offensichtliche Bemühen des Autors dar, begrifflich so klar wie möglich zu erfassen, was er eigentlich meint. Dadurch, dass Radulfus Ardens nämlich fast alle geläufigen Tugenden und Laster in weitere Tochtertugenden, Arten und Unterarten unterteilt, steht er immer wieder vor dem Problem, dass ihm eindeutige Begriffe fehlen, mit denen er die von ihm gemeinten Verhaltensweisen treffend bezeichnen könnte. Um dieser Schwierigkeit Herr zu werden, geht er im Allgemeinen auf zweierlei Weise vor: Zum einen versucht er, bereits vorhandene Begriffe, die in der Alltagssprache quasi als Synonyme verwendet werden, genau zu unterscheiden.97 Wenn es jedoch überhaupt keine Begriffe für das Gemeinte gibt und ihm auch keine Wortneuschöpfungen einfallen,
94 Ein besonders gutes Beispiel dafür ist das 35. Kapitel von Buch 11, in dem der Neid (‚inuidia‘) in unterschiedliche Arten unterteilt wird (vgl. dazu Punkt 2.1.6.3 im zweiten Teil der Arbeit). 95 Vgl. Spec. uniu. 12, 54 (P, col. 125ra): „Hii miseriores sunt miseris omnibus tam spiritualibus quam corporalibus bonis carentes, corpus caret beneficio corporali et spiritus spirituali.“ oder ebd. 11, 22 (P, col. 68vb): „Porro consilium aliud est errantium, aliud infirmorum, aliud perfectorum, aliud perfectiorum.“ 96 So spricht er etwa in Spec. uniu. 12, 62 (P, col. 126va) im Zusammenhang mit den Arten des Diebstahls vom ‚pessimum pessimorum‘: „Primum est malum, secundum peius, tertium pessimum, quartum pessimorum pessimum.“ 97 Als Beispiel dafür lässt sich etwa auf die Differenzierung zwischen Weisheit (‚sapientia‘), Erkenntnis (‚intelligentia‘) und Wissen (‚scientia‘) in Buch 9 verweisen (vgl. Spec. uniu. 9, 13 (CCM 241A, p. 372): „Tres quoque sunt species prudentie: Sapientia, intelligentia, scientia. […] Est igitur sapientia de diuinis, intelligentia de spiritualibus, scientia de terrenis. Verumtamen sepe reperitur unum istorum pro alio positum esse.“). Zudem lässt sich auf die genaue systematische Unterscheidung von ‚gaudium‘, ‚letitia‘ und ‚serenatio‘ in Buch 11 (vgl. dazu die Punkte 2.4–2.6 im zweiten Teil) verweisen, die der Tatsache entgegensteht, dass diese drei Wörter in der Alltagssprache nahezu synonym verwendet werden.
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belässt er es bei der bloßen Nummerierung der Verhaltensweisen und behandelt sie dann als ‚prima‘, ‚secunda‘, ‚tertia‘ usw.98 – Schließlich sind noch einige kurze Bemerkungen zu seinem Umgang mit der Heiligen Schrift vonnöten. Bereits Johannes Gründel hat festgestellt, dass Radulfus Ardens die Bibel weitaus häufiger zitiert als jede andere Quelle und dabei nahezu alle biblischen Bücher heranzieht.99 Offensichtlich war ihm – möglicherweise durch eine jahrelange Predigttätigkeit – die Heilige Schrift sehr gut bekannt und er maß ihr eine hohe Bedeutung in ethischen Fragen zu. An vielen Stellen gewinnt man deshalb den Eindruck, dass seine Bestimmungen und Unterteilungen eine stark biblische Prägung haben. Dabei geht er zwar selten direkt von Bibelstellen aus, bindet seine Aussagen jedoch sehr oft an Bibelstellen zurück oder illustriert sie mithilfe von längeren, meist allegorischen Auslegungen, die im Allgemeinen sofort einleuchten und gut zum Thema passen. Dieser Tatsache kommt insofern eine hohe Bedeutung zu, da er seine Unterteilungen und Aufgliederungen in den allermeisten Fällen nicht aus der Tradition übernimmt, sondern selbst entwickelt. Vor diesem Hintergrund ist die Bibel in weiten Teilen des Werkes – abgesehen von wesentlich selteneren Kirchenväter- und Dichterzitaten – der hauptsächliche Bezugspunkt seiner Tugendethik. Unabhängig davon, wie überzeugend die Gedankengänge im Einzelnen sind, zeigt sich daran deutlich, dass Radulfus Ardens seine tugendethische Konzeption in Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift entwickelte und sie immer wieder darauf zurückbezog. Dass dies auch gerade an solchen Stellen zu beobachten ist, die zentrale Bestandteile des Ansatzes behandeln, zeigt sich z. B. im 54. Kapitel von Buch 1. Dieses Kapitel erläutert das Baumdiagramm zur Seelenlehre ausführlich und enthält die Abschlussreflexion zu seiner Lehre von der Seele und ihren Kräften. Zu Beginn des Kapitels weist er darauf hin, dass der Leser bei der Betrachtung des Diagramms (‚figura‘) vieles wiedererkennen wird, was er in der Heiligen Schrift täglich liest.100 Diese Aussage ist zum einen deshalb interessant, weil sie als Hinweis auf den Adressatenkreis des Werkes interpretiert werden kann: Täglich in der Bibel lesen v. a. Priester und Ordensleute, sodass sich das Speculum universale offensichtlich in erster Linie an solche Personengruppen wendet. Zum anderen bringt sie zum Ausdruck, dass Radulfus Ardens die Bibel nicht nur als einen Fundus für Belegstellen ansieht, mit denen er seine eigenen Positionen untermauern und autoritativ absichern kann; vielmehr hat sie für ihn fundamentale Bedeutung für das christliche Leben und damit auch für die tugendethische Reflexion.101
98 Vgl. dazu bspw. die Unterteilung der ‚inuidia‘ im eben in n. 94 erwähnten Kapitel 35 von Buch 11. 99 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 44–47. 100 Spec. uniu. 1, 54 (CCM 241, p. 61): „Si subiectam figuram diligenter inspicias, poteris multa que in scripturis sacris cottidie legis, animaduertere.“ 101 Vor dem Hintergrund dieses Befundes ist es nicht ganz auszuschließen, dass Radulfus Ardens möglicherweise auch den Grundgedanken, dass nicht nur eine Grundhaltung als Mitte zwischen
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Die soeben in fünf Punkten zusammengefassten Methoden werden später im Hauptteil an vielen Stellen begegnen. Daneben fällt noch eine Reihe weiterer Besonderheiten ins Auge, die man als Tendenzen im Text bezeichnen könnte. Was heißt das konkret? Das Speculum universale ist – wie bereits erwähnt – trotz seiner Unabgeschlossenheit durch die Leitfragen-Methode stringent aufgebaut und durch das oftmals sehr ähnliche deduktiv-unterteilende Vorgehen auch stilistisch weitgehend gleichförmig. Dadurch fallen z. B. plötzliche stilistische Unterschiede sofort ins Auge. Ähnlich ist die Lage bei persönlichen Aussagen des Autors: Radulfus Ardens äußert sich fast nie explizit in eigener Sache und ist sichtlich darum bemüht, den Stoff sachlich und strukturiert zu präsentieren. Trotzdem lassen sich aber an einigen Stellen Rückschlüsse auf seine persönlichen Überzeugungen, auf sein Selbstverständnis als Theologe und auf seine Einstellung zur schriftstellerischen Tätigkeit ziehen. – Im Speculum universale finden sich immer wieder Stellen, an denen der das Werk bestimmende, nüchtern-unterteilende Stil einem rhetorisch-paränetischen weicht, sodass sich der Text plötzlich wie eine Predigt liest. Dabei wendet sich der Autor gelegentlich an den Leser, spricht ihn direkt an und ermuntert ihn dazu, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten (z. B. ‚ne te deicias‘ / ‚ne de presumas‘).102 An anderen Stellen bezieht er mithilfe von Hortativen ein fiktives Kollektiv in seine Gedankengänge mit ein, wobei der Zweck ebenfalls der Aufruf bzw. die Ermunterung zu einer bestimmten Verhaltensweise ist (z. B. ‚dominium uendicemus‘ / ‚mandata sequamur‘).103 Immer wieder fallen auch rhetorische Gestaltungsmittel ins Auge wie bspw. Wiederholungen oder Ringkompositionen, die als Anfang und Schluss einer Adhortatio interpretiert werden können.104 Diese Beobachtungen sind sicher-
zwei Fehlformen genügt, sondern dafür zwei komplementäre Verhaltensweisen notwendig sind, aus dem Evangelium erschlossen hat (vgl. dazu ERNST, Komplementäre Grundhaltungen). Dieser Beitrag zeigt, dass im Evangelium mehrere Beispiele für komplementäres Handeln gefunden werden können, und äußert schließlich den Gedanken, dass die Komplementarität ein spezifisch christliches Prinzip der Spiritualität sein könnte, das durch die Rezeption der antiken Philosophie verdeckt wurde. 102 Vgl. z. B. Spec. uniu. 12, 132 (P, col. 152rb): „Ne nimis te deicias! Audi Ecclesiasticum: Attende, ne seductus in stultitia humilieris. Noli esse humilis in sapientia tua, ne humiliatus in stultitia seducaris. […] Ne uero de te presumas, audi Apostolum dicentem: Noli altum sapere, sed time.“ Dabei wird die Paränese durch Bibelzitate bekräftigt. 103 Vgl. z. B. Spec. uniu. 12, 132 (P, col. 152ra): „Dominium quod habemus super creaturas nobis uendicemus non subdentes nos eis per amorem prauum, sed eis dominantes per legitimum usum. Mandata et exempla redemptoris nostri studiosius sequamur, ut ad destinata celorum regna peruenire ualeamus.“ oder auch in ebd. 12, 103 (P, col. 138ra): „Nec nos presentes laudari sustineamus, sed laudantis uerba statim corripiendo precidamus dicentes cum psalmista: Ferant confestim confusionem suam qui dicunt michi: euge, euge.“ 104 Vgl. z. B. Anfang und Ende des Kapitels Spec. uniu. 12, 15 (P, col. 115vb-116ra): „Falsa etiam sunt, quoniam felicitatem quam uidentur promittere, non efficiunt. […] Mendacia quoque sunt ista temporalia, quoniam, ut prediximus, quod promittunt, non efficiunt, sed cum uidentur stare, corruunt; cum uidentur florere, marcelant; cum uidentur teneri, euanescunt.“
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lich auf eine jahrelange Predigttätigkeit des Autors zurückzuführen, als deren direktes Ergebnis sein umfangreiches Predigtcorpus anzusehen ist. – Bei der genaueren Betrachtung seiner Gedankengänge zeigt sich immer wieder, dass der Autor stets von dem Bemühen geleitet ist, die von ihm behandelten Themen so tiefgehend wie möglich zu erfassen. Dabei setzt er sich von traditionellen Begriffen ab, bestimmt sie genauer oder ersetzt sie durch neue. Nicht nur mit pagan-antiken Quellen verfährt er auf diese Weise105, sondern auch Texte aus der christlichen Tradition kritisiert er gelegentlich in aller Deutlichkeit.106 Radulfus Ardens zieht die von ihm angeführten Positionen demnach niemals als bloße Belege oder Autoritäten heran, sondern setzt sich vielmehr kritisch mit ihnen auseinander.107 Dabei prüft er genau, inwieweit sie tatsächlich überzeugen und wendet sich gerade gegen unterkomplexe und vereinfachende Bewertungen. – Die scharfsinnige Beobachtungsgabe und das eigenständige Denken des Autors treten auch daran klar hervor, dass er immer wieder Kritik an den damaligen Herrschaftsstrukturen und den innerkirchlichen Verhältnissen übt. Mit welcher Vehemenz er bspw. den Ämterkauf ablehnt, zeigt sich allein schon daran, dass er dieses Thema in Buch 12 in nicht weniger als 14 Kapiteln (c. 71–84) behandelt. An den zahlreichen Einzelfällen und Unterscheidungen, die er benennt und mit deutlichen Worten kritisiert, wird seine Sorge um die Glaubwürdigkeit der Kirche deutlich. Immer wieder kommt zum Ausdruck, dass er viele Seelsorger und kirchliche Würdenträger für lasterhaft und moralisch verkommen hält. So prangert er bspw. an, dass die Seelsorger nicht nach der Meinung der ihnen anvertrauten Gläubigen fragen108, dass sie selbst stolz und überheblich sind109 oder
105 So übt er etwa in Buch 1 deutliche Kritik an der Benennung der affektiven Seelenkräfte in der platonischen Seelenlehre (vgl. Punkt 1.1 des ersten Hauptteils). 106 Ein Beispiel dafür findet sich im 88. Kapitel von Buch 12. Dort setzt er sich kritisch mit einem ‚exemplum‘ aus den Vitae patrum auseinander (vgl. dazu Punkt 2.1.3.2 im dritten Teil der Arbeit). 107 Vgl. HEIMANN, Einleitung XV. 108 Spec. uniu. 12, 115 (P, col. 141ra): „Vnde et doctores ecclesie exemplo Christi debent a familiaribus suis inquirere cuius opinionis habeantur in plebe et si senserint se bone opinionis esse, totum Deo attribuere et se tales fieri, quales se audiunt predicari. Si uero nouerint se male opinionis esse, sic bene et discrete uiuere studeant, ut malam opinionem possint in bonam commutare.“ 109 In dieser Hinsicht äußert er sich z. B. in Spec. uniu. 12, 142 (P, col. 158rb-158va) über die Laster, die aus dem Stolz entstehen: „De quinque uero sequentibus exempla cernis cotidiana. Nam quam rarus hodie inuenitur, qui non laboret uitio ambitionis, dominationum, honorum, potestatum, gloriarum et prioritatum, ut superius demonstratum est. Que omnia ex mentis elatione proficisci manifestum est.“ Noch schärfer formuliert er dies mithilfe von Allegorien in ebd. 12, 140 (P, col. 157rb): „Nam peccatis hominum exigentibus plures prelatorum hodie a Deo dantur in iram quam in salutem, ut malis subditis mali dominentur prelati. De quibus dicitur: Deiecisti eos, dum alleuarentur. Similis quippe est hodie mundus mari qui aurum, argentum, lapides pretiosos in fundo premit et abscondit, stercora uero et feces in altum extollit, sic et mundus sanctos et pretiosos homines inferius premit, fedos uero et inanes extollit. Similis quoque est rubeto quod molas odoriferas abscondit,
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dass sie ihren Untergebenen schlechte bzw. für sie ungeeignete Aufgaben geben und sie dadurch ins Unglück stürzen110. Aus der Überzeugung heraus, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind, bewertet er Strukturen, die nur der Machtvergrößerung oder dem Machterhalt, nicht jedoch dem Wohl der Menschen dienen, per se als lasterhaft.111 Dafür macht er nicht nur die ungerechten Herrscher selbst verantwortlich, sondern auch diejenigen Menschen, die sie unterstützen und aus egoistischen Motiven gemeinsame Sache mit ihnen machen. In diesem Zusammenhang trifft Radulfus Ardens schließlich auch eine seiner wenigen persönlichen Aussagen und beklagt, wie sehr sich Menschen in einem solchen Umfeld verändern, weshalb sich zumindest vermuten lässt, dass er längere Zeit mit solchen Machtstrukturen konfrontiert war und aufgrund seiner Tätigkeiten entsprechende Einblicke hatte.112 Der Gesamteindruck und der Kontext des Werkes sprechen jedenfalls dafür, dass es sich bei diesen kritischen Bemerkungen nicht nur um Topoi oder Gemeinplätze handelt, sondern der Autor auch aufgrund eigener Erfahrungen gerade hinsichtlich der kirchlichen Amtsträger und Seelsorger eine moralische Erneuerung für erstrebenswert hält.113 Dass es ihm ausschließlich um diesen ethischen Aspekt und keineswegs um Veränderungen der Glaubensinhalte als solche geht, zeigt sich am Ende von Buch 8. Dort erklärt er sich im Rückblick auf seine dogmatischen Ausführungen dazu bereit, jeder Korrektur durch eine ‚richtigere Meinung‘ (‚sententia sanior‘) zu entsprechen und mögliche Falschaussagen zu widerrufen.114 Diese Aussage spielt sicherlich auf die damaligen Auseinandersetzungen mit Häresien, aber auch auf die heftigen Diskussionen
spinas uero et rances sursum attollit, sic et mundus humiles suauiter redolentes sub se premit, spinosos uero et uitiosos ad honores extollit.“ 110 Spec. uniu. 12, 135 (P, col. 153vb): „Indiscretio quoque precipientium facit inobedientes multos discipulorum. Non enim, nisi raro et discrete, iniungendum est preceptum obedientie, quoniam iussiones preceptorum indiscrete et precipites discipulos plerumque faciunt obedientie contemptores.“ 111 Spec. uniu. 12, 94 (P, col. 134vb): „Porro potestatem super homines appetere arrogantia est. Cum enim omnes homines naturaliter sint equales, uitium est arrogantie super coequales suos sibi dominium usurpare. Numquit si uideris formicam unam super ceteras formicas dominium exercentem, merito non debeas mirari cachinnoque moueri.“ 112 Spec. uniu. 12, 95 (P, col. 135va-136ra): „Multi familiaritatem appetunt principum et magnatum, ut per eam diuitias, honores, potestates, gloriam et uoluptatem acquirant. Ceterum ea prudentibus appetenda non est, quoniam est periculosa, inuidiosa, mutabilis et presumptuosa et superba. […] O quot et quantos frequenter uidemus de familiarissimis fieri alienissimos, et de amicissimis fieri inimicos!“ 113 Die Haltung des Radulfus Ardens passt damit gut zu der Beobachtung, dass im 12. Jahrhundert gerade in kritischer Auseinandersetzung mit amtskirchlichen Gewohnheiten intensive Reflexionen über Formen des christlichen Lebens angestellt und neue Ideale entworfen wurden (vgl. dazu DORT, Caritas 49). 114 Spec. uniu. 8, 118 (CCM 241A, p. 348): „Et hec de fide quam in sancta ecclesia didicimus, locuti sumus, qui si fortassis in aliquo exorbitauimus, semper sumus parati sine pertinacia sententie cedere saniori.“
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über neue theologische Ansätze an, die z. B. im Fall von Petrus Abaelardus und Gilbert von Poitiers zu regelrechten Theologenprozessen führten.115 – Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass Radulfus Ardens neben der systematischen Erschließung und Darstellung aller denkbaren Tugenden und Laster auch von dem Bemühen geleitet ist, diese theoretischen Ausführungen durch praktische Beispiele und ethische Einzelsituationen zu konkretisieren. Zu diesem Zweck streut er nach der systematischen Bestimmung einer Tugend oder eines Lasters an vielen Stellen Beispielgeschichten (‚exempla‘) ein, von denen die meisten aus den Lebensberichten früher Mönchsväter, manche aber auch unmittelbar aus der Heiligen Schrift stammen.116 2.1.1.6 Überlegungen zum Titel des Werkes und seiner literarischen Gattung Diese Überlegungen leiten unmittelbar zu der Frage über, welcher literarischen Gattung das Werk des Radulfus Ardens zuzuordnen ist und welche Rolle sein Titel in dieser Hinsicht spielt. Letztlich steht dabei die noch grundlegendere Frage im Hintergrund, zu welchem Zweck und für welchen Adressatenkreis es verfasst wurde. Im Hinblick auf diese Diskussion muss ein wichtiger Punkt vorweggenommen werden: Aufgrund der Diversität des 12. Jahrhunderts und der Tatsache, dass es kaum einheitliche Vorstellungen von literarischen Gattungen gab und ständig mit verschiedenen literarischen Formen experimentiert wurde, ist es weder beabsichtigt noch möglich, das Speculum universale eindeutig einem bestimmten Genre zuzuordnen. Vielmehr zeigen sich an Inhalt, Methoden und verschiedenen Hinweisen im Text Bezüge zu mehreren Gattungen. Eine wichtige Orientierung bieten hierbei die Titel des Werkes, die sich in der handschriftlichen Überlieferung finden. Diesbezüglich fällt auf, dass der Titel ‚Speculum uniuersale‘ erst in den spätmittelalterlichen Handschriften B, L, Pa und V auftaucht117, während das Werk in der Leithandschrift P als ‚liber de uirtutibus et uitiis‘ bezeichnet wird118. Zudem wird es in der spätmittelalterlichen Handschrift Ps
115 Vgl. MIETHKE, Theologenprozesse. 116 Die Zitation der Vitae patrum wurde in der Forschungsliteratur bereits häufig erwähnt (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 36 oder HEIMANN, Einleitung XIV). Ein gutes Beispiel für eine Zusammenstellung von ‚exempla‘ aus der Bibel findet sich z. B. in Spec. uniu. 9, 44 (CCM 241A, p. 434): „Exemplariter, ut de uirtutibus quas auditoribus predicat, exempla conuenientia supponat, ut scilicet commendans fidem inducat in exemplum fidem Abrahe, commendans mansuetudinem inducat de mansuetudine Moysi, commendans patientiam inducat de patientia Iob et similiter de ceteris.“ 117 Vgl. dazu Codex Besançon BM 218, fol. 1r: „Speculum uniuersale magistri Adulphi Ardentis.“; Codex Paris BM ms. 709, fol. 1ra: „Speculum uniuersale distinctionum magistri Radulfi Ardentis de uirtutibus et uitiis oppositis.“ (wortgleich in Codex BAV Vat. lat. 1175 I, fol. 1ra) und Codex Lissabon BN Fondo Iluminado 88, fol. 187ra: „Speculum universale de uirtutibus et uitiis.“ 118 Dieser Titel findet sich allerdings erst im zweiten Band der Handschrift P, fol. 1r: „Hic liber est de uirtutibus et uitiis […].“
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‚summa‘ genannt.119 Vor dem Hintergrund dieses Befundes ist keineswegs gesichert, ob die heute übliche Bezeichnung Speculum universale tatsächlich vom Autor selbst stammt.120 Unabhängig von dieser Frage spiegeln die drei genannten Alternativtitel aber auch die Perspektiven wider, unter denen das Werk von späteren Generationen von Gelehrten rezipiert wurde. – Vor dem Hintergrund der singulären Stellung der Handschrift P wäre es durchaus denkbar, dass das Werk ursprünglich tatsächlich ‚liber de uirtutibus et uitiis‘ heißen sollte. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich Radulfus Ardens bei der Titelauswahl an Alanus von Lille orientiert hat, der – wie bereits erwähnt – vergleichbare Themen behandelt und seinen tugendethischen Traktat De virtutibus et de vitiis et de donis spiritus sancti genannt hat. Da das Werk aber unvollendet ist und sich im Text selbst nach dem bisherigen Forschungsstand kein direkter Hinweis auf seinen Titel finden lässt, ist jedoch völlig unklar, ob die Bezeichnung in der Handschrift P wirklich vom Autor selbst stammt. – Dass das Werk in Ps als Summe bezeichnet wird, überrascht insofern nicht, da Radulfus Ardens offensichtlich den Versuch unternimmt, alle Themen der Theologie systematisch zu ordnen und unter dem Paradigma der Tugendethik zu behandeln. Auch vor dem Hintergrund, dass ‚summa‘ im späten 12. Jahrhundert die typische Bezeichnung für Lehr- und Nachschlagewerke war121 und das Speculum universale den Eindruck einer groß angelegten und didaktisch aufbereiteten Gesamtdarstellung erweckt, kann es durchaus als eine moraltheologische Summe bezeichnet werden.122 Dass es in der Handschrift Ps, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden ist und nur Auszüge aus dem Speculum universale enthält, ‚summa‘ genannt wird, führt auf jeden Fall vor Augen, in welchen Zusammenhang die Schrift des Radulfus Ardens von den Lesern im Spätmittelalter, die auf die gesamte Entwicklung in der Hochscholastik zurückblicken konnten, eingeordnet wurde. – Welche Informationen lassen sich daraus ableiten, dass das Werk als ‚speculum‘ bezeichnet wird? Ganz allgemein ist zunächst zu sagen, dass bereits Augustinus ein Werk namens Speculum verfasst hatte, in dem er dem Leser sittliche Forderungen aus der Bibel sprichwörtlich als Spiegel vorhält, um ihn so zum Tun des Gutes zu motivieren.123 Diese Konzeption findet zunächst kaum Nachahmer, 119 Codex Paris BN lat. 3242, fol. 1r: „Incipit prologus in libro de uitiis et uirtutibus de summa uenerabilis Radulfi.“ 120 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 23. 121 Vgl. LEINSLE, Einführung 52 und HÖDL, Summa 306. 122 So werden im 12. Jahrhundert auch gerade moraltheologisch-aszetische Grundlagenwerke wie katechetische Grundrisse, Predigtsammlungen, Lehrbücher der Homiletik oder Zusammenstellungen von Beichtfällen gelegentlich als ‚summa de uitiis et uirtutibus‘ bezeichnet (vgl. LEINSLE, Einführung 52 f.). Daran zeigt sich aber auch, wie unspezifisch dieser Begriff verwendet wurde und wie wenig diese literarische Form festgelegt war. 123 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 23 sowie BRUNHÖLZL, Speculum.
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wird aber gerade im ausgehenden 11. und beginnenden 12. Jahrhundert wieder sehr populär.124 Dabei ist jedoch zu beobachten, dass der Titel ‚speculum‘ in keiner Weise auf einen bestimmten Fachbereich festgelegt ist und für sich genommen nahezu keinerlei Rückschlüsse auf Inhalt, Absicht oder Charakter eines Werkes zulässt. Vielmehr ist dabei meist schlichtweg der Grundgedanke leitend, einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit herauszugreifen und diesen in Form einer Beschreibung oder eines Idealbildes zu ‚spiegeln‘.125 Jedoch lassen sich zwei Gruppen von Schriften mit diesem Titel ausmachen, die bestimmte Ähnlichkeiten zum Werk des Radulfus Ardens aufweisen. Die erste Gruppe von ‚specula‘ nimmt bestimmte Lebensbereiche oder Personengruppen in den Blick, stellt dabei die Frage nach dem richtigen Verhalten und entwirft in dieser Hinsicht in belehrender Absicht häufig ein Idealbild, dem es nachzueifern gilt. Als Beispiele dafür können einerseits die Fürstenspiegel des frühen Mittelalters gelten (die oft jedoch gerade nicht den Titel ‚speculum‘ tragen), andererseits die oftmals mit asketisch-moraltheologischen Handlungsempfehlungen verbundenen Spiegel aus dem monastischen Bereich, wie bspw. das anonyme Speculum virginum.126 Bereits Johannes Gründel hat das Werk des Radulfus Ardens in diesen Kontext eingeordnet. Die Beifügung des Adjektivs ‚uniuersale‘ hat er dabei so gedeutet, dass sich das Speculum universale eben nicht nur auf einzelne Personengruppen (wie Fürsten oder Mönche) und bestimmte Lebensbereiche (wie das klösterliche Leben) bezieht, sondern das menschliche Verhalten insgesamt beschreiben will und damit letztlich darauf abzielt, in allen denkbaren Situationen des menschlichen Lebens Handlungsempfehlungen oder zumindest einen Denkanstoß bereitzuhalten.127 Ruft man sich die Informationen aus Einführung zum Inhalt und zu den Methoden des Speculum universale ins Gedächtnis, hat diese Interpretation einiges für sich. Sie erscheint umso überzeugender, da sich im Werk selbst einige Bemerkungen finden lassen, die auf eine solche Zielsetzung hindeuten.128
124 Vgl. dazu BRUNHÖLZL, Speculum sowie ROTH, Spiegelliteratur 2101. 125 So lassen sich nach ROTH, Spiegelliteratur allein im theologischen Kontext nicht weniger als fünf verschiedene Kategorien von Werken ausmachen, die als ‚speculum‘ bezeichnet werden, wobei die Spanne von dogmatisch-heilgeschichtlichen Abhandlungen und moraltheologisch-aszetischen Handlungsempfehlungen über Exzerpte, Textsammlungen und autobiografische Schriften reicht. 126 Vgl. BRUNHÖLZL, Speculum. FRANKLIN-BROWN, Reading the World 273 bezeichnet diese Art von Literatur und explizit das Speculum uirginum daher treffend als ‚instruction manual‘. 127 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 24. 128 So heißt es etwa in Spec. uniu. 9, 43 (CCM 241A, p. 431): „Quot enim sunt species uitiorum, tot et species uitiosorum. Quoniam uero in hoc opere fere de omnibus uitiorum generibus uel iam diximus uel dicturi sumus, prudens lector singula uitiorum genera in hoc uolumine disquirat, ut ex origine uitiorum qualiter unumquodque uitium corrigere possit, animaduertat.“ Weiterführende Überlegungen dazu finden sich auch im letzten Punkt der Arbeit.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Mit dem offensichtlich vorhandenen Anspruch, eine universale Gesamtschau des menschlichen Verhaltens darzubieten, weist die Schrift des Radulfus aber auch noch zu einer anderen Gruppe von Werken Bezüge auf, die mitunter ebenfalls den Titel ‚speculum‘ tragen, nämlich der Enzyklopädie. Dieser Werktyp geht letztlich auf das Bestreben zurück, möglichst das gesamte verfügbare Wissen zu sammeln, zu ordnen und dadurch verfügbar zu machen. In dieser Hinsicht galten die Etymologiae des Isidor von Sevilla bis zum Ende des 11. Jahrhunderts als Standardwerk, das immer wieder zitiert und umgearbeitet wurde.129 Im 12. Jahrhundert zeichnete sich jedoch ein Wandel ab und es entstanden Werke, in denen es nicht mehr vorrangig um Universalwissen oder Universalbildung ging. Vielmehr wurden nun einzelne Bereiche herausgegriffen, mit neuem Material ergänzt oder gänzlich neu bearbeitet. Beispiele für solche Werke sind die Imago mundi des Honorius Augustoduniensis († um 1150) oder das wesentlich später verfasste Speculum maius des Vinzenz von Beauvais († um 1264).130 Auch hier spielen wieder das jeweilige Ordnungssystem und der Wissenschaftsbegriff eine zentrale Rolle, sodass die Trennlinie zur Summenliteratur fließend ist und beide Titel auch synonym verwendet wurden.131 Insgesamt lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Formate und Inhalte feststellen, dass sich der Bereich der enzyklopädischen Schriften enorm diversifiziert, was wiederum zur Konsequenz hat, dass kaum einheitliche Gattungskriterien benannt werden können132 und die Bewertung vieler Schriften als Enzyklopädie in der Forschung umstritten ist.133 Als Beispiele für solche nicht klar zuordenbare, aber dennoch in bestimmten Aspekten enzyklopädische Schriften wird neben dem Didascalicon des Hugo von Sankt Viktor in der Forschungsliteratur gelegentlich auch das Speculum universale genannt.134 Dabei ist zum einen klar, dass sich Radulfus Ardens mit vielen ‚klassischen‘ enzyklopädischen Themen wie Naturkunde, Kosmologie oder Geschichtsschreibung kaum bzw. überhaupt nicht beschäftigt. Auf der anderen Seite zielt seine Darstellung eindeutig auf Vollständigkeit ab, wie sich bspw. an den bis ins Extreme ausdifferenzierten Untertugenden und -lastern, der Fülle der besprochenen Einzelsi-
129 BERNT, Enzyklopädie 2032. 130 Vgl. FRANKLIN-BROWN, Reading the World 273. Interessanterweise zitiert Vinzenz von Beauvais die Imago mundi in seiner eigenen Enzyklopädie als ‚speculum mundi‘. Daran zeigt sich, dass die Gestalt dieses Werkes offenbar die Assoziation mit dem Titel ‚speculum‘ hervorrief. Allerdings hat gerade der genannte Honorius Augustoduniensis noch das Speculum ecclesiae verfasst, welches eine reine Predigtsammlung darstellt und damit vor Augen führt, was für unterschiedliche Typen von Werken als Spiegel bezeichnet wurden. 131 Vgl. BRUNHÖLZL, Speculum. 132 MEIER, Enzyklopädik 486 versucht bspw., Kosmos, Geschichte, Wissenschaft und Ethik als die vier wesentlichen Gegenstandsbereiche der Enzyklopädik festzulegen. Jedoch zeigen die Diskussionen in der Forschung, dass sich gerade für den Bereich des 12. Jahrhunderts hier kein eindeutiges Bild nachzeichnen lässt. 133 Vgl. dazu im Detail VOLLMANN, Enzyklopädien 629 f. 134 Vgl. z. B. VOLLMANN, Enzyklopädien 630.
2.1 Sein literarisches Schaffen
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tuationen aber auch an den oben beschriebenen heuristischen Methoden zeigt. Dass es ihm dabei nicht nur um Kompilation bzw. Zusammenfassung der ethischen Kenntnisse seiner Zeit, sondern vielmehr um einen Wissenszugewinn geht, fügt sich gut in die soeben beschriebene Dynamik des 12. Jahrhunderts ein. Damit lässt sich auf die oben gestellte Frage nach der Bedeutung des Titels für das Verständnis des Werkes Folgendes antworten: Das Speculum universale lässt sich nicht eindeutig als Summe, Spiegel oder Enzyklopädie bestimmen, da die entsprechenden Gattungen in der damaligen Zeit kaum voneinander abgegrenzt werden können. Jedoch tritt klar vor Augen, dass sich Radulfus Ardens mit der Programmatik seiner Schrift, die auf eine integrale Gesamtschau der Tugendethik vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens abzielt, in für das 12. Jahrhundert charakteristische Entwicklungsprozesse einordnen lässt, die später zur Herausbildung der literarischen Gattungen Summe und Enzyklopädie führen. Von daher ließe sich das Speculum universale mit guten Gründen sowohl als moraltheologische Summe als auch als Enzyklopädie der Tugendethik und des menschlichen Handelns bezeichnen.135 Was den Adressatenkreis der Schrift angeht, lässt sich letztlich nur spekulieren. Aufgrund der Tatsache, dass darin geradezu alle denkbaren positiven und negativen Charaktereigenschaften behandelt und zahlreiche praktische Ratschläge zur Charakterbildung vermittelt werden, könnte sie als ein Leitfaden für die Priesterausbildung konzipiert gewesen sein und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen vermittelt das Werk dem sich noch in der Ausbildung befindlichen Priester, wie er seinen eigenen Charakter formen, Laster austilgen und Tugenden erwerben kann; denn nur auf der Grundlage eines tugendhaften Lebenswandels kann er selbst ein guter Seelsorger und Lehrer sein. Zum anderen dient sie dem fertig ausgebildeten Priester als Nachschlagewerk und Ratgeber für die oft sehr unterschiedlichen und komplexen pastoralen Alltagssituationen. Dass sich das Werk an eine solche Adressatengruppe richtet, würde auch erklären, warum Radulfus Ardens immer wieder Kritik am Lebenswandel der Seelsorger und kirchlichen Würdenträger seiner Zeit übt, zu einer moralisch einwandfreien Lebensführung aufruft und zahlreiche ‚exempla‘ aus Unterrichtssituationen und dem asketischen Bereich anführt. Auch die streng deduktive Methodik, durch die der Stoff übersichtlich präsentiert wird und der Ausgangspunkt stets im Blick bleibt sowie die didaktische Aufbereitung mithilfe von Baumdiagrammen würden für einen solchen Verwendungszweck sprechen. Dass das Speculum universale tatsächlich als eine Art Leitfaden oder Nachschlagewerk benutzt wurde, lässt sich freilich nicht eindeutig beweisen; die geringe Zahl der handschriftlichen Überlieferungsträger und die Tatsache, dass es nach dem bisherigen Forschungsstand kaum rezipiert wurde, sprechen eher nicht dafür. Immerhin findet sich z. B. in der Handschrift L ein Stichwortregister136, was tatsächlich ein Indiz dafür sein könnte.
135 Vgl. z. B. HEIMANN, Einleitung XX oder GRÜNDEL, L’œuvre encyclopédique. 136 Codex Lissabon BN Fondo Iluminado 88, fol. 188–203.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
2.1.2 Das Predigtwerk (Homiliae) Neben dem Speculum universale ist von Radulfus Ardens noch eine Predigtsammlung überliefert, die mindestens 202 Predigten umfasst. Sie ist offensichtlich der Ertrag einer jahrelangen Predigttätigkeit und kann als eine der umfangreichsten Sammlungen von Modellpredigten jener Zeit gelten.137 Sowohl Stil und Sprache als auch ihr logisch klarer Aufbau und die Auswahl und Rezeption von Quellen weisen deutliche Parallelen zum Speculum universale auf, weshalb die Autorschaft des Radulfus Ardens als gesichert gelten kann.138 In dem kurzen Prolog zu den Predigten, der sich in manchen Handschriften findet und der von George Wolf ediert wurde, entschuldigt sich der Verfasser, dass er nur wenig theologische Literatur heranziehen konnte und die Autoritäten sinngemäß wiedergibt, da er am Hofe eines Fürsten tätig war. Er sei viel auf Reisen gewesen und musste daher seine Homiliae ‚auf den Feldern‘ (‚inter arua‘) schreiben.139 Inwieweit diese Äußerungen tatsächlich von Radulfus Ardens stammen oder gar seine tatsächliche Lebenssituation wiedergeben, muss bis auf Weiteres ungeklärt bleiben, da hierzu umfangreiche Untersuchungen zu den Quellen der Homiliae notwendig wären. Einige der Predigten behandeln komplexe theologische Themen, sodass davon auszugehen ist, dass sie sich an akademisch gebildete Zuhörer richteten, von denen die meisten wohl ebenfalls Priester waren. Dafür spricht auch, dass sie offenbar sehr sorgfältig vorbereitet wurden und gelegentlich Inhalte zur Sprache bringen, die porretanischen Einfluss feststellen lassen.140 Die Homiliae gliedern sich in drei Predigtreihen und liegen gedruckt in Band 155 der Patrologia Latina (PL) vor. Die Edition stammt ursprünglich von Claude Fremy, der ihr eine Kurzbiografie vorangestellt hat. Sie enthält viele Fehler und Anachronismen, worauf im Folgenden noch genauer eingegangen wird. Diese Zusammenstellung ist allerdings sicher nicht vollständig – das ergaben bereits oberflächliche Vergleiche mit den heute noch existierenden Handschriften. Zudem wurde offensichtlich keine der heute noch vorhandenen Textzeugen als Vorlage für diese Edition benutzt.141 Die Bezeichnungen der Predigtreihen sind teilweise irreführend: Als Homiliae de tempore (Hom. temp.)142 werden gewöhnlicherweise Pre137 Vgl. ERNST, Einleitung 1 15. 138 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 10 f.; EVANS, Introduction 6; einige Beispiele finden sich bei HÖDL, Schlüsselgewalt 1 243–246. 139 EVANS, Introduction 3 f. weist darauf hin, dass Claude Fremy, dessen Kurzbiografie über Radulfus Ardens der Ausgabe der Predigten in der Patrologia Latina beigefügt wurde, hier aufgrund der falschen Lesart ‚inter arma‘ zu dem falschen Schluss kam, dass Radulfus Ardens Wilhelm IX. diente und ihn auf dem ersten Kreuzzug begleitete. WOLF, La préface 39 liest ebenfalls ‚arua‘ und führt im kritischen Apparat die Variante ‚arma‘ an. 140 Vgl. dazu GEYER, Radulfus Ardens 80 sowie LANDGRAF, Porretanismus 132–136. 141 Vgl. HEIMANN, Beobachtungen 171; EVANS, Introduction 6 n. 24; DE GHELLINCK, L’essor 82. 142 PL 155, col. 1301–1490.
2.1 Sein literarisches Schaffen
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digten zu den sonntäglichen Lesungen und Evangelien bezeichnet. Die 44 unter dieser Rubrik in der PL zusammengefassten Predigten befassen sich aber mit den Heiligenfesten während des Kirchenjahres. Die 33 Homiliae de sanctis (Hom. sanct.)143 sind gewissermaßen eine Fortsetzung dieser ersten Predigtreihe. Radulfus Ardens nimmt die Heilgenlegenden häufig zum Anlass, bestimmte Tugenden und Laster sowie entsprechende moraltheologische Themen zur Sprache zu bringen. In der dritten Predigtreihe sind schließlich unter der Bezeichnung Homiliae in epistolas et evangelia dominicalia (Hom. in epist.)144 für die meisten Sonn- und Feiertage im Kirchenjahr jeweils zwei Predigten zu finden, von denen sich die eine mit der Lesung, die andere mit dem Evangelium befasst.145 Diese Rubrik umfasst insgesamt 122 Predigten. Auch hier werden häufig ethische Fragen sowie einzelne Tugenden und Laster thematisiert. Dieser Befund lässt den naheliegenden Schluss zu, dass Radulfus Ardens häufig am Sonntag und an bestimmten Feiertagen gepredigt hat.146 Würde man das Predigtcorpus eingehender untersuchen, ließen sich mit Sicherheit interessante Querbezüge zwischen dem Speculum universale und den Homiliae feststellen. Dass die Predigten auch aus systematischer Perspektive einen relevanten Untersuchungsgegenstand darstellen, wurde in der Forschung bereits mehrfach angedeutet.147 Allerdings ist – wie bereits erwähnt – nicht einmal die genaue Anzahl der Predigten bekannt, da die Handschriften bisher zu wenig untersucht wurden:148 In der PL finden sich 199 Predigten, ein erster Abgleich mit der handschriftlichen Überlieferung hat drei weitere zu Tage gebracht. Ein bemerkenswertes Faktum ist außerdem, dass sich die Predigten des Radulfus Ardens im späten Mittelalter und der beginnenden Frühen Neuzeit (besonders in England) offensichtlich großer Beliebtheit erfreuten.149 Im Zuge dessen kam es auch zu einer folgenschweren Verwechslung: Die Handschriften – die nicht anonym überliefert sind – nennen einen ‚Ralph Acton‘ (oder ‚Atton‘) als Verfasser, der angeblich in der Frühen Neuzeit in England als Prediger gewirkt haben soll. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine reale Person, sondern um einen ‚literary ghost‘.150 Offenbar galten die Predigten des Radulfus Ardens als so modern, dass man sie ins 14. Jahrhundert
143 PL 155, col. 1489–1626. 144 PL 155, col. 1667–2118. 145 Die Homiliae in Epistolas et Evangelia Dominicalia sind in zwei Teile aufgeteilt: Die ‚pars prima‘ (73 Predigten) erstreckt sich über die Spalten 1667A–1946B, die ‚pars secunda‘ (49 Predigten) über die Spalten 1945–2118D. 146 Vgl. EVANS, Introduction 5 n. 13, der diesbezüglich auf das Vorwort der Predigten verweist. 147 So z. B. bei KNOCH, Sakramente 330. 148 Nach STANSBURY, Catalogue existieren heute noch acht Handschriften, welche die Homiliae überliefern. Eine wird in Frankreich aufbewahrt, die übrigen sieben in England. Drei davon enthalten einen längeren Prolog (eine Edition auf der Grundlage der Handschrift Lincoln College ms. 116 findet sich bei WOLF, La préface). 149 Zur Rezeption der Homiliae im Allgemeinen vgl. HEIMANN, Beobachtungen. 150 Vgl. dazu CATTO, Acton Ralph.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
datierte. Unter Umständen ist diese hohe Beliebtheit der Homiliae in der frühen Neuzeit auch ein Grund dafür gewesen, dass die Edition von Claude Fremy aus dem 16. Jahrhundert in die PL aufgenommen wurde. Ob mit der Rezeption der Predigten auch das Interesse am Speculum universale anstieg – die Existenz der Handschrift L, die in der Zeit vor 1450 entstanden ist, könnte dafürsprechen – ist allerdings vorerst nicht feststellbar. In der jüngeren Forschung wurden die Predigten noch nicht eingehender untersucht.151 Hin und wieder finden sich kurze Erwähnungen oder einzelne Zitate.152
2.1.3 Das Briefcorpus (Libri epistularum) Von den Werken, die Radulfus Ardens noch zugeschrieben wurden,153 scheinen auch die Libri II Epistularum authentisch zu sein. Radulfus Ardens erwähnt seine Briefe mehrfach im Speculum universale. So ist in Buch 2 die Rede von einem Brief über das Alter154, in den Büchern 10 und 11 wird ein Brief über die Freundschaft erwähnt155 und in Buch 14 wird auf einen Brief über die Keuschheit Bezug genommen.156 Möglicherweise handelt es sich bei den Briefen also um längere Traktate, die sich mit bestimmten Themen ausführlich (‚sufficienter‘) beschäftigten. Besondere Beachtung verdient außerdem der Hinweis des Radulfus Ardens, er habe einige Briefe in Versen (‚metrice‘) verfasst. Da zudem ein Buch der Briefe (‚liber epistularum‘) erwähnt wird, ist davon auszugehen, dass Radulfus Ardens seine Epistulae selbstständig 151 Neben einer älteren Darstellung, die eine Predigt aus dem Corpus paraphrasiert (SCHNETTLER, Homiliarium), ist diesbezüglich noch auf einen längeren Aufsatz (HAGOORT, Preken) sowie eine unveröffentlichte Dissertation (HAGOORT, Prekenbundel) zu verweisen. 152 Vgl. LONGERE, Œuvres 1 30 f.159–168.337–346 und DERS., Œuvres 2 32.124–129.252–256 mit einigen Textabschnitten aus den Homiliae; GOODICH, Miracles; MINNIS, Authorship 110; MIKOSCH, Diskurse 267 oder SCHIEWER, Predigt 94 f. 153 In der Kurzvita von Claude Fremy finden sich neben der Erwähnung des Speculum universale, der Homiliae und der Epistulae noch folgende Hinweise: „[…] Item Historiam sui temporis, nempe Belli Godefredi de Buillon in Saracenos, cui assecla ducis Aquitaniae interfuit. Scripsit pleraque alia, ut ipse de se testatur in suo Speculo.“ (PL 155, col. 1667). Diese Historia sui temporis – mutmaßlich ein historiografisches Werk über den ersten Kreuzzug (1096–1099) – stammt sicher nicht von Radulfus Ardens und ist verloren. Mit den ‚pleraque alia‘ könnten evtl. einzelne Brieftraktate gemeint sein (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 15–17); es könnte sich dabei aber auch um ein Missverständnis handeln, welches sich darauf zurückführen lässt, dass Radulfus Ardens häufig von Traktaten spricht, wenn er auf andere Themenkomplexe innerhalb des Speculum universale verweist. 154 Spec. uniu. 2, 24 (CCM 241, p. 110): „Porro quas uirtutes senem deceat habere, que uitia deuitare, in epistula quam de senectute metrice dictauimus, sufficienter exposuimus.“ 155 Spec. uniu. 10, 19 (CCM 241A, p. 544): „Porro quid sit amicitia et unde oriatur et inter quos esse possit et que sit lex eius in libro epistolarum explanauimus sufficienter.“ und Spec. uniu. 11, 114 (P, fol. 91vb): „Sed hec pertransimus, quoniam de omnibus hiis in epistola quam de uera amicitia metrice scripsimus, sufficienter explanauimus.“ 156 Spec. uniu. 14, 68 (P, fol. 198vb): „Porro quanta incommoda afferat cohabitatio mulieris continentiam professis in libro epistolarum sufficienter exposuimus.“
2.2 Zur Biografie des Radulfus Ardens
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redaktionell bearbeitet und in einem Werk zusammengefasst hat, welches mindestens ein Buch umfasste. Die Briefe wurden bisher noch nicht gefunden; durch genauere Untersuchungen der letzten beiden Bücher des Speculum universale können möglicherweise noch weitere Hinweise gefunden werden.
2.2 Zur Biografie des Radulfus Ardens Auf der Grundlage dieser Informationen zur schriftstellerischen Tätigkeit des Radulfus Ardens lassen sich nun Überlegungen zu seinen Lebensumständen anstellen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung der Forschungsliteratur stößt man diesbezüglich immer wieder auf unterschiedliche und teilweise sogar widersprüchliche Angaben. Dies liegt v. a. daran, dass auf der Grundlage von unzuverlässigem Quellenmaterial letztlich nicht eindeutig belegbare Spekulationen angestellt wurden. Die auf diese Weise zusammengetragenen Mutmaßungen wurden nun ihrerseits in der Forschung nur teilweise aufgegriffen, sodass man immer wieder auf unterschiedliche Zusammenstellungen von Angaben stößt, deren Informationsgehalt zweifelhaft ist. In jüngster Zeit hat der biografische Abriss von Claudia Heimann durch eine umfassende quellenkritische Untersuchung der Angaben erheblich zur Klärung der Sachlage beigetragen.157 Als Ergebnis ist dabei festzuhalten, dass die Quellenlage wenig ergiebig ist: Die bruchstückhaften Informationen halten einer genaueren Prüfung nicht stand, sodass man mit der paradoxen Aufgabe konfrontiert ist, gewissermaßen eine ‚negative Biografie‘ zu schreiben. Die folgenden drei Abschnitte diskutieren die wichtigsten in der Literatur verbreiteten Annahmen über die Biografie des Radulfus Ardens in der Absicht, einen möglichst griffigen Überblick auf der Grundlage der neuesten Forschungsergebnisse zu liefern.
2.2.1 Name und Herkunft Bereits Name und Herkunft des Autors werfen Fragen auf. In der ältesten Abschrift P, die wie bereits erwähnt um das Jahr 1200 entstanden ist, findet sich nur der Name ‚Radulfus‘. Der Beiname ‚Ardens‘ taucht auch in den Textzeugen Pi und Pu aus dem 13. Jahrhundert nicht auf, sondern erst in Handschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Zu seiner Bedeutung gibt es unterschiedliche Überlegungen: Sowohl Johannes Gründel als auch Claudia Heimann gehen davon aus, dass er sich auf die leidenschaftliche Art seiner Predigt bezieht.158 Claude Fremy, der im Jahr
157 Vgl. HEIMANN, Einleitung XXI–XXXVII. 158 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 9; HEIMANN, Einleitung XXI unter Verweis auf DE GHELLINCK, L’essor 226. Die von John Baldwin angestellten Spekulationen, der Name weise einen lokalen Bezug
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
1564 für die erste Edition der Predigten des Radulfus Ardens eine Kurzvita verfasst hat159, weist ihm den Namen aufgrund seines Wissensdurstes zu. Diese Interpretation erscheint allerdings wenig glaubhaft: Die damit verbundene Angabe, er habe einen Doktorgrad in der Theologie erlangt, entbehrt jeder Quellengrundlage, da es in der Frühscholastik noch keine akademischen Grade gab.160 Dass diese Vita insgesamt keine verlässliche Quelle darstellt, zeigt sich im Weiteren daran, dass sie als Lebenszeit des Radulfus Ardens fälschlicherweise den Zeitraum von ca. 1040–1100 angibt. Auf der Grundlage dieser Information datierte noch Martin Grabmann Leben und Werk ca. 100 Jahre zu früh.161 Wäre das Speculum universale allerdings tatsächlich zu Beginn des 12. Jahrhunderts verfasst worden, würde daraus folgen, dass eine ganze Reihe von bedeutsamen Fachbegriffen aus dem Bereich der Sakramentenlehre wie bspw. ‚transsubstantiare‘, ‚sacramentum tantum‘, ‚sacramentum et res‘, ‚res tantum‘ sowie die Unterscheidungvon ‚contritio‘ und ‚attritio‘ bei ihm zum ersten Mal verwendet worden wäre.162 Außerdem wäre er der erste Gewährsmann für die Siebenzahl der Sakramente. Gegen diese These und die damit verbundenen weitreichenden Folgen erhob sich bereits kurz darauf Kritik: Bernhard Geyer unterzog Grabmanns Beschreibung einer kritischen Relecture und konnte – wie bereits beschrieben – zweifelsfrei festlegen, dass die Werke des Radulfus Ardens im Zeitraum zwischen dem III. und IV. Laterankonzil (also in den Jahren 1179–1215) entstanden sein müssen.163 Eine weitere Bestätigung dieses Zeitraumes stellt die Erwähnung Bernhards von Clairvaux dar, den Radulfus Ardens in Kapitel 72 von Buch 10 als ‚sanctus‘ bezeichnet, der aber erst 1174 von Papst Alexander III. heiliggesprochen wurde.164 Auch die in der Forschung einmütig vertretene Ansicht, er stamme aus der Ortschaft Beaulieu-sous-Beressuire ca. 100 km nordwestlich von Poitiers,165 ist nicht sicher belegt. Geht man nämlich der Herkunft dieser Information genauer nach, stößt man nicht auf ein zeitgenössisches Zeugnis oder eine eigene Aussage des Radulfus
nach Caen auf (vgl. BALDWIN, Masters 1 40), wurden von Claudia Heimann mangels tragfähiger Indizien verworfen und auch sonst in der Forschungsliteratur nicht weiter aufgegriffen. 159 Die Forschungsliteratur beruft sich heute allerdings nicht direkt auf Claude Fremy, sondern auf eine Kurzfassung von Antoine Rivet (vgl. RIVET, Raoul Ardent), die der Edition der Predigten in der Patrologia Latina vorangestellt ist (PL 155, col. 1294–1300). 160 PL 155, col. 1667: „Claris parentibus et per quam nobilibus ortus, subinde a pueris libris operam dedit. In quibus (ut erat ingenii ardentis) ita profecit, ut ante tricesimum suae aetatis annum doctoris theologi assequeretur gradum.“ 161 Vgl. GRABMANN, Geschichte 1 246–257. 162 Vgl. dazu auch EVANS, Introduction 1. 163 Vgl. GEYER, Radulfus Ardens 77–80. 164 Spec.uniu. 10, 72 (CCM 241A, p. 641): „Sanctus etiam Bernardus dicebat […]“; vgl. dazu auch EVANS, Introduction 2 n. 3. 165 Vgl. bspw. EVANS, Introduction 3–6; COURTH, Radulfus Ardens; DREYER, Radulfus Ardens; SOLIGNAC, Raoul Ardent 98; LUMPE, Radulfus Ardens 1231; GRÜNDEL, Radulfus Ardens.
2.2 Zur Biografie des Radulfus Ardens
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Ardens, sondern erneut auf die unzuverlässige Kurzvita von Claude Fremy. Als Beweis für seine Ortswahl führt er an, dass sich im Franziskanerkloster von Bressuire eine Abschrift des Speculum universale befindet. Claudia Heimann kommt zu dem Schluss, dass diese Information für sich alleine kein tragfähiges Argument ist, da es in der näheren Umgebung von Poitiers noch drei weitere Ortschaften mit dem Namen Beaulieu gibt, die man als Herkunftsorte annehmen könnte: Beaulieu-sousParthenay, Beaulieu-les-Loches (das in der Nähe der Kartause von Liget liegt, woher die Handschrift P stammt) und Beaulieu-sur-Roche (das in der Nähe von Lieu-Dieu-en-Jard liegt, wo Radulfus Ardens nach der Handschrift L begraben wurde).166 Damit bleiben sowohl Name als auch Herkunft des Radulfus Ardens bis auf weiteres ungeklärt.
2.2.2 Akademisches Wirken und Predigttätigkeit Auch im Hinblick auf seine Ausbildung, seine akademischen Wirkungsstätten und seine Lehr- und Predigttätigkeit lässt sich kaum etwas Sicheres ausmachen. Jedoch können auf Grundlage von Beobachtungen zu seiner Arbeitsweise und der von ihm im Speculum universale zitierten Literatur Vermutungen zu diesen vier Punkten angestellt werden. (1) An seinen Werken lässt sich erkennen, dass er hoch gebildet und auf nahezu allen Wissensfeldern der damaligen Zeit bewandert war.167 Sowohl das Speculum universale als auch die Homiliae machen deutlich, dass er mit der Heiligen Schrift bestens vertraut war und ihr eine hohe Bedeutung beimaß. Dabei verstand er die Bibel offensichtlich aber nicht nur als eine Autorität, mit der er seine Darlegungen absichern konnte; vielmehr entwickelte er zentrale Gedanken häufig ausgehend von biblischen Aussagen und verleiht seinem tugendethischen Ansatz damit geradezu eine biblische Prägung.168 An seinen präzisen etymologischen Erklärungen von Tugend- und Lasterbegriffen zeigt sich, dass er fundierte Kenntnisse der griechischen Sprache besaß.169 Neben patristischen Schriften – von denen er die Werke Gregors des Großen sichtlich besonders schätzte170 – führt er auch eine ganze Reihe pagan-antiker Autoren an. Hier fällt eine Vorliebe für die römischen Dichter wie
166 Vgl. HEIMANN, Einleitung XXIIIf. 167 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 51. 168 Zur Bibel als Quelle im Speculum universale vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 44–47. 169 So verwendet er bspw. in Buch 12 in Ermangelung passender lateinischer Begriffe gleich mehrfach griechische, wie ‚philargia‘ für den Geiz in Spec. uniu. 12, 20 (P, col. 117rb) oder ‚cenodoxia‘ für die Ruhmsucht in ebd. 12, 16 (P, col. 116ra). Dabei nennt er die Wörter nicht nur, sondern zerlegt sie auch in ihre Bestandteile und erläutert ihre Etymologie. 170 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 48 f.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Horaz, Ovid und Juvenal ins Auge, die er besonders ab Buch 9 häufig zitiert.171 Auch antike Philosophen wie Cicero und Seneca zitiert er oft, wobei letzterer gerade in Buch 12 im Kontext der Frage nach dem rechten Maß des Besitzens eine zentrale Rolle spielt.172 Die Vertrautheit mit diesen Autoren, die zumindest im Falle Senecas definitiv nicht nur aus Florilegien stammen kann, spricht dafür, dass er eine umfassende Ausbildung in den ‚artes‘ des Triviums erhalten hat. Die Auseinandersetzung mit Boethius, den er v. a. in Buch 7 im Kontext trinitätstheologischer Fragestellungen zitiert173, ist ein Indiz dafür, dass er mit den Positionen des Gilbert von Poitiers vertraut war, der das Denken des spätantiken Philosophen in mehreren Kommentaren für die Theologie des 12. Jahrhunderts fruchtbar machte174. Auf welchem Wege oder an welchen Orten Radulfus Ardens sich all diese Wissensbereiche aneignete, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, da er sich dazu nicht konkret äußert und in dieser Frage auch sonst keine Quellen weiterführen. Nahe liegt allerdings die Vermutung, dass er an einer oder an mehreren der damals entstehenden Kathedralschulen wie bspw. Chartres, Laon, Reims oder Paris ausgebildet wurde.175 Allerdings lässt sich auch nicht ausschließen, dass er zumindest teilweise an einer Klosterschule unterrichtet wurde, wofür seine genauen Bibelkenntnisse und die Vertrautheit mit paganen römischen Schriftstellern sprechen würden, die dort im Rahmen des Grammatikunterrichts gelesen wurden.176 (2) Hinsichtlich seines weiteren akademischen Wirkens stößt man immer wieder auf die Angaben, dass er Archidiakon in Poitiers und Magister in Paris gewesen
171 Besonders Buch 10 und 12 stechen in dieser Hinsicht hervor. So bestehen in Buch 12 einige Kapitel nahezu vollständig aus Dichterzitaten (bspw. c. 46 und 52). 172 Vgl. dazu ausführlich Punkt 2.1.2 im dritten Hauptteil. In diesem Abschnitt (c. 13–86) finden sich immer wieder längere Zitate aus den Epistulae morales. Manche Kapitel (wie z. B. c. 22 und 47) orientieren sich dabei auch an der Argumentation in einzelnen Briefen Senecas. 173 Zu verweisen ist hier etwa auf die hermeneutischen Überlegungen zu den ‚nomina concretiua‘ und ‚nomina mathematica‘ in den Kapiteln 24–27. Überhaupt stößt man bei der Lektüre der dogmatischen Überlegungen in den Büchern 7 und 8 immer wieder auf porretanisches Gedankengut (vgl. dazu für den Bereich der Sakramentenlehre den Quellenapparat in der Teiledition von Christopher Evans). Eine genauere Erforschung eventueller Bezüge zu den Werken Gilberts steht immer noch aus, kann aber auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung, die in erster Linie an ethischen Fragestellungen ausgerichtet ist, nicht geleistet werden. 174 Vgl. dazu HÄRING, Gilbert Potrreta; COURTH, Porretaner sowie SCHMIDT, Gottheit. 175 Vgl. EHLERS, Domschulen. 176 Obgleich die Klosterschulen im Laufe des 12. Jahrhunderts an Bedeutung verloren, spielten sie neben den neu entstehenden Kathedralschulen in der Bildungslandschaft immer noch eine wichtige Rolle, zumal der in der Literatur oftmals beschriebene Gegensatz zwischen Kloster- und Kathedralschulen eher als Anachronismus zu werten ist (vgl. dazu ausführlich VERGER, Cloisters and Schools). Der Schwerpunkt des Lehrbetriebs in den Klosterschulen lag neben dem Studium der Heiligen Schrift und des Triviums auf der Vermittlung praktischer Fähigkeiten, wie bspw. dem Gesang (zu dem sich auch Radulfus Ardens in den Kapiteln 157–159 von Buch 11 ausführlich äußert) oder dem Predigen (vgl. HAERING, Klosterschulen).
2.2 Zur Biografie des Radulfus Ardens
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sei.177 Woher diese Informationen stammen, kann aus den Quellen erneut nicht mit Sicherheit ermittelt werden. Tatsache ist allerdings, dass sich Radulfus Ardens sowohl in den Homiliae als auch im Speculum universale mehrmals zu den Bewohnern von Poitiers und aktuellen Ereignissen in der Gegend äußert, sodass angenommen werden muss, dass er im Poitou gelebt und gepredigt hat.178 Außerdem erwähnt er Gilbert von Poitiers in Zusammenhang mit dem Sakrament der letzten Ölung in Buch 8. Dies ist das einzige Mal in seinem Œuvre, dass er die Position eines Zeitgenossen zu einer theologischen Lehrmeinung heranzieht und ihn namentlich dabei nennt, was dafür spricht, dass er ihm eine hohe Bedeutung beimaß und evtl. bei ihm persönlich studiert bzw. sich zumindest ausführlich mit seinen Schriften beschäftigt hat.179 Diese Hinweise haben insofern ein recht großes Gewicht, da sich Radulfus Ardens ansonsten mit persönlichen Bemerkungen, Exkursen oder Bezügen zu aktuellen Ereignissen stark zurückhält. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass er hier zwar auf Gilbert verweist, seine Position zur Bedeutung der letzten Ölung jedoch ungenau oder sogar verfälscht wiedergibt. So weist Christopher Evans darauf hin, dass Gilbert das Sakrament der letzten Ölung als unbedingt für das Heil notwendig ansieht, während Radufus Ardens es lediglich als nützlich ansieht.180 Diese Beobachtung könnte dafürsprechen, dass ihm die Positionen Gilberts evtl. tatsächlich eher indirekt (bspw. aus dem Unterricht) vertraut waren, ohne dass er seine Schriften vorliegen hatte. Ein weiteres Indiz für diese Annahme wäre, dass im Rahmen der kritischen Edition des Speculum universale nahezu keine direkten bzw. wörtlichen Zitate aus Gilberts
177 Vgl. dazu SCHNEYER, Repertorium 5 1–16 (dort ist ein Handschriftenverzeichnis der Homiliae des Radulfus Ardens zu finden) sowie LOT, Addenda 189. 178 Zu den Lastern der Bewohner von Poitiers sagt er in Homil. in epist. 2, 1 (PL 155, col. 1949D): „Si Pictauinus es, stude Pictauinis innatam ingluuiem et garrulitatem superare, et similiter de caeteris.“ Ähnlich äußert er sich in Spec. uniu. 2, 27 (CCM 241, p. 113): „Greci quoque naturaliter sunt uersuti, Parchi luxuriosi, Galli superbi, Normanni gloriosi, Angli caudati, Lemouicenses leues, Pictauini garruli et epulones.“ Zum Geschick des Sohnes des Grafen von Poitiers führt er in Spec. uniu. 4, 22 (CCM 241, p. 268) aus: „Sed et precipue cum animas e corporibus exeuntes maligni spiritus arripiant et ad tartara trahere festinent, adsunt nonnumquam angeli eas eripientes, eas, si iustum est, uel ad beatorum requiem trahentes uel ad agendum penitentiam iterum eas ad corpus reducentes, sicut legis de abbate Furteo in Vita ipsius et de Hyldeberto filio comitis Pictauiensis in Vita beati Marcialis.“ Diese Aussagen stehen in Zusammenhang mit der Frage, wie die Engel als Freunde des Menschen für uns gegen die Dämonen kämpfen. 179 Diese Vermutung äußert zumindest GRÜNDEL, Verstandestugenden 9.52 in Bezug auf Spec. uniu. 8, 92 (CCM 241A, p. 300): „Magister uero Gilebertus Pictauiensis dicebat quod non erat ad salutem necessarium, sed tamen utillimum. Dicebat quoque quod iterari poterat semel in anno, si necessitas infirmitatis exigeret.“ Zuerst wurde auf diese Bemerkung hingewiesen von GEYER, Radulfus Ardens 65 f. Auch EVANS, Introduction 18 äußert sich dazu: „This is the only magister that Radulphus mentions by name in his Speculum.“ 180 Vgl. EVANS, Introduction 18.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Werken im Text, jedoch viele Paraphrasen oder charakteristische Begrifflichkeiten gefunden wurden.181 (3) Durch sein umfangreiches Predigtwerk ist klar, dass er Priester war. Die Annahmen, dass die umfangreiche in seinen Schriften zitierte Literatur eine gut ausgestattete Bibliothek voraussetzt und dass er längere Zeit im direkten Umfeld der Kathedralschule von Poitiers gewirkt hat182, sind allerdings wiederum eher in den Bereich der Spekulation zu verweisen. So zeigt sich bspw. an der Zitationspraxis innerhalb der Bücher 7 und 8, dass auf den ersten Blick erstaunlich viele Autoren und Texte angeführt werden. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass hier in vielen Fällen ganze Passagen aus den Sentenzen des Petrus Lombardus übernommen wurden.183 So lässt die bloße Erwähnung eines Schriftstellers oder Werkes keinerlei Rückschluss darauf zu, ob Radulfus Ardens tatsächlich Zugriff auf die jeweilige Literatur hatte. Eine vollständige Untersuchung der im Speculum universale und den Homiliae herangezogenen Quellen steht bisher noch aus und dürfte durchaus weitere Erkenntnisse über die Abfassung des Werkes offenlegen. (4) In einigen Handschriften wird er als ‚magister‘ bezeichnet, was vermuten lässt, dass er eine Lehrtätigkeit im Bereich der Theologie ausgeübt hat.184 Einem Mönchsorden hat er wohl nicht angehört, da sich diesbezüglich nirgends eine Bemerkung oder Erwähnung findet; wesentlich wahrscheinlicher ist, dass er ein Stiftskanoniker war und Zugang zu wissenschaftlicher Literatur oder umfangreichen Florilegiensammlungen hatte.185 Möglicherweise war er in der Priesterausbildung tätig. Diese Überlegung scheint auch deshalb naheliegend zu sein, weil er im Speculum universale viele psychologisch-pastorale Fragen bespricht, die mit der Lebensführung als ‚religiosus‘ oder ‚prelatus‘ in Zusammenhang stehen.186 Dass der Unterricht ein Thema war, das ihn stark beschäftigte, wird neben zahlreichen kurzen Bemerkungen187 besonders
181 Vgl. dazu für den Bereich der Bücher 1–5 allgemein den Werkindex in CCM 241 (HEIMANN, Einleitung CIV–CXXIV) bzw. den Quellenapparat im Einzelnen. 182 Auch diese Vermutung wird von keiner nachvollziehbaren Quellenangabe gestützt. So findet sich auch in der Liste der Archidiakone bei HÄRING, Schulen kein Hinweis auf Radulfus Ardens. 183 Dies gilt besonders für Kapitel 1–30 von Buch 8, in denen er sich mit der Christologie beschäftigt. Bereits Johannes Gründel hat ähnliche Beobachtungen gemacht (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 43). 184 So wird er auch in einigen Handschriften bezeichnet. Vgl. P, fol. 1ra und Codex Paris BM ms. 709, fol. 1ra: „Speculum uniuersale distinctionum magistri Radulfi Ardentis de uirtutibus et uitiis oppositis.“ (wortgleich in Codex BAV Vat. lat. 1175 I, fol. 1ra). 185 Dies scheint auch deshalb wahrscheinlich, weil damals mehrere Kongregationen von Stiftskanonikern neue Schulen gründeten und einen regen Unterrichtsbetrieb entfalteten (vgl. z. B. VERGER, Schule 1584). 186 Vgl. dazu bspw. GRÜNDEL, Verstandestugenden 378. 187 So wird bspw. im 52. Kapitel von Buch 11 das Unterrichten von Ungebildeten (‚rudes erudire‘) als dritte Art des geistigen Almosens (‚elemosina spiritualis‘) recht ausführlich dargestellt.
2.2 Zur Biografie des Radulfus Ardens
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gut in Buch 9 deutlich. Dort stellt er in den Kapiteln 36–49 ausführliche Überlegungen zu den Eigenschaften an, über die ein guter Lehrer verfügen muss, und reflektiert über den guten Unterricht, sodass man diesen Passus durchaus als ‚Traktat über den guten Lehrer‘ bezeichnen könnte. Der gute Unterricht wird als dritter Gebrauch der Klugheit (‚tertius usus prudentie‘) bezeichnet und steht damit auch im Kontext dieser Tugend.188 Vor diesem Hintergrund spricht tatsächlich einiges dafür, dass er langjährige Lehrerfahrung besessen haben könnte und diese Lehrtätigkeit bspw. im Amt eines Archidiakons189 an einer Kathedralschule ausgeübt hat. Dennoch bleibt eine Restunsicherheit bestehen.190 An welchen Orten er diesen Tätigkeiten nachgegangen sein könnte, geht aus den Angaben ohnehin nicht direkt hervor und konkrete Hinweise auf eine Lehrtätigkeit in Paris finden sich ebenso wenig. Es gibt lediglich einige Anzeichen, die dafürsprechen, dass sich Radulfus Ardens zeitweise in Paris aufgehalten haben könnte, wie z. B. die Bezüge seiner Werke zu den Porretanern und zu Petrus Cantor, der längere Zeit in Paris gewirkt hat.191
2.2.3 Sein Begräbnisort und die Frage nach dem Kaplanat bei Richard Löwenherz Schließlich konnte auch sein Begräbnisort noch nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Lange Zeit nahm man an, Radulfus Ardens sei in der Kartause von Liget beerdigt worden. Marie-Thérèse d’Alverny war zu diesem Ergebnis gekommen, da ein Kommentar in der Handschrift P – die aus Liget stammt – andeutet, dass dort im späten 12. bzw. frühen 13. Jahrhundert das Andenken an den Todestag des Radulfus Ardens noch lebendig war.192 Die Tatsache, dass er in Buch 12 an einer Stelle die Frömmigkeit der Kartäuser hervorhebt und offensichtlich einige Kenntnisse über ihre Lebensweise hatte193, ließe sich zumindest als Indiz dafür interpretieren, dass
188 Vgl. dazu auch JANOTTA, Soteriologie 304–306. 189 Der Archidiakon war meist dafür zuständig, die Kleriker auf die Weihe vorzubereiten, und übernahm im 12. Jahrhundert zunehmend Leitungsfunktionen an der Kathedralschule (vgl. EHLERS, Schulen 62). 190 Vgl. HEIMANN, Einleitung XXIXf. 191 Aus diesen Gründen wurde Radulfus Ardens in die Liste der Magister in Paris aufgenommen (vgl. GLORIEUX, Répertoire 1 234). Sowohl EVANS, Introduction 2 n. 5 als auch HEIMANN, Einleitung XXX ziehen diese Angabe in Zweifel. Die Verbindung zwischen Radulfus Ardens und Petrus Cantor hat v. a. John Baldwin untersucht (vgl. z. B. BALDWIN, Masters 1 40). 192 P, fol. 1r (CCM 241, p. 3): „Pridie idus septembris magister Radulfus ⟨obiit⟩. A mundi pena septembris lux duodena illum secreuit, qui mundi gaudia spreuit“; vgl. dazu auch D’ALVERNY, L’obit. 193 Diese Stelle findet sich in Zusammenhang mit der Frage, wie oft die Eucharistie an einem Tag gefeiert werden darf. Spec. uniu. 12, 80 (P, col. 105va): „Item si sanctus ordo Carthuziensium a labe mundi per abstinentiam et macerationem purgatorum non, nisi in festis et profestis diebus spirituali officio intitulatis, audet conficere, quomodo tu peccator intrepidus, audes tam sancta irreuerenter conficere bis in die.“
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
er sich tatsächlich längere Zeit in einer Kartause aufgehalten hat und auch dort gestorben sein könnte. Jedoch findet sich in der Handschrift L, die lange als unauffindbar galt, die Bemerkung, er sei in der Abtei von Lieu-Dieu-en-Jard begraben worden.194 In Zusammenhang mit diesem Prämonstratenserkloster finden sich nun zwei urkundliche Erwähnungen, die in der Forschung zu der Überlegung angeregt haben, Radulfus Ardens sei ein Kaplan König Richards I. Löwenherz gewesen: Im Jahr 1190 stellte König Richard eine Urkunde zur Gründung des Klosters Lieu-Dieu-en-Jard aus, die auch von einem ‚magister Radulfus‘ bezeugt wurde. Eine weitere Urkunde aus der Zeit um 1197, die das Kloster zur Abtei erhob, ist ebenfalls von einem ‚magister Radulfus‘ unterschrieben, der nun zusätzlich den Titel ‚capellanus‘ trug.195 Bereits George Wolf, der das Vorwort zu den Predigten edierte, bezog diese beiden Urkunden auf Radulfus Ardens, obwohl er von der Bemerkung in der Handschrift L noch nichts wusste. Der Verfasser spricht nämlich an dieser Stelle von Verpflichtungen gegenüber einem ‚princeps‘, welche die Arbeit an seinen Werken erschwerten.196 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Befund – gerade wenn man den Kommentar aus L miteinbezieht – insgesamt den Schluss nahelegt, Radulfus Ardens sei Kaplan König Richards gewesen, habe ihn auf seinen Reisen begleitet und sei schließlich in Lieu-Dieu-en-Jard gestorben und begraben worden. Auch wenn diese Rekonstruktion einiges für sich hat, kann sie nicht mit letzter Gewissheit als bewiesen gelten: Bei dem erwähnten ‚princeps‘ muss es sich nicht um König Richard handeln – es könnte bspw. auch ein Territorialfürst gemeint sein.197 Zum anderen kann auch der in den Urkunden erwähnte ‚magister Radulfus‘ nicht ohne weiteres mit Radulfus Ardens identifiziert werden, da Radulfus in der damaligen Zeit ein weit verbreiteter Name war. Auch hier lässt sich also nichts mit abschließender Sicherheit sagen. Dieser kurze Abriss führt vor Augen, wie wenig gesicherte Informationen zum Leben des Radulfus Ardens verfügbar sind. Neuerkenntnisse lassen sich in erster Linie von der genaueren Untersuchung seiner Schriften oder durch die Entdeckung
194 GRÜNDEL, Verstandestugenden hat die Handschrift L nicht berücksichtigt; erst durch den Artikel VERNET, Raoul Ardent im Jahr 1980 wurde von ihr wieder Notiz genommen. Die genannte Bemerkung findet sich in Codex Lissabon BN Fondo Iluminado 88, fol. 187rb: „dicitur esse sepultus in Pictauia in abassia de Iars prope Telemontem cuius anima requiescat in pace“ (vgl. HEIMANN, Einleitung LVIII). 195 Die beiden Urkunden sind zu finden bei LANDON, Itinerary 32.124. 196 Vgl. WOLF, La préface 39: „Ceterum, si quis in hoc opusculo auctoritates semiplenas sub aliis vero verbis repperit, noverit hoc inde contigisse: quoniam ad curiam principis raptus, plerumque in via, plerumque inter ipsa etiam arva scriptitabam, et copiam exemplarium non habebam.“ Der Beitrag VERNET, Raoul Ardent griff direkt im Anschluss die Ergebnisse von George Wolf auf, wurde aber in der Forschung nur teilweise rezipiert. 197 Oder aber es handelt sich um König Heinrich II. (1154–1189), der in seinen Urkunden ebenfalls einen ‚magister Radulfus‘ erwähnt (vgl. dazu HEIMANN, Einleitung XXVII). Zu den vielfältigen Bedeutungen des Begriffes ‚princeps‘ vgl. NIERMEYER / BURGERS, princeps.
2.3 Das geistige Umfeld des Radulfus Ardens im Spiegel seiner Werke
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bisher unbekannter Quellen erwarten. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, in welchem Verhältnis er zu seinen Zeitgenossen stand und welche Bezüge sich zu ihren Werken feststellen lassen, wovon im Folgenden die Rede sein wird.
2.3 Das geistige Umfeld des Radulfus Ardens im Spiegel seiner Werke Nachdem nun das Werk und sein Autor vorgestellt wurden, soll nun in einem weiteren Schritt das Speculum universale genauer in die geistigen Strömungen eingeordnet werden, die das 12. Jahrhundert prägten. Im Abschnitt über die Gliederung des Werkes (Punkt 1.1.3) wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Ansatz des Radulfus Ardens unter den tugendethischen Entwürfen in der Frühscholastik eine Sonderstellung einnimmt. Um diese Aussage noch etwas zu präzisieren, wird er im Folgenden mit den Ansätzen seiner Zeitgenossen verglichen. Dass Radulfus Ardens die theologisch-ethischen Diskussionen seiner Zeit genau verfolgte und mit dem Speculum universale eine eigenständige Position bezogen hat, zeigt sich allein schon daran, dass er viele seiner Zeitgenossen (freilich ohne explizit ihre Namen zu nennen) in seinem Werk zitiert und sich kritisch mit ihren Argumenten auseinandersetzt.198 Die Dynamik dieser Diskussionen ist nur vor dem Hintergrund der geistig-kulturellen Wandlungsprozesse im 12. Jahrhundert zu verstehen. In den folgenden Unterkapiteln werden daher zwei Aspekte dieses Prozesses schlaglichtartig beleuchtet, die für die Entwicklung der theologischen Ethik besonders wichtig waren und sich auch in Aufbau und Inhalt des Speculum universale widerspiegeln: erstens die Veränderung der Bildungslandschaft, die sich v. a. an der Entstehung der Kathedralschulen bemerkbar machte und mit dem Aufkommen eines neuen Welt- und Menschenbildes einherging; zweitens die Herausbildung zweier gegensätzlicher Entwicklungslinien innerhalb der theologischen Ethik, die den Rahmen für die ethischen Diskurse in dieser Zeit absteckten.
2.3.1 Kontroverse Positionen im Umfeld der Kathedralschulen (1) Im Verlauf des 12. Jahrhunderts entwickelte sich schrittweise ein rationales Welt- und Selbstverständnis des Menschen, das auch für die Herausbildung der theologischen Ethik als eigene Disziplin eine bedeutende Rolle spielte. Während die frühmittelalterlich-heilsgeschichtliche Perspektive den Menschen als ein gefallenes und von der Gnade Gottes abhängiges Mangelwesen ansah, wurde er nun in seiner Eigenwirklichkeit in den Blick genommen. Das gleiche gilt für die Natur: Während
198 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 52.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
sie zuvor in erster Linie als Schöpfung Gottes betrachtet wurde, die dem Zugang der menschlichen Vernunft weitestgehend verborgen ist und nur qualitativ-allegorisch beschrieben werden kann, wurde sie nun in zunehmendem Maße naturwissenschaftlich-quantitativ erforscht.199 Dieser Perspektivwechsel stand in engem Zusammenhang mit dem Aufblühen der Wissenschaften und einem neuen Interesse an der griechisch-römischen Antike.200 In diesem geistigen Umfeld lässt sich auch ein Prozess der Verwissenschaftlichung der Theologie beobachten.201 Der Wandlungsprozess wird in der Forschung bekanntermaßen anhand von drei Paradigmen beschrieben: – Die Vorstellung von einer ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ geht – ganz grundsätzlich betrachtet – auf die Beobachtung zurück, dass im Zeitraum von ca. 1000– 1250 verstärkt antik-römisches Bildungsgut rezipiert wurde. Auf der Grundlage dieses Ansatzes konnte in der Forschung in vielen Bereichen die Ablösung traditionsbestimmter Denkmuster durch eine wissenschaftliche Rationalität als zentrales Merkmal dieser Epoche herausgearbeitet werden.202 – Daneben gilt die ‚Entdeckung der Natur‘ als ein bedeutsamer geistesgeschichtlicher Prozess des 12. Jahrhunderts. Besonders im Umfeld der sogenannten ‚Schule von Chartres‘ wurden der Mensch und die Natur in vorher ungekanntem Maß rational-quantitativ beschrieben. Die Gelehrten bemühten sich darum, eine ‚scientia naturalis‘ – also gewissermaßen eine naturwissenschaftliche Sichtweise auf die innerweltlichen Vorgänge – zu begründen. Zwei Hauptanliegen waren dabei die Harmonisierung der christlichen Schöpfungslehre mit den Vernunfterkenntnissen sowie ein tiefergehendes Verständnis der Glaubenswahrheiten und der Offenbarung mithilfe der Vernunft.203
199 Vgl. dazu ERNST, Ethische Vernunft 5–11. 200 Zur Wiederentdeckung der ‚septem artes liberales‘ vgl. z. B. den von Peter Weimar herausgegebenen Band über die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert und darin speziell den Beitrag KLUXEN, Wissenschaft. 201 Vgl. z. B. ERNST, Tugendsysteme 356; DREYER, Nikolaus von Amiens 1–12 sowie DIES., More mathematicorum 1–15. 202 Charles Homer Haskins hat diesen Begriff erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendet (vgl. HASKINS, Renaissance). Er wurde mehrfach problematisiert (vgl. z. B. HOLMES, Idea; LEHMANN, Vielgestalt oder LE GOFF, Renaissance). Einige Forscher sprechen aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Rationalität in vielen verschiedenen Lebensbereichen stattdessen auch von einer ‚Aufklärung im 12. Jahrhundert‘ (vgl. z. B. VON MOOS, Das 12. Jahrhundert oder FLASCH, Aufklärung 14–16). Trotz dieser Debatten hat die Rede von einer ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ durchaus ihre Berechtigung, was sich bspw. daran zeigt, dass der Begriff in der aktuellen Forschung immer noch häufig verwendet wird (vgl. z. B. SWANSON, Renaissance sowie NOVIKOFF, Renaissance; weitere aktuelle Literaturhinweise finden sich außerdem bei GIRAUD, Schools 1 n. 1). 203 Marie-Dominique Chenu wies Mitte des 20. Jahrhunderts zuerst darauf hin, dass im 12. Jahrhundert eine schrittweise ‚découverte de la nature‘ stattfand (vgl. CHENU, Découverte). Diese These griff in der deutschsprachigen Forschung etwa Andreas Speer auf und untersuchte unter dieser Per-
2.3 Das geistige Umfeld des Radulfus Ardens im Spiegel seiner Werke
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– Die neuen Methoden wurden auch metaphysisch und wissenschaftstheoretisch fundiert. Diese Beobachtung bildet sich in der Rede vom ‚Erwachen der Metaphysik‘204 oder – mit Blick auf die verstärkte Rezeption der (neu-)platonischen Philosophie – vom ‚Platonismus des 12. Jahrhunderts‘205 ab. Unter dieser Perspektive konnte gezeigt werden, dass u. a. aus den Opuscula sacra des Boethius eine metaphysisch fundierte Terminologie entnommen wurde, die die Grundlagen für die theologischen Fragestellungen der Frühscholastik lieferte.206 Diese komplexen Entwicklungen können nicht primär aus Notwendigkeiten erklärt werden, sondern es ist von einer nicht weiter erklärbaren Spontaneität auszugehen. Dabei lösten sich Neuansätze nicht von den christlichen Deutungsmustern ab, sondern sind vielmehr erst aus einer inneren Dynamik der Theologie und des Glaubens heraus verstehbar.207 Erstaunlich ist zudem, dass die meisten antiken Werke, die im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, nicht erst neu entdeckt wurden. So entstand aus Bekanntem und Unbekanntem ein neues Gewebe, das die Grundlagen für die weiteren Entwicklungen in der Hochscholastik schuf, zugleich aber in der Tradition verankert blieb.208 (2) Die Renaissance der Wissenschaften war einer der Faktoren, die in Verbindung mit der zunehmenden Urbanisierung des 12. Jahrhundert standen.209 Im Zuge dessen entwickelten sich Städte erstmals seit der Spätantike zu kulturellen und geistigen Zentren. In besonderer Weise lässt sich dies auf dem Gebiet des heutigen Frankreich
spektive mehrere Werke im Umfeld der ‚Schule von Chartres‘ (vgl. ausführlich SPEER, Die entdeckte Natur und in Zusammenfassung DERS., Entdeckung). 204 Marie-Dominique Chenu spricht diesbezüglich von einer ‚éveil métaphysique‘ (vgl. CHENU, La théologie 309–322; DERS., Découverte; SPEER, Erwachen). 205 Die Vorstellung von einem Platonismus in der ‚Schule von Chartres‘, wie sie in der älteren Forschung (vgl. z. B. BAEUMKER, Platonismus oder CHENU, Platonismen) vertreten wurde, war teilweise heftiger Kritik ausgesetzt, da die meisten von Platons Schriften im 12. Jahrhundert überhaupt nicht zugänglich waren und nur einzelne Aspekte (wie z. B. die Seelenlehre oder die Kosmologie) rezipiert wurden (vgl. dazu v. a. SOUTHERN, Humanism 61–85 sowie DERS., Platonism). Dennoch wurde die These, dass platonisches Gedankengut einen wichtigen Anteil an den geistigen Entwicklungen im 12. Jahrhundert hatte, später mit neuen Argumenten gestützt und in abgeschwächter Form weiter vertreten (vgl. dazu z. B. HÄRING, Chartres and Paris oder DRONKE, New Approaches). 206 So charakterisiert bspw. CHENU, La théologie 142–157 das 12. Jahrhundert als ‚aetas boetiana‘; ähnlich äußert sich in der neueren Forschung z. B. SPEER, Hidden Heritage. 207 Vgl. auch BOSHOF, Europa 229 f. 208 WETHERBEE, Philosophy 23 f. führt dazu aus: „There is no avoiding the fact that to a great extant the original thinkers of the early twelfth century inhabit a sort of limbo, suspended between old and new […]“ und weiter: „[…] new methods and ambitions simply coexist with traditional practice rather than transforming it.“ 209 Vgl. dazu grundlegend SOUTHERN, Geistes- und Sozialgeschichte 37–44.56–65 sowie BOSHOF, Europa 127–139.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
am Beispiel von Chartres und Paris beobachten.210 Dadurch verloren die Klöster ihre Bedeutung als Bildungszentren und in den größeren Städten entstanden – meist im Umfeld einer Kathedrale – Schulen, in denen neben dem Studium der ‚sacra pagina‘ die ‚septem artes liberales‘ eine zentrale Rolle spielten. Während Bildung bisher v. a. in klösterlicher Abgeschiedenheit stattgefunden hatte, wechselten die Gelehrten nun häufig den Studienort, um Eindrücke möglichst vieler verschiedener Denkansätze zu erhalten.211 Diese ‚Kathedralschulen‘212 bildeten die Plattform für kontroverse und zugleich fruchtbare geistige Auseinandersetzungen. Dabei lassen sich in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Wesentlichen zwei Grundansätze erkennen, in denen sich das unterschiedliche Verständnis von Welt und Mensch widerspiegelt.213 – Die eine Richtung sah in der biblisch-heilsgeschichtlichen Perspektive das Heilshandeln Gottes, das durch die Offenbarung mitgeteilt wurde, als Ausgangspunkt jeglichen Nachdenkens über den Menschen und seine Umwelt an. Sie war im weiteren Umfeld der von Anselm von Laon (†1117) gegründeten ‚Schule von Laon‘ angesiedelt und richtete sich v. a. an der Tradition der patristisch-augustinischen Theologie aus. Die neuen Methoden der Dialektik und der Logik wurden dort nur angewandt, um Widersprüche zwischen der Heiligen Schrift und den Vätern auszuräumen.214 – Die andere Richtung sah eine wissenschaftlich-rationale Weltsicht als eigenständige Größe an und war bestrebt, die Glaubenswahrheiten mithilfe von Vernunftgründen tiefergehend zu durchdringen und die Offenbarung so auszulegen, dass
210 Zur zunehmenden Bedeutung der Kathedralschulen in Paris vgl. z. B. BALDWIN, Masters at Paris 138; SOUTHERN, Schools 119–127; EHLERS, Schulen. Ein griffiger und aktueller Überblick zu den Schulen in Frankreich findet sich bei MEWS, Schools 10–16. 211 Zum Aufblühen der ‚artes‘ vgl. BOSHOF, Europa 229–254 oder SOUTHERN, Schools. Zu den Veränderungen im Lehrbetrieb und der neuen Lebensweise der Intellektuellen allgemein vgl. LE GOFF, Die Intellektuellen. 212 Der Begriff ‚Schule‘ wird im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt, da er nicht Schulen im heutigen Sinn meint, sondern eher eine geistige Strömung, die von einem bestimmten ‚Lehrer‘ und / oder einem bestimmten Ort ausgeht und bei mehreren ‚Schülern‘ nachzuweisen ist. Zur Forschungsdiskussion vgl. grundlegend HÄRING, Schulen 23 und SOUTHERN, Schools 114 f. Auch in neueren Beiträgen wird der Schulbegriff weiter problematisiert und präzisiert (vgl. z. B. COURTENAY, Schools 44 f. oder GIRAUD, Companion). So resümiert etwa HALL, School Allegiance 57: „Instead of expressing the influence of schools in terms of adherence, affiliation, and belonging, less exclusive conceptions would be more appropriate“). 213 Vgl. zum Folgenden ERNST, Ethische Vernunft 68–101. 214 Die ‚Schule von Laon‘ war trotz ihrer traditionsbezogenen Ausrichtung ein geistiges Zentrum, von dem viele bedeutende Impulse für die Theologie ausgingen (vgl. KOBUSCH, Philosophie 24). In den dort entstehenden Sentenzensummen und -glossen fand auf der Grundlage der Bibel und der patristischen Literatur erstmals eine Systematisierung theologischen Wissens statt (vgl. REINHARDT, Laon). Die neuere Forschung hat den Beitrag der ‚Schule von Laon‘ zur Weiterentwicklung der Theologie im 12. Jahrhundert herausgearbeitet (vgl. COLISH, Another Look; GIRAUD, Per verba magistri 339–492).
2.3 Das geistige Umfeld des Radulfus Ardens im Spiegel seiner Werke
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sie den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht widerspricht. Sie war im weiteren Umfeld der von Bernhard von Chartres (†1124) gegründeten ‚Schule von Chartres‘ angesiedelt und griff neben Ansätzen aus der antiken und arabischen Philosophie auch Erkenntnisse der zeitgenössischen ‚scientia naturalis‘ auf. Die Gelehrten von Chartres entwickelten dabei Ansätze einer theologischen Terminologie und Hermeneutik, die den neuen wissenschaftlichen Methoden entsprach.215
2.3.2 Zwei Entwicklungslinien in der Tugendlehre Ausgehend von diesen beiden gegensätzlichen Strömungen in der Theologie lassen sich auch im Bereich der Ethik zwei Entwicklungslinien ausmachen, die den Rahmen für die weitere ethische Reflexion absteckten. Stark vereinfacht kann die Dynamik der Diskussionen in drei Phasen beschrieben werden: In einer ersten Phase prägten sich auf der Grundlage der beiden unterschiedlichen theologischen Perspektiven gegensätzliche Positionen zu ethischen Fragen aus. In einer zweiten Phase wurden diese Ansätze durch eine neue Generation von Gelehrten ausdifferenziert und weiter voneinander abgegrenzt. In der dritten und letzten Phase wurde schließlich der Versuch unternommen, die Gegensätze wieder miteinander zu verbinden, wobei das Speculum universale als Höhepunkt dieses Annäherungsprozesses angesehen werden kann.216 (1) In der ersten Phase lässt sich beobachten, dass ethische Themenbereiche im Umfeld der ‚Schulen‘ von Laon und Chartres auf völlig verschiedene Weise und auch auf sehr unterschiedlichen Niveaus behandelt wurden: – Besonders auffällig ist dabei, dass in der ‚Schule von Laon‘ der Begriff der Tugend überhaupt keine Rolle spielte. Da die Gotteslehre ganz im Zentrum des Interesses stand, finden sich unter ihren Vertretern kaum kohärente moraltheologische Gedankengänge; dennoch wurden Diskussionen zu mehreren Begriffen angestoßen, die für die weitere Entwicklung der Ethik bedeutsam waren: So führte Anselm von Laon den Begriff der ‚intentio‘ ein. Er kam zu dem Schluss, dass die ethische Bewertung einer Handlung nicht nur aufgrund des äußeren Ausgangs der Handlung vorgenommen werden könne, sondern dafür eine Analyse der inneren
215 HALFEN, Chartres 11–13 verweist darauf, dass die Vertreter der ‚Schule von Chartres‘ trotz aller Unterschiede durch ähnliche Methoden und Leitbilder verbunden waren, wie z. B. Orientierung an der Vernunft, Interesse an der Eigenwirklichkeit der Natur, gedankliche Experimentierfreudigkeit, Studium der ‚artes‘ und der antiken Literatur sowie Harmonisierung von Philosophie und Theologie. Ähnlich äußert sich auch KOBUSCH, Philosophie 98 f. 216 Dieser Entwicklungsgang der ethischen Reflexion wurde ausführlich bei ERNST, Ethische Vernunft sowie DERS., Tugendsysteme aufgezeigt, indem zahlreiche ethische Ansätze des 12. und frühen 13. Jahrhunderts systematisch miteinander verglichen wurden. Diese beiden Untersuchungen bilden die Grundlage der hier dargebotenen Skizze.
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2 Grundinformationen zu Radulfus Ardens und seinem Werk
Beweggründe des Menschen erforderlich sei. Weiter führt er aus, dass das oberste Ziel des Menschen darin bestehe, nach dem Willen Gottes zu leben, der wiederum über die der Schöpfung zugrundeliegende ‚lex naturalis‘ der ‚ratio‘ zugänglich sei. Da diese Grundausrichtung des Menschen trotz schlechter Intention bestehen bleibt, wurde hier unter dem Terminus ‚imaginis dei scintillula‘ zudem erstmals das Urgewissen (‚synderesis‘) in den Blick genommen. In einer anonymen Sentenzensumme aus dem unmittelbaren Umfeld der ‚Schule von Laon‘ klingt außerdem die Überlegung an, dass durch den Willen zwar eine Sache böse gemacht, aber nicht böse sein könne – eine Unterscheidung, die später Gilbert von Poitiers weiter ausdifferenzierte. Freilich handelt es sich hierbei nur um einzelne Elemente einer Ethikkonzeption und die Überlegungen Anselms lassen weiterführende Kriterien oder konkrete systematische Klärungen zur ethischen Bewertung einer Handlung vermissen.217 – In der ‚Schule von Chartres‘ hingegen löste das gesteigerte Interesse an der Eigenwirklichkeit des Menschen im Bereich der Ethik unmittelbar eine verstärkte Beschäftigung mit der philosophischen Tugendlehre aus: Im Zuge dessen wurde das sittliche Handeln mithilfe der Vernunft und in Beziehung zur Natur in seiner Eigengesetzlichkeit untersucht. Erste ausführliche Beschäftigungen mit der Lehre von den Kardinaltugenden finden sich in mehreren Florilegiensammlungen aus dem weiteren Einflussbereich der ‚Schule von Chartres‘. Zu nennen sind dabei v. a. das Wilhelm von Conches († nach 1154) zugeschriebene Moralium dogma philosophorum218, die vermutlich von Wilhelm von Doncaster († ca. 1110) verfasste Explicatio aphorismatum philosophicorum sowie das anonyme Florilegium morale oxoniense. Dort wurden zu den vier Kardinaltugenden Zitate antiker Philosophen zusammengestellt. Dementsprechend wurde die Tugend mit Cicero als „habitus animi in modum nature rationi consentaneus“219 und mit Boethius als „bene constitute mentis habitus“ bzw. als „affectio animi in bonam partem difficile mobilis“220 ausschließlich philosophisch bestimmt und als vom Menschen selbst erworbene feste Grundhaltung (‚habitus‘) verstanden. Während die Ethik des Aristoteles noch gänzlich unbekannt war, findet sich gelegentlich die Bestimmung der ‚uirtus‘ als ‚medium uitiorum utrimque reductum‘221 aus den Epistulae des Horaz. Obgleich diese Sammlungen die Ethik nur auf einer theoretischen Ebene reflektierten und keinerlei moralische Einzelfragen behandelten, stießen
217 Vgl. zur ethischen Reflexion im Umfeld der ‚Schule von Laon‘ im Detail ERNST, Ethische Vernunft 102–121. 218 Das Werk wird gelegentlich auch als De honesto et utili bezeichnet und auch so abgekürzt (Hon. et util.); vgl. dazu auch die Angaben im Literaturverzeichnis. Die Identität des Autors ist dabei nicht endgültig geklärt (vgl. WILLIAMS, Authorship). 219 GUILL. CONCH., Hon. et util. 1 (AVEU 37, p. 7). 220 Flor. mor. ox. (AMNam 5, p. 77). 221 Flor. mor. ox. (AMNam 5, p. 91). Die zitierte Stelle stammt aus HOR., Epist. 1, 18, 9 (p. 284).
2.3 Das geistige Umfeld des Radulfus Ardens im Spiegel seiner Werke
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sie eine weitere systematische Klärung des Verhältnisses zwischen Tugenden und Lastern an.222 Die Entfaltung der Tugendlehre stieß in diesem Rahmen aus zwei Gründen vorerst an ihre Grenzen: Zum einen wurde die Beschäftigung mit der philosophischen Tugendethik als Infragestellung der tradierten christlichen Ethik angesehen, sodass die entsprechenden Texte nur im Rahmen des Triviums unter dem Anschein, Übungstexte für den Grammatikunterricht zu sein, gelesen werden konnten.223 Zum anderen gelang es noch nicht, die philosophischen Ansätze systematisch in die christliche Glaubenslehre zu integrieren – vielmehr stehen sie unverbunden neben der christlichen Offenbarung.224 Den dazu notwenigen Reflexionsprozess setzte erst die nächste Generation von Gelehrten in Gang. (2) In der Folgezeit wurden die konträren Ansätze ausdifferenziert und weitergedacht.225 Dabei ist zu beobachten, dass die ethische Reflexion in dieser Phase durch die Rezeption der pagan-antiken Lehre von den Kardinaltugenden selbst die Gestalt einer Tugendlehre annimmt. Im Zuge dessen versuchten die Theologen, ihre Ansätze unter dem Paradigma der Tugendethik zu formulieren und dabei jeweils eigene Schwerpunkte zu setzen.226 Der Prozess der Auseinandersetzung und Integration fand in erster Linie im Rahmen der ‚Schulen‘ des Petrus Lombardus und des Gilbert von Poitiers statt. Innerhalb dieser Diskussionen traten die beiden gegensätzlichen Entwicklungslinien noch schärfer hervor.227 – Auf der einen Seite grenzte sich Petrus Lombardus, der sich zu Beginn seines akademischen Wirkens eingehend mit den Glossen Anselms von Laon beschäftigt und selbst ein solches Werk verfasst hatte228, in seinen Sententiae klar von den eben erwähnten Florilegiensammlungen aus dem Umfeld der ‚Schule von Chartres‘ ab. Er wies jede philosophisch-naturwissenschaftliche Argumentation im Bereich der Theologie zurück und gliederte sein Werk streng nach dogmatischen Themen.229 In Weiterführung der heilsgeschichtlichen Perspektive betonte er die Abhängigkeit des Menschen von der göttlichen Gnade und behandelte die Tugendlehre ausschlich im Rahmen der Christologie, wobei er v. a. Überlegungen
222 Vgl. ERNST, Tugendsysteme 361. Zum gesamten Abschnitt vgl. ERNST, Ethische Vernunft 148–152. 223 Vgl. dazu DELHAYE, Grammatica sowie ZIMMERMANN, Theologie 87–95. 224 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 255–261. 225 Vgl. dazu auch WIELAND, Ethica 8–33. 226 Vgl. dazu BEJCZY, Introduction 1 sowie ERNST, Tugendsysteme 356. 227 Vgl. zu den folgenden Abschnitten ausführlich ERNST, Ethische Vernunft 232–362 sowie in Zusammenfassung DERS., Estote prudentes 552–556, DERS., Klug wie die Schlangen 43–46, DERS., Passiones animae 136–143, DERS., Tugendethik 50–55, DERS., Sittlichkeit 268–273, DERS., Tugendsysteme 356–372. 228 Vgl. BROWN, Petrus Lombardus. 229 Vgl. ERNST, Ethische Vernunft 201 f.
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dazu anstellte, ob die Tugenden in Christus in vollendeter Form verwirklicht waren. Hier stehen die Haltungen der Demut (‚humilitas‘) und der Gottesfurcht (‚timor filialis‘) sowie die Tugend der Liebe (‚caritas‘) im Mittelpunkt. Dabei wies Petrus Lombardus der ‚caritas‘ in Anlehnung an Augustinus nicht nur zentrale Bedeutung zu, sondern identifizierte sie darüber hinaus mit dem Heiligen Geist selbst.230 Die einzelnen Tugenden werden damit als Heilmittel gegen die ursprüngliche Sünde des Hochmuts (‚superbia‘) angesehen. Zum anderen ist in der Lehre von den ‚per se‘ schlechten Handlungen der äußere Ausgang der Handlung das entscheidende Kriterium zur sittlichen Bewertung. Dabei ist eine differenzierte Handlungsanalyse ebenso überflüssig wie ein an der menschlichen Natur ausgerichteter Tugendbegriff.231 Die theozentrisch-gnadentheologisch geprägte Perspektive auf den Menschen und sein sittliches Handeln spiegelt sich in seiner vielrezipierten Tugenddefinition wider: „Virtus est bona qualitas mentis, qua recte uiuitur et qua nullus male utitur, quam Deus solus in homine operatur“232. Die hier skizzierten ethischen Grundpositionen zeigen deutlich das Bemühen, objektive Kriterien zur ethischen Bewertung einer Handlung zu benennen, um einem ethischen Relativismus vorzubeugen. – Auf der anderen Seite wurden die rein philosophischen Bestimmungen aus den Florilegiensammlungen von den Schülern des Gilbert von Poitiers, der dem weiteren Umfeld der Schule von Chartres zugeordnet wird233, schrittweise in die tradierte christliche Ethik integriert und theologisch reflektiert. Gilbert selbst hatte zwar noch keine kohärente Ethikkonzeption entwickelt, schuf aber in seinen beiden Kommentaren zu De trinitate und De hebdomadibus von Boethius im Zuge umfangreicher Spekulationen über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen zur Beschäftigung mit der Trinität eine grundlegende Terminologie zur Begründung der sittlichen Qualität von Handlungen. Dabei waren v. a. zwei Grundgedanken für die weitere Reflexion von zentraler Bedeutung: Erstens unterschied er grundsätzlich zwischen der ontologischen Wirklichkeit der schlechten Handlung (‚res mala‘) und ihrer sittlichen Qualität (‚malitia‘). Dabei stammt die ‚mala res‘ von Gott und ist ein Gut (‚bonum‘), insofern sie existiert. Die ‚malitia‘ hingegen bezeichnet das (ergebnislose) Ansinnen des Menschen, die unumgänglich-natürliche Ausrichtung alles Seienden auf Gott hin umzulenken und ist daher ontologisch Nichts (‚nihil‘). Daraus folgt zweitens, dass die ‚malitia‘ eng mit der ‚intentio‘ verknüpft ist und einen stark subjektiven Charakter aufweist.
230 Vgl. dazu ERNST, Ethische Vernunft 201–226 und DERS., Tugendsysteme 358. 231 Zur theozentrischen Tugendkonzeption des Petrus Lombardus und den in sich schlechten Handlungen vgl. ERNST, Ethische Vernunft 201–221 sowie DERS., Petrus Lombardus 202–208. 232 PETR. LOMB., Sent. 2, 27, 1, 1 (SpicBon 4, p. 480). Es handelt sich dabei um eine Zusammensetzung von zwei Augustinuszitaten, nämlich Lib. arb. 2, 50 (CSEL 74, p. 85) und Retract. 1, 9, 4.6 (CCL 57, p. 26–28). 233 Vgl. z. B. HÄRING, Gilbert Porreta.
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In dieser grundlegenden Unterscheidung zeichnet sich das Anliegen Gilberts ab, die metaphysisch-ontologische und die ethische Ebene begrifflich klar voneinander abzugrenzen.234 Seine Schüler – die gewöhnlich als ‚Porretaner‘ bezeichnet werden235 – entwickelten aus diesen Grundgedanken vollständige theologisch-ethische Entwürfe. Hier ist zunächst der um 1160 entstandene Traktat De virtutibus et de vitiis et de donis spiritus sancti des Alanus von Lille zu nennen. Hier wurden Glaubenslehre und Ethik streng voneinander geschieden und einzeln behandelt. Die Schrift ist nach dem Schema der vier Kardinaltugenden gegliedert und nimmt die natürlichen Fähigkeiten des Menschen in den Blick, die es ihm überhaupt erst ermöglichen, sittlich zu handeln. Darauf aufbauend versucht sie zu klären, in welchem Verhältnis diese Anlagen mit der göttlichen Gnade stehen. Auf der einen Seite war diese ‚Tugendlehre von unten‘ ein klarer Gegenentwurf zur theozentrischen Tugendlehre des Petrus Lombardus, auf der anderen Seite bemühte sich Alanus aber ausgehend von Gilberts Unterscheidung zwischen der Handlung als solcher und ihrer sittlichen Qualität den Begriff der Intention systematisch so zu bestimmen, dass die Klassifizierung von in sich schlechten Handlungen möglich wird.236 Einen weiteren wichtigen Beitrag leistete Simon von Tournai237 in seiner zwischen 1160 und 1165 entstandenen Summe Institutiones in sacram paginam. Auch er griff die Tugenddefinition des Boethius auf, führte dann aber weiter aus, dass es 234 Bei diesen Überlegungen greift er einen Gedanken auf, den bereits Boethius in seinem Werk De hebdomadibus formuliert hat (vgl. dazu ERNST, Ehtische Vernunft 234–240). 235 Zum Porretanerkreis werden ganz allgemein all diejenigen Gelehrten gezählt, die in ihren Werken grundlegende Gedankengänge Gilberts aufgreifen und gegen Kritiker verteidigen oder sie weiterentwickeln. Eine frühere Generation von Schülern beschäftigte sich dabei (wie Gilbert selbst) hauptsächlich mit sprachphilosophischen und dogmatischen Fragestellungen. Eine spätere Schülergeneration – hierzu gehören u. a. Alanus von Lille, Simon von Tournai und Radulfus Ardens – macht diese Gedankengänge u. a. im Bereich der Ethik fruchtbar (vgl. dazu grundlegend COURTH, Porretaner; DREYER, Porretaner; CATALANI, I Porretani 153–156 und HALFEN, Chartres 252 f.). Durch die bisherige Forschung wurde deutlich, dass die Lehren Gilberts nachhaltigen Einfluss auf die Gedankenwelt der Frühscholastik ausgeübt haben und in vielen Bereichen die Grundlage für Neuansätze bildeten, die bis in die Hochscholastik weiter entfaltet wurden (vgl. z. B. COLISH, Early Porretan Theology 58; HÄRING, Chartres and Paris 269. Bei COURTENAY, Schools 29 heißt es dazu: „The Porretani pose something of a special problem, since the succession of disciples of Gilbert of Poitiers is thought to last into the opening decades of the thirteenth century.“). Da immer wieder neue (z. T. auch anonyme) Schriften auftauchen und ältere Zuweisungen zum Porretanerkreis in der neueren Forschung kritisch geprüft bzw. revidiert werden, sind hier noch viele Fragen ungeklärt. Eine neuere Darstellung zum Porretanerkreis samt umfangreichem Literaturverzeichnis stellt CATALANI, I Porretani dar. 236 Vgl. ERNST, Ethische Vernunft 240–273. 237 Während Alanus von Lille eindeutig dem geistigen Umfeld der ‚Schule von Chartres‘ zugeordnet werden kann und sich v. a. auf Gilbert bezieht (vgl. SILAGI, Alanus), ist das Bild bei Simon bereits wesentlich unklarer. Er wird zwar in der Forschungsliteratur stets unter die Porretaner gerechnet, allerdings haben neuere Untersuchungen gezeigt, dass seine Institutiones in sacram pa-
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Aufgabe der Tugend sei, den Menschen zum Tun des Notwendigen (‚necessarium‘) hinzuordnen und vom Tun des Gegenteiligen (‚contrarium‘) abzuhalten. Der untere Teil der Vernunft bezieht sich dabei auf die Sphäre des Innerweltlichen (‚temporalia‘), der obere auf die Sphäre des ewigen Lebens (‚eterna‘); dadurch war eine klare Unterscheidung zwischen den ‚officia‘ der natürlichen und jenen der gnadenhaft geschenkten Tugenden geschaffen. Hier trat das Interesse an einer eigenständigen immanenten Tugendethik klar zu Tage, das auch daran ersichtlich ist, dass die Tugendethik im Rahmen der Anthropologie behandelt wird.238 Diese Neubestimmungen wurden in der Folgezeit einerseits nur wenig rezipiert, weisen aber in gewisser Weise schon auf den Ansatz im Speculum universale voraus, in dem der Anthropologie eine entscheidende systematische Bedeutung zukommt. – Die erste Reaktion auf die Ansätze der frühen Porretaner stellten die um 1170 entstandenen Sententiae des Petrus von Poitiers († um 1205) dar. Während er im Bereich der sittlichen Begründung der Handlung zwar durchaus Gedanken des Alanus aufgriff, steht seine Tugendethik ganz auf der Linie des Petrus Lombardus.239 Worauf dabei der Akzent lag, wird dadurch deutlich, dass er die eben genannte Tugenddefinition des Petrus Lombardus noch durch die Beifügung „[…] quam Deus in homine sine homine operatur“240 ergänzte. Wahrhaft gutes und tugendhaftes Handeln ist allein Resultat des Wirkens Gottes und ausschließlich auf der Grundlage seiner Gnade möglich. Diese Perspektive ist auch am Aufbau seines Werkes ersichtlich, der sich an der Gliederung der Sententiae des Petrus Lombardus orientiert.241 Man kann vor diesem Hintergrund mit Recht davon sprechen, dass Petrus von Poitiers die tugendethischen Positionen des Petrus Lombardus zugespitzt hat.242 Diese systematischen Bemühungen spiegeln das Grundanliegen wider, die Unabhängigkeit der theologischen Tugenden von den natürlichen Vermögen und den politischen Tugenden zu wahren – dies gelang freilich nur um den Preis der völligen Abkopplung der Tugendgenese von den anthropologischen Grundlagen.
ginam sowohl von ihrem Aufbau her als auch inhaltlich stark von den Sententiae des Petrus Lombardus beeinflusst sind (vgl. dazu z. B. COLISH, Scholastic Theology 32 oder HALL, School Allegiance 52–63). 238 Vgl. SIRI, Faith 196. 239 Obwohl er traditionell als „des Lombarden treuester Schüler“ (GRABMANN, Geschichte 2 501) gilt, wurde durch neuere Untersuchungen deutlich, dass diese Charakterisierung nur bedingt zutrifft. So konnte gezeigt werden, dass er bei der Konzeption seiner Sententiae durchaus eigene Schwerpunkte setzt und sein Werk vielfältige Einflüsse aufweist (vgl. z. B. HALL, School Allegiance 43–52). 240 PETR. PICTAV., Sent. 3, 1 (PL 211, col. 1041A). 241 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Gliederungen der beiden Sentenzenwerke im Detail vgl. COLISH, Development 209 f. 242 Vgl. ERNST, Ethische Vernunft 298.
2.3 Das geistige Umfeld des Radulfus Ardens im Spiegel seiner Werke
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(3) An der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert entstanden noch eine ganze Reihe weiterer Ansätze der theologischen Ethik. Hier lassen sich die einzelnen Vertreter wie Magister Martinus, Stephan Langton oder Gaufried von Poitiers243, nicht mehr nur dem Porretanerkreis oder nur der Schülerschaft des Petrus Lombardus zuweisen – eine Tendenz, die sich schon bei Simon von Tournai abgezeichnet hat.244 Vielmehr ist zu beobachten, dass einerseits porretanische Lehren den Ausgangspunkt für moraltheologische Reflexionen bilden, andererseits aber auch deutliche Bezüge zu Petrus Lombardus und seinen Schülern festzustellen sind. Auf dieser Linie steht schließlich auch Radulfus Ardens. Denn im Speculum universale griff er die vorhergehenden Ansätze auf und baute diese Grundlage zur umfangreichsten und bedeutendsten Summe der Ethik im 12. Jahrhundert aus. So lässt seine Ethikkonzeption auf der einen Seite eindeutig eine porretanische Prägung erkennen: Erstens ordnete er sein Werk gleich zu Beginn dem axiomatisch-deduktiven Wissenschaftsverständnis zu, das für die Schule der Porretaner typisch ist, indem er die Wissenschaft (‚scientia‘) als wahre Erkenntnis des Geistes bestimmt, die die unbegrenzte Fülle der Wirklichkeit auf begrenzte Weise erfasst.245 Zweitens verwendete er immer wieder Substantive mit der Endung ‚-tas‘ und zwar selbst dann, wenn das entsprechende Wort mit der Endung ‚-le‘ gebräuchlicher wäre; diese Eigenheit geht auf die porretanische Sprachphilosophie zurück, die strikt zwischen der Sache selbst und den sie bedingenden Subsistenzen trennt.246 Drittens bilden auch die oben genannten Grundgedanken des Gilbert von Poitiers die Basis für seine Definition der Begriffe Gut und Böse bzw. Tugend und Laster in den Kapiteln 12–35 von Buch 1: Ebenso wie Gilbert ging er davon aus, dass jedes geschaffene Ding aufgrund seiner göttlichen Urheberschaft ontologisch gut ist.247 Der Mensch
243 Vgl. ERNST, Ethische Vernunft 317–359. 244 Vgl. dazu ERNST, Ethische Vernunft 317 sowie HALL, School Allegiance 55–58. 245 RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 1 (CCM 241, p. 6): „Scientia est uera perceptio mentis infinita finite comprehendens.“ Ein ähnliches Wissenschaftsverständnis findet sich bspw. in der Ars fidei catholicae des Nikolauis von Amiens oder in den Regulae caelestis iuris des Alanus von Lille (vgl. dazu HEIMANN, Einleitung XII–XIV; DREYER, More Mathematicorum, 142–170; DIES., Nikolaus von Amiens). 246 Diese Methode wird grundlegend bei HÄRING, Natur erklärt. Radulfus verwendet sie in besonders auffälliger Weise im Bereich der Seelenlehre: Dort spricht er z. B. hinsichtlich des begehrenden und zornmütigen Vermögens von ‚concupiscibilitas‘ und ‚irascibilitas‘ statt von ‚concupiscibile‘ und ‚irascibile‘ (vgl. dazu auch MICHAUD-QUANTIN, Psychologie 83). Ähnlich verfährt er aber auch bei vielen Tugend- und Lasterbegriffen (zum Beispiel ‚irositas‘ vgl. Punkt 1.2.3 im zweiten Hauptteil der Arbeit). 247 So unterscheidet er drei Verwendungsweisen des Adjektivs ‚bonum‘: Nur Gott ist von seinem Wesen her gut (‚bonum essentia‘), während alles Geschaffene der abgeleiteten Benennung nach (‚bonum denominatione‘) gut ist. Schließlich gibt es noch eine Gutheit des praktischen Nutzens (‚bonum usu‘), der ebenfalls auf Gott zurückzuführen ist (RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 12 (CCM 241, p. 17 f.): „Bonum igitur trifarie dicitur: essentia, denominatione, usu. Essentia dicitur bonus solus Deus […]. Denominatione uero dicitur bona quelibet creatura. Quemadmodum enim opus hominis
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als vernunftbegabtes Geschöpf kann nur unter Berücksichtigung seiner Absicht (‚intentione‘) als gut bzw. gerecht angesehen werden.248 Dadurch ergibt sich, dass das ‚malum‘ ontologisch betrachtet nichts (‚nihil‘) ist und im ethischen Bereich die vom Menschen ausgehende Verkehrung des Ziels (‚peruersio finis‘) meint. Die schlechte Intention kann dabei aber nur das Ziel des Handelnden (‚finis agentis‘), niemals aber das von Gott bestimmte und dadurch gute Ziel der Handlung (‚finis actionis‘) verkehren.249 Die Tugenddefinition nach Boethius entnahm er schließlich sogar wörtlich aus Gilberts Kommentar zu De hebdomadibus.250 Gerade an der Definition des Tugendbegriffs zeigt sich auf der anderen Seite aber auch, dass er nicht nur porretanische Positionen verarbeitete. So führt er nämlich neben einer Bestimmung Ciceros251 auch die Tugenddefinition des Petrus Lombardus252 an. Zudem zitiert er auch Bernhard von Clairvaux mehrfach, der bekanntermaßen ein erklärter Gegner Gilberts war und betrachtet ihn als Autorität.253 Sogar Petrus von Poitiers, der, wie oben erwähnt, die Tugend gänzlich aus heilsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, scheint Radulfus Ardens so hoch geschätzt zu haben, dass er ihn gelegentlich wörtlich zitiert und an einer Stelle sogar fast ein ganzes Kapitel von ihm übernommen hat.254 Zentrale Bedeutung für die weitere Entfaltung der Tugendlehre im Speculum universale haben allerdings nicht diese theologischen
dicitur ab homine humanum, ita dicitur opus Dei a Deo diuinum, a creatore creatura, a bono bona. Vsu uero dicitur bona quelibet res siue creator seu creatura que aliquam confert utilitatem, ut panis, uestis, bos, ouis, homo et similia. […] Vniuersa nimirum que a bono creatore creata sunt bona, quantum ad creationem equaliter sunt bona.“ 248 Die ‚bonitas intentionis‘ entspricht systematisch betrachtet der ‚iustitia‘. Vgl. dazu RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 13 (CCM 241, p. 18 f.): „Item bonitas, usus siue utilitatis alia est rei insensibilis, alia est rei irrationalis, alia rei rationalis. […] Sola igitur rationalis creature bonitas que bene facit cum bona intentione, potest dici iustitia.“ 249 Vgl. dazu RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 24 (CCM 241, p. 33): „Sola uero peruersio finis a Deo non est, quoniam nichil est.“ sowie ebd. 1, 25 (CCM 241, p. 33 f.): „Cum igitur directio intentionis ad debitum finem causa sit, quare rationalis creatura et actio eius bona et iusta dicatur, ita econtra et peruersio finis causa est, quare eadem creatura et actio eius et mala et iniusta dicatur. Verum alius est finis actionis, alius est finis agentis: finis uero actionis est id propter quod a Deo auctore fit, ut scilicet sit complexio diuine uoluntatis et materia diuine laudis; finis uero agentis est is quem agens in sua actione constituit. Et finis quidem actionis numquam peruerti potest, quoniam omnis actio immo omnis creatura sicut a Deo principium cepit, sic ad Deum finem tendit.“ 250 Vgl. RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28): „[…] habitus mentis bene constitute.“ mit GILB. PORR., Boet. hebd. 2, 182 (STPIMS 13, p. 227). 251 RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 20 (CCM 241, p. 30): „Officium est usus uirtutis etiam scientiae succum trahens a radice fine reciprocus.“ 252 RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 22 (CCM 241, p. 31): „Virtus est qualitas mentis qua recte uiuitur et qua nullus abutitur, quam Deus solus in nobis operatur.“ 253 Dies zeigt sich z. B. am bereits erwähnten 72. Kapitel von Buch 10, in dem er auf den heiligen Bernhard verweist. 254 Ein gutes Beispiel ist hier das 37. Kapitel von Buch 8 über die Sakramente des Neuen Testaments, das stark an PETR. PICT., Sent. 5, 3 (PL 211, col. 229C–D) orientiert ist.
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Schriftsteller, sondern die auf Horaz zurückgehende Definition der Tugend als Mitte zwischen zwei Lastern255, die zwar bereits im Florilegium morale oxoniense genannt wird, ansonsten aber wenig Beachtung gefunden hat. Sie bildete den eigentlichen Ausgangspunkt für seine Lehre von den Komplementärtugenden, die allem Anschein nach als ein völlig neues und bis dahin unbekanntes Konzept gelten kann.256 Offensichtlich hat Radulfus Ardens also nicht nur eine Zusammenführung der beiden Entwicklungslinien im Blick, sondern geht auch noch einen Schritt weiter und beschreitet mit seiner komplementären Tugendkonzeption gänzlich neue Wege. Das Speculum universale kann damit als Syntheseversuch und vorläufiger Höhepunkt der bis hierher skizzierten Entwicklung angesehen werden.257
255 R ADULF . A RD ., Spec. uniu. 1, 21 (CCM 241, p. 31): „Virtus est medium uitiorum utrimque redactum.“ 256 ERNST, Klug wie die Schlangen 45 f.56 f. macht lediglich zwei mögliche Parallelstellen aus, von denen eine aus Institutiones in sacram paginam und die andere aus den Predigten des Bernhard von Clairvaux stammt. Er kommt daher zu dem Schluss: „In keiner Weise findet sich jedoch das Prinzip der Komplementärtugenden so reflektiert und systematisch angewendet wie bei Radulfus. Diese Methode stellt also offenbar eine völlig eigenständige und originäre Leistung dar.“ 257 Vgl. ERNST, Tugendsysteme 366.
3 Präzisierung des Ziels der Untersuchung in Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur In den vorhergehenden Kapiteln wurde deutlich, dass in der Forschung noch immer zahlreiche Fragen zu Radulfus Ardens und seinem Werk offengeblieben sind. Daher stellt sich nun am Ende der Einleitung die Aufgabe, die Ziele der vorliegenden Arbeit in Erinnerung zu rufen und durch einen kurzen Blick auf die bisherige Forschungsgeschichte zu präzisieren. Auf die besondere Bedeutung des Speculum universale für die Herausbildung der theologischen Ethik als eigenständige Disziplin hatte Bernhard Geyer schon im Jahr 1911 hingewiesen. Doch erst Johannes Gründel befasste sich in den 70er-Jahren eingehender damit und nahm in seiner Monografie über die Verstandestugenden den tugendethischen Ansatz des Radulfus Ardens als Ganzes in den Blick. Warum – so ließe sich fragen – vergingen fast 70 Jahre, bis über die umfangreichste und beste Darstellung der Ethik im 12. Jahrhundert258 eine detaillierte Untersuchung erschien? Der Grund dafür ist, dass das Speculum universale zunächst fast nur aus der Perspektive der Dogmengeschichte betrachtet wurde. In dieser Phase wurden nur einzelne Textabschnitte aus dem Werk herausgelöst und daraufhin untersucht, welche dogmatischen Positionen der Autor vertrat. Diese Grundausrichtung ist bereits in der Beschreibung Matrin Grabmanns erkennbar259 und schlägt sich dann in den 30er und 40er-Jahren v. a. in den zahlreichen Beiträgen von Artur Landgraf260 nieder. Diese und andere dogmengeschichtliche Untersuchungen brachten v. a. zwei wichtige Ergebnisse zu Tage: Erstens lässt sich Radulfus Ardens hinsichtlich seiner dogmatischen Aussagen nicht nur einer bestimmten Strömung oder nur einer Gruppe von Gelehrten zuordnen, sondern zieht je nach Thema unterschiedliche Positionen
258 GEYER, Radulfus Ardens 89. Ähnlich äußert er sich auch in GEYER, Geschichte der Philosophie 248: „Das Werk stellt ein umfassendes System der Ethik dar, wie es vorher noch nicht versucht worden ist.“ 259 So wurde in GRABMANN, Geschichte 1 246–257 die Bedeutung des Werkes v. a. deshalb hervorgehoben, weil er es (irrtümlich) als erstes Zeugnis für die Siebenzahl der Sakramente angesehen wurde. 260 Artur Landgraf ging dabei meist so vor, dass er ausgehend von einer dogmatischen Fragestellung die Lösungsansätze verschiedener Autoren darstellte und anschließend miteinander verglich. Dabei folgte er der These, dass es im 12. Jahrhundert verschiedene ‚Schulen‘ gab, deren Zusammensetzung er sich aus den jeweils vertretenen Positionen der von ihm untersuchten Theologen erschloss. Radulfus Ardens zitiert er immer wieder, z. B. in LANDGRAF, Kindertaufe 363.515.540; DERS., Wiederaufleben der Sünden 525.532.547; DERS., Rechtfertigung 61 f.; DERS., Abhängigkeit der Sünde 525.369 f.; DERS., Erkenntnis 43–45; DERS., Sündhaftigkeit 63 f. Zudem widmete Landgraf den Homiliae des Radulfus Ardens einen eigenen Beitrag (LANDGRAF, Porretanismus). Die Erträge seiner Forschungen fasste er später in einer Monografie zusammen, in der er auch nochmals kurz auf das Speculum universale zu sprechen kommt (LANDGRAF, Einführung 84). https://doi.org/10.1515/9783110758924-003
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heran.261 Zweitens enthält seine Dogmatik einerseits die Ergebnisse der theologischen Diskussionen des 12. Jahrhunderts oftmals nahezu vollständig und fasst bestimmte Bereiche erstmals systematisch zusammen, andererseits präsentiert sie aber wenig Originelles.262 Obwohl hierbei zwar manche Einzelfragen geklärt werden konnten, wurden kaum Erkenntnisse über die Gesamtkonzeption des Speculum universale gewonnen, da Radulfus Ardens sein Werk eben nicht an dogmatischen, sondern an ethischen Fragestellungen ausgerichtet hat.263 Wesentlich größere Bedeutung für die weitere Erforschung der tugendethischen Konzeption des Speculum universale hatte der Aufsatz von Pierre Michaud-Quantin über die Seelenlehre des Radulfus Ardens.264 Er wies erstmals auf den systematisch strukturierten Aufbau seiner Tugendlehre hin und schlussfolgerte, dass sich dieser ethische Entwurf stark an der natürlichen Verfasstheit des Menschen orientiere und daher eine Sonderstellung in der theologischen Literatur des ausgehenden 12. Jahrhunderts einnimmt. Dieser 1958 veröffentlichte Aufsatz stellt eine wichtige Vorarbeit für die Untersuchung Gründels dar. Johannes Gründel erschloss durch seine zahlreichen Forschungen265 das Werk in großen Teilen systematisch. Er war zunächst bei der Untersuchung der Umstände der Handlung im Mittelalter auf das Speculum universale aufmerksam geworden und wertete es diesbezüglich als „einen Höhepunkt … der Frühscholastik“.266 Dabei erkannte er bereits, dass Radulfus Ardens verschiedenste theologische Themen in Verbindung mit einem tugendethischen Bezugspunkt darstellt. Zudem äußerte er auch erstmals Gedanken zu einer kritischen Gesamtedition. 261 Vgl. dazu auch WICKI, Seligkeit 23.29 f. 262 So findet sich bspw. bei ENGLHARDT, Glaubenspsychologie 79–114 eine ausführliche Darstellung der Kapitel 1–13 aus Buch 7. Er wertet diese Passage folgendermaßen: „Radulf aber faßt alle diese Materialen wohl erstmals in einem systematisch gegliederten, leider später nicht nachgeahmten Exposé zusammen“ (ebd. 99). Ähnlich urteilen später HÖDL, Schlüsselgewalt 1 243 f. und KNOCH, Sakramente 326 f. bezüglich der Behandlung der Buße in Buch 8: „Die Ausführungen des Radulfus über das Bußsakrament sind ohne eigenständige und tiefer schürfende Reflexion aus der Theologie der Zeit geschöpft.“ Vgl. auch HEINZMANN, Unsterblichkeit 174. 263 Diese ethische Prägung wurde nur selten angesprochen und auch nur hinsichtlich bestimmter Teilfragen aufgezeigt; vgl. dazu z. B. LOTTIN, Psychologie 1 46 f., der einen längeren Abschnitt über den freien Willen aus Buch 2 anführt; DERS., Psychologie 4,1 161–164, der einige Stellen zu seiner Erbsündenlehre aus Buch 1 bespricht, oder WEINZIERL, Restitutionslehre 124–130, der längere Passagen aus den Büchern 10 und 12 paraphrasiert und ebd. 130 das Speculum universale folgendermaßen bewertet: „Sein großangelegtes Werk legt ein beredtes Zeugnis ab von der vielseitigen wissenschaftlichen Begabung, aber auch von dem starken praktischen Sinn seines gelehrten Verfassers.“ 264 MICHAUD-QUANTIN, Psychologie. 265 Neben seiner bereits mehrfach erwähnten Habilitationsschrift (GRÜNDEL, Verstandestugenden) verfasste er auch einen Lexikonartikel über Radulfus Ardens (DERS., Radulfus Ardens) und veröffentlichte – leider nur auf der Grundlage der verderbten Hanschriften Pi, Pa und V – ein Quästionenverzeichnis des Speculum universale samt deutscher Übersetzung der Kapitelüberschriften (DERS., Speculum universale; rezensiert von STELZENBERGER, Rez. Gründel und HAENDLER, Rez. Gründel). Dieses erschien auch in französischer Sprache (DERS., L’œuvre encyclopédique). 266 GRÜNDEL, Die Lehre von den Umständen 204–215; hier ebd. 215.
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3 Präzisierung des Ziels der Untersuchung
Da seine Monografie über die Verstandestugenden sowohl von ihrer Vorgehensweise als auch von ihren Ergebnissen her als Grundlage der vorliegenden Arbeit gelten kann, ist es notwendig, an dieser Stelle ausführlicher darauf einzugehen: Im ersten Teil beschäftigte sich Johannes Gründel mit der Biografie und dem literarischen Schaffen des Autors; im Zuge dessen ging er auch ausführlich auf die handschriftliche Überlieferung des Werkes ein, da in der Zwischenzeit einige neue Überlieferungsträger entdeckt worden waren. Diese Forschungen wurden durch Claudia Heimann ergänzt und in einigen Punkten korrigiert, sodass sie heute als überholt gelten können. Wichtiger für das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist der zweite Teil, in dem er sich der Seelenlehre des Radulfus Ardens widmete, die er als systematisches Fundament der Tugendaufgliederung erkannt hatte. Den Schwerpunkt legte er hierbei auf den Tugend-, Willens- und Freiheitsbegriff, da dem Verständnis dieser Aspekte für die Darstellung der Verstandestugenden grundlegende Bedeutung zukommt. Durch Gegenüberstellungen mit anderen Schriften der damaligen Zeit konnte er zeigen, dass das Werk sowohl im Aufbau als auch in inhaltlichen Aspekten einzigartig in der Frühscholastik ist.267 Gründels Darstellung der diskretiven Tugenden beschreibt mit ‚fides‘, ‚prudentia‘, ‚iustitia‘, ‚fortitudo‘ und ‚temperantia‘ die in der Tradition als Kardinaltugenden268 bezeichneten Tugenden und widmet sich zudem einer Vielzahl von tugendethischen Einzelfragen. Die Ergebnisse dieser umfangreichen und luziden269 Untersuchung lassen sich in vier Punkten verdichten270: Erstens kann das Speculum universale zwischen den patristischen Zeugnissen einer christlichen Rezeption philosophischer Tugendlehre und der Summa theologiae des Thomas von Aquin den Anspruch einer systematischen theologischen Ethik erheben. Zweitens orientiert sich die Gliederung der Tugendlehre grundlegend am Aufbau der menschlichen Seele und ihren Kräften. Drittens greift Radulfus Ardens auf Ansichten der Stoa zurück, die die Vernunft als Normierungsgröße der Tugend ansieht und mit der Lehre von den Adiaphora eine Ansicht vertritt, an der er sich beim Entwickeln der (in der Frühscholastik einzigartigen) ‚contemptus‘-Lehre in Buch 12 orientiert haben könnte. Viertens ist Radulfus Ardens als ein außerordentlich gebildeter und eigenständiger Denker anzusehen, der mitunter in temperamentvoll-bildhafter Sprache die Pflichten der Kirchenleitung hervorhebt und v. a. an pastoral-psychologischen Fragen interessiert ist. Überblickt man diese Ergebnisse, fällt auf, dass sich Gründel in seinem Fazit nicht zur Lehre von den Komplementärtugenden geäußert hat. Der Grund dafür ist,
267 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 288 f. 268 Dass die Tugendkonzeption des Speculum universale lange Zeit aus dem Blickwinkel dieser von Radulfus kaum verwendeten Terminologie und der damit verbundenen Systematik betrachtet wurde, zeigt sich bspw. daran, dass noch HÖDL, Rez. Gründel 380 schreibt: „[. . .] die Kardinaltugenden und die spezifisch christlichen Tugenden bilden die regulativen Ideen des Systems.“ 269 Vgl. HÄRING, Rez. Gründel 577. 270 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 375–378.
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dass er die Bedeutung der Komplementarität als Strukturprinzip der Tugendethik des Radulfus Ardens noch nicht in vollem Umfang erkannt hatte. Darauf wies erst einige Zeit später Stephan Ernst hin.271 Er griff auch den von Johannes Gründel mehrfach erwähnten, aber nicht mehr umgesetzten Plan272 auf, eine kritische Edition des Speculum universale zu erarbeiten. Als bisheriges Ergebnis zweier aufeinanderfolgender Editionsprojekte an der Universität Würzburg liegen die Bücher 1–5 gedruckt vor, während die Bücher 7–10 unmittelbar vor der Veröffentlichung stehen und sich die Texte der Bücher 11–14 in Vorbereitung befinden. Im Kontext der editorischen Arbeiten kamen viele neue Fragen auf, die in mehreren Einzelbeiträgen besprochen und teilweise auch beantwortet wurden. Neben einigen wenigen anderen Beiträgen in der jüngeren Forschungsliteratur, die meist nur Einzelaspekte behandeln273, bilden sie den aktuellen Stand der Forschung ab, weshalb sie im Folgenden genannt werden: Zunächst unterzog Claudia Heimann die biografischen Information zu Radulfus Ardens einer Detailkritik und beschrieb die handschriftliche Überlieferung umfassend.274 Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass der Komplementarität tatsächlich eine große Bedeutung für die Anlage des Werkes zukommt.275 Durch eine Vergleichsstudie zu Bedeutung von Tugendsystemen als Gliederungsschüssel wurde die These bekräftigt, dass das Speculum universale nicht nur von seinem Umfang, sondern auch von seiner systematischen Kohärenz her den Höhepunkt der tugendethischen Reflexion im 12. Jahrhundert darstellt.276 Eine Gegenüberstellung mit den tugendethischen Positionen der Hildegard von Bingen führte vor Augen, dass – trotz eines ähnlichen Interessenschwerpunktes – kaum Bezüge zu Radulfus Ardens feststellbar sind.277 Ebenso konnte herausgearbeitet werden, dass den äußeren Umständen und prägenden Einflüssen im Speculum universale eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Tugenden und Laster zukommt278. Dass neben der Untersuchung des Speculum universale auch weitere Forschungen
271 ERNST, Ethische Vernunft 323–338; ebd. 334 heißt es: „Aber erst in der speziellen Tugendlehre des Radulphus Ardens, die mit Buch VII des Speculum universale beginnt, findet dieses Programm [scil. die Komplementarität] seine konsequente Durchführung.“ 272 Vgl. GRÜNDEL, Geleitwort. 273 So findet sich z. B. bei HEIN, Sparsamkeit 104–109 eine Darstellung der einschlägigen Textpassagen zur ‚parsimonia‘. Wie wenig das Speculum universale auch in der fremdsprachigen Forschung beachtet wird, zeigt sich daran, dass es in einschlägigen Sammelwerken wie z. B. BEJCZY / NEWHAUSER, Virtue and Ethics kaum erwähnt wird. Ansonsten wird Radulfus Ardens gelegentlich in Zusammenhang mit dem Porretanerkreis oder der Diskussion zur ‚Schulenbildung‘ im 12. Jahrhundert erwähnt (so z. B. HALL, School Allegiance). 274 Vgl. HEIMANN, Einleitung. 275 Vgl. ERNST, Klug wie die Schlangen sowie DERS., Estote prudentes. Zusammenfassend vgl. auch S. ERNST, Radulfus Ardens. 276 Vgl. ERNST, Tugendsysteme. 277 Vgl. ERNST, Tugendethik. 278 Vgl. ERNST, Sittlichkeit und Kontingenz.
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zu den Homiliae notwendig wären, zeigte Claudia Heimann durch einen Blick auf die Rezeption der Predigten im späten Mittelalter.279 Am Beispiel der Soteriologie konnte herausgearbeitet werden, dass Radulfus Ardens dogmatische Inhalte nicht nur lose in seine ethischen Gedankengänge einstreut, sondern dass er auch sie systematisch mit seiner Tugend- und Seelenlehre verknüpft.280 Schließlich rückte durch weitere Forschungen zur Seelenlehre281 und insbesondere zu den Affekten282 die Tatsache in den Fokus, dass den Gefühlen und den aus ihnen entstehenden Tugenden, die in den Büchern 11 und 12 behandelt werden, eine entscheidende Bedeutung für die gesamte tugendethische Konzeption des Radulfus Ardens zukommt. Denn im Zuge dieser Untersuchungen zeigte sich immer deutlicher, dass der Entfaltung der speziellen Tugendlehre ein ganzheitliches Menschenbild zugrunde liegt und die ‚passiones anime‘ in dieser Hinsicht einen vielversprechenden Untersuchungsgegenstand darstellen: Zum einen bilden die Grundaffekte Liebe (‚amor‘), Hass (‚odium‘) und Geringschätzung (‚contemptus‘) neben der Vernunft (‚ratio‘) die Seelenkräfte des Inneren Menschen und konstituieren ihn damit maßgeblich. Zum anderen stehen Liebe und Hass in einem komplementären Verhältnis, sodass sich in diesem Bereich – anders als bei der ‚ratio‘ und dem ‚contemptus‘ – die Komplementärtugendpaare aus zwei unterschiedlichen Tugendgruppen zusammensetzen. Die ‚uirtutes affectiue‘ bilden damit systematisch den Ort, an dem sich die beiden grundlegenden Struktur- und Gliederungselemente des Speculum universale – nämlich die Seelenlehre und die Komplementarität – überschneiden und besonders deutlich sichtbar werden. Da die Affekte also von besonderer systematischer Bedeutung sind, müssen die Annahmen Gründels, dass Radulfus Ardens hauptsächlich stoisches Gedankengut rezipiert und in erster Linie die ‚recta ratio‘ die Normierungsgröße seiner Tugendlehre darstellt, kritisch hinterfragt werden. Daraus ergeben sich gewissermaßen direkt die Zielsetzungen der hier unternommenen Untersuchung, die sich in sechs Fragen zusammenfassen lassen: . Welche Rolle spielen die Affekte bei der Entstehung der Tugenden und Laster? . Warum stehen Liebe und Hass in einem komplementären Verhältnis und was folgt daraus für die Bedeutung der Komplementarität für die Grundkonzeption des Werkes? . Warum versteht Radulfus Ardens die Geringschätzung als Affekt und in welcher Beziehung steht sie zu Liebe und Hass? . Welche Einzeltugenden entstehen aus den drei Grundaffekten? . Setzt Radulfus Ardens dabei das Konzept der Komplementärtugenden konsequent und durchgehend um oder spielt es nur vereinzelt eine Rolle? . Wie ist diese Behandlung der Affekte und der mit ihnen verbundenen Tugenden im Vergleich zu anderen Positionen im . Jahrhundert zu bewerten?
279 HEIMANN, Beobachtungen. 280 JANOTTA, Soterologie. 281 JANOTTA, Der Traktat De anima. 282 ERNST, Passiones animae.
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Diese sechs Leitfragen bilden den roten Faden des Hauptteils der Arbeit. Dieser lässt sich in drei Unterteile gliedern: Im ersten Teil wird erläutert, wie die Affekte im Rahmen der allgemeinen Tugendlehre als Seelenkräfte bestimmt werden und welche Rolle sie bei der Entstehung der Tugenden und Laster spielen. Ebenso wird die Lehre von den Komplementärtugend ausführlich erläutert und aufgezeigt, dass Radulfus Ardens von einem komplementären Menschenbild ausgeht. Auf dieser Grundlage werden im zweiten und dritten Teil der Arbeit die Texte von Buch 11 und 12 im Detail analysiert. Dabei geht es zum einen darum, die amativen, oditiven und kontemptiven Tugenden im Einzelnen zu porträtieren. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, ob die Konzeption der Komplementärtugenden in diesem Bereich konsequent umgesetzt wurde und welche systematischen Fragen dabei ins Auge fallen. Zudem wird am Ende der beiden Abschnitte jeweils der Versuch einer traditionsgeschichtlichen Einordnung unternommen. Da die erkenntnisleitenden Fragestellungen also sukzessive über den Hauptteil hinweg beantwortet werden, kann der Blick im Schluss der Arbeit auf weiterführende Einzelaspekte gelenkt werden, die Denkanstöße für die weitere Erforschung der Werke des Radulfus Ardens geben können.
Erster Teil: Die Affekte und ihre Bedeutung für die Entstehung der Tugenden und Laster
Das Hauptziel der Untersuchung besteht darin, die inhaltliche Entfaltung der affektiven Tugenden in den Büchern 11 und 12 in den Blick zu nehmen und im Zuge dessen nach der systematischen Bedeutung der Komplementarität für den Aufbau der Tugendlehre im Speculum universale zu fragen. Eine detaillierte Beschreibung dieser beiden Bücher kann nicht losgelöst von den grundlegenden Bestimmungen über die Affekte des Menschen in der allgemeinen Tugendlehre in den Büchern 1–5 erfolgen. Denn wie schon erwähnt, orientiert sich der Aufbau der speziellen Tugendlehre zum einen an den Kräften der menschlichen Seele und zum anderen – dies führt gerade der Aufbau von Buch 11 vor Augen – an der komplementären Verfasstheit der Tugenden. Eine Einführung in die Seelenlehre und das System der Komplementärtugenden ist demnach unerlässlich. Entscheidend ist dabei, dass die beiden Strukturelemente nicht getrennt voneinander betrachtet werden können und systematisch eng zusammenhängen. Somit lässt sich das Ziel des ersten Teils der Arbeit weiter präzisieren: Die drei Grundemotionen des Menschen – also Liebe, Hass und Geringschätzung – bilden die Grundlage für die Entstehung der affektiven Tugenden. Eine genaue Untersuchung der Affekte bildet daher das Hauptanliegen des vorliegenden Teils (Punkt 2). Die Emotionen können allerdings nicht unabhängig von den übrigen Seelenkräften und ihrer komplementären Grundstruktur betrachtet werden, weshalb zunächst einige Vorbemerkungen zur Anthropologie des Radulfus Ardens notwendig sind (Punkt 1). Abschließend werden die für den weiteren Fortgang der Arbeit relevanten Erkenntnisse in einem kurzen Fazit zusammengefasst (Punkt 3).
https://doi.org/10.1515/9783110758924-004
1 Anthropologische Vorbemerkungen Die Bedeutung der Seelenlehre für den Aufbau des Speculum universale wurde bereits früh in der Forschung erkannt.1 Die Bedeutung der Komplementarität blieb jedoch lange unerkannt.2 Dies liegt in erster Linie daran, dass sich Radulfus Ardens nicht zusammenhängend dazu äußert, was er unter Komplementarität versteht und welche Bedeutung sie für seinen Entwurf hat. Diese Informationen müssen stattdessen einzelnen Stellen entnommen werden, die über das gesamte Werk verteilt sind. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass sich die beiden Strukturelemente der Komplementarität und der Seelenlehre im Verlauf der Darstellung immer wieder überlagern. Auch bei der Seelenlehre selbst ist dies der Fall, da sich auch bei der Beschreibung der einzelnen Seelenkräfte komplementäre Strukturen ausmachen lassen. Um auf der einen Seite die beiden Grundgedanken möglichst konkret zu beschreiben und auf der anderen Seite ihr Zusammenwirken zu verdeutlichen, geht die folgende Einführung in drei Schritten vor: Zunächst wird der Aufbau der Seelenlehre grundsätzlich und überblicksartig skizziert (Punkt 1). Sodann wird am Beispiel der beiden Tugenden Klugheit (‚prudentia‘) und Aufrichtigkeit (‚simplicitas‘) das Prinzip der Komplementärtugenden beschrieben (Punkt 2). Auf dieser Grundlage lässt sich schließlich zeigen, in welcher Weise die Seele und ihre Kräfte selbst komplementär verfasst sind (Punkt 3).
1.1 Die Seelenlehre: Die grundlegenden Kräfte der menschlichen Seele und das ganzheitliche Menschenbild des Radulfus Ardens Johannes Gründel hat sich umfassend mit der Seelenlehre im Speculum universale beschäftigt und ist dabei v. a. der Frage nachgegangen, welche Vorlagen Radulfus Ardens dafür verwendet hat.3 Diese Untersuchungen brachten ihn zu dem Ergebnis, dass zwar in Einzelheiten Quellentexte oder Werke von Zeitgenossen herangezogen wurden, der Gesamtentwurf jedoch als originelle Leistung des Autors anzusehen ist
1 Darauf wurde erstmals hingewiesen bei MICHAUD-QUANTIN, Psychologie 82: „Ein solcher Plan wies dem Studium der menschlichen Seele und ihrer Elemente einen sehr wichtigen und umfangreichen Platz an, denn aus ihr werden ja die Tugenden geboren.“ Ähnlich äußerte sich auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 103: „Ausschlaggebend für das Tugendsystem des Speculum Universale und für die Aufteilung der einzelnen Tugenden ist die Seelenlehre des Radulfus.“ 2 Wenn sie überhaupt erwähnt wurde, dann nur meist nur knapp und überblicksartig wie etwa bei GRÜNDEL, Verstandestugenden 284. Wie bereits angemerkt, wurde auf die zentrale Bedeutung der Komplementarität erstmals bei ERNST, Ethische Vernunft 333–338 hingewiesen. 3 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 104–145. https://doi.org/10.1515/9783110758924-005
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
und er in seiner Differenziertheit eine Sonderstellung im 12. Jahrhundert einnimmt.4 Aus diesem Grund werden bei der folgenden Darstellung bewusst nur diejenigen Aspekte der Seelenlehre beleuchtet, die für das Verständnis der Affekte relevant sind und die komplementäre Verfasstheit der menschlichen Seele belegen. Dabei steht auch die Frage im Hintergrund, inwieweit das Menschenbild des Radulfus Ardens als ‚ganzheitlich‘ bezeichnet werden kann.
1.1.1 Die Bestimmung der menschlichen Seele als Einheit Radulfus Ardens entwickelt seine Seelenlehre hauptsächlich in den Kapiteln 39–54 von Buch 1.5 Die grundsätzlichen Bestimmungen über die menschliche Seele sind in den beiden Kapiteln 39 und 40 enthalten. Dort wird die Seele folgendermaßen definiert: Est igitur anima substantia rationalis et immortalis, motu ignea, organum membrorum uiuificando corpori et mouendis auide sensibus attributa.6
Obgleich einzelne Bestandteile und Formulierungen von anderen Autoren übernommen wurden, hat er die Definition als Ganzes offensichtlich selbst zusammengestellt.7 Sie ist exakt auf seine Anthropologie zugeschnitten und enthält im Ansatz alle wichtigen Informationen zu seinem Menschenbild: Denn zum einen wird die Seele als untrennbare Einheit bestimmt und zum anderen werden bereits sämtliche Seelenkräfte angedeutet, aus denen sich Tugenden und Laster entwickeln können. Dabei ist zunächst entscheidend, dass die Seele als einheitliche Substanz (‚substantia‘) und nicht als etwas Zusammengesetztes bestimmt wird. Radulfus Ardens konkretisiert diese Aussage im nächsten Kapitel weiter und bezeichnet die Seele als einzige und einfache Substanz (‚unica et simplex substantia‘), die jedoch in ihren Tätigkeiten (‚effectus‘) und Affekten (‚affectus‘) vielfältig ist.8 Damit ist sie als Einheit bzw. als einheitliches Subjekt bestimmt, welches jedoch über verschiedene
4 GRÜNDEL, Verstandestugenden 106: „Im Vergleich zu den übrigen, den Theologen des 12. Jahrhunderts vorliegenden psychologischen Studien nimmt der Traktat des Radulfus Ardens über die Seele eine Sonderstellung ein.“ Vgl. dazu auch MICHAUD-QUANTIN, Psychologie 93 f. sowie JANOTTA, Philosophi errauerunt 138. 5 Dieser Passus wird in der Forschungsliteratur daher auch gelegentlich als Traktat ‚de anima‘ bezeichnet (vgl. MICHAUD-QUANTIN, Psychologie; JANOTTA, Philosophi errauerunt). 6 Spec. uniu. 1, 39 (CCM 241, p. 46). 7 Vgl. dazu GRÜNDEL, Verstandestugenden 107–110. 8 Spec. uniu. 1, 40 (CCM 241, p. 46): „Cum autem anima in substantia sit unica et simplex, tamen in effectibus et affectibus est multiplex, ex quorum multiplicitate multiplices sortitur appellationes.“
1.1 Die Seelenlehre
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Eigenschaften verfügt.9 Die Seele ist also mit dem handelnden Subjekt identisch und bildet den eigentlichen Kern der menschlichen Person. Das Wesen des Menschen wird demnach nicht in unterschiedliche Vermögen aufgespalten, sondern in allen seinen Vollzügen beschrieben. Dabei tritt das Bestreben des Autors hervor, die verschiedenen Aspekte der menschlichen Existenz in ihrem Zusammenspiel miteinander zu betrachten und sie als verschiedene Tätigkeiten ein und derselben Instanz zu beschreiben. Deshalb führt der Autor eine ganze Reihe von Begriffen an, die letztlich alle als Synonyme für den Begriff ‚anima‘ gelten können, die Seele aber aus der Perspektive ihrer verschiedenen Tätigkeiten in den Blick nehmen.10 Bei dieser Zusammenstellung hat er sich offensichtlich an der im 12. Jahrhundert weit verbreiteten pseudoaugustinischen Schrift De spiritu et anima orientiert.11 Viele hier genannten Begriffe tauchen jedoch im Speculum universale nicht mehr auf bzw. haben keine weitere systematische Bedeutung mehr. Dagegen lohnt es sich, die einzelnen Bestandteile der oben genannten Definition noch etwas genauer zu beleuchten: – Dass die Seele als ‚substantia‘ bestimmt wird, lässt (wie gesagt) klar erkennen, dass Radulfus Ardens die Seele als eine Einheit ansieht, die aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit über alle Fähigkeiten verfügt, die der Mensch braucht, um in der Welt zurechtzukommen und sich dabei auf Gott als seinen Ursprung und sein Ziel auszurichten. – Mit der Ergänzung der beiden Adjektive ‚vernunftbegabt‘ (‚rationalis‘) und ‚unsterblich‘ (‚immortalis‘) deutet Radulfus Ardens einen wichtigen Gegensatz im menschlichen Wesen an: Die Seele ähnelt zum einen dem Engel und auch Gott, da sie vernunftbegabt, zur kritischen Unterscheidung fähig und ewig ist. Damit ist sie prinzipiell auf den Bereich des Geistigen bezogen. Zum anderen ist sie im diesseitigen Leben faktisch an den irdischen und damit sterblichen Körper gebunden sowie auf den Bereich des Irdisch-Materiellen ausgerichtet, wodurch sie
9 Radulfus Ardens ist damit als Vertreter der sogenannten Identitätsthese anzusehen. Der Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seele nicht in verschiedene Vermögen im Sinne von Bestandteilen aufgeteilt ist, sondern mit ihren Fähigkeiten identisch ist. Vgl. dazu z. B. KÜNZLE, Potenzen 93. 10 Spec. uniu. 1, 40 (CCM 241, p. 46): „Dicitur autem anima dum animat, animus dum uult, mens dum scit, intellectus dum intelligit, ratio dum discernit, memoria dum meminit, cor dum meditatur, sensus dum sentit.“ 11 Vgl. PS. AUG., Spir. et an. 13 (PL 40, col. 788 f.): „Anima est spiritus intellectualis, rationalis, semper vivens, semper in motu, bonae malaeque voluntatis capax: secundum benignitatem Creatoris atque secundum sui operis officium variis nuncupatur nominibus. Dicitur namque anima, dum vegetat; spiritus, dum contemplatur; sensus, dum sentit; animus, dum sapit; dum intelligit, mens; dum discernit, ratio; dum recordatur, memoria; dum consentit, voluntas. Ista tamen non differunt in substantia, quemadmodum in nominibus; quoniam omnia ista una anima est: proprietates quidem diversae, sed essentia una.“
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
sich von Gott und dem Engel unterscheidet.12 Hier ist bereits eine Spannung zwischen dem Inneren und dem Äußeren Menschen grundgelegt, die den tugendethischen Entwurf des Speculum universale in besonderer Weise prägt. – Außerdem ist die Rede davon, dass die Seele dem Feuer ähnlich ist (‚motu ignea‘). Was damit gemeint ist, wird kurz darauf erklärt: Die Seele bewegt sich durch den Affekt (‚affectu‘) stets nach oben zu ihrem Ursprung bzw. zu Gott hin.13 In dieser Bestimmung bildet sich also die emotionale Tätigkeit der Seele ab. Die menschlichen Gefühle und Emotionen sind demnach von ihrer Grundanlage her darauf ausgerichtet, Gott und das Gute zu erstreben. Diese Bestimmung spielt für die Ausbildung der Tugenden später eine bedeutsame Rolle und unterscheidet den Menschen von Gott, der selbst unbewegt ist. – Schließlich finden sich in der Definition noch wichtige Informationen zur leibseelischen Verfasstheit des Menschen. Der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und dem Engel, der sich ebenfalls auf Gott hinbewegt, besteht nämlich darin, dass sich der Mensch nicht rein geistig auf seinen Schöpfer ausrichten kann, sondern körperliche Werkzeuge benutzen muss.14 Um sich in der diesseitigen Welt überhaupt auf Gott hinbewegen zu können, muss die Seele zunächst die Glieder des Körpers beleben und sie als Werkzeug (‚organum membrorum‘) benutzen. Zudem kann sie nur mithilfe der fünf Sinne mit der materiellen Außenwelt interagieren. Hier wird deutlich, dass dem Körper im Diesseits eine wichtige Aufgabe zukommt, obgleich er sterblich ist und in gewisser Weise nicht zum eigentlichen Wesenskern der menschlichen Existenz hinzugehört. Auch hier tritt allerdings deutlich hervor, dass die Initiative bei der Seele liegt und über welche Fähigkeiten sie im Hinblick auf den Äußeren Menschen verfügt.15 An den einzelnen Bestandteilen der Definition zeigt sich also bereits deutlich, dass Radulfus Ardens sowohl die innerlichen (Vernunft und Gefühle) als auch die äußerlichen Vollzüge (Körper und Sinne) des menschlichen Wesens in der Seele verortet. Dies tritt bei der Beschreibung der einzelnen Seelenkräfte direkt im Anschluss noch klarer hervor. Zugleich zieht er aber auch eine deutliche Trennlinie zwischen der
12 Spec. uniu. 1, 39 (CCM 241, p. 46): „[…] ʻrationalisʼ uero subiungitur ad differentiam irrationalis, ʻimmortalisʼ ad differentiam hominis.“ Mit ‚homo‘ ist hier offensichtlich der hinfällige menschliche Körper und nicht seine Existenz als Ganzes gemeint. 13 Spec. uniu. 1, 39 (CCM 241, p. 46): „ʻMotu igneaʼ dicitur ad differentiam Dei, qui nullo motu mouetur. Anima uero ad instar ignis semper sursum ad suum principium tendit affectu […].“ 14 Im unmittelbaren Anschluss an die affektive Natur der Seele führt Radulfus Ardens zum Körper und den Sinnen in Spec. uniu. 1, 39 (CCM 241, p. 46) aus: „[…] sed quia totum hoc conuenit angelo, adiungitur ʻorganum membrorumʼ. Sed quoniam malignus spiritus uidetur nonnumquam fieri tamquam organum membrorum in energuminis, adiungitur quod ei conuenire non potest ʻuiuificando corpori et mouendis auide sensibus attributaʼ.“ 15 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 59): „Sola quippe anima auctoritatem sensuum habet exercendorum, corpus uero tantum est instrumentum.“
1.1 Die Seelenlehre
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unsterblichen geistigen Seele und dem vergänglichen materiellen Körper. Das hier beschriebene Menschenbild kann damit durchaus als ganzheitlich bezeichnet werden und lässt sich bruchlos in die Heilsgeschichte einfügen: So wird die Verfasstheit des Menschen klar von Gott selbst und seinen anderen Geschöpfen (also den Engeln, Dämonen und vernunftlosen Tieren) unterschieden. Nun stellt sich die Frage, warum Gott überhaupt ein Wesen erschafft, das ebenso wie der Engel eine komplexe innere Struktur aufweist, aber gleichzeitig durch den Gegensatz von Seele und Leib geprägt ist. Radulfus Ardens führt dafür konkrete heilsgeschichtliche Gründe an und zwar in Buch 12 in Zusammenhang mit der Tugend der Demut (‚humilitas‘). Dort heißt es in Kapitel 132: Est enim homo creatura nobilis, sed infirma. Enimuero cum angelus ex nobilitate nature sue superbisset, creauit Deus hominem ex duplici natura, immortali et mortali, nobili et ignobili, firma et infirma. Firma quantum ad animam, infirma quantum ad corpus, ut uidelicet infirma natura firmam humiliaret et firma natura infirmam confortaret.16
Die an dieser Stelle getroffenen Aussagen sind fundamental für das Verständnis der Anthropologie und die Perspektive des Speculum universale insgesamt: Die gegensätzliche bzw. ‚doppelte‘ Natur des Menschen (‚duplex natura‘), die durch den schwachen Körper und die starke Seele bestimmt ist, ist von Gott so gewollt. Denn der Engel zeigte als rein geistiges Wesen ohne körperliche Schwächen einen Hang zum Laster des Stolzes (‚superbia‘). Hier spielt Radulfus Ardens auf den Fall des Teufels und seiner Dämonen an. Um dieser Tendenz vorzubeugen, legte Gott in der Natur des Menschen – der hier in gewisser Weise als eine ‚Weiterentwicklung‘ des Engels erscheint – Gegensätze an. Denn die Schwäche erniedrigt die Stärke des Menschen (‚infirma natura infirmam humiliat‘), während ihn seine Stärke am Leben erhält und die Schwäche wiederaufrichtet (‚firma natura infirmam confortat‘). Hier klingt bereits die komplementäre Verfasstheit der menschlichen Natur bzw. der Seele an. Die Gegensätze sind demnach keine Schwäche, sondern machen erst die eigentliche Stärke des Menschen aus. Nur ein so verfasstes Geschöpf ist der Lage, die ebenfalls durch Gegensätze bestimmten Lebensbedingungen in der Welt zu meistern: So ist der Mensch frei, aber zugleich auf Gott ausgerichtet; er verfügt über eine unsterbliche Seele, ist aber zugleich der Sterblichkeit des Leibes unterworfen; er ist einerseits Gottes Ebenbild, andererseits unendlich weit von Gott entfernt. Von der heilsgeschichtlichen Einbettung der Seelenlehre wird am Ende von Punkt 1. noch ausführlicher die Rede sein.
16 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152ra).
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
1.1.2 Die einzelnen Fähigkeiten der menschlichen Seele im Überblick Es wurde bereits an der grundlegenden Bestimmung der Seele deutlich, dass sich Radulfus Ardens darum bemüht, die menschliche Existenz als Ganzes bzw. ganzheitlich zu betrachten und sie systematisch fundiert in die Heilsgeschichte einzubinden. Ähnlich verhält es sich bei den insgesamt acht Kräften der menschlichen Seele, die Radulfus Ardens in den Kapiteln 41–52 ausführlich darstellt. Sechs davon gehören zum Bereich des Inneren Menschen und zwei zum Bereich des Äußeren Menschen. In Kapitel 41 werden zunächst fünf Fähigkeiten des Inneren Menschen genannt, die er mit den Engeln gemeinsam hat: Die natürliche Vernunft (‚ratio naturalis‘), die Fähigkeit zum Begehren (‚concupiscibilitas‘), die Fähigkeit zum Zürnen (‚irascibilitas‘), die Fähigkeit zum Handeln (‚potentia‘) und die Freiheit der Entscheidung (‚libertas arbitrii‘).17 In Kapitel 45 kommt mit der Fähigkeit zur Geringschätzung (‚contemptibilitas‘) noch eine weitere hinzu.18 Die zwei Seelenkräfte des Äußeren Menschen, die Fähigkeit zur Belebung des Körpers (‚uegetatio‘) und zur Sinneswahrnehmung (‚sensualitas‘), folgen in Kapitel 52. Der Mensch besitzt sie gemeinsam mit den Tieren.19 Die Eigenheiten und Aufgaben dieser acht Grundfähigkeiten oder Vermögen sowie ihre spezifischen Begleiter (‚sequela‘) werden im Folgenden beschrieben. (1) Die vernünftige Seelenkraft (‚rationabilitas‘)20 ist dafür zuständig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (‚discernere‘).21 In ihrer Gefolgschaft (‚sequela‘) befin-
17 Spec. uniu. 1, 41 (CCM 241, p. 47): „Eapropter dedit ei naturalem rationem cum comitibus suis, concupiscibilitatem quoque et irascibilitatem siue odibilitatem cum sequelis suis, potestatem quoque et libertatem.“ 18 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 53 f.): „Porro ex remotione duarum predictarum affectionum oritur contemptus. Nam eorum que sunt, alia sunt nobis utilia, alia nociua, alia nec utilia nec nociua: que utilia sunt, ratio approbat et concupiscibilitas amat; que uero nociua, ratio reprobat et odibilitas odit; que uero nec utilia sunt nec nociua, ratio nichilpendit nec a concupiscibilitate cupiuntur nec ab odibilitate odiuntur, sed contempnuntur, negliguntur et non curantur.“ 19 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 59): „Sunt autem prescripte uires et affectiones uniuerse rationalis creature tam angeli quam hominis communes. Preter has uero habet anima hominis etiam duas uires cum brutis animalibus communes, uegetationem uidelicet et sensualitatem cum sequelis suis, per quas corpori unitur et per illud tanquam per organum operatur. […] Porro uegetabilitas est uis anime per quam apta est corpus uiuificare. Sensualitas uero est uis anime per quam apta est mediante corpore res quinque sensibus sentire et diiudicare.“ 20 Vgl. dazu ausführlich GRÜNDEL, Verstandestugenden 129–134. Hier (ebd. 129 f.) findet sich auch der Hinweis darauf, dass die Trias ‚ratio‘ – ‚intellectus‘ – ‚memoria‘ eine Eigenschöpfung des Radulfus Ardens darstellt, da ansonsten meist die augustinische Zusammenstellung ‚memoria‘ – ‚intelligentia‘ – ‚voluntas‘ zu finden ist. 21 Im hier angeführten Abschnitt äußert sich Radulfus Ardens zu den Aufgaben von Liebe, Hass, Handlungsfähigkeit und Freiheit, weshalb er auch für die folgenden vier Punkte die Textgrundlage bildet. In Spec. uniu. 1, 42 (CCM 241, p. 48 f.) heißt es nämlich: „Creauit igitur omnipotens Deus rationalem creaturam rationalem, concupiscibilem, irascibilem siue odibilem, potentem et liberam conferendo ei ordinatissime prenominata quinque uidelicet rationem qua inter bonum et malum,
1.1 Die Seelenlehre
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den sich zwei Begleiter: Das Einsichtsvermögen (‚intellectus‘) ist dazu in der Lage, Dinge ohne körperliche Wahrnehmung zu erkennen, und stellt damit gewissermaßen in einem ersten Schritt das Material zu Verfügung, das die diskursive Vernunft (‚ratio‘) in einem zweiten Schritt beurteilt. Das Erinnerungsvermögen (‚memoria‘) dient dazu, die erkannten und unterschiedenen Gegenstände im Gedächtnis zu behalten.22 Da also die genaue Unterscheidung (‚discretio‘) von Gut und Böse die Hauptaufgabe der vernünftigen Seelenkraft ist, werden die Tugenden, die aus ihr hervorgehen, als diskretive Tugenden bezeichnet. Zudem weist Radulfus Ardens darauf hin, dass sich die ‚rationabilitas‘ in einen oberen (‚pars superior‘) und einen unteren Teil (‚pars inferior‘) aufgliedern lässt.23 Dabei handelt es sich um dieselbe Instanz, die sich einmal den oberen (also geistigen) Dingen und einmal den unteren (also körperlichen) Dingen zuwendet. Diese Unterscheidung wird später bei der Beschreibung der Kräfte des Äußeren Menschen wieder aufgegriffen. (2) Die liebende Seelenkraft (‚amabilitas‘) ist dafür zuständig, die als gut erkannten Gegenstände zu erstreben.24 Damit spielt sie eine wichtige Rolle dafür, dass der Mensch Verdienste erlangen oder Strafen auf sich ziehen kann. Falls sich die Liebe nämlich irrtümlich auf etwas Böses richtet, verfehlt sie ihr Ziel. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass Radulfus Ardens sie zunächst im Anschluss an die platonische Tradition als Fähigkeit zum Begehren (‚concupiscibilitas‘) bezeichnet. Diesen Terminus hält er jedoch für ungeeignet, da das Begehren nur auf Gegenstände ausgerichtet ist, die man gegenwärtig besitzt oder noch nicht hat, während die Liebe auch in der Vergangenheit erlangte Gegenstände miteinschließt. Die Liebe ist damit der grundlegendere Begriff.25 Hier wird deutlich, wie genau Radulfus Ardens unter-
inter magis minusque bonum, inter magis minusque malum discerneret, concupiscibilitatem qua discretum appeteret, odibilitatem qua contrarium abiceret. Superuacua quippe foret discretio rationis, nisi pariter adesset et appetitus discreti et fuga contrarii. Potestatem quoque subiunxit per quam appetitum ducere posset ad effectum, libertatem etiam arbitrii siue electionis ei simul contulit per quam scilicet apta fieret ad premium siue penam promerendum.“ 22 Spec. uniu. 1, 43 (CCM 241, p. 49): „Rationem autem comitantur intellectus et memoria. Porro intellectus est illa uis mentis per quam sine corporali sensu tam uisibilia quam inuisibilia, tam entia quam non entia speculamur; ratio uero est illa uis mentis per quam inter ea que speculamur, discernimus et diiudicamus; memoria uero est illa uis mentis per quam speculata et diiudicata retinemus.“ 23 Spec. uniu. 1, 43 (CCM 241, p. 51 f.): „Nam illa pars rationis, intellectus et memorie que summa diuinaque contemplatur, superior; illa uero que inferiora temporaliaque pertractat, inferior nuncupatur. Porro superioris partis est in contemplatione Dei celestiumque, quantum fas est homini, se prudenter utiliterque exercendo sapientiam obtinere; inferioris uero est temporalia prudenter fideliter que gubernando scientiam possidere.“ 24 Vgl. n. 21. 25 In Spec. uniu. 1, 41 (CCM 241, p. 47) nimmt er auf die Meinung der ‚philosophi‘ Bezug und widerspricht ihr: „Qui ergo posuerunt concupiscibilitatem pro amabilitate, speciem pro genere posuerunt. Nam omnis concupiscibilitas est amabilitas, non autem econuerso. Concupiscimus enim tantum nondum habita, amamus uero tam non habita quam habita. Concupiscimus quoque tantum presentia uel futura, amamus uero preterita et presentia et futura.“
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scheidet und dass er die Natur des Menschen so tiefgehend wie möglich analysieren will.26 Das Gefolge der liebenden Seelenkraft besteht aus fünf weiteren Emotionen. Diese Affekte haben für die amativen Tugenden in Buch 11 eine tragende Bedeutung und werden daher zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer in den Blick genommen. (3) Die hassende Seelenkraft (‚odibilitas‘) ist dafür zuständig, die als böse erkannten Gegenstände abzuwehren und zu vermeiden.27 Auch sie kann ihren Zweck verfehlen, indem sie sich irrtümlicherweise auf das Gute richtet. Ähnlich wie bei der Liebe zeigt Radulfus Ardens auf, dass der Hass (‚odium‘) der grundlegendere Begriff im Vergleich zum Zorn (‚ira‘) ist. Von daher lehnt er auch den Begriff ‚irascibilitas‘ für diese Seelenkraft ab, verwendet ihn ebenso wie die ‚concupiscibilitas‘ im Verlauf des Werkes aber trotzdem immer wieder. Auch die Begleiter des Hasses werden zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer beschrieben und bilden das Grundgerüst der oditiven Tugenden in Buch 11. (4) Darüber hinaus nennt Radulfus Ardens neben Liebe und Hass noch eine dritte affektive Seelenkraft, die Geringschätzung (‚contemptus‘). Sie ist dadurch bestimmt, dass sich die beiden anderen affektiven Kräfte zurückziehen.28 Diese Fähigkeit zur Geringschätzung oder Nichtbeachtung (‚contemptibilitas‘) ist dafür zuständig, Gegenstände beiseite zu lassen, die nicht heilsrelevant sind. Von daher steht sie – praktisch gesehen – eher in der Nähe des Hasses als in der Nähe der Liebe29 und wird von einem Gefolge aus Verhöhnung (‚subsannatio‘), Gleichgültigkeit (‚incuria‘), Vergessen (‚obliuio‘), Gemütsruhe (‚securitas‘), Sorglosigkeit (‚socordia‘) und Schläfrigkeit (‚sompnolentia‘) begleitet.30 Inwieweit diese Eigenschaften mit den kontemptiven Tugenden in Buch 12 zusammenhängen, wird noch zu klären sein.31 Wie Radulfus Ardens in Kapitel 46 feststellt, bilden die vernünftige Seelenkraft und die drei affektiven Seelenkräfte die Grundlage für die Entstehung von Tugenden und Lastern. Sie weisen eine gewisse Ordnung (‚ordo‘), Notwendigkeit (‚necessitas‘) und Ungleichheit (‚inequalitas‘) auf; das bedeutet, dass sie nicht bei allen Menschen in gleichem Maß vorhanden sind und durch lebenslange Übung und Balance aufein-
26 Eine ausführliche Interpretation zu diesem Textabschnitt findet sich bei JANOTTA, Philosophi errauerunt 133–137. Vgl. dazu auch ERNST, Passiones animae 144–146. 27 Vgl. n. 21. 28 Vgl. n. 18. 29 Radulfus Ardens stellt in Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 54) fest, dass ein affektiv neutrales Vermögen eigentlich kein Affekt ist und rückt den ‚contemptus‘ daher in die Nähe des Hasses: „Ponitur tamen pro affectu eo quod nos uidetur afficere et rem despectibilem facere subsannare, quod tunc maxime fit, quando magis ad displicentiam et odibilitatem quam ad concupiscibilitatem accedit.“ 30 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 54): „Porro ex contemptu nascitur subsannatio, incuria, obliuio, securitas, socordia, sompnolentia.“ 31 Vgl. dazu Punkt 2.1 des vorliegenden Teils.
1.1 Die Seelenlehre
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ander abgestimmt werden müssen.32 Bei den beiden übrigen Kräften des Inneren Menschen, der ‚potentia‘ und der ‚libertas‘, ist dies anders: Sie sind Grundkonstanten des menschlichen Verhaltens, die sich nicht weiter ausdifferenzieren lassen. (5) Die Fähigkeit zum Handeln (‚potentia‘) ermöglicht dem Menschen, den gefassten Entschluss auch tatsächlich in die Tat umzusetzen.33 Allerdings ist die Möglichkeit des eigenständigen Handelns per se dadurch beschränkt, dass jede menschliche Handlung lediglich ein ausführender Dienst (‚ministerium‘) ist. Denn Gott ist als Urheber alles Existenten auch der eigentliche ‚auctor‘ jeder einzelnen Tat, da ansonsten gewissermaßen mit jeder neuen Tat ein neuer Schöpfer entstehen würde.34 Der Mensch wird aus diesem Grund als ‚minister‘ bezeichnet – ein Terminus, der im Speculum universale noch öfter aufgegriffen wird. Die Fähigkeit zum Sündigen (‚potestas peccandi‘) ist keine Fähigkeit im eigentlichen Sinne, sondern aufgrund der Bestimmung der Sünde als Beraubung (‚priuatio‘) des Guten vielmehr eine Unfähigkeit (‚impotentia‘), weshalb Gott auch nicht als Urheber der Sünde gelten kann.35 (6) Die Fähigkeit zur freien Willensentscheidung (‚libertas arbitrii‘) ist im Prinzip kein eigenständiges Seelenvermögen, sondern setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Radulfus Ardens unterteilt sie zunächst in die beiden Aspekte Entscheidung (‚arbitrium‘) und Freiheit (‚libertas‘). Der erste Begriff ist dabei mit der Tätigkeit der ‚ratio‘ identisch, die die Beschaffenheit der Dinge unterscheidet (‚discernere‘). Der zweite Begriff steht erstens mit dem Willen bzw. den Affekten36 in Zusammenhang und meint konkret die Möglichkeit der freien Wahl (‚eligere‘). Hinsichtlich der Handlungsfähigkeit meint ‚libertas‘ schließlich das Potential, das
32 Spec. uniu. 1, 46 (CCM 241, p. 54): „Habent autem predicte uires et affectiones quemdam naturaliter ordinem, necessitatem et inequilitatem […].“ Dies gilt übrigens in ähnlicher Weise für die jeweiligen Gefolgschaften der Seelenkräfte. So heißt es in ebd. 1, 43 (CCM 241, p. 49) über die beiden Begleiter der ‚ratio‘: „Habent quoque ad inuicem quoddam suffragium, ordinem, inequalitatem et partitionem […].“ 33 Vgl. n. 21. 34 Spec. uniu. 1, 48 (CCM 241, p. 56): „Cum enim dicimus hominem operandi habere potestatem, nichil aliud quam ministerium de eo predicamus. Auctoritas quippe siue potestas operandi solius Dei est, qui per semetipsum quedam, quedam uero per ministerium operatur creaturarum. Ipse tamen solus auctor est actuum nostrorum, nos uero tantum ministri sumus.“ 35 Spec. uniu. 1, 49 (CCM 241, p. 56): „Potestas uero peccandi a Deo non est, quoniam non potentia, sed impotentia est. Si enim peccatum non est aliquid et si peccare non est aliquid agere, ergo nec posse peccare est aliquid posse, nec potentia peccandi est aliqua potentia sicut nec potentia errandi, sed impotentia peccato resistendi.“ 36 Die beiden Begriffe ‚uoluntas‘ und ‚amor‘ bzw. ‚cupiditas‘ entsprechen sich in der Konzeption des Radulfus Ardens. Der Wille ist damit nichts anderes als die liebende Seelenkraft. Diese Bestimmung wird unter Punkt 2.2.3 im vorliegenden und 2.1.1. im zweiten Teil der Arbeit noch genauer beschrieben.
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
Ausgewählte auch tatsächlich in die Tat umzusetzen (‚ad effectum ducere‘).37 Damit beschreibt der Ausdruck ‚libertas arbitrii‘ gewissermaßen den Modus, in dem die übrigen Kräfte des Inneren Menschen operieren.38 In jedem Fall sieht Radulfus Ardens in der ‚libertas‘ aber eine grundlegende Fähigkeit der Seele, da der Mensch ohne die Möglichkeit der freien Entscheidung weder Verdienst noch Strafe erwerben könnte. Wie bereits erwähnt besitzt der Mensch die bisher genannten sechs Kräfte mit jeder vernunftbegabten Kreatur (also z. B. den Engeln) gemeinsam. Wie an der oben besprochenen Textstelle aus Buch 12 deutlich wurde, ist der Mensch im Gegensatz zum Engel aber auch ein körperliches Wesen. Deshalb ist die menschliche Seele zusätzlich mit zwei Kräften ausgestattet, über die auch die Tiere verfügen. Nur durch sie lässt sich die Seele mit dem Körper vereinen. (7) Die Fähigkeit zur Belebung (‚uegetatio‘) ist dafür zuständig, den Körper mit der Seele zu verbinden und ihn lebendig zu machen. Somit ist die Lebendigkeit des Körpers naturbedingt eine Aktivität, die sich nur in seinem Inneren, also der Seele, regt.39 Radulfus Ardens trifft keine weiteren Aussagen dazu und aus dieser Seelenkraft entstehen auch keine eigenen Tugenden. (8) Die Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung (‚sensualitas‘) ist die Grundlage dafür, dass der Mensch mithilfe der Sinne die materielle Realität um ihn herum wahrnehmen (‚sentire‘) und beurteilen (‚diiudicare‘) kann. Sie wird als eine Aufmerksamkeit nach außen hin bestimmt, die jedoch ebenso wie die ‚uegetabiltas‘ im Inneren des Menschen ihren Ursprung hat.40 Um die materielle Umwelt zu erfassen und zu beurteilen, verfügt die Seele über eine ähnliche Apparatur wie im Bereich des Geistigen: Ebenso wie die ‚ratio‘ hat die ‚sensualitas‘ nämlich zwei Begleiter, die Vorstellungskraft (‚imaginatio‘) und das sinnliche Erinnerungsvermögen (‚memoria sensualis‘). Erstere erfasst – ähnlich wie der ‚intellectus‘ die geistigen Dinge – die körperlichen
37 Spec. uniu. 1, 50 (CCM 241, p. 57): „Itaque cum legimus Deum dedisse homini liberum arbitrium, magis diuisim quam coniunctim intelligendum est, id est dedit ei arbitrium et libertatem. Arbitrium enim discretio est rationis, libertas uero est uoluntatis et potestatis. Arbitrii quippe est discernere, libere uero uoluntatis est eligere, libere uero potestatis ad effectum ducere. Igitur liberum arbitrium est discretio cum libera uoluntate eligendi et libera potestate exequendi.“ 38 Spec. uniu. 1, 51 (CCM 241, p. 57): „Itaque liberum arbitrium non est unum quid, sed potius ad id, quod aliquis habeat liberum arbitrium, quattuor concurrunt: discretio rationis, uoluntas, potestas et libertas.“ 39 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 59): „Porro uegetabilitas est uis anime per quam apta est corpus uiuificare. […] Sane uita corporalis nichil aliud est quam internus et naturalis motus corporis uigens tantum intrinsecus.“ 40 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 59): „Sensualitas uero est uis anime per quam apta est mediante corpore res quinque sensibus sentire et diiudicare. […] Sensus quoque nichil aliud est quam uitalis in corpore motus uigilans extrinsecus.“
1.1 Die Seelenlehre
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Gegenstände zunächst ohne Wertung. Durch zweitere ist der Mensch in der Lage, die körperlichen Dinge im Gedächtnis zu behalten.41 Schließlich werden sie von Sinnen bzw. vom sinnlichen Unterscheidungsvermögen (‚discretio sensualis‘) in die Kategorien angenehm und unangenehm unterteilt.42 Auf die so unterschiedenen körperlichen Dinge richten sich dann die sinnlichen Affekte: das sinnliche Begehren oder Streben (‚concupiscibilitas siue appetitum sensualis‘) auf die angenehmen und der sinnliche Zorn oder Hass (‚irascibilitas siue odibilitas sensualis‘) auf die unangenehmen. Diese beiden sinnlichen Grundemotionen haben die gleichen Begleiter wie ihre Entsprechungen im Bereich des Geistigen und stehen ebenso wie diese in einem komplementären Verhältnis (‚collateraliter assistentes‘) zueinander.43 Sie können sich in Laster oder Tugenden verwandeln, je nachdem, ob die sinnliche Unterscheidung richtig unterscheidet oder nicht bzw. ob sich das sinnliche Begehren und der sinnliche Hass im rechten Maß auf die richtigen Gegenstände richten oder nicht.44 Somit lässt sich zum Menschenbild des Radulfus Ardens festhalten: Keine der acht genannten Seelenkräfte reicht allein aus, um den Menschen auf Gott auszurichten. Sie alle erfüllen eine bestimmte Aufgabe, sind aufeinander angewiesen und müssen aufeinander abgestimmt werden. Von daher finden sich im Bereich der Kräfte des Inneren Menschen auch keinerlei Hinweise auf eine hierarchische Abstufung. Es gibt lediglich eine naturgemäße zeitliche Abfolge, nach der die Fähigkeiten ihre Wirkung
41 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 59): „Sicut autem rationem comitatur intellectus et memoria, sic et sensualitatem imaginatio memoriaque sua. Porro imaginatio est uisio spiritualis per quam forme corporum absque aliquo sensu corporeo comprehenduntur, non tamen sine discretione sensuali que inter eas discernit et eas persepe sue commendat memorie.“ 42 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 60): „Habet autem sensualitas discretionem suam que per quinque sensuum officinas res circumfusas sentit et discernit: ut per uisum pulchra et turpia, per auditum consona et dissona, per gustum dulcia et amara, per odoratum odora et fetida, per tactum mollia et dura. Qui quidem sensus, si sapienter et sobrie aut claudantur aut aperiantur, porte fiunt uirtutis et salutis, alioquin porte fiunt iniquitatis et mortis.“ 43 Sie werden auch noch genauer unter Punkt 2.2.2 in Zusammenhang mit den Feinden des Menschen besprochen. Vgl. dazu auch ERNST, Passiones animae 149 f. 44 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 60 f.): „Habet quoque discretio sensualis hinc concupiscibilitatem siue appetitum suum, inde uero irascibilitatem siue odibilitatem suam sibi cum comitibus suis collateraliter assistentes quatinus hec que sensibus approbauit, grata concupiscat et ea que sensibus reprobauit, minus grata procul pellat. Est autem appetitus sensualis naturalis uis in animante mouendis auide sensibus attributa habetque suam uoluntatem, suam spem, suam emulationem, suum gaudium suamque letitiam. Ex quorum fonte corporales oriuntur uoluptates que, si cum freno sobrietatis restringantur, materia fiunt uirtutum, alioquin uitiorum. Irascibilitas uero sensualis est naturalis uis in animante fugiendi ea que sensibus sunt amara. Habet suum odium, suum timorem, suam exterritationem, suam iram, suam tristitiam. Ex quorum fonte corporales oriuntur passiones quas si propter Deum sponte modesteque nobismet irrogamus aut irrogatas nobis aliunde patienter toleramus, materia fiunt nobis uirtutum, alias uitiorum initium tanquam tormentorum.“
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
entfalten. So muss bspw. zunächst der Verstand unterscheiden und erst dann setzen sich die Affekte in Bewegung. Der Bereich des Äußeren Menschen ist hingegen klar dem Bereich des Inneren Menschen untergeordnet.45 Aber auch dabei ist zu beachten, dass die äußeren Kräfte nicht aus dem Körper selbst, sondern ebenfalls aus der Seele hervorgehen. Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass im eigentlichen Sinne nur der Körper der Seele untergeordnet ist, während ‚uegetabilitas‘ und ‚sensualitas‘ lediglich die seelischen Funktionen darstellen, die mit dem Körper interagieren. Sie dürfen daher keinesfalls als ‚körperliche Kräfte‘ missverstanden werden. Wie bereits in Zusammenhang mit der Seelendefinition angedeutet, gelingt es dem Autor mithilfe dieses komplexen Entwurfs auf der einen Seite den sterblichen Körper und die unsterbliche Seele klar voneinander zu unterscheiden, ohne auf der anderen Seite die körperlichen Vollzüge von den seelischen zu trennen. Diese Lehre vom Menschen und seinen verschiedenen Fähigkeiten hat Radulfus Ardens in einem eigenen Kapitel (c. 53) mithilfe eines Baumdiagramms veranschaulicht und in einem weiteren (c. 54) ausführlich erläutert. Hier betont er, dass die biblischen Aussagen über den Menschen den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bilden,46 und weist nochmals auf den Gegensatz von Innerem und Äußerem Menschen hin (‚natura diuersa siue opposita‘).47 Auch das vorliegende Unterkapitel schließt mit einer schematischen Übersicht, in der die zentralen Bestimmungen der letzten Absätze abgebildet sind. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht darauf, alle Einzelheiten der Kapitel 39–54 abzubilden. Vielmehr soll daran sichtbar werden, dass nicht aus allen Seelenkräften Tugenden bzw. Laster hervorgehen und dass der Apparat der Seele im Bereich des Äußeren Menschen analog zu den Fähigkeiten des Inneren Menschen konzipiert ist.
45 Spec. uniu. 1, 7 (CCM 241, p. 14): „De interiori igitur ethica primitus occurrit agendum tum quia dignior, tum quia prior: dignior priuilegio nature, prior ordine discipline; dignior natura, prior causa. Anima enim dignior est corpore natura, compositio mentis prior est compositione corporis causa. Enimuero qui bene regit interiora, bene reget exteriora, nec potest ordinatus esse in opere, qui inordinatus est in mente. […] Itaque qui compositus uult esse in exterioribus, prius compositionem statuat in interioribus. Alioquin labor suus labor est superuacuus.“ 46 Spec. uniu. 1, 54 (CCM 241, p. 61): „Si subiectam figuram diligenter inspicias, poteris multa que in scripturis sacris cottidie legis, animaduertere.“ 47 Spec. uniu. 1, 54 (CCM 241, p. 64): „Sunt autem exterior et interior homo diuersarum naturarum et tanquam oppositarum.“
1.1 Die Seelenlehre
Innerer Mensch (‚interior homo‘)
85
Vernünftige Seelenkraft (‚rationabilitas‘)
Verstandestugenden (‚uirtutes discretiue‘)
Liebende Seelenkraft (‚amabilitas‘)
Amative Tugenden (‚uirtutes amatiue‘)
Geringschätzende Seelenkraft (‚contemptibilitas‘)
Kontemptive Tugenden (‚uirturtes contemptiue‘)
Hassende Seelenkraft (‚odibilitas‘)
Oditive Tugenden (‚uirtutes oditiue‘)
Fähigkeit zum Handeln (‚potentia‘)
Seele (‚anima‘)
Fähigkeit zur freien Entscheidung (‚libertas arbitrii‘)
Äußerer Mensch (‚exterior homo‘)
Fähigkeit zur Belebung des Körpers (‚uegetatio‘)
Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung (‚sensualitas‘)
Sinnliche Unterscheidung (‚discretio sensualis‘) Sinnliche Affekte (‚affectus sensuales‘)
Tugenden des Äußeren Menschen (‚mores exterioris hominis‘)
Abb. 2: Die Anthropologie und Tugendlehre des Radulfus Ardens.
1.1.3 Die Seelenkräfte als Grundlage für die Aufteilung in fünf Tugendgruppen Wie bereits in der Einleitung angedeutet, bildet die Seelenlehre den systematischen Ausgangspunkt für die Aufgliederung der Tugenden in fünf Gruppen (‚ordines uirtutum‘), nämlich die diskretiven, die amativen, die oditiven und die kontemptiven Tugenden sowie die Tugenden des Äußeren Menschen. Diesen fünf Gruppen werden alle Einzeltugenden in der speziellen Tugendlehre zugeordnet. Ebenfalls wurde schon erwähnt, dass Radulfus Ardens die Tugenden des Inneren Menschen (‚uirtutes interioris hominis‘) – also die ersten vier Gruppen – von den Tugenden bzw. Verhaltensweisen des Äußeren Menschen (‚mores exterioris hominis‘) unterscheidet. Der erste Bereich (Bücher 7–12) ist durch ein Anfangs- (das 1. Kapitel von Buch 7) und ein Schlusskapitel (das 145. Kapitel von Buch 12) klar abgegrenzt, der zweite (Bücher 13 und 14) dagegen nicht; immerhin finden sich im 1. Kapitel von-
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
Buch 13 einige wichtige Informationen zu den Verhaltensweisen des Äußeren Menschen. Da Radulfus Ardens an diesen Stellen wichtige Bestimmungen zu den fünf verschiedenen Gruppen von Tugenden trifft und sich grundlegend zu ihrem Verhältnis zueinander äußert, werden diese Kapitel im Folgenden genauer beleuchtet.48 Im Zuge dessen zeichnet sich auch noch deutlicher ab, wie bedeutsam das komplementäre Denken für den Ansatz im Speculum universale ist. (1) Im 1. Kapitel von Buch 7 werden die vier Tugendgruppen erstmals genannt und ihre spezifischen Aufgabenfelder näher bestimmt. Zudem äußert sich der Autor über ihr Zusammenwirken. Damit beantwortet er die neunte Leitfrage aus dem 11. Kapitel von Buch 1 (‚que sint species uirtutum et que uitiorum?‘). Die vier ‚species uirtutum‘49 lassen sich wie folgt zur Seelenlehre in Bezug setzen: Die diskretiven Tugenden gehören zur vernünftigen Seelenkraft (‚ratio‘), die oditiven zur hassenden bzw. zornmütigen (‚odibilitas‘ bzw. ‚irascibilitas‘), die amativen zur liebenden bzw. begehrenden (‚amabilitas‘ bzw. ‚concupiscibilitas‘) und die kontemptiven zur Geringschätzung bzw. Vernachlässigung (‚contemptus‘ bzw. ‚negligentia‘).50 Warum teilt Radulfus Ardens die Tugenden auf diese Weise ein und was bedeuten die Begriffe konkret? Jedem dieser vier Grundtypen von Tugenden kommt eine spezielle Funktion zu: Die Aufgabe der diskretiven Tugenden besteht darin, die verschiedenen Dinge, denen der Mensch in seinem Leben begegnet, in die drei grundlegenden Kategorien nützlich (‚utile‘), schädlich (‚nociuum‘) und nutzlos (‚inutile‘) einzuteilen. Nützliche Dinge sind dem Menschen im Hinblick auf sein Wesen und für die Erlangung des Glücks zuträglich, während schädliche Dinge dem Menschen schaden und im Gegensatz zu seiner naturgegebenen Ausrichtung auf Gott stehen. Die nutzlosen Dinge schaden dem Menschen nicht aktiv, nützen ihm aber auch nicht. Deshalb fallen sie normalerweise allein schon von ihrer natürlichen Beschaffenheit her aus dem Interessensfeld des Menschen heraus. Auch wenn diese an sich zunächst ‚neutralen‘ Gegenstände nicht direkt schaden, sind sie dennoch negativ zu sehen, da sie die Bemühungen des Menschen von den wirklich bedeutsamen Dingen, nämlich dem Streben nach dem Nützlichen und dem Abwehren des Schädlichen, ablenken.51 Radulfus Ardens bestimmt also die Unterscheidung (‚discretio‘) als Hauptaufgabe der Vernunft. Damit erklärt sich auch die Bezeichnung der Verstandestugenden als diskretive Tugenden. Mit dieser grundlegenden Klassifizierung der Dinge ist der
48 Dass diese beiden Kapitel die Ethik des Inneren Menschen einrahmen, wurde in der Forschung bisher noch nicht deutlich hervorgehoben. Johannes Gründel bespricht jedoch den Inhalt des letzten Kapitels von Buch 12 (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 284–288) und Stephan Ernst fasst das erste Kapitel von Buch 7 kurz zusammen (vgl. ERNST, Ethische Vernunft 334). 49 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7): „Virtutum alie sunt discretiue, alie oditiue, alie amatiue, alie contemptiue.“ 50 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7): „Prime nascuntur originaliter ex ratione, secunde ex odibilitate siue irascibilitate, tertie ex amabilitate siue concupiscibilitate, quarte ex contemptu siue negligentia.“ 51 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7): „Prime discernunt inter nociuum et utile et inutile […].“
1.1 Die Seelenlehre
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Raum für die Betätigung der Affekte in Gestalt der affektiven Tugenden eröffnet. Ihre Aufgabenbereiche lassen sich nun systematisch klar zuordnen: Die oditiven Tugenden wehren das Schädliche ab, die amativen erstreben das Nützliche und die kontemptiven schätzen die Dinge ohne Nutzen gering.52 Bedeutsam ist dabei, dass die Unterscheidung der Dinge durch die diskretiven Tugenden notwendigerweise vor der Betätigung der affektiven Tugenden stattfinden muss, da sich Liebe, Hass und Geringschätzung ansonsten wahllos auf beliebige Gegenstände richten würden. Umgekehrt liefern die diskretiven Tugenden durch die genauere Bestimmung der Dinge lediglich die Grundlage dafür, dass der Mensch das Nützliche auch faktisch erstrebt bzw. das Schädliche auch tatsächlich abwehrt. Bei der Erfüllung ihrer spezifischen Aufgabenfelder ergänzen sich die verschiedenen Grundtypen von Tugenden also gegenseitig. Keine kann ohne die anderen agieren und keine Gruppe ist einer anderen übergeordnet. Radulfus Ardens spricht diesbezüglich mehrfach von einer natürlichen und von Gott eingesetzten Ordnung (‚naturaliter ordinate‘).53 Diese wechselseitige Bezogenheit findet sich auch auf weiteren Strukturebenen der Tugendethik: So können sich bspw. auch Liebe und Hass ohne den jeweils anderen Affekt nicht ausformen. Der Grund dafür ist, dass das menschliche Wesen und seine Lebensbedingungen durch Gegensätze geprägt sind (‚contraria contrariis conueniunt‘), die sich nur im Zusammenwirken in rechter Weise ausbilden können.54 Auch die oditiven und amativen Tugenden stehen als Einheit in einem solchen Verhältnis zu den kontemptiven Tugenden: Nur wenn sich der Mensch nicht in der nutzlosen Beschäftigung (‚occupatio inutilis‘) verliert, gelingt es ihm, seine Lebensführung auf das Wesentliche auszurichten.55 Umgekehrt führt es auch nicht weiter, mithilfe der kontemptiven Tugenden lediglich die
52 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7): „[…] secunde fugiunt nociuum, tertie secuntur utile, quarte contempnunt inutile.“ 53 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7): „Sunt autem sic a Deo naturaliter ordinate, quoniam, nisi primum discretiue uirtutes discernant, ignorant et oditiue uirtutes quid fugiant, et amatiue quid ament, et contemptiue quid contempnant. Rursusque nisi et oditiue et amatiue et contemptiue sequantur discretiuas, frustra discretiue inter nociuum et utile et inutile distingunt et discernunt, cum non sit qui fugiat fugiendum, qui amet amandum, qui contempnat contempnendum. Itaque sic sunt naturaliter ad inuicem connexe, ut nec ille sine istis nec iste sine illis ualeant alicui prodesse.“ 54 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7 f.): „Rursusque nec oditiue sine amatiuis nec amatiue sine oditiuis possunt esse. Cum enim contraria contrariis conueniant, nemo ualet odisse malum, quin diligat bonum, nec amare bonum quin odiat malum […] Sic itaque sunt isti ordines uirtutum naturaliter coniuncti et connexi, ut nullatenus ualeant separari. Nullusque eorum recte tenetur, nisi et ceteri pariter cum eo teneantur.“ 55 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7): „Rursus quoque nec oditiue nec amatiue sine contemptiuis possunt in nobis perfici. Nemo quippe ualet perfecte uel malum odire uel bonum diligere, quin uitium inutilis occupationis et curiositatis euitet. Quanto siquidem quis inutilibus inutiliter occupatur, tanto minus uel malum fugere uel bonum diligere comprobatur.“
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
nutzlosen Dinge zu identifizieren und zu meiden, wenn man sich nicht zugleich mit Eifer um das Nützliche bemüht und das Schädliche abwehrt.56 Es lässt sich daher zunächst festhalten, dass an dieser Beobachtung ein Charakteristikum der Tugendethik des Radulfus Ardens zutage getreten ist: Die wechselseitige Bezogenheit zweier Gegensätze, die sich erst in einem harmonischen Verhältnis zueinander vollkommen ausformen können, findet sich nicht nur vereinzelt und bleibt nicht nur auf bestimmte systematische Ebenen beschränkt, sondern durchzieht das gesamte Werk. Die Komplementarität der Seelenkräfte und der Tugenden geht unmittelbar auf diesen Grundgedanken zurück; davon wird im nächsten Kapitel (Punkt 2) noch ausführlicher die Rede sein. Diese Bestimmungen werden im letzten Kapitel von Buch 12 (c. 145), das den Abschluss der Ethik des Inneren Menschen bildet, noch etwas ergänzt. Hier bespricht Radulfus Ardens die Verbundenheit aller Tugenden (‚connexio uirtutum‘). Die Vorstellung, dass die Tugenden nicht einzeln, sondern nur in ihrer Gesamtheit in einer Person vorkommen, ist zwar seit der Antike tradiertes Allgemeingut57, jedoch fundiert sie Radulfus Ardens mit seiner Lehre von den Komplementärtugenden systematisch und leitet sie aus der Einheit der Seele und der Vielfalt ihrer Tätigkeiten ab. Fünf Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Tugenden als wahrhaftig und vollendet (‚uere et perfecte‘) bezeichnet werden können: Sie müssen erstens gänzlich verbunden (‚uniuersaliter coniuncte‘), zweitens genau geprüft (‚subtiliter examinate‘), drittens durch Gottesfurcht und Demut zerstoßen (‚humiliter trite‘), viertens untrennbar vermischt (‚inseparabiliter mixte‘) sowie fünftens genau abgewogen (‚equaliter librate‘) sein.58 Das zweite und fünfte Kriterium weisen dabei auf die Notwendigkeit hin, dass jede Tugend durch ein komplementäres Korrektiv ins richtige Maß gebracht werden muss. Mit dem ersten und fünften Kriterium nimmt Radulfus Ardens auf ein weiteres wichtiges Spezifikum seiner Komplementärtugendlehre Bezug: Im Idealfall beziehen sich die beiden zunächst gegensätzlichen und voneinander getrennten Komplementärtugenden nämlich so aufeinander, dass sie sich schließlich symbiotisch verbinden und eine Einheit bilden. Das dritte Kriterium betont hingegen, dass es ohne Ausrichtung auf Gott und ohne die Erkenntnis der eigenen Schwäche keine Tugend geben kann. Freilich räumt der Autor ein, dass es im Diesseits nicht möglich ist, alle Tugenden in dieser vollkommenen Weise zu besitzen. Hier gibt es Unterschiede, da die einzelnen Menschen jeweils unterschiedliche Fähigkeiten haben. Die Vollendung 56 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7): „Rursusque nec contemptiue sine oditiuis et amatiuis ualent. Nichil quippe prodest inutilia contempsisse, nisi et mala caueantur et bona diligantur.“ 57 Bereits in der stoischen Philosophie spielt die Verknüpfung der Tugenden eine wichtige Rolle. Eine Rezeption im Rahmen der christlichen Ethik wurde wohl maßgeblich durch Ambrosius in seinem Werk De officiis in Auseinandersetzung mit der gleichnamigen Schrift Ciceros angestoßen (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 284, n. 104). 58 Spec. uniu. 12, 145 (P, fol. 159va): „Ceterum hoc addendum est, quoniam hee uirtutes tunc sunt uere et perfecte, cum sunt coniuncte, cum examinate, cum trite, cum mixte, cum librate; coniuncte uniuersaliter, examinate subtiliter, trite humiliter, mixte inseparabiliter, librate equaliter.“
1.1 Die Seelenlehre
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des Menschen und damit auch der Besitz aller Tugenden bleibt dem jenseitigen Leben vorbehalten.59 Sodann hebt er insgesamt zehn Tugenden hervor, denen er offensichtlich eine besondere Bedeutung in seiner Tugendkonzeption zumisst. Die Zahl zehn leitet er dabei mithilfe der allegorischen Bibelauslegung unter Verweis auf die sieben Söhne und drei Töchter Hiobs ab – eine bereits seit Gregor dem Großen bekannte Deutung. Dabei symbolisieren die Töchter Glaube, Hoffnung und Liebe und die Söhne die übrigen sieben Tugenden bzw. Gaben des Heiligen Geistes.60 Radulfus Ardens bestimmt sie dadurch genauer, dass er ihren jeweiligen Beitrag zur Richtigkeit eines Werkes (‚rectitudo operis‘) nennt bzw. indem er das Defizit beschreibt, das ein Werk beim Fehlen der jeweiligen Tugend entwertet:61 Tugend
Aufgabe
Defizit des Werkes beim Fehlen der Tugend
‚fides‘
‚fundamentum uirtutum‘
‚sine fide impossibile est aliquid deo placere‘
‚sapientia siue prudentia‘
‚doctrix uirtutum‘
‚inutile per indiscretionem‘
‚iustitia‘
‚directrix uirtutum‘
‚inutile per iniustitiam‘
‚fortitudo‘
‚confortatrix uirtutum‘
‚inutile per inconsummationem‘
‚temperantia‘
‚moderatrix uirtutum‘
‚inutile per immoderationem‘
‚caritas‘
‚uiuificatrix siue inflammatrix uirtutum‘
‚inutile per frigiditatem‘
‚timor dei‘
‚excubia uirtutum‘
‚inutile per incuriam‘
‚spes‘
‚stimulus uirtutum‘
‚inutile per inaniam‘
‚gaudium spirituale‘
‚consolatio‘
‚inutile per tristitiam‘
‚humilitas‘
‚custos uirtutum‘
‚inutile per elationem‘
59 Spec. uniu. 12, 145 (P, fol. 160ra): „Ceterum attendendum est quoniam, dum sumus in uia, non ualemus plenariam habere uirtutum equilibrationem. Non enim hic omnes fideles ualent in omnibus preminere uirtutibus. Sed hic unus in una preminet, alius in alia. […] Quod sic omnisciens Dominus ad superbie nostre repressionem ad humilitatisque conseruationem uoluit dispensare. In eterna uero patria omnes uirtutes in uno quoque penitus erunt equilibrate.“ 60 Spec. uniu. 12, 145 (P, fol. 159va): „Hee quippe sunt septem filii tresque filie Iob, id est septem et uniuersa dona tresque uirtutes Spiritus sancti, uidelicet spes, fides, caritas que nequeunt in nobis, nisi coniunctim, epulari“; vgl. dazu GRÜNDEL, Verstandestugenden 286. 61 Vgl. dazu Spec. uniu. 12, 145 (P, fol. 159va‒160rb).
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
Diese zehn Tugenden decken das gesamte Spektrum der Seelenkräfte des Inneren Menschen ab: Glaube, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhaltung haben ihren Ursprung in der vernünftigen, Liebe, Hoffnung und geistige Freude in der liebenden, die Gottesfurcht in der hassenden und die Demut in der geringschätzenden Seelenkraft. Man könnte diese Konzeption daher durchaus als Pendant zur tradierten Lehre von den Kardinaltugenden oder als ihre Weiterentwicklung betrachten.62 (2) Wie zu Beginn des Abschnitts erwähnt, ist der Passus über die Verhaltensweisen des Äußeren Menschen nicht so klar abgegrenzt. Dieser Befund wurde auch schon in der Einleitung als Argument dafür angeführt, dass das Werk unabgeschlossen ist.63 In den ersten Sätzen des 1. Kapitels von Buch 13 nennt und erläutert Radulfus Ardens jedoch immerhin die wichtigsten Themen der letzten geplanten Bücher. So kündigt er an, die Verhaltensweisen des Äußeren Menschen (‚mores exterioris hominis‘) in dreierlei Hinsicht zu untersuchen, nämlich im Bereich des Wortes (‚in uerbo‘), im Bereich der Sinne (‚in sensu‘) und im Bereich des Werkes (‚in opere‘).64 Dabei ist zunächst bemerkenswert, dass er nicht von ‚uirtutes‘, sondern von ‚mores‘ spricht. Diesen Unterschied begründet er damit, dass die ethische Qualität des äußeren Verhaltens grundsätzlich davon abhängig ist, ob die Seelenkräfte des Inneren Menschen geordnet sind oder nicht. Ihnen kommt daher per se keine ethische Wertigkeit zu, sondern sie können – je nach Fall – gut oder schlecht sein.65 Wieder einmal verfährt er mit dieser Sprachregelung aber nicht immer konsequent und bezeichnet auch die ‚mores exterioris hominis‘ gelegentlich als ‚uirtutes‘.66 Die ‚mores‘ aus dem Bereich des Fühlen behandelt der Autor in Buch 14 unter dem Oberbegriff ‚Disziplin der Sinne‘ (‚custodia sensuum‘). Sie gehen aus der ‚sensualitas‘ hervor. Eine bislang ungeklärte Frage ist, aus welcher Seelenkraft die ‚mores‘ aus dem Bereich des Redens und Schweigens hervorgehen. Diese unter dem Leitbegriff ‚Disziplin der Sprache‘ (‚custodia oris‘) in Buch 13 zusammengefassten Überlegungen thematisieren den sittlichen Umgang mit Reden und Schweigen.67 Die Richtigkeit der Werke behandelt Radulfus nicht mehr und auch die Überlegungen 62 GRÜNDEL, Verstandestugenden 288 schreibt dazu: „Mit diesem großartigen vier- bzw. fünffach gegliederten Tugendsystem dürfte Radulfus in seinem Jahrhundert einzigartig dastehen. Es stellt in der Tat eine Eigenschöpfung dar, die von der Originalität des Meisters Zeugnis ablegt.“ 63 Vgl. dazu Punkt 2.1.1.2. 64 Spec. uniu. 13, 1 (P, fol. 161ra): „Mores exterioris hominis in tribus considerantur: in uerbo, in sensu, in opere.“ 65 Spec. uniu. 13, 1 (P, fol. 161ra): „Si quod bene in mente conceptum est, bene proferimus, si quod bene prolatum est, bene discernimus, si quod bene discretum est, bene perficimus, et ita boni sunt mores exteriores, alioquin mali.“ Vgl. dazu auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 34. 66 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 280–282. 67 Spec. uniu. 13, 1 (P, fol. 161ra): „Itaque mores exterioris hominis bene formantur per custodiam oris, per custodiam sensuum, per rectitudinem operationis. Porro custodia oris necessaria est, sed difficilis et non nisi a Deo et cum ingenti studio impetrabilis. Et necessaria quidem est, quoniam si bene custodiant, parit uitam, alias mortem.“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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zur ‚custodia sensuum‘ enden ohne Schlusskapitel oder wenigstens abschließende Bemerkungen im 82. Kapitel von Buch 14. Aufgrund der besonderen Position der ‚mores exterioris hominis‘ am Ende des Werkes und einer ganzen Reihe von systematischen Fragen wäre eine genauere Betrachtung der Bücher 13 und 14 sicherlich ein gewinnbringendes Unterfangen, jedoch muss dieses Vorhaben einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Insgesamt lässt sich zu der Einordnung der Einzeltugenden in fünf Tugendgruppen folgendes festhalten: Offensichtlich war Radulfus Ardens bei dieser Zusammenstellung von dem Bemühen geleitet, die aus der Patristik tradierte Aufgliederung der Tugenden mit seiner eigenen Tugendkonzeption, die sich an der Anthropologie orientiert, zu verbinden. Dabei tritt hervor, dass er mehrere paganantiken und patristischen Ansätze der Tugendethik zumindest überblicksartig kannte, sie jedoch ganz bewusst nicht übernahm. Er entwickelte stattdessen einen Neuansatz, der zwar nicht völlig mit der Tradition bricht, aber dann doch gerade aus der systematischen Perspektive eine klare Weiterentwicklung darstellt. Der Kerngedanke ist dabei, dass keine Seelenkraft allein die innere und damit auch äußere Harmonie des Menschen herbeiführen kann. In einem solchen ganzheitlichen Ansatz werden weder die Gefühle noch die Sinne des Menschen als Fremdkörper oder ‚Störenfriede‘ angesehen, die der Vernunft widerstreiten und von ihr gebändigt werden müssen. Vielmehr ergänzen sich die scheinbar gegensätzlichen Kräfte in einer Weise, die ihre gesollte bzw. naturgemäße Ausprägung überhaupt erst gewährleistet.
1.2 Die Komplementarität der Tugenden: Der Mensch als ein von Gegensätzen bestimmtes Wesen Wie kommt Radulfus Ardens auf den Gedanken, dass sich zwei auf den ersten Blick völlig gegensätzliche Verhaltensweisen in positiver Weise ergänzen? Der entscheidende Hinweis zur Beantwortung dieser Frage wurde bei der genaueren Betrachtung der Seele und ihrer Fähigkeiten erkennbar: In der Sichtweise des Radulfus Ardens ist der Mensch von seiner natürlichen Beschaffenheit her durch Gegensätze geprägt und erst diese ‚duplex natura‘ macht es ihm möglich, den Lebensbedingungen im Diesseits gerecht zu werden, ohne Gott als das eigentliche Ziel aus dem Blick zu verlieren. Dass sich diese Gegensätzlichkeit im menschlichen Verhalten und damit im Wesen der Tugenden und Laster widerspiegelt, ist eine naheliegende und nahezu zwangsläufige Konsequenz. Warum – so ließe sich jedoch weiter fragen – kann das diesseitige Leben nur durch ein Geschöpf gemeistert werden, dem es gelingt, seine zunächst gegensätzlichen Anlagen und Verhaltensweisen ins richtige Verhältnis zu bringen? Dies begründet sich letztendlich durch den unvollkommenen Zustand der diesseitigen Welt, der sich konkret am Vorhandensein des Bösen zeigt. Entscheidend ist dabei,
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
dass Radulfus Ardens das ethisch Böse in Anlehnung an die patristische Tradition als eine Verkehrung des gesollten Ziels (‚peruersio finis actionis‘)68 und das Laster als eine Beraubung des Guten (‚priuatio boni‘)69 bestimmt. Denn auch wenn jede Handlung ontologisch betrachtet nicht schlecht sein kann, da Gott ihr eigentlicher Urheber und ihr Ziel ist, kann der Mensch durch eine falsche Absicht hinter dem Anspruch, sich gänzlich auf das Gute auszurichten, zurückbleiben und auf diese Weise böse handeln. Weil der Mensch also zugleich frei und unvollendet ist, ist er im Diesseits jederzeit der Gefahr des Bösen ausgesetzt.70 Das diesseitige Leben ist also per se ein gegensätzliches, da der Mensch zugleich das Gute erstreben und das Böse vermeiden muss. Nur wer beiden Ansprüchen gerecht wird und keinen von beiden aus den Augen verliert, kann in der Welt bestehen. Die komplementäre Verfasstheit der Tugenden leitet Radulfus Ardens unmittelbar aus diesem Grundprinzip des menschlichen Handelns ab. Er schreibt dazu im Zusammenhang mit der Tugend der Gerechtigkeit (‚iustitia‘) in Buch 10: Neque enim sufficit non facere malum, nisi et faciamus bonum, neque sufficit facere bonum, nisi caueamus et malum. Sed facere bonum cum euitatione mali uirtus est. Euitare quoque malum cum operatione boni uirtus est uel potius euitare malum et facere bonum, una uirtus integra et perfecta est.71
Indem also das Tun des Guten mit der Vermeidung des Bösen ‚verschmilzt‘, entsteht gewissermaßen ein grundlegendes Komplementärtugendpaar, aus dem sich dann alle übrigen Komplementärtugendpaare ableiten lassen. Diese Grundstruktur des menschlichen Verhaltens ist damit in geeigneter Weise auf das durch Gegensätze geprägte diesseitige Leben zugeschnitten. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Tugenden im Jenseits nicht mehr komplementär verfasst sind, da die Lebensbedingungen dort auch nicht mehr gegensätzlich sind. Dort ist deshalb auch der Affekt des Hasses, der im Diesseits das Böse abwehrt, nicht mehr notwendig.72 Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lässt sich als Zwischenfazit festhalten: Radulfus Ardens hat die gegensätzliche Verfasstheit des menschlichen Wesens und der Lebensbedingungen in der Welt zur strukturgebenden Idee seines tugendethischen Entwurfs erhoben und daraus die Lehre von den Komplementärtugenden entwickelt. In welcher Weise diese Lehre im Speculum universale systematisch grundgelegt ist, wird in den nächsten Abschnitten besprochen. Dazu muss
68 Spec. uniu. 1, 26 (CCM 241, p. 34): „Cum ergo actio numquam debito fine careat, nulla est finis actionis peruersio, etsi agens quantum in se est, finem peruertat. Dicitur autem hec peruersio et malitia, non quia uere sit, sed quia uere dici possit, si sic esset, ut agens intendit.“ 69 Spec. uniu. 1, 27 (CCM 241, p. 35): „Vitium uero est corruptio siue priuatio boni.“ 70 Vgl. dazu im Detail GRÜNDEL, Verstandestugenden 208–212. 71 Spec. uniu. 10, 27 (CCM 241A, p. 554 f.); vgl. dazu auch ERNST, Klug wie die Schlangen 49. 72 Radulfus Ardens äußert sich dazu ausführlich am Ende von Buch 11. Vgl. dazu Punkt 2.8.2 im zweiten Hauptteil der Arbeit.
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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zunächst geklärt werden, welche Rolle der Gedanke der Komplementarität in den Tugenddefinitionen in Buch 1 spielt. Sodann wird anhand des Komplementärtugendpaars Klugheit (‚prudentia‘) und Aufrichtigkeit (‚simplicitas‘) exemplarisch aufgezeigt, wie die einzelnen Tugenden einander komplementär zugeordnet werden. In diesem Zusammenhang wird auch eine sprachliche Analyse seines methodischen Vorgehens erfolgen und der Blick darauf gerichtet, wie sich das Strukturelement der Komplementarität auch im Aufbau der Tugend- und Lastertraktate im Speculum universale niederschlägt. Abschließend werden einige besonders relevante Textstellen zur Komplementarität schlaglichtartig beleuchtet.
1.2.1 Die grundlegende Bestimmung der Tugend im Speculum universale Obgleich Radulfus Ardens die Lehre von den Komplementärtugenden eigenständig konzipiert und entfaltet hat, ist das dahinterstehende Grundprinzip keineswegs gänzlich voraussetzungslos. Dass der Autor dabei von den theologischen Diskussionen seiner Zeit beeinflusst war, zeigt sich deutlich an den von ihm herangezogenen Tugenddefinitionen. Insgesamt führt er dabei nicht weniger als drei verschiedene und teilweise widersprüchliche Bestimmungen an. Dieser Befund brachte Johannes Gründel zu dem Schluss, dass Radulfus Ardens den Versuch unternimmt, diese Positionen miteinander zu harmonisieren und dass jeder einzelnen eine besondere Funktion zukommt.73 Diese grundlegenden Ausführungen über die Tugend erstrecken sich (mit Unterbrechungen) über die Kapitel 19–38 von Buch 1. (1) In Kapitel 19 findet sich zunächst die Definition der ‚philosophi‘, welche die Tugend als Habitus eines gut eingerichteten Geistes bestimmt.74 Sie wurde offensichtlich aus den Boethius-Kommentaren des Gilbert von Poitiers übernommen.75 Hier wird hervorgehoben, dass die Tugend erst erworben werden muss bzw. als Ergebnis eines Prozesses zu betrachten ist, in dem der Geist in richtiger Weise eingerichtet wird (‚mens bene constituta‘). Damit ist im Kontext der eben dargestellten Anthropologie eine ausgewogene Balance zwischen den einzelnen Seelenkräften gemeint, sodass jede von ihnen ihre spezifische Aufgabe möglichst ohne Beeinträchtigung
73 So heißt es bei GRÜNDEL, Verstandestugenden 231 n. 90: „Bei der Abhandlung über die Tugendlehre des Speculum Universale wird man also immer sämtliche vorgetragenen Definitionen vor Augen haben müssen, will man Radulfus und seinen Harmonisierungsversuchen in der Ethik gerecht werden.“ 74 Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28): „Virtutem autem philosophi diffiniunt hoc modo: Virtus est habitus mentis bene constitute.“ 75 Während Johannes Gründel noch nicht abschließend festlegen konnte, aus welcher Quelle Radulfus Ardens diese Definition entnommen hat, konnte während der Arbeiten an der Edition der Bücher 1–5 geklärt werden, dass die erste Tugenddefinition aus GILB. PORR., Boet. hebd. 2, 182 (STPIMS 13, p. 227) stammt.
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
erfüllen kann. Radulfus Ardens verdeutlicht diesen Schwerpunkt der Tugenddefinition, indem er ihre einzelnen Bestandteile genauer erläutert.76 So zeigt der Begriff ‚habitus‘ an, dass die Tugend aus einer eifrigen und gewohnheitsmäßigen Hinneigung (‚uehemens et consueta applicatio‘) des Geistes entsteht.77 Zudem betont er, dass nur der Geist in der Lage ist, Tugenden auszubilden. Der Begriff ‚mens‘ ist hier als Synonym für den Inneren Menschen zu verstehen, sodass Tugenden im eigentlichen Sinne nur aus den rationalen und affektiven Seelenkräften, nicht aber aus den Kräften des Äußeren Menschen entstehen können. Daher bezeichnet er die Verhaltensweisen des Äußeren Menschen – wie bereits erwähnt – später auch als ‚mores‘ und nicht mehr als ‚uirtutes‘.78 Durch die bewusste Wahl des Wortes ‚constituta‘ macht er zudem deutlich, dass der menschliche Geist nicht nur in einzelnen Bereichen, sondern in der Gesamtheit seiner Kräfte gut eingerichtet sein muss und von daher auch alle Tugenden miteinander verbunden sind. An dieser Stelle wird nochmals explizit betont, dass die Balance der Tugenden nicht von Natur aus (‚ex natura‘) besteht, sondern erst durch mühsame Anordnung und Einrichtung (‚ex studiosa dispositione constitutioneque‘) herbeigeführt werden muss.79 Die Hinzufügung ‚bene‘ steht schließlich dafür, dass die Tugenden auf das höchste Gut bzw. Gott ausgerichtet sind.80 Obwohl in diesen Bestimmungen nicht direkt von der komplementären Verfasstheit der Tugenden die Rede ist, lassen sich klare Hinweise darauf erkennen. So ist mit dem Begriff ‚dispositio‘ eindeutig der Prozess gemeint, in dem sich die zunächst gegensätzlichen Verhaltensweisen schließlich so gegenseitig ausbalancieren, dass schließlich Komplementärtugendpaare entstehen. Man könnte zwar einen Widerspruch darin sehen, dass die Tugenden einerseits erst erworben werden müssen und anderseits alle miteinander zusammenhängen bzw. eine ohne die anderen eigentlich gar nicht existieren kann, aber Radulfus Ardens nähert sich der Tugend 76 Vgl. dazu auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 232–234. 77 Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28): „Est enim habitus genere, non quidem habitus de predicamento habendi nec habitus prout opponitur priuationi, sed habitus, id est qualitas mentis ex uehementi consuetaque mentis ipsius innascens applicatione. Enimuero nemo fit subito iustus, sed studiose paulatimque mens ad iustitiam applicatur.“ 78 Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28): „Cuius uero uirtus sit, ostenditur cum subiungitur ʻmentisʼ. Sola quippe mens susceptrix est uirtutum, etsi illarum usus per corporales officinas exterius exerceantur.“ 79 Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28): „Vnde uero uirtus oriatur, innotescit cum subditur ʻconstituteʼ. Non enim ex natura, sed potius ex studiosa dispositione constitutioneque mentis, ut prediximus, innascitur uirtus. Bene quoque dicitur non statute, sed constitute, quoniam ad unam singulariter uirtutem sine reliquis non potest mens statui. Sed cum uirtutes sibi inuicem sint coherentes et inseparabiles, cum ad unam uirtutem mens statuitur, ad ceteras quoque necesse est, ut pariter constituatur.“ 80 Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28 f.): „Ad quid autem mens uirtute constituatur, declaratur cum subiungitur ʻbeneʼ, id est ad bonum. Constituitur enim uirtute mens non ad malum, non ad uanum, sed ad bonum […].“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
95
aus dem Blickwinkel der alltäglichen Erfahrung an, dass man an seinem Verhalten arbeiten muss, um es immer weiter zu verbessern und schließlich schrittweise in den Besitz einer festen Grundhaltung zu gelangen. (2) Die zweite Definition in Kapitel 21, die dem Dichter (‚poeta‘) zugeschrieben wird, bestimmt die Tugend als Mitte zwischen zwei Lastern (‚medium uitiorum utrimque redactum‘), die von beiden Seiten gleich weit entfernt ist.81 Da am Ende des 12. Jahrhunderts die aristotelische Mesoteslehre noch nicht bekannt war, galt neben Cicero tatsächlich v. a. der Dichter Horaz als Gewährsmann für den Gedanken, dass die Tugend als das rechte Maß zwischen zwei negativen Extremen bzw. Lastern bestimmt ist.82 Diese Definition bildet den eigentlichen Ausgangspunkt für den Gedanken der Komplementärtugenden. So schreibt Radulfus Ardens unmittelbar im Anschluss: […] id est uirtus in medio uitiorum ita se coartat et colligit, quod nequaquam usque ad collateralia uitia semet extendit.83
Hier findet sich auch zum ersten Mal der Begriff ‚collateralis‘, den der Autor zur Beschreibung komplementärer Strukturen verwendet. Er kann wörtlich als ‚an der Seite danebenstehend‘ übersetzt werden84 und bildet damit das Verhältnis zwischen einer Tugend und ihrem benachbarten Laster räumlich ab85. Im weiteren Verlauf dieser Darstellung wird der Begriff jedoch meist mit ‚komplementär‘ wiedergegeben. Erwähnenswert ist zudem der Umstand, dass hier nur von einer Mitte (‚in medio‘) die Rede ist und nicht explizit erwähnt wird, dass ein Komplementärtugendpaar eigentlich jeweils aus zwei Tugenden besteht. Dieser Befund weist bereits auf ein wichtiges Detail in der Konzeption der Komplementärtugenden voraus: Wenn sich die beiden Einzeltugenden gegenseitig so austariert und aufeinander bezogen haben, dass der Prozess als abgeschlossen gelten kann, liegt tatsächlich nur noch eine einzige Verschmelzungstugend vor, die jedoch beide ursprünglich gegensätzlichen Aspekte in sich vereint. Auf der Grundlage der Informationen im Text lässt sich ein Komplementärtugendpaar schematisch folgendermaßen veranschaulichen:
81 Spec. uniu. 1, 21 (CCM 241, p. 31): „Diffinit rursus poeta uirtutem hoc modo: Virtus est medium uitiorum utrimque redactum […].“ 82 Diese hier als Definition herangezogene Aussage findet sich bei HOR., Epist. 1, 18, 9 (p. 284). Sie kommt bereits in der Ysagoge in theologiam vor, die im Schülerkreis des Petrus Abaelardus entstanden ist, oder auch im Florilegium Morale Oxoniense, das im Porretanerkreis häufig verwendet wurde (vgl. ERNST, Klug wie die Schlangen 45 f.). 83 Spec. uniu. 1, 21 (CCM 241, p. 31). 84 Ebenso verfährt Stephan Ernst in seiner Teilübersetzung der Bücher 1 und 5. 85 In diesem wörtlichen Sinne verwendet Radulfus Ardens den Begriff auch, wenn er in Spec. uniu. 1, 27 (CCM 241, p. 36) beschreibt, dass gelegentlich die benachbarten Laster (‚uitia collateralia‘) ihre jeweilige Tugend verderben: „[…] in parte uero corrumpunt uirtutem quedam uitia collateralia non multum excedentia ueluti quedam intemperantia modica et huiusmodi.“
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
Verschmelzungstugend Laster
Komplementärtugend
Komplementärtugend
Laster
Das Kapitel ist auffallend kurz, wenn man bedenkt, dass es grundlegend für das Verständnis eines Grundgedankens ist, der letztlich das gesamte Werk prägt. Dass die Komplementarität aber als das Strukturprinzip der Tugendlehre insgesamt gelten kann, lässt sich im Umkehrschluss daraus ableiten, dass Radulfus Ardens seine Gültigkeit für einige Sonderfälle einschränkt. Das Prinzip lässt sich nämlich nur bei denjenigen Tugenden anwenden, bei denen es ein Zuviel (‚nimietas‘) bzw. ein Zuwenig (‚minoritas‘) gibt. Diesbezüglich führt er exemplarisch den Glauben (‚fides‘), die Liebe (‚caritas‘) und die Keuschheit (‚castitas‘) als Ausnahmen an. Durch diese Aufzählung ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass es noch weitere Tugenden ohne komplementäre Gegenstücke geben kann. Er kündigt abschließend an, dass die weitere Entfaltung der Einzeltugenden im Verlauf des Speculum universale zeigen wird, ob sich alle Tugenden innerhalb solcher Grenzen (‚termini‘) befinden.86 Während die erste Definition die Tugenden aus praktisch-intuitiver Sichtweise als alltägliche Arbeit am eigenen Charakter in den Blick nimmt, bestimmt Radulfus Ardens in der zweiten Definition Wesen und Grundprinzip seiner Tugendkonzeption. Die hier angedeutete Frage, welche Tugenden eine Komplementärtugend haben und welche nicht, wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung immer wieder aufkommen. Von zentralem Interesse ist dabei, ob diese Ausnahmen nachvollziehbar begründet werden bzw. wie konsequent das Grundprinzip der Komplementarität in der speziellen Tugendlehre tatsächlich umgesetzt wurde. (3) Die dritte Tugenddefinition nach Augustinus in Kapitel 22 scheint den anderen beiden zunächst grundlegend zu widersprechen. Die Tugend wird hier als eine Beschaffenheit des Geistes bestimmt, durch die man auf rechte Weise lebt, die keiner missbraucht und die Gott allein im Menschen bewirkt.87 Diese Formulierung stammt allerdings nicht direkt von Augustinus, sondern ist aus zwei verschiedenen
86 Spec. uniu. 1, 21 (CCM 241, p. 31): „Ceterum hec diffinitio non omni uirtuti est conueniens, sed tantum illas uirtutes que intus minus et magis collocate sunt comprehendens. Porro nonnulle uirtutes sunt que etsi minoritatis tamen transgressionem nimietatis habere non uidentur ut fides, caritas, castitas. Quis enim potest nimis Deum credere, nimis diligere, nimis castus esse? Ceterum utrum omnes uirtutes habeant utrumque terminum scilicet minoritatis et nimietatis, sequentia demonstrabunt.“ Dazu schreibt ERNST, Klug wie die Schlangen 50: „Gerade aus der Tatsache, dass Radulfus diese Tugenden ausdrücklich als Ausnahmen anführt, lässt sich entnehmen, dass er die Benennung der jeweiligen virtutes collaterales offenbar als Grundprinzip des Systems seiner Tugendlehre ansieht.“ 87 Spec. uniu. 1, 22 (CCM 241, p. 31): „Diffinit iterum beatus Augustinus hoc modo uirtutem: Virtus est qualitas mentis qua recte uiuitur et qua nullus abutitur, quam Deus solus in nobis operatur.“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
97
Augustinstellen zusammengesetzt und findet sich in den Sentenzen des Petrus Lombardus, die im Speculum universale immer wieder als Quelle herangezogen werden.88 Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Bestimmung der Tugend als Gnade, die der Mensch von Gott ohne sein eigenes Zutun geschenkt bekommt. Wie passt diese Aussage zur ersten Tugenddefinition, in der die Tugend als etwas Eingeübtes bzw. Erworbenes beschrieben wurde? Radulfus Ardens beantwortet diese Frage so: Nur die Erkenntnis, dass die Genese der Tugenden und die Balance der Seelenkräfte letztendlich von der göttlichen Gnade angestoßen und ermöglicht werden, schützt vor dem Irrtum, dass man sich durch seine eigenen Fähigkeiten erlösen und selbst rechtfertigen kann.89 Damit kommt der dritten Tugenddefinition in erster Linie eine pädagogische bzw. paränetische Funktion zu.90 Dennoch lässt sich auch hier zumindest ein konkreter Hinweis auf die komplementäre Verfasstheit der Tugenden erkennen. Haben sich die beiden komplementären Tugenden schließlich so austariert, dass sie miteinander verschmolzen sind, liegt nämlich tatsächlich eine Beschaffenheit des Geistes vor, die niemand missbrauchen kann, da sie von ihrer Definition her kein Laster sein kann. Zu dem scheinbaren Widerspruch, dass die Tugend einerseits aus den Kräften der Seele entsteht und durch Übung erworben wird, andererseits aber ein Geschenk der göttlichen Gnade ist, äußert sich der Autor noch einmal ausführlich in Kapitel 34 und bettet den Tugendbegriff heilsgeschichtlich ein: Denn von der Schöpfung her (‚ad primam originem‘) entstehen die Tugenden aus den natürlichen Veranlagungen des Menschen. Durch den Sündenfall kann der Mensch die Kräfte seiner Seele jedoch nicht mehr aus eigener Kraft ins Gleichgewicht bringen; erst die gnadenhafte Hilfe Gottes (‚Deo reparatore‘) macht ihm dies wieder möglich.91 Insgesamt werden an den Überlegungen in Zusammenhang mit den Tugenddefinitionen drei Punkte deutlich: Erstens nimmt Radulfus Ardens aktiv an den theologisch-ethischen Debatten seiner Zeit teil. Dass er dabei aus völlig unterschiedlichen Strömungen schöpft und bspw. sowohl die typisch porretanische Tugenddefinition
88 Diese Kompilation ist zu finden bei PETR. LOMB., Sent. 2, 27, 1, 1 (SpicBon 4, p. 480). 89 Spec. uniu. 1, 22 (CCM 241, p. 32): „Solus Deus operatur illam in nobis. Ceterum cum uniuersaliter sit uerum quod solus Deus operatur tam subiecta formarum quam formas subiectorum, quare hoc precipue de forma uirtutis hic dicitur? Vt causa superbie remoueatur, quia enim ex uehementi longa laboriosaque liberi arbitrii applicatione uix tandem ad uirtutem peruenitur. […] Sed et nos quamuis studium nostrum ad uirtutem applicemus, tamen Deus per se sine nobis in nobis uirtutem creat.“ 90 Vgl. z. B. ERNST, Klug wie die Schlangen 47. 91 Spec. uniu. 1, 34 (CCM 241, p. 42 f.): „Ex premissis oritur questio utrum uirtutes gratuite sint an naturales. Diximus enim superius ex naturalibus eas anime potentiis et affectibus oriri. […] Ad hoc respondemus quod et uirtutes quantum ad primam originem naturales sunt, quoniam uero propter primi hominis preuaricationem sic eas amisit homo, ut eas per se nullatenus queat recuperare nisi Deo reparatore dante uelle et posse, gratuite nuncupantur.“
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
Gilberts als auch die des Petrus Lombardus zitiert, zeigt, dass er nicht nur einer bestimmten Strömung zugeordnet werden kann. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass er hier offensichtlich einen Harmonierungsversuch unternimmt. Zweitens lassen sich in den Erläuterungen zu allen drei Tugenddefinitionen Bezugspunkte zur Komplementarität ausmachen, wodurch die Bedeutung dieses Strukturprinzips klar hervortritt. Drittens deutet sich an, dass die komplementäre Verfasstheit der Tugenden in der Disposition des Geistes bzw. der Seelenkräfte grundgelegt ist. Die Frage, inwieweit die Seele selbst komplementär verfasst ist, wird daher noch genauer zu klären sein.92
1.2.2 Einführung in das System der Komplementärtugenden am Beispiel von Klugheit und Aufrichtigkeit Das soeben theoretisch vorgestellte System der Komplementärtugenden wird nun wie angekündigt am Beispiel des Komplementärtugendpaars Klugheit (‚prudentia‘) und Aufrichtigkeit (‚simplicitas‘) verständlich gemacht. Warum gerade dieses Beispiel aus Buch 9 ausgewählt wurde, hat mehrere Gründen. Erstens ist die Klugheit die erste Tugend im Speculum universale, der eindeutig eine Komplementärtugend zugewiesen wird.93 Davon ausgehend äußert sich Radulfus Ardens in Buch 9 immer wieder allgemein zu seiner Konzeption und beschreibt die beiden komplementären Tugenden und ihre benachbarten Laster sowie ihre jeweiligen Unterteilungen ausführlich in den Kapiteln 52–62. Zweitens sind die Bezeichnungen der beiden Tugenden und der mit ihnen verbundenen Laster konkret, leicht verständlich und weitestgehend selbsterklärend, was bei vielen anderen Komplementärtugendpaaren nicht der Fall ist. Drittens wurde dieses Komplementärtugendpaar in der Forschung bereits mehrfach beschrieben, sodass sich die hier dargebotene Skizze auf frühere Untersuchungen beziehen kann.94 Radulfus Ardens widmet das gesamte Buch 9 der ‚prudentia‘. Er definiert sie als die Tugend, die Gut und Böse voneinander absondert und dann zwischen beidem wählt (‚sequestratrix et electrix‘).95 Damit unterscheidet sie sich von der ‚discretio‘ – der Grundtugend der vernünftigen Seelenkraft – darin, dass sie die Gegenstände nicht nur in Kategorien einteilt, sondern auch zwischen ihnen auswählt. In Kapitel 52
92 Vgl. dazu Punkt 1.3. 93 Bezüglich der Tugend des Glaubens (‚fides‘), die zuvor in den Büchern 7 und 8 behandelt wird, ist die Lage unklarer, da Radulfus Ardens widersprüchliche Aussagen dazu trifft (vgl. im Detail Punkt 1.2.6.3). 94 Diesbezüglich sind in erster Linie ERNST, Klug wie die Schlagen sowie DERS., Estote prudentes zu nennen. 95 Spec. uniu. 9, 1 (CCM 241A, p. 351): „Prudentia est uirtus bonorum a malis et utrorumque ad inuicem sequestratrix et electrix.“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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wird ihr ‚simplicitas‘ als Komplementärtugend (‚uirtus collateralis‘) zugewiesen.96 Wie ist dieser Begriff zu übersetzen und welche Verhaltensweise ist damit gemeint? Der Autor leitet das Wort von ‚sine plica‘ her, was so viel bedeutet wie ‚ohne Falte‘ (bspw. im Stoff) oder im übertragenen Sinne ‚ohne Verlogenheit‘ (‚sine duplicitate‘).97 Damit meint der Ausdruck also eine ‚Einfältigkeit‘ im Sinne von Ehrlichkeit, die im Folgenden meist mit ‚Aufrichtigkeit‘ wiedergegeben wird.98 Sie wird als die Tugend definiert, die das Böse entweder nicht kennt oder nicht will.99 Diese Definition spielt auf die zwei Formen der ‚simplicitas‘ an: Die eine ist von sich aus auf das Gute ausgerichtet, ohne vorher genau zu unterscheiden (‚minus discreta simplicitas‘); die zweite unterscheidet genau und wendet sich auf dieser Grundlage bewusst vom Bösen ab (‚discreta simplicitas‘). Bevor er genauer auf das Verhältnis ‚prudentia‘ und ‚simplicitas‘ eingeht, äußert er sich zum Grundprinzip der Komplementärtugenden im Allgemeinen: Porro collateralium uirtutum hec natura est quod altera temperet alteram et quod altera sine altera non uirtus, sed uitium est, et quod quanto magis equaliter conectuntur, tanto magis uirtutes temperantiores efficiuntur, et quanto magis inequaliter coniunguntur, tanto magis a libra uirtutum alienantur.100
Hier fallen eine ganze Reihe wichtiger Bestimmungen und Formulierungen ins Auge: Zunächst legt Radulfus Ardens fest, dass der eine Aspekt eines Komplementärtugendpaars ohne den anderen niemals eine Tugend sein kann, sondern per definitionem ein Laster ist. Beide Aspekte müssen also möglichst gleichgewichtig (‚equilibrate‘) verbunden sein. An dieser Formulierung lässt sich außerdem eindeutig ableiten, dass sich die Balance zwischen den beiden Polen im Laufe des Aneignungsprozesses steigert: Am Anfang stehen sie sich noch als Gegensätze gegenüber, nähern sich jedoch immer weiter an und verbinden sich schließlich in vollkommener Weise. Dieses letzte Stadium bezeichnet Radulfus Ardens als Gleichgewicht der Tugenden (‚libra uirtutum‘). Von daher gilt auch im Umkehrschluss: Je weniger die beiden Aspekte aufeinander abgestimmt sind, desto mehr nähern sie sich ihren jeweils benachbarten Lastern an. Auf das vorliegende Beispiel angewandt, ergibt sich daraus: Wenn die Klugheit nicht mehr durch die Aufrichtigkeit ausgeglichen wird, gerät sie in ein Übermaß und verwandelt sich in das Laster der Verschlagenheit (‚uersutia‘). Auch die Aufrichtigkeit
96 Spec. uniu. 9, 52 (CCM 241A, p. 475): „Est autem prudentie uirtus collateralis simplicitas.“ 97 Spec. uniu. 9, 52 (CCM 241A, p. 476): „Dicitur autem simplicitas quasi ʻsine plicaʼ, id est sine duplicitate, quoniam sine duplicitate et meditatur et loquitur et operatur.“ 98 Vgl. zur Begründung dieser Übersetzung auch ERNST, Klug wie die Schlangen 48. 99 Spec. uniu. 9, 52 (CCM 241A, p. 476): „Est autem simplicitas uirtus malitie uel ignara uel noluntaria. Ignara, quantum ad minus discretam simplicitatem, noluntaria uero dicitur, quantum ad discretam.“ 100 Spec. uniu. 9, 52 (CCM 241A, p. 475).
100
1 Anthropologische Vorbemerkungen
wird ohne das Korrektiv der Klugheit zu einem Laster, nämlich zur Dummheit (‚stultitia‘). Wenn aber beide Aspekte im richtigen Maß aufeinander bezogen werden, entsteht im Laufe der Zeit eine Verschmelzungstugend (‚moderatissima miraque uirtus‘), die entweder als aufrichtige Klugheit (‚prudentia simplex‘) oder als kluge Aufrichtigkeit (‚simplicitas prudens‘) bezeichnet werden kann.101 Dieser Textbefund lässt sich folgendermaßen veranschaulichen:
‚prudentia simplex‘ / ‚simplicitas prudens‘ ‚uersutia‘
‚prudentia‘
‚simplicitas‘
‚stultitia‘
Auf dieser Grundlage lässt sich die Terminologie, die Radulfus Ardens für die Bestimmung der Laster verwendet, genauer erläutern: Die Dummheit ist das Laster, das an der Seite neben der Aufrichtigkeit steht (‚uitium collaterale‘). Ebenso steht die Verschlagenheit in der Nähe zur Klugheit. Für sich allein genommen neigt also jede Tugend zur entwertenden Übertreibung und trägt immer das Potential in sich, zu einem Laster zu werden. Die Verschlagenheit ist aber auch gleichzeitig das entgegengesetzte Laster (‚uitium contrarium‘) der Aufrichtigkeit und die Dummheit das der Klugheit. Damit ist gemeint, dass nicht nur ein Zuviel, sondern auch ein Zuwenig der einzelnen Tugend unmittelbare Konsequenzen für den gegenüberliegenden Pol hat. Diese begriffliche Unterscheidung hat auch systematische Relevanz: Während das ‚uitium collaterale‘ die ihr benachbarte Tugend nur teilweise (‚in parte‘) verdirbt, zerstört das ‚uitium contrarium‘ die Tugend des gegenüberliegenden Aspekts von Grund auf (‚de toto‘).102 Wie bereits erwähnt, sind die vier Bezeichnungen für die hier beschriebenen Tugenden und Laster relativ eindeutig. Bei der ‚simplicitas‘ wurde allerdings schon deutlich, dass viele von Radulfus Ardens gewählte Begriffe in hohem Maße erklärungsbedürftig sind und zudem nur auf der Grundlage weiterer Unterscheidungen verstehbar sind. Der Grund dafür ist wohl darin zu sehen, dass sich der Autor bei vielen Fällen schwergetan hat, passendende Begriffe zu finden. Viele Verhaltensweisen erschließen sich überhaupt erst durch die komplementäre Struktur der Tugenden und der damit verbundenen genauen Differenzierungen. Geeignete Alltagsbegriffe dafür existieren oft nicht, sodass sich Radulfus Ardens immer wieder damit behelfen muss, dasselbe Wort mithilfe von Adjektiven als gut bzw. als Tugend 101 Spec. uniu. 9, 52 (CCM 241A, p. 475): „Simplicitas quippe temperat prudentiam, prudentia quoque simplicitatem et simplicitas sine prudentia fit stultitia et prudentia sine simplicitate fit uersutia. Si uero equilibrate connectantur, utraque moderatissima miraque uirtus efficitur, uidelicet et prudentia simplex et simplicitas prudens.“ 102 Spec. uniu. 1, 27 (CCM 241, p. 36): „Virtutem quoque de toto corrumpunt et priuant uitia contraria, ut ingluuies abstinentiam, luxuria pudicitiam, auaritia largitatem; in parte uero corrumpunt uirtutem quedam uitia collateralia non multum excedentia ueluti quedam intemperantia modica et huiusmodi.“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
101
oder als schlecht bzw. als Laster zu werten. Gelegentlich werden mögliche Komplementärtugenden aber auch überhaupt nicht genannt oder nur vage angedeutet. Jedoch benennt der Autor bei jeder Tugend, bei der es ein Zuviel oder Zuwenig geben kann, bestimmte Grenzen (‚termini‘), die den Bereich abstecken, in denen die jeweilige Verhaltensweise eine Tugend und noch kein Laster ist. Bei besonders wichtigen Tugenden – wie bspw. der ‚prudentia‘ – widmet er der Frage nach den ‚termini‘ ein eigenes Kapitel, bei weniger wichtigen erwähnt er sie meist am Ende des jeweiligen Abschnitts in wenigen Sätzen. Trotz dieser Unterschiede im Umfang folgt die Benennung der Grenzen immer einem bestimmten Schema. Aus diesem Grund werden die ‚termini‘ der Klugheit aus Kapitel 62 hier auch komplett angeführt, zumal an dieser Stelle auch noch einige wichtige allgemeine Aussagen ins Auge fallen: Termini autem prudentie simplicis siue simplicitatis prudentis sunt nec esse uersutum nec hebetem nec duplicem nec nimis simplicem, ut uidelicet prudentia non extendatur usque ad perscrutationem malorum uel otiosorum nec simplicitas usque ad ignorantiam necessariorum uel commodorum, sed inter hec media uia dirigatur. Illud quippe est nimis, istud minus. Medium uero est modus et uirtus.103
Die Bestimmung der ‚termini‘ besteht stets aus zwei Elementen. In einem ersten Schritt werden immer die beiden Trennlinien benannt, die den Übergang zum Laster markieren. Dabei richtet Radulfus Ardens den Blick auf die beiden gegenüberliegenden Pole des jeweiligen Komplementärtugendpaars. In dem oben angeführten Beispiel finden sich auf jeder Seite sogar zwei Begriffe, die diese Trennlinien beschreiben: Auf der Seite der ‚prudentia‘ sieht er die Gefahr, verschlagen (‚uersutus‘) oder unehrlich (‚duplex‘) zu werden, während die ‚simplicitas‘ dumm bzw. träge (‚hebes‘) oder allzu einfältig (‚nimis simplex‘) werden kann. Eine solche Doppelung findet sich jedoch eher selten. In den meisten Fällen bedient sich Radulfus Ardens zusätzlich noch der Begriffe ‚von hier‘ (‚hinc‘) und ‚von da‘ (‚inde‘), um deutlich zu machen, dass die Tugend in der Mitte von beiden Seiten von Lastern bedroht ist. Ein gutes Beispiel für diese Standardformulierung findet sich in Kapitel 31 von Buch 9: Hier erwähnt der Autor in Zusammenhang mit der Tugend der Umsicht (‚circumspectio‘) die ‚termini‘ der Klugheit, um ein anschauliches Beispiel (‚exempli gratia‘) für den Mittelweg der Tugenden zu liefern.104 In einem zweiten Schritt warnt der Autor meist mithilfe des Verbs ‚excedat‘ vor der Entwicklungsrichtung auf das jeweilige ‚uitium collaterale‘. Bei der Klugheit ist dieser Weg zum Laster die Erforschung böser oder unnützer Dinge (‚perscrutatio malorum et otiosorum‘), womit eindeutig die Bereiche der ‚malitia‘,
103 Spec. uniu. 9, 62 (CCM 241A, p. 505). 104 Spec. uniu. 9, 31 (CCM 241A, p. 411): „Mediam uero rectamque uiam tenere inter uitia poterit, si circumspectans inter terminos uniuscuiusque uirtutis sese cohibuerit, ut exempli gratia: Termini prudentie sunt hinc non esse uersutum, inde non esse hebetem. Circumspectio igitur est sic tenere mediam prudentiam, quod non declines hinc usque ad uersutiam nec inde usque ad hebetudinem siue stultitiam et similiter in ceteris.“
102
1 Anthropologische Vorbemerkungen
auf den sich der Hass richten sollte, und der Bereich der ‚uanitas‘, auf den sich der ‚contemptus‘ richten sollte, gemeint sind. Bei der Aufrichtigkeit bringt einen hingegen die Unkenntnis notwendiger und vorteilhafter Dinge (‚ignorantia necessariorum et commodorum‘) in die Nähe der Dummheit. Abschließend sei an dieser Stelle noch einmal auf den Begriff der Mitte (‚medium‘) hingewiesen, mit dem Radulfus Ardens Bezug auf seine zweite Tugenddefinition nimmt. Er kommt – wie in den besprochenen Textstellen gesehen – in Verbindungen mit zwei Bildern vor, die die Lehre von den Komplementärtugenden veranschaulichen: Erstens wird die Mitte als Gleichgewicht einer Waage (‚libra uirtutum‘) beschrieben, bei der es auf keiner von beiden Seiten ein Übergewicht gibt. Hier liegt der Fokus auf dem vollkommen ausgewogenen Mittelpunkt, der die Verschmelzungstugend abbildet. Sodann findet sich häufig das Bild von einem mittleren Weg oder einer Straße der Tugenden zwischen zwei Gräben oder Wegmarken, die die Laster symbolisieren. Diese ‚uia uirtutum‘ eignet sich besonders gut, um deutlich zu machen, dass es einen Spielraum innerhalb der Wegpfosten (‚termini‘) gibt, in dem die jeweils aufeinander bezogenen Verhaltensweisen noch Tugenden und keine Laster sind. Somit kommt in dieser Vorstellung eher der Prozess der Tugendentwicklung zum Ausdruck. Das Bild von der ‚uia uirtutum‘ kommt im Speculum universale häufiger vor und wird immer wieder explizit als Synonym für ein gutes und gottgefälliges Leben genannt.105
1.2.3 Die bisher im Speculum universale gefundenen Komplementärtugenden Bisher wurde noch kein Bereich der speziellen Tugendlehre konsequent und im Detail daraufhin untersucht, wie viele Komplementärtugenden dort vorkommen und wie sie inhaltlich entfaltet werden. Von daher gibt es auch noch keine vollständige Liste aller im Werk genannten Komplementärtugendpaare. Dieses Defizit ist – wie bereits mehrfach erwähnt – darauf zurückzuführen, dass die Bedeutung der Komplementarität für die Anlage des Speculum universale erst relativ spät in der Forschung erkannt wurde und dass die einzelnen, oft vagen und weit verstreuten Hinweise dazu im Text zusammengesucht werden müssen. Jedoch wurden bereits einige Vorarbeiten in dieser Hinsicht geleistet. Zum einen wurde in zwei Forschungsbeiträgen darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Prinzip der Komplementärtugenden nicht nur vereinzelt im Werk findet, sondern durchgehend angewendet wird. Im Zuge dessen konnte auch ein erster Überblick darüber gewonnen werden, welchen Haupttugenden eine Komplementärtugend zugewiesen wird und welchen nicht.106 In welchem
105 So bspw. in den beiden Kapiteln 42 und 43 von Buch 2, die sich ausführlich mit diesem Begriff beschäftigen. 106 Vgl. v. a. ERNST, Klug wie die Schlangen 50–55 und DERS., Estote prudentes 561–568. Eine Zusammenfassung dieser Untersuchungen findet sich in DERS., Einleitung 1 30–37.
103
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
systematischen Verhältnis diese Tugenden zueinander stehen und inwieweit auch ihre Tochtertugenden (‚filie‘) und Unterarten (‚species‘) Komplementärtugenden haben, konnte in diesem eng abgesteckten Rahmen freilich nicht eingehender untersucht werden. Zum anderen wurden bei der Arbeit an der kritischen Edition der Bücher 7–10 bezüglich der dort behandelten Komplementärtugenden einige Lücken geschlossen, wobei gerade im Traktat über die Tapferkeit (‚fortitudo‘) in Buch 10 zahlreiche neue Komplementärtugendpaare entdeckt werden konnten. Insgesamt ließensich bisher folgende Komplementärtugenden im Werk ausmachen: UIRTUTES DISCRETIUE (mala credulitas)
fides
↔ (bona incredulitas)
mala incredulitas
, c. , c.
uersutia
prudentia
↔ simplicitas
stultitia
, c.
iniustitia
iustitia euangelica ↔ innocentia
nocentia
, c. –
crudelitas
iustitia iudicaria
↔ clementia
laxitas
, c. f.
mala fortitudo
fortitudo
↔ bona debilitas
mala debilitas
, c. f.
?
magnificentia
↔ parui estimatio
?
, c.
mala patientia
patientia
↔ impatientia bona
mala impatientia
, c.
?
debita dominatio
↔ debita subiectio
?
, c.
impetuosa temeritas
magnanimitas
↔ consilium
timida pusillanimitas
, c.
obedientia inutilis
fiducia
↔ cultus diuinus
cultus infructosus
, c.
securitas stulta
securitas
↔ timorositas
timiditas
, c.
pertinacia
constantia
↔ mobilitas
leuitas
, c.
longanimitas in malo
longanimitas in bono
↔ breuianimitas in malo
breuianimitas in bono
, c.
perdurare in malo perseuerantia in bono
↔ desistentia in malo
desistere a bono
, c.
(nimia abstinentia)
↔ (sufficientia)
(nimia indulgentia)
, c.
temperantia
UIRTUTES AMATIUE
UIRTUTES ODITIUE
malus amor
amor
↔ odium
malum odium
, c.
prodigalitas
largitas
↔ parsimonia
auaritia
, c.
mala concordia
concordia
↔ bona discordia
mala discordia
, c.
presumptio
spes
↔ timor
desperatio
, c.
104
1 Anthropologische Vorbemerkungen
(fortgesetzt) UIRTUTES AMATIUE
UIRTUTES ODITIUE
mala emulatio
bona emulatio
↔
exterritatio bona
exterritatio mala
, c.
gaudium malum
gaudium bonum
↔
bona ira / zelus
mala ira
, c. .
mala letitia
spritualis letitia
↔
spiritualis tristita
mala tristitia
, c.
serenatio mala
serenatio
↔
pudor bonus
pudor malus
, c.
mala gloriatio
bona gloriatio
↔
penitentia
penitentia mala
, c.
mollities nimia
mansuetudo
↔
seueritas / rigor
asperitas nimia
, c.
UIRTUTES CONTEMPTIUE infamia
contemptus laudis
↔
infamie fuga
uana gloria
, c.
crudelitas
contemptus uoluptatis
↔
refectio corporis
superfluitas
, c.
mala abiectio
humilitas
↔
honorantia sui
superbia
, c.
MORES EXTERIORIS HOMINIS inutile uerbum
bona locutio
↔
silentium
inutile silentium
, c.
corpus nimis attenuare
abstinentia
↔
sustentatio corporis
corpori nimis indulgere
, c.
Zu dieser Übersicht sind einige Erklärungen vonnöten: Erstens bleiben manche Positionen bei den Lastern frei, da sich an den entsprechenden Stellen im Text keine Begriffe dafür finden. Zweitens stehen einige Tugenden, aber auch einige Laster in Klammern. Dabei handelt es sich um Fälle, bei denen noch systematische oder inhaltliche Schwierigkeiten zu klären sind oder zu denen es widersprüchliche Aussagen im Text gibt.107 Drittens sind die Tugenden im Druckbild voneinander abgehoben. Damit werden die unterschiedlichen systematischen Ebenen abgebildet: Die fett gedruckten Tugenden stehen auf der obersten Ebene und stellen gewissermaßen die ‚Haupttugenden‘ des tugendethischen Ansatzes des Radulfus Ardens dar. Die regulär gedruckten Tugenden hingegen sind Tochtertugenden oder Unterarten der Haupttugenden.
107 Vgl. dazu den Punkt 1.2.6.3 im vorliegenden Teil der Arbeit. Hier wird der Frage nachgegangen, welche Ausnahmen vom Prinzip der Komplementärtugenden im Speculum universale genannt werden und inwieweit der Autor dafür überzeugende Gründe anführt.
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
105
Dass diese Zusammenstellung noch verschiedene z. T. recht große Lücken aufweist, zeigt sich bspw. im Bereich der Verhaltensweisen des Äußeren Menschen, in dem bisher nur zwei Komplementärtugendpaare gefunden werden konnten. Durch eine genauere Betrachtung der Bücher 13 und 14 könnten sicherlich wichtige Neuerkenntnisse dazu gewonnen werden. Auch im Bereich der amativen und oditiven Tugenden (Buch 11) ist zu vermuten, dass genauere Textstudien gerade auf der Ebene der ‚filie‘ und ‚species‘ weitere Komplementärtugenden zutage bringen. Zudem muss im Bereich der kontemptiven Tugenden (Buch 12) noch die Frage geklärt werden, aus welcher Haupttugend sich der ‚contemptus laudis‘ und der ‚contemptus uoluptatis‘, die beide offenkundig Unterarten der Geringschätzung sind, herleiten. Schließlich wäre – darauf wurde bereits hingewiesen – in vielen Fällen noch zu klären, in welchem systematischen Verhältnis die einzelnen Tugenden zueinander stehen und wie sie inhaltlich entfaltet werden. Vor diesem Hintergrund wären auch eine genauere Durchleuchtung des Textes der Bücher 7–10 sowie der Bücher 13 und 14 auf der Suche nach Komplementärtugendpaaren und eine ausführliche inhaltliche Erläuterung des Befundes sicher gewinnbringende Unterfangen, zumal im Rahmen der vorliegen Arbeit, deren Fokus auf den affektiven Tugenden liegt, inhaltlich nicht weiter auf die einzelnen ‚uirtutes discretiue‘ und die ‚mores exterioris hominis‘ eingegangen werden kann.
1.2.4 ‚Komplementäre Sprache‘? – Stilistische Besonderheiten bei der Darstellung komplementärer Gedankengänge Es wurde bereits angedeutet, dass sich Radulfus Ardens eines bestimmten sprachlichen Stils bedient, um komplementäre Zusammenhänge zu beschreiben. Dieser Befund ist insofern interessant, da sich wichtige Aussagen zur Komplementarität über das ganze Werk verstreut finden lassen und ein genaues Bewusstsein für die sprachlichen Auffälligkeiten dabei hilft, auf diese Stellen aufmerksam zu werden. Im Folgenden wird anhand konkreter Textbeispiele gezeigt, welche Formulierungen dabei ins Auge fallen und welche Funktion sie haben. (1) In Kapitel 27 von Buch 10 äußert sich Radulfus Ardens zum komplementären Verhältnis zwischen dem Tun des Guten (‚bonum facere‘) und dem Meiden des Bösen (‚malum euitare‘). Hier zeigt sich die sprachliche Form, die Radulfus Ardens standardmäßig verwendet, um Komplementärtugenden einander zuzuweisen. Der bereits bekannte Text wird hier nochmals angeführt: Neque enim sufficit non facere malum, nisi et faciamus bonum, neque sufficit facere bonum, nisi caueamus et malum. Sed facere bonum cum euitatione mali uirtus est, euitare quoque
106
1 Anthropologische Vorbemerkungen
malum cum operatione boni uirtus est uel potius euitare malum et facere bonum, una uirtus integra et perfecta est.108
Im ersten Satz fällt eine auffällige Dopplung ins Auge: Die beiden Satzteile, die jeweils durch ein ‚neque‘ eingeleitet werden, enthalten auf den ersten Blick ein und dieselbe Information. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine zufällige oder etwa redundante Wiederholung. Die Reihenfolge der beiden Glieder – also das Tun des Guten und das Meiden des Bösen – wurde nämlich im zweiten Teilsatz vertauscht. Durch diese Formulierung verdeutlicht Radulfus Ardens mit stilistischen Hilfsmitteln die systematischen Bestimmungen, dass keine der beiden Verhaltensweisen ohne die andere eine Tugend ist und dass keine der anderen übergeordnet ist. Ohne diese ‚komplementäre Wiederholung‘ könnte nämlich das Missverständnis entstehen, dass das ‚malum euitare‘ nur ein Anhängsel des ‚bonum facere‘ ist (oder umgekehrt). Daher wiederholt er auch im zweiten Satz, dass die beiden Verhaltensweisen nur in Verbindung miteinander Tugenden sind, wobei er die Zusammengehörigkeit jeweils durch ein ‚cum‘ deutlich macht. Schließlich wiederholt er die beiden Tugenden an dieser Stelle noch ein drittes Mal, wobei er das ‚cum‘ durch ein ‚et‘ ersetzt. Diese Formulierung bildet eindeutig die daraus entstehende Verschmelzungstugend ab, also eine einzige Tugend, die beide ursprünglich gegensätzliche Aspekte als sittlich gute Handlung vollziehen kann. Während die erste Wiederholung, die die beiden Bestandteile der Tugend hervorhebt, fast bei allen Komplementärtugendpaaren zu finden ist, ist die zweite äußerst selten. (2) Die eben beschriebene Auffälligkeit findet sich jedoch nicht nur bei der Bestimmung von Komplementärtugendpaaren. Vielmehr zeigt sich immer wieder, dass der Vollzug des menschlichen Lebens im Speculum universale insgesamt aus der Perspektive der Komplementarität betrachtet wird. So wendet der Autor diesen Sprachstil auch im Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion an. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die Überlegungen zum Trost (‚consolatio‘) im 45. Kapitel von Buch 9. Radulfus Ardens beantwortet hier die Frage, wann man seine Mitmenschen trösten soll, folgendermaßen: Wenn jemand nicht im ausreichenden Maß über seine Verfehlungen trauert, darf man ihn nicht trösten, sondern muss ihn eher zurechtweisen; ein übermäßig niedergeschlagener Büßer braucht dagegen in jedem Fall Trost, um nicht völlig zu verzweifeln: Sic quoque qui rationabiliter de peccatis suis dolent, sed non satis, non indigent consolatore, sed potius correptore, ut iuxta magnitudinem culpe habeant et magnitudinem tristitie. Qui uero rationabiliter dolent, sed nimis, consolari debent, ne cadant in abyssum desperationis. Vtrumque igitur magnum est uitium sicut consolari eum qui magis mestificandus est, sic magis mestificari eum qui potius consolandus est.109
108 Spec. uniu. 10, 27 (CCM 241A, p. 554 f.). 109 Spec. uniu. 9, 45 (CCM 241A, p. 439).
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
107
Auch hier lässt sich eine wiederholende Struktur erkennen: Radulfus Ardens steckt in den ersten beiden Sätzen mithilfe eines Parallelismus die beiden Szenarien ab, in denen man entweder als Kritiker (‚correptor‘) oder als Tröster (‚consolator‘) tätig werden soll. Dabei geht es ihm weniger um konkrete Beispiele als vielmehr um die Grundstruktur der Handlung. Im dritten Satz greift er die beiden Handlungen nochmals auf, betrachtet sie nun allerdings aus der Perspektive, dass sie kontraproduktiv werden, also anstatt ihrer eigentlich angezielten positiven Wirkung noch mehr Schaden bewirken. Sie können damit als schwerwiegende Laster (‚magna uitia‘) im Bereich des zwischenmenschlichen Verhaltens gelten. Daraus lässt sich ableiten, dass nicht nur die charakterliche Verfassung des einzelnen Menschen komplementär verfasst ist, sondern dass auch soziales Handeln durch Gegensätze bestimmt ist, die ins Gleichgewicht gebracht werden müssen. (3) Ähnliche Formulierungen lassen sich auch bei der Klärung der Frage erkennen, wie der Mensch mit den äußeren Einflüssen (‚occasiones‘)110 umgehen soll, die zur Entstehung von Tugenden oder Lastern beitragen. Radulfus Ardens hat hier Vorprägungen oder Einseitigkeiten vor Augen, denen man durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder den Lebensbedingungen in seiner Heimat ausgesetzt ist und die im Laufe des Lebens ausgeglichen werden müssen. Exemplarisch werden hier die beiden Entwicklungsrichtungen angeführt, die Radulfus Ardens solchen Menschen empfiehlt, die entweder in einer kalten oder einer zu warmen Region aufgewachsen sind und von daher über bestimmte einseitige Charaktereigenschaften verfügen. Die entsprechende Textstelle findet sich im 25. Kapitel von Buch 2: Qui uero sub frigida zona natus est, non in malum, sed in bonum fortitudinem et constantiam innatam sibi exerceat studioque temperantie mansuetudinisque audaciam et feritatem compescat naturalem. Qui autem sole calescit, propriore innatam leuitatem studio constantie naturalemque lasciuiam corporali castigatione satagat temperare.111
Abgesehen von der Fragwürdigkeit der hier von Radulfus Ardens vorgenommen Zuweisungen lässt sich an dieser Stelle zweifelsfrei erkennen, dass auch der Umgang mit den äußeren Lebensumständen komplementäres Handeln erfordert. Nur dadurch können die mehr oder weniger zufällig wirksamen äußeren Einflussfaktoren in Richtung der Tugenden gelenkt werden. Aus stilistischer Perspektive ist hier darauf hinzuweisen, dass die für Komplementarität eigentlich charakteristische Wiederholung fehlt bzw. nur angedeutet ist; jedoch lässt sich eindeutig eine gegensätzliche Anordnung der gewählten ‚occasiones‘ erkennen, die auf den komplementären Hintergrund hinweist.
110 Vgl. dazu auch ERNST, Sittlichkeit und Kontingenz 279–285. 111 Spec. uniu. 2, 25 (CCM 241, p. 111 f.).
108
1 Anthropologische Vorbemerkungen
(4) Diese Gegenüberstellung von an sich gegensätzlichen bzw. widersprüchlichen Elementen kommt im Speculum universale häufig vor und lässt ebenfalls auf komplementäre Denkstrukturen schließen. Ein gutes Beispiel dafür ist das 3. Kapitel von Buch 4. Hier führt Radulfus Ardens aus, dass kein noch so fleischlich gesinnter Mensch die Fähigkeiten zur geistigen Leitung – hier einfach als ‚diese Dinge‘ (‚ea‘) bezeichnet – von Grund auf verlieren kann und kein noch so geistig gesinnter Mensch darin völlige Perfektion erreichen kann: Quod sicut quilibet quantumcumque carnalis ea penitus nequit amittere, ita nec quilibet quantumcumque spiritualis ualet hac in uita perfecte possidere.112
Diese beiden Aussagen sind eigentlich paradox: Die geistige Vollkommenheit folgt ja gerade daraus, dass der Geist die Leitung über das Fleisch übernimmt, während eine fleischliche Lebensweise die Leitung des Geistes per se ausschließt; dennoch kombiniert Radulfus Ardens jeweils diese beiden Dinge – wieder in Form eines Parallelismus – miteinander. Damit bringt er zum Ausdruck, dass die Komplementarität aus dem (heilsgeschichtlich betrachtet) paradoxen Zustand entsteht, dass der Mensch zwar einerseits von Gott angenommen und erlöst ist, seine abschließende Vollendung im Eschaton jedoch noch aussteht. Dies bedeutet auch, dass es eine vollkommene Ausgewogenheit der Tugenden im Diesseits faktisch nicht geben kann. Was kann man zum Abschluss dieser sprachlich-stilistischen Spurensuche sagen? Der Begriff der ‚komplementären Sprache‘ wurde in der Überschrift bewusst in Anführungsstriche gesetzt und mit einem Fragezeichen versehen. Sicherlich lässt sich kein genau fassbarer Sprachstil ausmachen, den Radulfus Ardens etwa programmatisch für komplementäre Gedankengänge verwenden würde. Jedoch lassen sich drei wiederkehrende sprachliche Phänomene beobachten, die in Zusammenhang mit komplementären Denkstrukturen einzeln oder auch in Verbindung miteinander vorkommen, nämlich die Wiederholung, der Parallelismus und das Paradoxon. Diese Phänomene müssen nicht in jedem Fall auf Komplementarität hinweisen, können aber bei der Lektüre des Speculum universale heuristische Funktion haben, um auf Aussagen aufmerksam zu werden, die für das Verständnis der Komplementarität relevant sind.
1.2.5 Die Bedeutung der Komplementarität für den Aufbau der Tugendtraktate Das Strukturprinzip der Komplementarität schlägt sich auch im Aufbau der Tugendund Lastertraktate nieder. Welchem Schema Radulfus Ardens bei der Darstellung der einzelnen Tugenden und Laster folgt, wurde bereits in der Einleitung unter
112 Spec. uniu. 4, 3 (CCM 241, p. 236).
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
109
Punkt 1.1.1.5 beschrieben. Dass diese Fragen nicht immer in genau derselben Abfolge vorkommen, gelegentlich umformuliert, zusammengezogen oder überhaupt nicht genannt werden, spielt dahingehend keine Rolle, dass die Grundperspektive des Radulfus Ardens immer die gleiche ist und sich nicht nur in den größeren Tugendtraktaten, die mitunter ganze Bücher einnehmen, sondern auch in den kleineren, die sich nur über wenige Kapitel erstrecken, stets fünf grundlegende Gedankenschritte ausmachen lassen: In einem ersten Schritt definiert er die jeweilige Tugend und unterteilt sie systematisch in ihre Unterarten (‚species‘). Darauf folgen in einem zweiten Schritt praktische Überlegungen zu ihrer Bedeutung und Hinweise zu ihrer Einübung. Am Ende des Traktats werden die ‚termini‘ der Tugend und ihre ‚collateralis‘ behandelt. Da Radulfus Ardens in diesem Zusammenhang auch auf das ‚uitium contrarium‘ zu sprechen kommt, stellt dieser (oft sehr kurze) Passus die eigentliche systematische Synthese dar, in dem die beiden komplementären Verhaltensweisen aufeinander bezogen werden und die Bedeutung der einzelnen zuvor bestimmten guten und schlechten ‚species‘ überhaupt erst einleuchtet. Davon ausgehend folgen dann Ausführungen über das entgegengesetzte Laster, in denen der Autor die entsprechende Verhaltensweise wieder zuerst bestimmt und dann praktisch erläutert. Daraus folgt, dass die Tugend- und Lastertraktate aus systematischer Perspektive immer zusammengehören und die Ausführungen zur Komplementarität die Mitte oder das Zentrum des gesamten Abschnitts bilden. Ganz grundsätzlich betrachtet ist daher auch die Rede von Tugend- und Lastertraktaten in gewisser Weise irreführend: Es wird ja nicht eine tugendhafte einer lasterhaften Verhaltensweise gegenübergestellt, sondern es werden vielmehr zwei Verhaltensweisen zunächst neutral beschrieben. Erst danach erfolgt eine ethische Bewertung ihrer Erscheinungsformen, die schließlich als Komplementärtugenden und benachbarte bzw. entgegengesetzte Laster aufeinander bezogen werden. Radulfus Ardens selbst spricht offensichtlich auch nur deshalb von Tugend- und Lastertraktaten, weil manche Charaktereigenschaften traditionell eher als Laster, andere eher als Tugenden gelten. In jedem Fall tritt aber klar hervor, dass die Tugendtraktate von ihrer systematischen Struktur, aber auch von ihrer äußeren Erscheinung her analog zum Schema der Komplementärtugenden aufgebaut sind. Dieser Zusammenhang wird mit der folgenden Darstellung veranschaulicht, in der wegen der eben angedeuteten Missverständlichkeit die Begriffe Tugend und Laster in Anführungsstriche gesetzt wurden; systematisch korrekter wäre es wohl, ‚Verhaltensweise 1‘ und ‚Verhaltensweise 2‘ zu schreiben.
110
1 Anthropologische Vorbemerkungen
Abb. 3: Der Aufbau der Tugendtraktate und das Komplementärtugendschema.
Obgleich sich Johannes Gründel – wie bereits in der Einleitung erwähnt – ebenfalls mit dem methodischen Vorgehen des Radulfus Ardens und dem Aufbau seiner Tugend- und Lastertraktate beschäftigt hat, ist ihm dieser Zusammenhang entgangen.113 Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass in vielen Traktaten die Abhandlungen über das Laster stark verkürzt sind oder auch ein eigenes Kapitel zur Komplementärtugend fehlt. Zusätzlich wird die Gliederungsstruktur noch dadurch unübersichtlich, dass häufig Untertraktate über Tochtertugenden (‚filie‘) oder weitere Unterarten (‚species‘) eingefügt werden. Dabei handelt es sich jedoch um eine Detailbeobachtung, die für das Verständnis der speziellen Tugendlehre nicht unwichtig ist und in vielen Fällen Aufschluss über den systematischen Zusammenhang einzelner Passagen gibt, die auf den ersten Blick voneinander getrennt erscheinen.
1.2.6 Weitere für das Verständnis der Komplementarität relevante Textstellen Dass die Bedeutung der Komplementarität im Ansatz des Radulfus Ardens erst relativ spät erkannt wurde, liegt wie gesagt in erster Linie daran, dass sich nur wenige allgemeine Aussagen dazu finden und diese zudem mühsam aus den über 1100 Kapiteln des Werkes herausgelöst werden müssen. Offensichtlich sah der Autor die Denkstruktur als weitgehend selbsterklärend an, sodass er sie v. a. praktisch anwandte und im Zuge dessen die ein oder andere allgemeine Aussage traf. In den folgenden drei Abschnitten wird der Versuch unternommen, die aufgefundenen Aussagen unter drei Gesichtspunkten zu bündeln und dabei noch einige Aspekte zu ergänzen, die bisher noch nicht erwähnt oder nur angedeutet wurden. 113 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 37 f.
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
111
1.2.6.1 ‚Komplementäre Didaktik‘ – Praktische Hinweise zur Selbstreflexion, zum guten Unterricht und zur Austilgung einzelner Laster Dass Buch 9 aufschlussreiche allgemeine Aussagen zur Lehre von den Komplementärtugenden enthält, wurde bereits an der ausführlichen Bestimmung von ‚prudentia‘ und ‚simplicitas‘ deutlich. Zudem gibt Radulfus Ardens in diesem Buch mehrere praktische Hinweise zum Umgang mit Tugenden und Lastern, die direkt auf deren komplementäre bzw. gegensätzliche Verfasstheit zugeschnitten sind. (1) Hier ist zunächst Kapitel 31 zu nennen. Dort geht der Autor der Frage nach, aus welchen Bestandteilen die Kenntnis besteht, mit dem man seine innere Wohnstatt – also die Kräfte und Tätigkeiten der Seele – richtig überwachen kann. Diese Kenntnis (‚notitia domicilium suum custodiendi‘) ist dabei eine von drei Unterarten der geistigen Einsicht (‚intelligentia‘)114, die wiederum eine von drei Arten der Klugheit ist115. Sie spaltet sich ihrerseits in vier Unterarten auf: erstens die Bestimmung (‚distinctio‘), die Gut und Böse bzw. Tugend und Laster voneinander absondert; zweitens die Abwägung (‚libratio‘), die das weniger Gute vom Besseren unterscheidet; drittens die Vorsicht (‚cautio‘), die wahre und scheinbare Güter bzw. Übel voneinander trennt und viertens die Umsicht (‚circumspectio‘), die dafür sorgt, dass die jeweilige Tugend den Mittelweg einhält.116 Diese vier Tugenden bilden den Apparat, mit dessen Hilfe der Mensch das rechte Verhältnis in jeder komplementär verfassten Tugend verwirklichen kann, wobei die letzten beiden eine besonders wichtige Rolle spielen. Dass die ‚cautio‘ wahre von scheinbaren Gütern bzw. wahre von scheinbaren Übeln unterscheidet, ist so zu verstehen: Sie durchleuchtet jede Handlung, die bspw. auf den ersten Blick klug erscheint, ob auch ein Aspekt ihrer Komplementärtugend darin enthalten ist, in diesem Fall also ein Aspekt der Aufrichtigkeit. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich nicht um eine wahrhaft kluge (‚uere prudens‘), sondern vielmehr um eine scheinbar kluge, nämlich verschlagene Handlung. Ebenso ist es mit einer Handlung, die auf den ersten Blick aufrichtig erscheint: Wenn sie nicht in irgendeiner Hinsicht klug ist, ist sie als dumm einzustufen.117 Die konkrete Aufgabe der Vorsicht besteht also darin, die Tugenden vor ihren ‚uitia collateralia‘ zu 114 Spec. uniu. 9, 13 (CCM 241A, p. 372): „Tres quoque sunt species prudentie: Sapientia, intelligentia, scientia. […] Est igitur sapientia de diuinis, intelligentia de spiritualibus, scientia de terrenis.“ 115 Spec. uniu. 9, 29 (CCM 241A, p. 404): „Intelligentia uero quantum ad presens pertinet, interioris hominis est doctrina. Cuius tres sunt partes: notitia sui, notitia domicilium suum regendi, notitia custodiendi.“ 116 Spec. uniu. 9, 31 (CCM 241A, p. 409 f.): „Sane distinctio bona a malis et uirtutes a uitiis separat. Libratio uero maiora bona a minoribus et minora mala a maioribus segregat. Cautio uera bona ab apparentibus et apparentia mala a ueris examinat. Circumspectio inter uitia contraria mediam rectamque uiam sine exorbitatione perambulat.“ 117 Spec. uniu. 9, 31 (CCM 241A, p. 410): „Si uelis discernere de aliquo callido an sit uere prudens, considera utrum habeat simplicitatem prudentie collateralem quam, si pariter habeat, uere prudens est, si careat, uersutus est, non prudens.“ Diese Unterscheidung wendet er unmittelbar im Anschluss noch auf das Komplementärtugendpaar Gerechtigkeit – Barmherzigkeit an.
112
1 Anthropologische Vorbemerkungen
schützen. Diese Eigenschaft ist umso mehr nötig, weil sich die Laster häufig unter dem Deckmantel ihrer benachbarten Tugend verbergen. Radulfus Ardens zählt im Anschluss mehrere Beispiele dafür auf: So will bspw. der Grausame gerecht erscheinen, der Träge sanftmütig, der Verschwender großzügig, der Neugierige interessiert usw.118 Erst auf dieser Grundlage ist die Umsicht in der Lage, die jeweilige Tugend auf dem Mittelweg entlangzuführen. Sie bildet die Instanz, die den Menschen vor einer Überkompensation schützt. Ist nämlich einmal die Gefahr des ‚uitium collaterale‘ bekannt, neigen dumme Menschen (‚stulti‘) dazu, ins gegenteilige Extrem zu verfallen und sich so auf das ‚uitium contrarium‘ hinzubewegen. Dem Klugen (‚prudens‘) gelingt es jedoch, die an sich positive Entwicklungsrichtung weg vom benachbarten Laster so zu lenken, dass er nicht dem entgegengesetzten Laster verfällt. Auch dafür werden Beispiele angeführt: So meidet der Kluge z. B. den Geiz ohne verschwenderisch zu werden und weist die Grausamkeit von sich, ohne zu nachsichtig zu werden.119 Mit seinen Überlegungen zu den beiden Tugenden Vorsicht und Umsicht liefert Radulfus Ardens also eine Anleitung zur Selbstreflexion und zur Kontrolle des eigenen Handelns. In diesen Ausführungen zeigt sich, dass die komplementäre Konzeption der Tugendlehre in ihrer systematischen Herleitung zwar voraussetzungsreich und komplex anmutet, ihre praktische Anwendung im Alltag jedoch ohne weiteres einleuchtend ist. (2) Weitere interessante Details liefert Kapitel 39, das zum Traktat über den guten Lehrer bzw. über den guten Unterricht gehört (c. 36–49). Den Unterricht behandelt Radulfus Ardens als dritten Gebrauch der Klugheit (‚tertius usus prudentie‘) und hat dabei in erster Linie die Unterweisung im Bereich des sittlichen Verhaltens bzw. der Tugenden im Blick.120 Die Ausführlichkeit dieser Darlegungen wurde bereits bei den einleitenden Gedanken zur Biografie des Autors als Indiz dafür gewertet, dass er möglicherweise selbst als Lehrer bspw. an einer Kathedralschule oder in der Priesterausbildung tätig war.121 Weil er hier in Kapitel 39 empfiehlt, den Unterricht
118 Spec. uniu. 9, 31 (CCM 241A, p. 410 f.): „Nam sub pretextu iustitie crudelitas tegitur et remissa segnicies mansuetudo creditur. Superbus uult se credi constantem, prodigus liberalem, auarus diligentem, temerarius fortem, inhumanus iustum, gulosus humanum, ignauus quietum, timidus cautum, impudens fidentem, procax liberum, uerbosus eloquentem, curiosus studiosum.“ 119 Spec. uniu. 9, 31 (CCM 241A, p. 411): „Circumspectio uero inter duo uitia contraria sic mediam et rectam tenet uiam, quod non declinat ad dextram nec ad sinistram. […] Sapiens uero sic fugit uersutiam, quod non incurrit hebetudinem, sic fugit crudelitatem, quod non incurrit laxitudinem, sic fugit impetuositatem, quod non incurrit timiditatem, sic fugit auaritiam, quod non incurrit prodigalitatem. Mediam uero rectamque uiam tenere inter uitia poterit, si circumspectans inter terminos uniuscuiusque uirtutis sese cohibuerit […].“ 120 Spec. uniu. 9, 36 (CCM 241A, p. 417): „Tertius usus prudentie est prudenter docere.“ 121 Vgl. dazu Punkt 2.2.2 in der Einleitung. Zudem wird der Traktat über den guten Lehrer im Schluss der Arbeit noch einmal ausführlicher thematisiert.
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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nach komplementären Gesichtspunkten zu strukturieren, wurde auch in der Formulierung der Überschrift des vorliegenden Unterkapitels die Frage nach einer ‚komplementären Didaktik‘ gestellt. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass der gute Lehrer drei Dinge lehren muss, nämlich die Heilige Schrift (‚uerba diuina‘) sowie für die Zuhörer nützliche (‚utilia‘) und geeignete Dinge (‚conuenientia‘).122 Das Adjektiv ‚utilis‘ ist hier im Sinne von ‚für das sittliche Vorankommen nützlich‘ zu verstehen, während die Bestimmung ‚conueniens‘ so gemeint ist, dass die ethische Unterweisung an den charakterlichen Eigenschaften der Schüler ausgerichtet werden muss. Hat man also bspw. einen übermäßig sparsamen bzw. geizigen Schüler vor sich, muss man ihn eher in Richtung der Freigiebigkeit bewegen. Schwierig wird es jedoch dann, wenn man mehrere Schüler unterrichtet, die evtl. einander entgegengesetzte Laster besitzen. In einem solchen Fall ergibt sich nämlich folgendes Problem: Tadelt man die geizigen bzw. allzu sparsamen Schüler, fühlen sich die verschwenderischen ermuntert. Ermahnt man jedoch die verschwenderischen Schützlinge, sparsamer zu sein, fühlen sich die geizigen bestätigt. Daraus folgert Radulfus Ardens, dass man niemals ein einzelnes Laster tadeln darf, ohne auch das gegenüberliegende zu erwähnen, und überträgt diese Regel auch auf den Bereich des Predigens.123 Es wäre ein durchaus interessanter Untersuchungsgegenstand, seine eigenen Predigten auf diese Methode hin zu untersuchen. Unabhängig davon zeigt sich jedoch an diesen Ausführungen, dass nicht nur der gute Lehrer, sondern überhaupt jeder Mensch bei seinem Handeln die komplementäre Verfasstheit menschlichen Verhaltens und die charakterlichen Eigenheiten seiner Mitmenschen im Blick haben muss. Als Vorbild verweist der Autor hier übrigens auf Christus, der diese Regel offensichtlich beherzigt hat und seine Zuhörer in Mt 10, 16 dazu auffordert, klug wie die Schlangen und ehrlich wie die Tauben zu sein.124 (3) In Kapitel 46 – also gegen Ende des Traktats über den guten Lehrer – gibt Radulfus Ardens einige Hinweise zur Bekämpfung einzelner Laster bei den Mitmen122 Spec. uniu. 9, 39 (CCM 241A, p. 422): „Que quoque docere debeat prudens aduertat. Debet siquidem docere diuina uerba utilia, conuenientia. Debet quoque docere quod a Deo preceptum est, quod utile, quod conueniens auditoribus est.“ 123 Spec. uniu. 9, 39 (CCM 241A, p. 423): „Et hoc quidem facile est doctori, cum singulos affatur singulariter. Ceterum difficile uidetur hoc obseruare, quando docet plures communiter uitiis contrariis seruientes. Nam quando arguit quosdam seruientes uni uitio, non arguit, immo commendare uidetur seruientes contrario uitio, ut si arguat auaros uidebitur prodigis quod faueat eis, et si arguat prodigos uidebitur auaris, quod consentiat eis. Eapropter qui loquitur ad populum, numquam execretur unum uitium, quin statim execretur et contrarium, ut uidelicet uitiis seruientes contrariis et conuenientibus cure medicinis mediam uirtutem docens obseruandam.“ 124 Spec. uniu. 9, 39 (CCM 241A, p. 423 f.): „Quod Dominus suo docuit exemplo. Nam loquens communiter pluribus in quibus quidam erant nimis simplices et quidam nimis callidi, dixit: Estote prudentes sicut serpentes et simplices sicut columbe. Nam contra nimis simplices ait ʻestote prudentes sicut serpentesʼ, contra uero nimis callidos ait ʻet simplices sicut columbeʼ.“
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
schen am Beispiel des schlechten Zorns (‚ira mala‘). Dieses Laster galt seit der Antike als besonders zerstörerisch und wurde von daher sicher nicht zufällig ausgewählt; es wird an späterer Stelle noch genauer behandelt.125 Will man also einen zornigen Menschen von seinem Laster heilen, sind drei Dinge zu beachten: Erstens muss man ein Umfeld schaffen, das möglichst wenig Anlässe zum Zorn bietet, um zu verhindern, dass sein Laster zur Ausprägung kommt. Zweitens muss man ihn liebevoll (‚amabiliter‘) behandeln bzw. wohlwollend und geduldig (‚patienter‘) zurechtweisen, wenn er doch einmal zornig ist. Dieses gegensätzliche Verhalten führt nämlich automatisch zur Schwächung seines Lasters. Hier deutet sich bereits an, dass die Gegenmittel gegen bestimmte Laster letztlich komplementär wirksam sein müssen. Die Liebe ist nämlich die Komplementärtugend des Hasses, aus dem auch der schlechte Zorn entsteht, und ist daher dazu geeignet, dieses Laster zu bekämpfen. Drittens – und hier wird die Komplementarität noch deutlicher – muss die Heilkunst (‚cura medicinalis‘) zum rechten Zeitpunkt angewandt werden: Nachdem der ‚Patient‘ bereits vorher durch gegensätzliche Reaktionen dazu angeregt wurde, sein eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen, ist der soziale Umgang entscheidend. Von streitsüchtigen und zornigen Menschen soll er sich fernhalten und sich stattdessen mit solchen Leuten umgeben, die Träger der entsprechenden Komplementärtugenden, also der Sanftmut (‚mansuetudo‘) und der Güte (‚benignitas‘) sind. Bei der weiteren Entwicklung hat schließlich der ‚contemptus‘ einen entscheidenden Anteil: In diesem positiven sozialen Umfeld lernt er Schritt für Schritt, die weltlichen Streitigkeiten wegen Gott geringzuschätzen (‚contempnere‘) und sich dadurch weiter in Richtung der Liebe und der Sanftmut zu entwickeln.126 In diesen Bestimmungen kommt in jedem Fall deutlich zum Ausdruck, dass soziale Interaktion komplementär verfasst ist und sie auch Auswirkungen auf die eigene Charakterentwicklung hat.
125 Der Affekt des Zorns gehört zu den oditiven Emotionen und wird im zweiten Teil der Arbeit unter Punkt 2.4 dargestellt. 126 Spec. uniu. 9, 46 (CCM 241A, p. 447 f.): „Infirmi quoque moribus non sunt contempnendi, sed cum compassione supportandi et confirmandi. Et primo quidem omnes offendendi occasiones de uia eorum debemus amouere; secundo eos in uitio compatienter portare; tertio quando oportunum fuerit, eis curam medicinalem adhibere, ut uerbi gratia si fuerit infirmus uitio irositatis. Primo debemus omnes irascendi occasiones ab oculis eius amouere, ne scilicet aliquid dicamus uel faciamus, unde ad iracundiam prouocetur; secundo si tamen irascitur, eum ferre patienter, ut uidelicet nullus respondeat uel aliquid obloquatur ei; tertio postquam quieuerit eius iracundia, seorsum et amabiliter est corrigendus, ut scilicet se sine causa insaniuisse et se tam patienter supportatum esse intelligat et erubescat. Cura uero medicinalis sic ei adhibenda est, ut scilicet primo radicem irositatis, impatientiam scilicet a corde suo diuellere discat attendendo scilicet quantum sit impatientie uitium et in quanta mala hominem precipitet, de quibus in sequentibus dicetur. Secundo cuncta iracundie fomenta occasionesque deuitet et consortia uerbosorum litigiosorumque declinet et cum uiris mansuetis conuersetur et benignis. Tertio paulatim discat extinguere in se uitium irositatis per uirtutem mansuetudinis cuncta propter Deum aduersantia pro nichilo reputando, cum gratiarum actione suscipiendo et ea in lucrum anime conuertendo.“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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1.2.6.2 Die Komplementarität im Verhältnis zwischen Gott und Mensch (1) Auch die Beziehung des Menschen zu Gott ist komplementär bestimmt. Dies wird bspw. im 8. Kapitel von Buch 10 deutlich. Radulfus Ardens beschäftigt sich hier in Zusammenhang mit den Pflichten (‚officia‘) der Gerechtigkeit, die im Evangelium gefordert ist (‚iustitia euangelii‘), mit der Verehrung, die wir Gott schulden (‚religio‘). Die ‚religio‘ besteht wiederum aus drei Aspekten, nämlich der Gottesfurcht (‚timor filialis‘), dem liebenden Gehorsam (‚obsequtio diligens‘) und der besonderen Verehrung (‚ueneratio superexcellens‘).127 Die ersten beiden Bestandteile stehen dabei in einem komplementären Verhältnis zueinander und werden auch bei der Etymologie des Wortes ‚religio‘ am Anfang des unten angeführten Zitats besonders hervorgehoben. Der Mensch muss Gott also zum einen fürchten wie ein Kind seinen Vater. Der Grund dafür ist, dass der Mensch gesündigt hat und Gott über ihn richtet. Zum anderen muss er ihn aber auch lieben und darf nicht aus Zwang gehorchen, da Gott auch barmherzig ist und die Sünden vergibt. Gerät einer dieser beiden Aspekte aus dem Blick, wird der Mensch entweder sorglos und nachlässig (‚securus et neglingens‘) oder durch die übermäßige Furcht vor Gott zum verzweifelten Sklaven dieser Angst (‚desperans‘). Stattdessen müssen sich beide Teile im Einklang miteinander befinden, sodass der Mensch Gott mit Furcht liebt (‚diligere cum timore‘) und mit Liebe fürchtet (‚timere cum dilectione‘).128 (2) Ein weiteres interessantes Detail findet sich im 86. Kapitel von Buch 11, das zum Traktat über das Almosen (c. 48–96) gehört. Hier führt der Autor verschiedenste Gründe dafür an, warum man überhaupt Almosen (‚elemosina‘) geben soll und kommt dabei auch auf zwei Motivationen zu sprechen, die auf den ersten Blick nicht miteinander in Einklang zu bringen sind: Denn einerseits ist man angehalten, nicht aus Eigeninteressen zu geben, sondern nur um Gottes Willen (‚propter deum‘). Zum anderen tun aber auch viele Menschen gute Werke, um das Seelenheil zu erlangen (‚propter salutem‘). Dieser scheinbare Widerspruch löst sich dadurch auf, dass sich die beiden Motivationen komplementär miteinander verbinden lassen: Richtig verstandene Liebe zu sich selbst (‚recte sese diligere‘) besteht nämlich darin, Gott zu
127 Spec. uniu. 10, 8 (CCM 241A, p. 519.521): „Porro Deo debemus religionem […]. Religio uero dicitur eo quod nos liget et religet Deo: liget timore, religet etiam amore. Porro religio in tribus constitit: In Dei timore, in obsequtione, in ueneratione; in timore filiali, in obsequtione diligenti, in ueneratione superexcellenti. Tunc quippe Deum colimus ueraciter, quando eum timemus filialiter, ei obsequimur diligenter, eum ueneramur superexcellenter.“ 128 Spec. uniu. 10, 8 (CCM 241A, p. 521): „Filialiter Deum timemus, quando eum timemus cum dilectione et diligimus cum timore, utrumque enim necessarium est. Nam sicut timor sine dilectione facit hominem seruum et exheredem, sic dilectio sine timore facit eum securum et negligentem.“ Ähnlich äußert sich Radulfus Ardens übrigens auch in ebd. 11, 133 (P, fol. 96vbf.) in Zusammenhang mit dem Laster der Vorwegnahme (‚presumptio‘): „Qui enim presumit, ita credit Deum misericordem quod non iustum; qui uero desperat, ita credit eum iustum quod non misericordem; et sic uterque peccat in Spiritum sanctum, cum sacra scriptura eum cotidie predicet iustum et misericordem.“
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
lieben (‚deum diligere‘). Auch hier lässt sich im Text die für komplementäre Zusammenhänge charakteristische Wiederholung der Elemente in vertauschter Reihenfolge finden. In ähnlicher Weise verhält es sich übrigens auch beim Verhältnis zwischen Eigen- und Nächstenliebe.129 Radulfus Ardens verbindet hier seine Lehre von der Komplementarität der Tugenden mit dem biblischen Gebot der Gottes-, Nächstenund Selbstliebe. 1.2.6.3 Überlegungen zu den Ausnahmen vom Prinzip der Komplementärtugenden Die abschließenden Gedanken dieses Abschnitts kreisen um die Frage, auf welcher Grundlage Radulfus Ardens Ausnahmen vom Prinzip der Komplementärtugenden benennt und wie nachvollziehbar und konsequent die Gründe sind, die er dafür anführt. Dabei steht im Hintergrund, dass komplementäre Strukturen – so viel wurde an den bis dahin besprochenen Textstellen deutlich – offensichtlich das gesamte menschliche Dasein durchziehen und es von daher naheliegend scheint, die Komplementarität als ein heuristisches Prinzip zu betrachten, mit dessen Hilfe das menschliche Verhalten als Ganzes auf seine sittliche Qualität hin durchleuchtet werden kann. Mit anderen Worten könnte man auch fragen: Gibt es tatsächlich Ausnahmen vom Prinzip der Komplementarität und, wenn ja, welche belastbaren Gründe gibt es dafür? Um diese Frage zu klären, werden im Folgenden die im Speculum universale genannten Ausnahmen genauer beleuchtet. Zunächst einmal fällt ins Auge, dass Radulfus Ardens an unterschiedlichen Stellen verschiedene Ausnahmen benennt: So zählt er im 21. Kapitel von Buch 1 Glaube (‚fides‘), Liebe (‚caritas‘) und Keuschheit (‚castitas‘) auf.130 Dabei scheint es sich jedoch eher um Beispiele als um eine vollständige Sammlung zu handeln, wie an dem einleitenden ‚ut‘ erkennbar ist. Der thesenhafte Charakter dieser Überlegungen wird auch daran deutlich, dass der Autor zum Abschluss des Kapitels ankündigt, im weiteren Verlauf des Werkes zu klären, ob sich wirklich bei allen Tugenden ein Zuviel und ein Zuwenig bestimmen lässt.131 Im 74. Kapitel von Buch 14 führt er hingegen explizit drei Ausnahmen auf, nämlich Gottesliebe (‚dilectio dei‘), Maßhaltung (‚temperantia‘) 129 Spec. uniu. 11, 86 (P, fol. 82va): „Hoc autem aduertendum est quod qui propter Deum donat, propter animam suam donat, et qui propter animam suam donat, propter Deum donat, quoniam Deum diligere est sese diligere et sese recte diligere est Deum diligere. […] Alioquin utrumque uerum est uidelicet, quod beneficium est, quod quis donat et causa sui spirituali et causa illius, cui donat. Quando enim recta intentione alii prodesse intendo propter Deum hoc facio et quando propter Deum hoc facio, propter meam salutem hoc facio. Vnde sequitur: Quia quod benefacio alii causa sui, facio quoque et causa mei nec possum recte proficere alii quin prosim et michi.“ 130 Spec. uniu. 1, 21 (CCM 241, p. 31): „Ceterum haec diffinitio non omni uirtuti est conueniens, sed tantum illas uirtutes que intus minus et magis collocate sunt, comprehendens. Porro nonnulle uirtutes sunt que etsi minoritatis tamen transgressionem nimietatis habere non uidentur ut fides, caritas, castitas. Quis enim potest nimis Deum credere, nimis diligere, nimis castus esse?“ 131 Spec. uniu. 1, 21 (CCM 241, p. 31): „Ceterum utrum omnes uirtutes habeant utrumque terminum scilicet minoritatis et nimietatis, sequentia demonstrabunt.“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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und Keuschheit (‚castitas‘).132 Während also in Buch 1 die ‚temperantia‘ fehlt, kommt hier die ‚fides‘ nicht mehr vor. Um diesen Unterschied zu erklären, ist ein Blick in die Kapitel über die Tugenden nötig, die in den beiden Aufzählungen genannt sind. (1) Dass Radulfus Ardens seine Annahme hinsichtlich des Glaubens zurückgenommen hat, zeigt sich zuerst am Ende von Buch 8. Dort benennt er zwar keine konkrete Komplementärtugend des Glaubens133, bestimmt aber eindeutig seine ‚termini‘ und widmet diesen Überlegungen das gesamte Kapitel 116. Demnach wäre ein Zuviel an Glauben mit einer dummen Leichtgläubigkeit (‚stulta credulitas‘) gleichzusetzen, während das Zuwenig als bösartiger, starrsinniger Unglaube (‚mala incredulitas‘) bezeichnet werden könnte.134 Nach dieser Bestimmung beschäftigt sich der Autor im weiteren Verlauf des Kapitels mit Häresien und erklärt deren Entstehung aus Unbelehrbarkeit und der Ablösung theologischer Spekulationen von patristischen Autoritäten wie bspw. Hilarius von Poitiers und Augustinus.135 Dieser Kontext könnte dafür verantwortlich sein, dass hier keine Komplementärtugend genannt ist. Denn obwohl man durchaus ein gesundes Maß an Zweifel oder kritischer Hal-
132 Spec. uniu. 14, 74 (P, fol. 201ra): „Ecce tres uirtutes inuenimus que nec collaterales uirtutes nec terminos habere possunt. Prima est dilectio Dei. Deus enim, et si possit minus diligi, nimis tamen diligi non potest. Secunda est temperantia. Temperantia enim, cum sit collateralis et terminus ceterarum uirtutum, nec uirtutem collateralem nec terminos habet, cum nos tamen inproprie et per acommodationem assignauerimus ei sufficientiam uirtutem collateralem. Tertia est castimonia de qua modo loquuti sumus.“ 133 Die im Folgenden genannte Grenzen beziehen sich auf die ‚fides credita‘, also das Verhältnis zu den Glaubensinhalten (‚articuli fidei‘). Den subjektiven Glauben (‚fides credens‘) hatte Radulfus Ardens bereits im 7. Buch in Kapitel 6 im Anschluss an Hugo von Sankt Viktor als ein Mittleres zwischen bloßer Meinung (‚opinio‘) und bewiesenem Wissen (‚scientia‘) bestimmt. Vgl. dazu Spec. uniu. 7, 6 (CCM 241A, p. 12): „Fides autem est perceptio rei ex causis tantum probabiliter precedentibus uel ex signis tantum probabiliter sequentibus cum certitudine. Fides igitur media est inter scientiam et opinionem. In hoc enim, quod non est ex necessariis, est citra scientiam et in hoc quod habet certitudinem, est supra opinionem habens communem cum scientia certitudinem et habens commune cum opinione, quod tantum ex probabilibus est.“ 134 Spec. uniu. 8, 116 (CCM 241A, p. 342): „Fidei uero credite termini sunt stulta credulitas et mala incredulitas inter quas fides media est. Stulta quippe credulitas credit tam credenda quam non credenda, mala uero incredulitas nec credenda nec non credenda credit, fides uero credit credenda et non credit non credenda.“ In Kapitel 118 wird zudem die Ungläubigkeit (‚infidelitas‘) als ‚uitium contrarium‘ des Glaubens benannt: ebd. 8, 118 (CCM 241A, p. 347): „Est autem fidei contraria infidelitas. Et quemadmodum fides est origo sapientie, iustitie ceterarumque omnium uirtutum, sic infidelitas est origo stultitie, iniustitie ceterorumque omnium uitiorum.“ 135 Spec. uniu. 8, 116 (CCM 241A, p. 342–344): „Amplius tres sunt gradus et modi fidei secundum tres gradus credentium: Credentes enim alii sunt rudes, alii sunt mediocres, alii sunt prudentes. Sane modus fidei rudium continetur in symbolo apostolorum, modus fidei mediocrum continetur in symbolo Nicena et Athanasiana, modus fidei prudentium continetur in libris orthodoxorum patrum, ut in Hilario De trinitate, Augustino De trinitate etc. […] Itaque non transeamus terminos fidei quos posuerunt patres orthodoxi, nec queramus Deum questionibus, sed magis bona uita et moribus, non disputationibus, sed bonis operibus.“
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tung als Komplementärtugend des Glaubens annehmen könnte, formuliert Radulfus Ardens diesen naheliegenden Gedanken wohl deshalb nicht aus, um nicht aus Versehen Häretiker dazu zu motivieren, Glaubenswahrheiten in Zweifel zu ziehen. Diese Vermutung bestätigt sich zudem durch eine kurze Bemerkung im 99. Kapitel von Buch 10. Dort geht es eigentlich um die Tugend der Richtigkeit (‚rectitudo‘), eine Unterart der Maßhaltung (‚temperantia‘). Sie ist dafür zuständig, dass alle Tugenden innerhalb ihrer Grenzen und damit Komplementärtugenden bleiben. Um die Auswirkung dieser Tugend zu beschreiben, führt er einige Beispiele an, wobei er auch erwähnt, dass die gute Gläubigkeit (‚bona credulitas‘) durch eine gute Ungläubigkeit (‚bona incredulitas‘), also ein gesundes Maß an Zweifel gegenüber Unwahrheiten oder Aberglauben, korrigiert werden muss. Gerät diese Balance aus dem Gleichgewicht, entsteht auf der einen Seite das Laster der schlechten oder dummen Leichtgläubigkeit (‚mala / stulta credulitas‘) und auf der anderen Seite das der schlechten Ungläubigkeit (‚mala incredulitas‘), womit ein unzugänglicher und hartnäckiger Unglaube gemeint ist.136 Demnach kann sowohl die Aussage in Buch 1, derzufolge der Glaube kein Korrektiv benötigt, als auch die fehlende Erwähnung ihrer ‚collateralis‘ in Buch 8 als zeit- bzw. kontextbedingte Aussparung betrachtet werden. Das am Ende von Buch 8 und im 99. Kapitel von Buch 10 angedeutete Komplementärtugendpaar könnte etwa wie folgt aussehen: ‚stulta / mala credulitas‘
‚fides‘ / ‚bona credulitas‘
‚bona incredulitas‘
‚mala incredulitas‘ / ‚infidelitas‘
(2) Die Maßhaltung, die in der Aufzählung in Buch 14, aber nicht in jener in Buch 1 genannt ist, wird in Buch 10 genauer behandelt (c. 93–108). In Kapitel 107 geht es an sich um die Maßlosigkeit (‚intemperantia‘), aber in diesem Zusammenhang setzt sich Radulfus Ardens auch mit der Frage auseinander, ob die Maßhaltung tatsächlich weder eine Komplementärtugend noch ‚termini‘ hat. Zunächst scheint für diese Annahme zu sprechen, dass die ‚temperantia‘ selbst dafür zuständig ist, die übrigen Tugenden ins rechte Maß zu bringen und von daher selbst kein Korrektiv benötigt.137
136 Dass hier definitiv die Tugend des Glaubens gemeint sein muss, zeigt sich daran, dass Spec. uniu. 10, 99 (CCM 241A, p. 695 f.) auch auf die anderen diskretiven Tugenden zu sprechen kommt: „Rectitudo uero est dispositio mentis ad debitum finem sine tortura tendentis. Hec autem dirigit omnes uirtutes ad debitum finem coarctans eas inter suorum metas terminorum. Hec dirigit fidei bonam credulitatem bonamque incredulitatem inter terminos male credulitatis et male incredulitatis. Hec dirigit sapientiam simplicem et simplicitatem prudentem inter terminos uersutie et stulte simplicitatis […].“ 137 Spec. uniu. 10, 107 (CCM 241A, p. 705): „Que autem sit collateralis uirtus temperantie et qui termini, querere non oportet, cum temperantia sit uirtus omnium uirtutum temperatrix et terminatrix.“
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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Aufgrund dieser einzigartigen Stellung wird sie in Buch 14 auch als Komplementärtugend und Grenze aller übrigen Tugenden bezeichnet.138 Allerdings lässt sich bei genauerer Betrachtung doch ein Element ausmachen, das die ‚temperantia‘ selbst ins rechte Maß bringt. Diese Tugend bezeichnet er als Hinlänglichkeit oder genügendes Maß (‚sufficientia‘). Ihre Notwendigkeit ergibt sich dadurch, dass es auch ein Übermaß an Mäßigung geben kann, sodass das zugeteilte Maß eben nicht mehr genügt (‚insufficientia‘). Dies ist bspw. der Fall, wenn jemand z. B. so streng fastet, dass er seinen Körper völlig abmagert und dadurch zerstört. Dementsprechend bestünde ein zu geringes Maß an ‚temperantia‘ darin, sich zu sehr zu verwöhnen (‚indulgere‘) und dadurch in Abhängigkeit zu seinen körperlichen Bedürfnissen zu geraten (‚intemperantia‘). Auf diese Weise bestimmt er auch die Grenzen der Maßhaltung und bezeichnet die Verschmelzungstugend als ‚temperantia sufficiens‘ bzw. ‚sufficientia temperans‘.139 Radulfus Ardens betont, dass das rechte Maß in der ‚temperantia‘ bei jedem Menschen individuell festgelegt werden muss und dass die Maßhaltung nur in symbiotischer Verbindung mit der Hinlänglichkeit eine vollwertige Tugend ist.140 Obwohl er damit alle Bestandteile einer Komplementärtugend genannt hat, hält er die ‚sufficientia‘ nur im uneigentlichen Sinne (‚improprie‘) für die ‚uirtus collateralis‘ der Maßhaltung.141 Denn ein Verständnis von Maßhaltung, das die eben genannten individuellen Unterschiede miteinschließen würde, bräuchte in der Tat keine Komplementärtugend mehr. Das Komplementärtugendpaar Maßhaltung – Hinlänglichkeit lässt sich so darstellen: ‚temperantia sufficiens‘ / ‚sufficientia temperans‘ ‚insufficientia‘
‚temperantia‘
↔
‚sufficientia‘
‚intemperantia‘
138 Spec. uniu. 14, 74 (P, fol. 201ra): „Temperantia enim, cum sit collateralis et terminus ceterarum uirtutum, nec uirtutem collateralem nec terminos habet, cum nos tamen inproprie et per acommodationem assignauerimus ei sufficientiam uirtutem collateralem.“ 139 Spec. uniu. 10, 107 (CCM 241A, p. 706): „Sunt ergo termini sufficientis temperantie et temperantis sufficientie sic esse temperantem, ne sis insufficiens, ut ille qui nimia abstinentia macerat corpus suum. Et sic esse sufficientem, ne sis intemperans, ut ille qui nimis indulget sibi. Sufficientiam uero metior secundum naturam, non secundum uitium uel opinionem.“ 140 Spec. uniu. 10, 107 (CCM 241A, p. 705 f.): „Siquis tamen instet, possumus dicere sufficientiam temperantie esse collateralem. Nam cum sint diuersi appetitus et capacitates singulorum, ideo et diuerse sufficientie diuerseque temperantie. Et quod est uni sufficiens, est alii insufficiens. Et ideo et quod est uni temperans, est alii et intemperans. Sed temperantia cum sufficientia et sufficientia cum temperantia uirtus est. Temperantia uero sine sufficientia et sufficientia sine temperantia uitium est.“ 141 Die entsprechende Bemerkung ist n. 138 zu entnehmen. Vgl. zur Sonderstellung der ‚temperantia‘ auch ERNST, Klug wie die Schlangen 50 f.
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1 Anthropologische Vorbemerkungen
(3) Bei Glaube und Maßhaltung konnte durch genauere Textuntersuchung gezeigt werden, dass Radulfus Ardens letztlich seine eigenen Aussagen zum Fehlen einer Komplementärtugend jeweils zurücknimmt bzw. relativiert. Lässt sich bei der Keuschheit (‚castitas‘ / ‚castimonia‘) eine ähnliche Beobachtung machen? Zunächst spricht in Kapitel 74 nichts dafür, da ausgeschlossen wird, dass es bei der Keuschheit ein Zuviel geben kann und zugleich betont wird, dass jeder Mensch zu wenig keusch ist.142 Allerdings findet sich auch hier eine Einschränkung, da sich die eben genannte Bestimmung v. a. auf die Keuschheit der Witwen und Jungfrauen (‚uidualis et uirginalis castitas‘) bezieht. Bei der ehelichen Keuschheit (‚castitas nuptialis‘) hingegen scheint es allzu keusch (‚nimis castus‘), dem Ehepartner den geschuldeten Beischlaf (‚debitum‘) zu verweigern.143 Daran lässt sich ablesen, dass auch diese Ausnahme dem zeitbedingten Kontext zuzurechnen ist. Weil Sexualität hier lediglich als ein ‚debitum‘ angesehen wird und nicht als beziehungsfördernde und identitätsbildende körperliche Nähe, unterlässt es der Autor, dem Gedanken, den er eigentlich selbst schon gefasst hat, weiter nachzugehen. So ließe sich bspw. eine positiv gelebte Form der Sexualität in einer festen und von gegenseitigem Vertrauen getragenen Beziehung bzw. ein positives Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit als Komplementärtugend der Keuschheit formulieren. Erst dieses Korrektiv würde die ‚castitas‘ davor bewahren, zu einer neurotischen Verklemmtheit oder Leibfeindlichkeit zu verkommen.144 Unter Hinzuziehung der Bestimmung, dass in Kapitel 76 die Lüsternheit oder Wollust (‚libido siue luxuria‘) als entgegengesetztes Laster der Keuschheit bezeichnet wird, lässt sich das – wieder nur angedeutete – Komplementärtugendpaar so darstellen: ‚nimia castitas‘
‚castitas‘
Positiv gelebte Sexualität
‚libido‘ / ‚luxuria‘
(4) Schließlich führt Radufus Ardens noch die Liebe als Ausnahme an. Diese Aussage muss allerdings präzisiert werden: Hier ist nämlich nicht die Eigen- oder Nächstenliebe, sondern ausschließlich die Liebe zu Gott gemeint, die als ‚dilectio dei‘ oder
142 Spec. uniu. 14, 74 (P, fol. 201ra): „Caret autem uirtus castimonie tam terminis quam uirtute collaterali. Et si aliquis potest esse minus castus, nemo tamen potest esse nimis castus et hoc precipue in uirginali et uiduali castitate.“ 143 Spec. uniu. 14, 74 (P, fol. 201ra): „Nam in coniugali castitate uidetur nimis castus esse qui propter continentiam coniugi deposcenti non uult debitum persoluere.“ 144 Diese Meinung vertritt auch ERNST, Klug wie die Schlangen 60: „Diese ergänzende Tugend ließe sich etwa als Wertschätzung und Bejahung der Körperlichkeit und Sexualität des Menschen oder auch als Freude an sexuellem Erleben bezeichnen, welche die Grundlage personaler Liebe bilden.“ (Vgl. auch DERS., Estote prudentes 573 f.).
1.2 Die Komplementarität der Tugenden
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als ‚caritas‘ bezeichnet wird. Diese Tugend wird gemeinsam mit ihren Unterarten in Buch 11 inhaltlich entfaltet (c. 1–27) und daher im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ausführlich besprochen.145 An dieser Stelle muss daher vorgegriffen werden: Die Gottesliebe hat tatsächlich keine Komplementärtugend. Dies wird zum einen daran klar, dass der Autor nirgends ‚termini‘ oder andere Einschränkungen erwähnt, und zum anderen haben auch alle acht aus ihr hervorgehenden Tochtertugenden (‚filie‘) keine Komplementärtugend. Systematisch begründet sich die Einzigartigkeit der Gottesliebe dadurch, dass sie die liebende Zugewandtheit des Menschen zu Gott meint und es dabei in der Tat kein Zuviel geben kann. Während bspw. die Nächstenliebe die Komplementärtugend des guten Hasses (‚bonum odium‘) benötigt, um die Sünden und Laster des Anderen nicht zugleich mit ihm zu lieben, ist eine solches Korrektiv bei Gott, der das Gute an sich ist, nicht notwendig. Gott stellt also gewissermaßen den einzigen Fixpunkt der menschlichen Existenz dar und die Liebe zu ihm bildet demnach die Grundlage aller Tugenden. Damit ist in der Gottesliebe auch die rechte Liebe zu den Mitmenschen, sich selbst und das richtige Verhältnis zu den materiellen Dingen mit eingeschlossen.146 Erstaunlicherweise kommt Radulfus Ardens selbst nicht zu diesem eigentlich einleuchtenden und naheliegenden Schluss. Stattdessen scheint er davon auszugehen, dass es mehrere Ausnahmen vom Prinzip der Komplementärtugend geben kann und folgert sogar am Ende von Kapitel 74 in Buch 14: Inde patet, quia non est proprium uirtutis esse medium uitiorum, quod querebamus, quando uirtutem diffiniebamus.147
Diese Aussage bezieht sich eindeutig auf die zweite Tugenddefinition im 21. Kapitel von Buch 1. Würde diese Schlussfolgerung zutreffen, wäre die Komplementarität definitiv kein allgemein gültiges Prinzip, aus dem sich eine systematisch kohärente Tugendlehre entwickeln lässt. Obwohl Radulfus Ardens dieses Fazit hier unmissverständlich formuliert hat, ist es letztlich nicht überzeugend. An den Textanalysen der letzten Kapitel hat sich nämlich gezeigt, dass er bei Glaube, Maßhaltung und Keuschheit selbst schon Elemente möglicher Komplementärtugenden andeutet und seine eigene Aussage relativiert. Die Einzelstellung der Gottesliebe hingegen widerspricht – gerade auch vor den eschatologischen Überlegungen im Speculum universale – der Allgemeingültigkeit des Prinzips der Komplementarität nicht, sondern begründet es aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive überhaupt erst. Denn wie be-
145 Vgl. die Punkte 2.1.1 und 2.1.2. 146 ERNST, Klug wie die Schlangen 60: „In solcher Gottesliebe kann es in der Tat kein Zuviel geben.“ 147 Spec. uniu. 14, 74 (P, fol. 201ra).
122
1 Anthropologische Vorbemerkungen
reits erwähnt, werden die Gegensätze der menschlichen Existenz und der irdischen Lebensbedingungen im Eschaton, dem Ort der wahren Gottesschau, völlig aufgehoben. Damit lässt sich schließen: Radulfus Ardens hat mit dem System der Komplementarität ein Strukturprinzip gefunden, das sich letztlich zur Beschreibung und Beurteilung jeder innerweltlichen Handlung heranziehen lässt. Überraschenderweise formuliert er diese in seinen Ausführungen stets angedeutete Erkenntnis nicht aus, sondern spricht der Komplementarität – wohl hauptsächlich aus zeitbedingten Vorbehalten – ihre allgemeine Gültigkeit ab. Es lässt sich nicht abschließend klären, warum Radulfus Ardens fast ganz am Ende seines Werkes die Geltung des Komplementaritätsprinzips in dieser Weise einschränkt. Bekanntermaßen fehlen sowohl die letzten Kapitel von Buch 14 als auch das gesamte Buch 15, sodass die Äußerung in Kapitel 74 wohl die letzte allgemeine Aussage zur Komplementarität darstellt. Ganz unabhängig davon ist die Komplementarität ein zentrales Strukturprinzip des Werkes ist und wird in weiten Teilen auch konsequent angewendet.
1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘? – Die komplementäre Anlage der menschlichen Natur und ihre heilsgeschichtliche Einbettung 1.3.1 Die drei Ebenen der Komplementarität im Wesen des Menschen Wie zu Beginn des Kapitels angekündigt, lässt sich auf der Grundlage der bisher durchgeführten Textinterpretationen verdeutlichen, in welcher Weise die Komplementarität der Tugenden in der Komplementarität der Seelenkräfte und der Natur des Menschen insgesamt angelegt ist. Letztlich – so viel kann vorweggenommen werden – lassen sich im Speculum universale Hinweise darauf finden, dass die menschliche Natur auf drei verschiedenen Ebenen komplementär angelegt ist. Die Textstellen, die diese Annahme belegen, werden in den folgenden drei Abschnitten genauer in den Blick genommen. (1) Auf einer ersten Ebene stehen die beiden Affekte Liebe (‚amor‘) und Hass (‚odium‘) in einem komplementären Verhältnis. Diese beiden Grundemotionen gehen dabei unmittelbar aus der liebenden (‚amabilitas‘) und der hassenden Seelenkraft (‚odibilitas‘) hervor und bilden die Grundlage für die amativen und oditiven Tugenden, die in Buch 11 behandelt werden. Die komplementäre Bezogenheit dieser beiden Affekte ist also von zentraler Bedeutung für die Konzeption des Werkes und hat zur Folge, dass auch die Tugenden, die aus diesen Seelenkräften hervorgehen, komplementär aufeinander bezogen sind. Trotzdem äußert sich Radulfus Ardens dazu nur an wenigen Stellen explizit. Ein erster Hinweis darauf findet sich im 41. Kapitel von Buch 1. Hier nennt der Autor mehrere Seelenkräfte des Inneren
1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘?
123
Menschen und trifft dabei die Aussage, dass sich die Fähigkeit zum Begehren (also die ‚amabilitas‘) und die Fähigkeit zu hassen einander als Gegensatz entsprechen (‚econtrario respondere‘).148 Diese Bestimmung wiederholt er beinahe identisch am Ende des Kapitels, verwendet hier aber eine leicht abgewandelte Formulierung, die jedoch offensichtlich dasselbe bedeutet (‚ex opposito respondere‘).149 Erstaunlicherweise kommt der Begriff ‚collateralis‘ an dieser Stelle noch nicht vor. Er findet sich erst in Kapitel 52. Dort geht es zwar in erster Linie um die Seelenkräfte des Äußeren Menschen, jedoch stößt man bei den Überlegungen zum sinnlichen Unterscheidungsvermögen (‚discretio sensualis‘) auf eine interessante Bemerkung. Hier ist nämlich davon die Rede, dass auch die Sinnlichkeit des Menschen über eine Fähigkeit zum Begehren (‚concupiscibilitas sensualis‘) und zum Zürnen (‚irascibilitas sensualis‘) verfügt und dass sich diese zwei auf beiden Seiten beistehen (‚collateraliter assistentes‘).150 Daraus lässt sich unzweifelhaft schließen, was vorher nur angedeutet war: Auch das geistige Begehren und der geistige Hass ergänzen sich komplementär. Der nächste konkrete Hinweis findet sich im 1. Kapitel von Buch 7, das gemeinsam mit dem letzten Kapitel von Buch 12 die Ethik des Inneren Menschen einrahmt. Da Radulfus Ardens an dieser Stelle die vier Tugendgruppen des Inneren Menschen benennt und sich mit ihrem Zusammenwirken beschäftigt, äußert er sich auch zur Komplementarität von Liebe und Hass. Hier stößt man auch auf die typische wiederholende Formulierung, die auf ein komplementäres Verhältnis hinweist: Rursusque nec oditiue sine amatiuis nec amatiue sine oditiuis possunt esse. Cum enim contraria contrariis conueniant, nemo ualet odisse malum, quin diligat bonum, nec amare bonum quin odiat malum.151
Dadurch, dass die beiden Elemente hier gleich zweimal wiederholt werden, wird die Zusammengehörigkeit von Liebe und Hass hervorgehoben. Zudem trifft der Autor hier noch eine allgemeine Aussage: Gegensätze (‚contraria‘) können sich nur im Zusammenspiel miteinander ausprägen (‚conuenire‘). Allein anhand der hier verwendeten Begrifflichkeiten und der Formulierung lässt sich erkennen, dass das Verhältnis zwischen den beiden Grundemotionen Liebe und Hass ein komplementäres ist. In diesen Kontext lässt sich auch der dritte Grundaffekt, die Geringschätzung, integrieren. Welche Stellung die Geringschätzung innerhalb der menschlichen Emotionalität
148 Spec. uniu. 1, 41 (CCM 241, p. 47): „Ideo autem dixi irascibilitatem siue odibilitatem, quoniam concupiscibilitas et odibilitas inactiua utrumque acceptum significatione sibi econtrario respondeant.“ 149 Spec. uniu. 1, 41 (CCM 241, p. 47 f.): „Amabilitati autem ex opposito respondet odibilitas […].“ 150 Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 60): „Habet quoque discretio sensualis hinc concupiscibilitatem siue appetitum suum, inde uero irascibilitatem siue odibilitatem suam sibi cum comitibus suis collateraliter assistentes quatinus hec que sensibus approbauit, grata concupiscat et ea que sensibus reprobauit, minus grata procul pellat.“ 151 Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7 f.).
124
1 Anthropologische Vorbemerkungen
einnimmt, wird jedoch an späterer Stelle besprochen.152 Die unten angefügte Grafik veranschaulicht die bisherigen Ergebnisse. An ihr wird deutlich, dass aus den beiden Seelenkräften zunächst ihre jeweiligen Grundtugenden entstehen, nämlich ‚amor‘ und ‚odium‘. Aus diesen gehen wiederum die einzelnen amativen und oditiven Tugenden hervor. Die Seelenkräfte sowie ihre Grund- und Einzeltugenden verhalten sich stets komplementär zueinander, was in der Skizze durch den Komplementaritätspfeil (↔) dargestellt ist.
amabilitas
↔
odibilitas
amor
↔
odium
uirtutes amatiue
↔
uirtutes oditiue
Abb. 4: Das amative und das oditive Vermögen und ihre Haupttugenden.
Das erste Komplementärtugendpaar aus dem Bereich der amativen und oditiven Tugenden ist die gute Liebe (‚amor bonus‘) und der gute Hass (‚odium bonum‘). Diese Bestimmung findet sich im 15. Kapitel von Buch 11 – ein Ort, der mit Bedacht ausgewählt ist: Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln die Tugend der Liebe definiert und in ihre Arten unterteilt wurde, benennt Radulfus Ardens in diesem Kapitel das entsprechende Komplementärtugendpaar. Er schreibt: Que est igitur collateralis uirtus caritatis? Bonum odium. Bonum quippe odium moderatur bonam dilectionem, ut non diligat, nisi quod diligendum est. Bona quoque dilectio moderatur bonum odium, ut non odiat, nisi quod odiendum est. Dilectio igitur bona sine bono odio uitium est et odium sine dilectione bona uitium est. Et odium bonum cum bona dilectione uirtus est, itaque dilectio cum bono odio uirtus est.153
Erneut wird an der sprachlichen Gestaltung deutlich, dass es sich um ein Komplementärtugendpaar handelt. Zusätzlich bezeichnet Radulfus Ardens den Hass anschließend als die spezielle Komplementärtugend (‚specialis collateralis‘) der Liebe.154 Auch die 152 Vgl. dazu Punkt 2.1.2 im vorliegenden und Punkt 1 im dritten Teil der Arbeit. 153 Spec. uniu. 11, 15 (P, fol. 66vbf.). 154 In Spec. uniu. 11, 15 (P, fol. 67ra) heißt es über den Hass: „Et hec specialis colleratiua uirtus dilectionis.“ Das hier verwendete Wort ‚colleratiuus‘ gibt es nicht. Es muss sich also um einen Fehler in der Handschrift P handeln. In Pu (fol. 44v) findet sich an dieser Stelle ebenfalls die Variante ‚colleratiua‘, in B (fol. 141v) und dem zweiten Band von L (fol. 40rb) dagegen das Adjektiv ‚collatiua‘, das sich etwa mit ‚gemeinsam‘ übersetzen lässt und daher auch nur bedingt passt. In der Handschrift Pi (fol. 53rb) findet sich schließlich die Variante ‚collateralis‘ und in den übrigen Handschriften ist das Kapitel nicht enthalten. Obwohl Pi bekanntlich dem verderbten Stamm angehört und deutlich später als P geschrieben wurde, scheint sie die einzig sinnvolle Variante zu liefern;
1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘?
125
Aufgaben der beiden Tugenden werden klar bestimmt: Wenn sich die beiden gegenseitig ins rechte Maß bringen, werden sie nämlich ihren spezifischen Bereichen so zugewiesen, dass die Liebe tatsächlich nur diejenigen Dinge liebt, die sie lieben soll, und der Hass nur diejenigen Dinge hasst, die er hassen soll. In ähnlicher Weise hatte sich der Autor sich bereits im ersten Kapitel von Buch 7 geäußert. Diese insgesamt noch recht theoretische Bestimmung muss fürs Erste so stehen bleiben. Welche Verhaltensweisen mit den hier aufgeführten Begrifflichkeiten im Einzelnen gemeint sind, wird im zweiten Teil der Arbeit umfassend besprochen.155 Das Komplementärtugendpaar lässt sich so darstellen:
‚amor malus‘
‚amor bonus‘
‚odium bonum‘
‚odium malum‘
(2) Dass Radulfus Ardens den Hass als ‚specialis collateralis‘ der Liebe bezeichnet, leitet unmittelbar zur zweiten Ebene der Komplementarität in der menschlichen Seele über. Direkt im Anschluss bestimmt er nämlich die Unterscheidung (‚discretio‘) als die allgemeine Komplementärtugend (‚generalis collateralis‘) aller affektiven Tugenden (‚uirtutes affectuose‘) insgesamt.156 Was ist damit gemeint? Hinweise auf die Beantwortung dieser Frage lassen sich zunächst in Buch 1 finden. In Kapitel 46 spricht er davon, dass keine der vier Kräfte des Inneren Menschen den anderen übergeordnet ist, und trifft dabei die Aussage, dass das Unterscheiden (‚discretio‘) ohne affektive Erregung (‚affectatio‘) ebenso nutzlos ist wie die affektive Erregung ohne Unterscheidung.157 Dass sich Vernunft und Gefühle gegenseitig ins rechte Maß bringen müssen, wird auch in Kapitel 47 angedeutet. Dort betont der Autor, dass Vernunft und Affekte aufeinander angewiesen sind, um ihre Aufgaben in rechter Weise zu erfüllen. Zudem können die ‚affectiones‘ nur dann zu Lastern werden, wenn sie von der Vernunft für eine unrechte Sache missbraucht werden.158 Im ersten Kapitel von Buch 7 äußert er sich ähnlich und bezieht dabei auch die kontemptiven Tugen-
denn aufgrund der parallelen Struktur des Satzes mit der Aussage zur ‚generalis collateralis‘ kurz darauf muss hier die ‚specialis collateralis‘ gemeint sein. 155 Vgl. dort die Punkte 1.2.3 und 2.1. 156 Spec. uniu. 11, 15 (P, fol. 67ra): „Est autem generalis collateralis uirtus non tantum dilectionis, sed etiam omnium affectuosarum uirtutum, discretio que omnes affectuosas uirtutes moderatur ostendens cunctis quid, quantum et quomodo debeant affectare.“ 157 Spec. uniu. 1, 46 (CCM 241, p. 54): „Enimuero sicut nichil prodest discernere sine affectatione, sic nichil prodest affectare sine discretione.“ 158 Spec. uniu. 1, 47 (CCM 241, p. 55): „Verum animaduertendum est quoniam nec de potentiis sue uirtutes uel uitia sine stimulis affectionum nec de affectionibus sue uirtutes uel uitia sine regimine potentiarum procedere possunt. Vtreque siquidem utrisque indigent et potentie, ut ab affectionibus stimulentur, et affectiones, ut a potentiis regantur. Nec etiam uitiis ualent affectiones deseruire, nisi ad eorum consecutionem ipsa perperam abutantur ratione.“ Warum Radulfus Ardens an dieser Stelle von den Vermögen (‚potentie‘) und den Affekten (‚affectiones‘) als Gegensätzen spricht, geht ebd. 1, 43
126
1 Anthropologische Vorbemerkungen
den mit ein: Die ‚discretio‘ ist dafür zuständig, zwischen nützlich (‚utile‘), schädlich (‚nociuum‘) und nutzlos (‚inutile‘) zu unterscheiden. Diese Beurteilung der Gegenstände bleibt jedoch ohne Konsequenz für das praktische Handeln, wenn die drei Affekte Liebe, Hass und Geringschätzung unbeteiligt bleiben.159 Dass sich die Affekte ohne Unterscheidung willkürlich auf zufällige bzw. auf die falschen Gegenstände (‚affectus uitiosi‘) richten und die Unterscheidung ohne die Affekte nutzlos ist (‚distinctio inutilis‘), stellt Radulfus Ardens auch in Kapitel 15 von Buch 11 heraus.160 Von daher ist auch verständlich, dass die diskretiven Tugenden beim Entstehungsprozess einzelner amativer Tugenden eine wichtige Rolle spielen, wie der Autor am Beispiel der Liebe deutlich macht, die unter der Mithilfe (‚auxilio et opitulatione‘) von Glaube und Klugheit entsteht.161 Aus diesem Befund lassen sich die Begrifflichkeiten für die komplementären Tugenden auf der zweiten Ebene (also im Bereich ‚distinctio‘ – ‚affectus‘) folgendermaßen rekonstruieren: ‚affectus uitiosi‘
‚affectus uirtuales‘
‚distinctio utilis‘
‚destinctio inutilis‘
Auf der Grundlage dieser Textanalysen lässt sich nun in einer Grafik veranschaulichen, in welcher Weise die Kräfte des Inneren Menschen auf zwei Ebenen komplementär verfasst sind. Auf der ersten Ebene (1) balancieren sich Liebe und Hass komplementär aus. Nur wenn man zugleich das Gute liebt und das Böse verabscheut, sind die beiden Affekte vollendete Tugenden. In diesem Prozess spielt auch die Geringschätzung eine gewisse Rolle. Da sie zwar – wie bei der Beschreibung der Seelenkräfte erwähnt – auf der einen Seite zwar gar kein Affekt, sondern eher eine neutrale Komponente ist, aber auf der anderen faktisch in der Nähe des Has(CCM 241, p. 49) hervor. Dort sagt er explizit, dass die ‚ratio‘ und ihre Begleiter gelegentlich auch als ‚potentie‘ der Seele bezeichnet werden: „Rationem autem comitantur intellectus et memoria. […] Dicuntur autem hec potentie siue uires anime, quoniam anima per eas potens est agere.“ 159 In Spec. uniu. 7, 1 (CCM 241A, p. 7) äußert er sich wie folgt zum Zusammenwirken der diskretiven Tugenden (‚prime‘) auf der einen und den amativen (‚secunde‘), oditiven (‚tertie‘) und kontemptiven (‚quarte‘) auf der anderen Seite: „Prime discernunt inter nociuum et utile et inutile, secunde fugiunt nociuum, tertie secuntur utile, quarte contempnunt inutile. Sunt autem sic a Deo naturaliter ordinate, quoniam, nisi primum discretiue uirtutes discernant, ignorant et oditiue uirtutes quid fugiant, et amatiue quid ament, et contemptiue quid contempnant. Rursusque nisi et oditiue et amatiue et contemptiue sequantur discretiuas, frustra discretiue inter nociuum et utile et inutile distingunt et discernunt, cum non sit qui fugiat fugiendum, qui amet amandum, qui contempnat contempnendum. Itaque sic sunt naturaliter ad inuicem connexe, ut nec ille sine istis nec iste sine illis ualeant alicui prodesse.“ 160 Spec. uniu. 11, 15 (P, fol. 67ra): „Vnde omnes affectuose uirtutes, si sine discretione sint, uitia fiunt. Discretio quoque sine affectuosis uirtutibus inutilis efficitur.“ 161 Spec. uniu. 11, 17 (P, fol. 67rbf.): „Oritur autem caritas in nobis ex concupiscibilitate siue amabilitate tamquam ex origine. Oritur et ex fide et prudentia tamquam ex earum auxilio et opitulatione.“
1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘?
127
ses steht, wurde sie in der Grafik auch beim Hass positioniert. Diese Gesamtheit der affektiven Tugenden steht wiederum auf der zweiten Ebene (2) in einem komplementären Verhältnis zur Tugend der Unterscheidung und damit zum rationalen Seelenvermögen.162 An dieser Stelle sei übrigens noch einmal darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung im Bereich des Sinnlichen (‚discretio sensualis‘) zur Gesamtheit der sinnlichen Affekte – also dem ‚appetitus sensualis‘ und der ‚irascibilitas sensualis‘ – ebenfalls in einem komplementären Verhältnis steht.163
discretio collateralis ↕ (2) uirtutes affectiue contemptus amor
collateralis ↔ (1)
odium
Abb. 5: Das Verhältnis zwischen der Vernunft und den Affekten.
(3) Schließlich wird im Speculum universale angedeutet, dass die menschliche Natur auch noch auf einer dritten Ebene komplementär verfasst ist. In der bereits besprochenen Textstelle aus dem 132. Kapitel des 12. Buches äußert sich Radulfus Ardens aus einer schöpfungstheologischen und heilsgeschichtlichen Perspektive zu den Gründen, warum Gott den Menschen so erschaffen hat, wie er ist. Weil die Aussage so bedeutsam für das Verständnis seines Menschenbildes ist, wird sie hier nochmals in voller Länge angeführt: Est enim homo creatura nobilis, sed infirma. Enimuero cum angelus ex nobilitate nature sue superbisset, creauit Deus hominem ex duplici natura, immortali et mortali, nobili et ignobili, firma et infirma. Firma quantum ad animam, infirma quantum ad corpus, ut uidelicet infirma natura firmam humiliaret et firma natura infirmam confortaret.164
Dazu ist zu sagen, dass diese Aussage in einem Kontext steht, der zunächst keine allgemeine Bestimmung zur Komplementarität bzw. zur Anthropologie erwarten lässt. In Kapitel 132 geht es nämlich an sich um die Komplementärtugend der Demut (‚humilitas‘), die Radulfus Ardens als Selbstwertschätzung (‚honorantia sui‘) bezeichnet. Im weiteren Fortgang der Darlegung wird aber deutlich, dass es Aufgabe der Selbstwertschätzung ist, sich auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen
162 Vgl. dazu auch ERNST, Ethische Vernunft 336 sowie DERS., Passiones animae 161. 163 Vgl. auch ERNST, Passiones animae 152. 164 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152ra).
128
1 Anthropologische Vorbemerkungen
bzw. seine edle Abkunft (‚nobilis‘) zu besinnen, während die Demut die eigenen Schwächen und Fehler im Auge behalten muss.165 Aus dem oben zitierten Textabschnitt geht klar hervor, dass die Schwächen des Menschen aus seiner körperlichmateriellen Verfasstheit resultieren, während die Stärken – das betont der Autor auch im ersten Buch – gänzlich auf seine unsterbliche Seele zurückzuführen sind. Bemerkenswerterweise ergibt sich für Radulfus Ardens aus dieser klaren Zuordnung nicht etwa eine Ablehnung der Leiblichkeit und des Körpers, sondern er erkennt vielmehr gerade in dieser Schwäche eine Stärke des Menschen. In ähnlicher Weise äußert er sich auch im 3. Kapitel von Buch 3: Weder hasst das Fleisch (‚caro‘) den Geist noch der Geist das Fleisch; sie haben schlichtweg unterschiedliche Sehnsüchte (‚desideria‘) und müssen im richtigen Verhältnis zueinander stehen.166 Hier wird wieder mithilfe der typischen Wiederholung ein komplementärer Zusammenhang angedeutet. Damit lässt sich zur Bedeutung des Körpers bzw. des Fleisches für das Menschenbild schlussfolgern: Nur die körperliche Schwäche macht es dem Menschen möglich, das Laster des Stolzes zu vermeiden. Diesem würde er ebenso wie der Engel unweigerlich verfallen, wenn er lediglich seine Gottebenbildlichkeit im Blick hätte. Dass hier eindeutig der Gedanke einer komplementären Balance im Hintergrund steht, wird an der Formulierung im letzten Teil des Satzes und an der charakteristischen Wiederholung der beiden Elemente deutlich. Dem Körper wird dabei die Aufgabe zugewiesen, den Menschen zu erniedrigen (‚humiliare‘), während die Seele ihn stärkt (‚confortare‘). Von daher ist der Körper (‚corpus‘) im Menschenbild des Radulfus Ardens kein Defizit, sondern ein wichtiger Aspekt der menschlichen Existenz, ohne den eine entscheidende Komponente fehlen würde. Im 26. Kapitel von Buch 2 geht er in dieser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter: Im Zusammenhang mit den prägenden Einflüssen (‚occasiones‘), die zur Entstehung von Tugenden und Laster beitragen, kommt er auch auf die Vererbung körperlicher und geistiger Eigenschaften durch die Eltern zu sprechen und betont dabei, dass nicht nur die Seele die Verfasstheit des Körpers bedingt, sondern umgekehrt auch der Körper einen gewissen Einfluss auf die Beschaffenheit der Seele hat.167 Diese Sicht165 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152ra): „Est autem uirtus collateralis humilitatis honorantia sui. Est autem honorantia sui uirtus per quam homo ex uerissima sue nobilitatis cognitione sibimet bene modesteque carescit.“ 166 Spec. uniu. 3, 3 (CCM 241, p. 149): „Dicitur autem caro inimica anime non intentione, sed desideriorum contrarietate. In tanta quippe confederatione coniuncta est anima carni et caro anime, ut pretaxatum est, quod nullatenus sese queant non amare. Sicut enim anima non potest odisse carnem suam Apostolo testificante, quoniam nemo umquam carnem suam odio habuit, sed nutrit et fouet eam, sic nec ulla caro potest odisse spiritum suum. Nemo quippe sic carnalis, sic brutus est qui requisitus non respondeat sese propriam animam amare.“ 167 Spec. uniu. 2, 26 (CCM 241, p. 112): „Ex corpore quoque quo continetur, contrahit anima qualitatem. Propterea quales sunt parentes, tales solent esse filii, ut corpore sic mentis affectione.“
1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘?
129
weise lehnt jede Form von Leibfeindlichkeit ab und positioniert sich klar gegen die (neu)platonische Fixierung auf den seelisch-geistigen Bereich, der seit der Spätantike auch in der christlichen Tradition weit verbreitet war. Die Bestimmung, dass Körper und Seele des Menschen in einem komplementären Verhältnis zueinanderstehen, wurde in dem unten angefügten Schema veranschaulicht. Das Schaubild erfordert aber einige Erklärungen. Erstens lassen sich darin alle drei Ebenen der Komplementarität im menschlichen Wesen erkennen: die Komplementarität zwischen Liebe und Hass (1), zwischen Unterscheidung und affektiven Tugenden (2) und zwischen Körper und Seele (3). Zweitens beugt die Darstellung einem naheliegenden Missverständnis vor: Auf der dritten Ebene stehen keineswegs die Kräfte des Inneren und des Äußeren Menschen in einem komplementären Verhältnis, sondern das leibliche und das seelische Prinzip der menschlichen Natur. Denn die beiden Seelenkräfte des Äußeren Menschen – also ‚uegetatio‘ und ‚sensualitas‘ – gehören nicht zum Körper, sondern zur Seele. Daher sind sie auch farblich klar vom Körper abgehoben. Allerdings stehen sie auch nicht gänzlich außerhalb des Körpers, sondern sind eher Ankerpunkte der Seele im Körper. Auf der einen Seite wäre der Körper ohne sie nur leblose Materie und auf der anderen Seite besitzt die menschliche Seele die beiden Fähigkeiten überhaupt nur deshalb, weil der Mensch körperlich verfasst ist. An den Kräften des Äußeren Menschen zeigt sich also, dass sich die leibliche und seelische Verfasstheit gegenseitig bedingen.
discretio
uegetatio
collateralis ↕ (2) contemptus
amor
collateralis ↔ (1)
anima
collateralis ↔ (3)
corpus
odium sensualitas
Abb. 6: Der Innere und der Äußere Mensch.
Zum Abschluss dieses Unterkapitel lassen sich zwei Punkte hervorheben: Radulfus Ardens gelingt es mit dieser überaus komplexen Anthropologie, viele Aspekte der menschlichen Existenz abzubilden und ihre Verbindung miteinander systematisch darzustellen. Dabei sind nicht nur die Verhältnisse innerhalb der Seele komplementär verfasst. Auch Leib und Seele sind komplementär aufeinander bezogen. Von daher lässt sich die in der Überschrift angedeutete Frage nach einer ‚komplementären Anthropologie‘ wie folgt beantworten: Der Mensch ist als Ganzes komplementär strukturiert und dabei ist die Komplementarität das Wesenselement, das die unterschiedlichen Aspekte überhaupt erst zur Geltung bringt. Diese fein ausdifferenzierte
130
1 Anthropologische Vorbemerkungen
Balance der vielen verschiedenen Elemente in der Natur des Menschen war von der Schöpfungsordnung her angelegt und hätte ohne den Sündenfall auch weiter Bestand gehabt. In welcher Weise der Sündenfall diese natürliche Harmonie zerstört hat und wie Christus den Menschen aus dieser Lage befreit, wird im letzten Abschnitt dieses Punktes überblicksartig nachgezeichnet.
1.3.2 Die Beschädigung der menschlichen Natur durch den Sündenfall und ihre Erlösung durch Jesus Christus Im letzten Unterkapitel wurde gezeigt, dass die Natur des Menschen mit ihrer leibseelischen Verfasstheit und den verschiedenen Kräften der Seele von der Schöpfung her dazu angelegt war, mit den gegensätzlichen Lebensbedingungen im Diesseits umgehen zu können. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass sich die gegensätzlichen Komponenten der menschlichen Existenz auf insgesamt drei Ebenen komplementär ergänzen. Diese Harmonie wurde jedoch durch den Sündenfall irreparabel zerstört, sodass der Mensch seitdem von sich aus nicht mehr in der Lage ist, sein Wesen so zu ordnen, dass er Tugenden ausbilden und ethisch gut handeln kann. Erst durch Christi Tod am Kreuz wird dieser ursprüngliche Zustand der menschlichen Natur durch die göttliche Gnade wiederhergestellt. Radulfus Ardens reflektiert diesen heilsgeschichtlichen Kontext für die Entstehung der Tugenden und Laster in den letzten Kapiteln von Buch 1 (c. 55–59) und am Anfang von Buch 2 (c. 1–21). Er erläutert in Buch 1, wie die Funktionen der einzelnen Seelenkräfte durch die Ursünde beschädigt wurden, und zieht in Buch 2 die Lehre von den Komplementärtugenden heran, um das Erlösungshandeln Christi systematisch verständlich zu machen. Mit anderen Worten könnte man auch sagen: Radulfus Ardens nimmt in diesen beiden Passagen eine dogmatische Fragestellung aus der Perspektive der Tugendethik in den Blick und bettet sie im Zuge dessen systematisch in die Gliederungsstruktur seines Werkes ein. Da der Zusammenhang zwischen der Soteriologie und der tugendethischen Konzeption des Speculum universale bereits in einem eigenen Beitrag aufgezeigt wurde, zeichnen die folgenden zwei Abschnitte lediglich die zentralen Ergebnisse dieser Untersuchung nach.168 Die entscheidenden Informationen lassen sich dem 55. Kapitel von Buch 1 und den ersten beiden Kapiteln von Buch 2 entnehmen. (1) Die Beschädigung der menschlichen Natur durch die Sünde Adams wird in Buch 1 unmittelbar nach der Seelenlehre thematisiert. Allein an dieser Positionierung wird die Absicht des Autors deutlich, die Auswirkungen des Sündenfalls an den Seelenkräften aufzuzeigen. Zu Beginn stellt er fest, dass der Mensch seine ursprüngliche Freiheit (‚libertas‘) und Unschuld (‚innocentia‘) sowie seinen Frieden (‚pax‘) durch 168 Vgl. JANOTTA, Soteriologie.
1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘?
131
die Sünde verloren hat. Als Urgrund des Sündenfalls identifiziert der Autor das Laster des Ungehorsams (‚inobedientia‘). Seitdem ist der Mensch nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft Gutes zu tun.169 Dieses Unvermögen resultiert daraus, dass dem Menschen seine ursprünglichen Gnadengaben (‚gratuita dona‘) geraubt und dass seine natürlichen Güter (‚bona naturalia‘) verletzt wurden. Dass bedeutet nichts anderes, als dass die natürliche Harmonie in der Seele völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist und die einzelnen Seelenkräfte nicht mehr zusammenarbeiten, um Gott näher zu kommen, sondern im Widerstreit miteinander liegen und von daher nur noch sündigen können.170 Im Anschluss beschreibt Radulfus Ardens die Beeinträchtigungen der einzelnen Seelenkräfte im Detail. Der vernünftigen Seelenkraft gelingt es nicht mehr, in rechter Weise zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und ihr wird durch das Laster der Unwissenheit (‚ignorantia‘) die Erfüllung ihrer Aufgabe unmöglich gemacht. Liebe und Hass wenden sich ohne die Anleitung der Vernunft wahllos auf beliebige Gegenstände und liefern den Menschen dadurch unvermeidbar der Notwendigkeit zum Sündigen (‚necessitas peccandi‘) aus. Auch die Sinnlichkeit und die Kräfte des Äußeren Menschen, die den Körper eigentlich beleben sollen, können ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden und sind nur noch eine Angriffsfläche für das Leiden und den Tod (‚necessitas patiendi et moriendi‘).171 In diesem chaotischen Zustand ist auch der Wille nicht mehr in der Lage, frei zu entscheiden. Auch wenn er hin und wieder zufällig eine richtige Entscheidung trifft, ist ihm die prinzipielle Fähigkeit der freien Entscheidung auf Gott hin genommen.172 Damit befindet sich der ganze Mensch mit seinem Körper, seiner Seele und seinen einzelnen Kräften in einem Unheilszustand.173 Der Ungehorsam des ersten Menschen perpetuiert sich dadurch, dass sich auch die einzelnen Seelenkräfte gegenseitig nicht mehr ‚gehor-
169 Spec. uniu. 1, 55 (CCM 241, p. 65): „Cum igitur in tanta pace, in tanta libertate, in tanta innocentia sit a Deo conditus, tam homo quam angelus tamen uterque peccando suam corrupit naturam, angelus per superbiam, homo per inobedientiam. Et quia cum posset peccatum uitare et bene agere, noluit, inflictum est ei, ut cum uelit, non possit.“ 170 Spec. uniu. 1, 55 (CCM 241, p. 65 f.): „Et sicut totus fuit homo in culpa, sic totus factus est in pena, ut enim in parabola illius qui incidit in latrones, demonstratur: Homo preuaricando descendens a Iherusalem in Ierico et incidens in latrones spoliatus et uulneratus est, spoliatus gratuitis donis et uulneratus est in naturalibus bonis.“ Radulfus Ardens spielt hier auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lc 10, 30 an. 171 Spec. uniu. 1, 55 (CCM 241, p. 66): „Vulneratus est quippe in ratione, intellectu et memoria uitio ignorantie, in concupiscibilitate et irascibilitate et comitibus earum necessitate peccandi, in sensualitate uero siue exteriori homine necessitate patiendi et moriendi.“ 172 Spec. uniu. 1, 55 (CCM 241, p. 66): „Sic igitur uulneratis uiribus et affectionibus anime uulneratum quoque est liberum arbitrium. Hinc est quod arbitrium non semper recte ualet discernere, etsi quandoque recte discernit. Voluntas ad eligendum bonum et fugiendum malum non est libera, quoniam plerumque uelit, nolit, peccat.“ 173 Vgl. dazu ausführlicher JANOTTA, Soteriologie 291–295.
132
1 Anthropologische Vorbemerkungen
chen‘ bzw. nicht mehr richtig zusammenarbeiten. Infolgedessen können aus den natürlichen Kräften nur noch Laster und Sünden, aber keine Tugenden mehr entstehen. Wie der Sündenfall die Natur des Menschen verdirbt und die natürlichen Funktionen der einzelnen Elemente gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt, veranschaulicht das unten angefügten Schema, das den prä- und postlapsarischen Zustand des Menschen gegenüberstellt. Hier wird deutlich, dass sich vorher sowohl Hass und Liebe als auch Gefühle und Vernunft komplementär ergänzen, danach aber gegeneinander arbeiten. Ebenso ordnet der Innere Mensch nach dem Sündenfall den Äußeren nicht mehr, sondern ist ihm untertan. Vor dem Sündenfall ratio
Nach dem Sündenfall exterior homo
↕ collateralis
necessitas patiendi ↓ ↑ ignorantia et moriendi
contemptus amor
↔
ratio
odium
collateralis necessitas peccandi ↑ ↓ ignorantia ordinatus in mente ↓ ↓ ↓ ↓ ordinatus in opere exterior homo
contemptus odium amor
Abb. 7: Der Mensch vor und nach dem Sündenfall.
(2) Diese differenzierte Analyse der Beschädigung der in der Schöpfung angelegten Harmonie im Wesen des Menschen bildet die Grundlage für die soteriologischen Überlegungen im 2. Buch. Radulfus Ardens stellt dort dem lasterhaften Verhalten Adams im Paradies die Tugendhaftigkeit Christi in seinem Wirken in der Welt und in seinem Tod am Kreuz gegenüber. In einem ersten Schritt zählt er in Kapitel 1 die vier Laster auf, die die Verfehlung Adams konkreter fassbar machen: Erstens hat er aus Stolz (‚superbia‘) gesündigt, da er wie Gott sein wollte; zweitens aus Begierde (‚cupiditas‘), indem er sich das Gott vorbehaltene Wissen über Gut und Böse wünschte; drittens aus Ungehorsam (‚inobedientia‘), indem er das Gesetz Gottes übertrat und schließlich aus Fressgier (‚gula‘), da er die süße Frucht vom verbotenen Baum kosten wollte.174 In einem
174 Spec. uniu. 2, 1 (CCM 241, p. 77 f.): „Primus quippe homo peccauerat per superbiam, per cupiditatem, per inobedientiam, per gulam: per superbiam equalitatem Dei appetendo, per cupiditatem scientiam boni et mali illicite desiderando, per inobedientiam mandatum Dei transgrediendo, per gulam de ligno uetito comedendo. Per superbiam se superextulerat ab humilitate creature usque ad altitudinem creatoris. Et quis huic superbie satisfacientem humilitatem posset adhibere?“
1.3 ‚Komplementäre Anthropologie‘?
133
zweiten Schritt werden in Kapitel 2 diesen vier Lastern Adams vier Tugenden Christi gegenübergestellt, die zu ihnen im Gegensatz stehen. Der Autor betont in diesem Zusammenhang, dass Christus dem ersten Menschen zwar von der Geburt her (‚natiuitate‘) ähnlich, von seinem Handeln her (‚operatione‘) aber unähnlich war.175 Vor diesem Hintergrund führt er die vier Tugenden an, mit denen Christus den Menschen geheilt hat: Erstens erniedrigte er sich in der Gestalt eines Knechts als Ausgleich für den Stolz des Menschen. Diese Aussage bezieht sich auf die Tugend der Demut (‚humilitas‘). Zweitens begegnete er der Begierde des Menschen mit der Geringschätzung der Welt (‚contemptus mundi‘) und der Armut (‚paupertas‘). Drittens war er im Gegensatz zum ungehorsamen Adam Gott gegenüber gehorsam bis in den Tod am Kreuz (‚obedientia‘) und viertens stellte er der Fressgier des Menschen sein 40-tägiges Fasten (‚ieiunium‘ bzw. ‚abstinientia‘) in der Wüste entgegen.176 Durch seine Wortwahl an der entsprechenden Stelle verdeutlicht Radulfus Ardens, dass hier eine komplementäre Struktur im Hintergrund steht: Christus hat nämlich durch seine Tugenden die ihnen entgegengesetzten menschlichen Laster (‚contraria uitia‘) ausgetilgt. Diese Tugenden werden dabei auch explizit als gegensätzliche Heilmittel (‚medicamenta contraria‘) bezeichnet – man könnte daher auch von ‚uirtutes contrarie‘ sprechen. Die Auswahl der vier Tugenden Christi und der vier Laster Adams ist also nur vor dem Hintergrund des Prinzips der Komplementärtugenden verständlich. Hinzu kommt, dass mit den genannten Tugenden und Lastern alle Seelenkräfte sowohl des Inneren als auch des Äußeren Menschen repräsentiert sind: Die Tugend der Demut und das Laster des Stolzes werden in Buch 12 behandelt (c. 123–143) und gehören zum Bereich der kontemptiven Tugenden; die Begierde kommt bereits in Buch 1 (c. 44) vor und gehört zu den amativen Emotionen, während die Geringschätzung der Welt wieder dem ‚contemptus‘ (Buch 12, c. 13–121) zuzurechnen ist; Gehorsam und Ungehorsam entstehen schließlich aus der vernünftigen Seelenkraft (Buch 10, c. 14) und die Fressgier bildet gemeinsam mit ihrem entgegengesetztem Laster, der Enthaltsamkeit (Buch 14, c. 34–57), den Bereich des Äußeren Menschen ab. Diese Auswahl wurde also nicht zufällig getroffen: Indem sich die heilsame Wirkung des Erlösungshandelns Christi auf alle Seelenkräfte er-
175 Spec. uniu. 2, 2 (CCM 241, p. 78): „Factus est autem primo homini similis natiuitate, sed dissimilis operatione.“ 176 Spec. uniu. 2, 2 (CCM 241, p. 79): „Operatione uero fuit per contrarium similis secundus homo primo homini, quoniam cum contraria contrariis curentur uitia, corruptiones primi hominis per contraria curauit medicamenta. Nam pro superbia qua primus se superextulit usque ad altitudinem Dei, se humiliauit secundus usque ad formam serui. Pro cupiditate primi hominis in contemptu mundi et paupertate semet exercuit non habens, ubi caput reclinaret, rex fieri renuens sponte flagella ferens. Pro inobedientia primi hominis obediens fuit patri usque ad mortem crucis. Pro ingluuie primi hominis quadraginta diebus et quadraginta noctibus ieiunauit in deserto.“
134
1 Anthropologische Vorbemerkungen
streckt, wird auch tatsächlich der ganze Mensch erlöst werden und all seine natürlichen Fähigkeiten – also Vernunft, Gefühle und Sinne – wiederhergestellt.177 Das Heilsgeschehen spielt sich also gewissermaßen ‚auf der Bühne‘ der Seelenkräfte ab. Christus lenkt durch sein den Lastern entgegengesetztes, tugendhaftes Handeln die Gnade zu bestimmten Tugenden, durch die es dem Menschen wieder gelingt, die gottgegebene, harmonische Ordnung seiner Seele wiederzuerlangen. Dabei ist Christus zum einen ein Vorbild, das den Menschen durch sein Verhalten zur ‚imitatio Christi‘ aufruft, zum anderen geht seine Erlösungstat weit über diesen äußerlichen Aspekt hinaus, da der Mensch seine Seelenkräfte eben nicht aus eigener Kraft wieder in rechter Weise ordnen kann, sondern erst durch die Gnade dazu in der Lage ist. An dieser Stelle wird nochmals betont, dass der Mensch zwar von sich aus sündigte, jedoch nicht von sich aus in der Lage war, die durch die Sünde erlittenen Schäden wieder zu beheben.178 Vielmehr musste Gott Mensch werden, um den Menschen zu erlösen; denn da der Mensch nicht von außen – bspw. durch einen Engel – erlöst werden konnte, war nur ein menschliches Wesen, das selbst nicht der Macht der Sünde untersteht, dazu in der Lage.179 Radulfus Ardens erklärt diesen Vorgang daher auch in dem bereits erwähnten 34. Kapitel von Buch 1 mit einer leicht verständlichen Allegorie: Ein Mann hat seinen ererbten Besitz aus eigenem Verschulden verloren und kann ihn aus eigener Kraft nicht wiedererlangen. Ein anderer Mann, der über beträchtliche Geldmittel verfügt und Mitleid mit ihm hat, ersetzt ihm ebendiesen Besitz. Infolgedessen ist der Besitz des Mannes sowohl das Erbe seines Vaters als auch das Geschenk eines anderen. Ebenso ist es mit dem Menschen, dem seine von der Schöpfung her angelegten, natürlichen Fähigkeiten (‚naturales‘) durch die Gnade Christi wiederhergestellt werden (‚gratuite‘).180
177 Vgl. dazu genauer JANOTTA, Soteriologie 295–304. Hier werden auch die vier dem Heilgeschehen zugrundeliegenden Komplementärtugendpaare im Detail beschrieben. 178 Spec. uniu. 2, 1 (CCM 241, p. 77): „Cum autem homo sic grauiter per seipsum ceciderit, per seipsum nullatenus resurgere potuit, per se potuit peccare, per se uero nequaquam potuit satisfacere.“ 179 Spec. uniu. 2, 1 (CCM 241, p. 77 f.): „Sed qui poterat pro eo satisfacere, eum a potestate diaboli eripere, dampna restaurare? Nec homo nec angelus ad hoc erat aptus: homo, quia ipse reus et indignus; angelus, quia ab homine natura erat alienus. Sed etsi uterque ad hoc aptus esset, nullatenus tamen hoc posset. […] Quis enim posset semet humiliare ab altitudine Dei usque ad humilitatem hominis, nisi Deus esset? Quoniam igitur nullus pro homine satisfacere poterat et sic homo irreparabiliter peribat qui non obliuiscitur misereri, Deus condoluit et condescendit factus homo mediator Dei et hominum Ihesus Christus, ut langores et peccata hominis ipse portaret et sic conuenienti satisfactione que caro deliquerat, caro purgaret.“ 180 Spec. uniu. 1, 34 (CCM 241, p. 43): „Ad hoc respondemus quod et uirtutes quantum ad primam originem naturales sunt, quoniam uero propter primi hominis preuaricationem sic eas amisit homo, ut eas per se nullatenus queat recuperare nisi Deo reparatore dante uelle et posse, gratuite nuncupantur. Quemadmodum si quis merito suo patrimonium suum amisisset, quod per se recuperare non ualeret, si quis misertus ei patrimonium suum restitueret, posset utraque dici et quod hereditas illa esset ei paterna et quod gratis data.“ Vgl. dazu auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 237–239.
2 Die drei Grundemotionen des Menschen und ihre systematische Stellung zueinander Auf dem Fundament der umfassenden Erläuterungen zur Anthropologie und zum Tugendverständnis kann nun eine genauere Betrachtung der Affekte erfolgen. Dieser zweite Punkt beabsichtigt in erster Linie drei grundlegende Fragen zu klären. Erstens: Wie beschreibt Radulfus Ardens die drei menschlichen Grundemotionen Liebe, Hass und Geringschätzung im Detail? Zweitens: In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Und drittens: Welchen Einfluss haben sie auf die Entstehung der Tugenden und Laster? Die ersten beiden Fragen lassen sich weitestgehend aus dem Text von Buch 1 heraus beantworten. Um die dritte Frage zu beantworten, sind mehrere Exkurse in die Bücher 2–5 notwendig. Deshalb werden zunächst die Grundlagen des Affektbegriffs sowie das jeweilige Gefolge (‚sequela‘) der drei Grundaffekte dargestellt und im Anschluss daran die menschlichen Emotionen aus der Perspektive der Handlungstheorie in den Blick genommen. Das vorrangige Ziel ist es dabei, die systematischen Grundlagen zu schaffen, um im zweiten und dritten Teil der Arbeit die amativen und oditiven Tugenden in Buch 11 sowie die kontemptiven Tugenden in Buch 12 genauer beleuchten zu können. Zur Bedeutung der Affekte im Speculum universale existiert bereits ein eigenständiger Beitrag, auf den sich die folgenden Ausführungen immer wieder beziehen werden.181
2.1 Grundlegende Bestimmungen Zunächst einmal ist zu klären, welche Begriffe Radulfus Ardens für die menschlichen Emotionen verwendet und wie er sie definiert. Die zentralen Aussagen finden sich in der Mitte des 45. Kapitels von Buch 1, in dem die zornmütige bzw. hassende Seelenkraft besprochen wird. Hier setzt sich der Autor unter Rückgriff auf Augustinus182 mit den aus der Tradition bekannten Termini auseinander und erklärt deren Bedeutung. Erstens erwähnt er die Bezeichnung ‚natürliche Leidenschaften‘ (‚passiones naturales‘) und leitet sie davon ab, dass die Emotionen tatsächlich Leidenszustände der Seele (‚passiones anime‘) darstellen und die Seele gewissermaßen bedrängen (‚affligunt‘). Zweitens sei auch der Begriff ‚Affekte‘ (‚affectiones‘) geläufig, der zum Ausdruck bringt, dass die Emotionen den Geist (‚mens‘) bedrängen und verändern (‚affligunt et immutant‘). Während diese beiden Ausdrücke noch keine positive oder negative Wertung enthalten, meint der dritte definitiv die negative, verwirrende Variante der menschlichen Gefühle; denn von Verwirrungen (‚perturbationes‘) ist dann
181 Vgl. ERNST, Passiones animae. 182 Die entsprechende Stelle stammt aus AUG., Ciu. 9, 4 (CCL 47, p. 251). https://doi.org/10.1515/9783110758924-006
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2 Die drei Grundemotionen des Menschen
die Rede, wenn die Emotionen den Geist so durcheinanderbringen, dass er nicht mehr richtig entscheiden kann.183 Diese Aussagen sind für die weitere Behandlung der Gefühle im Speculum universale insofern von großer Bedeutung, dass hier mit den einzelnen Begriffen verschiedene Bedeutungen verbunden werden, die dann an der jeweiligen Stelle nicht mehr eigens erklärt werden. So ist mit ‚perturbatio‘ immer ein negatives, lasterhaftes Gefühl gemeint, wie z. B. in Buch 11 am Beispiel des schlechten Zorns (‚ira mala‘) gut sichtbar wird.184 Generell ist allerdings zu sagen, dass Radulfus Ardens fast ausschließlich den neutralen Begriff ‚affectus‘ bzw. ‚affectio‘ verwendet, wenn er sich mit den menschlichen Emotionen beschäftigt. Der Ausdruck ‚passio‘ in der Bedeutung als Gefühl kommt dagegen überhaupt nur an der eben besprochenen Stelle vor185 und die ‚perturbatio animi‘ wie gesagt nur dann, wenn explizit die negative Variante eines Affektes gemeint ist. Im Anschluss an diese begriffliche Unterscheidung hebt der Autor hervor, dass die Affekte natürliche Eigenschaften des Menschen (‚naturales‘) sind und weder von vorne herein als gut noch als schlecht angesehen werden können. Vielmehr verwenden sie tugendhafte Menschen auf gute Weise, lasterhafte dagegen missbrauchen sie.186 Als Beleg dafür, dass die Affekte an sich etwas Natürliches sind und eine wichtige Aufgabe erfüllen, verweist er auf verschiedene Stellen im Neuen Testament, in denen eindeutig von den Affekten Christi die Rede ist.
2.1.1 Das Verhältnis zwischen Liebe und Hass und ihrem Gefolge Da bereits in Zusammenhang mit der Seelenlehre und der Komplementarität mehrfach auf die beiden Grund-Leidenschaften Liebe und Hass eingegangen wurde, liegt der Schwerpunkt dieses Unterkapitels auf ihren Unterarten sowie deren Verhältnis zueinander. Eine wichtige Vorbemerkung ist diesbezüglich, dass die menschliche Emotionalität zuvorderst durch Liebe und Hass bestimmt ist und die dritte Grundemotion – die Geringschätzung – erst später erwähnt bzw. hinzugefügt wird. Dass Liebe und Hass von grundlegenderer Bedeutung sind, lässt sich bspw. daran ablesen, dass Radulfus Ardens die eben skizzierten Begriffsdefinitionen ausdrücklich auf 183 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 53): „Porro has uidelicet cupiditatem et odium cum sequelis suis nuncupauerunt philosophi naturales passiones siue affectiones siue perturbationes anime –: passiones, quoniam reuera genere passiones anime sunt et utreque animam affligunt, sed hec minus, quoniam placent, ille uero magis, quoniam displicent; affectiones, quoniam mentem affligunt et immutant; perturbationes, quoniam mentem perturbant, ne recte possit discernere […].“ 184 Vgl. dazu Punkt 2.4 im zweiten Hauptteil. 185 Eine genaue Auflistung aller Verwendungen des Begriffs ‚passio‘ in der allgemeinen Tugendlehre findet sich bei ERNST, Passiones animae 143 f., n. 36. 186 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 53): „[…] naturales, quoniam a prima creatione nobis sunt insite et tam bonorum quam malorum sunt. Sed malis qui male utuntur eis, uertuntur in uitia, bonis uero qui eis recte funguntur, in uirtutes conuertuntur.“
2.1 Grundlegende Bestimmungen
137
diese beiden Affekte bezieht oder dass er sie in Kapitel 41 als die ‚zwei [affektiven] Befähigungen‘ (‚due aptitudines‘) bezeichnet.187 Wie bereits erwähnt, ist diese Zweiteilung dadurch begründet, dass sich zunächst alle existierenden Gegenstände in die zwei Sphären gut-liebenswert und schlecht-hassenswert aufteilen lassen. Sowohl Liebe als auch Hass werden im weiteren Verlauf der Darstellung in mehrere Konkretisierungen bzw. Unterarten aufgegliedert. Die Emotionen, die aus diesen beiden Grund-Leidenschaften hervorgehen, werden als Gefolgschaft (‚sequela‘) bezeichnet. Die ‚sequela‘ der Liebe besteht aus den fünf Affekten Hoffnung (‚spes‘), Wetteifer (‚emulatio‘), Freude (‚gaudium‘), Fröhlichkeit (‚letitia‘) und Sich-Rühmen (‚gloriatio‘). Diese Aufzählung folgt einer ganz bestimmten Systematik und bildet den Prozess ab, in dem sich die Liebe zunächst auf einen erstrebenswerten Gegenstand richtet und sich dann im zeitlichen Verlauf transformiert: So begehren wir mit Liebe zunächst etwas, dann hoffen wir, das begehrte Gut zu erlangen. Um es tatsächlich zu erlangen, wetteifern wir mit guten Vorbildern darum, freuen uns, wenn wir es wirklich erstmals erlangen, sind fröhlich durch seinen dauerhaften Gebrauch und rühmen uns schließlich unserer guten Tat.188 In ähnlicher Weise wird auch der Hass in fünf Unterarten aufgeteilt: Der Hass hasst zunächst das Bedrohliche, die Furcht (‚timor‘) fürchtet, dass es sich ereignet, das Beispiel anderer lässt vor den befürchteten Übel zurückschrecken (‚deterritatio‘), der Zorn (‚ira‘) ist wütend, wenn es tatsächlich eintritt, das dauerhafte Leiden darunter macht traurig (‚tristitia‘) und schließlich entsteht die Scham (‚penitentia‘) aus Unwillen über die eigenen Taten.189 Es ist kein Zufall, dass Radulfus Ardens jeweils fünf Affekte aus Liebe und Hass hervorgehen lässt. Denn ebenso wie ‚amor‘ und ‚odium‘ in einem komplementären Verhältnis stehen, balancieren sich auch ihre Begleiter gegenseitig komplementär aus. Diese Konzeption spielt bei der Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden in Buch 11 eine wichtige Rolle und lässt sich schematisch wie folgt abbilden:
187 Spec. uniu. 1, 41 (CCM 241, p. 47): „Sed in appellatione duarum extremarum aptitudinum errauerunt.“ Diese Aussage leitet übrigens die Überlegungen zur Umbenennung von Begehren und Zorn in Liebe und Hass ein. 188 Spec. uniu. 1, 44 (CCM 241, p. 52): „Ex concupiscibilitate nascitur cupiditas, spes, emulatio, gaudium, letitia et gloriatio: cupiditas rem captat, spes adipisci sperat, emulatio exemplo aliorum adipisci festinat, gaudium est in adipiscendo, letitia in utendo, adepto gloriatio de industria et labore bene consummato. Rem siquidem placitam captamus, captatam speramus, speratam adipisci emulamur, adipiscendo gaudemus, adepto fruendo letamur, quia sic fecimus gloriamur.“ 189 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 52 f.): „Ex odibilitate uero procedit odium, timor, deterritatio, ira, tristitia, penitentia: odium rem infestam odit; timor, ne eueniat, timet; deterritatio, ne eueniat, exemplo aliorum deterretur; ira, si eueniat, irascitur; tristitia, quia euenit, tristatur; penitentia, quia sic fecit contra seipsam, indignatur. Naturaliter quippe rem nobis infestam odimus; exosam, ne eueniat, formidamus; formidatam exemplo aliorum incurrere deterremur; si incurrerit, irascimur; quia incurrit, tristamur; quia non bene cauimus, penitemus.“
138
2 Die drei Grundemotionen des Menschen
amor
↔
odium
spes
↔
timor
emulatio
↔
deterritatio
gaudium
↔
ira
letitia
↔
tristitia
gloriatio
↔
penitentia
Abb. 8: Die amativen und oditiven Tugenden.
2.1.2 Die Stellung der Geringschätzung Das Verhältnis von Liebe und Hass ist also leicht verständlich und es lässt sich daraus ohne systematische Schwierigkeiten das komplementäre Verhältnis zwischen den amativen und oditiven Einzeltugenden herleiten. Im Bereich der Geringschätzung ist dagegen nicht ohne weiteres erkennbar, in welcher Weise hier Raum für die Entfaltung von Komplementärtugendpaaren eröffnet ist. Denn bereits in Buch 1 fallen hinsichtlich des ‚contemptus‘ in der Hauptsache zwei Unklarheiten ins Auge, deren Klärung für das Verständnis der Programmatik von Buch 12 zentral ist. Erstens wird die Geringschätzung – wie bereits mehrfach erwähnt – bei der Auflistung der Seelenkräfte in Kapitel 41 zunächst nicht erwähnt, sondern kommt erst in Kapitel 45 in Verbindung mit dem Hass hinzu. Zweitens wird nicht klar bestimmt, in welchem Verhältnis sie zu den anderen beiden Grundemotionen steht. Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, sind erneut detailliertere Textinterpretationen nötig. In Kapitel 45 führt Radulfus Ardens zunächst aus, dass die Geringschätzung daraus entsteht, dass die beiden anderen Affekte zurückgenommen werden (‚ex redemptione‘).190 Damit ist der ‚contemptus‘– wie er wenig später auch explizit betont – kein Affekt im eigentlichen Sinne, da er nichts positiv setzt. Vielmehr ist dieser Zustand dadurch gekennzeichnet, dass überhaupt keine emotionale Regung vorhanden ist.191 Zu ihrem Gefolge zählt er Verhöhnung (‚subsannatio‘), Gleichgültigkeit (‚incuria‘), Vergessen (‚obliuio‘), Gemütsruhe (‚securitas‘), Sorglosigkeit (‚socordia‘)
190 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 53): „Porro ex remotione duarum predictarum affectionum oritur contemptus.“ 191 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 54): „Non est autem alicuius affectionis proprie contempnere, quoniam nichil ponit, sed magis remouet.“
2.1 Grundlegende Bestimmungen
139
und Schläfrigkeit (‚sompnolentia‘).192 Wie kommt Radulfus Ardens auf den Gedanken, das Vorhandensein einer solchen affektiv neutralen Komponente anzunehmen? Den Ausgangspunkt dafür bildet der Gedanke, dass sich alle in der Welt existierenden Gegenstände aus ethischer Perspektive in bestimmte Kategorien einteilen lassen. Zwei dieser Kategorien wurden bereits erwähnt und sind für die Entstehung von Liebe und Hass konstitutiv: So sind manche Dinge nützlich (‚utilia‘), um Gott näher zu kommen, ein gutes Leben zu führen und glücklich zu werden. Sie erwecken im Menschen die Liebe. Andere Dinge sind schädlich (‚nociua‘) und behindern den Menschen auf diesem Weg. Daher aktivieren sie natürlicherweise die Emotion des Hasses. Diese Einteilung in zwei grundlegende Kategorien wird nun in Kapitel 45 durch einen dritten Bereich ergänzt: Neben nützlichen und schädlichen Gegenständen gibt es nämlich auch noch solche, die weder nützlich noch schädlich (‚nec utilia nec nociua‘) sind und von daher normalerweise auch nicht ins Interessensgebiet des Menschen fallen. Die Vernunft klassifiziert sie als nichtig (‚nichilpendit‘) und die beiden Affekte Liebe und Hass werden von ihnen nicht aktiviert. Stattessen werden sie geringgeschätzt (‚contempnuntur‘), vernachlässigt (‚negliguntur‘) und man kümmert sich nicht um sie (‚non curantur‘).193 Die hier verwendeten Verben machen deutlich, dass diese Dinge im Normalfall keinerlei emotionale Reaktion hervorrufen. Damit steht der ‚contemptus‘ in der Mitte (‚de medio‘) zwischen Liebe und Hass und beschreibt einen letztlich völlig affektfreien Zustand (‚abnegatio affectum‘).194 Bei der Betrachtung dieser Bestimmungen stellt sich unmittelbar die Frage, inwieweit der ‚contemptus‘ dann überhaupt als Affekt verstanden werden kann. Auch Radulfus Ardens ist sich dieser Problematik bewusst und versucht sie folgendermaßen zu umgehen: Obwohl die Geringschätzung an sich eine neutrale Mittelposition einnimmt, scheint sie den Menschen dennoch affektiv zu erregen, wenn er bspw. einen Gegenstand, der in den Bereich des ‚contemptus‘ fällt, verhöhnt und verachtet. Dies geschieht v. a. dann, wenn sich die Geringschätzung dem Hass und dem Nichtgefallen (‚displicentia‘) annähert.195 Aus dieser Aussage lassen sich zwei wei-
192 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 54): „Porro ex contemptu nascitur subsannatio, incuria, obliuio, securitas, socordia, sompnolentia.“ 193 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 53 f.): „Nam eorum que sunt, alia sunt nobis utilia, alia nociua, alia nec utilia nec nociua: que utilia sunt, ratio approbat et concupiscibilitas amat; que uero nociua, ratio reprobat et odibilitas odit; que uero nec utilia sunt nec nociua, ratio nichilpendit nec a concupiscibilitate cupiuntur nec ab odibilitate odiuntur, sed contempnuntur, negliguntur et non curantur.“ 194 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 54): „Oritur autem de medio predictarum affectionum per utriusque abnegationem.“ 195 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 54): „Ponitur tamen pro affectu eo quod nos uidetur afficere et rem despectibilem facere subsannare, quod tunc maxime fit, quando magis ad displicentiam et odibilitatem quam ad concupiscibilitatem accedit.“ Das Nichtgefallen (‚displicentia‘) ist ein Terminus aus der Handlungstheorie in Buch 5, der in Punkt 2.2.3 noch genauer erläutert wird.
140
2 Die drei Grundemotionen des Menschen
terführende Informationen herausgreifen: Erstens kann sich der ‚contemptus‘ offensichtlich sowohl dem liebenden als auch dem hassenden Affekt annähern (‚accedere‘). Der Autor scheint demnach von einer stufenweisen Entwicklung von Liebe bzw. Hass zur Geringschätzung und umgekehrt auszugehen. Die Vermutung einer graduellen Entwicklung hin zum ‚contemptus‘ bestätigt sich weiter durch einen Blick in Buch 12: Dort nennt er in Kapitel 2 die drei Stadien der Entstehung der Geringschätzung aus Liebe und Hass, nämlich Lauheit (‚tepor‘), Vernachlässigung (‚negligentia‘) und Überdruss (‚accidia‘ bzw. ‚fastidium‘).196 Diese ‚gradus ad contemptum‘ werden im Anschluss daran in den Kapiteln 2–11 behandelt, weshalb dieser Abschnitt auch zu Beginn des dritten Teils genauer zu beleuchten ist. Zu diesem ersten Punkt ist hier also zunächst festzuhalten: Der ‚contemptus‘ ist in der Realität kein neutraler Fixpunkt in der Mitte zwischen Liebe und Hass, sondern hat nach beiden Seiten hin Spielraum. Zweitens scheint die Geringschätzung natürlicherweise eher zum Hass als zur Liebe zu tendieren. Diese Überlegung macht auch verständlich, warum der ‚contemptus‘ in Zusammenhang mit der hassenden Seelenkraft behandelt wird. Doch aus welchem Grund gibt es diese Tendenz zum Hass und zum Nichtgefallen? Radulfus Ardens beantwortet diese Frage nicht direkt, jedoch lassen sich am Text orientierte Spekulationen anstellen. Dazu sei noch einmal der Blick auf die heilsgeschichtlichen Umstände der menschlichen Existenz gelenkt: Die Beschädigungen durch die Ursünde wurden zwar durch Christus aufgehoben, jedoch ist der Mensch im Diesseits immer noch den Versuchungen und diversen Irrtümern ausgesetzt. Dieser Umstand schließt mit ein, dass die Harmonie der Seelenkräfte immer wieder aus dem Gleichgewicht geraten kann bzw. einzelne Seelenkräfte Fehler begehen. Ein sehr häufiger Fehler ist dabei die Ausrichtung der Liebe auf die falschen Gegenstände, wie wenn z. B. nicht nur Gott bzw. heilsrelevante Dinge geliebt werden, sondern stattdessen wertlose Gegenstände, die eigentlich keinerlei Emotionen (und schon gar keine begehrenden) hervorrufen sollten. In solchen Situationen kommt der Geringschätzung realiter dann nicht nur die Aufgabe zu, den entsprechenden Gegenstand überhaupt nicht zu beachten, sondern sie muss ihn auch aktiv ablehnen und beiseitelassen. Damit ist der ‚contemptus‘ im Idealzustand ein neutraler Nullpunkt, de facto aber durch die Möglichkeit des Irrtums ein dynamisches Wechselverhältnis auf einer ‚Skala‘ zwischen Liebe und Hass. Seine Tendenz zum Hass ergibt sich daher nicht aus einer systematischen Bestimmung, sondern aus der Alltagserfahrung, dass der Mensch viel öfter wertlose Dinge liebt als sie hasst – im letzteren Fall müsste der ‚contemptus‘ dementsprechend eher eine Tendenz zur Liebe aufweisen. Vor diesem Hintergrund wird auch der Raum, in dem sich die Komplementärtugendpaare der ‚contemptibilitas‘ entfalten, deutlich sicht-
196 Spec. uniu. 12, 2 (P, fol. 112ra): „Sunt autem quidam gradus ab amore ad contemptum. Similiter et econtra ab odio ad contemptum. […] Prius tepescamus, secundo negligimus, tertio fastidimus, quarto contempnimus.“
141
2.1 Grundlegende Bestimmungen
bar: Vollendete Geringschätzung, also die Ablehnung aller rein irdischen Güter, erreicht im Diesseits niemand. Daher gilt es, in einem positiven Spannungsverhältnis in dem beschriebenen Spielraum zwischen Liebe und Hass dem idealen Nullpunkt möglichst nahe zu kommen. Der Raum, in dem die kontemptiven Komplementärtugenden (‚collaterales contemptiue‘) entstehen, ist in dem unten angefügten Schema zu sehen. Dort wurden die ‚gradus ad contemptum‘ als eine Skala dargestellt, deren Nullpunkt der ‚contemptus‘ und dessen Extrempunkte ‚amor‘ bzw. ‚odium‘ sind. Während Liebe und Hass eigene Komplementärtugendpaare bilden, balancieren sich auch innerhalb der Geringschätzung ähnliche Gegensätze bzw. Tendenzen aus, die jedoch durch eine weitaus geringere Intensität gekennzeichnet sind. Dieser Bereich wurde grau markiert. gradus ab amore ad contemptum amor
tepor
negligentia
fastidium
gradus ab odio ad contemptum
contemptus
fastidium
negligentia
tepor
odium
└──►┴────►┴─────►┴──────►┴◄─────┴◄─────┴◄────┴◄───┘ collaterales contemptiue Abb. 9: Die Entwicklungsstufen der Geringschätzung.
Mithilfe dieser Rekonstruktion lässt sich systematisch erklären, in welcher Weise die einzelnen kontemptiven Tugenden entstehen und innerhalb welcher Begrenzungen sie sich komplementär ergänzen. Auch wenn Radulfus Ardens diese Zusammenhänge nirgends explizit beschreibt, lässt sich an seinen wenigen allgemeinen Aussagen erkennen, dass eine solche Vorstellung im Hintergrund steht. Damit ist eine Verständnisgrundlage für die Untersuchung von Buch 12 geschaffen und das Hauptziel des vorliegenden Unterkapitels erreicht. Bevor im nächsten Abschnitt die weitere Bedeutung der Affekte für die Entstehung der Tugenden und Laster thematisiert wird, sei der Blick zunächst noch auf die Frage gerichtet, wie Radulfus Ardens auf die Grundidee des ‚contemptus‘ gekommen sein könnte. Den Ausgangspunkt dafür bildet die Beobachtung, dass den Überlegungen zur Geringschätzung in Buch 1 deutlich anzumerken ist, dass der Autor hier offensichtlich selbst spekuliert. Nicht umsonst verwendet er an exponierter Stelle das Verb ‚uidetur‘ und bleibt bei seinen Erklärungen zur Verbindung von Geringschätzung und Hass auffällig vage. Dazu lässt sich zunächst sagen, dass die Vorstellung einer ‚contemptibilitas‘ als eigenständige Seelenkraft nach dem aktuellen Forschungsstand zum Sondergut des Radulfus Ardens gehört.197 Eine vergleichbare Konzeption findet sich weder in der patristischen Tradition noch in der zeitgenössischen Literatur des 12. Jahrhunderts, zumal diese dritte Seelenkraft im 12. Buch in bemerkenswerter Ausführlichkeit in Einzeltugenden unterteilt wird und
197 Dies betonen sowohl MICHAUD-QUANTIN, Psychologie 86 f. als auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 140–142.
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2 Die drei Grundemotionen des Menschen
damit eine zentrale Bedeutung für den Aufbau des Speculum universale innehat. Die Frage, aus welchen Quellen der Autor dabei geschöpft bzw. welche Grundgedanken er rezipiert hat, ist schwer zu beantworten. Pierre Michaud-Quantin äußert die Überlegung, dass die Idee aus der griechisch-arabischen Medizin stammen könnte. Dort stößt man gelegentlich auf die Vorstellung eines mittleren, ‚neutralen‘ Zustandes, der weder durch Gesundheit noch Krankheit gekennzeichnet ist. Obgleich diese Theorie einerseits nicht gänzlich auszuschließen ist, da gerade in Buch 1 immer wieder arabische Schriftsteller bzw. deren Übersetzer zitiert werden198, lässt sie sich andererseits auch nicht mit Sicherheit bestätigen. Michaud-Quantin selbst führt als einen möglichen Beweis dafür an, dass im Speculum universale hin und wieder die Termini ‚neutralitas‘ oder ‚neutrum‘ als Synonyme für den ‚contemptus‘ verwendet werden und dass diese auf den arabischen Einfluss hinweisen.199 Allerdings scheint es sich dabei um einen Irrtum zu handeln: Nach dem aktuellen Stand der Texterschließung findet sich der Begriff ‚neutralitas‘ im gesamten Speculum universale überhaupt nicht und der Begriff ‚neutrum‘ kommt nirgends in Verbindung mit dem Wort ‚contemptus‘ vor. Johannes Gründel sieht zusätzlich die Adiaphora-Lehre der Stoiker als mögliche Inspirationsquelle an.200 Damit – so führt er seine Überlegungen weiter – gelang es Radulfus Ardens, komplexe Probleme wie Unterlassungsvergehen oder Missachtungen tugendethisch zu reflektieren und über die allmählich wachsende Unlust am Bösen die stetige Dynamik der sittlichen Reifung des Menschen in den Blick zu nehmen. Letztlich kommen jedoch beide Autoren zu dem Schluss, dass die Lehre von der Geringschätzung und ihren Einzeltugenden zum überwiegenden Teil von Radulfus Ardens eigenständig erdacht worden ist. Als überzeugendster Beweis für diese These kann sicherlich der Befund gelten, dass der ‚contemptus‘ ebenso wie die beiden anderen Grundaffekte mit einer Gefolgschaft ausgestattet und in der für das Speculum universale charakteristischen Methodik in Buch 12 inhaltlich entfaltet wurde. Ohne die Originalität der erbrachten Denkleistung in Frage zu stellen, wird zum Abschluss des dritten Teils der Versuch unternommen, nach Bezugspunkten in der zeitgenössischen ‚contemptus mundi‘-Literatur zu suchen.
198 So greift er bspw. bei der Benennung der beiden ersten emotionalen Seelenkräfte in Kapitel 41 von Buch 1 auf Avicennas Schrift De anima zurück, wobei hier offenbar AVIC., An. 4, 4 (Avic.Lat. 2, p. 157) zitiert wurde. Zudem entnimmt er die Informationen über die Lage der ‚rationabilitas‘ im menschlichen Gehirn in Kapitel 43 verschiedenen Werken Adelards von Bath, wobei hier auch ein Bezug zur pseudoaugustinischen Schrift De spiritu et anima vorliegen könnte (vgl. dazu im Detail den Quellenapparat in CCM 241, p. 50). 199 MICHAUD-QUANTIN, Psychologie 87: „Aber mehrfach findet man zur Qualifizierung dieses contemptus den Terminus neutrum oder neutralitas. Es handelt sich hier um ein charakteristisches Wort bei den arabischen medizinischen Schriftstellern und ihren Übersetzungen, das zu Bezeichnung des Zustandes dient, der weder Gesundheit noch Krankheit ist.“ GRÜNDEL, Verstandestugenden 142 gibt diese Aussage offensichtlich ohne vorherige Prüfung wieder. 200 GRÜNDEL, Verstandestugenden 376: „Zwischen irasziblem und konkupisziplem Streben noch ein Mittleres als Neutrum anzunehmen, geschieht in Anlehnung an die Adiaphora-Lehre der Stoa.“
2.2 Weitere Bestimmungen
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2.2 Weitere Bestimmungen Neben diesen grundlegenden Bestimmungen zu den drei Haupt-Leidenschaften und ihrem Verhältnis zueinander, finden sich im gesamten Werk eine ganze Reihe interessanter Zusatzinformationen, die teilweise wenig oder überhaupt noch nicht in der Forschung beachtet wurden und von daher im Folgenden kurz nachgezeichnet werden. Dabei geht es nicht darum, jede Erwähnung der Affekte zu berücksichtigen, sondern darum, ein möglichst vollständiges Bild von der Affektlehre des Radulfus Ardens zu erhalten. Im Zentrum steht die Frage, in welcher Weise die menschliche Emotionalität die Charakterentwicklung bzw. die Genese der Tugenden und Laster beeinflusst. Besonders ergiebig für diese eher praktischen Fragestellungen sind die Bücher 2–4. Die entsprechenden Passagen werden daher zuerst besprochen. Schließlich wird in Buch 5 in Zusammenhang mit der Handlungstheorie präzise aufgezeigt, welche Rolle den Affekten bei der Ausprägung guter und schlechter Charaktereigenschaften aus dem guten bzw. dem bösen Willen zukommt.
2.2.1 Die Affekte als prägende Einflüsse der Charakterentwicklung Nach den Bestimmungen im ersten Buch äußert sich Radulfus Ardens in der zweiten Hälfte von Buch 2 wieder zur Bedeutung der Affekte. In diesem Abschnitt geht es um die prägenden Einflüsse der Entstehung von Tugenden und Lastern (‚occasiones‘).201 Der Begriff meint dabei in erster Linie äußere Vorgegebenheiten für den Menschen, die Auswirkungen auf seine Sittlichkeit haben, wobei auch ererbte Tendenzen und natürliche Veranlagungen miteinbegriffen sind.202 Aus systematischer Perspektive findet sich hierbei zwar wenig Neues, jedoch wird aus dem praktischen Blickwinkel nochmals verdeutlicht, dass die Affekte an sich weder negativ noch positiv zu werten sind, sondern als ‚materia uirtutis et uitii‘ gestaltet werden müssen. Dabei werden außerdem Bezüge zum Prinzip der Komplementärtugenden deutlich. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie Kapitel 23 relevant. Dort geht es um die charakterliche Disposition des Menschen (‚natura personalis‘), welche die erste ‚occasio‘ darstellt. Radulfus Ardens greift dabei auf die bereits seit der Antike bekannte Unterscheidung von Sanguinikern, Melancholikern, Cholerikern und Phlegmatikern zurück. Bereits im 46. Kapitel von Buch 1 hatte er erwähnt, dass es bei unterschiedlichen Menschen auch Unterschiede hinsichtlich der quantitativen Verteilung der Seelenkräfte gibt: So besitzen bspw. manche ein besonders leistungsfähiges Unterscheidungsvermögen, aber wenig Affekte, während es bei anderen genau umgekehrt
201 Eine ausführliche Darstellung zu allen in Buch 2 beschriebenen ‚occasiones‘ findet sich in dem Beitrag ERNST, Sittlichkeit und Kontingenz 279–286. 202 Vgl. ERNST, Sittlichkeit und Kontingenz 279 f. sowie DERS., Einleitung 1 47–53.
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2 Die drei Grundemotionen des Menschen
ist.203 Diese allgemeine Bemerkung konkretisiert er nun mithilfe der vier erwähnten Charaktertypen und ordnet ihnen u. a. auch spezifische Verhaltensweisen aus dem Bereich der Affekte zu: So sind die Sanguiniker besonders gütig (‚beniuoli‘), die Choleriker neigen zum Zorn (‚iracundi‘), die Melancholiker zu Zorn (‚iracundi‘), Neid (‚inuidiosi‘), Furcht (‚timidi‘), Geiz (‚auari‘), Traurigkeit (‚tristes‘) sowie Antriebslosigkeit (‚sompniculosi‘) und die Phlegmatiker weisen schließlich erwartungsgemäß überhaupt keine besondere affektive Tendenz auf.204 Bei dieser Zuweisung ist zu beachten, dass manche der genannten Eigenschaften Laster (z. B. der Neid), andere Tugenden (z. B. die Güte) und wieder andere gar nicht gewertet sind – so können bspw. Zorn, Traurigkeit oder Furcht sowohl tugend- als auch lasterhafte Verhaltensweisen sein. Von daher wird deutlich, dass es dem Autor nicht darum geht, die Qualitäten und Defizite der vier Grundtypen gegeneinander aufzuwiegen. Vielmehr verdeutlicht er damit, dass jeder Mensch über emotionale Anlagen und Tendenzen verfügt, die zwar zu bestimmten Tugenden und Lastern neigen, aber in jedem Fall geformt werden müssen. Die Anleitung zur Ausformung der eigenen Dispositionen orientiert sich an den ‚termini‘ und damit an der komplementären Struktur der jeweiligen Verhaltensweisen. An dieser Stelle genügt es, zwei für die menschliche Affektivität relevante Beispiele herauszugreifen: So ist es für gütige Menschen – offensichtlich sind hier also die Sanguiniker gemeint – leichter, sich die Tugend der ehrenvollen und guten Liebe (‚honesta et bona dilectio‘) anzueignen. Auf der anderen Seite haben sie aber auch einen Hang zum ‚uitium collaterale‘, nämlich der verdorbenen und schändlichen Liebe (‚turpis et praua dilectio‘). Ebenso ist es bei von Natur aus zornigen Leuten, also den Cholerikern und Melancholikern: Sie können ihre affektive Disposition durch genaues Unterscheiden entweder als die Tugend des guten Zorns (‚bonus zelus‘) oder durch mangelnde Unterscheidung bzw. Nachlässigkeit als das benachbarte Laster des schlechten Zorns oder Wütens (‚irositas siue furor‘) ausprägen.205
203 Radulfus Ardens geht von einem ähnlichen Ungleichgewicht hinsichtlich der drei Grundaffekte aus. Vgl. dazu insgesamt Spec. uniu. 1, 46 (CCM 241, p. 54 f.): „Inequalitatem quoque frequenter habent, quoniam alii magis discernunt quam affectant, alii magis affectant quam discernunt, alii satis eque discernere uidentur et affectare. Porro qui bene discernunt et parum affectant, tepidi siue ad bonum siue ad malum naturaliter existunt; qui uero multum affectant, sed et parum discernunt, aut boni indiscreti aut mali temerarii fiunt; qui uero et multum discernunt et multum affectant, fiunt aut boni discreti aut mali uersuti; qui uero parum discernunt et parum affectant, fiunt aut boni indiscreti et tepidi aut mali temerarii et tepidi. Que condicio peior est uniuersis.“ 204 Spec. uniu. 2, 23 (CCM 241, p. 103): „Nam, ut perhibet phisicus, homines sanguinei naturaliter sunt beniuoli, simplices, modesti, blandi; cholerici autem naturaliter iracundi, audaces, ingeniosi, leues, macilenti, acuti, plurimum comedentes; melancolici uero naturaliter iracundi, inuidi, timidi, subdoli, auari, tristes, sompniculosi; flegmatici autem sunt naturaliter uigilantes, intra se cogitantes, corpore compositi, minus audaces.“ 205 Spec. uniu. 2, 23 (CCM 241, p. 103 f.): „Propterea homines beniuoli naturaliter et pii citius aut per curam et discretionem assecuntur uirtutem honeste boneque dilectionis aut per incuriam et indiscretionem corruunt in uitium turpis et praue dilectionis. […] Homines quoque naturaliter ira-
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Radulfus Ardens betont abschließend, dass es die Lebensaufgabe jedes einzelnen Menschen ist, seine charakterlichen Vorzüge und Defizite so zu gestalten, dass sie sich komplementär ergänzen bzw. dass sie sich in die Richtung eines komplementären Gleichgewichts entwickeln.206 An diesen Gedankengängen lässt sich zum einen deutlich erkennen, dass jedes Mal, wenn im Speculum universale eine affektive Verhaltensweise erwähnt wird, genau zu überlegen ist, ob es sich dabei um einen zuvor bereits gewerteten Affekt – also eine bestimmte Tugend oder ein Laster – handelt oder ob noch keine Wertung vorliegt. In den allermeisten Fällen lässt sich an der bloßen Bezeichnung ohne ein wertendes Adjektiv in dieser Hinsicht noch nichts ablesen. Diese terminologische Besonderheit wird zu Beginn des zweiten Teils noch genauer erläutert. Zum anderen lässt sich erkennen, dass die Affekte eine hohe Flexibilität hinsichtlich des Gegenstandes haben, auf den sie sich richten. Von daher wird auch immer wieder die Rolle der ‚discretio‘ betont, die dafür zuständig ist, die Affekte in die richtigen Bahnen zu lenken. Radulfus Ardens spricht diesbezüglich in Kapitel 24 vom Wankelmut der Affekte (‚leuitas affectionum‘), die es auf ein festes Ziel auszurichten gilt, damit sie sich nicht ständig ändern (‚constantia boni propositi‘).207
2.2.2 Die Affekte als Feinde und Freunde des Menschen Die Überlegungen zu den Feinden und Freunden des Menschen in den Büchern 3 und 4 stehen inhaltlich im selben Kontext wie die Beschreibung der ‚occasiones‘ in Buch 2.208 Denn auch sie nehmen bestimmte Faktoren in den Blick, die die sittliche Entwicklung des Menschen mitbeeinflussen. Am ehesten ließen sich die hier versammelten Einflüsse als Eingebungen bzw. Versuchungen im Bereich des Unbe-
cundi citius aut per curam et discretionem adipiscuntur uirtutem boni zeli aut per incuriam et indiscretionem corruunt in uitium irositatis et furoris.“ 206 Spec. uniu. 2, 23 (CCM 241, p. 104): „Consideret igitur unusquisque naturales potentias et affectiones in se preminentes et eas summopere hinc a uitiis uicinis auertat et ad collaterales, inde uirtutes eas applicet et aduertat. Nam si illas uirtutes ad quas magis idonei sumus, patimur in nobis uitiari, quomodo illas uirtutes ad quas minus idonei sumus, ualebimus adipisci […].“ 207 Die entsprechenden Aussagen trifft Radulfus Ardens in Spec. uniu. 2, 24 (CCM 241, p. 107 f.) hinsichtlich der Frage, wie der junge Mann (‚adulescens‘) seinen Charakter gestalten soll: „Eapropter applicetur affectio mentis ad amorem uirtutis et Dei, ut quanto hec dilexerit, tanto magis eorum contraria oderit. […] Quarto erronearum cogitationum uanitatem in ueritatem uirtualis uite et leuitatem affectionum in unius boni propositi constantiam commutet, ut non cottidie consilia petat, non cottidie nouas spes nouaque proposita constituat, sed unus idemque perseueret in unius boni propositi stabilitate […].“ 208 Vgl. dazu ERNST, Einleitung 1 47.
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wussten bezeichnen.209 Es geht in diesen beiden Büchern also modern gesprochen um tiefenpsychologische Vorgänge und Radulfus Ardens unternimmt den Versuch, diese Phänomene zu reflektieren und in seine Seelenlehre zu integrieren.210 Dabei kommt den Affekten eine tragende Rolle zu. Um die Aussagen darüber genauer untersuchen und richtig verstehen zu können, ist im Vorfeld jedoch eine kurze Skizze der Programmatik der Bücher 3 und 4 vonnöten. Zudem muss geklärt werden, was mit den beiden Begriffen ‚Feinde‘ und ‚Freunde‘ hier eigentlich gemeint ist. Zunächst einmal zählt er das Fleisch (‚caro‘), den Teufel (‚diabolus‘) und den weltlich ausgerichteten Menschen (‚homo mundanus‘) unter die Feinde des Menschen.211 Den Geist (‚mens‘), den Engel (‚angelus‘), den guten bzw. himmlisch ausgerichteten Menschen (‚homo bonus‘) und Gott nennt er dagegen Freunde des Menschen.212 Sie alle werden als Ratgeber (‚consiliarii‘) bzw. als Einflüsterer (‚suggestores‘) bezeichnet: Die drei Feinde sind schlechte Ratgeber und wollen den Menschen zum Laster verführen; die vier Freunde hingegen sind gute Ratgeber und motivieren den Menschen dazu, den Pfad der Tugenden zu beschreiten.213 Sowohl die Feinde als auch die Freunde des Menschen operieren mithilfe von Einflüsterungen (‚suggestiones‘). Dieser Begriff ist für das Verständnis der weiteren Ausführungen zentral. Was ist damit gemeint? Eine ‚suggestio‘ ist nicht per se schlecht. Vielmehr gibt es gute und schlechte Einflüsterungen. Erstere richten sich aus einem guten Ursprung auf ein gutes Ziel aus und können daher auch als Ermunterungen und Ratschläge (‚ammonitiones siue consultationes‘) bezeichnet werden. Zweitere kommen aus einer schlechten Quelle und zielen auf etwas Böses ab, weshalb sie im eigentlichen Sinne als Versuchungen (‚temptationes‘) genannt werden. Radulfus
209 Vgl. ERNST, Einleitung 1 53 f. 210 So rekurriert Radulfus Ardens auch in Buch 5 noch mehrmals auf die Quellen der ersten Bewegungen der Gedanken und Affekte (‚primi motus‘) und betont in Spec. uniu. 5, 22 (CCM 241, p. 353), dass sie außerhalb unserer Macht stehen und der Grund dafür die Beschädigung durch den Sündenfall ist: „Enimuero primi motus tam potentiarum quam affectuum anime nequaquam sunt in nostra potestate. […] Quod ex prothoplausti preuaricatione nobis inflictum est qui quia, cum posset non peccare, noluit. Inflictum est merito, ut cum uelit, non possit. Sic quippe subito harum potentiarum et affectionum primis motibus preuenimur quod eos preuidere, prohibere uel regere nequeamus.“ 211 Spec. uniu. 3, 1 (CCM 241, p. 148): „Habemus igitur tres malos suggestores a sinistris: carnem, diabolum et hominem mundanum.“ 212 Spec. uniu. 4, 1 (CCM 241, p. 231 f.): „Tribus predictis inimicis prauisque consiliariis non exposuit nos clementissimus Deus tanquam inconsultos, inermes et solitarios, sed potius contulit nobis ex opposito tres amicos, consiliarios opitulatoresque bonos uidelicet spiritum, angelum, hominem bonum. Muniens nos spiritu contra carnem, angelo contra diabolum, homine dilectore celestium contra hominem amatorem mundanorum, sed et insuper semet adiunxit quartum nobis amicum, consiliarium et patronum.“ 213 Spec. uniu. 3, 1 (CCM 241, p. 148): „Seminantur autem uitia in nobis a malis suggestoribus et consiliariis, uirtutes uero a bonis. Habemus quippe consiliarios et suggestores bonos a dextris, habemus et malos a sinistris.“
2.2 Weitere Bestimmungen
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Ardens hebt hervor, dass die ‚suggestiones‘ der Freunde des Menschen niemals solche Versuchungen zum Bösen sind.214 Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass die einzelnen Feinde und Freunde dem Menschen aus unterschiedlichen Gründen einflüstern: Gott will den Menschen prüfen (‚probare‘), der Engel und der gute Mensch ermöglichen es dem Menschen, Erfahrung zu sammeln (‚experiri‘), das Fleisch will erfreut werden (‚delectari‘) und schließlich wollen der Teufel und der böse Mensch den Menschen zu Fall bringen (‚supplantare‘). Von daher sind die Einflüsterungen der drei Feinde Versuchungen, die des Engels und des guten Menschen Erfahrungen (‚experimenta‘) und die Gottes Prüfungen (‚probationes‘).215 An diesen Aussagen wird deutlich, dass die Rede von den Feinden und Freunden des Menschen eine allegorische ist und Radulfus Ardens darunter eine Vielzahl unbewusster seelischer Vorgänge zusammenfasst. Die affektiven Faktoren werden in Zusammenhang mit Fleisch und Geist dargestellt. Die Überlegungen zum Fleisch finden sich in den Kapiteln 2–10 von Buch 3 und die zum Geist in den Kapiteln 2–9 von Buch 4. Die für die Affekte relevanten Aussagen in diesen beiden Passagen werden hier präsentiert und systematisch erläutert. (1) Der Begriff Fleisch (‚caro‘) meint das körperliche Wesensprinzip des Menschen und in Verbindung damit auch die Seelenkräfte des Äußeren Menschen. Dass der Körper von seiner ganzen Ausrichtung her im Gegensatz zur Seele bzw. den Kräften des Inneren Menschen steht, wurde bereits eingehend erläutert. Weil beide aber dennoch eng miteinander verbunden sind, weist Radulfus Ardens an dieser Stelle auch nochmal darauf hin, dass kein Mensch sein Fleisch hassen kann und dass man im diesseitigen Leben an den Körper gebunden und auf ihn angewiesen bleibt. Damit ist das Fleisch nicht von seiner Intention her ein Feind des Geistes, sondern die beiden haben schlichtweg einander entgegengesetzte bzw. gegenteilige Wünsche (‚desideria‘).216 Vor diesem Hintergrund ist klar: Mit den geistigen Wünschen sind die Affekte des Inneren Menschen gemeint, mit denen des Fleisches die Affekte
214 Spec. uniu. 4, 1 (CCM 241, p. 232): „Ceterum considerandum est quod licet tam bonas quam malas suggestiones nuncupauerimus suggestiones, proprie tamen suggestiones que a bono et ad bonum fiunt, ammonitiones siue consultationes que uero a malo fiunt, et ad malum temptationes nuncupantur eo uidelicet quod per eas ad deceptionem pertemptemur. Quo modo temptationis nec Deus nec angelus nec homo spiritualis aliquem temptat.“ 215 Spec. uniu. 4, 1 (CCM 241, p. 233): „Propterea prospiciendum est quoniam aliter temptat Deus, aliter angelus uel homo bonus, aliter caro, aliter diabolus uel homo malus. Deus quippe hominem temptat, ut probet, angelus uel homo bonus, ut experiatur, caro, ut delectetur, diabolus uel homo malus, ut supplantet. Ceterum si propriam singulis assignemus appellationem carnis, diaboli hominisque praui qui proprie sunt temptationes, Dei uero non temptationes, sed magis probationes, angeli quoque hominisque boni non temptamenta, sed potius experimenta.“ 216 Spec. uniu. 3, 3 (CCM 241, p. 149 f.): „Dicitur autem caro inimica anime non intentione, sed desideriorum contrarietate. […] Itaque nec homo carnalis animam nec spiritualis carnem persequitur intentione, sed potius desideriorum contrarietate, id est, quia desiderat ea que contubernali sue sunt inimica.“
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des Äußeren Menschen.217 Gerade die letzteren wurden in der Seelenlehre nur kurz genannt und werden nun genauer beschrieben. So sind nämlich keineswegs alle Wünsche des Fleisches schlecht, sondern es gilt vielmehr, sie im rechten Maß zu halten. Von daher bestimmt Radulfus Ardens auch die Unmäßigkeit (‚iniquitas‘) als den eigentlichen Grund dafür, dass an sich natürliche Bedürfnisse des Körpers schlecht werden können.218 In den Kapiteln 5–9 erfolgt eine genauere Analyse der sinnlichen Affekte. Diese lassen sich nämlich in natürliche (‚naturales‘), lasterhafte (‚uitiosi‘), zugleich natürliche und lasterhafte (‚naturales et uitiosi‘) sowie indifferente (‚indifferentes‘) unterteilen.219 Die natürlichen Affekte sind in der Schöpfung angelegt und können auch nach dem Sündenfall ohne Schaden für den Menschen ausgeübt werden.220 Sie lassen sich weiter unterteilen: Erstens in die Affekte des körperlichen Gutes (‚affectus boni corporalis‘), womit v. a. körperliche Kraft und Gesundheit gemeint sind; zweitens in die Affekte des Lebensnotwendigen (‚affectus necessitatis‘), die auf Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnung ausgerichtet sind; drittens in die Affekte der Annehmlichkeit (‚affectus commoditatis‘), die bspw. nach Ehre, Macht oder Luxus und überhaupt nach allem trachten, was das Leben angenehm macht; viertens in die Affekte der Abwechslung (‚affectus uarietatis‘), da der Mensch nämlich ein zeitlich verfasstes Wesen ist und sich selbst stetig verändert, braucht er auch bei seiner Beschäftigung rege Abwechslung; schließlich nennt der Autor die Affekte der Vertrautheit (‚affectus propinquitatis‘), die hauptsächlich Zuneigung zu Verwandten und Nahestehenden meinen. Diese Wünsche sind an sich gut, solange sie der Vernunft gehorchen und nicht das Maß überschreiten.221 Als Beweis dafür, wie fest diese Affekte in uns verankert sind, führt er an, dass selbst geistig sehr geübte und innerlich kontrollierte Menschen diese Bedürfnisse immer wieder wahrnehmen.222
217 Spec. uniu. 3, 5 (CCM 241, p. 151): „Vt autem plenius intelligas que carnis desideria spiritui sint inimica, recordandum est quod prefati sumus, quoniam caro habet concupiscibilitatem suam cum progenie sua, habet et odibilitatem suam cum progenie sua.“ 218 Spec. uniu. 3, 3 (CCM 241, p. 150): „Ex hoc nimirum intellectu dicitur quoniam qui diligit iniquitatem, odit animam suam; idem qui diligit iniquitatem, diligit ea que anime sue sunt perniciosa.“ 219 Spec. uniu. 3, 5 (CCM 241, p. 151 f.): „Porro de carnali concupiscibilitate uarii affectus siue suggestiones oriuntur, quorum alii sunt naturales, alii sunt uitiosi, alii naturales simul et uitiosi, alii indifferentes.“ 220 Spec. uniu. 3, 6 (CCM 241, p. 152): „Naturales siquidem affectus sunt que homini a prima creatione sunt insita, que etiam ante peccatum et post peccatum potest homo naturaliter exercere sine peccato. Horum autem affectuum alii sunt boni corporalis, alii necessitatis, alii commoditatis, alii uarietatis, alii propinquietatis.“ 221 Spec. uniu. 3, 6 (CCM 241, p. 153): „Porro horum appetituum suggestiones naturales sunt et bone, quamdiu parent rationi. Et rationi quidem parent, quamdiu sunt modeste et Deo salutique anime postponuntur, propter quam non solum necessaria, sed etiam ipsa corpora, si necessarium fuerit, sunt spernenda.“ 222 Spec. uniu. 3, 6 (CCM 241, p. 155): „Adeo autem sunt naturales et insiti nobis appetitus huiusmodi, quod tametsi nonnumquam uiri spirituales alto rationis consilio istorum appetant contraria […] in ipsa
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Auch die lasterhaften Affekte werden weiter ausdifferenziert: erstens in die Affekte der Unmäßigkeit (‚affectus intemperantie‘), die negativ übersteigerte natürliche Affekte darstellen; zweitens in die Affekte der Neugier (‚affectus curiositatis‘), die in erster Linie aus den ‚affectus uarietatis‘ entstehen, die Abwechslung jedoch als Selbstzweck ansehen und sich auch mit nichtigen Gegenständen beschäftigen, die sie von den eigentlichen Gütern ablenken; drittens in die Affekte der Bosheit (‚affectus malitie‘), die den Menschen dazu verleiten, bewusst Böses zu tun.223 Die lasterhaften und natürlichen Affekte meinen alle Wünsche, die mit der menschlichen Sexualität zusammenhängen, die Radulfus Ardens als Wollust (‚libido‘) bezeichnet.224 Während sie vor dem Sündenfall noch ohne Schuld ausgeübt werden konnten, sind sie nun untrennbar mit der sündhaften Begehrlichkeit (‚concupiscentia‘) verbunden und werden daher insgesamt als lasterhaft gewertet. Diese generelle Abwertung, die nicht weiter begründet wird, ist sicherlich der augustinischen Tradition und dem damaligen Zeitgeist zuzuschreiben. Aus heutiger Sicht würde man die Wünsche und Bedürfnisse im Bereich der Sexualität wohl eher den natürlichen Affekten zuordnen, die ihre Berechtigung haben, solange sie in Maßen ausgelebt werden. Die indifferenten Affekte sind schließlich Wünsche, die einerseits nicht gänzlich natürlich sind, andererseits aber auch nicht unbedingt lasterhaft sein müssen. Diese ethisch unbestimmten Affekte können sich z. B. auf bestimmte berufliche Tätigkeiten oder Hobbys richten. Radulfus Ardens nennt als konkrete Beispiele den Ackerbau und den Kauf bzw. Verkauf von Waren. Auch diese ‚desideria‘ sind als gut zu werten, solange sie nicht im Übermaß betrieben werden bzw. von Gott ablenken.225 Diese fein ausdifferenzierte Analyse der körperlichen bzw. sinnlichen Affekte wird der Übersichtlichkeit halber schematisch dargestellt. Sie ist allein schon deshalb von großer Bedeutung, da Radulfus Ardens zu Beginn von Buch 11 die unterschiedlichen Arten der Liebe nach einem teilweise ähnlichen Schema aufgliedert.
spontanea morte carent uiuere, in ipsa spontanea penuria habundantie, in ipsa spontanea infirmitate potentes esse, in ipsa spontanea abiectione uenerabiles esse, in ipso spontaneo contemptu appetunt laudabiles fieri, in ipsa spontanea afflictione delectari.“ 223 Spec. uniu. 3, 7 (CCM 241, p. 156): „Vitiosorum uero affectuum alii sunt intemperantie, alii curiositatis, alii malitie.“ 224 Spec. uniu. 3, 8 (CCM 241, p. 158): „Naturales simul et uitiosi sunt affectus libidinis. […] Vnde et ante preuaricationem prothoplaustorum absque uitio potuerunt exerceri. Nisi siquidem illi peccassent, quemadmodum manus manui et pes pedi coniungitur, sic sine uitio concupiscentie in carnales complexus coniungerentur. Vnde et ante preuaricationem prothoplaustorum absque uitio potuerunt exerceri. Nisi siquidem illi peccassent, quemadmodum manus manui et pes pedi coniungitur, sic sine uitio concupiscentie in carnales complexus coniungerentur.“ 225 Spec. uniu. 3, 9 (CCM 241, p. 159): „Indifferentes uero affectus sunt qui nec absolute naturales nec absolute uitiosi sunt. Et tamen quando directe et temperate naturalibus affectibus directis et temperatis deseruiunt, boni proculdubio sunt. Quando uero uel indirecte uel intemperate uitiosis affectibus uel naturalibus indirectis uel intemperatis subseruiunt, uitiosi sunt, ut affectus terram colendi, affectus negotiandi, affectus uenandi, affectus quorumlibet utilium laborum, studiorum, exercitiorum.“
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affectus boni corporalis affectus necessitatis affectus naturales
affectus commoditatis affectus uarietatis affectus propinquitatis
affectus carnales affectus intempetantie affectus uitiosi
affectus curiositatis
affectus naturales et uitiosi
affectus malitie
affectus indifferentes Abb. 10: Die Einteilung der fleischlichen Affekte.
Zum Abschluss von Kapitel 9 wird noch einmal betont, dass nur diejenigen ‚affectus carnales‘ schlecht sind und bekämpft werden müssen, die maßlos oder lasterhaft sind.226 Damit zeigt sich erneut, dass der Leib nicht als solcher Feind des Geistes ist, sondern nur dann, wenn er den Menschen völlig in seinem Handeln bestimmt und dadurch vom Weg zu Gott abbringt. Auf dieser Grundlage wird in Kapitel 10 abschließend reflektiert, in welcher Weise das Fleisch durch seine ‚suggestiones‘ Anlässe zur Entstehung von Lastern bietet. Zunächst werden die Einflüsterungen ganz allgemein als verborgene Regungen definiert, die dem Menschen dazu raten, eine bestimmte Sache zu verinnerlichen.227 Der Ausdruck ‚secreta commotio‘ weist dabei klar auf den Bereich des Unbewussten hin. Es handelt sich hierbei also um eine nicht direkt gesteuerte Regung im Inneren des Menschen, die seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand richtet. Folgerichtig erläutert der Autor daher auch, worin sich die ‚suggestio‘ vom ‚affectus‘ unterscheidet: Der Affekt ist – gewissermaßen als Potential – immer vorhanden, während die Einflüsterung eine konkrete Aktivierung eines Affekts ist, die durch die Sinnlichkeit herbeigeführt wird. Dieser aktivierte 226 Spec. uniu. 3, 9 (CCM 241, p. 159 f.): „Ecce demonstrauimus tibi carnales affectus ex quibus praue suggestiones oriuntur maleque cogitationes. Igitur si desideras animum tuum a malis cogitationibus emundare, opere pretium est tibi prius uitiosos et intemperatos affectus a te resecare, alioquin frustra laborabis. […] naturales et uitiosi nec omnino boni nec omnino mali, indifferentes nunc boni, nunc mali […].“ 227 Spec. uniu. 3, 10 (CCM 241, p. 160): „Est autem carnis suggestio ad aliquid intimandum secreta commotio.“
2.2 Weitere Bestimmungen
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Affekt wirkt sich dann wiederum auf den unteren Teil der Vernunft aus und wird selbst durch die begehrende Seelenkraft verstärkt.228 An dieser Aussage zeigt sich, dass es sich bei Einflüsterungen um Regungen handelt, die ihrerseits nicht wieder auf eine Quelle zurückgeführt werden können. Sie entstehen auf dreifache Weise: durch eine Gelegenheit (‚per occasionem‘), von sich aus (‚per se tantum‘) oder durch eine Mischung aus beiden (‚per se et per occasionem‘).229 Das bedeutet, dass eine ‚suggestio‘ von selbst entsteht und den entsprechenden Affekt aktiviert. Was damit gemeint ist, zeigt der Autor am Beispiel der Trauer: Wenn der Affekt an sich schon sehr stark ist, wie bei einer Mutter, die um ihren kürzlich verstorbenen Sohn trauert, weint sie immer wieder und ohne unmittelbaren Anlass. Hat sich aber der erste Sturm der Trauer mit der Zeit gelegt, bricht sie nur noch dann in Tränen aus, wenn sie ein bestimmter Anlass – bspw. ein Kleidungsstück des Sohnes – daran erinnert.230 Das heißt, dass mit dieser dreifachen Aufgliederung ein Raum dafür eröffnet ist, die ‚suggestiones‘ des eigenen Fleisches zu beeinflussen und zu formen. Ihre Verbindung mit den Affekten macht es möglich, durch geistige Übungen und eine entsprechende Lebensführung die Schwelle der Selbstaktivierung bestimmter Affekte herauf- oder herabzusetzen. Damit ist klar, welche Hauptaussage Radulfus Ardens bei der Behandlung des Fleisches als ‚Feind‘ des Menschen treffen möchte: Auch die Gestaltung der zunächst unbewussten Einflussfaktoren ist durchaus möglich und für die sittliche Charakterentwicklung unerlässlich. (2) Der Geist hilft als Freund dem Menschen dadurch, dass er ihn anleitet (‚regere‘).231 Von daher ist mit dem Begriff ‚mens‘ hier auch der obere Teil der Vernunft (‚superior pars rationis‘) gemeint, der sich – wie bereits in der Seelenlehre beschrieben – auf die geistigen und himmlischen Dinge richtet.232 Diese Leitungsfunktion
228 Spec. uniu. 3, 10 (CCM 241, p. 160): „Hoc uero distat inter affectum et suggestionem, quoniam affectus semper sunt in nobis precipueque naturales, sed et omnes ceteri qui per longum usum in consuetudinem sunt conuersi. Suggestio autem est motus affectus quo scilicet mouetur sensualitas, et mouet inferiorem rationis partem, mouetur concupiscendo mouetque suggerendo.“ 229 Spec. uniu. 3, 10 (CCM 241, p. 160): „Suggerit autem nobis sensualitas tripliciter: quandoque per se tantum, quandoque per occasionem tantum, quandoque et per se et per occasionem.“ 230 Spec. uniu. 3, 10 (CCM 241, p. 161): „Sane ubi adhuc recens et fortis est dolor de filio defuncto, matrem uiduatam sine qualibet occasione mouet ad plangendum. Vbi uero per tempus prolixius dolor iam quieuerit, sine aliqua occasione non sufficit eam ad planctum promouere. Ceterum si fortuitu uestis, si filius, si coniunx, si quicquam defuncti nati ab ea conspicitur, recrudescit dolor planctusque renouatur. Vbi autem et recens adhuc dolor eam mouet, si simul et uestis filialis ab ea cernatur, per occasionem dolor et planctus geminatur. Simili quoque modo fit et in affectibus quod, ut melius pateat, de genere ad speciem descendamus.“ 231 Spec. uniu. 4, 1 (CCM 241, p. 232): „Primus datus est nobis ad regendum nos […].“ Radulfus Ardens trifft hier jeweils nacheinander Aussagen zu den vier Freunden des Menschen. Der erste ist der Geist, der zweite der Engel, der dritte der gute Mensch und der vierte Gott. 232 Spec. uniu. 4, 3 (CCM 241, p. 235): „Quis igitur predictorum dicitur amicus noster? Superior pars spiritus que in omnibus hominibus naturaliter est, hic siquidem est ille noster amicus […].“
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2 Die drei Grundemotionen des Menschen
kam auch schon des Öfteren zur Sprache: Es ist nämlich die Aufgabe des Geistes, die Affekte des Inneren Menschen auf die richtigen Güter zu beziehen und den Äußeren Menschen zu beherrschen bzw. so zu gestalten, dass er im rechten Maß bleibt und den Weg zu Gott nicht behindert. Sie lässt sich weiter in drei Bestandteile aufgliedern: erstens die Unterweisung (‚eruditio‘), die genauer in Buch 9 in Zusammenhang mit der Klugheit behandelt wird; zweitens der Affekt (‚affectus‘), womit die Affekte des Inneren Menschen gemeint sind, die hauptsächlich im 5. Kapitel von Buch 4 behandelt und im Folgenden genauer besprochen werden; drittens die Leitung (‚regimen‘), hier nimmt Radulfus Ardens den Einfluss von Natur und Gnade im menschlichen Geist in den Blick.233 Die geistigen Affekte (‚affectus spirituales‘) sind analog zu den leiblichen Affekten als Wünsche (‚desideria‘) im Bereich der geistigen und himmlischen Güter zu betrachten. Sie lassen sich zunächst in die guten (‚boni‘), irrigen (‚erronei‘), neugierigen (‚curiosi‘) und indifferenten (‚indifferentes‘) Affekte aufteilen.234 Hierbei fällt ins Auge, dass es keine schlechten bzw. bösen geistigen Affekte gibt. Dies liegt daran, dass der Geist stets von einem guten Willen bestimmt ist. Er kann sich jedoch irren oder durch unwichtige Dinge abgelenkt werden.235 Die guten Affekte gliedern sich in die natürlichen (‚naturales‘), die tugendhaften (‚uirtuales‘) sowie die natürlichen und tugendhaften (‚naturales et uirtuales‘).236 Zunächst zu den natürlichen: Damit sind geistige Wünsche gemeint, die in uns von Natur aus vorhanden sind: erstens der Wunsch, gut zu begreifen, zu unterscheiden und zu erinnern, dies sind die spezifischen Tätigkeiten der Vernunft und ihrer Begleiter; zweitens der Wunsch nach lebensnotwendigen geistigen Gütern (‚appetitus necessarii boni‘), wie Gebet, Fasten oder das Wort Gottes; drittens der Wunsch nach einem Überfluss an himmlischen Gütern (‚abundantia celestium‘) und dem himmlischen Vorteil (‚commodum celeste‘).237 Mit den letzten beiden sind in erster Linie quantitative Unterschiede gemeint. Von der Sache her handelt es sich dabei
233 Spec. uniu. 4, 4 (CCM 241, p. 236 f.): „Opitulatur igitur nobis amicus noster tribus modis: eruditione, affectu et regimine. Eruditione confert nobis bene sapere, affectu bene affectare, regimine nos bene gubernare.“ 234 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 237): „Propterea spirituales affectus sic diuidi possunt: spiritualium affectuum alii sunt boni, alii erronei, alii curiosi, alii indifferentes.“ 235 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 237): „Affectu uero nobis opitulatur, quoniam semper nobis bene uult, tametsi nonnumquam aut per ignorantiam fallatur aut per curiositatem inutiliter occupetur.“ 236 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 237): „Naturales sunt qui insiti sunt nobis per naturam, uirtuales qui per gratiam, naturales simul et uirtuales qui partim per naturam, partim per gratiam.“ 237 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 237 f.): „Ceterum naturales affectus alii sunt appetitiui naturalis boni, ut acute intelligendi, discernendi, memorandi et huiusmodi. Alii uero sunt appetitiui necessarii boni, ut uerbi Dei, ieiunii, orationis et huiusmodi. Alii uero sunt appetitiui spiritualis siue celestis commodi, ut spiritualis siue celestis habundantie, spiritualis siue celestis honoris, spiritualis siue celestis potestatis, spiritualis siue celestis glorie, spiritualis siue celestis uoluptatis.“
2.2 Weitere Bestimmungen
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um dieselben Gegenstände. Die tugendhaften Affekte sind rein gnadenhaft geschenkt und stellen das Sehnen nach Glaube, Liebe und Hoffnung – also den theologischen Tugenden – dar. Radulfus Ardens hebt hervor, dass sie den Anfangspunkt der jeweiligen Tugend bilden und wiederum selbst aus diesen entstehen.238 Die natürlichen und tugendhaften Affekte sind die Wünsche nach den vier Kardinaltugenden. Sie sind nämlich z. T. in uns angelegt, müssen aber ebenfalls durch die Gnade unterstützt und aktiviert werden.239 Hier wird also der in der Schöpfung angelegte Wunsch des Menschen nach einem tugendhaften und glücklichen Leben im Unbewussten verankert und es wird verdeutlicht, in welcher Weise sich diese verborgenen Wünsche und der konkrete Erwerb der Tugenden gegenseitig verstärken. Die irrigen Affekte sind Irrtümer, die aus geistiger Unkenntnis entstehen. Der Autor hat hier bspw. Häresien im Blick, die nicht aus bösem Willen, sondern schlicht von den Grenzen des menschlichen Geistes herrühren. Als Beispiel verweist er auf die Irrtümer Cyprians von Karthago hinsichtlich der Taufe; dieser sei ansonsten ein ehrbarer Mann gewesen.240 Die neugierigen Affekte sind Wünsche nach Dingen, die auf den ersten Blick interessant erscheinen, aber nicht wichtig sind. In einem solchen Fall richtet sich der Geist versehentlich auf Gegenstände, die er eigentlich der Geringschätzung überantworten müsste.241 Schließlich gibt es noch indifferente geistige Wünsche, die in jedem Fall noch hinsichtlich ihrer Intention geprüft werden müssen. Radulfus Ardens nennt hier als Beispiel den Wunsch, Bischof zu werden.242 Wegen der Komplexität der Unterteilungen wird auch hier eine schematische Übersicht dargeboten:
238 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 238): „Virtuales uero affectus sunt ut affectus fidei, spei, caritatis Dei et uirtutis humilitatis. Ceterum ʻaffectus fidei et humilitatisʼ dixi non, qui sunt fides et humilitas, sed uel ex quibus ille uel qui ex illis oriuntur. Enimuero non ad has uirtutes homo naturaliter aspirat, sed per solam Dei gratiam possidentur.“ 239 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 238 f.): „Naturales uero et uirtuales affectus sunt, ut affectus quattuor uirtutum cardinalium quas naturaliter philosophi cognouerunt, sed tamen nulli eas uirtutes ueras nisi per Dei gratiam adipisci ualuerunt. Itaque naturales affectus sunt nobis naturaliter insiti, uirtuales gratis collati, naturales simul et uirtuales partim naturaliter insiti, partim gratis collati.“ 240 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 239): „Affectus autem erronei sunt, ut quando in spiritualibus per ignorantiam erramus habentes quidem zelum Dei, sed non secundum scientiam, sicut beatus Ciprianus qui baptismum ab hereticis collatum dicebat adnullari.“ 241 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 239): „Curiosi uero affectus sunt, ut quando in inquisitione quorumdam spiritualium inutilium uel parum utilium otiose sollicitamur. “ 242 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 239 f.): „Indifferentes affectus sunt qui ex diuersa intentione et bene et male desiderari possunt uelut affectus episcopandi.“
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2 Die drei Grundemotionen des Menschen
affectus uirtuales
caritatis / spei / fidei naturali boni
affectus boni
affectus naturales
necessarii boni abundantie / commodi celestis
affectus naturales et uirtuales
affectus spirituales
prudentie / iustitie / fortitudinis / temperantie
affectus erronei affectus curiosi affectus indifferentes
Abb. 11: Die Einteilung der geistigen Affekte.
Mit dieser umfassenden und zugleich konkreten Analyse der menschlichen Bedürfnisse im Bereich der geistigen Güter hebt Radulfus Ardens hervor, dass der Mensch von seiner Natur her auf die Sphäre des Himmlisch-Geistigen ausgerichtet ist. Allerdings sind seinen natürlichen Kräften hier klare Grenzen gesetzt und er ist dabei in jedem Fall auf die Gnade Gottes angewiesen. Gerade bei den Wünschen nach den drei theologischen und den vier Kardinaltugenden wird das dynamische Ineinander von Gnade und Natur deutlich: So können bspw. die natürlich angelegten Kardinaltugenden durch aufmerksame Pflege gnadenhaft vollendet werden und unter gewissen Bedingungen können sich sogar die gnadenhaft geschenkten Tugenden in natürliche Wesensbestandteile verwandeln.243 Damit sind im Bereich der Tugenden die menschliche Natur und die helfende Gnade Gottes gewissermaßen zwei Seiten derselben Medaille.
2.2.3 Die Bedeutung der Affekte bei der Entstehung der Tugenden und Laster aus dem menschlichen Willen In Buch 5 entfaltet Radulfus Ardens eine komplexe Handlungstheorie, mit deren Hilfe er aufzeigt, in welchem Prozess die Tugenden und Laster aus dem Willen entstehen und sich habituell verfestigen. Da diese Thematik für die Tugendkonzeption des Speculum universale von zentraler Bedeutung ist, hat sich Johannes Gründel
243 Spec. uniu. 4, 5 (CCM 241, p. 239): „Naturales quippe per multum cultum possunt fieri uirtuales, ut sint simul et naturales et uirtuales. Virtuales uero nequaquam in naturales conuertuntur, licet in perfectis ex longo usu quasi naturalis soliditatis uideantur.“
2.2 Weitere Bestimmungen
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bereits umfassend damit beschäftigt.244 Da er sie jedoch in erster Linie die Verstandestugenden im Blick hatte, werden im Folgenden einige kurze Ergänzungen hinsichtlich der Affekte angefügt. Entscheidend ist dabei – so viel kann vorweggenommen werden –, dass der Wille selbst als Affekt bestimmt wird. In Verbindung mit der Tatsache, dass die Qualität des Willens in letzter Konsequenz das entscheidende Kriterium für Verdienst oder Strafe ist, ergibt sich daraus, dass die Affekte eine zentrale Bedeutung für die ethische Bewertung des menschlichen Handelns haben. Die Gedankengänge, die zu diesem Schluss führen, werden an ausgewählten Textpassagen von Buch 5 besprochen. Den roten Faden bildet die Frage, in welchen Entwicklungsstufen aus den ersten mehr oder wenig zufällig aufkommenden Gedanken, die allmählich affektiv besetzt und schließlich von der Vernunft gebilligt werden, konkrete Tugenden und Laster entstehen. Von daher stellt er auch zu Beginn des ersten Kapitels die Frage ‚Wie entstehen in uns die Tugenden und Laster‘.245 (1) Radulfus Ardens beschäftigt sich in den ersten Kapiteln von Buch 5 (c. 1–17) zunächst einmal ausführlich mit der Frage, was ein Gedanke (‚cogitatio‘) überhaupt ist, wie er sich unterteilen lässt und aus welcher Quelle er hervorgeht. Er definiert das Denken (‚cogitare‘) als eine bestimmte unsichtbare Tätigkeit, durch die die Seele etwas im Herzen (‚in corde‘) erfasst.246 Da er die einzelnen Gedanken als erste Keimzelle von Tugenden und Laster ansieht, stellt er auch nochmals die Frage danach, wie sie entstehen (c. 14–17). Diesbezüglich verweist er auf die bereits in den Büchern 3 und 4 beschriebenen ‚suggestiones‘ durch die Feinde und Freunde des Menschen. Allerdings ergänzt er hier noch, dass manche Gedanken ohne jeden Einfluss von außen und ohne jede Kontrolle durch den Menschen aus dem Herzen selbst entstehen.247 Von daher ist klar: Die ersten Regungen des Herzens (‚primi motus cordis‘) bzw. die ersten Bewegungen der Gedanken (‚primi motus cogitationum‘) stehen nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen. Damit ist der Beginn des Entstehungsprozesses der Tugenden und Laster einer bestimmten Willkür bzw. dem Zufall unterworfen. Jedoch haben diese ersten Gedanken auch noch keinerlei ethische Qualität – erneut kommt es darauf an, wie sich der Mensch mit seinen Kräften zu diesen Regungen verhält und sie gestaltet, wobei entscheidend ist, ob diese ‚primi motus cogitationum‘ mit Affekten besetzt werden oder nicht.
244 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 146–207. 245 Spec. uniu. 5, 1 (CCM 241, p. 320): „Quomodo oriuntur in nobis uitia uel uirtutes?“ 246 Spec. uniu. 5, 2 (CCM 241, p. 320): „Est igitur cogitatio actio quedam inuisibilis qua agit anima rem aliquam corde percipiendo.“ 247 Spec. uniu. 5, 15 (CCM 241, p. 344): „Quod autem sine aliquo predictorum nonnumquam ex ipso corde cogitatio per semet oriatur, unusquisque frequenter in semet experitur. Nonnumquam siquidem nulla nos affectione interius instigante omnique remota suggestione omnibusque corporis sensibus clausis in corde de ipso corde cogitatio indifferens uel leuis que nec caput nec caudam habet, surgit […].“
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2 Die drei Grundemotionen des Menschen
Nicht alle Gedanken können mit Affekten besetzt werden.248 Für die Genese der Tugenden sind jedoch nur diejenigen von Bedeutung, die tatsächlich affektbesetzt (‚cogitationes infecte‘) sind.249 Gedachte oder gesehene erstrebenswerte Dinge erregen die ‚amabilitas‘, hassenswerte die ‚odibilitas‘ und gering zu schätzende die ‚contemptibilitas‘.250 In Konsequenz daraus entsteht im Herzen entweder ein Gefallen (‚placentia‘), ein Missfallen (‚displicentia‘) oder ein Nicht-Gefallen (‚nonplacentia‘). Diese drei Begriffe sind übrigens systematisch betrachtet mit der ‚amabilitas‘, der ‚odibilitas‘ und der ‚contemptibilitas‘ identisch.251 Nur diesen drei affektiven Reaktionen auf bestimmte Gedanken kommt eine sittliche Qualität zu.252 Sie bilden die Grundlage für die Entstehung der amativen, oditiven und kontemptiven Tugenden und ihrer jeweiligen Gefolgschaft. Um zu erklären, in welcher Weise der Mensch darauf Einfluss hat, dass seine Gedanken mit den drei genannten Affekten besetzt werden, analysiert der Autor die einzelnen Entwicklungsstufen vom Gedanken bis zu habituell gefestigten Verhaltensweisen im Detail. (2) Die Frage nach den Stufen, in denen die Tugenden und Laster entstehen (‚quibus gradibus proficiant‘), ist eine der Leitfragen von Buch 5 und wird daher auch bereits im ersten Kapitel genannt.253 Der Prozess, in dem Tugenden und Laster aus den Gedanken hervorgehen, ist in sieben Stufen unterteilt. Er unterscheidet sich je nachdem, welcher der drei Affekte aktiviert wird, weshalb Radulfus Ardens dem Gefallen, dem Missfallen und dem Nicht-Gefallen auch jeweils ein eigenes Kapitel
248 Spec. uniu. 5, 18 (CCM 241, p. 348): „Ad hoc preuidendum quoniam cogitationum alia est infecta, alia non: infecta est que aliquo mouetur affectu, non infecta uero est que nullo.“ 249 Spec. uniu. 5, 18 (CCM 241, p. 349): „Porro sole cogitationes infecte sunt meritorie, quia sole bone uel male. Rudes uero cogitationes, quia sine affectu sunt, non sunt meritorie […]. Ex his igitur, quia sine affectu sunt, nec uitia nec uirtutes oriuntur.“ 250 Spec. uniu. 5, 18 (CCM 241, p. 348): „Nam rerum alie mouent affectum concupiscibilitatis, alie odibilitatis, alie contemptibilitatis: sane concupiscibilitatis affectum mouent concupiscibilia uel cogitata uel uisa uel aliquo sensuum animaduersa, affectum uero odibilitatis mouent odibilia, contemptibilitatem contemptibilia.“ 251 Dies zeigt sich z. B. an den Kapitelüberschriften. Im 19. Kapitel von Buch 5 wird gefragt, welche Tugenden und Laster aus der begehrenden Seelenkraft (‚ex concupiscibilitate‘) entstehen, während in den Überschriften der beiden folgenden Kapitel vom Missfallen und dem Nicht-Gefallen die Rede ist (‚ex displicentia‘ bzw. ‚ex nonplacentia‘). 252 Spec. uniu. 5, 18 (CCM 241, p. 349): „Ex infectis uero cogitationibus uirtutes uel uitia diuersa nascuntur et hoc modo res per cogitationem in corde concepta aut placet aut displicet aut nec placet nec displicet, sed tantum non placet. Itaque tres res sunt: placentia, displicentia et nonplacentia. Porro ex his tribus tria genera uirtutum uel uitiorum oriuntur. Nam ex placentia cogitationis oriuntur uirtutes uel uitia cupiditatis siue amoris cum sequelis suis, ex displicentia uero cogitationis oriuntur uirtutes et uitia odibilitatis siue irascibilitatis cum sequelis suis, ex nonplacentia quoque cogitationis oriuntur uirtutes et uitia contemptibilitatis cum comitibus suis.“ 253 Spec. uniu. 5, 1 (CCM 241, p. 320): „Considerandum est igitur quid sit cogitatio, quot modis dicatur, quot sint species cogitationum, unde oriantur, ex quibus cogitationibus uitia uel uirtutes pullulent, quibus gradibus proficiant […].“
2.2 Weitere Bestimmungen
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(c. 19–21) widmet. Diese siebenstufige Entwicklung wurde bereits ausführlich beschrieben und mithilfe einer schematischen Übersicht veranschaulicht, sodass sich die hier dargebotene Skizze in erster Linie an diesen Vorarbeiten orientieren kann.254 – Zunächst zu den Verhaltensweisen, die aus der liebenden bzw. begehrenden Seelenkraft (‚concupiscibilitas‘) entstehen: Erstens wird eine Sache im Herzen erfasst (‚corde concipitur‘). Hier lässt sich die Definition des Denkens wiedererkennen. Zweitens gefällt sie (‚placet‘) und drittens wird sie begehrt (‚cupitur‘). Viertens erfreut sie (‚delectat‘), fünftens stimmen wir ihr durch den gewogenen Willen zu (‚per pronam uoluntantem consentimus‘), sechstens führen wir sie tatsächlich aus (‚opere perpetrare‘) und schließlich wird sie zur Gewohnheit (‚per consuetudinem in ea consuescimus‘), d. h. zu einer amativen Tugend oder zu einem amativen Laster.255 Radulfus Ardens fügt an, dass die ersten der Entwicklungsstufen, also in diesem Fall das Erfassen, Gefallen und Begehren, zusammen als Denken (‚cogitatio‘) bezeichnet werden können und diese Phase noch nicht Verdienst oder Strafe nach sich zieht, sondern eher noch als indifferent zu werten ist. Erst wenn das Denken und die beiden darauffolgenden Stufen, also das Erfreuen und die Zustimmung, zusammengenommen werden, kann man vom Willen im eigentlichen Sinne sprechen, der dann auch ethisch qualifiziert werden kann. Er stellt das ‚Material‘ für die konkrete Ausübung der Tat und die Herausbildung einer Tugend oder eines Lasters das.256 Das daraus entstehende Werk und die daraus erwachsende Haltung ist dann je nachdem, ob sie gut oder schlecht sind, noch verwerflicher oder verdienstlicher als der bloße Wille selbst. Offensichtlich wurde diese genaue Unterteilung im Hinblick auf eine möglichst genaue Bestimmung des Schweregrads der Sünde vorgenommen, die in der damaligen Zeit von besonderer Wichtigkeit war.257 – Auch im Bereich der hassenden Seelenkraft ist der Entstehungsprozess in sieben Stufen gegliedert: Erstens wird die hassenswerte Sache wahrgenommen, zweitens missfällt sie (‚displicet‘) und drittens beginnt man sie zu hassen (‚odiri incipere‘). An dieser Formulierung zeigt sich, dass es sich um den Beginn der affektiven Besetzung handelt, der nur in einem sehr geringen Maße verdienstlich bzw. verwerflich sein kann. Viertens sind wir zornig auf die Sache und haben Angst davor (‚irasci et anxiari‘), fünftens stimmen wir diesen Affekten zu, sechstens meiden wir 254 Vgl. ERNST, Einleitung 2 43–46 sowie GRÜNDEL, Verstandestugenden 164–167. 255 Spec. uniu. 5, 19 (CCM 241, p. 349 f.): „Quibus autem gradibus ex his surgant, animaduertendum est. Sane ex placentia cogitationis surgunt uirtutes et uitia cupiditatis hoc modo: primo siquidem per cogitationem res in corde concipitur, secundo placet, tertio cupitur, quarto delectat, quinto per pronam uoluntatem ei consentimus, sexto illam opere perpetramus, septimo per consuetudinem in ea senescimus.“ 256 Spec. uniu. 5, 19 (CCM 241, p. 350): „Ceterum notandum est quoniam prima tria uidelicet rei in corde conceptio, placentia et concupiscentia ‘cogitatioʼ dicuntur […]. Similiterque cogitatio, delectatio et consensus ‘una uoluntasʼ dicuntur, ut quando legimus quod peccatum uoluntate, opere et consuetudine consummatur.“ 257 Vgl. dazu ERNST, Einleitung 1 45; LOTTIN, Psychologie 2 493–589.
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–
2 Die drei Grundemotionen des Menschen
den Gegenstand tatsächlich (‚fugere‘) und schließlich bildet sich durch die Gewohnheit auch im Bereich des Hasses eine habituelle Verfestigung in Form einer oditiven Tugend oder eines oditiven Lasters heraus.258 Obgleich der ‚contemptus‘ kein Affekt im eigentlichen Sinne ist, entwickeln sich aus der entsprechenden Seelenkraft ebenfalls über sieben Entwicklungsstufen die kontemptiven Tugenden und Laster: Erstens nehmen wir die gering zu schätzende Sache wahr, zweitens gefällt sie uns weder noch missfällt sie und drittens beginnen wir, sie geringzuschätzen (‚contempnere incipere‘). Viertens erachten wir sie für nichtig (‚nichilpendere‘), fünftens stimmen wir zu, sechstens verbannen wir sie aus unseren Gedanken und schließlich bildet sich eine kontemptive Haltung heraus.259 Diese siebenstufige Entwicklung lässt sich wie folgt abbilden:260
(1)
cogitationes
(2)
placet
displicet
non placet nec displicet
(3)
incipit cupi
incipit odiri
incipt contempni
(4)
delectare
irasci et anxiari
nichilpendere
(5)
per pronam uoluntatem consentire
nascenti odio et ire consentire
omnino contempnere consentire
actus
(6)
opere perpetrare
opere perpetrare
a cogitatione dimittere
consuetudo
(7)
uirtus amatiua / uitium amatiuum
uirtus oditiua / uitium oditiuum
uirtus contemptiua / uitium contemptiuum
cogitatio
uoluntas
Abb. 11: Die schrittweise Entstehung der Tugenden.
258 Spec. uniu. 5, 20 (CCM 241, p. 351): „Ex displicentia quoque surgunt uirtutes uel uitia odibilitatis hoc modo: primo quidem per cogitationem res in mente concipitur, secundo displicet, tertio incipit odiri secundo motu odibilitatis, quarto contra eam in cogitatione irascimur et anxiamur, quinto nascenti odio et ire consentimus, sexto illud fugimus uel fugamus, septimo per consuetudinem in hoc senescimus.“ 259 Spec. uniu. 5, 21 (CCM 241, p. 352): „Ex nonplacentia quoque surgit uirtus uel uitium contemptus hoc modo: primum siquidem res in corde per cogitationem concipitur, secundo non placet nec displicet, tertio incipimus illud contempnere, quarto illud nichilipendimus, quinto consentientes illud omnino contempnimus, sexto etiam a cogitatione illud dimittimus, septimo in hoc per consuetudinem senescimus.“ 260 Vgl. auch das Schema bei ERNST, Einleitung 1 44.
2.2 Weitere Bestimmungen
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An diesem Schema wird deutlich, dass Radulfus Ardens die sieben Phasen nochmals in verschiedene Stadien eingeteilt hat. Zunächst fasst er – wie bereits erwähnt – die ersten drei Stufen als Denken im weiteren Sinne zusammen. Im zweiten Abschnitt regt sich der Affekt erstmalig (‚primi motus‘) und im dritten wird der Gedanke bzw. die Sache, auf die er sich bezieht, schon anfanghaft begehrt, gehasst oder geringgeschätzt (‚secundi motus‘), ohne dass sich hier schon ein Wille ausgebildet hätte.261 In der vierten Stufe identifiziert man sich emotional mit dem Gedanken: Es stellt sich ein Erfreuen (‚delectatio‘), eine Besorgnis (‚anxietudo‘) oder eine Unbekümmertheit (‚nichilpensio‘) ein.262 Auf der fünften Stufe stimmt die Vernunft dieser Emotion zu (‚consensus‘). Am Ende dieses Stadiums ist eine konkrete ‚uoluntas‘, ‚noluntas‘ oder ‚non-uoluntas‘ entstanden. Dieser Wille führt unmittelbar zur Handlung (‚actus‘) und wiederholte Handlungen lassen einen Habitus – also eine Tugend oder ein Laster – entstehen. (3) Zuletzt wird der Blick noch einmal genauer auf den Willen bzw. seine drei konkreten Formen gelenkt. Diese Thematik wird in einem eigenen, recht umfangreichen Traktat behandelt (c. 25–42). Radulfus Ardens setzt sich dabei in seiner Bestimmung des Willens explizit von der damals allgemein gültigen Willensdefinition des Augustinus als Bewegung des Geistes ohne Zwang, etwas zu erlangen oder zu vermeiden,263 ab und führt eine eigene Definition an. Er schreibt dazu in Kapitel 25: Possumus autem sic uoluntatem generaliter diffinire: Voluntas est prior ex concupiscibilitate siue amabilitate procedens affectio. Econtrario quoque noluntas est prior ex irascibilitate siue odilitate [scil. odibilitate] procedens affectio. […] Nonuoluntas uero siue contemptus est quies mentis respectu rei neque placite neque displicite.264
An dieser Definition fällt auf den ersten Blick ins Auge: Die drei Formen des Willens sind systematisch mit den drei Grundaffekten Liebe, Hass und Geringschätzung identisch. Daran wird deutlich, welche zentrale Bedeutung den Affekten bei der Entstehung der Tugenden und Laster zukommt. Sie bilden nämlich – wie schon mehrfach angedeutet – das eigentliche ‚Material‘, aus dem die Tugenden und Laster bestehen. Daher bezeichnet sie Radulfus Ardens am Ende des Willenstraktats auch allegorisch als den
261 Spec. uniu. 5, 22 (CCM 241, p. 353): „Enimuero primi motus tam potentiarum quam affectuum anime nequaquam sunt in nostra potestate. Intelligimus quippe, memoramus et discernimus aliquid primo et secundo motu multotiens etiam nolentes. Cupimus quoque, irascimur et negligimus aliquid primo et secundo motu multotiens etiam nonuolentes.“ 262 Spec. uniu. 5, 23 (CCM 241, p. 355): „Est igitur delectatio in rei placite uel etiam amate cogitatione uel usu gratificatio. Anxietudo uero est in rei displicite uel etiam perose cogitatione uel infestatione uexatio. Nichilipensio quoque est rei non placite uel etiam contempte in cogitatione uel re noncuratio.“ 263 Vgl. Spec. uniu. 5, 25 (CCM 241, p. 362 f.): „Voluntas est motus mentis nullo cogente ad euitandum uel adipiscendum aliquid.“ In dieser Form wurde sie wohl AUG., De duab. anim. 14.16 (CSEL 25, 1; p. 68.70.72) entnommen. 264 Spec. uniu. 5, 25 (CCM 241, p. 362 f.).
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2 Die drei Grundemotionen des Menschen
Weg, auf dem wir zu einem bestimmten Ziel gehen. Auf die Handlungstheorie übertragen ist dann der Grund für die Wahl dieses Weges die Absicht (‚intentio‘) und das Ziel dementsprechend auch das Ziel der Handlung (‚finis‘). Die Intention und das Ziel sieht er aber als weitgehend identisch an.265 Mit dieser präzisen und feinsinnigen Analyse macht der Autor deutlich, in welcher Weise Vernunft und Gefühl bei der Herausbildung der Charaktereigenschaften miteinander verwoben sind. Die Gedanken bilden den Ausgangspunkt des Prozesses, durch die Affekte kommt es zur emotionalen Identifikation mit ihnen und schließlich ist es Aufgabe der Vernunft, ihre Zustimmung zu erteilen. Dieses dynamische Wechselverhältnis von Vernunft und Gefühl lässt sich als konkrete Ausarbeitung der komplementären Zuordnung der beiden Instanzen verstehen. Damit ist die anfangs geäußerte Frage, welchen Anteil die Affekte an der Genese der Tugenden und Laster bilden, beantwortet.
265 Spec. uniu. 5, 41 (CCM 241, p. 383): „Est autem aliud uoluntas, aliud intentio, aliud finis. Porro uoluntas est qua uolumus siue quam uolumus, intentio uero causa est propter quam uolumus, finis est ad quem tendimus. Voluntas est quasi uia qua ambulamus, intentio est causa propter quam ambulamus, finis est quo ambulamus. […] Sane finis et intentio pene sunt idem, unde et finis ponitur pro intentione et intentio pro fine.“
3 Zwischenfazit Zum Abschluss des ersten Teils bietet es sich an, die wichtigsten Ergebnisse zur Komplementarität der Tugenden und der Bedeutung der Affekte in der Anthropologie des Radulfus Ardens kurz zusammenzufassen. Dabei kristallisieren sich sieben Punkte heraus: (1) Der Mensch ist in seinem Wesen von Gegensätzen geprägt. Diese Gegensätze sind keineswegs als Ergebnis des Sündenfalls zu betrachten, sondern sind von Gott so gewollt. Sie bilden die Grundlage dafür, dass verschiedene Aspekte der menschlichen Existenz in einem komplementären, sich gegenseitig positiv ergänzenden Verhältnis stehen. (2) Das Menschenbild im Speculum universale ist ganzheitlich komplementär angelegt. Es lassen sich dabei drei Ebenen ausmachen: Erstens stehen das leibliche und seelische Prinzip in einem komplementären Zusammenhang. Der Körper schützt die Seele durch seine Schwäche vor dem Stolz und die Seele stärkt die Schwäche des Leibes. Zweitens bringen sich Vernunft und Gefühl gegenseitig ins rechte Maß: Die Vernunft identifiziert dabei die grundlegenden Kategorien gut – böse – wertlos und die Affekte motivieren zum tatsächlichen Handeln. Drittens sind die beiden Grundaffekte Liebe und Hass komplementär verfasst: Die Liebe erstrebt die begehrenswerten und der Hass meidet die missliebigen Dinge. Radulfus Ardens bildet diese Zusammenhänge auch mit besonderen stilistischen Formulierungen ab, die daher als Marker für Komplementarität gelten können. (3) In Konsequenz stehen auch die Tugenden, die aus den genannten Seelenkräften entstehen, in einem komplementären Verhältnis. So ist die Unterscheidung die allgemeine Komplementärtugend aller affektiven Tugenden und die amativen Tugenden sind die speziellen Komplementärtugenden der oditiven. (4) Innerhalb der Affekte kommt der Geringschätzung eine Sonderstellung zu. An sich ist sie kein Affekt, sondern vielmehr ein neutraler Ruhepunkt, der Gegenstände, die nicht heilsrelevant sind, unbeachtet lässt. Da den Tätigkeiten der anderen Seelenkräfte durch die Beeinträchtigung des Sündenfalls immer wieder Fehler unterlaufen, kommt der Geringschätzung de facto die Aufgabe eines Korrektivs zu. So ergibt sich eine Skala, auf der der ‚contemptus‘ zum Hass oder zur Liebe tendieren kann, sodass sich innerhalb dieses Spektrums ein Raum für die kontemptiven Komplementärtugendpaare öffnet. (5) Die Aufteilung der Affekte des Inneren Menschen in die drei Grund-Leidenschaften Liebe, Hass und Geringschätzung findet sich in analoger Anordnung auch im Bereich des Äußeren Menschen bzw. der Sinne. Hier richten sich die Wünsche allerdings nicht auf geistige, sondern auf materielle Güter.
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3 Zwischenfazit
(6) Es gibt – systematisch gesehen – nur eine einzige Ausnahme vom System der Komplementärtugenden: Die Gottesliebe und ihre Tochtertugenden benötigen kein komplementäres Gegenstück, da es in diesem Bereich kein Übermaß geben kann. Vielmehr ist die Gottesliebe überhaupt erst die Grundlage für alle anderen Tugenden und bildet gewissermaßen den Fixpunkt des menschlichen Handelns. Bei den ansonsten von Radulfus Ardens genannten Ausnahmen (Glaube, Maßhaltung und Keuschheit) handelt es sich um zeitbedingte Festlegungen, wobei in allen drei Fällen bereits Andeutungen zu einer möglichen Komplementärtugend gemacht werden. (7) Die Affekte spielen sowohl hinsichtlich der äußeren Einflüsse als auch der Vorgänge im Inneren des Menschen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Tugenden und Laster. So bildet sich erst durch die affektive Besetzung der Gedanken das Gefallen, Missfallen oder Nicht-Gefallen hinsichtlich eines Gegenstandes heraus. Diese drei Reaktionen stellen als Gesamtheit die Grundfunktionen des menschlichen Willens und zugleich die Grundaffekte dar. Dadurch wird sichtbar, dass die Affekte von ihrem Ursprung und ihrem Endprodukt (also den amativen, oditiven und kontemptiven Verhaltensweisen) her kontinuierlich mit der Tätigkeit der vernünftigen Seelenkraft verbunden sind. Diese Zwischenergebnisse beantworten die ersten beiden in der Einleitung formulierten Leitfragen der Arbeit. Zudem wurde auch schon wichtiges Material gesammelt, um die dritte Frage beantworten zu können, die sich auf das Verhältnis zwischen den beiden Grund-Affekten Liebe und Hass auf der einen und der Geringschätzung auf der anderen Seite richtet. Auf der Grundlage dieser Bestimmungen werden im zweiten Teil zunächst die amativen und oditiven Tugenden in Buch 11 und im dritten Teil die kontemptiven Tugenden in Buch 12 behandelt.
Zweiter Teil: Buch 11 – Die amativen und oditiven Tugenden
Die eingehende Betrachtung der menschlichen Seele und ihrer Kräfte hat deutlich gemacht, dass das komplementäre Denken sowohl für das Menschenbild des Radulfus Ardens als auch für seine Tugendkonzeption insgesamt eine zentrale Rolle spielt und dass die menschliche Natur auf insgesamt drei Ebenen durch Komplementarität geprägt ist. In welcher Weise diese Strukturen innerhalb der Seelenkräfte die Komplementarität der Tugenden begründen, zeigt sich besonders anschaulich auf der dritten Ebene, also im Bereich der beiden Affekte Liebe und Hass. Der Grund dafür ist, dass die Affekte, die aus ihnen hervorgehen, ebenfalls in einem komplementären Verhältnis stehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Ziel des zweiten Teils der Arbeit konkreter formulieren: Klar ist, dass bei der Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden in Buch 11 der Grundgedanke des Radulfus Ardens von der komplementären Verfasstheit des menschlichen Verhaltens deutlich sichtbar wird. Allerdings stellen sich zwei weiterführende Fragen. Erstens: Wie konsequent geht der Autor dabei vor und wie überzeugend begründet er seine Gedankengänge? Zweitens: Welche Einzeltugenden entstehen aus den beiden Grundtugenden Liebe und Hass und wie werden sie komplementär aufeinander bezogen? Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese beiden Fragestellungen durch detaillierte Textanalysen umfassend zu klären. Aufgrund der Komplexität der Darstellung und der Vielzahl der genannten Tugenden besteht ein zentrales Anliegen der Interpretation darin, die einzelnen inhaltlichen Details zu beschreiben, ohne dabei den Gesamtzusammenhang von Buch 11 aus dem Blick zu verlieren. Daher werden in einem ersten Schritt (Punkt 1) zunächst Aufbau und Inhalt von Buch 11 im Überblick erläutert sowie das methodische Vorgehen des Radulfus Ardens skizziert. Zu diesem Zweck werden die Besonderheiten in der Struktur des Buches in den Blick genommen und die acht Komplementärtugendpaare skizziert, die sein Grundgerüst bilden. In einem zweiten Schritt (Punkt 2) steht die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden im Fokus. Radulfus Ardens behandelt nämlich ausgehend von den acht Komplementärtugendpaaren zahlreiche Tochtertugenden und Unterarten. Hier geht es darum, das Profil der jeweiligen Einzeltugend herauszuarbeiten und ihre Bedeutung für die komplementäre Grundstruktur von Buch 11 zu untersuchen. In einem dritten Schritt (Punkt 3) wird der Ansatz des Radulfus Ardens traditionsgeschichtlich eingeordnet. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit er bei der Konzeption der amativen und oditiven Tugenden auf Vorlagen zurückgegriffen hat oder ob er sie weitestgehend eigenständig entwickelt hat.
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1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11 1.1 Die Sonderstellung von Buch 11 Der Aufbau und die Programmatik von Buch 11 weisen einige Besonderheiten im Vergleich zu den übrigen Büchern des Speculum universale auf. Diese Eigenheiten und ihre Bedeutung für die weiteren Ausführungen werden im Folgenden genauer in den Blick genommen. Dass Buch 11 – mit 172 Kapiteln das umfangreichste des Gesamtwerks – in einem entscheidenden Punkt gänzlich anders konzipiert ist als die übrigen Bücher, zeigt sich bereits auf den ersten Blick: Hier werden die amativen und oditiven Tugenden gemeinsam behandelt. Dass es sich dabei um eine bemerkenswerte Besonderheit handelt, wird vor dem Hintergrund deutlich, dass Radulfus Ardens die übrigen drei Tugendgruppen stets in angeschlossenen Blöcken darstellt: die diskretiven Tugenden in den Büchern 7–10, die kontemptiven in Buch 12 und die Verhaltensweisen des Äußeren Menschen in den Büchern 13 und 14. Dass er in Buch 11 hingegen zwei Tugendgruppen nebeneinander behandelt, sieht er in einer systematischen Notwendigkeit begründet. Dazu schreibt er im Incipit des Buches: Post predicta de amatiuis et oditiuis uirtutibus siue uitiis pariter agendum est. Et quoniam oditiue amatiuas et amatiue oditiuas habent temperare, propterea de utrisque tractandum est collatiue.1
Die Programmatik des 11. Buches ergibt sich damit also unmittelbar aus den Verhältnissen in der Seele. Dass Liebe und Hass nebeneinander (‚collatiue‘) behandelt werden, ist nämlich keineswegs selbstverständlich, sondern nur auf Grundlage der Ausführungen über die Seelenkräfte nachvollziehbar. Daher findet sich an dieser Stelle auch die für komplementäre Verhältnisse charakteristische Wiederholung der beiden Elemente in vertauschter Reihenfolge:2 Die oditiven Tugenden mäßigen die amativen und die amativen die oditiven. Damit wird verdeutlicht, dass Liebe und Hass nicht durch eine dritte Seelenkraft gemäßigt werden, sondern sich gegenseitig ins rechte Verhältnis setzen. Bei diesem Befund ist besonders darauf hinzuweisen, dass sich die Formulierung in den Vorbemerkungen zu einem ganzen Buch findet. Vergleichbare Aussagen kommen sonst nur in einzelnen Kapiteln vor, in denen einer bestimmten Tugend ihre jeweilige Komplementärtugend zugewiesen wird. Schon am Aufbau von Buch 11 wird also gut sichtbar, welche Bedeutung das komplementäre Denken für die Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden hat.
1 Spec. uniu. 11, Incipit (P, fol. 62ra). Auf diese Stelle verweist auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 275. 2 Zur ‚komplementären Sprache‘ und ihrer Bedeutung vgl. Punkt 1.2.4 des ersten Teils. https://doi.org/10.1515/9783110758924-009
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1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
Im Verlauf von Buch 11 ordnet Radulfus Ardens daher den Tugenden aus dem Bereich der ‚amabilitas‘ jeweils ein komplementäres Gegenstück aus dem Bereich des Hasses zu. Ausnahmen bilden dabei nur diejenigen Tugenden, bei denen es seiner Meinung nach kein Zuviel oder Zuwenig geben kann – zumeist beziehen sich diese Ausnahmen auf das Verhältnis zu Gott. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit den Tugenden, die aus den anderen Seelenkräften hervorgehen? Im Bereich der diskretiven und kontemptiven Tugenden bilden jeweils zwei Tugenden aus derselben Seelenkraft ein Komplementärtugendpaar. Ähnlich verfährt der Autor bei den Verhaltensweisen des Äußeren Menschen, wobei dort nur ein loser Bezug zu den Seelenkräften besteht. Damit ist also in Buch 11 eine nachvollziehbare systematische Grundlegung für die komplementäre Zuordnung der Tugenden gegeben, während die Zuordnungen in den übrigen Gruppen einer gewissen (zumindest systematischen) Willkür unterliegen. Jedoch ist bereits an dieser Stelle anzumerken, dass diese systematische Klarheit auch in Buch 11 nicht immer aufrechterhalten wird. Auch hier finden sich eine ganze Reihe von Komplementärtugendpaaren, bei denen entweder beide Glieder aus dem Bereich der Liebe stammen oder eines von beiden zum Bereich der diskretiven oder kontemptiven Tugenden gehört. Trotz dieser Einschränkungen ist die Konzeption grundsätzlich bemerkenswert. Das Verständnis der systematischen Zweiteilung von Buch 11 ist nicht nur für das Verhältnis von ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘ entscheidend, sondern erschließt darüber hinaus auch Strukturprinzipien, die im gesamten Speculum universale Spuren hinterlassen haben. Zudem finden sich im Zusammenhang mit den einzelnen Komplementärtugendpaaren über das ganze Buch verstreut immer wieder Erklärungen, in denen sich Radulfus Ardens explizit zur Bedeutung und inhaltlichen Konkretisierung des komplementären Denkens äußert. Einige dieser Beispiele wurden bereits im ersten Teil der Arbeit besprochen. Grundsätzlich wird die jeweilige Komplementärtugend nicht gleich zu Beginn der Erläuterungen über eine bestimmte Tugend genannt, sondern erst nachdem diese definiert und begrifflich ausdifferenziert wurde. Den Ausgangspunkt bildet dabei stets eine amative Tugend, der im weiteren Fortgang eine oditive Komplementärtugend zugewiesen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass die oditiven den amativen Tugenden nachgeordnet oder weniger wichtig wären: Wie an den Beispielen des Neides (c. 32–37) und des Zornes (c. 146–155) ersichtlich, werden einzelne oditive Tugenden oder Laster deutlich ausführlicher behandelt als ihre amativen Gegenstücke. Zum Abschluss der Vorbemerkungen zu den Besonderheiten von Buch 11 wird nun noch einmal die These vorgestellt, die den roten Faden der folgenden Untersuchung bildet: Grundsätzlich wird angenommen, dass die Komplementarität ein entscheidendes Strukturelement der Tugendkonzeption des Radulfus Ardens darstellt und sein gesamtes Denken maßgeblich prägt. Damit stehen zwei Annahmen in Verbindung: erstens, dass die Anlage und inhaltliche Gliederung des Speculum universale in seiner Gesamtheit durch die Komplementarität mitbestimmt ist, obwohl dies nicht immer unmittelbar an inhaltlichen Aspekten oder allgemeinen Aussagen zur
1.2 Inhaltlicher Überblick
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Sprache kommt; zweitens, dass komplementäre Denkstrukturen zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich in Zusammenhang mit tugendethischen Themen vorkommen, sondern letztlich unabhängig davon in vielen Bereichen angewendet werden können und die Perspektive des Radulfus Ardens auf das Wesen des Menschen, sein Handeln in der Welt und sein Verhältnis zu Gott insgesamt prägen. Im Verlauf dieser Untersuchung wird immer wieder zur Debatte stehen, wie leistungsfähig bzw. zutreffend diese These tatsächlich ist; d. h. es ist zu fragen, ob das komplementäre Denken tatsächlich einen so nachhaltigen Einfluss auf die Konzeption des Werkes hat und wenn ja, in welchem Umfang es Radulfus Ardens gelungen ist, dieses Strukturprinzip konsequent und nachvollziehbar im Speculum universale umzusetzen. Um diese beiden Annahmen zu beweisen, wird der Text von Buch 11 speziell auf Passagen untersucht, in denen sich konkrete Aussagen zur Komplementarität finden. Diese Passagen sind in überwiegender Mehrheit diejenigen Kapitel, in denen es um Komplementärtugendpaare geht. Darüber hinaus ist auch immer wieder zu fragen, wo sich in einzelnen thematischen Details oder auch sprachlichen Formulierungen Hinweise darauf finden, wie die Komplementarität das Denken des Radulfus Ardens insgesamt prägt. Für das methodische Vorgehen in den folgenden Kapiteln ergibt sich daraus: Es geht nicht darum, den Text vollständig darzustellen, ihn zu erklären und zu kommentieren. Das Augenmerk liegt vielmehr darauf, die komplementäre Grundstruktur, die Buch 11 zugrunde liegt, herauszuarbeiten und möglichst deutlich sichtbar zu machen. Um die Grundlagen dafür zu schaffen, wird zunächst ein Überblick dargeboten, der Gliederung, Aufbau, Inhalt und Methodik des Buches skizziert.
1.2 Inhaltlicher Überblick Im Folgenden werden in einem ersten Schritt (Punkt 2.1) die Strukturelemente in den Blick genommen, die den Aufbau von Buch 11 bestimmen. In einem zweiten Schritt (Punkt 2.2) werden die amativen und oditiven Affekte porträtiert, die die Grundlage für die in Buch 11 behandelten Tugenden bilden. In einem dritten Schritt (Punkt 2.3) wird der Prozess, in dem aus den affektiven Seelenkräften zunächst Affekte und schließlich Tugenden entstehen, schlaglichtartig beleuchtet. Dabei ist besonders das methodische Vorgehen des Radulfus Ardens und die von ihm verwendete Terminologie Gegenstand des Interesses, da die systematischen Grundlagen schon im ersten Hauptteil der Arbeit ausführlich herausgearbeitet wurden.3 In einem vierten Schritt (Punkt 2.4) werden die 8 Komplementärtugendpaare der ersten Gliederungsebene inhaltlich skizziert. Sie bilden – wie bereits gesagt – das
3 Vgl. Punkt 2.2.3.
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1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
Grundgerüst von Buch 11. Dabei geht es zunächst nur darum, eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Verhaltensweisen mit den insgesamt 16 Tugenden gemeint sind und nach welchem Schema sie aufgegliedert wurden.
1.2.1 Die beiden Strukturelemente der Gliederung von Buch 11 Bei der Beschreibung des Inhalts von Buch 11 ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Dies liegt daran, dass dessen Gliederung ausgesprochen kompliziert und vielschichtig ist. Der Aufbau ist nämlich durch zwei Strukturelemente geprägt: Zum einen werden die acht amativen und die acht oditiven Tugenden, aus denen die Komplementärtugendpaare bestehen, weiter untergliedert. Dabei lassen sich im Prinzip vier Gliederungsebenen ausmachen: Auf der ersten Ebene stehen die eben erwähnten acht grundlegenden Komplementärtugendpaare. Liebe und Hass bilden dabei den Ausgangspunkt. Auf der zweiten Ebene werden diese Tugenden in Arten (‚species‘) unterteilt. Dabei werden die zugrundeliegenden Affekte begrifflich ausdifferenziert und ethisch gewertet. Auf der dritten Ebene werden ihre Töchter bzw. Tochtertugenden (‚filie‘) behandelt, die sich auf der vierten Ebene nochmals in weitere Unterarten (‚species‘) ausdifferenzieren lassen. Der Vollständigkeit halber ist hier anzumerken, dass gelegentlich auch noch diese Unterarten weiter unterteilt werden. Allerdings handelt es sich dabei stets um mehr oder weniger assoziative Aufzählungen, die lediglich dazu dienen, die Bedeutung der jeweiligen Tugend bzw. des jeweiligen Lasters deutlich zu machen, weshalb sie aus der systematischen Perspektive dieser Arbeit nicht weiter von Interesse sind. Zusammenfassend kann man aber sagen, dass sich in dieser komplexen Struktur eine enorme Fülle von Tugenden und Lastern findet. Zum anderen weist Radulfus Ardens auf allen vier Ebenen den meisten der dort genannten Tugenden Komplementärtugenden zu. Daraus ergibt sich eine Schwierigkeit: Obwohl im Kontext der Arbeit v. a. der zweite Aspekt von Interesse ist, kann der erste nicht außer Acht gelassen werden. Oder anders gesagt: Um zu zeigen, wie das komplementäre Denken die Struktur von Buch 11 geprägt hat, muss man die vielen Komplementärtugendpaare, die sich über den Text verstreut finden, jeweils in ihrem systematischen Zusammenhang, d. h. auf ihrer Gliederungsebene, verorten. Da es wenig sinnvoll erscheint, alle vier Gliederungsebenen in einem einführenden inhaltlichen Überblick zu beschreiben, wird im Folgenden zunächst nur das aus acht Komplementärtugendpaaren bestehende Grundgerüst von Buch 11 skizziert. Die weitere Entfaltung dieser insgesamt 16 Tugenden und der dazugehörigen Laster bleibt Punkt 2 vorbehalten. Dort wird auch im Detail besprochen, wo sich neue Komplementärtugenden finden lassen.
1.2 Inhaltlicher Überblick
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1.2.2 Die amativen und oditiven Affekte als Grundlage der acht zentralen Komplementärtugendpaare von Buch 11 1.2.2.1 Das Gefolge der amativen und oditiven Seelenkraft und ihre Bedeutung für den Aufbau des Buches Im größten Teil des Buches, der die Kapitel 1–166 einnimmt, werden die Tugenden beschrieben, die jeweils entweder aus der liebenden oder der hassenden Seelenkraft hervorgehen. Die Affekte, die die Grundlage für diese Tugenden bilden, bezeichnet Radulfus Ardens als Gefolge (‚sequela‘) der ‚amabilitas‘ und der ‚odibilitas‘. Der Begriff ‚sequela‘ kommt allerdings in Buch 11 nicht vor, sondern wird bekanntermaßen in Buch 1 in den Kapiteln 44 und 45 verwendet, um diejenigen Emotionen zu benennen, die aus den affektiven Seelenkräften hervorgehen.4 Das Gefolge der liebenden Seelenkraft bilden dabei Liebe (‚amor‘), Hoffnung (‚spes‘), Nacheifern (‚emulatio‘), Freude (‚gaudium‘), Fröhlichkeit (‚letitia‘) und Sich-Rühmen (‚gloriatio‘).5 Das Gefolge der hassenden Seelenkraft setzt sich aus Hass (‚odium‘), Furcht (‚timor‘), Abschreckung (‚deterritatio‘)6, Zorn (‚ira‘), Traurigkeit (‚tristitia‘) und Buße (‚penitentia‘) zusammen.7 Dabei handelt es sich zunächst nur um Affekte und noch nicht um Tugenden. Die in Buch 1 genannten Emotionen bilden also gewissermaßen den ‚Rohstoff‘, aus denen die amativen und oditiven Tugenden und Laster entstehen, denen Buch 11 gewidmet ist.8 Dort verbindet Radulfus Ardens dann je eine Tugend aus dem Gefolge der ‚amabilitas‘ mit einer aus dem Gefolge der ‚odibilitas‘, sodass zunächst sechs Komplementärtugendpaare entstehen9, nämlich Liebe und Hass, Hoffnung und Furcht, Nacheifern und Abschreckung, Freude und Zorn, Fröhlichkeit und Traurigkeit sowie Sich-Rühmen und Buße. Zudem fällt bei der Betrachtung der in Buch 11 behandelten Affekten ein wichtiger Unterschied zu der Zusammenstellung in Buch 1 auf: Zwischen den beiden letztgenannten Komplementärtugendpaaren fügt der Autor noch Heiterkeit (‚serenatio‘) und Scham (‚pudor‘) als siebtes Komplementärtugendpaar ein. Keiner der beiden Affekte wird in Buch 1 genannt und dieser Unterschied
4 Vgl. dazu auch die Beschreibung bei GRÜNDEL, Verstandestugenden 134–139. 5 Spec. uniu. 1, 44 (CCM 241, p. 52): „Ex concupiscibilitate nascitur cupiditas, spes, emulatio, gaudium, letitia et gloriatio.“ Bekanntermaßen entsprechen sich die beiden Begriffe ‚cupiditas‘ und ‚amor‘ bzw. ‚concupiscibilitas‘ und ‚amabilitas‘. 6 In Buch 11 wird dieser Affekt als ‚exterritatio‘ bezeichnet. Inhaltlich unterscheiden sich die Begriffe nicht voneinander. Vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung des dritten Komplementärtugendpaars unter Punkt 2.3. 7 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 52): „Ex odibilitate uero procedit odium, timor, deterritatio, ira, tristitia, penitentia.“ 8 Vgl. dazu Spec. uniu. 1, 47 (CCM 241, p. 55): „Ex prefatis igitur potentiis et affectionibus tam uitia quam uirtutes oriuntur. Et uirtutes quedam oriuntur ex recto earum usu, uitia uero ex earum abusu uel defectu.“ 9 Vgl. dazu die Übersichten bei GRÜNDEL, Verstandestugenden 275–277; ERNST, Passiones animae 160 f.; DERS., Estote prudentes 567; DERS., Klug wie die Schlangen 54 f. sowie DERS., Enleitung 30.
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1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
wird nirgends explizit erklärt oder begründet. Dieser Befund wird an entsprechender Stelle von daher noch ausführlicher untersucht werden.10 Vom Umfang her unterscheiden sich die Traktate über diese sieben Komplementärtugendpaare beträchtlich. Mit 123 Kapiteln (c. 1–122) nehmen Liebe und Hass mit deutlichem Abstand den größten Raum ein. Das liegt nicht nur daran, dass dieses Komplementärtugendpaar die Grundlage der übrigen affektiven Tugenden darstellt und in eine Vielzahl von Tochtertugenden und Unterarten aufgeteilt wird, sondern auch daran, dass in diesem Abschnitt ein höchst umfangreicher Traktat über das Almosen (‚de elemosina‘) enthalten ist. Mit 15 Kapiteln (c. 123–137) sind die Überlegungen zu Hoffnung und Furcht wesentlich kürzer, bilden aber den zweitgrößten Abschnitt. Dem Komplementärtugendpaar Freude und Zorn widmet Radulfus Ardens immerhin noch zwölf Kapitel (c. 144–155), während er Eifer und Abschreckung sowie Fröhlichkeit und Traurigkeit mit sechs (c. 138–143) bzw. sieben Kapiteln (c. 156–162) deutlich kürzer behandelt. Die beiden Komplementärtugendpaare Heiterkeit und Scham sowie Sich-Rühmen und Buße werden schließlich nur noch in je zwei Kapiteln (c. 163–164 bzw. c. 165–166) kurz skizziert. Daran lässt sich ablesen, dass die drei Komplementärtugendpaare Liebe – Hass, Hoffnung – Furcht und Freude – Zorn allein von ihrem Umfang her die inhaltlichen Schwerpunkte von Buch 11 bilden. Dieser Befund stimmt übrigens damit überein, dass Radulfus Ardens bei seiner abschließenden Zusammenfassung zur Ethik des Inneren Menschen in Buch 1211 aus dem Bereich der amativen und oditiven Tugenden Liebe (‚caritas‘), Hoffnung (‚spes‘), Gottesfurcht (‚timor dei‘) und geistige Freude (‚gaudium spirituale‘) noch einmal eigens nennt und damit in ihrer Bedeutung explizit hervorhebt.12 1.2.2.2 Die systematische Aufteilung des Buches in zwei Bereiche Der Abschnitt, in dem die eben genannten 7 Komplementärtugendpaare dargestellt werden, bildet systematisch betrachtet den ersten Bereich des Buches. Im zweiten Bereich, der lediglich die letzten sechs Kapitel (c. 167–172) umfasst, wird die Sanftmut (‚mansuetudo‘) behandelt. Diese Tugend gehört weder zum Gefolge der liebenden noch der hassenden Seelenkraft, sondern ist das Ergebnis des Prozesses, in
10 Vgl. dazu Punkt 2.7 des vorliegenden Teils. 11 Im letzten Kapitel von Buch 12 (c. 145) äußert sich Radulfus Ardens noch einmal abschließend zu den zehn wichtigsten Tugenden aus dem Bereich des Inneren Menschen und ihren jeweiligen Aufgaben. Vgl. dazu ausführlich Punkt 1.1.3 im ersten Teil der Arbeit. 12 Spec. uniu. 12, 145 (P, fol. 159vb): „Si caritatem non habet, nec reliquas uirtutes habet, cum caritas sit uiuificatrix et inflammatrix ceterarum uirtutum. Si timorem Dei non habet, nec ceteras uirtutes habet, cum timor sit excubia ceterarum uirtutum. Si spem non habet, nec reliquas uirtutes habet, cum spes sit stimulus ceterarum uirtutum. Si gaudium spirituale non habet, nec reliquas uirtutes habet, cum gaudium spirituale sit consolatio reliquarum uirtutum. Si humilitatem non habet, nec reliquas uirtutes habet, cum humilitas sit custos reliquarum uirtutum.“
1.2 Inhaltlicher Überblick
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dem sich Liebe und Hass gegenseitig ins rechte Maß bringen.13 Auch ihr wird eine Komplementärtugend zur Seite gestellt, nämlich die Strenge oder Geradlinigkeit (‚seueritas siue rigor‘). Dabei ist zu beachten, dass die Sanftmut nicht etwa aus der Liebe und die Strenge nicht etwa aus dem Hass hervorgeht, sondern beide aus der Balance der ‚affectiones amatiue‘ und ‚affectiones oditiue‘ entstehen. Die Sanftmut beschreibt dabei eine Eigenschaft, die den Menschen von seiner gesamten emotionalen Verfassung her auf das Gute ausrichtet,14 während die Strenge ihn davor bewahrt, beim Streben nach dem Guten den Lastern und Sünden zu verfallen. Der Traktat über die Sanftmut beschreibt also zum einen das achte und letzte Komplementärtugendpaar von Buch 11. Zum anderen sind diese Überlegungen aber auch als abschließendes Resümee zum Wesen der amativen und oditiven Affekte insgesamt und ihrem komplementären Verhältnis zueinander zu werten und verdienen daher besonderes Interesse. 1.2.2.3 Überlegungen zur Anordnung der acht Komplementärtugendpaare Die sieben Komplementärtugendpaare aus dem Gefolge von ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘ werden im ersten Bereich von Buch 11 in der eben genannten Reihenfolge behandelt. Abschließend bespricht Radulfus Ardens Sanftmut und Strenge als letztes Komplementärtugendpaar und schließt damit die Darlegungen zu den amativen und oditiven Tugenden ab. Wie begründet er diesen Aufbau und nach welchem Leitfaden folgt die Anordnung der acht Komplementärtugendpaare? Ein erster Hinweis findet sich bereits in Buch 1. So schreibt er zu den einzelnen ‚affectiones amatiue‘: […] cupiditas rem captat, spes adipisci sperat, emulatio exemplo aliorum adipisci festinat, gaudium est in adipiscendo, letitia in utendo, adepto gloriatio de industria et labore bene consummato.15
Ein wenig später erläutert er in ähnlicher Weise auch die Funktionen der ‚affectiones oditiue‘: […] odium rem infestam odit; timor, ne eueniat, timet; deterritatio, ne eueniat, exemplo aliorum deterretur; ira, si eueniat, irascitur; tristitia, quia euenit, tristatur; penitentia, quia sic fecit contra seipsam, indignatur.16
13 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109rb): „Ex predictis affectionibus si fuerint bene culte moderate et composite, sicut premonstrauimus, nascitur quedam uirtus que mansuetudo nuncupatur.“ 14 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass auch die Übersicht zu Buch 11 in GRÜNDEL, Verstandestugenden 275–277 der ‚mansuetudo‘ im Vergleich zu den übrigen sieben Komplementärtugendpaaren eine Sonderstellung zuweist. Ihre systematische Bedeutung als Ergebnis der in rechter Weise geordneten Affekte wurde seitdem nicht weiter untersucht. ERNST, Klug wie die Schlangen 52 f. erwähnt diesbezüglich allerdings, dass die Sanftmut im Gefolge der affektiven Seelenkräfte in Buch 1 nicht genannt wird. 15 Spec. uniu. 1, 44 (CCM 241, p. 52). 16 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 52 f.).
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1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
Anhand dieser Erklärungen lässt sich ablesen, dass sich die Reihenfolge, in der die Tugenden behandelt werden, aus der zeitlichen Abfolge ihres Auftretens ergibt. Ein zweiter Hinweis findet sich im ersten Kapitel von Buch 11. Radulfus Ardens begründet an dieser Stelle, weshalb er zunächst die Liebe und erst danach die Hoffnung behandelt. Hier lässt sich gut erkennen, wie er sich das Verhältnis zwischen den aufeinander folgenden Tugenden allgemein vorstellt. Er schreibt: Est igitur amor prior ex amabilitate procedens affectio. Porro ‘priorʼ ideo dictum est, quoniam spes, gaudium alieque procedunt affectiones ex amabilitate, sed hec prior ex ea procedit, cetere uero ista mediante.17
Eine ähnliche Formulierung verwendet er bspw. auch, um zu erläutern, wie der schlechte Neid (‚inuidia mala‘) aus dem schlechten Hass (‚odium malum‘) entsteht18 und wie der Zorn (‚ira‘) aus Hass (‚odium‘), Furcht (‚timor‘) und Abschreckung (‚exterritatio‘) hervorgeht19. Im Falle des Zornes nennt er explizit alle vorhergehenden Tugenden. Daran wird deutlich, dass die Tugenden, die zeitlich gesehen früher entstanden sind, nicht einfach abgelöst werden, sondern auf den weiteren Prozess einen gewissen Einfluss haben und auch selbst dadurch verändert werden. In Zusammenhang mit diesem Entstehungsprozess findet sich ein dritter Hinweis in Kapitel 123. Radulfus Ardens betont zunächst erneut, dass die Hoffnung aus der Liebe hervorgeht, führt dann aber als zusätzliche Erklärung an, dass man eine Sache nur dann erhoffen kann, wenn man sie zuvor liebt.20 Ähnlich verhält es sich bei Hass und Furcht: Nachdem Radulfus Ardens in Kapitel 1 erörtert hat, dass es sich bei Lieben und Wollen (‚uoluntas‘) um denselben Affekt handelt, schließt er daraus, dass sich auch Hass und Nichtwollen (‚noluntas‘) entsprechen; demnach ist auch der Hass diejenige Tugend, die eher als die übrigen aus der hassenden Seelenkraft hervorgeht.21 Auf die Furcht kommt er in Zusammenhang mit der Definition der Hoffnung in Kapitel 123 zu sprechen: Die Hoffnung ist die Erwartung eines erwünschten Gegenstandes, während dagegen die Furcht die Erwartung eines verhassten Gegen-
17 Spec. uniu. 11, 1 (P, fol. 62ra). 18 Spec. uniu. 11, 33 (P, fol. 71vb): „In hominibus uero originaliter oritur ex malignitate et ea mediante ex odio malo, quod odit fratrem suum qui diligendus est, et ex amore malo amat mundum qui odiendus est.“ 19 Spec. uniu. 11, 146 (P, fol. 100va): „Est igitur ira commotio mentis ad uindictam. Nascitur autem ex irascibilitate siue ex odibilitate mediante odio, timore et exteritatione.“ 20 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va): „Exequto de dilectione exequendum est et de spe. Spes quippe oritur ex caritate. Quia enim rem diligimus, ideo eam speramus.“ 21 Spec. uniu. 11, 1 (P, fol. 62ra): „Odium quoque eadem affectio est, que et noluntas. Vnde et eadem diffinitione concluduntur. Est enim utraque prior ex odibilitate procedens affectio.“
1.2 Inhaltlicher Überblick
175
standes ist.22 Indem er die Gegenstände mit den Adjektiven ‚desideratus‘ und ‚exosus‘ verbindet, wird die zeitliche Nachordnung zu den beiden früher entstandenen Tugenden Liebe und Hass deutlich: Hoffnung und Furcht können folglich erst in Bezug zu etwas entstehen, was bereits vorher geliebt oder gehasst wird. Ist die Hoffnung im Übermaß vorhanden, entsteht das Laster der Vorwegnahme (‚presumptio‘), wird die Furcht nicht gemäßigt, entsteht das Laster der Verzweiflung (‚desperatio‘). Nachdem er diese zeitliche Abfolge an den Beispielen von Liebe und Hoffnung sowie Hass und Furcht ausführlich erklärt hat, holt er bei den übrigen fünf Komplementärtugendpaaren nicht mehr so weit aus. Er begnügt sich damit, zu erwähnen, dass die eine Tugend jeweils aus der vorherigen entsteht.23 Es wäre allerdings ein Missverständnis, davon auszugehen, dass etwa die Hoffnung aus der Liebe entstünde, wie die Liebe aus der liebenden Seelenkraft. Vielmehr handelt es sich immer um die gleiche Seelenkraft, die sich zunächst auf einen bestimmten Gegenstand richtet und sich dann zeitlich-prozesshaft transformiert. Die unterschiedlichen amativen Tugenden bringen also zum Ausdruck, wie sich der liebende Affekt zu einem spezifischen Zeitpunkt dieses Vorgangs konkretisiert. Freilich lösen sich diese Tugenden – wie gesagt – nicht gegenseitig ab; eher hat man sich das Ganze als ein dynamisches Ineinander vorzustellen. Radulfus Ardens spricht deshalb bspw. auch davon, dass die übrigen Tugenden zwar unter Anleitung der Liebe entstehen, diese aber auch selbst auf sie zurückwirken und sie verstärken. So schreibt er zum Verhältnis von ‚caritas‘ und ‚spes‘: Quoniam spes inflammat dilectionem et si non adsit spes, dilectio frigescit. Que enim nos habere posse desperamus, amare non curamus.24
Das Gleiche gilt selbstredend auch für den Bereich des hassenden Affektes und überhaupt für alle acht Komplementärtugenden. Entscheidend ist hier, dass diese zeitliche Abfolge die Gliederung von Buch 11 maßgeblich bestimmt.
22 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va): „Spes autem generaliter describitur hoc modo: Spes est expectatio rei desiderate. Quod autem adiunctum est ‘rei desiderateʼ, ad differentiam timoris positum est, que est expectatio rei non desiderate, sed exose. Ea quippe que desideramus, speramus, et ea que odimus, timemus.“ 23 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va): „Exequto de dilectione exequendum est et de spe. Spes quippe oritur ex caritate.“; ebd. 11, 138 (P, fol. 98va): „De spe procedit emulatio.“; ebd. 11, 144 (P, fol. 99va): „Emulationem boni iusto consecuto consequitur et gaudium.“; ebd. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Letitia est hilaritas remanens in mente ex gaudio precedente.“ und ebd. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Serenatio de letitia nascitur.“; ebd. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Gloriatio uero est de perpetratis gratulatio quemadmodum et eius contraria penitentia est de perpetratis contristatio.“ 24 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va).
176
1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
1.2.2.4 Schematische Übersicht zum Grundgerüst von Buch 11 Aus den bisherigen Informationen lässt sich der Aufbau von Buch 11 überblicksartig in einer Grafik darstellen. Dieses Schema ist insofern vereinfacht, da Radulfus Ardens gelegentlich für einzelne Tugenden und Laster verschiedene Begriffe verwendet, die hier nicht vollständig aufgelistet sind. Dies rührt zum einen daher, dass er stets bestrebt ist, alle Aspekte einer bestimmten Verhaltensweise auszudrücken, was in einzelnen Fällen mit einem Wort allein oft nicht möglich ist. Zum anderen verwendet er manche Begriffe auch synonym. In jedem Fall ist daran gut erkennbar, wie die Affekte als ‚sequela‘ der amativen und oditiven Seelenkraft entstehen, wie sie sich im Laufe der Zeit immer mehr ausbalancieren, miteinander verschmelzen und schließlich in die beiden Tugenden des achten Komplementärtugendpaares münden.
amabilitas
↔
odibilitas
affectiones amatiue / sequela
↔
affectiones oditiue / sequela
(1)
amor malus
amor bonus / caritas
↔
bonum odium
malum odium
(2)
presumptio
spes
↔
timor
desperatio
c. 123-137
(3)
inuidia / emulatio mala
emulatio bona
↔
exterritatio bona
exterritatio mala
c. 138-143
(4)
gaudium malum
gaudium bonum
↔
ira bona
ira mala
c. 144-155
(5)
letitia mala / presumptio
letitia bona
↔
tristitia bona
tristitia mala / desperatio
c. 156-162
(6)
serenatio mala
serenatio bona
↔
pudor bonus
pudor malus
c. 163.164
(7)
gloriatio superbiens
gloriatio bona
↔
penitentia bona
penitentia desperans
c. 165.166
(8)
|
|
↓
↓
mollities nimia
| | | | | | affectiones bene culte, moderate et composite ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓
mansuetudo
↔
seueritas / rigor
Abb. 13: Die amativen und oditiven Komplementärtugenden.
|
|
↓
↓
feritas / asperitas
c. 1-122
c. 167-172
1.2 Inhaltlicher Überblick
177
1.2.3 Der Prozess, in dem aus den Affekten Tugenden entstehen, und seine begrifflich-methodischen Konsequenzen Um verständlich zu machen, wie der Prozess abläuft, in dem sich aus den affektiven Seelenkräften schlussendlich affektive Tugenden und Laster bilden und wie sich dieser Vorgang in der Terminologie und den begrifflichen Unterscheidungen im Einzelnen niederschlägt, muss zunächst auf einige bereits bekannte Fakten aus den Büchern 1–5 zurückgegriffen werden: Die Begriffe ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘ bilden (neben ‚rationabilitas‘ und ‚contemptibilitas‘) zwei grundlegende Kräfte der menschlichen Seele ab. Keine der vier Seelenkräfte ist von vorne herein negativ oder positiv gewertet, sondern sie repräsentieren vielmehr alle gemeinsam das natürliche Potential des Menschen, überhaupt Tugenden und Laster auszubilden. Damit ergibt sich, dass die Seelenkräfte per se noch keine Tugenden und Laster beinhalten. Sie müssen erst in einem komplexen Prozess ausgeformt werden.25 In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte von grundlegender Bedeutung: Erstens entstehen die einzelnen Emotionen, die als ‚sequela‘ der ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘ bezeichnet werden, erst aus der Wechselwirkung dieser Seelenkräfte mit ihrer Umwelt. Zweitens sind sie zunächst ethisch neutral und wandeln sich daher nur unter bestimmten Bedingungen in (positive) Tugenden oder (negative) Laster um. Dieser Umwandlungsprozess wird im Folgenden exemplarisch an Zorn (‚ira‘) und Freude (‚gaudium‘) nachgezeichnet. Die beiden Affekte bilden die Grundlage für das vierte Komplementärtugendpaar und werden hier nicht zufällig als Beispiel herangezogen. Denn in Kapitel 150 (‚de bono genere ire‘) stellt Radulfus Ardens grundlegende Überlegungen dazu an, in welchen Entwicklungsstadien aus den affektiven Seelenkräften Tugenden bzw. Laster entstehen, und erklärt die Wahl seiner Begriffe genauer.26 Aus dem dortigen Textbefund lassen sich insgesamt vier Entwicklungsstufen erschließen: (1) Der Zorn gehört zum Bereich des Hasses und ist eine Emotion, die darauf ausgerichtet ist, sich für etwas zu rächen, das als Unrecht wahrgenommen wird. Da hier noch keine Aussage darüber getroffen ist, ob der Zorn gerechtfertigt ist oder eine angemessene Reaktion auf das Erlebte darstellt, ist diese Emotion noch keine Tugend, sondern lediglich ein unter ethischer Perspektive neutraler Affekt. Aus diesem Grund führt Radulfus Ardens in einem ersten Schritt auch immer eine allgemeine Definition des jeweiligen Affektes an, der noch keine moralische
25 Dieser Prozess vollzieht sich in insgesamt sieben Entwicklungsstufen, die im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit in Punkt 2.2.3 nachgezeichnet wurden. 26 Dabei verallgemeinert er seine spezifischen Aussagen zu Zorn und Freude explizit und dehnt ihre Geltung auf alle übrigen Affekte aus. Vgl. dazu Spec. uniu. 11, 150 (P, fol. 102va): „Quod autem dico de his, dico et de ceteris affectionibus: Dilectione, odio, spe, timore et ceteris.“
178
1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
Wertung enthält.27 Der Begriff ‚ira‘ meint an sich und ohne weitere Beifügungen genau dieses Entwicklungsstadium – Gleiches gilt für alle übrigen Affekte. (2) Die ethische Bewertung findet erst in einem zweiten Schritt statt. Dabei versieht Radulfus Ardens die Begriffe mit bestimmten Adjektiven, durch die ihr jeweiliger moralischer Wert zum Ausdruck kommt. So kann es sich beim Zorn entweder um guten (‚ira bona‘) oder um schlechten Zorn handeln (‚ira mala‘).28 Mit dieser Unterscheidung in lediglich zwei Arten (‚species‘) stellt der Zorn eine Ausnahme da. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle finden sich nämlich mindestens drei Arten, die durch die Adjektive gut (‚bonus‘), wertlos (‚uanus‘) und schlecht (‚malus‘) beschrieben werden. Wesentlich seltener findet sich noch das Adjektiv indifferent (‚indifferens‘), wie bspw. bei der Komplementärtugend des Zorns, der Freude.29 Hier ergeben sich zwei Fragen. Erstens: Was haben diese Begriffe zu bedeuten? Und zweitens: Warum unternimmt Radulfus Ardens überhaupt eine so aufwendige und erklärungsbedürftige begriffliche Aufteilung? Zunächst zur Bedeutung der Adjektive: Sie bringen zum Ausdruck, dass sich die ethische Qualität der an sich neutralen Affekte aus den Gegenständen ergibt, auf die sie sich beziehen. Die Grundlage bildet dabei die bereits erwähnte Bestimmung, dass sich alle Gegenstände entweder dem Bereich der Liebe, dem Bereich des Hasses oder dem Bereich der Geringschätzung zuweisen lassen und dementsprechend moralisch gut, schlecht oder wertlos sind. Richtet sich die Freude also auf einen schlechten Gegenstand – bspw. auf großen Reichtum, der mit Unrecht erworben wurde – ist sie schlecht und damit lasterhaft. Richtet sie sich auf einen (moralisch gesehen) wertlosen Gegenstand – bspw. auf gutes Essen oder teure Kleidung – wird sie auch selbst als wertlos eingestuft. Sie ist damit zwar nicht direkt lasterhaft, steht aber in der Nähe des Lasters, da sie ihren Träger von den eigentlich wichtigen bzw. heilsrelevanten Dingen abhält. Richtet sich die Freude dagegen auf einen guten Gegenstand – bspw. auf ein geistiges Gut wie die Tugend – ist sie gut und damit tugendhaft. Das Adjektiv ‚indifferens‘ bringt noch einen vierten Bereich von Gegenständen ins Spiel, die völlig neutral sind und überhaupt keine moralische Wertigkeit haben. Der Bereich des Indifferenten unterscheidet sich vom Bereich der Geringschätzung dahingehend, dass auch das Adjektiv ‚uanus‘ eine bestimmte ethische Wertigkeit beinhaltet und eher in der Nähe des Schlechten steht, während ‚indifferens‘ die völlige moralische Neutralität der entsprechenden Gegenstände meint. Moralisch neutral bedeutet dabei, dass diese Dinge Anlass für Tugenden oder Laster sein können, je nachdem,
27 Im Falle des Zorns lautet diese allgemeine Definition laut Spec. uniu. 11, 146 (P, fol. 100va): „Est igitur ira commotio mentis ad uindictam.“ 28 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101ra): „Ira alia est mala, alia est bona.“ 29 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Gaudium autem aliud est uanum, aliud est malum, aliud est indifferens, aliud est bonum.“
1.2 Inhaltlicher Überblick
179
ob man sie in einer guten oder schlechten Weise gebraucht. Im Fall des hier gewählten Beispiels wäre das bspw. die Freude über die eigene Gesundheit, die Anlass zur Dankbarkeit gegenüber Gott oder auch zur Selbstüberschätzung sein kann. Der Bereich des Indifferenten wird in Buch 11 insgesamt nur an drei Stellen erwähnt und ist damit relativ selten.30 Die übrigen drei bilden jedoch ein zentrales methodisches Charakteristikum der Tugendlehre des Radulfus Ardens, da sie beinahe bei jeder Tugend in Buch 11 vorkommen. Dieser Befund leitet zur Beantwortung der zweiten Frage über: Warum differenziert Radulfus Ardens die einzelnen Affekte auf diese Weise aus? Dafür lassen sich in erster Linie zwei systematische Beweggründe ausmachen: Erstens stellt die Orientierung an den drei Bereichen Liebe, Hass und Geringschätzung ein leistungsfähiges heuristisches Verfahren dar, durch das die Emotionen auf die Gegenstände der Lebenswirklichkeit bezogen werden können. Zudem spiegelt sich darin auch die Dreiteilung der Affektivität in der Seele des Menschen wider. Zweitens gelingt es auf diese Weise, eine klare begriffliche Trennung zwischen moralisch gewerteten und nicht gewerteten Begriffen aufrechtzuerhalten, die in der Alltagssprache so nicht existiert. Das eigentliche Problem besteht nämlich darin, dass viele Bezeichnungen der von Radulfus Ardens behandelten Affekte und Verhaltensweisen in der alltäglichen Gebrauchssprache bereits eine moralische Wertung beinhalten. So sind für gewöhnlich mit ‚Zorn‘ oder ‚Hass‘ Laster gemeint, während ‚Liebe‘ und ‚Hoffnung‘ grundsätzlich als Tugenden oder zumindest als positive Emotionen wahrgenommen werden. Radulfus Ardens unterscheidet hier weitaus genauer; oder besser gesagt: Sein Verständnis der Tugenden und Laster im Speculum universale geht in den meisten Fällen über das alltägliche Bedeutungsspektrum des jeweiligen Begriffs hinaus, was er in Kapitel 150 hinsichtlich des Zorns auch explizit hervorhebt. Dort versucht er, das Wort Eifer (‚zelus‘) als Bezeichnung für den guten Zorn zu etablieren und schreibt dazu: Et inde dicitur: Bene irosus qui et zelotes apertius dicitur. Nam ira et irositas secundum usum se potius habent ad malum quam ad bonam.31
(3) Auch bei der dritten und vierten Entwicklungsstufe der Affekte auf dem Weg hin zur Tugend ist das Bestreben des Radulfus Ardens spürbar, die von ihm verwendeten Begrifflichkeiten möglichst präzise voneinander zu trennen. Obgleich in Ausdrücken wie ‚ira bona‘ und ‚ira mala‘ eine ethische Bewertung enthalten ist, stellen sie noch nicht Tugenden oder Laster im eigentlichen Sinne dar. Es ist nämlich durchaus möglich, dass einzelne Taten oder Verhaltensweisen aus gutem Zorn
30 Das Adjektiv ‚indifferens‘ findet sich ansonsten nur noch im Umfeld des ersten (Liebe und Hass) sowie des fünften Komplementärtugendpaars (Fröhlichkeit und Traurigkeit); vgl. dazu die Punkte 2.1.1 und 2.5. 31 Spec. uniu. 11, 150 (P, fol. 102va).
180
1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
entstehen, ohne dass der Betreffende deswegen Träger der entsprechenden Tugend ist. Ebenso wenig bedeutet eine einzelne Sünde oder Verfehlung im schlechten Zorn, dass der Täter ein lasterhafter Mensch ist. Radulfus Ardens spricht diesbezüglich von gutem Zorn, der einmalig vollzogen wurde (‚bona ira siue zelus semel exhibitus‘), und betont dabei den Unterschied zur Tugend. In diesem Fall handelt es sich immer noch um einen bloßen Affekt oder eine bloße Leidenschaft, die zufällig in die richtige oder falsche Richtung geht. Diese Phänomene bezeichnet er hier als ‚passio‘ und schreibt dazu: Hoc autem sciendum est quod bona ira siue zelus semel exhibitus non est uirtus, nisi per longam applicationem fuerit in habitum conuersus. Et tunc non passio, sed passibilis qualitas est que potest uocari bona irositas. […] Sic econtra gaudium in spiritu sancto per applicationem in habitum conuersum uirtus est que gaudiositas bona dici potest.32
(4) Die eigentliche Tugend ist demnach also durch dreierlei gekennzeichnet: Erstens handelt es sich dabei um eine feste Grundhaltung (‚habitus‘), also um einen mehr oder weniger festen ‚Besitz‘ des jeweiligen Trägers. Zweitens ist sie nicht mehr nur eine Leidenschaft, sondern eine leidenschaftliche Eigenschaft (‚passibilis qualitas‘). Drittens wurde sie durch lange Aneignung (‚longa applicatio‘) erworben. Diese drei Begriffe sind bereits aus der Definition der Tugend im ersten Buch bekannt. 33 Entscheidend ist an dieser Stelle, dass Radulfus Ardens eine spezifische begriffliche Ausdrucksweise verwendet, um dieses vierte und zugleich abschließende Stadium zu beschreiben: Er spricht hier nämlich nicht mehr von Zorn, sondern von der Zornigkeit (‚irositas‘) und nicht mehr von Freude, sondern von der Freudigkeit (‚gaudiositas‘). Das Suffix ‚-tas‘ spiegelt dementsprechend die Tatsache wider, dass aus dem flüchtigen Affekt ein fester und auf das rechte Ziel ausgerichteter affektiver Bestandteil des Geistes (‚passibilis qualitas mentis‘) geworden ist.34 Diese vier Entwicklungsstufen lassen sich folgendermaßen schematisch abbilden:
32 Spec. uniu. 11, 150 (P, fol. 102va). 33 Besonders einschlägig sind diesbezüglich die Überlegungen in Zusammenhang mit der Tugenddefinition des Boethius in Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28): „Virtutem autem philosophi diffiniunt hoc modo: Virtus est habitus mentis bene constitute. […] Porro quid uirtus sit, ostenditur cum dicitur ‘habitusʼ. Est enim habitus genere, non quidem habitus de predicamento habendi nec habitus prout opponitur priuationi, sed habitus, id est qualitas mentis ex uehementi consuetaque mentis ipsius innascens applicatione. Enimuero nemo fit subito iustus, sed studiose paulatimque mens ad iustitiam applicatur.“ 34 An dieser Stelle ist erneut darauf zu verweisen, dass die Verwendung des Suffixes ‚-tas‘ eine methodische Eigenart des Porretanerkreises ist; vgl. dazu Punkt 2.3.2 in der Einleitung.
1.2 Inhaltlicher Überblick
181
Stufe 4: Affektive Tugend
‚gaudiositas‘
‚irositas‘
Stufe 3:
↑
↑
Einmalige ethisch relevante affektive Handlung (Bsp.)
‚bonum gaudium semel exhibitum‘
‚bona ira siue zelus semel exhibitus‘
↑
↑
Stufe 2:
‚gaudium bonum‘ / ‚uanum‘ / ‚malum‘ / ‚indifferens‘
‚ira bona‘ / ‚mala‘
Ethisch gewerteter Affekt Stufe 1:
↑
↑
Ethisch neutraler Affekt
‚gaudium‘
‚ira‘
Grundlage:
↑
↑
Affektive Seelenkraft
‚amabilitas‘
‚odibilitas‘
Abb. 14: Die Entstehung der amativen und oditiven Tugenden.
An dieser Übersicht wird deutlich, wie sich Radulfus Ardens die Entstehung der affektiven Tugenden aus den Seelenkräften vorstellt und auf welche Weise sich dies in der von ihm verwendeten Terminologie niederschlägt. Zorn und Freude sind dabei zum einen das Musterbeispiel, an dem er diese Konzeption verdeutlicht, zum anderen ist es aber auch der einzige Fall, in dem diese Begrifflichkeiten so konsequent angewendet werden. Die dritte und vierte Entwicklungsstufe werden in den allermeisten Fällen gar nicht erwähnt. Hinsichtlich der vierten Stufe liegt dies wohl v. a. daran, dass sich nicht zu allen Tugenden entsprechende Variationen mit dem Suffix ‚-tas‘ bilden lassen. Allerdings fügt er oftmals bei der gut bewerteten Art des Affektes das Adjektiv ‚uirtualis‘ bei und bei der schlecht bewerteten das Adjektiv ‚uitiuosus‘. Daran lässt sich ablesen, dass es sich um eine Tugend oder ein Laster handelt. Die ersten beiden Entwicklungsstufen – also der ethisch neutrale und der ethisch gewertete Affekt – kommen bei allen Tugenden vor. Sie bilden damit einen wichtigen Leitfaden, um den Inhalt von Buch 11 strukturieren zu können. Abschließend lässt sich einerseits festhalten, dass Radulfus Ardens die systematischen Probleme, die mit einer solch differenzierten Betrachtung der menschlichen Emotionalität verbunden sind, offensichtlich klar vor Augen hatte und eine an sich schlüssige Terminologie entwickelt hat, um seine Gedankengänge systematisch klar abzubilden. Andererseits treten aber auch die sprachlichen Grenzen dieser Methode an vielen Stellen offen zutage – bspw. dadurch, dass sich nicht alle Tugendbegriffe mit dem Suffix ‚-tas‘ verbinden lassen, oder durch die Tatsache, dass gerade die Bezeichnungen der als moralisch gewerteten Affekte in hohem Maße erklärungsbedürftig sind und ein genaues Verständnis der Seelenlehre und der Anthropologie voraussetzen.
182
1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
1.2.4 Inhaltliche Skizze der acht zentralen Komplementärtugendpaare von Buch 11 Nachdem in Punkt 2.2 die acht zentralen Komplementärtugenden von Buch 11 erstmals genannt wurden und in Punkt 2.3 exemplarisch aufgezeigt wurde, auf welche Weise Tugenden und Laster aus den ursprünglich neutralen Emotionen entstehen, werden nun die 16 Haupttugenden des Buches von ihrer Definition her in den Blick genommen. Diese inhaltliche Konkretisierung ist v. a. deshalb notwendig, da die von Radulfus Ardens verwendeten Bezeichnungen keineswegs selbsterklärend sind. Die folgende Skizze geht dabei in erster Linie von den Bestimmungen der jeweiligen Tugenden sowie den allgemeinen Definitionen der ihnen zugrundeliegenden Affekte aus. Darüber hinausgehende, erläuternde Zitate werden vermieden, da eine detaillierte Beleuchtung des lateinischen Texts schon unter Punkt 2 erfolgt. An dieser Stelle geht es zunächst einmal darum, eine erste Vorstellung davon zu vermitteln, welche thematischen Schwerpunkte Radulfus Ardens bei seiner tugendethischen Reflexion über die menschlichen Emotionen setzt und wie die komplementären amativen und oditiven Tugenden zusammenwirken, um sich in positiver Weise auszuprägen. (1) Die von der Gnade Gottes überformte und demzufolge tugendhafte Liebe (‚amor uirtualis‘) bezeichnet Radulfus Ardens als ‚caritas‘.35 Diese Tugend ist auf Gott und den Mitmenschen als Ebenbild Gottes bezogen. Die Tugend des Hasses (‚uirtuale odium‘) dagegen darf sich ausschließlich auf diejenigen Sünden und Laster richten, die ihren Ursprung nicht in Gott haben.36 Dieses Gefüge kann in zweifacher Weise ins Ungleichgewicht geraten: Übersteigert sich die Liebe zu den Mitmenschen, werden irrtümlicherweise auch ihre Fehler in die Liebe miteinbezogen (‚amor uitiosus‘). Der lasterhafte Hass (‚odium uitiosum‘) hingegen richtet sich auf der anderen Seite nicht mehr nur auf die Fehler der Mitmenschen, sondern auch auf sie selbst. (2) Die Tugend der Hoffnung (‚spes uirtualis‘) ist die Erwartung des ewigen Heils.37 Auf die Frage, wovor man in diesem Leben Angst haben muss und wovor nicht, entgegnet Radulfus Ardens, dass allein Gott zu fürchten ist.38 Diese nicht ganz unmissverständliche Aussage konkretisiert er dahingehend, dass man Gott nicht in der Weise fürchten muss, als ob er ein Übel wäre; vielmehr resultiert die Furcht eines Menschen, der Gott liebt (‚timor filialis‘), aus der Erwägung der eigenen Laster und Sünden, die das Verhältnis zu Gott belasten könnten. Der ‚timor dei‘ ist also genau genommen die Furcht vor Gottesferne. Von daher bestimmt Radulfus Ardens auch die lasterhaften
35 Spec. uniu. 11, 4 (P, fol. 64ra): „Est autem caritas dilectio qua diligimus Deum propter seipsum et proximum propter Deum.“ 36 Vgl. Spec. uniu. 11, 15 (P, fol. 66vb): „Bonum quippe odium moderatur bonam dilectionem, ut non diligat, nisi quod diligendum est.“ 37 Spec. uniu. 11, 124 (P, fol. 95ra): „Spes uero uirtualis est expectatio salutis eterne.“ 38 Spec. uniu. 11, 129 (P, fol. 95va): „Est autem solus Deus timendus.“
1.2 Inhaltlicher Überblick
183
Übertreibungen: Wer nur noch Gottes Barmherzigkeit im Blick hat und sich schon gerettet glaubt oder seine Hoffnung auf die eigenen Kräfte setzt, nimmt den Besitz von Gütern, die er in diesem Leben überhaupt noch nicht erlangen kann, vorweg (‚presumptio‘). Ist wiederum die Furcht vor dem Urteilsspruch Gottes über die eigenen Sünden zu groß, verfällt man in Verzweiflung (‚desperatio‘). (3) Die Tugend des Nacheiferns (‚emulatio bona‘) besteht darin, die Sitten eines ehrenhaften Mannes nachzuahmen.39 Dass sie nach Liebe und Hoffnung behandelt wird, begründet Radulfus Ardens damit, dass diese Tugend eine Konkretisierung des Verhaltes in Richtung auf den geliebten und erhofften Gegenstand darstellt. Bezüglich einzelner Tugenden können die Mitmenschen gute Vorbilder sein, Christus ist jedoch das unüberbietbare Beispiel für die Verwirklichung aller Tugenden. Orientiert man sich also an den Mitmenschen, darf man sich dabei keinesfalls ihre Laster aneignen, sondern muss ihre Vorzüge und Fehler klar voneinander trennen. Dies leistet die Tugend der Abschreckung (‚exterritatio bona‘).40 Die ‚emulatio bona‘ ist zwei Gefahren ausgesetzt: Gelingt es nämlich nicht, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, kann sie zum Neid (‚inuidia‘) werden. Die zweite Gefahr liegt darin, sich neben den guten auch die schlechten Eigenschaften des Vorbildes anzueignen. Radulfus Ardens spricht diesbezüglich von schlechtem Nacheifern (‚emulatio mala‘). Am Nacheifern wird also deutlich, dass aus einer Tugend mitunter auch zwei verschiedene Laster entstehen können. Auch die Abschreckung kann zum Laster werden, wenn man sich durch Schwierigkeiten und Gefahren vom rechten Weg abbringen lässt (‚exterritatio mala‘). (4) Die tugendhafte Freude (‚gaudium bonum‘) entsteht aus dem Besitz weltlicher oder geistiger Güter, die man sich in gerechter Weise angeeignet hat. Dabei kann man sich sowohl über eigene als auch über fremde Güter freuen.41 Ihre Komplementärtugend, der Zorn (‚ira bona‘ bzw. ‚zelus‘), klagt dementsprechend entweder die eigenen oder die fremden Sünden an.42 Die Freude kann in dreifacher Weise zu einem Laster werden (‚gaudium malum‘): erstens, wenn man sich über schlechte Taten freut, die man selbst oder andere begangen haben; zweitens, wenn man sich über weltliche Güter so freut, als ob es geistige wären; drittens, wenn man durch die Freude über geistige Güter stolz und unvorsichtig wird. Der lasterhafte Zorn (‚ira uitiosa‘) steigert sich auf der anderen Seite in einem solchen Maß, dass man
39 Spec. uniu. 11, 139 (P, fol. 98va): „Bona est, quando aliquis emulatur imitari bonos mores alicuius honesti uiri.“ 40 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99rb): „Bona uero est ut quando cernentes prauos mala operari et inde eos dampnari deterremur a uia eorum peruersa, ne eos emulari gestiamus.“ 41 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 100ra): „Gaudium uero bonum aliud est de bono temporali nostro uel alieno, aliud est de bono spirituali uel eterno nostro uel alieno.“ 42 Spec. uniu. 11, 152 (P, fol. 103ra): „Ira bona alia est reciproca, alia est transitiua. Reciproca est in seipsum, transitiua in alium.“
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1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
beim Nachdenken über die Sünden und Laster verzweifelt. Das hat nämlich zur Folge, dass sich der Zorn entweder auf leblose Dinge richtet oder dass man jemandem zu Unrecht, aus der falschen Absicht oder aber im Übermaß zürnt. (5) Die Fröhlichkeit ist nur dann eine Tugend (‚letitia uirtualis‘), wenn die Freude, aus der sie hervorgeht, gut ist. Wie diese kann sie auf weltliche oder geistige Güter bezogen sein. Unter Fröhlichkeit versteht Radulfus Ardens nämlich die positive Stimmung, die als dauerhafte Auswirkung einer vergangenen Freude bestehen bleibt.43 Die Tugend der Traurigkeit (‚tristitia bona‘ bzw. ‚spiritualis‘) ergänzt sie komplementär, da diese als die andauernde Vergegenwärtigung der eigenen Fehler und der widrigen Lebenssituation in der Welt beschrieben wird.44 Obgleich eine solche Haltung seiner Meinung nach im Hier und Jetzt weitaus mehr geboten ist als die Fröhlichkeit, kann sie durch Übertreibung zur Verzweiflung (‚desperatio‘ bzw. ‚tristitia mala‘) führen. Ebenso wird die lasterhafte Form der Fröhlichkeit als Vorwegnahme (‚presumptio‘ bzw. ‚mala letitia‘) definiert. (6) Die Tugend der Heiterkeit (‚serenatio bona‘) ist in ähnlicher Weise mit der Fröhlichkeit verbunden, wie diese mit der Freude. Dabei meint die ‚serenatio‘ ein Gefühl der Unbeschwertheit, das aus einem guten Gewissen entsteht.45 Auf der anderen Seite meint die Tugend der Scham (‚pudor bonus‘) eine emotionale Belastung aus dem Bewusstsein der eigenen verkehrten Handlungen.46 Die dazugehörigen Laster beschreibt Radulfus Ardens folgendermaßen: Die lasterhafte Heiterkeit (‚serenatio mala‘) entsteht aus dem Verdrängen des schlechten Gewissens. Menschen, die einer solchen Selbsttäuschung unterliegen, messen dabei der wertlosen (bzw. weltlichen) Fröhlichkeit einen Wert bei, den eigentlich nur die gute (bzw. geistige) Fröhlichkeit haben sollte. Sich über weltliche Dinge wie Unannehmlichkeiten oder Schande zu schämen, ist lasterhafte Scham (‚pudor malus‘), da man sich nur Gott gegenüber zu schämen braucht. (7) Der Affekt des Sich-Rühmens (‚gloriatio‘) wird im Allgemeinen als die Freude über etwas definiert, das man bereits erlangt hat. Er unterscheidet sich vom ‚gaudium‘ nur dahingehend, dass man sich sowohl über Vergangenes und Gegenwärtiges als auch über Zukünftiges freuen kann, während man sich nur im Hinblick auf zurückliegende oder noch vorhandene Sachen rühmen kann. Das tugendhafte Sich-Rühmen (‚bona gloriatio‘) ist dabei ausschließlich auf das Verhältnis zu Gott oder das eigene gute
43 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Letitia est hilaritas remanens in mente ex gaudio precedente.“ 44 Spec. uniu. 11, 161 (P, fol. 105vb): „Spiritualis quoque tristitia alia est penitentialis, alia compassionaria, alia desideratoria.“ 45 Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Serenatio de letitia nascitur. Est autem serenatio claredo conscientie sicut a mente sic et a facie nubilum fugans.“ 46 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107rb): „Opponitur autem serenationi pudor. Est autem pudor passio conscientie per inhonestatem lese nos nobismet displicere faciens et exterius se per ruborem faciei naturaliter prodens.“
1.2 Inhaltlicher Überblick
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Gewissen bezogen.47 Seine Komplementärtugend, die Buße (‚penitentia bona‘), bereut dagegen die vergangenen und gegenwärtigen Fehler.48 Die lasterhaften Übertreibungen legt Radulfus Ardens so fest: Die ‚mala gloriatio‘ brüstet sich entweder mit den eigenen schlechten Taten oder wird zum Stolz, während die übertriebe Buße – ähnlich wie die lasterhafte ‚tristitia‘ – zur Verzweiflung führt. (8) Wie bereits erwähnt, entsteht die Tugend der Sanftmut (‚mansuetudo‘) als Ergebnis der ausgewogenen und in rechter Weise geordneten Affekte. Die Wahl des Begriffes begründet Radulfus Ardens mit einer Allegorie: Wie ein wildes Tier mit der Zeit und durch Gewöhnung zahm (‚mansuetus‘) wird, ‚zähmen‘ sich auch die einzelnen Affekte gegenseitig. Ist dieser Prozess abgeschlossen, ist man sanftmütig und für jedes Gut empfänglich, ohne auf der anderen Seite den Lastern zu verfallen.49 Daraus lässt sich auch die Strenge (‚seueritas‘) bzw. die Geradlinigkeit (‚rigor‘) als ihre Komplementärtugend ableiten. Sie verhindert, dass man durch allzu große Weichheit (‚mollities nimia‘) nicht nur Gütern, sondern auch Übeln gegenüber empfänglich wird.50 Steigert sich die Strenge aber zur Hartherzigkeit (‚asperitas‘) oder Wildheit (‚feritas‘), wird der Mensch abweisend und kann so auch kein mehr Gut erlangen. Insgesamt – so viel lässt sich bereits auf der Grundlage dieses einführenden Überblicks sagen – ist das komplementäre Grundgerüst von Buch 11 weitgehend kohärent und stimmig. Wie sich jedoch bei der genaueren Analyse des Textes zeigen wird, verbergen sich hinter dieser zunächst einmal einleuchtenden Grundstruktur zahlreiche erklärungsbedürftige Detailfragen. Ein erster Punkt fällt schon jetzt ins Auge: Während die Bestimmungen zu den Tugenden zumeist relativ eindeutig sind, bezeichnet Radulfus Ardens die Laster mitunter verschieden oder fasst unterschiedliche Aspekte unter einem inhaltlich eher vagen Oberbegriff zusammen. Dieses Phänomen lässt sich am Beispiel der ‚emulatio‘ gut beobachten: Hier kommt – wie bereits dargestellt – der Ausdruck ‚schlechtes Nacheifern‘ (‚emulatio mala‘) vor, der zum einen eine Verhaltensweise beschreibt, die schlechte Eigenschaften von anderen Menschen nachahmt. Zum anderen wird aber auch der Neid genannt, der sich in Form von Missgunst auf die guten Eigenschaften des Vorbildes richtet. Diese ‚Zweiteilung‘ des Lasters rührt demnach daher, dass sich ein an sich guter Affekt entweder auf einen schlechten Gegenstand richtet oder sich derartig steigert, dass
47 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108vb): „Quod uero gloriamur in conscientia, non ex conscientia est, sed ex Deo. In Deo gloriamur tamquam in auctore et muneratore, in bonis nostris gloriamur tamquam in Dei operibus et muneribus.“ 48 Spec. uniu. 11, 166 (P, fol. 108vb): „Est autem penitentia uirtus collateralis bone gloriationis.“ 49 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109ra): „Dicitur autem metaphorice mansuetudo, quoniam sicut animal bene domitum et eruditum fit mansuetum, id est obedire manui suetum, ita si animus prius agrestis et ferus fuerit bene domitus et compositus fit mansuetus et bene obedire paratus.“ 50 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 109vb): „Collateralis uero mansuetudinis est seueritas siue rigor. […] Est ergo seueritas uirtus, per quam efficitur mens inflexibilis ad illicita.“
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1 Einführung zu Aufbau und Inhalt von Buch 11
er zu einer lasterhaften Übertreibung wird; ähnliche Unterscheidungen finden sich wenigstens im Ansatz bei allen Lastern in Buch 11. Wie lässt sich diese Beobachtung erklären? Eine systematische Begründung für diese Zweiteilung könnte sein, dass das eine Laster aus einem Mangel an ‚discretio‘ entsteht und damit zu der Ebene gehört, auf der sich die diskretiven und affektiven Tugenden austarieren, während das andere aus einem Missverhältnis zwischen den beiden Affekten resultiert. Diese Lösung würde sich gut in den Gedankengang des Radulfus Ardens einfügen, allerdings äußert er sich selbst nicht explizit in diese Richtung. Insgesamt wird an dieser inhaltlichen Einführung nochmals deutlich, dass Radulfus Ardens die acht Komplementärtugendpaare in einer Reihenfolge behandelt, die sich aus der zeitlichen Abfolge ihrer Entstehung ergibt. Er stellt damit den Prozess dar, in dem sich die amative Seelenkraft einem Gut zuwendet, sich um es bemüht, es erlangt, sich darüber freut und schließlich ruhig und sanftmütig wird. Davon ausgehend definiert er die oditive Seelenkraft als ein Korrektiv, das die Liebe davor bewahrt, sich in gleicher Weise auf etwas Schlechtes zu beziehen. Insgesamt wird sein Bemühen sichtbar, diese mehrstufige und stets dynamische Entwicklung möglichst detailliert abzubilden.
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden Nachdem in einem ersten Schritt die Grundstruktur von Buch 11 in den Blick genommen wurde, wird nun in einem zweiten Schritt untersucht, wie die insgesamt 16 Tugenden und ihre dazugehörigen Laster weiter untergliedert und entfaltet werden. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund. Erstens: Welche zusätzlichen Komplementärtugendpaare bestimmt Radulfus Ardens im Zuge dieser Ausdifferenzierung? Und zweitens: Wo finden sich Unklarheiten oder systematische Brüche im auf den ersten Blick stimmigen komplementären Grundgerüst von Buch 11 und wie lassen sie sich erklären? Dabei ist die Annahme leitend, dass Radulfus Ardens bei der Konzeption des Buches zum einen bestrebt war, in nahezu enzyklopädischer Vollständigkeit die begrifflichen Unterscheidungen und Unterarten der Tugenden, die ihm aus der Tradition oder zeitgenössischen Quellen bekannt waren, zu nennen und in einen übergeordneten Rahmen zu verorten. Zum anderen greift er sich dann aber aus der Fülle der genannten Gegenstände gezielt Einzelthemen heraus und behandelt diese ausführlich im Kontext von bestimmten Komplementärtugendendpaaren. Der besseren Übersichtlichkeit halber werden die acht Komplementärtugendpaare in einzelnen, geschlossenen Abschnitten dargestellt. Dies bietet sich auch deshalb an, da Radulfus Ardens die einzelnen Tugenden in ganz unterschiedlicher Ausführlichkeit behandelt und sie auch unterschiedlich aufwändig unterteilt. So finden sich etwa im Abschnitt über die Liebe insgesamt vier weitere Gliederungsebenen, auf denen zahlreiche Tochtertugenden und Unterarten behandelt werden, während etwa im Abschnitt über die Heiterkeit nur eine einzige existiert. Bei der Analyse der einzelnen Tugendtraktate sind v. a. drei Aspekte von Interesse: Erstens die Leitfragen, die den jeweiligen Abschnitt strukturieren und den roten Faden der Darstellung bilden. Zweitens die Definitionen und begrifflichen Differenzierungen der genannten Verhaltensweisen. Diese werden zumeist aus dem Text herausgelöst, eingehender erklärt und in einem Schaubild visualisiert. Drittens die aufgefundenen Komplementärtugendpaare, die die zuvor ausdifferenzierten ‚species‘ systematisch aufeinander beziehen. Daraus folgt, dass die (oft sehr ausführlichen) praktischen Erläuterungen und Hinweise weitestgehend ausgespart bleiben und nur dann darauf eingegangen wird, wenn darin wichtige Informationen zum Verständnis der jeweiligen Verhaltensweise enthalten sind.
https://doi.org/10.1515/9783110758924-010
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘ 2.1.1 Begriffliche Ausdifferenzierung: Die ‚species‘ von Liebe und Hass und die beiden Aspekte der Liebe Es wurde bereits mehrfach herausgestellt, dass dem Komplementärtugendpaar Liebe und Hass grundlegende Bedeutung zukommt. Aus diesem Grund finden sich in diesem Bereich, der mit 123 Kapiteln deutlich mehr Raum einnimmt als die Überlegungen zu allen anderen Tugenden zusammen, die meisten Arten, Tochtertugenden und Unterarten. Schon in der Vorrede nennt Radulfus Ardens vier Leitfragen, die er im Traktat über die Liebe zuerst (also auf der ersten Gliederungsebene) beatwortet:51 . . . .
‚quid sit amor?‘ ‚que sint amanda?‘ ‚que sint species amoris?‘ ‚quid sit caritas?‘
(c. ) (c. ) (c. ) (c. )
(1) Zunächst also zur Definition der Liebe: Grundsätzlich verwendet Radulfus Ardens den Begriff ‚amor‘ für die Liebe in ihrer allgemeinen Bedeutung, setzt aber auch ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied ‚dilectio‘ dafür ein.52 Er definiert sie im ersten Kapitel von Buch 11 als den Affekt, der zuerst aus der liebenden Seelenkraft hervorgeht.53 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass ‚amor‘, ‚cupiditas‘ und ‚uoluntas‘ nach seinem Verständnis ein und derselbe Affekt sind. Dies betont er bekanntermaßen erstmals in Zusammenhang mit dem Gefolge der ‚amabilitas‘ in Buch 154, danach bei seinen Ausführungen über den Willen in Buch 555 und schließlich am Anfang von Buch 1156. Dass dieser zugrundeliegende Affekt mit drei
51 Spec. uniu. 11, praef. (P, fol. 62ra): „[…] prius uidendum est, quid sit amor et que sint amanda, que sint species amoris, quid sit caritas.“ 52 Beide Begriffe kommen in Buch 11 in ähnlicher Häufigkeit vor: ‚amor‘ findet sich ca. 112mal und ‚dilectio‘ ca. 126mal. 53 Spec. uniu. 11, 1 (P, fol. 62ra): „Est igitur amor prior ex amabilitate procedens affectio.“ 54 Spec. uniu. 1, 44 (CCM 241, p. 52): „Sane animaduertendum est quoniam cupiditas, amor et uoluntas eadem affectio est, uerum in nominibus quedam diuersitas uidetur, quoniam concupiscere secundum usum dicimur, dumtaxat ea que nondum habemus. Volumus autem et amamus tam ea que habemus, quam ea que non habemus.“ 55 Spec. uniu. 5, 25 (CCM 241, p. 362): „Possumus autem sic uoluntatem generaliter diffinire: Voluntas est prior ex concupiscibilitate siue amabilitate procedens affectio.“ Die Definition des Willens ist also nahzu wortgleich mit der Bestimmung der Liebe. 56 Spec. uniu. 11, 1 (P, fol. 62ra): „Cum autem predicta diffinitio eque conueniat uoluntati sicut et amori, constat uoluntatem et amorem eandem esse affectionem, quoniam iuxta regulam dialectice si diffinitio diffinitorum est eadem et diffinita sunt idem.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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unterschiedlichen Begriffen beschrieben wird, erklärt er in Buch 1 damit, dass man das Verb ‚concupiscere‘ nur in Bezug auf Gegenstände verwendet, die man ersehnt, aber noch nicht besitzt, während ‚uelle‘ und ‚amare‘ zusätzlich auch auf solche bezogen werden, über die man bereits verfügt. Eine weitere Aussage, die den Zusammenhang der Begriffe ‚uoluntas‘, ‚amor‘ und ‚cupiditas‘ beschreibt, findet sich in Buch 5. Radulfus Ardens schreibt dort: Voluntas est affectio concupiscibilitatis siue amabilitatis ad rem placitam siue habitam siue non habitam.57
Auch wenn diese Bestimmung prinzipiell mit der aus Buch 1 übereinstimmt, fällt doch eine kleine Ungenauigkeit ins Auge: Die Formulierung in Buch 5 legt nahe, dass ‚concupiscibilitas‘ und ‚amabilitas‘ die gleiche Bedeutung haben, obwohl die beiden Begriffe in Buch 1 voneinander abgegrenzt werden. Hier zeigt sich erneut, dass Radulfus Ardens auf der einen Seite bestrebt ist, die von ihm verwendeten Begriffe möglichst genau systematisch auszudifferenzieren, es ihm aber auf der anderen Seite nicht immer gelingt, diese Bestimmungen konsequent anzuwenden. Insgesamt kann jedoch festgehalten werden, dass sich die drei Begriffe ‚uoluntas‘, ‚concupiscibilitas‘ und ‚amor‘ – systematisch gesehen – entsprechen. Das Gleiche gilt auch im Bereich des Hasses (‚odium‘), der dem Widerwillen (‚noluntas‘) entspricht. Es ist der Affekt, der zuerst aus der hassenden Seelenkraft hervorgeht.58 Auch diese Definition findet sich in Buch 5, wobei noch eine Zusatzinformation angeführt wird, die die Aufgabe des Hasses präzisiert: Noluntas uero siue odium est irascibilitatis siue odibilitatis affectio ad rem displicitam uel preteritam uel presentem uel futuram.59
Grundsätzlich muss der Mensch alle von Gott geschaffenen Dinge lieben. Dafür führt Radulfus Ardens vier Gründe an: Erstens sind sie rein ontologisch betrachtet gut, zweitens wurden sie auf ein gutes Ziel hingeordnet, drittens sind sie Hilfsmittel für den Menschen, wenn er sich von Gott leiten lässt und sie gut verwendet und viertens, weil Gott sie selbst gelobt und für gut befunden hat.60 Dabei ist allerdings zu beachten, dass man sie nicht an sich lieben darf, sondern nur auf Gott hin.61 Da-
57 Spec. uniu. 5, 25 (CCM 241, p. 362). 58 Spec. uniu. 11, 1 (P, fol. 62ra): „Odium quoque eadem affectio est, que et noluntas. Vnde et eadem diffinitione concluduntur. Est enim utraque prior ex odibilitate procedens affectio.“ 59 Spec. uniu. 5, 25 (CCM 241, p. 363). 60 Spec. uniu. 11, 2 (P, fol. 62ra): „Que sunt amanda? Omnia que sunt. Quare? Quattuor de causis: quoniam sunt bona, quoniam ad bonam causam sunt facta, quoniam electis sunt utilia, quoniam diuine laudis sunt materia. Et bona quidem sunt, quoniam a bono auctore sunt facta.“ 61 Spec. uniu. 11, 2 (P, fol. 62va): „Ad quod dicimus quod huiusmodi non sunt absolute diligenda, sed ad aliquid. Illa uero que manifeste ad salutem sunt, aperte diligenda sunt. Sicut ergo omnes creaturas inquantum sunt diligere debemus, ita nullam inquantum est odisse debemus. Omnis enim natura que bona est, diligenda est; malitia uero que sola naturalis non est, odienda est.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
raus lässt sich unmittelbar ableiten, dass sich der Hass auf nichts richten darf, was von Gott geschaffen ist, sondern nur auf die Sünden und Laster, die bereits in der allgemeinen Tugendlehre als ein ‚nihil‘ bestimmt wurden.62 (2) Wie werden diese beiden grundlegenden Affekte weiter unterteilt? Radulfus Ardens behandelt zunächst die Liebe und nennt in einem ersten Schritt sechs unterschiedliche Arten (‚species amoris‘): die natürliche Liebe (‚amor naturalis‘), die lasterhafte Liebe (‚amor uitiosus‘), die natürliche und lasterhafte Liebe (‚amor naturalis et uitiosus‘), die indifferente Liebe (‚amor indifferens‘) und die tugendhafte Liebe (‚amor uirtualis‘).63 Hinzu kommt noch die tugendhafte und natürliche Liebe (‚amor naturalis et uirtualis‘), die zwar bei der ersten Aufzählung nicht vorkommt, aber aus weiter unten erläuterten Hinweisen im Text und dem dazugehörigen Baumdiagramm64 entnommen werden kann. Dabei ist zu beachten, dass diesen ‚species‘ im Gegensatz zum bloßen Affekt eine ethische Wertigkeit zukommt. Die genannten Arten der Liebe werden wiederum in zahlreiche Unterarten aufgeteilt: – Der ‚amor naturalis‘ ist prinzipiell auf alle Gegenstände bezogen, die der Mensch von Natur aus erstrebt. Radulfus Ardens zählt sechs natürliche Bedürfnisse auf: Das nach körperlicher Gesundheit (‚amor boni corporalis‘), das nach einem gesunden Geist (‚amor boni spiritualis‘), das Streben nach lebensnotwendigen Dingen (‚amor necessitatis‘), nach Annehmlichkeiten (‚amor commoditatis‘), nach Abwechslung (‚amor uarietatis‘) und die Liebe zu nahestehenden Menschen wie Freunden, Verwandten oder Familienmitgliedern (‚amor propinquitatis‘).65 Damit ist also das menschliche Grundbedürfnis nach einem materiell abgesicherten, gesunden und sozial eingebetteten Leben gemeint. Diese Form der Liebe hat per se nichts Schlechtes an sich. Sie kann unter gewissen Bedingungen sogar tugendhaft sein (‚amor naturalis et uirtualis‘), wenn sie im rechten Maß bleibt und die natürlichen Güter auf Gott als höchstes Gut ausgerichtet werden. – Wird die natürliche Liebe aber so sehr überbetont, dass Gott als Schöpfer aller Dinge aus dem Blick gerät und Geschaffenes seinen Platz einnimmt, entsteht der ‚amor naturalis et uitiosus‘ – eine lasterhafte Übertreibung.66 Zudem kann dieser Ausdruck auch rein sexuelles Begehren bzw. erotische Liebe (‚libido‘) meinen,
62 Vgl. dazu u. a. Punkt 1.2.1 im ersten Teil der Arbeit. 63 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62va): „Amor autem alius est naturalis, alius uitiosus, alius naturalis et uitiosus, alius indifferens, alius uirtualis.“ 64 Vgl. P, fol. 63r. 65 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62va): „Naturalis uero alius est naturalis boni corporis uel spiritus, alius necessitatis, alius commoditatis, alius uarietatis, alius propinquitatis.“ 66 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62va): „Omnes igitur amores huiusmodi naturales sunt et boni, nisi fuerint immoderati.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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die von Radulfus Ardens (wohl v. a. aufgrund zeitbedingter Vorbehalte) grundsätzlich als lasterhaft gewertet wird.67 – Daneben gibt es noch zwei weitere Formen des ‚amor uitiosus‘, nämlich die Liebe zu bedeutungslosen Dingen (‚amor uanitatis‘) und die Liebe zum Schlechten (‚amor malitie‘). Die erste meint die Liebe gegenüber nutzlosen Gegenständen, die eigentlich in den Bereich des ‚contemptus‘ fallen. Je mehr sich der Mensch um sie bemüht und sich mit ihnen beschäftigt, desto mehr geraten die wirklich notwendigen Dinge (‚bona‘) aus dem Blickfeld. Die Charaktereigenschaft, die mit einem solchen Verhalten verbunden ist, nennt Radulfus Ardens wertlose Neugier (‚uana curiositas‘). Der zweite beinhaltet dagegen den direkten Willen, Böses zu tun.68 – Den ‚amor indifferens‘ könnte man in zeitgemäßer Sprache wohl am ehesten mit ‚Leidenschaft‘ oder ‚Passion‘ bei bestimmten Tätigkeiten oder Hobbys wiedergeben. Radulfus Ardens nennt hier die vier Beispiele Landwirtschaft, Seefahrt, Fischen und Jagd. Diese Liebe hat keine Bedeutung im Bereich der Ethik, kann aber lasterhaft werden, wenn sie im Übermaß betrieben wird oder auch tugendhaft, wenn sie das richtige Maß einhält.69 – Der ‚amor uirtualis‘ schließlich besteht darin, den Nächsten um Gottes willen zu lieben. In ähnlicher Weise ist aber auch die natürliche Liebe, die durch die Gottesliebe überformt ist, in der tugendhaften Liebe mitinbegriffen.70 Diese gnadenhaft vollendete Liebe, die er ‚caritas‘ nennt, teilt sich wiederum in zwei Regungen bzw. Aspekte (‚motus‘), nämlich die Liebe zum Nächsten (‚caritas in proximum‘) und die Liebe zu Gott (‚caritas in deum‘). Dabei handelt es sich jedoch um ein und dieselbe Tugend, die sich jeweils auf verschiedene Gegenstände richtet.71 Die Aufteilung der
67 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62vb): „Amor uero naturalis simul et uitiosus est amor libidinis que sine aliqua macula exerceri non potest.“ 68 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62vaf.): „Amor uero uanitatis aut est uane scientie aut uani dicti aut uani facti aut uane rei aut parum utilis. Que omnia spretis necessariis bonis curiositas uana est amare et curare. Amor uero malitie est uelle malignari, furari, rapere, mentiri, periurare, decipere, rixari, conuiciari, percutere, occidere et huiusmodi.“ 69 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62vb): „Amor uero indifferens est, ut amor agriculture, nauigationis, piscationis, uenationis, que si temperanter et bona intentione habeantur, utique bona sunt, alias mali.“ 70 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62vb): „Amor uirtualis est diligere inimicum, persequutorem et ignotum propter Deum. Naturalis uero simul et uirtualis est, ut diligere propter Deum parentes, liberos, uxorem, cognatos, benefactores, propinquos, amicos et Deum. […] Que uero propter salutem temporalem diligimus, naturali dilectione diligimus, sed informata caritate, si ea secundum Deum et ad Deum diligimus.“ 71 Spec. uniu. 11, 4 (P, fol. 64ra): „Est autem caritas dilectio qua diligimus Deum propter seipsum et proximum propter Deum. Ex qua diffinitione proculdubio patet, quoniam eadem est dilectio qua diligimus Deum propter se et proximum propter Deum. Quare ergo dicitur caritas gemina? Propter duo que ea diliguntur uidelicet Deus et proximus, propter duo precepta de caritate data, propter
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Liebe und des Hasses, der in ebenso viele Arten aufgeteilt ist,72 kann demnach aus dem Textbefund folgendermaßen rekonstruiert werden:
boni corporis boni spiritus amor naturalis
necessitatis commoditatis
amor naturalis et utiosus / libido amor naturalis et uirtualis amor
uarietatis propinquitatis uanitatis
amor uitiosus malitie amor indifferens in deum amor uirtualis / caritas
in proximum
Abb. 15: Die Arten der Liebe.
Radulfus Ardens kündigt am Ende von Kapitel 3 an, im weiteren Verlauf der Darstellung ausschließlich die tugendhafte Liebe – also die ‚caritas‘ – zu behandeln und nicht weiter auf die übrigen Arten einzugehen.73 Im Anschluss daran beginnt in Kapitel 4 mit dem Traktat über die ‚caritas‘ die zweite Gliederungsebene. Hier entfaltet der Autor die beiden soeben genannten Aspekte inhaltlich, um davon ausgehend auf der dritten und vierten Gliederungsebene ihre Tochtertugenden (‚filie‘) und Unterarten (‚species‘) zu behandeln. Der Traktat über die ‚caritas‘ ist folgendermaßen gegliedert:74
etiam duos motus dilectionis. Nam licet eadem sit caritas uirtus qua diligitur Deus et proximus, tamen alio motu mouemur ad diligendum Deum et alio ad diligendum proximum.“ 72 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 63r): „Quot autem sunt species amoris, tot econtrario sunt species et odii. Nam odium aliud est naturale, aliud uitiosum, aliud simul naturale et uitiosum, aliud indifferens, aliud uirtuale, aliud naturale et uirtuale.“ 73 Spec. uniu. 11, 3 (P, fol. 62vb): „Nunc ceteris speciebus amoris pretermissis de uirtuali dilectione, id est de caritate, dicendum est.“ 74 Spec. uniu. 11, 4 (P, fol. 64ra): „Considerandum est igitur, quid sit caritas et quare diligendus sit Deus et quantum et quomodo et quis sit proximus noster et quare sit diligendus et quomodo et quis sit ordo caritatis et qui gradus, utrum habita caritas possit amitti.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
. . . . . . . . . .
‚quid sit caritas?‘ ‚quare diligendus sit deus?‘ ‚quantum diligendus sit deus?‘ ‚quomodo diligendus sit deus?‘ ‚quis sit proximus noster?‘ ‚quare sit diligendus proximus?‘ ‚quomodo diligendus sit proximus?‘ ‚quis sit ordo caritatis?‘ ‚qui sint gradus caritatis?‘ ‚utrum habita caritas possit amitti‘
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(c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. )
Dieser Abschnitt enthält aus systematischer Perspektive nur wenige relevante Informationen, weshalb er hier auch nicht genauer untersucht wird. So geht es im Kontext der Fragen 2–4 hauptsächlich darum, in welchem Maß es schon im Diesseits möglich ist, Gott zu lieben, und wie man in dieser Haltung wachsen kann. In den Kapiteln 8–10 wird anhand der Nächstenliebe verdeutlicht, dass nicht nur bestimmte Personen, sondern jeder Mensch und sogar die Engel als ‚proximi‘ gelten müssen, und welche praktischen Konsequenzen sich hieraus ergeben.75 In den Kapiteln 11–13 geht es hauptsächlich um das Verhältnis, in dem die Gottes- und Nächstenliebe zueinander stehen, wobei erwartungsgemäß die Rolle der ‚caritas in deum‘ als Fundament aller anderen Formen der ‚caritas‘ hervorgehoben wird. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Radulfus Ardens nirgends auf die Selbstliebe zu sprechen kommt, die ja nach der biblischen Tradition immerhin der Bezugspunkt der Nächstenliebe ist. Er begründet dies in Kapitel 11 über den ‚ordo caritatis‘ damit, dass jeder Mensch sich selbst liebe und daher nichts weiter dazu zu sagen sei.76 Unabhängig davon, dass diese Aussage aus lebenspraktischer Perspektive durchaus in Zweifel gezogen werden könnte, ergibt sich daraus eine systematische Lücke, die im Verlauf der vorliegenden Untersuchung noch mehrfach thematisiert werden muss.
75 Spec. uniu. 11, 8 (P, fol. 65ra): „Sed dices: Quomodo omnem hominem tamquam proximum diligere possum? Quomodo enim diligere quomodo illos quos nec esse scio? Generali amore, non speciali. Sed et etiam paratus esse debeo ad diligendum eos amore speciali ex quo eos cognouero. In nomine quoque proximi angeli intelligendi sunt, qui de nostra salute tantisper solliciti sunt.“ 76 Spec. uniu. 11, 11 (P, fol. 65rb): „Quattuor diligenda sunt: unum quod supra nos est Deus, alterum quod nos sumus, tertium quod iuxta nos est scilicet proximus, quartum quod infra nos est scilicet nostrum corpus. De secundo et quarto nulla precepta erant danda, ut scilicet diligeremus nos uel corpus nostrum.“ Vgl. ergänzend dazu auch ebd. 11, 10 (P, fol. 65ra): „Diliges proximum tuum sicut teipsum. Sicut enim qualitatem significat non quantitatem. Sed quid est hoc? Numquid si male diligo me, debeo male diligere proximum? Nequaquam. Mala enim dilectio non est dilectio, sed odium. […] Qui autem odit animam suam, nequit bene diligere alienam.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
(3) Im 14. Kapitel geht er erstmals genauer auf den Hass ein und bespricht dabei zuerst den schlechten Hass (‚odium malum‘), den er als das ‚uitium contrarium‘ der ‚caritas‘ bestimmt.77 Er ist dadurch gekennzeichnet, dass man die Natur oder gar Gott für die eigene Notlage verantwortlich macht und ihn deshalb hasst. Dass ein solcher Hass als Laster bewertet wird, rührt daher, dass der Mensch ausschließlich den Mangel an Gutem hassen darf. Dementsprechend richtet sich der gute und vollendete Hass (‚odium bonum et perfectum‘) naturgemäß auf die eigenen Sünden und Laster oder aber die der Mitmenschen, wobei eine wichtige Einschränkung zu beachten ist: Dabei handelt es sich nämlich nicht – wie man möglicherweise auf den ersten Blick vermuten könnte – um einen guten bzw. gerechtfertigten Hass auf den Nächsten oder auch auf die eigene Person. Eine menschliche Person als solche darf niemals Gegenstand des Hasses sein, weil dadurch automatisch die ‚caritas‘ zerstört werden würde. Auf der anderen Seite kann aber auch die Liebe ohne das Korrektiv des Hasses lasterhaft werden, wenn sie nicht mehr nur das Heil des Nächsten im Blick hat und dazu auch bereit ist, ihn nötigenfalls zurechtzuweisen, sondern auch seine Verfehlungen und sittlichen Mängel akzeptiert (‚amor malus‘).78 Von daher ordnet Radulfus Ardens in Kapitel 15 der ‚caritas‘ auch das ‚bonum odium‘ als Komplementärtugend zu:79
‚amor malus‘
‚amor bonus‘
↔
‚odium bonum‘
‚odium malum‘
Verknüpft man diese Zuordnung mit den oben beschriebenen ‚species‘ von Liebe und Hass, ergibt sich ein komplementäres Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Arten der beiden Grundaffekte, das im folgenden Schema abgebildet wurde:
77 Spec. uniu. 11, 14 (P, fol. 66vb): „Est autem bone dilectioni contrarium odium malum. Porro odium malum est naturam et ea que Deus in homine fecit, odisse.“ 78 Spec. uniu. 11, 14 (P, fol. 66vb): „Bonum uero et perfectum odium est odisse uitia et peccata, non homines. […] Magna igitur discretio in huiusmodi adhibenda est. Multi quippe tantisper uitia odiunt, quod propter uitia que sunt in hominibus, ipsos homines odiunt et e regione multi tantisper per aliquos homines diligunt, quod propter eos uitiis que in eis sunt, consentiunt. Ceterum utique equaliter peccant, quoniam sic sunt diligendi homines quod eorum non diligantur errores, et sic sunt odiendi errores quod non odiantur homines.“ 79 Spec. uniu. 11, 15 (P, fol. 66vbf.): „Que est ergo collateralis uirtus caritatis? Bonum odium. Bonum quippe odium moderatur bonam dilectionem, ut non diligat, nisi quod diligendum est. Bona quoque dilectio moderatur bonum odium, ut non odiat, nisi quod odiendum est. Dilectio igitur bona sine bono odio uitium est et odium sine dilectione bona uitium est. Itaque dilectio cum bono odio uirtus est.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
↔
amor (c. 1-3)
195
odium (c. 14.15)
amor naturalis (c. 3)
↔
odium naturale (c. 3)
amor indifferens (c. 3)
↔
odium indifferens (c. 3)
amor uitiosus (c. 3)
amor uirtualis / caritas (c. 4-13.16-19)
↔
odium uirtuale (c. 15)
odium uitiosum (c. 14)
amor naturalis et uitiosus (c. 3)
amor naturalis et uirtualis (c. 3)
↔
odium naturale et uirtuale (c. 3)
odium naturale et uitiosum (c. 3)
caritas in deum (c. 5-7) homines diligunt, quod uitiis consentiunt (c. 14)
caritas in proximum (c. 8-11)
↔
odisse uitia et peccata, non homines (c. 14.15)
odisse uitia, quod homines odisse (c. 14)
Abb. 16: Die Komplementärtugenden im Bereich der Liebe.
Zwei Details in dieser Darstellung erfordern eine genauere Erläuterung: Erstens sind die natürliche Liebe und der natürliche Hass bzw. die indifferente Liebe und der indifferente Hass von den anderen ‚species‘ abgehoben, da Radulfus Ardens nichts dazu sagt, ob auch sie in einem komplementären Verhältnis stehen. Im Bereich des Natürlichen führt er immerhin tugend- und lasterhafte Formen an, auf dem Gebiet des Indifferenten unterlässt er dies dagegen. Dass aber auch der ‚amor indifferens‘ und das ‚odium indifferens‘ rein theoretisch von ihrer Konzeption her in einem komplementären Verhältnis stehen, zeigt sich schon daran, dass auch die indifferente Liebe lasterhaft oder tugendhaft werden kann. Von daher wurde dies im Schema auch angedeutet. Zweitens fällt ins Auge, dass der Bereich der ‚caritas in deum‘ kein komplementäres Gegenstück aus dem Bereich des Hasses hat. Dies begründet Radulfus Ardens damit, dass es in der Gottesliebe kein Übermaß geben kann und daher auch keine Regulierung nötig ist. So betont er in Kapitel 6 unter Bezugnahme auf Dt 6, 5, dass der Mensch Gott zum einen ganzheitlich lieben muss;80 zum anderen betont er, dass Gott weder im Diesseits noch im Jenseits in dem Maße geliebt werden kann, wie es ihm zukäme.81 Daran lässt sich ablesen, dass die Liebe Gott gegenüber nie
80 Spec. uniu. 11, 6 (P, fol. 64va): „Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo et ex tota anima tua et ex tota mente et ex totis uiribus tuis. In hoc ergo mandato precipimur diligere Deum ex omnibus motibus, affectibus, scientiis, uiribus tam interioris quam exterioris hominis.“ 81 Spec. uniu. 11, 6 (P, fol. 64vb): „Quod autem nemo diligat Deum quantumcumque potest, inde palam est, quoniam nemo tantum diligit Deum, quin plus possit diligere eum. […] neque enim hac in uita nec etiam in alia diligi poterit tantum ab aliquo Deus, quantum est diligi dignus.“
196
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
ihr gesolltes Maß erreichen kann und sich daher prinzipiell immer weiter steigern kann und sogar muss. Die begriffliche Ausdifferenzierung des ersten Komplementärtugendpaars lässt sich also folgendermaßen zusammenzufassen: Liebe und Hass werden jeweils in sieben Arten aufgeteilt. Für die Entfaltung der Tochtertugenden, die sich auf der dritten Gliederungsebene anschließt, ist davon zum einen die ‚caritas in deum‘ (ohne Komplementärtugend), zum anderen die ‚caritas in proximum‘ mit der Komplementärtugend ‚odisse uitia et peccata, non homines‘ von weiterführender Bedeutung. Auf der Grundlage dieses Befundes lässt sich die bereits bekannte Darstellung des Komplementärtugendpaars Liebe und Hass folgendermaßen präzisieren bzw. konkretisieren:
‚tantisper homines diligere, quod propter eos uitiis que in eis sunt, consentire ‘
‚caritas in proximum‘
↔
‚odisse uitia et peccata, non homines‘
‚propter uitia que sunt in hominibus, homines odire‘
Wie gesagt betont Radulfus Ardens, dass es sich bei der Gottes- und Nächstenliebe nicht um zwei verschiedene, sondern um dieselbe Tugend handelt.82 Daraus ergeben sich wiederum drei Gruppen von Tugenden: Die erste geht aus der Liebe zu Gott hervor, die zweite aus der Liebe zum Nächsten und die dritte aus beiden gemeinsam. Auf der dritten Gliederungsebene werden die Tochtertugenden (‚filie‘), die in diesen drei Gruppen auftreten, dargestellt.
2.1.2 Die ‚filie‘ aus dem Bereich der Gottesliebe Von der ‚caritas in deum‘ stammen insgesamt acht ‚Töchter‘ (bzw. Tochtertugenden) ab. Radulfus Ardens nennt sie erstmals in Kapitel 20 und behandelt sie anschließend in den Kapiteln 20–27.83 Dabei handelt es sich – wie auch aus dem unten angefügten Schaubild hervorgeht – um die Gottergebenheit (‚deuotio‘), das Gelübde (‚uotum‘), den Gehorsam (‚obsecutio‘), die Verinnerlichung (‚inuisceratio‘), den Genuss (‚delectatio‘), das Lob (‚laudatio‘), das Verlangen (‚desiderium‘) und das Kämpfen (‚agonizatio‘). Wie die Tugend, aus der sie hervorgehen, besitzen sie alle keine Komplementärtugenden, da sie sich ausschließlich auf Gott hin ausrichten und es in der Liebe zu ihm grundsätzlich kein Zuviel geben kann.
82 Vgl. Spec. uniu. 11, 4 (P, fol. 64ra). 83 Spec. uniu. 11, 20 (P, fol. 68rb): „Sunt autem caritatis quam habemus in Deum, octo filie speciales uidelicet deuotio, uotum, obsecutio, inuisceratio, delectatio, laudatio, desiderium, agonizatio.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
197
deuotio (c. 20) uotum (c. 21) obsecutio (c. 22) inuisceratio (c. 23) caritas in deum delectatio (c. 24) laudatio (c. 25) desiderium (c. 26) agonizatio (c. 27) Abb. 17: Die Tochtertugenden der Gottesliebe.
Dabei ist zu beachten, dass einige der hier genannten Begriffe im weiteren Verlauf von Buch 11 wiederkehren – so z. B. das ‚desiderium‘ als Tochtertugend der Hoffnung und die ‚delectatio‘ als Tochtertugend der geistigen Freude. Zumindest das ‚desiderium‘ ist dort aber nicht nur spezifisch auf Gott, sondern auch auf den Bereich des Zwischenmenschlich-weltlichen bezogen. Eine wichtige Gemeinsamkeit all dieser Tugenden ist, dass sie in diesem Leben nur bruchstückhaft verwirklicht sind und erst im Jenseits von Gott vollendet werden. Da sich aus den Bezeichnungen der acht Tochtertugenden nicht unmittelbar ihre konkrete Bedeutung erschließt, werden sie im Folgenden kurz inhaltlich vorgestellt. 2.1.2.1 ‚deuotio‘ Radulfus Ardens definiert die Tugend Gottergebenheit (‚deuotio‘) in Kapitel 20 als Ausrichtung des guten Willens bzw. der guten Liebe auf die Verehrung Gottes.84 Der gottergebene Mensch gibt sich also ganz der Verehrung Gottes und dem geistlichen Leben hin. Diese innere Haltung zeigt sich freilich auch äußerlich bspw. durch ehrfürchtiges Verhalten in der Kirche, eifriges Gebet, sachgemäße Pflege der Altargeräte und sorgfältigen Umgang mit den Sakramenten.85 Das der ‚deuotio‘ entgegengesetzte Laster ist die Nichtachtung der Gottesverehrung bzw. Religion gegenüber (‚negligentia religionis‘).86
84 Spec. uniu. 11, 20 (P, fol. 68rb ): „Est autem deuotio intensio bone uoluntatis erga cultum diuinitatis.“ 85 Spec. uniu. 11, 20 (P, fol. 68rb): „Porro interioris deuotionis exterius sunt signa supplicatio, pectoris contusio, geniculorum inflexio, corporis humiliatio et prostratio, gemitus suspiria, compunctio, intensa oratio, sanctuarii emundatio, sanctorum uestimentorum et linteaminum munda conseruatio, luminarium cultus altaris sacramentorum et sacrificiorum solicita procuratio primitiarum decimarum et oblationum prompta exhibitio.“ 86 Spec. uniu. 11, 20 (P, fol. 68rb): „Est autem deuotionis contraria religionis negligentia.“
198
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
2.1.2.2 ‚uotum‘ Das Gelübde (‚uotum‘) ist ein Versprechen gegenüber Gott, das nicht heilsnotwendig ist.87 Mit dieser Bestimmung wird es von den Geboten (‚precepta‘), die heilsnotwendig sind, abgegrenzt. Damit können letztlich alle guten Vorsätze persönlicher Natur, aber auch Gelübde vor einer kirchlichen Autorität wie einem Abt oder Kleriker gemeint sein. Radulfus Ardens äußert sich zwar nicht zu einer lasterhaften Übertreibung dieser Tugend, er hebt aber hervor, dass bestimmte Versprechen unsinnig und kontraproduktiv sind. Als Beispiel dafür verweist er auf das aus dem Alten Testament bekannte Gelübde des Richters Jiftach (Iud 11, 29–40), aufgrund dessen er seine Tochter opfern musste. Auch ein verpflichtendes Versprechen (‚uotum sollemne‘) zu brechen, stellt ein schwerwiegendes Laster dar.88 2.1.2.3 ‚obsecutio‘ Gott gegenüber gehorsam zu sein (‚obsecutio‘), bedeutet, seinen Vorschriften (‚mandata‘) und Räten (‚consilia‘) zu folgen oder sogar Leistungen zu erbringen, die über die bloße Pflicht seiner Gebote hinausgehen (‚supererogatio‘).89 An den ‚exempla‘, die er für letzteres anführt, lässt sich erkennen, dass damit in erster Linie Hilfeleistungen und Dienste gemeint sind, die Einschränkungen im Bereich der eigenen Lebensgrundlage nach sich ziehen. Ein ‚uitium contrarium‘ nennt Radulfus Ardens an dieser Stelle zwar nicht, jedoch behandelt er den Gehorsam noch an anderen Stellen im Werk, aus denen sich (erwartungsgemäß) erschließen lässt, dass es sich dabei um den Ungehorsam gegenüber Gott handelt.90 2.1.2.4 ‚inuisceratio‘ Die Verinnerlichung Gottes (‚inuisceratio‘) meint eine geistige Vergegenwärtigung Gottes, die dazu führt, dass sich die Seele mit allen ihren Kräften auf Gott hin ausrichtet und die Liebe zu Gott ein fester Bestandteil der eigenen emotionalen Befindlichkeit wird.91 Durch diese Liebe ist Gott selbst in den Menschen, die ihn auf diese Weise verinnerlicht haben, präsent. Im Bereich der Verinnerlichung nennt Radulfus Ardens insgesamt vier Laster: die Sorge um weltliche Dinge (‚cura mundanorum‘),
87 Spec. uniu. 11, 21 (P, fol. 68rb): „Votum est promissio facta Deo de re bona, tamen ad salutem non necessaria.“ 88 Vgl. zu den Beispielen Spec. uniu. 11, 21 (P, fol. 68rb-68vb). 89 Spec. uniu. 11, 22 (P, fol. 68vb): „Obsecutio est alterius uoluntati obeditio. Porro uoluntas Dei cui quantum possumus obtemperare debemus, in tribus consistit uidelicet in mandatis, in consiliis, in supererogationibus.“ 90 So behandelt er die ‚obedientia‘ etwa auch in Buch 12 als Tochtertugend der Demut und in Buch 10 als eine Gerechtigkeitspflicht (vgl. dazu im Detail Punkt 2.3.2.4 im dritten Teil der Arbeit). 91 Spec. uniu. 11, 23 (P, fol. 69ra): „Inuisceratio est rei dilecte in corde diligentis infixio. Vnde et dicitur uiscerarius siue precordialis amicus. Enimuero si quis diligit aliquid feruenter, illud habet in corde et videt inseparabiliter.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
199
die Freude an materiellen Gütern (‚delectatio temporalium‘), die Gottvergessenheit (‚obliuio dei‘) und die Liebe zur Welt (‚amor mundi‘).92 Gerade die ersten beiden Haltungen sind aber nicht per se schlecht, sondern nur dann zu verurteilen, wenn sie das Maß überschreiten. Die anderen beiden sind jedoch immer schlecht und daher als ‚uitia contraria‘ der Verinnerlichung zu betrachten. 2.1.2.5 ‚delectatio‘ Mit seiner Definition der ‚delectatio‘ als Genuss einer geliebten Sache oder Freude an der Hoffnung darauf nimmt Radulfus Ardens eindeutig Bezug auf die Tugend, die er ‚gaudium‘ nennt und in Kapitel 134 als eine ‚filia‘ der Hoffnung aufführt.93 In Kapitel 24 behandelt er jedoch nur die Freude an Gott. Sie kann es im eigentlichen Sinne erst im Jenseits geben, da Gott im Hier und Jetzt nicht von Angesicht zu Angesicht betrachtet werden kann. Jedoch hat der Mensch die vom Heiligen Geist geschenkten Tugenden als Vorgeschmack (‚prelibationes‘) auf die ewige Glückseligkeit und kann sich ihrer erfreuen.94 Sie wird in Kapitel 155 übrigens auch als eine Tochtertugend der geistigen Freude (‚gaudium spirituale‘) aufgeführt.95 2.1.2.6 ‚laudatio‘ Das Lob (‚laudatio‘) ist diejenige Tugend, mit der sich der Mensch für die Wohltaten Gottes erkenntlich zeigt.96 Da Gottes Zuwendung in dieser Welt nicht in vollem Umfang erkannt werden kann, ist auch diese Tugend nur bruchstückhaft und wird erst im Jenseits vollendet. Auch die Einschränkungen durch die körperliche Verfasstheit des Menschen sowie seine Sünden machen es unmöglich, Gott in der Weise zu loben, wie es ihm zukommen würde.
92 Spec. uniu. 11, 23 (P, fol. 69rb): „Quattuor quoque sunt que amorem eius a nobis auferunt uidelicet cura mundanorum, delectatio temporalium, rara memoria Dei, amor mundi.“ 93 Spec. uniu. 11, 24 (P, fol. 69rb): „Delectatio uero est in fruitione uel spe rei dilecte iocundatio.“; vgl. dazu: ebd. 11, 134 (P, fol. 97ra): „Nascitur autem ex spe uirtute desiderium, suspirium, longanimitas et gaudium. Per primum rem speratam desideramus, per secundum in eam suspiramus, per tertium nulla dilatione ab ea desperamus, per quartum etiam iam in ea congratulamur.“ 94 Spec. uniu. 11, 24 (P, fol. 69va): „Nos autem in hac uita frui Deo in re nequaquam ualemus, sed tantum in spe. […] Habemus quippe iam primitias spiritus et arras et prelibationes beatitudinis eterne uidelicet uirtutes et dona Spiritus sancti, que hic incipientes animam sanctificant et in futuro consummate beatam efficient. Hec autem precipue sunt septem uidelicet sapientia, munditia, securitas, potentia, dilectio, concordia, letitia.“ Diese Zusammenstellung von ‚dona Spiritus Sancti‘ weicht übrigens von der in Spec. uniu. 12, 145 genannten (und im Punkt 1.1.3 des ersten Hauptteils besprochenen) Aufzählung deutlich ab. 95 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 104ra): „Nam si sic fuerit bonum gaudium temperatum oriuntur ex eo hec uirtutes spirituales: consolatio, confortatio, spiritualis hilaritas, in Deo delectatio, meliorum spes et exspectatio.“ 96 Spec. uniu. 11, 25 (P, fol. 69vb): „Laudatio est bonitatis approbate, experte dilecteque predicatio.“
200
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
2.1.2.7 ‚desiderium‘ Radulfus Ardens definiert das Verlangen (‚desiderium‘) im Allgemeinen als die Leidenschaft des Geistes, die sich darauf richtet, einen Gegenstand, den man sich wünscht, zu erlangen.97 An dieser Stelle nimmt er aber nur das ‚desiderium‘, das sich auf Gott richtet, in den Blick. An der Aussage, dass im Diesseits das Verlangen immer mit Leiden (‚cruciatus‘) und Sättigung (‚saturitas‘) immer mit Überdruss (‚fastidium‘) verbunden ist, entwickelt sich ein Gedankengang, der interessante Bezugspunkte zum komplementären Denken aufzeigt. Radulfus Ardens führt nämlich aus: Enimuero quoniam hac in uita saturitas generat fastidium et desiderium cruciatum dicuntur superni ciues in diuina uisione et satiari et desiderare, id est satiari cum desiderio et desiderare cum satietate, quia ibi non aufert satietas desiderium nec desiderium satietatem nec perpetuitas nouitatem nec nouitas perpetuitatem nec assiduitas admirationem nec admiratio assiduitatem […].98
Sofort sticht ins Auge, dass hier komplementäre Sprache verwendet wird. Sättigung und Verlangen werden im Eschaton offenbar so miteinander verbunden, dass sie eine Einheit bilden. Diese Bestimmung stellt eine auffällige Ähnlichkeit zur Struktur der Komplementärtugenden dar: Im Idealfall verbinden sich nämlich die beiden ursprünglich gegensätzlichen Aspekte der beiden Tugenden zu einer einzigen Verschmelzungstugend. Diese gedanklich Parallele lässt Rückschlüsse auf das Menschenbild des Radulfus Ardens zu: Offenbar ist der Mensch ein Wesen, das durch Gegensätze und Spannungen bestimmt ist, die im diesseitigen Leben nie in vollkommener Weise ins Gleichgewicht gebracht werden können. Dieses Ungleichgewicht ist Quelle für die Laster, die sich dann als konkrete Auswirkungen dieses Ungleichgewichtes manifestieren. An dem Verhältnis von Verlangen und Sättigung und seiner eschatologischen Vollendung lässt sich also in einzigartiger Weise beobachten, dass das komplementäre Denken nicht auf den Bereich der Ethik beschränkt bleibt, sondern vielmehr als eine Konstante des menschlichen Wesens anzusehen ist. 2.1.2.8 ‚agonizatio‘ Die Tugend, die Radulfus Ardens als Kämpfen (‚agonizatio‘) bezeichnet, meint die Opferbereitschaft und das kämpferische Eintreten für Gott – notfalls bis zum Tod.99 Er unterscheidet zwischen einer aktiven und einer passiven Form des Kampfes: So muss man zum einen aktiv den fleischlichen Verlockungen, den Versuchungen des Teufels und den Feindseligkeiten der Mitmenschen Widerstand leisten; zum anderen ist es oftmals notwendig, die eigene Notlage oder die Bedrängnis nahestehender
97 Spec. uniu. 11, 26 (P, fol. 70ra): „Desiderium est feruor animi rem desideratam adipiscendi.“ 98 Spec. uniu. 11, 26 (P, fol. 70ra). 99 Spec. uniu. 11, 27 (P, fol. 70ra): „Agonizatio uero est pro re dilecta usque ad mortem decertatio.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
201
Mitmenschen standhaft zu ertragen, wenn es nicht möglich ist, Schäden oder Unrecht abzuwehren.100 Daher behandelt er in diesem Zusammenhang auch das Martyrium.
2.1.3 Die ‚filie‘ aus dem Bereich der Nächstenliebe Aus der ‚caritas in proximum‘ gehen insgesamt fünf ‚filie‘ hervor. Zunächst sind hier die Güte (‚benignitas‘) und die Wohltätigkeit (‚beneficentia‘) zu nennen. Diese beiden Tugenden werden auf der nächsten Gliederungsebene noch weiter in eine Vielzahl von Unterarten ausdifferenziert. Die übrigen drei Tochtertugenden sind die Eintracht (‚concordia‘), die Freundschaft (‚amicitia‘) und die Gemeinschaft (‚communitas‘).101 Manchen dieser Tugenden stellt Radulfus Ardens eine Komplementärtugend zur Seite, anderen nicht. Warum? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, da er sich wiederum nicht explizit dazu äußert. Erschwerend kommt hinzu, dass es hier nicht nur Tugenden mit und ohne Komplementärtugend gibt, sondern auch noch eine dritte Gruppe, bei der die ‚termini‘ der jeweiligen Einzeltugend festgelegt werden, ohne dass ihr jedoch eine Komplementärtugend zugewiesen wird. Es stellen sich also streng genommen nicht eine, sondern zwei Fragen. Erstens: Warum haben manche Tugenden eine Komplementärtugend und andere nicht? Und zweitens: Wie können ‚termini‘ einer Tugend festgelegt werden, ohne dass sie ein komplementäres Gegenstück hat, das diese Balance erst ermöglichen würde? Es liegt auf der Hand, dass diese beiden Fragen nicht nur für die Tochtertugenden der Nächstenliebe eine Rolle spielen, sondern auch insgesamt für das Verständnis der Tugendkonzeption im Speculum universale von zentraler Bedeutung sind. Aus diesem Grund werden in den folgenden Absätzen ausführlichere Überlegungen dazu angestellt. Zunächst gilt es, die fünf ‚filie‘ der ‚caritas in proximum‘ in die drei eben erwähnten Gruppen einzuordnen: Die ‚benignitas‘ und die ‚communitas‘ haben keine Komplementärtugend. Daneben gibt es zwei Komplementärtugendpaare, nämlich ‚beneficentia‘ und ‚parsimonia‘102 sowie ‚bona concordia‘ und ‚bona discordia‘103.
100 Spec. uniu. 11, 27 (P, fol. 70raf.): „Agonizatio autem alia est actiua, alia passiua. Agonizamus enim aut uiriliter resistendo aut fortiter patiendo, uiriliter resistendo aut desideriis carnis aut suggestionibus diaboli aut persecutionibus mundi. Fortiter patiendo aut carnis nostre mortificationem aut in alieno malo compassionem aut in propriis iniuriis cum gratiarum actione.“ 101 Spec. uniu. 11, 28 (P, fol. 70rb): „Caritatis uero fraterne sunt quinque filie speciales scilicet benignitas, beneficentia, concordia, amicitia, communitas. Sane per primam sumus boni proximis nostris in bona uoluntate, per secundam in bono opere, per tertiam in unanimitate, per quartam in speciali dilectione, per quintam in bonorum nostrorum communicatione.“ 102 Spec. uniu. 11, 97 (P, fol. 87vb): „Beneficientie siue largitatis collateralis uirtus est parsimonia. Est autem parsimonia uirtus modeste despensandi bona nobis comissa.“ 103 Spec. uniu. 11, 104 (P, fol. 90rb): „Est autem collateralis uirtus concordie bona discordia que est ulli malo dissentire.“
202
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Schließlich wird der ‚amicitia‘ zwar keine Komplementärtugend zugewiesen, jedoch wird sie durch die ‚termini‘ begrenzt, dass man den Freund weniger als sich selbst, aber mehr als alles andere lieben soll.104 Nun ist zu untersuchen, inwiefern dieser Textbefund systematisch in die Tugendkonzeption, die bis hierhin nachgezeichnet wurde, eingeordnet werden kann. Zur ersten Frage: Warum haben ‚beneficentia‘ und ‚concordia‘ eine Komplementärtugend, ‚benignitas‘ und ‚communitas‘ aber nicht? Um hierauf eine Antwort zu geben, müssen diese vier Tugenden dahingehend untersucht werden, in welcher Weise in ihren Definitionen und inhaltlichen Erläuterungen komplementäre Strukturen angelegt sind. – Dass die Güte (‚benignitas‘) keine Komplementärtugend benötigt, könnte man aus ihrer Definition herleiten: Sie dient nämlich dazu, sich im Hinblick auf ein Gut bzw. in nützlicher Weise an die Mitmenschen anzupassen.105 Bei einer solchen Haltung gibt es eigentlich kein Übermaß und Radulfus Ardens erwähnt deshalb wohl auch keine ‚termini‘ dieser Tugend. Rein theoretisch ließe sich aber doch ein Korrektiv dieser Tugend ausmachen: Denn ähnlich wie die Liebe zum Guten durch den Hass auf das Böse ergänzt werden muss, könnte man der ‚benignitas‘ eine Haltung zur Seite stellen, die im Bereich der Sünden und Laster nicht bereit ist, sich den Mitmenschen anzupassen. Von einem solchen Gegenpol auszugehen, wäre auch deshalb logisch, da später zu den meisten der sechs Unterarten (‚species‘) der Güte zwar keine Komplementärtugenden, aber immerhin ‚termini‘ genannt werden. Diese gehören demnach zu der Gruppe von Tugenden, die auf ein bestimmtes Maß festgelegt werden, ohne dass sie eine Komplementärtugend haben. – Auch die besondere Gemeinschaft (‚communitas‘) hat offensichtlich keine Komplementärtugend. Warum dies so ist, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten, denn Radulfus Ardens erwähnt die ‚communitas‘ in Buch 11 nur einige Male, ohne sie ausführlicher zu besprechen. Auf diese Problematik wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch genauer eingegangen.106 An dieser Stelle kann deshalb nur eine vage Vermutung dazu angestellt werden. Möglicherweise ist die Tatsache, dass die ‚communitas‘ in einem engen Verhältnis zur ‚amicitia‘ steht, ein Ansatzpunkt. Der Zusammenhang zwischen den beiden Tugenden ergibt sich allerdings nicht aus Buch 11107, sondern aus einigen Textstellen in Buch 10. Radulfus Ardens definiert die ‚communitas‘ dort als die Gesamtheit der
104 Spec. uniu. 11, 111 (P, fol. 91rbf.): „Termini uero sunt amicitie, ut scilicet diligamus eum minus quam nos et magis quam cetera cuncta, sic scilicet, ut nec eum preferamus nobis in acquistitione eterne salutis nec aliquid ei preferamus.“ 105 Spec. uniu. 11, 28 (P, fol. 70rb): „Benignitas est pronitas mentis beniuole ad sese coaptandum utiliter omnibus et unicuique.“ 106 Genaueres dazu findet sich in Punkt 2.1.3.3. 107 Hier kommt die ‚communitas‘ eher in Zusammenhang mit der Tugend der ‚concordia‘ vor.
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
203
Pflichten (‚officia‘), die man dem Freund schuldet.108 Die Freundschaft selbst wird als das Wertvollste bezeichnet, das man sich auf Erden erwerben kann,109 woraus sich ableiten lässt, dass sie kein regulierendes Gegengewicht benötigt. Diese Zusammenhänge könnten darauf hindeuten, dass die ‚communitas‘ aus demselben Grund wie die ‚amicitia‘ keine Komplementärtugend benötigt. Es ist jedoch fraglich, ob dieser Lösungsversuch tragfähig ist: Erstens weichen die Ausführungen über die ‚communitas‘ in Buch 10 und 11 voneinander ab, zweitens setzt Radulfus Ardens für die Freundschaft ‚termini‘ fest, unterlässt dies aber bei der ‚communitas‘. Gerade dieser zweite Punkt lässt Zweifel aufkommen, ob die beiden Tugenden tatsächlich in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Insgesamt zeigt sich dem Leser hier jedenfalls ein uneinheitliches Bild, das entweder auf eine inhaltliche Auslassung oder eine konzeptionelle Schwäche zurückzuführen ist. – Dass die Wohltätigkeit (‚beneficientia‘) ein regulierendes Korrektiv in Form der Sparsamkeit (‚parsimonia‘) benötigt, erklärt sich daraus, dass die Ressourcen im Diesseits beschränkt sind und im rechten Maß bzw. sparsam verteilt werden müssen.110 – Auch das Bemühen um Eintracht (‚concordia‘) darf das Maß nicht überschreiten, da durch die Sünden und Laster der Menschen immer wieder Konflikte entstehen, in denen man klar Position für das Gute und gegen das Böse beziehen muss (‚bona discordia‘).111 Es lässt sich also zunächst festhalten, dass der Traktat über die Tochtertugenden der Nächstenliebe aus systematischer Perspektive, aber auch von der konkreten Umsetzung der angekündigten Programmatik her einen uneinheitlichen und lückenhaften Eindruck macht. Während das Fehlen einer Komplementärtugend der ‚benignitas‘ systematisch zumindest teilweise nachvollziehbar ist, erscheint der Befund bei der ‚amicitia‘ wesentlich unklarer. Zum einen finden sich unterschiedliche Aussagen zu dieser Tugend in den Büchern 10 und 11 und zum anderen steht die Frage im Raum, wie eine Tugend ‚termini‘ haben kann, die an sich kein Korrektiv benötigt. Bei der ‚communitas‘ lässt sich schließlich überhaupt nichts Sicheres sagen, da sich der Autor nicht mehr mit ihr beschäftigt. Lässt sich dieser Befund in irgendeiner Weise stimmig in die tugendethische Konzeption des Radulfus Ardens integrieren oder erklären? Als Grund dafür, dass einige ‚filie‘ der Nächstenliebe eine Komplementärtugend haben und andere nicht, könnte angeführt werden, dass
108 Spec. uniu. 10, 7 (CCM 241A, p. 519): „Est igitur officium iustitie exhibere Deo religionem, nobis puritatem, parentibus honorem, […] amicis communitatem […].“ 109 Spec. uniu. 10, 19 (CCM 241A, p. 543): „[…] quoniam nullum maiorem possumus in hac uita nobis comparare thesaurum quam comparare dilectione et communitate nobis amicum.“ 110 Vgl. n. 102. 111 Vgl. n. 103.
204
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
die im letzten Kapitel besprochene Komplementärtugend der Nächstenliebe – der gute Hass auf die Sünden und Laster des Anderen – nur auf einige Aspekte der ‚caritas in proximum‘ bezogen ist. Dem Menschen ist prinzipiell aufgetragen, seinen Nächsten ebenso wie Gott zu lieben, sodass es auch hier an sich kein Zuviel gibt. Mit anderen Worten könnte man sagen, dass die Nächstenliebe prinzipiell kein regulierendes Gegenstück benötigt, jedoch im Diesseits, das noch in Sünden und Lastern verfangen ist, in bestimmten Bereichen faktisch darauf angewiesen ist. Daraus folgt, dass alle Tugenden, die sich ausschließlich auf das Wohl des Nächsten beziehen, keine Komplementärtugend haben. Neben der ‚benignitas‘ träfe dies dann wohl auch auf die ‚communitas‘ und in eingeschränktem Maß auf die ‚amicitia‘ zu. Diejenigen Tugenden aber, die auch mit den Lastern des Anderen zusammenhängen (also ‚beneficentia‘ und ‚concordia‘), werden durch eine Komplementärtugend aus dem Bereich des guten Hasses ins Gleichgewicht gebracht. Während die erste Frage also zufriedenstellend beantwortet werden konnte, wirft die zweite Frage weit größere Probleme auf. Der Befund, dass es Tugenden gibt, die zwar keine Komplementärtugend haben, aber dennoch auf ein bestimmtes Maß bzw. einen bestimmten Bereich festgelegt werden, lässt sich nämlich nicht bruchlos in eine Konzeption integrieren, die auf komplementärem Denken basiert. Der Grundgedanke der Komplementärtugenden fußt ja gerade auf der Annahme, dass sich die einzelnen Tugenden eben nicht selbst ins rechte Maß bringen, sondern sich wechselseitig ausbalancieren. Auch den Grenzbereich zwischen Tugend und Laster (‚termini‘) weist sich daher keine Tugend selbst zu, sondern dies geschieht ebenfalls im Zuge des Prozesses, in dem sich die beiden Komplementärtugenden ins rechte Verhältnis bringen. Von daher ist es auch verständlich, dass eine Tugend ohne Komplementärtugend, wie z. B. die Gottesliebe, keine ‚termini‘ hat. Eine Tugend mit ‚termini‘, aber ohne Komplementärtugend ergibt dagegen systematisch keinen Sinn. Bevor Lösungsansätze dafür formuliert werden können, ist es notwendig, die Tugend der ‚amicitia‘ und die Bestimmung ihrer ‚termini‘ genauer in den Blick zu nehmen. Dabei ist zu erwähnen, dass sich das Phänomen an dieser Stelle nicht zum ersten Mal im Speculum universale zeigt, sondern in ähnlicher Weise bspw. auch schon beim Glauben zu beobachten war.112 Wie bereits bekannt, schreibt Radulfus Ardens in Kapitel 111: Termini uero sunt amicitie, ut scilicet diligamus eum minus quam nos et magis quam cetera cuncta, sic scilicet, ut nec eum preferamus nobis in acquistitione eterne salutis nec aliquid ei preferamus.113
112 So wird im 116. Kapitel von Buch 8 zwar die ‚mala credulitas‘ als ‚terminus‘ der ‚fides‘ genannt, eine Komplementärtugend wird (zumindest an dieser Stelle) aber nicht erwähnt. Vgl. dazu auch Punkt 1.2.6.3 im ersten Teil der Arbeit. 113 Spec. uniu. 11, 111 (P, fol. 91rbf.).
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
205
Auf der einen Seite wird also hervorgehoben, dass es die Hauptaufgabe eines jeden Menschen ist, sich um sein eigenes Heil zu bemühen. Diese Selbstsorge im Hinblick auf die ‚salus eterna‘ wird aber sogleich durch die Hinzufügung eingeschränkt, dass man dem Freund nichts anderes vorziehen darf. An dieser Bestimmung wird deutlich, dass es sich hier nicht um eine Komplementärtugend im eigentlichen Sinne handelt. Vielmehr bestimmt Radulfus Ardens die Grenzen zu den negativen Übertreibungen der Freundschaft – scheinbar ohne komplementären Bezugspunkt. Diese beiden Laster würden nach dem Textbefund darin bestehen, entweder das Wohl des Freundes über sein eigenes zu stellen oder aber andere, weitaus unwichtigere Dinge dem Freund vorzuziehen. Auf der Grundlage dieser Zusammenfassung können nun weiterführende Überlegungen angestellt werden, um das Problem zu lösen. Im Prinzip gibt es zwei Lösungsansätze: Auch wenn es der bisher angenommenen systematischen Grundstruktur der Tugendlehre im Speculum universale widersprechen würde, kann es keineswegs ausgeschlossen werden, dass Radulfus Ardens an dieser Stelle eben nicht komplementär gedacht hat, sondern schlicht das Maß einer Einzeltugend bestimmt, ohne einen komplementären Bezugspunkt anzunehmen. Diese erste Lösung erscheint zwar einfach und pragmatisch, allerdings wäre damit die Konsequenz verbunden, dass seine Tugendkonzeption nicht stringent auf der Grundlage einer komplementären Struktur entfaltet wird, sondern im Gegenteil gravierende systematische Brüche aufweist. Die andere Möglichkeit wäre, dass Radulfus Ardens hier zwar nicht explizit eine Komplementärtugend benennt, seinen Ausführungen aber trotzdem komplementäres Denken zugrunde liegt. Ob es für diese Vermutung Indizien gibt, wie belastbar diese sind und inwieweit sie inhaltlich konkretisiert werden können, wird im Folgenden besprochen. Zunächst ist festzuhalten, dass die beiden Laster offenbar aus zwei unterschiedlichen Ursachen entstehen: Der eine Ausgangspunkt ist nämlich eine übersteigerte Liebe gegenüber dem Freund, die in die Selbstvergessenheit führt, der andere ist ein Übermaß an Liebe gegenüber anderen, unwichtigen Dingen, die einer schuldhaften Vernachlässigung des Freundes gleichkommt. Obwohl hier keine Komplementärtugend benannt wird, scheint also dennoch auf den ersten Blick eine Grundstruktur angelegt zu sein, die in gewisser Weise an Komplementarität erinnert. Setzt man diese Spekulation einmal fort und nimmt an, dass bei der Festlegung der ‚termini‘ der Freundschaft tatsächlich eine komplementäre Struktur im Hintergrund steht, so stellt sich die Frage, aus welcher Quelle der ‚versteckte‘ komplementäre Bezugspunkt der Freundschaft entsteht. Da beide Laster übersteigerte Formen der Liebe sind, kommt der Hass dafür nicht in Frage. Dabei könnte eine Bemerkung in Kapitel 114 zu gerade dieser Annahme verleiten: Dort wird nämlich die Feindschaft (‚inimicitia‘), also eine hasserfüllte Abwehrhaltung, als Gegensatz
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
(‚contrarium‘) der Freundschaft bezeichnet.114 Diese Aussage ist aber nicht in dem Sinne zu verstehen, dass damit ein ‚uitium contrarium‘ der ‚amicitia‘ benannt wäre. Es handelt sich an dieser Stelle wohl eher um eine allgemeine Feststellung, die dazu dient, die Bedeutung der ‚amicitia‘ herauszustellen. Denn Freundschaft und Feindschaft können systematisch betrachtet aus zwei Gründen in kein komplementäres Verhältnis gebracht werden: Einerseits kann es im Entwurf des Radulfus Ardens aufgrund seiner Ausführungen zur Nächstenliebe keine ‚gute Feindschaft‘ geben, die sich in irgendeiner Weise auf die Person des anderen richtet. Eine solches Verhalten wäre dem Bereich des schlechten Hasses zuzuordnen und damit eine schwere Sünde. Würde sie sich andererseits nur gegen die Sünden des Anderen richten, wäre sie identisch mit der Komplementärtugend der Nächstenliebe. Diese Überlegungen führen also zu keiner Lösung. Vielmehr scheint der komplementäre Bezugspunkt ebenfalls dem Aspekt der Liebe anzugehören. Setzt man nämlich die beiden oben genannten Laster voraus, wäre folgende Konstruktion denkbar: Auf der einen Seite steht die Tugend der ‚amicitia‘, die darin besteht, den Freund im rechten Maß zu lieben. Ihre lasterhafte Übertreibung wäre die Selbstvergessenheit bzw. eine unverhältnismäßige Verehrung des Freundes. Auf der anderen Seite könnte eine gesunde Eigenliebe als positive Ergänzung der Liebe zum Freund stehen, die sich in das Laster des übertriebenen Egoismus verwandeln kann. Dieser wäre dann – in Entsprechung zum zweiten Laster – dadurch gekennzeichnet, dass man eigentlich unwichtigen Dingen eine übertriebe hohe Bedeutung beimisst, da man sich von ihnen Güter erhofft, die nur wahre Freundschaft herbeiführen kann. Wie sich anhand dieser Überlegungen zeigt, gestaltet es sich durchaus schwierig, für die Haltungen passende Begrifflichkeiten zu finden. Möglicherweise stand Radulfus Ardens vor einem ähnlichen Problem und hat sich daher auf die Bestimmung der ‚termini‘ beschränkt, obwohl es – rein theoretisch – möglich wäre, eine Komplementärtugend zu bestimmen. Ein fundamentales Problem ist in diesem Kontext die schon oben erwähnte Tatsache, dass sich im Speculum universale kein genauer ausgearbeiteter Begriff der Selbstliebe findet. Der Vorteil der in den letzten Absätzen vorgeschlagenen Lösungsvariante liegt jedenfalls klar auf der Hand: Sie ist systematisch mit dem bisher angenommenen Entwurf der Tugendlehre vereinbar. Allerdings überzeugt sie nicht ohne Einschränkungen. Denn erstens wirkt dieses Konstrukt künstlich und gezwungen, während die Zuordnung der Komplementärtugenden ansonsten intuitiv gut nachvollziehbar ist. Zweitens entstehen beide angenommenen Komplementärtugenden aus der Liebe – genauer gesagt stehen hier auf der übergeordneten Ebene die Nächstenliebe und die Eigenliebe in einem komple-
114 Spec. uniu. 11, 114 (P, fol. 91vb): „Quante sit utilitatis amicitia, demonstrat contraria eius inimicitia, quoniam sicut odium omnia quantumcumque firma dissipat, sic amor omnia quantumcumque infirma confortat et confirmat.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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mentären Verhältnis. Dies steht zunächst in einem gewissen Widerspruch zur Anlage von Buch 11, dennoch wäre das Vorgehen, beide Komplementärtugenden aus dem gleichen Ursprung abzuleiten, nichts völlig Neues – schließlich verfährt Radulfus Ardens bspw. bei Glaube, Klugheit und Tapferkeit in ähnlicher Weise und auch in Buch 11 finden sich dazu noch weitere Beispiele115. Diese Struktur – für die sich allerdings keine weiteren konkreten Belege im Text finden lassen – könnte man folgendermaßen darstellen:
Liebe
Nächstenliebe
Übersteigerte Liebe zum Freund
Gesunde Liebe zum Freund
↔
↔
Eigenliebe
Gesunde Eigenliebe
Übersteigerte Eigenliebe
Abb. 18: Überlegungen zur Eigenliebe.
Bis hierhin kann also festgehalten werden, dass die Ausführungen des Radulfus Ardens zur ‚amicitia‘ inhaltlich und systematisch unklar sind. Vor dem Hintergrund, dass die eben angestellten Spekulationen zwar nicht vollumfänglich überzeugen, aber auch nicht gänzlich widerlegt werden können, kann aus dem Textbefund allerdings nicht geschlossen werden, dass hier ein Bruch vorliegt, der den komplementären Aufbau der Tugendkonzeption grundsätzlich in Frage stellen würde. Vielmehr scheint auch hier eine komplementäre Struktur angelegt, die jedoch weder konsequent ausgearbeitet noch in den Gesamtzusammenhang von Buch 11 eingeordnet wurde. Wie sich im weiteren Verlauf der Darstellung zeigen wird, wirkt sich diese Problematik auch auf die nächsten beiden Gliederungsebenen und die darin behandelten Tugenden aus. Bevor nun die einzelnen Tochtertugenden der Nächstenliebe inhaltlich genauer in den Blick genommen werden, werden die eben analysierten Zusammenhänge schematisch abgebildet. Die Sonderstellung der ‚amicitia‘ ist dabei dadurch gekennzeichnet, dass ihre ‚termini‘ in das Schema mit aufgenommen wurden. Alle weiteren Tugenden, die ‚termini‘, aber keine Komplementärtugend haben, werden auf dieselbe Weise dargestellt.
115 Vgl. dazu die Aussagen über die ‚congratulatio‘ und ‚compassio‘ in den Kapiteln 31–40.
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
benignitas (c. 29-45)
caritas in proximum
beneficentia (c. 46-96)
↔
parsimonia (c. 97)
bona concordia (c. 98-100)
↔
bona discordia (c. 101-104)
amicitia (c. 105-114)
odisse uitia et peccata, non homines
amicum minus quam nos et magis quam cetera cuncta diligere, sic scilicet, ut nec eum preferamus nobis in acquistitione eterne salutis nec aliquid ei preferamus (c. 111)
communitas (10, c. 28)
Abb. 19: Die Tochtertugenden im Bereich der Nächstenliebe.
Im Folgenden werden die in der Übersicht dargestellten Tugenden genauer beleuchtet. Dabei werden der Übersichtlichkeit halber zuerst die beiden Tugenden ohne Komplementärtugend beschrieben, dann die beiden Komplementärtugendpaare und schließlich die Freundschaft als Vertreterin der Tugenden ohne Komplementärtugend, aber mit ‚termini‘. Bei diesen Ausführungen wird auch der Frage nachgegangen, ob für die als ‚benignitas‘, ‚amicitia‘ und ‚communitas‘ bezeichneten Tugenden nicht doch komplementäre Gegenstücke denkbar wären, ungeachtet der Tatsache, dass sich Radulfus Ardens dazu nicht konkret geäußert hat. 2.1.3.1 ‚benignitas‘ Die Tugend der Güte (‚benignitas‘) wird als wohlwollende Ausrichtung des Geistes auf den Nächsten definiert, aus der Nutzen für beide Seiten erwächst.116 Damit ist eine Verhaltensweise gemeint, die sich um des Guten willen nach den Mitmenschen richtet bzw. sich an sie anpasst. Radulfus Ardens grenzt sie durch die Verbindung mit dem Adjektiv ‚beniuolus‘ explizit von den Lastern ab, die sich aus Furcht (‚ex timore‘), Hohn (‚ex irrisione‘) oder List (‚ex dolo‘) den Mitmenschen anpasst. Auch hinter der Zusatzbestimmung, dass diese Anpassung in nützlicher Weise (‚utiliter‘) geschehen muss, steht die Gefahr einer lasterhaften Form der Güte: Es wäre nämlich in hohem Maße schädlich, sich bspw. aus mangelnder Vorsicht die Laster des Nächsten anzueignen.117 Bei einer solchen wohlwollenden und nützlichen Haltung
116 Spec. uniu. 11, 28 (P, fol. 70rb): „Caritatis uero fraterne sunt quinque filie speciales scilicet benignitas, beneficentia, concordia, amicitia, communitas. Sane per primam sumus boni proximis nostris in bona uoluntate […]. Benignitas est pronitas mentis beniuole ad sese coaptandum utiliter omnibus et unicuique.“ 117 Spec. uniu. 11, 28 (P, fol. 70rbf.): „Porro coaptant se plerique ceteris non ex bona uoluntate, sed aut ex timore aut ex irrisione aut ex dolo. […] Quorum omnium conformatio dampnabilis est. […] Sed quoniam quidam ex beniuolentia aliis se conformant non utiliter, immo potius noxie ut amici sese conformant suorum uitiis amicorum, ideo subiungitur utiliter.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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dem Nächsten gegenüber kann es eigentlich kein Zuviel geben. Dennoch wäre – das wurde bereits weiter oben angedeutet – durchaus eine Komplementärtugend zur ‚benignitas utilis‘ vorstellbar, die sie davor bewahrt, sich an die Laster und Sünden des Anderen anzupassen. Ein lateinischer Begriff dafür ist nicht leicht zu finden und das Wort ‚malignitas‘, mit dem Radulfus Ardens das ‚uitium contrarium‘ der Güte bezeichnet,118 ist dafür gänzlich ungeeignet, da damit grundsätzlich eine böse Absicht gemeint ist. Trotz dieser Lücke könnte man sich das gemeinte Komplementärtugendpaar in etwa so vorstellen:
‚benignitas inutilis‘
‚benignitas utilis‘
↔
Entschiedene Abwendung von den Fehlern des Nächsten
‚malignitas‘
Die Tugend der ‚benignitas‘ steht übrigens systematisch mit der ‚beneficentia‘ in einem engen Verhältnis, da sie eine affektive Grundstruktur beschreibt, während die Freigiebigkeit v. a. die praktischen Resultate dieser Emotion im Blick hat.119 2.1.3.2 ‚amicitia‘ Zunächst einmal ist es nicht ganz einfach, eine passende Übersetzung für die Tugend zu finden, die Radulfus Ardens ‚amicitia‘ nennt, da die wörtliche Wiedergabe als ‚Freundschaft‘ im Deutschen keine Tugend bezeichnet.120 Aus der genaueren Betrachtung des Textes ergibt sich, dass damit wohl eine Bereitschaft zu einer freundschaftlichen Beziehung (‚amicitia‘) gemeint ist. Er widmet ihr einen eigenen Traktat, der die Kapitel 105–114 umfasst und nach zehn Leitfragen aufgegliedert ist.121 Daran lässt sich gut ablesen, wie detailliert sich Radulfus Ardens mit der ‚amicitia‘ auseinandersetzt.
118 Spec. uniu. 11, 28 (P, fol. 70va): „Est autem benignitati uitium contrarium malignitas que igne inflammata maligno gratis et omnibus et singulis uult et querit mala.“ 119 Spec. uniu. 11, 46 (P, fol. 75rb): „Beneficentia est uirtus prudens deuotaque beneficiorum erogatrix. Porro in affectu benignitas, in effectu beneficentia siue munificentia, in usu largitas, in libertate dantis liberalitas nuncupatur.“ 120 Dennoch wird im Fließtext bei häufigem Vorkommen des Wortes gelegentlich die wörtliche Übersetzung verwendet, um den Lesefluss zu erleichtern. 121 Spec. uniu. 11, 105 (P, fol. 90va): „Dicturis de amicita decem sunt consideranda: Quid ipsa sit, quorum sit, unde oriatur, quomodo crescat, quomodo sit probanda, quas habeat leges, quos terminos, que uitia uitare debeat, quantum possit et quantum prosit.“
210
. . . . . . . . . .
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
‚quid sit amicitia?‘ ‚quorum sit amicitia?‘ ‚unde oriatur amicitia?‘ ‚quomodo amicitia crescat?‘ ‚quomodo amicitia sit probanda?‘ ‚quos habeat leges?‘ ‚quos habeat terminos?‘ ‚que uitia uitare debeat?‘ ‚quantum amicitia possit?‘ ‚quantum amicitia prosit?‘
(c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. )
In Kapitel 105 definiert er sie als reine, glühende, aufrichtige, offene und gleichberechtigte Liebe.122 Mit diesen fünf Merkmalen werden bestimmte Formen von menschlichen Beziehungen ausgeschlossen, die sich nach Ansicht des Radulfus Ardens in entscheidenden Punkten von der wahren Freundschaft (‚uera amicitia‘) unterscheiden: erstens eine Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, weil sie nicht rein ist; zweitens laue Kameradschaft oder Verwandtschaft, weil sie nicht glühend ist; drittens die Ehe, weil sie nur fleischlich und nicht aufrichtig ist; viertens das Verhältnis zwischen einem Vater und seinen Kindern, da es nicht offen ist, und fünftens das Verhältnis zwischen einem Herren und seinem Sklaven, weil es nicht gleichberechtigt ist. Zudem betont er, dass gemeinsame Tugenden eine fundamentale Grundlage wahrer Freundschaft sind, während gemeinsame Laster sie ausschließen.123 Wenn zwei (oder mehr) Menschen nämlich im Bösen miteinander verbunden sind, lösen sich diese Bande spätestens dann auf, wenn das böse Ziel erreicht wurde und den Akteuren bewusst wird, dass sie nur dieses Streben zusammengehalten hat. Allgemein bilden für ihn eine ähnliche Wesensart (‚natura‘), gemeinsame Sitten (‚mores‘) und Tugenden sowie Übereinstimmung im Glauben die Grundlage bzw. den ‚Nährboden‘ jeder Freundschaft.124 Aufgrund der Tatsache, dass in der diesseitigen Welt die Tugenden bei den Menschen in unterschiedlichem Maß vorhanden sind, ist eine vollkommene Abstimmung unmöglich und dem jenseitigen Leben vorbehalten.125
122 Spec. uniu. 11, 105 (P, fol. 90va): „Est igitur amicitia amor mundus, feruens, rectus, precordialis et coequalis; mundus sine pollutione, feruens sine tepore, rectus sine tortitudine, precordialis sine occultatione, coequalis sine fecunditatis disparitate.“ 123 Spec. uniu. 11, 106 (P, fol. 91ra): „Est autem uera amicitia inter bonos tantum, qui sibi moribus et uirtutibus sunt concordes, inter malos uero esse non potest, cum uera dilectione careant et contrariis uitiis deseruiant.“ 124 Spec. uniu. 11, 107 (P, fol. 91ra): „Oritur uero amicitia ex simili natura, ex similibus et nutibus moribus, ex simili fide et uirtutibus.“ 125 Spec. uniu. 11, 107 (P, fol. 91ra): „Ceterum aduertendum est quod nec etiam inter bonos hac in uita potest esse uera amicitia quam licet habeant fidem et uirtutes ceteras, tamen non habent eas equilibratas, quoniam dum sumus in hoc mundo, hic est magis cautus, ille magis simplex, hic magis iustus, ille magis misericors, ille magis parcus, ille magis largus, hic magis tristis, ille magis
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Die Freundschaft wächst durch angenehme Gespräche, zuvorkommende Anerkennung, häufige Gefälligkeiten, zuverlässige Ratschläge und respektvollen Umgang.126 Ob es sich um wahre Freundschaft handelt, kann man an der Bereitschaft zum Beistand in Schwierigkeiten, beim Verwahren von Geheimnissen und beim Vergeben von Verfehlungen erkennen sowie daran, wie man voneinander in Abwesenheit spricht und wie der Freund reagiert, wenn man um eine Sache bittet, die auch ihm am Herzen liegt.127 In den insgesamt acht Regeln (‚leges‘) der Freundschaft in Kapitel 110 steht in erster Linie die ethische Qualität der Freundschaft im Mittelpunkt. Zwei Aspekte sind dabei von besonderer Wichtigkeit: Erstens darf man dem Freund keine Wünsche erfüllen, die als moralisch schlecht zu werten sind, und im Gegensatz dazu müssen moralisch einwandfreie (‚honesta‘) möglichst sogleich erfüllt werden. Zweitens ist ein wichtiger Bestandteil der ‚uera amicitia‘, sowohl die eigenen Tugenden und Laster als auch die des Freundes im Blick zu haben; es gehört also dazu, das Fehlverhalten des anderen in angemessener Form zu kritisieren und auch selbst Kritik anzunehmen, da andernfalls die Grundlage der Freundschaft verloren geht und sich beide Seiten voneinander distanzieren.128 Dass die ‚amicitia‘ scheinbar eine Sonderstellung einnimmt, da sie in ein Übermaß abdriften kann, ohne dass ihr eindeutig eine Komplementärtugend zugewiesen wird, wurde bereits thematisiert. An dieser Stelle sei daher nur noch einmal auf die Bestimmung ihrer ‚termini‘ in Kapitel 111 verwiesen.129 Auch dass Radulfus Ardens die Feindschaft (‚inimicitia‘) in Kapitel 114 als Gegensatz (‚contrarium‘) der Freundschaft bezeichnet, ist bereits bekannt.130 Zusätzlich stellt er in Kapitel 112 Überlegungen zu sechs verschiedenen Lastern an, vor denen sich der Freund hüten muss. Er nennt dabei Geringschätzung, Neid, Lästern, Aufwiegen von erbrachten Wohltaten, Verber-
iocundus, quoniam uero in ciuibus patrie celestis omnes uirtutes sunt equilibrate idcirco ipsi uera et eterna conectuntur amicitia.“ 126 Spec. uniu. 11, 108 (P, fol. 91raf.): „Nutritur uero amicitia per res quinque: Per dulcedinem colloquiorum, per preuentum honorificationum, per frequentiam obsequiorum, per fidelitatem consiliorum, per honestatem conuersationum, per primum seminatur, per secundum germinat, per tertium radices figit, per quartum roboratur, per quintum consolidatur.“ 127 Spec. uniu. 11, 109 (P, fol. 91rb): „Sane temptandus est amicus per quinque res: Per aduersitatis participationem, per archam celationem, per offensionis facilem dimissionem, per de se retro locutionem, per rei carissime postulationem.“ 128 Spec. uniu. 11, 110 (P, fol. 91rb): „Leges autem amicitie sunt octo: […] secunda est, quod amicus non postulet amico turpia nec postulatus tribuat; tertia est, quod amicus amicum honesta petat et honestum petitus tribuat; […] octaua est, quod si forte desipuerit amicus et uiam uirtutis reliquerit, postquam te diu corripientem audire noluerit, te alienes ab eo, ne fautor ei in uitio uidearis, sed sapienter et honeste non subito rumpas, sed potius paulatim relaxes et enodes amicitiam.“ 129 Vgl. n. 113. 130 Vgl. n. 114.
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gen von Zorn oder Groll und das Kleinreden eigener Verfehlungen.131 Wie schon angedeutet, lässt sich keines der hier angeführten Laster gemeinsam mit der genannten Tugend und den ‚termini‘ der Freundschaft in eine schlüssige komplementäre Struktur einpassen. Aus diesen Beobachtungen heraus kann man also insgesamt noch einmal resümieren, dass die Ausführungen zur ‚amicitia‘ systematisch unklar sind. An der Fülle der inhaltlichen Details und an der Vielzahl konkreter Ratschläge lässt sich in jedem Fall erkennen, dass die Freundschaft ein Thema war, das Radulfus Ardens in besonderem Maße interessiert hat. Zusätzlich findet sich am Ende seiner Darlegungen über die Freundschaft in Kapitel 114 noch ein bemerkenswerter Hinweis auf eine ‚epistola de uera amicitia‘, die offensichtlich in Versen (‚metrice‘) abgefasst war132 und die – zumindest dem momentanen Kenntnisstand nach – verloren ist.133 Ähnlich äußert sich Radulfus Ardens am Ende von Kapitel 19 im zehnten Buch.134 Dort beschäftigt er sich mit der ‚communitas‘, die mit der ‚amicitia‘ in einem engen Zusammenhang steht. In Verbindung mit diesen beiden Hinweisen deutet die inhaltliche Dichte der Kapitel 105–114 darauf hin, dass die Überlegungen zur Freundschaft im Speculum universale möglicherweise tatsächlich nur eine Zusammenfassung dieses Briefes ‚de uera amicitia‘ darstellen. Dies könnte auch eine Erklärung für die eben erwähnten systematischen Unklarheiten sein. So wäre es durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Komplementarität in der ‚epistola‘ keine Rolle gespielt hat und Radulfus Ardens seine früheren Ausführungen knapp skizziert und mithilfe des auffallend kurzen Kapitels 111 über die ‚termini‘ entweder bewusst nur lose in die Grundstruktur von Buch 11 eingefügt hat oder aber später noch daran weiterarbeiten wollte. Allerdings handelt es sich dabei letztlich erneut um reine Spekulation. 2.1.3.3 ‚communitas‘ Die Tugend, die Radulfus Ardens in Buch 11 als ‚communitas‘ bezeichnet, besteht laut der knappen Definition in Kapitel 28 darin, die eigenen Güter mit den anderen
131 Spec. uniu. 11, 112 (P, fol. 91va): „Sunt autem sex uitia, que amici precipue debent euitare: Primo euitandus est contemptus […]. Secundo euitanda est inuidia […]. Tertio deuitandus est susurro et detractor […]. Quarto uitandum est, ne amicus amico suo exprobret beneficia collata; quinto uitandum est, ne si forte te amicus in aliquo leserit, eum dolorem uel iram in corde tuo celes, sed potius argue amicum tuum ut delictum suum intelligat et satisfaciat. […] Sexto cauendum est, ne si forsitan amicum tuum offendas, culpam tuam excuses uel dissimules, sed potius amico tuo te humilies et ueniam poscas.“ 132 Spec. uniu. 11, 114 (P, fol. 91va): „Sed hec pertransimus, quoniam de omnibus hiis in epistola quam de uera amicitia metrice scripsimus, sufficienter explanauimus.“ 133 Vgl. dazu Punkt 2.1.3 in der Einleitung. 134 Spec. uniu. 10, 19 (CCM 241A, p. 544): „Porro quid sit amicitia et unde oriatur et inter quos esse possit et que sit lex eius in libro epistolarum explanauimus sufficienter.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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zu teilen.135 Hier fällt eine Unstimmigkeit in Abgleich mit dem weiteren Verlauf des Buches auf: Die ‚communitas‘ wird hier zwar explizit als fünfte Tochtertugend der Nächstenliebe genannt, im Gegensatz zu den anderen vier stellt sie Radulfus Ardens aber nicht eigens dar, sondern fährt nach den Kapiteln über die Freundschaft (c. 105–114) direkt mit den Tugenden fort, die aus der Gottes- und Nächstenliebe entstehen (c. 115). Besonders auffällig ist dabei, dass er keinerlei Hinweise darauf gibt, warum er in Buch 11 nicht mehr auf die ‚communitas‘ zu sprechen kommt. Diese Unklarheit wird dadurch noch weiter verstärkt, dass sie auch im Baumdiagramm zu den ‚filie caritatis‘ nicht aufgeführt ist.136 Das ist bereits Johannes Gründel aufgefallen, der dieser Beobachtung allerdings nicht weiter nachgegangen ist, da er sich bekanntermaßen in erster Linie mit den Verstandestugenden auseinandergesetzt hat.137 Lässt sich diese inhaltliche Lücke füllen? Zunächst ist zu sagen, dass der Begriff ‚communitas‘ in Buch 11 noch einige Male vorkommt; davon sind allerdings nur zwei sehr ähnlich formulierte Bemerkungen aus Kapitel 99 relevant.138 Radulfus Ardens stellt hier im Rahmen seiner Ausführungen zur Tugend der Eintracht (‚concordia‘) Überlegungen zum Zusammenleben in der christlichen Gemeinde an. In diesem ekklesiologischen Kontext meint der Begriff ‚communitas‘ offensichtlich eine Gütergemeinschaft bzw. den gemeinschaftlichen Besitz. Diese Annahme scheint sich durch zwei weitere Erwähnungen zu bestätigen: Zum einen hat der Begriff in Kapitel 110 über die Regeln der Freundschaft (‚leges amicitie‘) eine ähnliche Bedeutung. Dort kommt der Begriff ‚communitas‘ zwar nicht vor, allerdings führt Radulfus Ardens an dieser Stelle aus, dass Freunde alle Dinge gemeinschaftlich besitzen (‚omnia communia esse‘).139 Aus diesen beiden Hinweisen lässt sich entnehmen, dass die ‚communitas‘ eng mit den beiden Tugenden ‚concordia‘ und ‚amicitia‘ verknüpft ist und wohl als ‚Gütergemeinschaft‘ zu verstehen ist. Während sich in Buch 11 also nur kurze Erwähnungen finden, wird die ‚communitas‘ in Buch 10 ausführlicher behandelt. Zunächst betont Radulfus Ardens in Kapitel 18
135 Spec. uniu. 11, 28 (P, fol. 70rb): „Caritatis uero fraterne sunt quinque filie speciales scilicet benignitas, beneficentia, concordia, amicitia, communitas. Sane per primam sumus boni proximis nostris in bona uoluntate, […] per quintam in bonorum nostrorum communicatione.“ 136 Vgl. P, fol. 94v. 137 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 276 n. 73. 138 Vgl. erstens Spec. uniu. 11, 99 (P, fol. 88vb): „Cum itaque caput et membra sic sint diuisa et diuersa, tamen concordant et uniuntur in una natura, in una integritate, in uno consensu, in mutua communitate, in mutua congratulatione, in mutua compassione, in mutua supportatione, in mutua honoratione“; zweitens ebd. (P, fol. 89ra): „Sic quoque Christus caput et membra eius omnes fideles licet sint diuersi, tamen concordant et uniuntur in una natura, in una integritate, in uno consensu, in communitate, in congratulatione, in compassione, in mutua supportatione, in mutua honoratione; […] in communitate, quoniam Christus de plentitudine suarum gratiarum communicat aliquid singulis eis membris […].“ 139 Spec. uniu. 11, 110 (P, fol. 91rb): „[…] sexta est, quod inter amicos omnia sint communia.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
(über die Barmherzigkeit), dass Gott die Erde für den gemeinschaftlichen (‚communis‘) Nutzen aller Menschen geschaffen hat. Auch diese schöpfungstheologische Grundlegung der ‚communitas‘ legt ein Verständnis als Gütergemeinschaft nahe.140 Darüber hinaus wird sie in den Kapiteln 19 und 40 thematisiert. Dort wird sie zwar nicht explizit als Tugend bezeichnet, jedoch erschließen sich daraus zwei zentrale Bestandteile, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch den Wesenskern der in Buch 11 erwähnten Tugend ausmachen. Zunächst zu Kapitel 19: Dort wird sie als die zwölfte von insgesamt 19 Pflichten der Gerechtigkeit des Evangeliums (‚officia iustitie euangelie‘) behandelt. Dazu ist zu erwähnen, dass die ‚iustitia euangelie‘ ein Begriff ist, der ausschließlich bei Radulfus Ardens vorkommt.141 Er beschreibt das Verständnis von Gerechtigkeit, das im Evangelium grundgelegt ist, kennzeichnet den gegenwärtigen Heilsstand des Christen und bildet damit den Gegenpol zur richtenden bzw. weltlichen Gerechtigkeit (‚iustitia iudicaria‘).142 Die 19 ‚officia‘ der ‚iustitia euangelie‘ konkretisieren die Gerechtigkeitspflichten gegenüber Gott (c. 8), gegenüber sich selbst (c. 9) und gegenüber dem Nächsten (c. 10–26). Kapitel 19 über die ‚communitas‘ gehört demnach zum dritten Bereich, mit dem Radulfus Ardens „so ziemlich alle irgendwie möglichen Begegnungsformen der Menschen untereinander“143 erfassen wollte. Der Begriff ‚communitas‘ meint hier die Pflichten, die man dem Freund schuldet.144 Diese zunächst sehr allgemeine Bestimmung wird im Folgenden inhaltlich gefüllt, woraus sich auch das Wesen der in Buch 11 erwähnten Tugend erschließen lässt. So ist die ‚communitas‘ eine besondere, freundschaftliche Gemeinschaft, die aus drei Gründen etwas Erstrebenswertes darstellt: erstens wegen des Gebotes (‚propter mandatum‘), den Nächsten zu lieben; zweitens, weil es der Freund verdient hat
140 Spec. uniu. 10, 18 (CCM 241A, p. 542): „Deus creauit terram et cetera elementa in communes usus hominum et qui cupit sibi uendicare communia, unicuique tollit sua.“ 141 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 342. 142 Zu der Unterscheidung vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 344–346. Der Hauptunterschied zwischen der ‚iustitia iudicaria‘ und der ‚iustitia euangelica‘ besteht dabei hauptsächlich darin, dass sich die erste nicht nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern nach ihren Verdiensten richtet; bei der zweiten ist es genau umgekehrt. Vgl. dazu Spec. uniu. 10, 32 (CCM 241A, p. 560 f.): „Patet igitur differentia inter euangelicam iustitiam et iudiciariam. Illa quippe non attendit quod quis mereatur, sed quod ipsa unicuique debeat. Ista uero attendit et quod quis mereatur et quod unicuique pro meritis debeatur.“ 143 GRÜNDEL, Verstandestugenden 349; zu den Pflichten im Allgemeinen vgl. ebd. 346–349. 144 Die ‚communitas‘ wird bei der Aufzählung der ‚officia iustitie euangelii‘ in Buch 10 an zwölfter Stelle genannt: Spec. uniu. 10, 7 (CCM 241A, p. 519): „Est igitur officium iustitie exhibere Deo religionem, nobis puritatem, parentibus honorem, domesticis familiaritatem et prouidentiam, principibus subiectionem, minoribus condescensionem, prelatis nostris obedientiam, subiectis nobis gubernationem, equalibus deferentiam, personis uenerabilibus reuerentiam, personis miserabilibus misericordiam, amicis communitatem, inimicis patientiam, benefactoribus uicissitudinem, peccantibus correptionem, mercennariis mercedem, creditoribus debitum, deponentibus depositum, omnibus dilectionem, ueritatem et equitatem.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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(‚propter meritum‘), und drittens, weil es für uns angenehm ist (‚propter commodum‘). In diesem Zusammenhang fällt auch die bereits erwähnte Bemerkung, dass die Freundschaft der wertvollste Schatz auf Erden ist.145 Die freundschaftliche Gemeinschaft ist außerdem durch vier Gemeinsamkeiten gekennzeichnet, nämlich die Seelengemeinschaft (‚communitas animarum‘), die Gütergemeinschaft (‚communitas rerum‘) sowie das gemeinsame Bestreiten guter und schlechter Zeiten (‚communitas prosperitatum‘ bzw. ‚communitas aduersitatum‘).146 Der Begriff ‚Seelengemeinschaft‘ meint eine Verbundenheit, die daraus entsteht, dass zwei befreundete Personen auf der Grundlage gemeinsamer Tugenden stets das Gleiche wollen.147 Dieser Idealfall ist jedoch dem Jenseits vorbehalten, da Sünden und Laster im Diesseits vollkommene Harmonie der Tugenden (‚omnimoda consonantia uirtutum‘) bei den Menschen verhindern.148 Aus Kapitel 19 ergibt sich also, dass Radulfus Ardens unter der ‚communitas‘ spezifische Verhaltensweisen versteht, die eine freundschaftliche Gemeinschaft kennzeichnen. In Kapitel 40 wird die ‚communitas‘ dann tatsächlich im Sinne von Gemeinschafsbesitz verstanden und erklärt. Diese Überlegungen stellt Radulfus Ardens in Zusammenhang mit den Aufgaben der richtenden Gerechtigkeit an (‚iustitia iudicaria‘). Erneut wird zu Beginn des Kapitels betont, dass Gott die Welt und alles, was darin enthalten ist, zum gemeinsamen Nutzen aller Menschen geschaffen hat. Dieses natürliche Gesetz (‚lex natualis‘) steht dabei im scharfen Gegensatz zum menschlichen Gesetz (‚lex humana‘), das genau festlegt, wem welcher Besitz gehört.149
145 Spec. uniu. 10, 19 (CCM 241A, p. 543): „Communitatem debemus amicis nostris propter mandatum, propter meritum, propter commodum; propter mandatum Dei, propter meritum amici, propter commodum nostrum. Propter mandatum Dei, quoniam si ex mandato Dei debemus diligere quemlibet proximum, quanto magis amicum? Et si ex eius mandato debemus nostra communicare etiam inimicis, quanto magis amicis? Propter meritum amici, quoniam bene meruit amicus nos diligendo et communicando nobis sua, quod nos eum diligamus et communicemus ei nostra. Propter commodum nostrum, quoniam nullum maiorem possumus in hac uita nobis comparare thesaurum quam comparare dilectione et communitate nobis amicum.“ 146 Spec. uniu. 10, 19 (CCM 241A, p. 543 f.): „Quam communitatem debemus amico nostro? Communitatem animorum, rerum, aduersitatum et prosperitatum.“ 147 Spec. uniu. 10, 19 (CCM 241A, p. 544): „Porro communitatem uniuersorum inter amicos facit communitas animorum. Hec autem non potest esse inter malos, cum uitiis seruiant contrariis. At boni, quoniam uirtutibus illustrantur que numquam dissone, sed semper consone sunt, consoni et unanimes esse queunt.“ 148 Spec. uniu. 10, 19 (CCM 241A, p. 544): „Hinc est quod, quia in ciuibus ethereis semper est omnimoda consonantia uirtutum, ideo et inter eos est omnimoda consonantia et amicitia animorum; et quia iniustis adhuc in terra peregrinantibus uix uel numquam potest esse omnimoda uirtutum consonantia, ideo in hoc mundo nec etiam inter iustos potest esse penitus consonans amicitia.“ 149 Spec. uniu. 10, 40 (CCM 241A, p. 581): „Porro secundum naturalem legem omnia sunt communia. Creator quippe Deus mundum et que in eo sunt, creauit non propter unum specialiter, sed propter omnes homines communiter. Secundum uero humanam legem hic ager est meus, ille tuus, hec uinea mea, illa tua.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Daraus lässt sich ableiten, dass die ‚communitas‘ im Kontext der gottgewollten Schöpfungsordnung als Gütergemeinschaft zu verstehen ist, die im Jenseits vollendet wird. Da sie im Diesseits jedoch noch nicht in Vollkommenheit möglich ist, gibt es hier nur bestimmte Bereiche, in denen einzelne Güter als Gemeinschaftsbesitz gelten können. Radulfus Ardens nennt drei solche Sphären: erstens Güter, die allen Menschen gemeinsam gehören (‚communia uniuersorum‘) wie etwa Luft und Sonnenlicht; zweitens Besitztümer wie Wälder oder Gewässer, die vielen Menschen – bspw. den Bewohnern einer Stadt – gemeinsam gehören (‚communia multorum‘); drittens Klöster und geistliche Besitzungen, die nur wenigen Menschen gemeinsam gehören (‚communia paucorum‘).150 Diesem dritten Bereich gilt seine besondere Aufmerksamkeit, da diese Güter ausschließlich dazu verwendet werden dürfen, armen und bedürftigen Menschen zu helfen. Damit steht die ‚communitas‘ also in einem engen Zusammenhang mit dem Almosen (‚elemosina‘), mit dem sich Radulfus Ardens in Buch 11 besonders ausführlich auseinandersetzt. Was lässt sich also über das Wesen der Tugend ‚communitas‘ aus den soeben gesammelten Informationen erschließen? Radulfus Ardens thematisiert offenbar zwei verschiedene Aspekte, die jedoch miteinander zusammenhängen. Der eine Aspekt repräsentiert die Tatsache, dass die von Gott geschaffenen Güter allen Menschen gemeinsam gehören. Da sich dieses Ideal im Diesseits nicht verwirklichen lässt, braucht es die weltliche Gerechtigkeit, um den Besitz möglichst gerecht zu verteilen. Von daher wäre in diesem ersten Bereich eine Komplementärtugend nicht nur denkbar, sondern eigentlich zwingend notwendig. Deren Aufgabe wäre es, den in der Schöpfung angelegten, gemeinschaftlichen Besitz aller geschaffenen Güter auch tatsächlich zu gewährleisten bzw. gegen Widerstände durchzusetzen. Eine solche Tugend würde sicherlich – wie es Radulfus Ardens in Buch 10 ja auch durch den Kontext andeutet – aus dem Bereich der ‚iustitia iudicaria‘ bzw. der ‚lex humana‘ kommen. Als lasterhafte Übertreibung der ‚communitas‘ wäre etwa ein willkürlicher Besitzanspruch denkbar, der berechtigte Besitzverhältnisse nicht beachtet oder mit Allgemeineigentum leichtfertig umgeht. Auf der anderen Seite könnte eine Überreglementierung oder eine Fixiertheit auf das von Menschen gemachte Gesetz stehen, das die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr beachtet. Somit ist etwa folgendes Komplementärtugendpaar denkbar:
Egoistischer, willkürlicher Besitzanspruch
‚communitas‘
↔
Gerechte Absicherung / Gerechte Verteilung
Überreglementierung / Fixiertheit auf menschliches Recht
150 Spec. uniu. 10, 40 (CCM 241A, p. 581 f.): „Et communia quidem uniuersorum sunt aer, sol, et aura. […] Communia uero multorum sunt, ut flumina, fontes, pascua, silue, saltus circumiacentes alicui ciuitati. Communia sunt habitatoribus eiusdem ciuitatis. […] Communia uero paucorum sunt, ut possessiones monasteriorum, domorumque religiosarum que date sunt non homini, sed Deo ad sustentationem scilicet suorum ministrorum et egenorum, non solum presentium, sed etiam nasciturorum in quibus confitetur Christus se suscipi et recreari.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Der andere Aspekt zielt offensichtlich speziell darauf ab, dass dieses Ideal noch am ehesten im Rahmen einer aufrichtigen und von Tugenden getragenen Freundschaft bzw. Gemeinschaft umsetzbar ist. Dabei geht diese Gemeinschaft letztendlich über das reine Teilen von materiellem Besitz hinaus und ist eher im Sinne einer ganzheitlichen ‚Seelengemeinschaft‘ zu verstehen. Daher könnte man die hier behandelte Tugend im Deutschen ‚Fähigkeit bzw. Offenheit für freundschaftliche Beziehungen‘ nennen. Hier finden sich im Text keinerlei Andeutungen zu einer möglichen Komplementärtugend. Möglicherweise ließe sich ein Korrektiv dieser freundschaftlichen ‚communitas‘ aus dem Bereich der Selbstliebe herleiten, da man sowohl im materiellen als auch im geistigen Sinne nicht alles miteinander teilen kann. Schließlich gibt es ja auch das berechtigte Bedürfnis nach Privatsphäre und im Zweifelsfall darf man sich für den Freund zumindest nicht in der Weise aufopfern, dass man sein eigenes Seelenheil vernachlässigt oder seine eigene Lebensgrundlage massiv schädigt. Zudem wäre auch eine übersteigerte bzw. egoistische Inanspruchnahme des Anderen ein Laster. Von daher wäre durchaus ein Korrektiv für die freundschaftliche ‚communitas‘ nötig, zumal Radulfus Ardens selbst hervorhebt, dass unter den diesseitigen, sündenverfangenen und unvollendeten Lebensbedingungen eine vollkommene ‚communitas‘ ohnehin nicht möglich sei. Solche Gedankengänge sind einerseits rein spekulativ, da sich auch bei einer freien Interpretation des Textes nur vage Andeutungen dazu finden lassen. Andererseits kommt ihnen im Kontext der vorliegenden Untersuchung eine nicht unerhebliche Bedeutung zu, da bei der Untersuchung des Textes auch immer die Frage im Hintergrund steht, wie leistungsfähig das Konzept der Komplementärtugenden ist und inwieweit es unabhängig vom zeitbedingten Kontext Potential für tugendethische Fragestellungen hat. Von daher werden auch die eben angedachten, rein theoretisch möglichen komplementären Elemente im zweiten Aspekt der ‚communitas‘ in einem Schaubild visualisiert: Selbstaufgabe / Völlige Inanspruchnahme des Anderen
‚communitas‘ ↔
Bedürfnis nach Privatsphäre / Bewahrung der eigenen Lebensgrundlage
Egoismus / Unfähigkeit zu freundschaftlichen Beziehungen
Nach diesen weiterführenden Überlegungen ist abschließend nochmals darauf hinzuweisen, dass in dem Abschnitt über die ‚communitas‘ drei Unklarheiten bestehen bleiben: Erstens stellt sich die Frage, warum sie in Buch 10 als Pflicht bezeichnet wird, die man dem Freund schuldet bzw. als gemeinschaftlicher Besitz verstanden wird, während sie in Buch 11 als eine eigenständige Tochtertugend neben der Freundschaft aufgeführt ist. Zweitens fällt ins Auge, dass zwischen den drei Beschreibungen – also Kapitel 28 in Buch 11 sowie Kapitel 19 und 40 in Buch 10 – einige Unterschiede auszumachen sind, ohne dass sich Radulfus Ardens erklärend dazu äußert. Drittens ist es auffällig, dass sich nirgends ein erklärender Hinweis zum Fehlen der ‚communitas‘ in Buch 11 findet, obwohl Radulfus Ardens in solchen
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Fällen eigentlich immer auf andere Bücher verweist, wie sich noch in vielen Beispielen zeigen wird. Warum ein solcher Verweis fehlt, lässt sich ebenfalls nur vermuten. Eine Möglichkeit wäre, dass Radulfus Ardens die ‚communitas‘ in Buch 11 zunächst ausgelassen hat, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu behandeln, aber nicht mehr dazu gekommen ist. Diese Überlegung könnte man auch noch erweitern und aufgrund der Unklarheiten bei den Ausführungen über die ‚amicitia‘ die These formulieren, dass der ganze Abschnitt über die Tochtertugenden der Nächstenliebe Brüche aufweist und unter Umständen unvollendet ist. In der Einleitung wurde bereits dargelegt, dass das Werk insgesamt unvollendet ist und der Autor mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Arbeit daran gestorben ist. Somit könnte der Befund, dass die ‚communitas‘ zwar erwähnt, aber nicht dargestellt wird, seinen Grund darin haben, dass sowohl das Werk im Ganzen als auch Buch 11 nicht abgeschlossen sind. Dafür lässt sich jedoch kein gänzlich überzeugender Beweis anführen. 2.1.3.4 ‚beneficentia‘ Die Tugend der Wohltätigkeit (‚beneficentia‘) besteht darin, Güter klug und voller Hingabe zu verteilen.151 Die Mithilfe der Klugheit ist dabei vonnöten, um eine Situation, in der man jemandem etwas gibt, richtig einschätzen zu können. Mit dem Verweis auf die Hingabe wird hervorgehoben, dass eine Wohltat in rechter Weise nur aus intrinsischer Motivation und niemals aus Zwang geschehen kann. Die ‚beneficentia‘ steht systematisch somit in einer engen Verbindung mit der ‚benignitas‘: Sie ist nämlich die Auswirkung (‚effectus‘) des wohlwollenden Affekts der Güte. Radulfus Ardens erwähnt noch weitere Begrifflichkeiten, die gelegentlich synonym für die Wohltätigkeit verwendet werden, und versucht, sie systematisch auszudifferenzieren. So ist die Mildtätigkeit (‚munificentia‘) von ihrer Bedeutung her tatsächlich deckungsgleich mit der ‚beneficentia‘; die Großzügigkeit (‚largitas‘) meint hingegen den alltäglichen Gebrauch der Tugend und der Ausdruck Freigiebigkeit (‚liberalitas‘) nimmt die Verhaltensweise von der Freiheit des Handelnden her in den Blick.152 Dass der Autor mit dieser Unterscheidung jedoch nicht ganz konsequent verfährt, zeigt sich daran, dass er in Kapitel 97 eine weitere Differenzierung vornimmt, in der ‚largitas‘ und ‚munificentia‘ synonym verwendet werden: In der ‚beneficentia‘ sieht er nämlich den umfassenderen Begriff, der alle Formen von Wohltaten beinhaltet, während ‚largitas‘ und ‚munificentia‘ nur auf zeitlich-materielle Güter bezogen werden.153 Die Wohltat (‚beneficium‘) definiert er dabei zunächst sehr allgemein und abstrakt
151 Spec. uniu. 11, 46 (P, fol. 75rb): „Beneficentia est prudens deuotaque beneficiorum erogatrix.“ 152 Spec. uniu. 11, 46 (P, fol. 75rb): „Porro in affectu benignitas, in effectu beneficentia siue munificentia, in usu largitas, in libertate dantis liberalitas nuncupatur.“ 153 Spec. uniu. 11, 97 (P, fol. 87vbf.): „Sed attendum est quod beneficentia largior est quam largitas siue munificentia. Nam beneficentia omnia complectitur beneficia, largitas uero secundum usum tantum temporalia.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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als ‚bonum bene collatum‘154, da er auf die konkreten Einzelformen im Traktat über das Almosen (c. 48–96) noch ausführlicher eingeht. Als Komplementärtugend sowohl der ‚beneficentia‘ als auch der ‚largitas‘ bestimmt Radulfus Ardens die Sparsamkeit (‚parsimonia‘).155 Ihre Aufgabe besteht darin, die anvertrauten Güter im richtigen Maß zu verteilen.156 Diese zunächst sehr theoretische Aussage muss präzisiert werden, denn sie ist nur vor dem Hintergrund verständlich, dass man in der Welt an sich überhaupt keinen eigenen Besitz haben kann, da alle Dinge ursprünglich von Gott stammen. Wenn der Mensch über Güter verfügen kann, dann nur zu dem Zweck, um sie im rechten Maß zu verteilen und das zufällige Verteilungsungleichgewicht im Diesseits auszugleichen.157 Da jeder über andere bzw. über mehr oder weniger Güter verfügt, darf man sie nicht einfach wahllos verbrauchen und verschenken, sondern muss damit haushalten: Und genau das leistet die Sparsamkeit. Daraus folgen jedoch zwei wichtige Konsequenzen: Erstens geht es um die gerechte Verteilung von Gütern, wodurch die Wohltätigkeit und die verschiedenen Formen des Almosens eng mit der Tugend der ‚iustitia‘ verbunden sind. Zweitens stellt die Sparsamkeit lediglich eine Art Hilfsmittel dar, das nur deshalb nötig ist, weil die Ressourcen im Diesseits begrenzt sind. An sich bräuchte die Wohltätigkeit nämlich keine Komplementärtugend. Dies zeigt sich auch daran, dass Gott diese Eigenschaft besitzt – und zwar im eigentlichen und umfassenden Sinne.158 Ein Übermaß an Wohltätigkeit würde demnach zur Verschwendung (‚prodigalitas‘) von Gütern führen. Dies kann zum einen dadurch geschehen, dass man selbst zu viele Ressourcen verbraucht, und zum anderen dadurch, dass man falsch bzw. ungerecht verteilt. Hält man dagegen zu viel zurück, verfällt man dem Laster des Geizes (‚auaritia‘).159 Als konkrete Richtschnur für den Spielraum zwischen diesen beiden ‚uitia contraria‘ gibt Radulfus Ardens an, sich selbst die Lebensgrundlage 154 Spec. uniu. 11, 47 (P, fol. 75va): „Nos ergo dicere possumus, quod beneficium est bonum bene collatum.“ 155 An der Stelle ist zu erwähnen, dass es sich hier dem aktuellen Forschungsstand nach um die erste systematisch relevante Erwähnung dieser Tugend in der christlichen Tradition handelt (vgl. dazu HEIN, Sparsamkeit 107). 156 Spec. uniu. 11, 97 (P, fol. 87vb): „Beneficientie siue largitatis collateralis uirtus est parsimonia. Est autem parsimonia uirtus modeste despensandi bona nobis comissa.“ 157 Spec. uniu. 11, 46 (P, fol. 75va): „Nos uero non recte dicimur largitores, sed dispensatores. Non enim nostra, sed aliena, sed commendata dispensamus. Rursus nec gratis damus, quia diuina gratia preuenimur, que dat nobis et uelle et posse.“ Mit dieser Sichtweise steht Radulfus Ardens in der Tradition der Patristik: So nennt Hieronymus den Menschen im Hinblick auf weltliche Güter bewusst Verteiler (‚dispensator‘) und nicht Verwalter (‚uilicus‘); ähnlich äußert sich auch Basilius von Caesarea (vgl. HEIN, Sparsamkeit 216–222.226–235). 158 Spec. uniu. 11, 46 (P, fol. 75rbf.): „Deus quippe solus sua dat et gratis et sine retributione sua dat, quoniam uniuersa sunt creatura sua; gratis dat quoniam eius largitionem nullius merita preueniunt, quia quis prior dedit ei et retribuetur ei; sine retributione dat, quoniam bonorum nostrorum non eget.“ 159 Spec. uniu. 11, 97 (P, fol. 88ra): „Vnde et largitatis contraria est auaritia, parsimonie uero prodigalitas. Itaque prodigalitas et auaritia sunt termini largitatis et parsimonie. Prodigalitas enim dat
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(‚necessaria‘) zu erhalten und zugleich je nach Möglichkeit auch andere Menschen mit den lebensnotwendigen Dingen zu versorgen.160 Dabei gilt die Grundregel, dass der Anteil für die anderen umso größer ausfällt, je gefestigter man im Glauben ist. Auf diese Weise verbinden sich die beiden Komplementärtugenden Wohltätigkeit und Sparsamkeit zu einer Verschmelzungstugend (‚parcitas larga‘ bzw. ‚largitas parca‘)161, wie im folgenden Schema dargestellt wird.
‚parcitas larga‘ / ‚largitas parca‘ ‚prodigalitas‘
‚beneficentia‘ / ‚largitas‘
↔
‚parsimonia‘
‚auaritia‘
Darüber hinaus bestimmt Radulfus Ardens als das entgegengesetzte Laster der Wohltätigkeit die Zufügung von Schaden (‚maleficentia‘), die in ebenso viele Arten untergliedert werden kann wie die ‚beneficentia‘.162 Dies steht nicht – wie man auf den ersten Blick meinen könnte – im Gegensatz dazu, dass diese Position bereits der Geiz einnimmt; dieser ist nämlich nur im Bereich des Irdisch-begrenzten der lasterhafte Gegensatz der ‚beneficentia‘. Die ‚maleficentia‘ bezieht sich hingegen auf den übergeordneten Bereich, in dem die Wohltätigkeit nicht unbedingt durch Ressourcenknappheit eingeschränkt wird und in diesem Fall auch keine Komplementärtugend benötigt. Streng genommen ist also die ‚parsimonia‘ die Komplementärtugend der ‚largitas‘, nicht aber der ‚beneficentia‘, bei der es im Allgemeinen kein Zuviel geben kann. Radulfus Ardens selbst geht hier mit den Begrifflichkeiten freier um, zumal die ‚beneficentia‘ die ‚largitas‘ miteinschließt. 2.1.3.5 ‚concordia‘ Die Tugend der Eintracht (‚bona concordia‘) bzw. Einigkeit (‚unitas‘) besteht darin, die gleiche Meinung (‚sententia‘) zu haben und das Gleiche zu wollen.163 Der Begriff meint dabei zum einen die innere und äußere Einigkeit des einzelnen Menschen im tam danda quam non danda. Auaritia uero retinet tam retinenda quam non retinenda. Largitas uero dat danda et parsimonia retinet retinenda, que iuncta unam constituunt uirtutem.“ 160 Spec. uniu. 11, 97 (P, fol. 87vb): „Hec autem tam in utendo quam in largiendo custodienda est, ut uidelicet utamur nostris tantum ad necessaritatem et largiamur aliis iuxta facultatem, sic largiamur aliis, quod nos non relinquamus et sic retineamus nobis, quod aliis tribuamus nobis retinentes sola necessaria aliis tribuentes superuacua.“; vgl. dazu auch HEIN, Sparsamkeit 109. 161 Spec. uniu. 11, 97 (P, fol. 87vb): „Itaque largitas sine parsimonia prodigalitas est. Parsimonia uero sine largitate auaritia est, sed largitas parca et parcitas larga uirtus est.“ 162 Spec. uniu. 11, 97 (P, fol. 87vb): „Est autem beneficientie contraria maleficentia que et in tot species diuiditur, quot et benficentia. Nam alia nocet anime, alia corpori, alia rei familiari et unaqueque similiter in species subdiuidi potest.“ 163 Spec. uniu. 11, 98 (P, fol. 88ra): „Concordia uero est uirtus sentiendi et uolendi idem tam sibi quam alii in omnibus uel saltem in necessariis ad salutem.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Hinblick auf seine Willensregungen, Aussagen und Handlungen. Diese Tugend, die man heute wohl eher ‚Authentizität‘ nennen würde, ist dadurch gekennzeichnet, dass die persönlichen Überzeugungen und Ziele auch in wechselhaften Lebenssituationen beständig und verlässlich sind.164 Zum anderen kann aber auch die Einigkeit mehrerer Personen innerhalb einer Gemeinschaft oder Gruppe gemeint sein.165 Wie gewohnt führt Radulfus Ardens genauer aus, wie er seine Definition versteht: Der Begriff ‚sententia‘ umfasst in erster Linie persönliche Grundüberzeugungen (‚magne res‘) und den eigenen Glauben (‚fides‘).166 Ist hier kein gemeinsames Fundament vorhanden, können die betreffenden Personen oder auch ganze Gruppierungen unmöglich einträchtig sein. Auch ohne übereinstimmendes Wollen ist kein Konsens möglich.167 Die Bedeutung des hier verwendeten Verbs ‚uelle‘ ergibt sich aus drei Bestandteilen, nämlich ‚eandem rem uelle‘, ‚habere eandem uoluntatem‘ und ‚habere eandem intentionem‘. Die Gemeinsamkeit ist umso größer, je mehr diese drei Elemente aufeinander abgestimmt sind. Daraus ergeben sich wiederum vier mögliche Konstellationen, die er anhand von Beispielen erläutert: Erstens ist es möglich, dass zwei Personen denselben Gegenstand (bspw. einen Acker) begehren. Dennoch stimmen ihr Wille (‚uoluntas‘) und ihre Absicht (‚intentio‘) nicht überein, da sie den Acker jeweils für sich haben wollen und daher zu verhindern suchen, dass der andere ihn erhält. Zweitens kann neben der gleichen Absicht ein unterschiedlicher Willen vorhanden sein. Radulfus Ardens nennt hier das Beispiel zweier Menschen, die beide ihre Seele retten wollen, der eine aber im aktiven Leben, der andere im kontemplativen. Bemüht sich der kontemplativ lebende Mensch, auch den aktiv lebenden der Kontemplation näherzubringen, unterscheiden sie sich trotz gleicher Absicht im Willen. Drittens ist es möglich, im Willen und der Absicht übereinzustimmen, jedoch unterschiedliche Dinge anzustreben. Im letzten Beispiel wäre dies der Fall, wenn der kontemplativ und der aktiv lebende Mensch jeweils ihre unterschiedlichen Herangehensweisen akzeptieren würden. Im Idealfall sind alle drei Elemente aufeinander angestimmt, daher nennt Radulfus Ardens viertens das Beispiel von zwei kontemplativ lebenden Menschen, die
164 Spec. uniu. 11, 102 (P, fol. 89vbf.): „Concordia igitur unius persone est secum, quando omnes eiusdem persone uoluntates in eodem bono proposito perseuerant et omnes sermones ad inuicem et uoluntati concordant et omnes actiones et ad inuicem et sermoni et uoluntati et licet nonnumquam uoluntates sermones et actiones secundum temporum, locorum, personarum negotiorumque diuersitatem uideantur diuerse […].“ 165 Spec. uniu. 11, 102 (P, fol. 89vb): „Concordia uero bona alia est singularis, alia particularis, alia uniuersalis. Prima est persone secum; secunda plurium fidelium; tertia omnium electorum. Prima est unius persone permanentis in uoluntate una; secunda plurium fidelium in una ecclesia; tertia omnium electorum in patria.“ 166 Spec. uniu. 11, 98 (P, fol. 88ra): „Qui enim discordant in sententia fidei et in magnis rebus, concordes esse non possunt.“ 167 Spec. uniu. 11, 98 (P, fol. 88raf.): „Rursus qui concordant in fide et in rebus maioribus, nisi et in uoluntate concordent concordes non sunt. Sed si in utrisque conueniant uere concordes sunt.“
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beide auf diesem Weg vorankommen wollen. Zugleich betont er aber auch, dass die vollendete ‚concordia‘ erst im Eschaton verwirklicht wird und im Diesseits schon viel erreicht ist, wenn man sich auf einen Minimalkonsens bezüglich der heilsnotwendigen Dinge einigen kann.168 Diese Aussage, mit der Kapitel 98 schließt, liefert den Anlass für recht ausführliche ekklesiologische Überlegungen in den Kapiteln 99 und 100. Mit dieser komplexen Ausdifferenzierung versucht Radulfus Ardens aufzuzeigen, wie voraussetzungsreich Eintracht im einzelnen Menschen, aber auch zwischen Personengruppen ist, zumal es auch eine schlechte bzw. lasterhafte Form der Eintracht (‚mala concordia‘) gibt. Diese kann zum einen darin bestehen, dass Einigkeit über schlechte Taten oder schlechte Ziele herrscht.169 Sie ist schon von ihrem Ursprung her verdorben, da die entsprechenden Akteure aus ihren Lastern heraus handeln. Zum anderen kann ein Übermaß an Harmoniebedürfnis dazu führen, dass man aus mangelnder Vorsicht oder falscher Zurückhaltung auch Übel oder Laster akzeptiert. Daher stellt er der Eintracht die gute Zwietracht (‚bona discordia‘) als Komplementärtugend zur Seite, die sich dadurch auszeichnet, dass sie dem Schlechten nicht zustimmt.170 Nimmt die Zwietracht jedoch zu viel Raum ein und wendet sich schließlich sogar gegen Gutes, entsteht die schlechte Zwietracht (‚mala discordia‘), die man auch ‚Streitsucht‘ nennen könnte. Sie ist das der Eintracht entgegengesetzte Laster.171 Ausgehend von diesem Verhältnis legt Radulfus Ardens auch ihre ‚termini‘ fest.172 Das beschriebene Komplementärtugendpaar lässt sich wie folgt abbilden:
‚mala concordia‘
‚bona concordia‘/ ‚unitas‘
↔
‚bona discordia‘
‚mala discordia‘
2.1.4 Die ‚filie‘ aus dem Bereich der Gottes- und der Nächstenliebe Aus dem Zusammenwirken von Gottes- und Nächstenliebe gehen schließlich die Dankbarkeit (‚gratitudo‘) und die Verehrung (‚cultus‘) hervor.173 Bei diesen beiden Tochtertugenden gibt es jeweils zwei Aspekte: Der eine ist auf Gott ausgerichtet und hat daher auch keine Komplementärtugend, der andere ist auf die Menschen
168 Vgl. zu den Beispielen Spec. uniu. 11, 98 (P, fol. 88raf.). 169 Spec. uniu. 11, 101 (P, fol. 89vb): „Concordia uero animorum alia est mala, alia est bona. Sane concordia mala est, quorum unio in persecutione bonorum […].“ 170 Spec. uniu. 11, 104 (P, fol. 90rb): „Est autem collateralis uirtus concordie bona discordia que est nulli malo consentire.“ 171 Spec. uniu. 11, 103 (P, fol. 90rb): „Porro concordie contraria est discordia […].“ 172 Spec. uniu. 11, 104 (P, fol. 90rb): „Termini uero sunt mala discordia et mala concordia, ut uidelicet teneamus concordiam cum bono, quod non transgrediamur usque ad concordiam in malo. Et sic teneamus discordiam a malo, quod non euadamus usque ad discordiam a bono.“ 173 Spec. uniu. 11, 115 (P, fol. 92ra): „Oriuntur autem communiter ex dilectione Dei et proximi hec uirtutes: gratitudo et cultus.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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(und Engel) bezogen. Radulfus Ardens stellt die beiden Aspekte der ‚gratitudo‘ in den Kapiteln 117 und 118 dar, die des ‚cultus‘ in den Kapiteln 121 und 122. Im Bereich der Verehrung gibt es dabei überhaupt kein Komplementärtugendpaar. Bei der ‚gratitudo‘ hat nur die auf den Nächsten ausgerichtete Dankbarkeit (‚bona gratitudo‘) ein komplementäres Gegenstück, nämlich die gute Undankbarkeit (‚bona ingratitudo‘).174 Diese Grundstruktur wurde im unten angefügten Schaubild visualisiert: debita creatori (c. 117) caritas in deum
gratitudo (c. 115-120)
caritas in proximum cultus (c. 115.121.122)
debita creature rationali (c. 118)
↔
bona ingratitudo (c. 119.120)
debitus creatori (c. 121)
odisse uitia et peccata, non homines
debitus creature rationali (c. 122)
Abb. 20: Die Komplementärtugenden im Bereich der Gottes- und Nächstenliebe.
Im Folgenden werden die hier aufgeführten Verhaltensweisen auf der Grundlage des lateinischen Textes genauer beschrieben und Überlegungen dazu angestellt, warum Radulfus Ardens dem ‚cultus debitus proximi‘ keine Komplementärtugend zuweist bzw. wie ein solches Korrektiv verfasst sein könnte. 2.1.4.1 ‚gratitudo‘ Die Dankbarkeit (‚gratitudo‘) wird allgemein als diejenige Tugend definiert, durch die man sich an eine erwiesene Wohltat erinnert und eine Gegenleistung erbringt.175 Dadurch werden bereits erhaltene Güter aufgewertet und man erlangt sogar teilweise noch ausstehende. Ihr ‚uitium contrarium‘ ist die Undankbarkeit (‚mala ingratitudo‘), die jedes Gut zerstört. Die Verpflichtung zum Dank besteht ausschließlich gegenüber Gott (‚gratitudo debita creatori‘) sowie gegenüber vernunftbegabten Geschöpfen, d. h. gegenüber den Engeln und den Mitmenschen (‚gratitudo debita creature rationali‘).176 Um diese beiden Aspekte der Dankbarkeit voneinander abzugrenzen, be-
174 Spec. uniu. 11, 120 (P, fol. 94ra): „Est autem bone ingratitudinis uirtus collateralis bona ingratitudo.“ 175 Spec. uniu. 11, 115 (P, fol. 92ra): „Est autem gratitudo uirtus recolendi beneficium et retribuendi, quanta sit hec uirtus et quanti meriti apparet ex contraria eius ingratitudine, quoniam sicut ingratitudo bona que non solum haberi possent sed etiam que iam habentur, dissipat et tollit.“ 176 Spec. uniu. 11, 115 (P, fol. 92ra): „Sunt autem due species gratitudinis: prima debetur creatori, secunda debetur creature rationali. Ceteris autem rebus insensibilibus, ut soli et lune, et aeri et terre tametsi multa conferunt nobis beneficia, nullam eis gratitudinem debemus, quoniam proficiendi nullam intentionem habent.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
dient sich Radulfus Ardens einer systematischen Unterscheidung, die er häufiger verwendet: Gott muss man danken, da er der Urheber (‚tamquam auctori‘) von allem ist, dem guten Menschen hingegen, da er sein Diener bzw. Verwalter (‚tamquam ministro‘) ist. Welche Konsequenzen diese Unterscheidung nach sich zieht, wird im Folgenden besprochen. Zunächst liefert Radulfus Ardens allgemeine Informationen zur Tugend der ‚gratitudo‘. So zeigt sich aufrichtige Dankbarkeit – sowohl gegenüber Gott als auch gegenüber dem Nächsten – an sechs konkreten Verhaltensweisen: an der Anerkennung des Wohltäters, am Dank für die Wohltat, an der Verwendung der Gabe im Sinne des Gebers sowie daran, dass man den Wohltäter liebt, immer an ihn denkt und sich angemessen revanchiert.177 Diese sechs Verhaltensweisen werden in Kapitel 116 als Bestandteile (‚partes‘) der ‚gratitudo‘ bezeichnet, in Kapitel 119 jedoch als Arten (‚species‘).178 Dabei handelt es sich allerdings nicht um weitere Unterarten, wie sie bspw. bei der Güte und der Wohltätigkeit vorkommen, sondern lediglich um praktische Konkretisierungen der Dankbarkeit. – Im Anschluss daran äußert er sich zur ‚gratitudo debita creatori‘. Es ist nicht möglich, Gott zu danken, indem man ihm materielle Dinge (wie z. B. Opfergaben) zurückgibt, die ja ohnehin schon von Gott geschaffen wurden und daher ihm gehören.179 Vielmehr zeigt sich die Dankbarkeit Gott gegenüber daran, ihn für die Wohltaten zu loben, die er dem Menschen ohne Gegenleistung zukommen lässt.180 Zudem rechnet es Gott hoch an, wenn man sich für ihn verfügbar macht und sich ihm öffnet. Da es bei einer solchen Haltung gegenüber Gott kein Übermaß geben kann, benötigt die ‚gratitudo erga deum‘ ebenso wenig wie die anderen Tugenden, die aus der Gottesliebe hervorgehen, eine Komplementärtugend. – Bei der Dankbarkeit dem vernunftbegabten Geschöpf gegenüber (‚gratitudo debita creature rationali‘) ist darauf zu achten, dass man nicht nur dem Menschen, sondern immer zugleich auch Gott dankbar ist.181 Beide Aspekte gehören in dieser Tugend untrennbar zusammen, sodass hier in anschaulicher Weise deutlich
177 Spec. uniu. 11, 116 (P, fol. 92ra): „Sunt autem sex partes gratitudinis: Prima est benefactorem suum agnoscere, secunda pro benefacto gratias agere, tertia secundum uoluntatem dantis uti munere, quarta benefactorem suum diligere, quinta eum in memoriam semper habere, sexta uicem reddere.“ 178 Spec. uniu. 11, 119 (P, fol. 93vb): „Sunt autem tot species ingratitudinis, quot et gratitudinis. Prior est benefactori suo uicem non reddere; secunda nec eum diligere; tertia nec etiam eum in memoria habere; quarta abuti beneficio; quinta nec etiam gratias agere; sexta nec etiam uelle cognoscere.“ 179 Spec. uniu. 11, 117 (P, fol. 92vaf.): „Debemus et ei uicem reddere, si quid ei reddemus, qui nisi sua non habemus. Possumus ei sua reddere non aliena, sed nec sua ei reddere per nos sine eo operante ualemus. Gratanter tamen accipit, si de suo ei ministramus. Porro gratiorem retributionem ei reddere non ualemus quam si nos pro eo quamadmodum et ipse obtulit se pro nobis offerramus.“ 180 Spec. uniu. 11, 117 (P, fol. 92rb): „Debemus quoque de omnibus beneficiis Deo gratias agere, id est laudes pro gratiis collatis.“ 181 Spec. uniu. 11, 118 (P, fol. 92vb): „Nunc uero considerandum est, quomodo hec eadem debeamus homini nostro benefactori. Debemus enim eum agnoscere tamquam benefactorem, non auctorem quidem beneficii, quoniam nec a se nec per se nobis benefacit.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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wird, wie sich in der ‚bona gratitudo‘ Gottes- und Nächstenliebe verbinden. Richtet sich die ‚gratitudo‘ nämlich ausschließlich auf den Nächsten, gerät die Tatsache aus dem Blick, dass jeder Mensch nur über Güter verfügen kann, soweit es Gott als Ursprung aller Dinge (‚auctor beneficii‘) zulässt. Auf der anderen Seite ist aber auch das Mitwirken des Menschen von Bedeutung, da er auf der Grundlage seines guten Willens (‚bona uoluntas‘) die Wohltat als Dienst (‚ministerium beneficii‘) konkret in die Tat umsetzt. Daher verdient der Menschen einen Anteil des Dankes (‚particularis‘), Gott allerdings kommt er im umfassenden Sinne (‚de uniuersis‘) zu.182 Im weiteren Verlauf von Kapitel 118 findet sich eine Fülle von praktischen Ratschlägen für bestimmte Situationen. Hier stellt Radulfus Ardens Überlegungen zu den Fragen an, in welcher Form man sich bedanken soll, in welchem Umfang man erwiesene Wohltaten erstatten muss oder wie man sich verhalten soll, wenn man den Verdacht hat, jemand beschenkt einen in böser Absicht. Die Problematik, die mit dieser letzten Frage verbunden ist, leitet zur Bestimmung der Komplementärtugend der ‚bona gratitudo‘ über. Da also die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass man entweder mit böser Absicht beschenkt wird oder ein einstiger Wohltäter um Unterstützung bei einem schlechten Vorhaben bittet, benötigt die Tugend der guten Dankbarkeit gegenüber dem Nächsten (‚bona gratitudo‘) ein Korrektiv. Diese Aufgabe erfüllt die gute Undankbarkeit (‚bona ingratitudo‘). Fordert nämlich jemand unter Verweis auf frühere gute Taten etwas Böses ein, so ist es tugendhaft und notwendig, ihm dies zu verweigern.183 Ließe man sich aus falsch verstandener Dankbarkeit dazu breitschlagen, würde man Gutes mit Schlechtem vergelten. Diese lasterhafte Übertreibung bezeichnet Radulfus Ardens als schlechte Dankbarkeit (‚mala gratitudo‘).184 Die schlechte Undankbarkeit (‚mala ingratitudo‘) ist auf der anderen Seite dadurch gekennzeichnet, dass man sich für erfahrene Wohltaten nicht bedankt oder sie nur in geringer bzw. minderwertiger Form zurückerstattet.185 Er betont, dass sie ebenso viele Unterarten (‚species‘) wie die Dankbarkeit hat. Die Verhaltensweisen, die er
182 Spec. uniu. 11, 118 (P, fol. 92vbf.): „Debemus igitur hominem agnoscere beneficii ministerium particularem non semper gratuitum, non semper simplicem ministerium, quia non ab eo, sed per eum nobis prouenit beneficium; particularem, quia de uniuersis, que nobis Deus tribuit, pauca per eum tribuuntur nobis […].“ 183 Spec. uniu. 11, 120 (P, fol. 94ra): „Est autem bone ingratitudinis uirtus collateralis bona ingratitudo. Est autem bona ingratitudo, quando benefactori nostro in malo quod a nobis postulat, grati esse deuitamus. Bono quippe non debemus, nisi bonum et licet ipse iuxta errorum suum nos dicat ingratos.“ 184 Spec. uniu. 11, 120 (P, fol. 94ra): „Termini uero bone gratitudinis et bone ingratitudinis sunt, ut uidelicet sic reddamus pro bono bonum, quod numquam reddamus pro bono malum, sed semper studeamus pro bono reddere bonum.“ 185 Spec. uniu. 11, 119 (P, fol. 93va): „Est autem uirtuti gratitudinis oppositum uitium ingratitudinis […].“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
direkt im Anschluss nennt, sind die negativen Entsprechungen zu den sechs oben genannten ‚partes‘ bzw. ‚species‘ der Dankbarkeit.186 Ebenso wie diese beziehen sie sich sowohl auf die ‚gratitudo debita creatori‘ als auch auf die ‚gratitudo debita creature rationali‘. Aus diesen Erläuterungen ergibt sich das folgende Schema:
‚mala gratitudo‘
‚bona gratitudo‘
↔
‚bona ingratitudo‘
‚mala ingratitudo‘
2.1.4.2 ‚cultus‘ Radulfus Ardens weist der Tugend der Verehrung (‚cultus‘) allgemein die Aufgabe zu, sich jedem mit Vernunft ausgestatteten Wesen gegenüber so zu verhalten, wie es ihm entspricht.187 Damit umfasst der Begriff ‚cultus‘ weitaus mehr als nur eine hingebungsvolle religiöse Verehrung Gottes. Der Kern dieser Tugend besteht nämlich darin, im jeweils entsprechenden Maß gegenüber Gott oder den Mitmenschen zum Ausdruck zu bringen, dass man Gutes von ihnen erfahren hat. Die Verehrung reflektiert also innerlich die erfahrenen Wohltaten und konkretisiert dieses Bewusstsein äußerlich im Verhalten gegenüber Gott und im Umgang mit den Mitmenschen. Daher spricht Radulfus Ardens auch von der zweifachen Verehrung (‚cultus duplex‘): Der eine Aspekt der Tugend bezieht sich auf die vernunftbegabten Geschöpfe, der zweite auf Gott. Eine wichtige Besonderheit der Verehrung ist, dass sie nicht nur aus der Liebe entsteht, sondern auch eng mit der Tugend der Gerechtigkeit (‚iustitia‘) verbunden ist – dies zeigt sich bereits an ihrer Definition, die große Ähnlichkeit zu derjenigen der Gerechtigkeit aufweist: Diese wird zu Beginn von Buch 10 als die Fähigkeit bzw. die Bereitschaft bestimmt, sich jedem gegenüber in rechter Weise zu verhalten.188 Diese Verknüpfung betont Radulfus Ardens explizit189 und verweist in Kapitel 121 auf den Traktat über die Gerechtigkeit (Buch 10, c. 1–64)190. Die knappen Aus-
186 Vgl. n. 178. 187 Spec. uniu. 11, 121 (P, fol. 94ra): „Cultus uero est modus nos habendi prout debemus cuilibet rei rationabili. Hic autem est duplex: alterum quippe debemus creatori, alterum creature rationali.“ 188 Spec. uniu. 10, 1 (CCM 241A, p. 513): „Iustitia igitur est rectitudo semet exhibendi erga unumquemque.“ Gründel übersetzt: „Gerechtigkeit ist der Wille, sich gegenüber einem jeden richtig zu verhalten.“ Obgleich der Begriff ‚Wille‘ nicht im lateinischen Text steht, erschließt er ihn aus dem Gerundiv ‚exhibendi‘ und sondert damit die Definition des Radulfus Ardens von der damals ebenfalls verbreiteten aktualistischen Bestimmung ab (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 338, n. 2). Ob diese Annahme zutrifft, scheint allerdings fraglich zu sein, da Radulfus Ardens in Kapitel 6 bei der Definition der Gerechtigkeit des Evangeliums (die ihr systematisch und inhaltlich entspricht) kein Gerundiv verwendet: Spec. uniu. 10, 6 (CCM 241A, p. 518): „Iustitia uero euangelica est uirtus per quam exhibemus unicuique quod debemus.“ 189 So weist er in Zusammenhang mit den Bestandteilen der Verehrung gegenüber Gott (auch als ‚religio‘ bzw. ‚pietas‘ bezeichnet) ausdrücklich auf Buch 10 hin: Spec. uniu. 11, 121 (P, fol. 94raf.): „Sed quoniam de his superius locuti sumus in tractatu de iustitia, nunc supersedemus.“ 190 Zur Gerechtigkeit vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 338–352.
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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führungen zum ‚cultus‘ in Buch 11 (c. 121.122) müssen deshalb als eine Zusammenfassung der Ausführungen in Buch 10 angesehen werden und sind ohne diese nur eingeschränkt verständlich. Daher sind im Folgenden immer wieder kleine Exkurse notwendig. Die entsprechenden Kapitel sind in Buch 10 erneut im Bereich der ‚officia iustitie euangelie‘ (c. 7–26) zu finden; dies ist auch nicht weiter überraschend, da Radulfus Ardens an dieser Stelle die Frage behandelt, wie man sich wem gegenüber verhalten soll. Dabei nennt er zunächst alle 19 Pflichten im Überblick (c. 7), um dann im Anschluss die ‚officia‘ gegenüber Gott (c. 8), gegenüber sich selbst (c. 9) und gegenüber den Mitmenschen (c. 10–26) darzustellen. Daraus ergibt sich, dass das Kapitel 8 für den ‚cultus debitus creatori‘ und die Kapitel 9–26 für den ‚cultus debitus creature rationali‘ inhaltlich von Interesse sind. Diese Beobachtung bestätigt, dass es insgesamt zahlreiche Bezugspunkte zwischen ‚caritas‘ und ‚iustitia‘ gibt – ein Umstand, der sich bereits bei der Rekonstruktion der ‚communitas‘ gezeigt hat. Da nun die relevanten Textstellen für den ‚cultus‘ klar abgegrenzt wurden, werden nun seine beiden Aspekte erläutert. – Der ‚cultus debitus creatori‘ wird als die Verehrung definiert, die man ausschließlich Gott schuldet.191 Sowohl in Buch 10 (c. 8) als auch in Buch 11 (c. 121) stellt Radulfus Ardens in einem ersten Schritt Überlegungen zur Bedeutung der Begriffe ‚religio‘, ‚pietas‘ und ‚cultus debitus creatori‘ an, als deren Ergebnis festgehalten werden kann, dass alle drei in diesem Zusammenhang synonym verwendet werden können.192 In einem zweiten Schritt bestimmt er die Bestandteile (bzw. Unterarten) der ‚religio‘: Hier werden die Furcht des Kindes (‚timor filialis‘), der Gehorsam gegenüber den Weisungen Gottes (‚obsecutio mandatorum dei‘) und die herausragende Verehrung (‚ueneratio superexcellens‘) genannt.193 Weitere Informationen dazu müssen Buch 10 entnommen werden, da Kapitel 121 mit dem Hinweis auf diese drei Bestandteile endet. Dabei sind beson-
191 Diese Definition findet sich sowohl in Buch 10 in einer längeren als auch in Buch 11 in einer kürzeren Fassung: Spec. uniu. 10, 8 (CCM 241A, p. 521): „Religio uero bona et uera est cultus soli debitus deitati. Hic autem dicitur latria a greco ‘latreusis’. Hinc et dicitur ydolatria, id est latria ydolis exhibita. Dicitur iterum grece ‘theosebia’, id est pietas Deo exhibita. Religio uero dicitur eo quod nos liget et religet Deo: liget timore, religet etiam amore.“ bzw. ebd. 11, 121 (P, fol. 94ra): „Cultus uero est modus nos habendi prout debemus cuilibet rei rationabili. Hic autem est duplex: alterum quippe debemus creatori, alterum creature rationali.“ 192 Spec. uniu. 11, 121 (P, fol. 94ra): „Et cultus quidem quem Deo debemus, dicitur grece ‘latreusisʼ siue ‘theosebiaʼ, latine uero ‘religioʼ siue ‘pietasʼ. Ceterum hoc nomen ‘pietasʼ tripliciter accipi solet. Dicitur enim pietas idem quandoque, quod misericordia que est in miserabiles personas, quandoque uero dicitur pietas quedam affectuositas quam habet aliquis naturaliter in parentes et in eos qui sibi sanguine uincti sunt. Quandoque uero dicitur pietas idem quod et religio […]“; vgl. analog dazu ebd. 10, 8 (CCM 241A, p. 519–524). 193 Spec. uniu. 11, 121 (P, fol. 94ra): „Religio igitur pietas in tribus consistit: In Dei timore, in obsecutione, in ueneratione; in timore filiali, in obsecutione mandatorum Dei, in ueneratione superexcellenti“; vgl. analog dazu ebd. 10, 8 (CCM 241A, p. 519–524).
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
ders die Erläuterungen zum ‚timor filialis‘ interessant. Radulfus Ardens führt nämlich aus, dass man Gott mit Liebe fürchten und ihn mit Furcht lieben muss; fehlt die Liebe, wird der Mensch zum Sklaven und verliert den Anspruch auf die ihm verheißenen Güter, fehlt aber die Furcht, wird er sorglos und nachlässig.194 Dieser Bestimmung liegt eine komplementäre Struktur zugrunde und sie ist als Vorverweis auf Buch 11 zu werten; dort wird der ‚timor filialis‘ in Kapitel 131 behandelt. Auch zu den lasterhaften Formen der Verehrung Gottes äußert er sich: Hat sie nämlich nur rein äußerlichen Charakter – hierzu führt er das Beispiel ritueller Waschungen an –, handelt es sich um überflüssige Verehrung (‚religio superuacua‘); sind gute Ansätze vorhanden, ohne dass es gelingt, sich ganz auf Gott auszurichten, spricht er von ungenügender Verehrung (‚religio insufficiens‘); die schlechte und gänzlich zu verurteilende Form der Verehrung (‚religio mala‘) ist dadurch gekennzeichnet, dass göttliche Vorschriften im Hinblick auf menschliche Bedürfnisse uminterpretiert und verfälscht werden. Es zeigt sich also an diesen Ausführungen, dass Radulfs Ardens beim ‚cultus debitus creatori‘ eine ganzheitliche Hinwendung zu Gott vor Augen steht, die sich auch im Zwischenmenschlichen niederschlägt. – Diesen Bereich deckt der ‚cultus debitus creature rationali‘ ab. Streng genommen ist er aber nicht nur auf den Menschen, sondern auf alle vernunftbegabten Geschöpfe bezogen und wird daher in vier Aspekte aufgeteilt:195 Erstens schulden wir uns selbst Verehrung, die als Reinheit (‚puritas‘) definiert wird. Diese kann man nur durch die Reinheit des Herzens (‚munditia cordis‘), die Wahrheit der Rede (‚ueritas oris‘) und die Richtigkeit der Tat (‚rectitudo operis‘) bewahren.196 Das erste Element dieser Aufzählung bezieht sich dabei offensichtlich auf die Ethik des Inneren Menschen, das zweite auf Buch 13 und das dritte ist als Hinweis auf das fehlende Buch 15 zu werten. Zweitens schulden wir den Engeln und Heiligen Verehrung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass wir sie aus Dank für ihre Bemühungen um uns lieben (‚dilectio‘), dass wir ihre Ratschläge annehmen (‚acquisitio‘) und dass wir ihre Gedenktage feiern (‚ueneratio‘). Die dritte Form der Verehrung bezieht sich schließlich auf die Mitmenschen, denen 194 Spec. uniu. 10, 8 (CCM 241A, p. 521): „Filialiter Deum timemus, quando eum timemus cum dilectione et diligimus cum timore, utrumque enim necessarium est. Nam sicut timor sine dilectione facit hominem seruum et exheredem, sic dilectio sine timore facit eum securum et negligentem.“ 195 Spec. uniu. 11, 122 (P, fol. 94rb): „Cultus uero debitus rationali creature […] autem quadruplex est. Nam alium cultum debemus nobis, alium angelis et sanctis qui iam sunt in patria, alium hominibus qui adhuc laborant in uia, alium defunctis fidelibus quorum salus nobis est incerta.“ 196 Spec. uniu. 11, 122 (P, fol. 94rb): „Porro cultus quem nobisipsis debemus, in tribus consistit: in munditia cordis, in ueritate oris, in rectitudine operationis. Sed quia de hiis superius explanauimus, hic tacemus“; vgl. analog dazu ebd. 10, 9 (CCM 241A, p. 525): „Porro puritas alia est cordis, alia est oris, alia est actionis. Prima est munditia cordis, secunda ueritas oris, tertia rectitudo actionis. Hec tria nos sanctos efficiunt et ad eternam beatitudinem nos perducunt.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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wir mit Liebe (‚dilectio‘), Respekt (‚reuerentia‘) und Hilfsbereitschaft (‚ops‘) begegnen müssen. Radulfus Ardens verweist bezüglich der Nächstenliebe allgemein auf die ersten Kapitel von Buch 11, zudem stehen hier auch sicherlich die 17 Gerechtigkeitspflichten gegenüber dem Nächsten im Hintergrund, auch wenn er sie nicht explizit erwähnt. Viertens schulden wir auch den Verstorbenen Verehrung. Sie gliedert sich in die drei Bestandteile ‚dilectio‘, ‚ueneratio‘, ‚opitulatio‘. Damit ist hauptsächlich liebendes Andenken, Pflege der Gräber und fürbittendes Gebet gemeint.197 Wie bereits erwähnt, besitzt der ‚cultus debitus creature rationali‘ keine Komplementärtugend. Dabei scheint auf den ersten Blick durchaus ein komplementäres Gegenstück denkbar, das bspw. dafür Sorge tragen könnte, dass sich die Verehrung gegenüber den Mitmenschen nicht derart übersteigert, dass Gott aus dem Blick gerät oder dass man Feinden gegenüber auch mit entsprechender Härte reagieren müsste. Solche Gedankenspiele würden allerdings dem Wesen der Verehrung nicht gerecht werden. Ihre Aufgabe besteht ja darin, die existentielle Erfahrung, dass man mit Gütern beschenkt wurde, zum Moment des eigenen Verhaltens zu machen. Bei einer solchen Haltung kann es kein Übermaß geben.
2.1.5 Zusammenfassung und Übersicht zu den Tochtertugenden der Liebe und ihre weitere Unterteilung in Unterarten Nachdem die drei Tugendgruppen, die aus der ‚caritas‘ hervorgehen, in ihren Einzelheiten besprochen wurden, bietet es sich zum Abschluss dieses Kapitels an, die Ergebnisse noch einmal schlaglichtartig zu beleuchten. Außerdem wird in einem Schaubild die komplexe Struktur der dritten Gliederungsebene in ihrer Gesamtheit dargestellt.198 Insgesamt lassen sich sechs wichtige Punkte festhalten: (1) Von den insgesamt 17 Tochtertugenden, die aus der Gottes- und Nächstenliebe entstehen, haben nur drei eine Komplementärtugend (diese wurden in der Übersicht durch Nummern hervorgehoben). Bei einer weiteren (der ‚amicitia‘) werden nur ‚termini‘, jedoch keine Komplementärtugend bestimmt. Von den übrigen 13 sind zehn auf Gott bezogen und benötigen daher kein komplementä-
197 Spec. uniu. 11, 122 (P, fol. 94rb): „Cultus uero quem debemus angelis et sanctis, qui in patria sunt, in tribus consistit: in dilectione, in acquisitione, in ueneratione.“ 198 Der Übersichtlichkeit halber wurden drei Informationen nicht abgebildet: Erstens gehen die aufgeführten Komplementärtugenden zu den einzelnen Tochtertugenden der Liebe gegenüber dem Nächsten aus dem Hass auf die Sünden und Laster des Anderen hervor. Zweitens sind – anders als in den Übersichten zu den einzelnen Komplementärtugendpaaren – die zu den Komplementärtugenden gehörigen Laster nicht aufgeführt. Drittens fehlen die Angaben der Kapitelzahlen, die sich in den Schaubildern zu den drei Tugendgruppen finden.
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(6)
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
res Gegenstück. Warum den verbleibenden drei keine Komplementärtugend zugewiesen wird, erklärt Radulfus Ardens nicht explizit. Als Erklärung dafür liegt die Überlegung nahe, dass es auch bei der Nächstenliebe prinzipiell kein ‚zu viel‘ gibt. Da aber im Hier und Jetzt die Ressourcen knapp sind bzw. das Leben in der Welt durch Sünden und Laster erschwert wird, ist die Nächstenliebe faktisch in einigen Bereichen auf ein Korrektiv angewiesen. Der Entwurf des Radulfus Ardens erscheint insgesamt schlüssig; allerdings treten gelegentlich – wie an den Beispielen der ‚amicitia‘ und der ‚communitas‘ deutlich wurde – systematische Unklarheiten zutage. Ob es sich dabei um konzeptionelle Brüche handelt oder ob daran sichtbar wird, dass Buch 11 unvollendet ist, lässt sich nicht abschließend klären. Im Verlauf des Textes finden sich immer wieder Hinweise auf die gegenseitige Durchdringung der Tugenden. Im Bereich der Töchter der ‚caritas‘ fallen dabei besonders – wie bei ‚communitas‘ und ‚cultus‘ – die Bezugspunkte zwischen Liebe und Gerechtigkeit auf. Es zeigt sich, dass Radulfus Ardens manchmal auch bei Themen, die nicht direkt mit seinem tugendethischen Ansatz zusammenhängen, komplementäre Sprache verwendet. Hier sind in erster Linie die eschatologischen Gedankengänge in Zusammenhang mit dem ‚desiderium‘ zu nennen. Sowohl bei der Darstellung der ‚amicitia‘ in Buch 11 als auch bei den Überlegungen zur ‚communitas‘ in Buch 10 findet sich an entsprechender Stelle ein Hinweis auf eine ‚epistola de uera amicitia‘. Diese sehr konkreten Verweise können daher als Indiz dafür gewertet werde, dass dieser (wohl in Versen abgefasste) Brief tatsächlich existierte und vor der Abfassung von Buch 10 bereits vollendet war.
caritas in deum
caritas in proximum
deuotio
gratitudo
uotum
benignitas (1)
beneficentia ↔ parsimonia
gratitudo erga deum obsecutio inuisceratio
(2) (3)
gratitudo erga proximum / ↔ bona ingratitudo bona gratitudo
delectatio laudatio
cultus duplex
desiderium
cultus debitus creatori
agonizatio
cultus debitus creature rationali
Abb. 21: Überblick über die Einzeltugenden im Bereich der Liebe.
bona concordia amicitia amicum minus diligere quam nos et magis quam cetera cuncta
communitas
↔
bona discordia
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Wie bereits erwähnt, werden zwei der 17 Tochtertugenden der Nächstenliebe nochmals auf einer vierten Gliederungsebene in Vielzahl von Unterarten (‚species‘) aufgeteilt – nämlich die Güte (‚benignitas‘) und die Wohltätigkeit (‚beneficentia‘). Der Vollständigkeit halber ist aber im Hinblick auf die Wohltätigkeit zu erwähnen, dass hier eigentlich nicht die Tugend selbst untergliedert wird, sondern vielmehr ihr Gegenstand, die Wohltat (‚beneficium‘). Auf der vierten Gliederungsebene treten zwei der drei bekannten Kategorien von Tugenden wieder auf: Zum einen finden sich dort Tugenden, bei denen die jeweilige Komplementärtugend direkt benannt wird, zum anderen kommen aber auch eine ganze Reihe von Tugenden vor, bei denen – ähnlich wie bei der ‚amicitia‘ – die ‚termini‘ ohne vorherige Bestimmung einer Komplementärtugend festgelegt werden. Auf den ersten Blick fällt auf, dass dieser Bereich einen bemerkenswert großen Raum von Buch 11 einnimmt. Dabei übertreffen die Ausführungen zu den Unterarten der Wohltätigkeit mit 52 Kapiteln (c. 46–97) noch einmal deutlich diejenigen zu den Unterarten der Güte, die immerhin 18 Kapitel (c. 28–45) umfassen. In jedem der beiden Bereiche sticht jeweils ein Themenblock besonders heraus: Bei der ‚benignitas‘ wird der Neid (‚inuidia‘), das ‚uitium contrarium‘ des Mitfreuens, in auffälliger Ausführlichkeit besprochen (c. 32–37); in Zusammenhang mit der ‚beneficentia‘ wird der Begriff der Wohltat genauer in den Blick genommen. Dieser Abschnitt, der aus insgesamt 50 Kapiteln (c. 47–96) besteht, bildet den Traktat über das Almosen (‚de elemosina‘). Im Folgenden werden zuerst die ‚species‘ der Güte, dann die der Wohltätigkeit beschrieben.
2.1.6 Die ‚species‘ aus dem Bereich der Güte In Kapitel 28 bespricht Radulfus Ardens die ‚benignitas‘, zählt aber auch schon ihre Unterarten auf. Er nennt insgesamt sechs: die Vermeidung des Anstoßes (‚euitatio scandali‘), die Breite der Liebe (‚latitudo caritatis‘), das Mitfreuen (‚congratulatio‘), das Mitleid bzw. die Barmherzigkeit (‚compassio‘ bzw. ‚misericordia‘), das Mitherabsteigen (‚condescensio‘) und die freiwillige Unterordnung (‚uoluntaria subiectio‘). Zudem äußert er sich zu den Aufgabenfeldern dieser Tugenden: Durch die Vermeidung des Anstoßes geben wir niemandem Anlass zu Anstoß bzw. zum Fall, durch die Breite der Liebe haben wir den Nutzen für alle im Auge, durch die Mitfreude freuen wir uns mit unserem Nächsten, durch das Mitleid leiden wir mit ihm, durch das Mitherabsteigen nehmen wir Anteil am Leben niedrig stehender Menschen und durch die freiwillige Unterordnung sind wir bereit, uns aus Liebe unterzuordnen.199 Diese noch sehr allgemeinen Aussagen werden in den folgenden
199 Spec. uniu. 11, 28 (P, fol. 70va): „Benignitatis uero sex sunt species uidelicet scandali euitatio, dilectionis latitudo, congratulatio, misericordia siue compassio, condescensio, uoluntaria subiec-
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Kapiteln konkretisiert. In den nächsten Abschnitten wird nacheinander untersucht, wie diese sechs Tugenden, die im unten angefügten Schema abgebildet sind, systematisch im Entwurf von Buch 11 verortet sind und wo sich neue Komplementärtugenden finden oder zumindest komplementäre Strukturen angedeutet werden. euitatio scandali (c. 29) latitudo caritatis (c. 30) congratulatio (c. 31) benignitas (c. 28) compassio / misericordia (c. 38.39) condescensio (c. 41.42) uoluntaria subiectio (c. 44) Abb. 22: Die Arten der Güte.
2.1.6.1 ‚euitatio scandali‘ Inwieweit ist ein Verhalten, das niemandem einen Anlass zum Anstoß bietet, eine Tugend? Damit ist nicht gemeint, den Umgang mit den Mitmenschen um jeden Preis ‚glatt‘ und ohne Widerstände zu gestalten. Was Radulfus Ardens darunter versteht, ergibt sich daraus, wie er den Begriff ‚scandalum‘ in Kapitel 29 definiert: Dem Nächsten einen Anlass zum Anstoß zu geben, bedeutet, ihn (im moralischen Sinne) zu Fall zu bringen.200 Diese Verhaltensweise wird im Verlauf des Kapitels weiter beschrieben und durch Beispiele veranschaulicht: Zum einen ist damit verbunden, im gesellschaftlichen Bereich nicht wegen Kleinigkeiten für Unruhe und Empörung zu sorgen. Diesbezüglich verweist er auf mehrere biblische Episoden, u. a. Mt 17, 24–27 (Jesus und Petrus entrichten auf Nachfrage die Tempelsteuer), Act 16, 1–5 (Beschneidung des Timotheus aus Rücksicht auf die Juden) und Rm 14, 20 f. (Paulus ruft dazu auf, sich an die jüdischen Speisegesetze anzupassen).201 Zum anderen darf man weder durch Worte noch durch Taten ein schlechtes Vorbild sein, durch das andere vom rechen Weg abgebracht werden.202 Dazu zählt nach seinem Vertio. Porro per primam neminem offendimus, per secundam omnibus utilia uolumus et querimus, per tertiam gaudentibus congaudemus, per quartam patientibus compatimur, per quintam minoribus condescendimus, per sextam cuilibet ex dilectione nos humiliamus.“ 200 Spec. uniu. 11, 29 (P, fol. 70va): „Itaque prima species benignitatis est scandali euitatio. Dicitur autem scandalum a greco ‘scalon’ quod interpretatur offendiculum siue pedis impactio. Est ergo fratrem scandalizare ei occasionem ruine dare, huius uitande Dominus in seipso nobis exemplum dedit.“ 201 Vgl. dazu Spec. uniu. 11, 29 (P, fol. 70vaf.). 202 Spec. uniu. 11, 29 (P, fol. 70vb): „ Quicumque igitur speciem sanctitatis habens uerbo et exemplo ceteros destruit melius esset ei, ut eum sub exteriori habitu ad mortem terreni actus constringerent, quia si solus caderet tolerabilior eum pena cruciaret.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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ständnis auch, dass man einfache, aber fromme und aufrichtige Menschen mit abstrakten und abgehobenen Spekulationen über theologische Themen überfordert und verunsichert.203 Wie bereits erwähnt, besteht das Ziel dieser Tugend keinesfalls darin, ohne Konflikte durchs Leben zu kommen. Vielmehr muss in jeder Lebenssituation erneut abgewogen werden, ob größere Werte im Hintergrund stehen, für die man (notfalls auch im Streit) einstehen muss, oder ob es sich um vernachlässigbare Kleinigkeiten handelt. Auf diese Weise legt Radulfus Ardens auch ihre ‚termini‘ fest: Man muss kleine, nicht notwendige Güter vernachlässigen, ohne dass dabei durch Unachtsamkeit auch größere und möglicherweise heilsnotwendige Dinge aus dem Blick geraten. Die wichtigen Güter darf man aber auch nicht so verbissen verteidigen, dass sich eine solche Bereitschaft zum Streit auf Bereiche ausdehnt, in denen sie mehr Schaden anrichtet, als dass sie nützt.204 Obwohl sich aus diesen Ausführungen ohne Probleme ein Komplementärtugendpaar ableiten ließe, äußert sich Radulfus Ardens nicht in diese Richtung, sondern begnügt sich mit der Bestimmung der ‚termini‘. So könnte man der Vermeidung des Anstoßes eine Bereitschaft zum Einstehen für fundamentale Werte bzw. das Anstoßnehmen am Bösen als Komplementärtugend zur Seite stellen, die im Notfall auch vor Konflikten mit anderen Menschen nicht zurückschreckt. Eine solche Tugend könnte auch gut von der Komplementärtugend der Nächstenliebe – dem Hass auf die Sünden und Laster des anderen – abgeleitet werden. Dazugehörige Laster ließen sich ebenfalls benennen: Eine negative Übersteigerung der ‚euitatio scandali‘ wäre bspw. eine übertriebene und allzu ‚glatte‘ Höflichkeit bzw. eine Scheu vor Konflikten; auf der anderen Seite könnte die Streitsucht stehen. Dass solche Überlegungen aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Hintergrund standen, zeigt sich daran, dass Radul-
203 Spec. uniu. 11, 29 (P, fol. 70vb): „ Item in Exodo: Si quis apparuerit cisternam et foderit et non operuerit eam cecideritque bos uel asinus in eam, Dominus cisterne reddet pretium iumentorum, id est si quis ad alta sapientie archana perueniens ipsa apud bruta corda audientium non contegit, pene reus adicitur, si per uerba eius munda uel immunda mens capiatur.“ Radulfus Ardens setzt das alttestamentliche Gesetz, das vorscheibt, eine Zisterne am Wegesrand abzudecken (Ex 21, 33 f.) allegorisch in Beziehung zu einem solchen Verhalten. Auf diese Auslegung spielt er bereits in ebd. 9, 51 (CCM 241A, p. 469) an, woran ersichtlich wird, dass ihm dieses Detail offenbar wichtig war: „Quedam quoque quibusdam sunt occultanda, ut ecclesiastica secreta infidelibus et contemptoribus et maiora secreta rudibus. Primum prohibet Dominus dicens: Nolite sanctum dare canibus et margaritas proicere ante porcos. Propter hoc quippe legitur iratus fuisse Dominus regi Ezechie qui thesauros sacre domus Babiloniis ostenderat. Secundum uero prohibet in lege dicens: Si quis aperuerit foueam iuxta uiam et eam non operuerit, si quis transiens ceciderit in eam et mortuus fuerit, reddet animam pro anima. Iuxta uiam aperit foueam qui quibuslibet publicam uiam huius uite ambulantibus exponit diuinorum sacramentorum profunditatem, in quam, si quis simplex errando ceciderit, eius anime ille qui aperuit, reus erit.“ 204 Spec. uniu. 11, 29 (P, fol. 71ra): „Termini uero huius uirtutis sunt sic minora bona propter scandalum euitandum pretermittere, quod maiora et necessaria bona non dimittamus et sic necessaria bona tenere, quod minora prout opportuerit pretermittamus.“
234
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
fus Ardens als ‚uitium contrarium‘ der Vermeidung des Anstoßes die Begierde nennt, andere anzustoßen (‚cupiditas alios scandalizandi‘), und sie als ein teuflisches Laster bezeichnet.205 Somit könnte man aus diesen Bezügen folgendes Komplementärtugendpaar ableiten: Glatte und konfliktscheue Höflichkeit
‚euitatio scandali‘
↔
Anstoßnehmen am Bösen
‚cupiditas alios scandalizandi‘
Es lässt sich also schließen, dass der Textbefund hier durchaus eine komplementäre Struktur anklingen lässt, auch wenn Radulfus Ardens keine konkrete Komplementärtugend benennt. 2.1.6.2 ‚latitudo caritatis‘ Die zweite Unterart der Güte ist die Breite der Liebe.206 Diese Tugend wird in Kapitel 30 behandelt. Im Hintergrund steht dabei die Frage, auf wie viele Menschen und auf welche Personengruppen sich die Nächstenliebe erstreckt. Der Definition nach soll sich die Liebe nicht nur auf den Umgang mit einzelnen, sondern möglichst mit allen Menschen auswirken. Ausdrücklich wird das Gemeinwohl (‚utilitas communis‘) als Ziel benannt.207 Aus den weiteren Ausführungen wird jedoch ersichtlich, dass damit nicht alle Menschen, sondern vielmehr die Gesamtheit der Kirche und der Christenheit gemeint ist.208 Dass diese Tugend auf den innerkirchlichen Bereich beschränkt bleibt, liegt daran, dass sie Radulfus Ardens in erster Linie unter dem Paradigma der Christusnachfolge behandelt: Der gläubige Christ ist dazu aufgerufen, nicht seinen eigenen Interessen zu folgen, sondern sich die Sache Christi – also das Heil für die ganze Menschheit – zu eigen zu machen.209 Diese Aussage wird mithilfe der begrifflichen Unterscheidung in vergängliche (‚bona temporalia‘) und geistige Güter (‚bona spiritualia‘) weiter präzisiert: Bemüht sich der Mensch um Vergängliches, so gerät er automatisch in eine Konkurrenzsituation mit anderen, entfremdet sich von Christus und fügt sich schließlich selbst nur Schaden zu;
205 Spec. uniu. 11, 29 (P, fol. 71ra): „Est autem huius uirtutis contraria cupiditas alios scandalizandi. Est uero uitium diabolicum.“ 206 Spec. uniu. 11, 30 (P, fol. 71ra): „Secunda species benignitatis est latitudo caritatis.“ 207 Spec. uniu. 11, 30 (P, fol. 71ra): „Debemus quippe dilectionem nostram extendere ad singulos et ad uniuersos et omnium communem utilitatem uelle et querere […].“ 208 Spec. uniu. 11, 30 (P, fol. 71ra): „Itaque cum non nostram, sed communem ecclesie utilitatem querimus, que Ihesu Christi sunt, querimus.“ 209 Spec. uniu. 11, 30 (P, fol. 71ra): „[…] queramus que nostra sunt, sed que Ihesu Christi, id est non nostram, sed Ihesu Christi et uoluntatem et gloriam. Est autem uoluntas et gloria Ihesu Christi utilitas communis generis humani. Non enim uenit in hunc mundum querere utilitatem suam, sed nostram.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
235
richtet er sein Leben aber nach dem geistigen Heil aus, verwirklicht er zusammen mit seinem Wohlergehen auch gleichzeitig das seiner Mitmenschen.210 Als ‚uitium contrarium‘ der ‚latitudo caritatis‘ nennt er die egoistische bzw. narzisstische Selbstliebe (‚sui solius dilectio‘).211 Zudem bestimmt er ihre ‚termini‘ mit der Aufforderung, sich nur in dem Maß um den Nutzen des Nächsten zu bemühen, dass der eigene nicht vernachlässigt wird.212 Diese Formulierung erinnert nicht nur zufällig an die ‚termini‘ der ‚amicitia‘ und auch hier äußert er sich nicht zu einer Komplementärtugend. Auch bei der Breite der Liebe stellt sich daher das Problem, dass ihr ein bestimmtes Maß zugewiesen wird, ohne dass ihr eine Komplementärtugend zur Seite steht, die dies erst ermöglichen würde. Außerdem fällt es hier – im Unterschied zur ‚euitatio scandali‘ – deutlich schwerer, aus den vorhandenen Informationen einen komplementären Bezugspunkt zu erschließen. Man könnte mutmaßen, dass der ‚latitudo‘ auch eine gewisse Beschränkung in Hinblick auf die begrenzten Möglichkeiten des Diesseits entgegengestellt werden müsste, die allerdings im Idealzustand nicht notwendig wäre. Die lasterhaften Übertreibungen wären demzufolge auf der einen Seite die bei Radulfus Ardens erwähnte egoistisch-egozentrische Selbstliebe, auf der anderen Seite ein Verhalten, das die eigenen Möglichkeiten so erschöpft, dass die Existenzgrundlage bedroht wird. Daraus würde sich das folgende Komplementärtugendpaar ergeben:
‚propriam utilitatem neglegere‘
‚latitudo caritatis‘
↔
‚propriam utilitatem non neglegere‘
‚sui solius dilectio‘
Ob solche Überlegungen mit dem Wesen der ‚latitudo caritatis‘, die ja in erster Linie auf die Verwirklichung der ‚bona spiritualia‘ abzielt, tatsächlich vereinbar sind, ist aber zweifelhaft. Vor dem Hintergrund der Bestimmung, dass sich durch die Bemühung um das eigene geistige Wohl auch das der Mitmenschen vermehrt, erscheint es eher so, als ob die ‚latitudo caritatis‘ eine Tugend ist, bei der es kein Übermaß gibt. Dann wäre allerdings unverständlich, warum Radulfus Ardens hier ‚termini‘ festlegt. Auch an dieser Stelle kommen also systematische Fragen auf, die sich nur bedingt klären lassen.
210 Spec. uniu. 11, 30 (P, fol. 71rb): „Porro que sua sunt, querunt et non que Ihesu Christi, qui suam tantum utilitatem et gloriam temporalem querunt. Qui enim suam utilitatem spiritualem et diligit et querit, proculdubio communem proximorum utilitatem et diligit et querit.“ 211 Spec. uniu. 11, 30 (P, fol. 71rb): „Est autem huic uirtuti contraria sui solius dilectio id est diligere et querere tantum suam utilitatem, non alienam, que sua sunt, non que Ihesu Christi.“ 212 Spec. uniu. 11, 30 (P, fol. 71rb): „Sunt autem huius uirtutis termini sic intendere proximi utilitati quod propriam non negligamus et sic intendere proprie, quod utilitatem proximi procuremus.“
236
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
2.1.6.3 ‚congratulatio‘ Wie bereits angedeutet, nehmen Ausführungen zur Tugend des Mitfreuens mit sieben Kapiteln (c. 31–37) im Vergleich zu den beiden vorher (jeweils ein Kapitel) und den drei danach (jeweils drei bzw. zwei Kapitel) dargestellten Tugenden auffallend viel Raum ein. Allerdings ist Radulfus Ardens offensichtlich nicht in erster Linie an der Tugend selbst interessiert, sondern vielmehr an ihrem ‚uitium contrarium‘, dem Neid (‚inuidia‘); so bespricht er die ‚congratulatio‘ lediglich in Kapitel 31 und widmet die übrigen sechs Kapitel dem Neid. Dass er dabei bewusst einen thematischen Schwerpunkt setzt, zeigt sich bereits daran, dass er den Passus über den Neid mithilfe von sieben Leitfragen vorstrukturiert:213
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
‚quid sit inuidia?‘ ‚quantum uitium inuidia sit?‘ ‚unde oriatur inuidia?‘ ‚quales quibus inuideant?‘ ‚quot sint species inuidie?‘ ‚quanta uitia ex inuidia oriantur?‘ ‚quomodo inuidie resistatur?‘
) (c. 32) (c. 33) (c. 34) (c. 35) (c. 36) (c. 37)
Warum beschäftigt sich Radulfus Ardens so ausführlich mit dem Laster des Neides? Der Grund dafür lässt sich aus dem weiteren Verlauf von Buch 11 erschließen: So wird auch der Zorn (c. 146–155) in auffälliger Ausführlichkeit behandelt wird. Die Gemeinsamkeit von ‚inuidia‘ und ‚ira‘ besteht darin, dass es sich in beiden Fällen um besonders schwerwiegende Laster (‚uitia criminalia‘)214 handelt, die seit der Zeit der Kirchenväter unter die sieben Todsünden gezählt wurden und daher in der Tradition auch einen großen Stellenwert einnehmen, der sich hier in der Gliederung des Speculum universale abbildet. Im Folgenden wird entsprechend der Anordnung, die Radulfus Ardens gewählt hat, zunächst die Tugend des Mitfreuens porträtiert, um im Anschluss daran den Neid zu erläutern. An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass die Ausführungen über das Mitleid (‚compassio‘), die als vierte Unterart der Güte direkt im Anschluss behandelt wird, mit den Kapiteln über das Mitfreuen und den Neid systematisch in einer engen Verbindung stehen. Das Bild, das sich aus dem Textbefund dieses Abschnitts (c. 31– 40) ergibt, ist komplex und wirft viele Fragen auf. Radulfus Ardens deutet insgesamt drei komplementäre Strukturen an, die sich einerseits ergänzen und aufeinander aufbauen, sich andererseits aber auch an einigen Stellen widersprechen: Die erste setzt
213 Spec. uniu. 11, 32 (P, fol. 71va): „Inspiciendum est igitur quod et quantum uitium est, unde oriatur, quales quibus inuideant, quot sint eius species, quanta uitia ex ea oriantur, quomodo ei resistatur.“ 214 Im Fall des Neides erwähnt er diese Tatsache ausdrücklich: Spec. uniu. 11, 32 (P, fol. 71va): „Sane bone congratulationi est opposita inuidia que de septem criminalibus uitiis unum est.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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die Mitfreude mit dem Mittrauern (‚contristatio‘) ins Verhältnis, während die zweite das Mitfreuen dem Neid gegenüberstellt. Die dritte deutet schließlich eine systematische Synthese der gesamten Ausführungen über die beiden Tugenden des Mitfreuens und des Mitleides bzw. der Barmherzigkeit an. Die Gedankengänge werden Schritt für Schritt nachgezeichnet und zur Veranschaulichung schematisch dargestellt. (1) Zu Beginn von Kapitel 31 wird die ‚congratulatio‘ als dritte Unterart der Güte benannt und sogleich definiert: Ihr Wesen besteht darin, sich an den Gütern der Mitmenschen zu erfreuen.215 Wie die ‚latitudo caritatis‘ bleibt auch sie im eschatologischen Kontext erhalten und bewirkt, dass alle Erlösten den gleichen Anteil an den Gütern haben und diese in vollkommener Gleichmäßigkeit (‚equalitas‘) aufgeteilt werden.216 Prinzipiell erfüllt sie diese Funktion auch schon im Diesseits: Wer sich nämlich ehrlich an den Gütern seiner Mitmenschen erfreut, als ob es seine eigenen wären, macht sich diese auch selbst zu Eigen. Allerdings ist die ‚congratulatio‘ unter den Bedingungen des diesseitigen Lebens eingeschränkt, die keine vollkommene ‚equalitas‘ ermöglichen. Dennoch hat der Mensch dreifachen Anteil am Gut seines Nächsten: durch die Liebe (‚per amorem‘), die das Glück des anderen anteilig in eigenes verwandelt; durch das gute Beispiel (‚per exempli assumptionem‘), das einen Anreiz schafft, sich das Gut selbst anzueignen; drittens dadurch, dass uns der andere mit seinen durch das Gut erworbenen Möglichkeiten zu Hilfe kommt (‚per opitulationem‘).217 Radulfus Ardens differenziert die ‚congratulatio‘ jedoch noch weiter aus: Nicht jede Form des Mitfreuens ist gut. So gibt es neben der ‚congratulatio bona‘ auch eine ‚congratulatio mala‘ sowie eine ‚congratulatio uana‘. Was ist damit gemeint? Das schlechte Mitfreuen bestimmt sich dadurch, dass etwas Schlechtes die Ursache der Freude ist.218 Die wertlose Mitfreude ist dadurch gekennzeichnet, dass sich jemand über Dinge freut, die bedeutungslos sind und in den Bereich des ‚contemptus‘ fallen. Als Beispiel dafür nennt er die Mitfreude über vergänglichen bzw. materiellen Besitz. Ein Übermaß dieser ‚congratulatio uana‘ kann sogar dazu führen, dass daraus Laster wie Gier (‚gulositas‘), Wollust (‚libido‘) oder Missgunst (‚maleuolentia‘) entstehen. Von daher muss man über solche Dinge eher traurig sein
215 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71rb): „Tertia species est congratulatio, id est de bonis proximorum nostrorum exultatio.“ 216 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71rb): „Hec autem caritas facit in celesti patria beatitudinis equalitatem, ubi singuli sanctorum de aliorum bonis tamquam de suis exultant.“ 217 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71rb): „Habemus quippe illud per amorem, per exempli assumptionem, per illam quam de illo bono facit nobis opitulationem […].“ Ähnlich äußert sich Radulfus Ardens auch in Zusammenhang mit der Tugend des Wetteifers (‚emulatio‘) in Kapitel 142; vgl. dazu ebd. 11, 142 (P, fol. 99rb): „Si enim uere proximum diligeret, uere in eo uirtutem amaret et sic non penitus sine illa uirtute esset, quam in proximo diligeret et sic tandem ad eam consequendam merito caritatis perueniret.“ 218 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71va): „Aduertendum tamen est quod quidam gaudent male, quidam uane, quidam bene. Porro male gaudent, qui gaudent de malo, quibus non est congaudendum, sed potius compatiendum.“
238
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
und mit dem Nächsten mitleiden (‚compati‘), dem unter Umständen gar nicht bewusst ist, dass er seinen Lastern unterworfen ist.219 Hält sich die Freude daran allerdings im rechten Maß und werden die entsprechenden Gegenstände gut (bspw. für wohltätige Werke) eingesetzt, ist sie durchaus als eine Form der guten Mitfreude anzusehen.220 Bei dieser Unterscheidung ist auffällig, dass die ‚congratualtio uana‘ nicht ausschließlich schlecht ist (‚de uano uane congratulari‘), sondern im richtigen Maß auch gut sein kann (‚de uano bene congratulari‘). Diese Zweiteilung ergibt sich dabei aus der Aufteilung einerseits in materielle Güter, die an sich zwar wertlos (‚uana‘) sind, aber für gute Zwecke eingesetzt werden können, und andererseits in geistige Güter, die an sich erstrebenswert sind. Dadurch erklärt sich auch, dass die gute Mitfreude eigentlich ausschließlich auf das geistige Vorankommen bezogen ist.221 Im Anschluss an diese Gedankengänge werden die ‚termini‘ der Tugend bestimmt, die zum einen davor warnen, undifferenziert an jeder Freude des Nächsten teilzuhaben. Denn ebenso, wie man an seiner guten Freude Anteil haben soll, gilt es, über seine wertlose oder gar schlechte Freude traurig zu sein (‚contristari‘). Zum anderen soll man aber auch nicht allzu skeptisch sein, wenn es darum geht, sich mit den Mitmenschen zu freuen.222 Somit ließe sich z. B. das gemeinsame Bedauern darüber, dass eine schlechte Tat nicht gelungen ist, oder aber übertriebene Kritik an der schlechten bzw. wertlosen Freude des Nächsten als entgegengesetztes Laster der ‚congratulatio bona‘ ansehen. Dieser Befund lässt Ansatzpunkte für ein Komplementärtugendpaar ausmachen, da die ‚congratultio mala‘ als lasterhafte Übertreibung des Mitfreuens und das ‚contristari malo uel uano gaudio‘ als Komplementärtugend der ‚congratulatio bona‘ angesehen werden könnte: ‚congratulari uano uel malo gaudio‘
‚congratulatio bona‘
↔
‚contristari uano uel malo gaudio‘
Schlechtes / übertriebenes Mittrauern
Im Text lassen sich keine direkten Hinweise darauf finden, aus welcher Quelle das in den ‚termini‘ angedeutete Korrektiv entsteht. Bekanntlich hat die Güte keine
219 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71va): „Vane gaudent, qui de uano et uane gaudent. Sunt autem uana quecumque terrena bona de quibus quidam gaudent uane, dum de habundantia eorum ad hoc gaudent, ut inde gulositati, libidini et male uoluntati sue deseruiant quibus non est congaudendum, sed potius compatiendum.“ 220 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71va): „De uano autem non uane, sed bene gaudet, qui de habundantia temporalium ad hoc gaudet, ut inde Deo gratias agat et ea in Dei seruitio, in operibus misericordie, in ceterisque bonis usibus expendat.“ 221 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71va): „Bene uero gaudent, qui de profectu et salute animarum gaudent.“ 222 Spec. uniu. 11, 31 (P, fol. 71va): „Sunt autem termini congratulationis sic congaudere bono proximi gaudio, quod malo uel uano eius gaudio contristemus et sic contristari malo uel uano eius gaudio, quod bono congaudeamus.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
239
Komplementärtugend, aus der man die Herkunft der ‚compatientia‘ bzw. ‚contristatio‘ erschließen könnte. Es liegt jedoch nahe, dass mit den beiden Verben ‚compati‘ und ‚contristari‘ auf die vierte Unterart der Güte, die ‚compassio‘ verwiesen ist, sodass in den Kapiteln 38–40 diesbezüglich noch weitere Informationen zu erwarten sind. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Radulfus Ardens ansatzweise zwischen der Mitfreude über wertlose und der über böse Dinge unterscheidet, lässt sich der bisherige Textbefund folgendermaßen abbilden:
benignitas
congratulatio mala de uano uane congaudere
?
congratulatio bona de uano bene congaudere
↔
compati / contristari de uano uel malo gaudio
?
Abb. 23: Komplementäre Strukturen im Bereich der Mitfreude.
(2) Zu Beginn des Traktats über den Neid wird die ‚inuidia‘ zunächst als ‚uitium contrarium‘ der ‚congratulatio‘ eingeführt.223 Wie bereits dargestellt, wird sie im Folgenden am Leitfaden von insgesamt sieben Fragen dargestellt. In Kapitel 32 wird der Neid in einer ersten Definition als Kummer definiert, der aus der Begierde nach den Gütern anderer Menschen entsteht;224 von der ersten Definition des Neides ist hier deshalb die Rede, weil in Kapitel 35 noch eine zweite angeführt wird. Sodann beschreibt er ausführlich die negativen Auswirkungen des Neides auf die seelische und körperliche Verfassung des Menschen. Der Neid tilgt in diesem Prozess die Liebe und alle damit verbundenen Tugenden aus und verwurzelt auf der anderen Seite den schlechten Hass fest in der Persönlichkeit. Damit entsteht ein Nährboden für alle Laster. Diese zutiefst negative Eigenschaft gipfelt schließlich darin, dass der Betreffende lieber selbst Schaden in Kauf nimmt, als einem anderen etwas Gutes zu gönnen.225 An dieser Beschreibung wird der Vorgang gut veranschaulicht, in dem die Komplementärtugenden ins Missverhältnis geraten und so sehr die Balance verlieren, dass sie schließlich gänzlich verschwunden sind und die ‚uitia contraria‘ an ihre Stelle treten. Dass der Neid die Liebe auflöst und den schlechten Hass nährt, zeigt zudem,
223 Spec. uniu. 11, 32 (P, fol. 71va): „Sane bone congratulationi est opposita inuidia que de septem criminalibus uitiis unum est.“ 224 Spec. uniu. 11, 32 (P, fol. 71va): „Est igitur inuidia ex alienorum cupiditate bonorum anxietas orta.“ 225 Spec. uniu. 11, 32 (P, fol. 71vb): „Cor excruciat uirtutes omnes excludit, dum matrem omnium uirtutum caritatem extinguit. Omnia uitia nutrit, dum odium fixum quod est peccatum in Spiritum sanctum, in corde custodit. Tanta autem est labes inuidie quod mauult inuidus sibi dampna inferri, quam lucra hac conditione, ut alter habeat duplicia.“
240
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
wie sich bestimmte Laster und Tugenden auf die Eigenschaften und Seelenkräfte auswirken, aus denen sie ursprünglich entstehen. Der Neid erwächst dabei ursprünglich aus dem schlechten Hass. Dabei wird explizit hervorgehoben, dass dieser Entstehungsprozess unter Mithilfe der Bosheit (‚malignitate mediante‘), dem entgegengesetzten Laster der Güte, vonstattengeht.226 Als Ergebnis dieses Vorgangs, bei dem stets Hass, Neid und Begierde (‚cupiditas‘) in verhängnisvoller Weise verwoben sind,227 stellt sich beim Betroffenen eine völlig ins Gegenteil verkehrte Weltsicht ein: Er liebt die Welt, die er eigentlich hassen müsste, und hasst den Nächsten, den er lieben müsste, Freude macht ihm Kummer und Kummer Freude, er freut sich an geistigen Gütern, als ob es fleischliche wären, nutzt das Gute zum Schlechten und will das Schlechte zum Guten nutzen.228 Im Gegensatz zu den meisten anderen ‚uitia‘ bleibt dieses Laster selbst nach dem Tod noch erhalten, wenn es nicht zu Lebzeiten überwunden und von Gott vergeben wird. Gerade daran zeigt sich die Schwere dieses Vergehens, dass sie diejenigen Menschen, die unter ihrem Einfluss stehen, zunächst von Gott und der Welt entfremden und ihnen schließlich auch den Zugang zum Himmelreich unmöglich machen. Anschließend erläutert Radulfus Ardens die Arten (‚species‘) des Neides. Diese Überlegungen sind für die oben erwähnte, zweite komplementäre Struktur, in die ‚congratulatio‘ und ‚inuidia‘ eingebettet werden, von großer Bedeutung und werden daher auch hier im Detail nachgezeichnet. Zu Beginn nennt er zunächst die bereits angekündigte zweite Definition des Neides, die von der in Kapitel 32 angeführten zumindest begrifflich deutlich abweicht; der Neid wird hier nämlich als Schmerz (‚dolor‘) über das Glück (‚prosperitas‘) des Anderen bestimmt. Davon ausgehend unterscheidet er den Begriff des Glücks anhand dreier Bereiche, nämlich dem Bereich der zeitlichen Güter (‚prosperitas temporalium bonorum‘), dem Bereich des schlechten Handelns (‚prosperitas malorum agendorum‘) und dem Bereich geistiger Fortschritte (‚prosperitas spiritualium profectuum‘).229 Die insgesamt fünf ‚species inuidie‘ ergeben sich daraus, dass der Neid, der seinem Wesen nach Schmerz über fremdes Glück ist, anhand von fünf Personenkonstellationen zu diesen drei Bereichen ins Verhältnis gesetzt wird. Dabei sind drei der ‚species‘ schlecht und zwei gut: Die ersten zwei schlechten Arten des Neides behandelt Radulfus Ardens sehr knapp. Beide beziehen sich auf den Bereich des materiellen Glücks: Erstens ist es schlecht, wenn man auf den materiellen Wohlstand des
226 Spec. uniu. 11, 33 (P, fol. 71vb): „In hominibus uero originaliter oritur ex malignitate et ea mediante ex odio malo […].“ 227 Spec. uniu. 11, 33 (P, fol. 71vb): „Semper tamen se comittantur cupiditas inuidia et odium et si perpetua est cupiditas et inuidia perpetuum est et odium.“ 228 Spec. uniu. 11, 33 (P, fol. 71vbf.): „[…] odit fratrem suum qui diligendus est, et ex amore malo qui amat mundum qui odiendus est. […]. Inuidus semper ad gaudia anxius, ad plangendum letus in utroque peruersus […]. Quando autem malo bene usurus est qui etiam bono male utitur.“ 229 Spec. uniu. 11, 35 (P, fol. 72rb): „Cum enim inuidia sit dolor ex aliena prosperitate, prosperitas alia est temporalium bonorum, alia malorum agendorum, alia spiritualium profectuum.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Nächsten neidisch ist und dessen Besitz für sich selbst begehrt; zweitens, wenn man auf das (scheinbare) materielle Glück eines Menschen neidisch ist, das offensichtlich auf der Grundlage böser Taten entstanden ist. Die dritte schlechte Unterart des Neides gehört zum Bereich der geistigen Güter230 und wird ausführlicher dargestellt. Sie besteht darin, den Nächsten um seine geistigen Fortschritte (‚profectus spirituales‘) zu beneiden. Dass damit die Tugenden gemeint sind, ergibt sich aus den folgenden Ausführungen, denn der schlechte Neid im Bereich der geistigen Güter ist keineswegs auf die Tugenden an sich ausgerichtet, sondern begehrt ausschließlich ihre positiven äußeren Begleiterscheinungen, nämlich Anerkennung, Ruhm und Ehre.231 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Radulfus Ardens davon spricht, dass die Tugenden von sich aus ‚inuidia‘ hervorrufen und dabei gute Menschen zum Nacheifern (‚emula‘), schlechte Menschen aber zum Neid (‚inuidia‘) anregen.232 Daraus ergibt sich, dass es gewissermaßen eine gute Form des Neides gibt und dass mit ‚inuidia‘ hier definitiv zwei verschiedene Begriffe gemeint sein müssen. Um die genaue Bedeutung zu treffen, müsste man sagen, dass die Betrachtung fremder Tugenden zunächst eine Form von Eifersucht erzeugt, die dann dazu anregt, sich die Tugenden selbst anzueignen (‚emula‘) oder eben neidisch darauf zu sein (‚inuidia‘). Diese Aussage stellt einen interessanten systematischen Konnex zur Tugend der ‚emulatio‘ her, die in Buch 11 später noch behandelt wird und dort übrigens auch mit dem Neid in Verbindung steht. Diese begrifflich-systematischen Überlegungen bilden die Überleitung zu den beiden guten Arten des Neides. Beide stellen Spezialfälle dar und beziehen sich auf den Bereich des materiellen Glücks. Der Neid ist nämlich erstens dann gut, wenn sich kluge Menschen um Leute sorgen, die durch ihr gegenwärtiges Wohlbefinden leichtsinnig werden und auf den falschen Weg geraten, wovor sie unter Umständen ein kleines Übel bewahren würde.233 Zweitens ist es auch als gut zu werten, wenn ein gerechter Mensch jemandem sein Glück missgönnt, der offensichtlich böse handelt und durch seine momentane bequeme Lebenslage nicht umkehren will.234
230 Alle drei schlechten Arten des Neides werden bestimmt in Spec. uniu. 11, 35 (P, fol. 72rb): „Prior igitur inuidia inuidet terrene prosperitati, secunda prosperitati male agendi, tertia prosperitati spirituali. Prima est mala, secunda peior, tertia pessima.“ 231 Spec. uniu. 11, 35 (P, fol. 72rb): „Mali siquidem inuident bonis non quod cupiant et uelint imitari eorum uirtutes, sed quia cupiunt bonam opinionem, gloriam et honorem, que uirtutes comitantur […].“ 232 Spec. uniu. 11, 35 (P, fol. 72rb): „Virtutes enim cum sint in se inuidiose malis sunt inuide, bonis emule.“ 233 Spec. uniu. 11, 35 (P, fol. 72va): „[…] quarta uero species inuidie est bona, que est, quando spirituales uiri dolent de temporali felicitate lubricorum, quos uident ea eneruari emolliri, inflari et inde precipitari.“ 234 Spec. uniu. 11, 35 (P, fol. 72va): „Quinta quoque species inuidie est bona, quando scilicet iusti inuident malos prosperari in uia sua, qui scilicet letantur, cum malefecerint et exsultant in rebus pessimis.“
242
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Hier wird deutlich, dass diese beiden guten Arten der ‚inuidia‘ mit der herkömmlichen Verwendung des Wortes ‚Neid‘ nur noch vage in Verbindung stehen. Sie sind nur dann verständlich, wenn man die zweite Definition des Neides voraussetzt. Darauf weist übrigens auch Radulfus Ardens selbst am Ende von Kapitel 35 hin und begründet den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Neid systematisch damit, dass die beiden guten Unterarten des Neides eigentlich nicht aus dem Hass, sondern aus der Liebe (‚amor‘) und dem Mitleid (‚compassio‘) entstehen.235 Zusätzlich ließe sich fragen, ob die ‚emulatio‘ nicht systematisch als sechste Unterart des Neides angesehen werden sollte, da sie offensichtlich die gute ‚inuidia‘ im Bereich der geistigen Güter des Nächsten ist. In jedem Fall lassen diese Ausführungen Ansätze einer ausdifferenzierten komplementären Struktur zwischen Mitfreude und Neid erkennen, die Radulfus Ardens allerdings nicht explizit als eine solche bezeichnet. Die folgende Übersicht veranschaulicht diese Zusammenhänge im Detail, wobei auch die drei unterschiedlichen Bereiche der ‚inuidia‘ und die genauere Unterteilung der ‚congratulatio‘ in Kapitel 31 abgebildet wurden: amor (c. 35)
odium bonum (?)
odium malum mediante malignitate (c. 33)
compassio (c. 35) benignitas inutilis (c. 28)
benignitas utilis (c. 28)
congratulatio mala (c. 31)
congratulatio bona (c. 31)
de uano uane congaudere (c. 31)
de uano bene congaudere (c. 31)
↔
inuidere terrene prosperitati bene (c. 35)
inuidere terrene prosperitati male (c. 35)
inuidere male agendi prosperitati bene (c. 35)
inuidere male agendi prosperitati male (c. 35)
emulatio / emula (c. 35)
inuidere spiritualium profectuum prosperitati male (c. 35)
Abb. 24: Die Zusammenhänge zwischen Mitfreude und Neid.
Die Vielzahl der Begriffe und ihre wechselseitigen Bezüge zueinander machen deutlich, dass Radulfus Ardens hier ein hohes Maß an konzeptueller Arbeit geleistet hat, um zu zeigen, wie bedeutsam das Laster des Neides für die Genese der Tugenden und Laster insgesamt ist. Auch dass die Verwobenheit der genannten Verhal-
235 Spec. uniu. 11, 35 (P, fol. 72va): „Improprie tamen hec due species dicuntur inuidie, cum non oriantur ex odio uel ex cupiditate, sed tantum ex amore et ex compassione.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
243
tensweisen ein komplementäres Verhältnis anklingen lässt, tritt deutlich zutage. Allerdings drängen sich mehrere systematische Rückfragen auf: Erstens fällt ins Auge, dass die zwei (bzw. drei) guten Unterarten des Neides nicht aus dem Bereich des guten Hasses entstehen, sondern aus der Liebe. Hier lässt sich die klare systematische Trennung der beiden Bereiche Liebe und Hass nicht aufrechterhalten, aus denen – wäre das Konzept der Komplementärtugend konsequent umgesetzt – eigentlich jeweils eine Tugend und ein Laster hervorgehen müssten. Da der gute Neid aber aus Liebe und Mitleid entsteht, während der schlechte Neid dagegen aus Hass und Bosheit erwächst, sind ‚inuidia bona‘ und ‚inuidia mala‘ im obigen Schema auch durch eine Lücke voneinander getrennt. Zweitens bleibt unklar, ob die ‚compassio‘ als vierte Unterart der Güte tatsächlich ausschließlich (wie es die knappe Formulierung in Kapitel 35 vermuten lässt) aus dem Bereich der Liebe erwächst oder aus dem guten Hass, als der Abwehrhaltung gegen die Leiden bzw. Sünden und Laster des anderen. Intuitiv würde man sie wohl eher dem Hass zuordnen, jedoch trifft Radulfus Ardens an dieser Stelle keine Aussage dazu. Diese Unklarheit lässt sich erst bei der Untersuchung des Mitleidens in den Kapiteln 38–40 bereinigen. Erneut ist hier jedoch anzunehmen, dass es sich nicht um ein strenges Abhängigkeitsverhältnis in nur eine Richtung handelt, sondern sich guter Neid und Mitleiden eher gegenseitig ausformen. Drittens lässt sich schließlich fragen, aus welchem Bereich die beide schlechten Unterarten des Mitfreuens entstehen. Hier ist naheliegend, die Güte, die sich in nicht nützlicher Weise an den Nächsten anpasst, als Quelle anzunehmen. Freilich handelt es sich dabei um Spekulationen, die jedoch dem Zweck dienen, die komplementären Gedankenstrukturen sichtbar zu machen, die den Ausführungen des Radulfus Ardens zugrunde liegen, jedoch allem Anschein nach nicht konsequent zu Ende gedacht bzw. ausgeformt wurden. Diese bisher geschilderten Beobachtungen werden durch Informationen aus den Kapiteln 38–40 noch erweitert und konkretisiert werden. Zunächst jedoch rundet Radulfus Ardens seinen Traktat über den Neid durch die Beantwortung der beiden noch ausstehenden Fragen ab. Im kurzen Kapitel 36 (‚que uitia oriantur ex inuidia‘) betont er noch einmal die Schwere des Lasters der ‚inuidia‘, indem er die Entstehung fast aller Laster auf den Neid als Keimzelle zurückführt. Er nennt insgesamt 17 Laster und Verbrechen, nämlich Hass, Zorn, Trauer, Spott, Verwünschung, Herabsetzung, Lästern, Wettstreit, Streit, Aufstand, Bürgerkrieg, Mord, Verrat, Diebstahl, Auswahl Unwürdiger, Ablehnung Würdiger und Verweigerung von Verdiensten.236 Dieser ausladende Lasterkatalog soll sicherlich in erster Linie deutlich machen, wie massiv die Schäden sind, die der Neid anrichten kann. Abschließend nennt er noch die beiden Heilmittel gegen den Neid, nämlich die Geringschätzung der Welt (‚contemptus mundi‘) und die wahrhaftige Nächstenliebe
236 Spec. uniu. 11, 36 (P, fol. 72va): „Oriuntur ex inuidia uitia fere uniuersa: Odium, ira, tristia, insultatio, imprecatio, detractatio, susurratio, contentio, rixa, seditiones, bella fratricida, homicida, proditiones, furta, indignorum electio, dignorum reprobatio, meritorum denegatio.“
244
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
(‚proximum uere diligere‘).237 Die erstere hilft dabei, den Wert der Dinge, die man begehrt und möglicherweise beneidet, richtig zu beurteilen und schützt v. a. davor, den weltlichen Gütern zu viel Wert beizumessen. Neben dem ‚contemptus mundi‘ spielt hier aber auch die Demut (‚humilitas‘) eine wichtige Rolle, die dafür sorgt, dass man sich selbst nicht zu wichtig nimmt und dem Nächsten den Vortritt lässt. Die Nächstenliebe ermöglicht, sich an den Gütern der anderen Menschen mitzufreuen, anstatt sie zu beneiden. In der Praxis konkretisieren sich diese beiden Tugenden in einem demütigen und wohltätigen Umgang mit den Mitmenschen.238 An diesem Beispiel zeigt sich anschaulich, wie sich die drei affektiven Seelenkräfte gegenseitig austarieren und wie sich Radulfus Ardens ihr Zusammenspiel konkret vorstellt. 2.1.6.4 ‚misericordia‘ / ‚compassio‘ Mit der Barmherzigkeit (‚misericordia‘) bzw. dem Mitleid (‚compassio‘) beschäftigt sich Radulfus Ardens in den Kapiteln 38–40. Obgleich es sich dabei eigentlich um eine eigenständige Unterart der Güte handelt, stehen die Ausführungen in einem engen systematischen Zusammenhang mit der ‚congratulatio‘ und der ‚inuidia‘. Diese Bezüge spiegeln sich schließlich darin wider, dass Mitleid und Mitfreude in Kapitel 40 als Komplementärtugenden bezeichnet werden. Zunächst wird die Barmherzigkeit bzw. das Mitleid definiert: Ihr Wesen besteht jeweils darin, mit den Missgeschicken (‚incommoditates‘) anderer Menschen in gerechter Weise mitzuleiden.239 Die Hinzufügung ‚iuste‘ ist deshalb nötig, da es auch ein ungerechtes Mitleid gibt: Ein Beispiel dafür wäre die Trauer darüber, dass jemand eine geplante böse Tat nicht umsetzen kann.240 Verkehrt wäre es allerdings auch, wenn einen dies völlig kalt lassen würde; vielmehr ist es in einem solchen Fall geboten, Mitleid zu empfinden, ohne sich das Laster des anderen selbst zu eigen zu machen oder anders gesagt: Das Mitleid muss sich hier in der ‚correctio fraterna‘ ausdrücken, die das Wohl des Nächsten im Blick hat, seine Laster und Sünden aber strikt ablehnt.241 An dieser Bestimmung lässt sich eine Verbindung
237 Spec. uniu. 11, 37 (P, fol. 72va): „Sane si in te inuidiam uis extinguere, mundum et ea, que in mundo sunt, contempne et Deum et proximum tuum uere dilige.“ 238 Spec. uniu. 11, 37 (P, fol. 72vaf.): „Si uero uis extinguere inuidiam eorum qui inuident tibi, eis te humilia et eis exhibe beneficia.“ 239 Spec. uniu. 11, 38 (P, fol. 72vb): „Quarta species benignitatis est misericordia siue compassio, que est aliorum incommoditatibus iuste condolere.“ 240 Spec. uniu. 11, 38 (P, fol. 72vbf.): „Et iuste ideo dico, quoniam quidam condolentibus condolent iniuste, ut quando quis dolet, quia dolenda facere non ualet. Si quis in hoc ei consentit uel adiuuat, iniuste ei condolet, quoniam et ipse iniuste dolet.“ 241 Spec. uniu. 11, 38 (P, fol. 73ra): „Cui tamen compatiendum est non ut uitio eius consentiamus, sed ut uitium, quod ignorans patitur in eo corripiamus. Aliter enim iustis, aliter iniustis doloribus compatiendum est. Iustis enim compatiendum est subministrando, iniustis compatiendum est corripiendo.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
245
zwischen Mitleid und gutem Hass erkennen, der ebenfalls nur die Sünden und Laster des Nächsten, nicht aber seine Person ablehnt. Dies wäre ein Indiz dafür, dass diese Tugend zumindest teilweise aus dem Hass entsteht. Dass sie aber auch mit der Liebe in Zusammenhang steht, lässt sich daran ablesen, dass sich Mitleid und Barmherzigkeit neben der Bereitschaft zur Vergebung auch in wohltätigen Werken – also dem Almosen – konkretisieren und so auch mit der Liebe verbunden sind.242 Daraus lässt sich schließen, dass die vierte Unterart der Güte offensichtlich aus dem dynamischen Prozess hervorgeht, in dem sich die beiden Seelenkräften ausbalancieren, und weder ganz der oditiven noch der amativen Seite zugerechnet werden kann. In Zusammenhang mit dieser allgemeinen Beschreibung der Barmherzigkeit und des Mitleidens kommt Radulfus Ardens auch auf ‚misericordia dei‘ zu sprechen. So führt er aus, dass die Gerechtigkeit Gottes seiner Barmherzigkeit und seinem Mitleid entspricht. Überhaupt ist die Barmherzigkeit diejenige Tugend, die das Handeln Gottes gegenüber den Menschen in besonderer Weise kennzeichnet und den Ausgangspunkt für die Menschwerdung Jesu Christi darstellt.243 Diese Aussage lässt danach fragen, in welchem Verhältnis Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zueinanderstehen. Dazu finden sich aufschlusseiche systematische Informationen in Buch 10. Dort behandelt der Autor die ‚misericordia‘ nämlich in Kapitel 18 als elfte Pflicht der Gerechtigkeit des Evangeliums244 und stellt fest, dass sich die Barmherzigkeit von der im Evangelium geforderten Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit Gottes in keiner Weise unterscheiden. Die begriffliche Trennung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit liegt somit nur darin begründet, dass der Begriff ‚iustitia‘ neben der Gerechtigkeit des Evangeliums auch noch den Aspekt der richtenden (bzw. weltlichen) Gerechtigkeit (‚iustitia iudicaria‘ bzw. ‚iustitia retributoria‘) beinhaltet, der natürlich große Unterschiede zur ‚misericordia‘ aufweist.245 Am Ende von Kapitel 18 lässt Radulfus Ardens die Frage anklingen, wie sich die Tugend der Barmherzigkeit gegenüber einzelnen bedürftigen Menschen konkretisieren lässt, behält sich
242 Spec. uniu. 11, 38 (P, fol. 73ra): „Si ergo imitator es Christi, necesse est ut multus sis ad ignoscendum, ut misericordia in opere tuo superexaltet et preponatur seueritati et rigori, ut totum te exinanias et exhaurias in operibus misericordie.“ 243 Spec. uniu. 11, 38 (P, fol. 73ra): „Vnde et nomen misericordie nomini iustitie semper preponitur, ut cum dicitur misericors et miserator et iustus Dominus et uniuerse uie Domini misericordia et ueritas, quoniam multus est ad ignoscendum, cuius proprium est misereri semper et parcere, qui non uult mortem peccatoris sed ut conuertatur et uiuat.“ 244 Zur Gerechtigkeit im Allgemeinen vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 338–352 sowie zur Aufteilung in ‚iustitia iudicaria‘ und ‚iustitia euangelica‘ bzw. deren ‚officia‘ ebd. 343–349. 245 Spec. uniu. 10, 18 (CCM 241A, p. 543): „Ceterum si misericordia dicitur iustitia et opera misericordie dicuntur opera iustitie, quomodo iustitia diuiditur contra misericordiam et quasi opponitur ei? […] Responditur quod misericordia quasi opponitur iustitie iudiciarie et retributorie, non iustitie euangelice, immo misericordiam facere euangelice iustitie est.“
246
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
das Thema aber für einen späteren Zeitpunkt vor.246 Dieser Verweis bezieht sich zweifelsohne auf den Traktat über das Almosen in Buch 11 und zeigt die enge Bezogenheit von Güte und Wohltätigkeit auf. In Kapitel 39 werden die verschiedenen Arten des Mitleides bzw. der Barmherzigkeit benannt und erklärt. Die Aufteilung in drei ‚species‘ ergibt sich in erster Linie aus den drei Arten von Schäden (‚incommoditates‘), die den Nächsten treffen können:247 Als erstes nennt er den Schaden an materiellen Dingen. Dieser Schaden ist gering und erfordert kein Mitleid – höchstens in dem Sinne, dass man jemanden zur Raison bringt, der in unvernünftiger und übertriebener Weise über den Verlust einer materiellen Sache trauert.248 Der zweite Schaden, der den Körper betrifft, ist dagegen weitaus größer und erfordert neben Mitleid auch aktive Hilfeleistung.249 Radulfus Ardens belässt es bei dieser recht allgemeinen Aussage und kommt drittens auf den seelischen Schaden zu sprechen, der erwartungsgemäß der schwerste der drei genannten ist und durch die Laster verursacht wird. Der Hauptunterschied zwischen dem materiellen und dem körperlichen Schaden auf der einen und dem seelischen Schaden auf der anderen Seite besteht darin, dass die ersten beiden in einzelnen Sonderfällen nützlich (bspw. zur persönlichen Verbesserung) sein können, der seelische Schaden jedoch immer schlecht ist.250 Daraus ergibt sich auch, dass der seelische Schaden in besonderem Maß Barmherzigkeit in Form von persönlicher Zuwendung bedarf.251 Diese Tatsache nimmt Radulfus Ardens zum Anlass, um die Praxis der Kirche zu kritisieren, missliebige Elemente zu exkommunizieren und fordert besonders von den Priestern mehr Barmherzigkeit.252 Derlei Aussagen lassen
246 Spec. uniu. 10, 18 (CCM 241A, p. 543): „Et cuiusmodi misericordiam unicuique debemus indigenti? Huic in sequentibus seruatur locus.“ 247 Spec. uniu. 11, 39 (P, fol. 73rb): „Sunt autem tres species misericordie siue compassionis secundum tres proximi nostri incommoditates.“ 248 Spec. uniu. 11, 39 (P, fol. 73rb): „Nos quoque incommoditati rerum proximi nostri paruam debemus compassionem eo scilicet quod de dampno rerum temporalium nec etiam de nostro nec dum de alieno non debemus dolere […]. Si ergo proximus noster de dampno temporali suo doleat, condolendum est ei magis ex hoc, quod de uanis doluit quam quia ea perdidit. Vnde increpandus est magis quam consolandus et si indiget suffragiis fulciendus.“ 249 Spec. uniu. 11, 39 (P, fol. 73rbf.): „Incommoditati uero corporis proximi nostri maiorem debemus compassionem, ut si est infirmus corpore, si egenus, si captiuus, debemus ei condolere et prout possumus subuenire.“ 250 Spec. uniu. 11, 39 (P, fol. 73va): „Et incommoditas quidem corporis uel rerum quia iusta et quia purgatoria, quia etiam meritoria, si recte suscipiatur non est multum plangenda, sed potius numquam optanda et postulanda. Incomoditas uero anime, quia est iniusta, inquinatoria, meritoria pene eterne maxime est plangenda et miserana.“ 251 Spec. uniu. 11, 39 (P, fol. 73va): „Quanto siquidem maior est anime miseria, tanto maior est ei adhibenda misericordia.“ 252 Spec. uniu. 11, 39 (P, fol. 73vaf.): „Licet enim peccator non sit de corpore ecclesie merito, sed tantum numero uel etiam si nec numero sit de ecclesia ut exommunicatus, tamen spe conuersionis
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Rückschlüsse auf die damalige innerkirchliche Situation zu und fügen sich gut in das kritische Bild ein, das im Speculum universale von der Kirchenpolitik und dem Verhalten kirchlicher Würdenträger gezeichnet wird. Am Ende des Kapitels werden schließlich die ‚termini‘ der beiden Tugenden bestimmt: Im Idealfall gelingt es, an der Notlage des Nächsten mitzuleiden, ohne die Distanz zu seinen Lastern zu verlieren. Auf der anderen Seite darf man jedoch nicht völlig mitleidlos gegen die Laster vorgehen.253 Daraus legt sich noch nicht direkt ein komplementärer Bezugspunkt für ‚compassio‘ und ‚miserocordia‘ nahe, sondern die beiden Tugenden werden genauer beschrieben und es wird erneut darauf hingewiesen, dass die Tugend sowohl mit dem guten Hass (Ablehnung der Laster) als auch mit der guten Liebe (barmherzige Zuwendung) verbunden ist. Wie bereits weiter oben angedeutet liefert das anschließende Kapitel 40 mehrere bedeutende Informationen zu den Verflechtungen der bisher in den Kapiteln 31–39 genannten Tugenden und Lastern. Diese Äußerungen sind zwar als abschließende Synthese des Themenkomplexes ‚congratulatio‘ – ‚inuidia‘ – ‚compassio‘ zu deuten, jedoch keineswegs leicht verständlich und sie enthalten an einigen Stellen begriffliche und systematische Unklarheiten. Radulfus Ardens führt zunächst einen neuen Begriff ein, nämlich die Verhöhnung (‚insultatio‘), die das entgegengesetzte Laster der ‚compassio‘ bzw. der ‚misericordia‘ ist.254 Damit ist die Freude über Schäden anderer Menschen gemeint. Gewöhnlich ist es schlecht (‚insultatio mala‘), sich über Missgeschicke anderer zu freuen, selten aber auch gut, wie bspw. in dem Fall, dass ein solches negatives Erlebnis zur Umkehr motiviert (‚bona exulatatio in incommoditatibus aliorum‘) und vor größerem Schaden bewahrt.255 Aus den bisherigen Aussagen würde sich eigentlich ergeben, dass die gerade erwähnte gute Freude über die Schäden anderer – die im Folgenden vereinfacht als ‚insultatio bona‘ bezeichnet wird – in einem komplementären Verhältnis mit der guten Barmherzigkeit bzw. dem guten Mitleid stehen würde. Dementsprechend wären in der ‚insultatio mala‘ und der ‚misericordia mala‘ bzw. ‚compassio mala‘ die negativen Übertreibungen zu sehen. Allerdings führt Radulfus Ardens kurz darauf aus, dass ‚congratulatio bona‘ und ‚compassio mala‘ Komplementärtugenden sind und die ‚insultatio‘ ebenso die Be-
est de ecclesia et ideo quamdiu uiuit, compati debemus et eius conuersionem orare, querere et exspectare. […] Decet autem habere hanc compassionem precipue ecclesie pastorem.“ 253 Spec. uniu. 11, 39 (P, fol. 73vb): „Sunt autem termini misericordie uel compassionis sic compati nature proximi, quod uitia eius persequamur et sic persequi uitia eius, quod nature compatiamur.“ 254 Spec. uniu. 11, 40 (P, fol. 73vb): „Est autem misericordie uel compassioni contraria insultatio […].“ 255 Spec. uniu. 11, 40 (P, fol. 73vb): „[…] et mala ideo dico, quia etiam bona exultatio in incommoditatibus aliorum, ut quando uidemus aliquem prauum affligi et gaudemus eo, quod per illam afflictionem eum emendandum uel cohibendum prestolamur.“
248
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
gleiterin (‚comes‘) der ‚inuidia‘ ist.256 Diese Bestimmung wird bedauerlicherweise von ihm nicht weiter konkretisiert, obwohl sie durchaus Spielraum für Interpretationen offenlässt. Denn vor dem Hintergrund der begrifflichen Unterscheidungen der letzten Kapitel, in denen jeweils auch eine schlechte Mitfreude (c. 31), ein guter Neid (c. 35), ein schlechtes Mitleid (c. 39) und eine gute Verhöhnung (c. 40) beschrieben wurden, stellt sich die Frage, ob der Begriff ‚comes‘ hier entweder die beiden ‚uitia contraria‘ von Mitfreude und Mitleid beschreibt oder ein weiteres Komplementärtugendpaar (nämlich ‚bona inuidia‘ und ‚bona insultatio‘) andeutet. Dazu ist zunächst zu sagen, dass der Leser aufgrund der dezidiert negativen Begriffswahl spontan eher dazu neigt, in ‚inuidia‘ und ‚insultatio‘ zwei Laster zu sehen. So ist davon auszugehen, dass Radulfus Ardens an dieser leicht missverständlichen Stelle den beiden Ausdrücken zumindest das Adjektiv ‚bonus‘ beigefügt hätte, wenn damit Tugenden gemeint wären. Ein Blick auf die Verwendung des Begriffes ‚comes‘ bzw. des dazugehörigen Verbs und Adjektivs in der speziellen Tugendlehre stützt diese intuitive Vermutung mit Belegen aus dem Text. So finden sich nämlich zwei Referenzstellen, an denen damit die Verbindung von zwei Lastern beschrieben werden: erstens in Buch 13 zum gemeinsamen Auftreten von Geschwätzigkeit (‚garrulitas‘) und neugierigem Ausfragen (‚percontabilitas‘)257; zweitens in Buch 14 zur Verbindung von Schlemmerei (‚comessatio‘) und übertriebener Redseligkeit (‚loquacitas‘)258. Dagegen findet sich keine einzige Stelle, in denen mit diesen Begriffen ein Komplementärtugendpaar beschrieben wird. Von daher ist also davon auszugehen, dass hier aller Wahrscheinlichkeit nach die beiden ‚uitia contraria‘ gemeint sind, zumal keinerlei explizite Hinweise oder Belege mehr für das vermutete Komplementärtugendpaar ‚bona insultatio‘ – ‚bona inuidia‘ zu finden sind. Wenn man das geschilderte Textverständnis voraussetzt, ergibt sich folgendes Schema:
odium malum mediante malignitate (c. 33)
amor (c. 35)
benignitas (c. 28)
insultatio (c. 40)
congratulatio (c. 40)
↔
compassio (c. 40)
inuidia (c. 40)
Abb. 25: Die Zusammenhänge zwischen Mitfreude und Mitleid.
256 Spec. uniu. 11, 40 (P, fol. 73vb): „Sicut enim bona compassio est collateralis bone congratulationis, sic et insultatio comes est inuidie.“ 257 Spec. uniu. 13, 15 (P, fol. 165rb): „Sane garrulitas et percontabilitas sunt uitia sese comitantia.“ 258 Spec. uniu. 14, 57 (P, fol. 194va): „Semper enim comessationem loquacitas comitatur.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
249
Mit diesem Zwischenergebnis sind jedoch keineswegs jegliche Zweifel ausgeräumt. Bei genauerer Betrachtung fallen hier vielmehr zwei gravierende systematische bzw. inhaltliche Schwierigkeiten auf: Erstens zeigt sich, dass beide Komplementärtugenden aus dem Bereich der Liebe entstehen, der Neid jedoch aus dem Hass. Diese Anordnung wirkt vor dem Hintergrund der Konzeption von Buch 11, die durch die Zweiteilung in Liebe und Hass bestimmt ist, inkonsequent und unstimmig. Zudem wurde bei der inhaltlichen Konkretisierung des Mitleids deutlich, dass alle drei seiner Unterarten mit der Abwehr der Sünden und Laster des Nächsten in Verbindung stehen, was eindeutig auf den guten Hass hindeutet, von dem jedoch nirgends die Rede ist. In ähnlicher Weise trifft dies auf die guten Unterarten des Neides zu, bezüglich derer Radulfus Ardens in Kapitel 35 sogar explizit erklärt hat, dass sie aus der Liebe und dem Mitleid entstehen. Keiner dieser Bezüge findet Entsprechung in der obigen Darstellung, die darauf fußt, dass die ‚compassio‘ in Kapitel 28 als eine Unterart der Güte bestimmt wird. Zweitens ist die Zuordnung von ‚congratulatio‘ und ‚insultatio‘ auf der einen sowie ‚compassio‘ und ‚inuidia‘ auf der anderen Seite nur bedingt nachvollziehbar. Denn vor dem Hintergrund, dass das Laster allgemein als eine negative Übersteigerung der jeweiligen Tugend definiert ist, leuchtet nicht ein, wie die Verhöhnung als ein Übermaß an Mitfreude oder der Neid als Übermaß des Mitleides verstanden werden kann. Es handelt sich nämlich jeweils um zwei verschiedene Bereiche: Die Verhöhnung ist eine positive Emotion bezüglich eines Übels, die Mitfreude jedoch eine positive Emotion hinsichtlich eines Gutes. Analog ist der Neid eine negative Emotion hinsichtlich eines Gutes, das Mitleid jedoch eine negative Emotion hinsichtlich eines Übels. Diese Widersprüche ließen sich nur dadurch auflösen, dass die Ebenen von positiven und negativen Emotionen klar auseinandergehalten werden, da sich die jeweiligen Laster dann auch tatsächlich schlüssig als negative Übertreibungen der jeweiligen Tugend beschreiben ließen. Dadurch würden auch nicht nur eines, sondern zwei Komplementärtugendpaare entstehen und die zugrundeliegende Struktur müsste im Detail etwa so aussehen:
amor malus (c. 28)
odium bonum
amor bonus (c. 35)
odium malum (c. 35)
malignitas (c. 35)
benignitas inutilis (c. 28)
benignitas utilis (c. 28)
congratulatio mala (c. 31)
congratulatio bona (c. 31)
↔
compassio bona / misericordia (c. 39)
compassio mala (c. 39)
insultatio mala (c. 40)
insultatio bona (c. 40)
↔
inuidia bona / emulatio (c. 35)
inuidia mala (c. 35)
Abb. 26: Überlegungen zum Verhältnis von Mitfreude, Neid und Mitleid.
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Diese Überlegungen enthalten einerseits ein gewisses Maß an Spekulation. Andererseits sind sie – wie die Kapitelverweise zeigen – aus entsprechenden Äußerungen von Radulfus Ardens ableitbar. Zudem integrieren sie die umfangreichen begrifflichen Unterteilungen von Mitfreude, Neid und Mitleid in ihre ‚species‘ aus dem gesamten Abschnitt der Kapitel 31–40. So ist es im Rückschluss eigentlich erstaunlich, dass sich Radulfus Ardens in Kapitel 40 nicht selbst in diese Richtung äußert, sondern mit der Zuordnung von Mitfreude und Verhöhnung bzw. Mitleid und Neid begnügt und damit gewissermaßen seine eigene Darstellung vereinfacht. Unabhängig von diesen Einzelfragen zu Mitfreude, Neid und Mitleid besteht hier jedoch noch ein grundlegendes konzeptionelles Problem, das dadurch entsteht, dass im Bereich der Güte (also auf der dritten Gliederungsebene) keine Komplementärtugend gibt, aus der die Komplementärtugenden der vierten Gliederungsebene hervorgehen könnten. Diese Problematik hatte sich schon bei der Besprechung der ‚termini‘ der ersten zwei Unterarten der Güte (‚euitatio scandali‘ und ‚latitudo caritatis‘) angedeutet und tritt nun in aller Deutlichkeit zutage. Diese systematische Lücke ist in der obigen Darstellung gut sichtbar. Es müsste nämlich eine Art ‚malignitas bona‘ geben, deren Aufgabe es ist, in klar definierten Sonderfällen geringe Übel in Kauf zu nehmen, um größere zu vermeiden. Deren Daseinsberechtigung wäre freilich – ähnlich wie beim guten Hass – nur dadurch gegeben, dass die Welt im Diesseits in Sündhaftigkeit verfangen ist; dennoch wäre die Güte, die prinzipiell keine Komplementärtugend benötigt, faktisch im Diesseits in bestimmten Sonderfällen auf sie angewiesen. Aus der Verbindung dieser zeitlich bedingten ‚bona malignitas‘ mit der ‚benignitas‘ könnten dann die guten Unterarten des Neides und des Mitleides hervorgehen. Wie die Besprechung der ‚benignitas‘ bereits gezeigt hat, äußert sich Radulfus Ardens nirgends dazu und umgeht das Problem, indem er hier die beiden Komplementärtugenden ‚congratulatio‘ und ‚compassio‘ aus der Güte (und damit aus der Liebe) hervorgehen lässt. Warum er so verfährt, begründet er nicht explizit, obwohl diese Bestimmung die genannten Unklarheiten nach sich zieht. Aus der Untersuchung der Kapitel 31–40 lässt sich folgendes Resümee ziehen: Erstens ist festzustellen, dass es in diesem Bereich mindestens ein neues Komplementärtugendpaar gibt, nämlich ‚congratulatio‘ und ‚compassio‘; beide gehen dem Textbefund nach aus der Güte hervor. Zweitens wurde deutlich, dass der ganze Abschnitt von komplementären Denkstrukturen durchzogen ist, die allerdings oftmals nur vage angedeutet werden und sich zumindest an einigen Stellen widersprechen. Von daher liegt die Vermutung nahe, dass hier ein hohes Maß an konzeptioneller Arbeit begonnen, aber nicht konsequent zu Ende geführt wurde. Drittens zeigt sich, dass die Darstellung des Neides und der beiden damit verbundenen Tugenden vergleichsweise viel Raum einnimmt. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Vielzahl der begrifflichen Unterscheidungen und systematischen Bezüge. Dabei zeigt sich, dass es Radulfus Ardens in vielen Fällen schwerfällt, treffende Begriffe für die gemeinten Verhaltensweisen zu finden. Abschließend lässt sich somit sagen, dass der Autor das Laster des Neides als ein höchst bedeutsames Thema für die Sittlichkeit
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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des Menschen ansieht. Dieser Schwerpunktbildung wird er einerseits durch differenzierte und vielschichtige Gedankengänge gerecht, andererseits gelingt es ihm aber nur in Ansätzen, sie in einer überzeugenden Synthese miteinander zu verbinden. 2.1.6.5 ‚condescensio‘ Die beiden verbleibenden Unterarten der Güte behandelt Radulfus Ardens deutlich kürzer in drei bzw. zwei Kapiteln. Dabei kommt er sowohl beim Mitherabsteigen (‚condescensio‘) als auch bei der freiwilligen Unterordnung (‚uoluntaria subiectio‘) wieder auf Buch 10 zurück. Darauf verweist er am Ende von Kapitel 45 und sieht keinen Widerspruch darin, dass dieselben Werke aus verschiedenen Tugenden hervorgehen, da alle Tugenden untrennbar miteinander verbunden sind.259 Im gleichen Zusammenhang werden beide Tugenden auch dem Bereich der Demut zugeordnet,260 allerdings finden sich nur zur freiwilligen Unterordnung Äußerungen in Buch 12, das Mitherabsteigen kommt dort nicht vor. Von daher werden in den beiden folgenden Abschnitten kleinere Exkurse über die Pflichten der Gerechtigkeit des Evangeliums und die Demut eingeschoben. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Tugenden besteht zudem darin, dass jeweils die ‚termini‘ bestimmt werden, ohne dass eine Komplementärtugend genannt wird. Welches Verhalten Radulfus Ardens mit dem Begriff ‚condescensio‘ meint, ergibt sich aus der Definition am Anfang von Kapitel 41: Die Aufgabe dieser Tugend besteht darin, sich mit dem Nächsten auf eine Stufe zu stellen, der niedriger steht als man selbst. Motivation dafür ist der ‚affectus dilectionis‘, der einen dazu drängt, sich dem Nächsten ohne Beachtung von Standesunterschieden (‚gradus inequalitatis‘) in Liebe zuzuwenden.261 Mit den ‚gradus inequalitatis‘ sind hier keineswegs – wie man vor den mittelalterlichen Hintergrund meinen könnte – nur die Unterschiede zwischen bestimmten gesellschaftlichen Schichten gemeint. Vielmehr wird im 13. Kapitel aus Buch 10 deutlich, dass der Anspruch weiter gefasst ist. Dort konkretisiert Radulfus Ardens die ‚condescensio‘ als sechste Pflicht der Gerechtigkeit des Evangeliums, indem er ein Mitherabsteigen in Herz, Wort, Zugeständnis, Gemeinschaft und Tat fordert. Die erste Konkretisierung meint die prinzipielle Bereitschaft, den anderen als gleichwertig anzuerkennen oder ihn sogar sich selbst vorzuziehen; die zweite fordert dazu auf, ungezwungen mit anderen Menschen ins
259 Spec. uniu. 11, 45 (P, fol. 75rb): „Ceterum nemo miretur, quod cum nos supra posuerimus condescensionem et subiectionem inter debita iustitie, nunc ponamus eas inter species benignitatis, quoniam cum omnes uirtutes sorores sint inseparabiles, sic etiam ut non in una persona sed etiam in eodem opere sese semper comittentur, ut in sequentibus demonstrabitur.“ 260 Spec. uniu. 11, 45 (P, fol. 75rb): „Ecce enim condescensio et subiectio, quando ex debito iustitie fiunt pertinent ad iustitiam, quando ex caritate et benignitate fiunt, pertinent ad benignitatem. Quando ex nulla reputatione sui, pertinent ad humilitatem.“ 261 Spec. uniu. 11, 41 (P, fol. 74va): „Quinta species benignitatis est condescensio. Est autem condescendere ex dilectionis affectu sese minoribus coequare.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Gespräch zu kommen; die dritte beschreibt Zugeständnisse in Form von Verteilungsgerechtigkeit – dies lässt die knappe Formulierung zumindest vermuten; die vierte meint generelle Offenheit im Umgang mit anderen Menschen und lässt sich als Verweis auf die Pflicht zur tätigen Nächstenliebe interpretieren.262 Auch die Perspektive und der Nutzen dieser Tugend wird deutlich: Der Höherstehende stellt sich mit Niedrigeren auf eine Stufe und ermutigt ihn allein durch diese Zuwendung, selbst nach Höherem zu streben.263 Damit spielt die ‚condescensio‘ eine wichtige Rolle bei der Aneignung neuer Tugenden. Folgerichtig betont Radulfus Ardens auch, wie wichtig diese Tugend für Führungspersonen ist: Erst die liebende Zuwendung eröffnet einem niedrigerstehenden Menschen die Möglichkeit, sich selbst diese Güter anzueignen. In diesem Zusammenhang wird auch das Erlösungshandeln Christi gesehen.264 An diesen Bestimmungen zeigt sich, dass der auf den ersten Blick unscheinbar wirkende ‚condescensio‘ eine wichtige Bedeutung innerhalb der Gesamtkonzeption zukommt. Unabhängig davon, dass der Gedanke einer Unterweisung durch liebende Zuwendung in Verbindung mit der Äußerung, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind,265 ausgesprochen modern erscheint, sind hier indirekt Hinweise darauf erkennbar, wie sich Radulfus Ardens die Herausbildung neuer Tugenden vor dem Hintergrund seines komplementären Ansatzes vorstellt. Das recht umfangreiche Kapitel 42 führt diese Gedankengänge weiter: Der Autor beschäftigt sich hier mit den ‚species‘ des Mitherabsteigens, verweist allerdings diesbezüglich nur allgemein auf sechs verschiedene Personenkonstellationen, die sich – wie er sagt – an den sechs Arten von Größe (‚maioritas‘) und Niedrigkeit (‚minoritas‘) ausrichten. So steigt der Herr zum Untergebenen herab, der Kluge zum Ungebildeten, der Gesunde zum Kranken, der Vollendete zum Unvollendeten, der Gerechte zum Sünder und
262 Spec. uniu. 10, 13 (CCM 241A, p. 531 f.): „In quo debemus condescendere minoribus? In animo, in uerbo, in consessu, in societate, in facto: in animo eos nobis coequando uel etiam preferendo; in uerbo, cum eis equaliter colloquendo; in consessu, cum eis equaliter consedendo, in societate cum eis equaliter eorum societatem non fastidiendo; in facto eorum indigentiis subueniendo.“ 263 Spec. uniu. 11, 41 (P, fol. 74va): „Sane feruor amoris non obseruat gradum inequalitatis, sed maior amicus condescendit minori ut ei prebeat audaciam ad se accendendi.“ 264 Spec. uniu. 11, 41 (P, fol. 74va): „Quod in nullo exemplo melius demonstratur quam in redemptore nostro, qui tantisper nos dilexit, quod nostram infirmitatem assumens nobis condescendit. […] Nisi enim descendisset, nullus eum secutus fuisset. Quomodo enim sequeretur infimus sublimem comprehensibilis incomprehensibilem, infirmus omnipotentem? Sed quando nostre infirmitati condescendit semet sequendi desiderium nobis infixit. Prelati quoque qui Christum sequentes minoribus condescendere, sciunt illos bene regere queunt. Qui uero minoribus non condescendunt, illos non regunt, sed potius dispergunt.“ 265 Spec. uniu. 10, 13 (CCM 241A, p. 531): „Enim uero secundum naturam omnes homines equales sunt.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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der Wohlhabende zum Armen.266 Diese Unterarten werden im Verlauf des Kapitels jeweils am Beispiel Christi verdeutlicht. An der Tatsache, dass die sechs genannten Bereiche eine Vielzahl menschlicher Lebenssituationen umfassen, zeigt sich noch einmal, dass Radulfus Ardens die ‚condescensio‘ unter einer ganzheitlichen Perspektive zu betrachten versucht. Zum Abschluss benennt Radulfus Ardens in Kapitel 43 das ‚uitium contrarium‘ der ‚condescensio‘, nämlich die feindselige Verachtung (‚hostilis contemptus‘) bzw. das feindselige Auslachen (‚hostilis irrisio‘).267 Das letztgenannte Laster ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Höherstehender einen niedrigstehenden Menschen verhöhnt und sich auf diese Weise über ihn erhebt. Bei der Festlegung der ‚termini‘ des Mitherabsteigens stößt der Leser auf zwei unterschiedliche Formulierungen. Die erste verweist eindeutig auf den Bereich des guten Hasses, da sie das rechte Maß der ‚condescensio‘ folgendermaßen festlegt: Man muss das Wesen (‚natura‘) des Nächsten so fördern, dass man seine Laster bekämpft und darf die Laster nur in dem Maß bekämpfen, dass es noch gelingt, seinen Charakter zu stärken.268 Die zweite Bestimmung trifft grundsätzlich eine ähnliche Aussage, verdeutlicht aber nochmals, dass diese Tugend dazu dient, niedriger stehenden Menschen eine Perspektive zur Verbesserung ihres Charakters und ihrer Lebenslage aufzuzeigen. Sie ruft nämlich dazu auf, sich einerseits so zum Wesen des Nächsten herabzubeugen, dass man ihn auf Höheres ausrichtet und ihn andererseits so zu fördern, dass man sich zu seinem Wesen herabbeugt.269 Diese Formulierung ist so zu verstehen: Wenn man sich einem Menschen zuwendet, um ihm bspw. eine Tugend näherzubringen, kann dies nur gelingen, wenn man sich auf seine Charaktereigenschaften, seine Erfahrungen uns seine Lebenssituation einstellt; ansonsten überfordert man ihn und er kann aus der ‚condescensio‘ keinen Gewinn ziehen. Auf der anderen Seite genügt es aber auch nicht, mit einem Menschen, der z. B. im Bereich der Tugenden gefördert werden muss, einfach nur Mitleid zu haben. Vielmehr muss man ihm eine Perspektive zur Verbesserung und zum geistigen Vorankommen eröffnen und ihm klarmachen, in welchen Bereichen er sich verbessern muss.
266 Spec. uniu. 11, 42 (P, fol. 74va): „Sunt autem sex species condescensionis secundum sex species maioritatis et minoritatis. Enimuero condescendit Dominus subdito, prudens indocto, sanus infirmo, perfectus imperfecto, iustus peccatori, habens indigenti.“ 267 Spec. uniu. 11, 43 (P, fol. 75ra): „Est autem condescensioni contrarium uitium hostilis contemptus et irrisio […]. Quando uidelicet maior ex indignatione minores despicit subsanuat et derridet […].“ 268 Spec. uniu. 11, 43 (P, fol. 75ra): „Termini uero condescensionis sunt, ut ita condescendamus nature, quod non uitio, ita naturam foueamus, quod uitium persequamur et ita uitium persequamur, quod naturam foueamus.“ 269 Spec. uniu. 11, 43 (P, fol. 75ra): „Sic nature nos inclinemus, quod eam ad alta subleuemus et sic eam subleuemus, quod nos ei inclinemus.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Diese Überlegungen leiten bereits zu der Frage nach einer möglichen Komplementärtugend der ‚condescensio‘ über. Wie bereits erwähnt, äußert sich Radulfus Ardens selbst nicht dazu. Auf der Grundlage der eben beschriebenen ‚termini‘ lassen sich jedoch Vermutungen dazu anstellen. So wurde der zweiten Festlegung deutlich, dass es mit dem bloßen Mitherabsteigen nicht getan ist, sondern eine Perspektive auf Verbesserung eröffnet werden muss. Dementsprechend könne bspw. das Bedürfnis zur aktiven Verbesserung der Lebenssituation des Nächsten eine komplementäre Ergänzung des Mitherabsteigens sein. Ein Übermaß dieser Haltung wäre dann z. B. eine überfordernde oder nicht mehr am Leben des Bedürftigen ausgerichtete Förderung. Die lasterhafte Übertreibung des Mitherabsteigens könnte auf der anderen Seite dazu führen, dass man selbst mutlos wird. Ausgehend von der ersten Bestimmung der ‚termini‘, die in Richtung des guten Hasses deutet, wäre eine Haltung denkbar, die trotz aller Zuwendung zum Nächsten seine Laster in aller Schärfe ablehnt und bestrebt ist, diese möglichst ganz auszutilgen. Dass Radulfus Ardens ähnlich gedacht hat, zeigt sich daran, dass er die feindselige Geringschätzung als das entgegengesetzte Laster des Mitherabsteigens bezeichnet. Diese würde dann dadurch entstehen, dass sich die Verachtung den Lastern gegenüber auch auf die Person des Nächsten ausdehnt. Das lasterhafte Übermaß der ‚condescensio‘ würde in diesem Fall dazu führen, dass sich der Höherstehende die Laster des Niedrigeren selbst zu eigen macht. Diese Überlegungen ließen sich in etwa so darstellen:
‚uitio condescendere‘
‚condescensio‘ ↔
‚uitium persequi‘
‚hostilis contemptus‘/ ‚irrisio‘
2.1.6.6 ‚uoluntaria subiectio‘ Die Tugend der freiwilligen Unterordnung wird als die Bereitschaft definiert, sich aus Liebe (‚ex dilectione‘) nicht nur Höhergestellten, sondern auch allen anderen Menschen unterzuordnen. Sie konkretisiert sich dabei durch Dienst, Liebe und füreinander Eintreten.270 Radulfus Ardens führt dazu die Aufforderung aus dem Ersten Petrusbrief an, sich jeder menschlichen Ordnung wegen Gott unterzuordnen.271 Diese Aussage verweist bekanntermaßen auf die Pflicht, sich weltlichen Herrschern oder staatlichen Institutionen zu unterwerfen. Auch das einzige Beispiel in Kapitel 44 – nämlich der Aufruf Jeremias an die Israeliten, für König Nebukadnezar und die Stadt Babylon zu beten (Ier 29, 7) – geht in dieselbe Richtung. Radulfus Ardens
270 Spec. uniu. 11, 44 (P, fol. 75ra): „Sexta species benignitatis est uoluntaria subiectio, quando scilicet ex dilectione non solum maioribus, sed etiam aliis subiecti, sumus eis seruientes et diligentes et pro eis intercedentes.“ 271 1 Petr 2, 13: „subiecti estote omni humanae creaturae propter Dominum sive regi quasi praecellenti.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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scheint also den Schwerpunkt dieser Tugend auf den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit zu legen, was seiner am Anfang angeführten Definition eigentlich zuwiderläuft, die ja explizit von der Unterordnung allen Menschen gegenüber spricht. Dieser Punkt ist für das Verständnis der Tugend ‚subiectio‘ im Speculum universale allgemein wichtig. Sie wird nämlich nicht nur in Buch 11, sondern auch in den Büchern 10 und 12 besprochen. Zunächst zu den Aussagen in Buch 10: Hier kommt die Tugend nicht nur im Traktat über die Gerechtigkeit als eine Pflicht der Gerechtigkeit des Evangeliums vor, sondern auch im Traktat über die Tapferkeit; dort wird sie – das macht die Bezüge für die vorliegende Arbeit bedeutsam – als die Komplementärtugend der Herrschaft (‚dominatio‘) bezeichnet. Diese Beobachtung ist umso wichtiger, da in Buch 11 die freiwillige Herrschaft (‚uoluntaria dominatio‘) als entgegengesetzte Laster der ‚uoluntaria subiectio‘ genannt wird und somit zumindest auf den ersten Blick ein begrifflicher Zusammenhang besteht. Daraus ergeben sich drei Fragen. Erstens: Welche Aussagen werden in den Büchern 10, 11 und 12 über die ‚subiectio‘ getroffen? Zweitens: Beschreiben diese Aussagen dieselbe Tugend? Drittens: Wenn ja, warum wird die Komplementärtugend ‚dominatio‘ in Buch 11 nicht erwähnt? Diese Fragen bauen aufeinander auf und werden im Folgenden Schritt für Schritt beantwortet. (1) Zur ersten Frage und damit zum Textbefund: In Buch 11 wird die Unterordnung in den Kapiteln 44 und 45 behandelt. Das erste enthält eine knappe inhaltliche Einführung zur ‚uoluntaria subiectio‘, das zweite benennt die freiwillige Herrschaft (‚uoluntaria dominatio‘) als ‚uitium contrarium272 und legt die ‚termini‘ fest: Man darf sich anderen Menschen nur soweit unterordnen, dass man sich von ihren Sünden distanziert und man darf diese wiederum nur in dem Maß ablehnen, dass man sich ihnen unterordnet.273 Diese Bestimmung verweist auf den guten Hass. Neben diesen wenigen Informationen findet sich in Buch 11 kein systematisch relevantes Material. Buch 12 liefert weitere Hinweise: Dort wird die Unterordnung in Kapitel 133 dargestellt und als dritte Tochtertugend (‚filia‘) der Demut bezeichnet.274 In Gegenüberstellung mit dem Stolz (‚superbia‘), der sich um den Vorrang bemüht, wird sie als die Tugend definiert, die sich um Unterordnung bemüht.275 Sie teilt sich in drei Arten auf: Die erste besteht darin, sich Höhergestellten unterzuordnen und ist unbedingt notwendig (‚necessaria‘); die zweite besteht darin, sich Gleichgestellten un-
272 Spec. uniu. 11, 45 (P, fol. 75ra): „Huius uirtutis contraria est uoluntaria dominatio […].“ 273 Spec. uniu. 11, 45 (P, fol. 75rb): „Termini uero uoluntarie subiectionis, sunt ut sic subdamur hominibus, quod resistamus criminibus et sic resistamus criminibus quod subdamur hominibus […].“ 274 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152rb): „Sunt autem octo filie humilitatis: proprii peccati recognitio, in ingruentibus sui solius inculpatio, uoluntaria subiectio, uoluntaria obedientia, uoluntaria paupertas, uoluntaria uilitas, uoluntaria postremitas, uoluntaria pax.“ 275 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Nam sicut proprium est superbi contendere de prelatione, sic proprium est uere humilis contendere de subiectione.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
terzuordnen und die dritte darin, sich niedriger Gestellten unterzuordnen.276 Die beiden letztgenannten sind im Gegensatz zur ersten nicht notwendig und nicht als Gebote (‚mandata‘), sondern als Räte (‚consilia‘) für die Fortgeschrittenen und Vollendeten anzusehen.277 Wichtig ist die Beobachtung, dass Radulfus Ardens auch hier auf Buch 10 verweist, allerdings nur in Bezug auf die erste ‚species‘ der Unterordnung, die notwendig ist.278 So lässt sich also zunächst festhalten: Die Tugend ‚subiectio‘ umfasst insgesamt drei Aspekte. Die Unterordnung gegenüber der Obrigkeit ist dabei nur der erste. Dies lässt sich sowohl aus der Definition in Buch 11 als auch aus der Aufteilung in Buch 12 entnehmen. Dem Hinweis aus Buch 12 zufolge sind allerdings die Ausführungen in Buch 10 ausschließlich auf den ersten Aspekt zu beziehen. Diese Erwartung bestätigt sich durch die Textanalyse. In Buch 10 behandelt Radulfus Ardens die Unterordnung an zwei Stellen: Zuerst in Kapitel 12, sodann in den Kapiteln 80 und 81. In Kapitel 12 führt Radulfus Ardens aus, dass die Unterordnung die Pflicht ist, die wir den Fürsten (also den politischen Machthabern) schulden.279 Er verwendet hier nicht den Begriff ‚uoluntaria subiectio‘, sondern spricht nur von ‚subiectio‘. Von daher ist zu fragen, ob es sich hier um dieselbe Tugend handelt. Dies lässt sich durch die inhaltliche Konkretisierung beantworten. Die Unterordnung zeigt sich nämlich durch Furcht, Ehre, Dienstbereitschaft und (materielle) Abgaben.280 Gerade der Aspekt der Furcht ist aufschlussreich: Damit ist nämlich nicht die von der Angst vor Strafe getragene Furcht des Knechtes (‚timor seruilis‘), sondern die freiwillige, von der Liebe getragene Furcht des Kindes (‚timor filialis‘) gemeint.281 Dieser Hinweis bezieht sich zweifelsohne auf die ‚uoluntaria subiectio‘ und lässt umgekehrt den Rückschluss zu, dass Buch 11 das Phänomen ‚subiectio‘ insgesamt aus dem Blickwinkel der Freiwilligkeit beleuchtet wird, während in Buch 10 der Pflichtcharakter des ersten Aspekts im Vordergrund steht.
276 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Sunt autem uoluntarie subiectionis tres species: prima est subdere se maiori, secunda subdere se pari, tertia subdere se minori. Et prima quidem magna est, secunda maior, tertia maxima. Et prima quidem est necessaria.“ 277 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Secunda uero tantum consilii et ideo paucorum. Tertia uero est maioris perfectionis et ideo paucissimorum.“ 278 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Et prima quidem est necessaria. Tenentur enim omnes illam ex precepto obseruare et idcirco de ea in tractatu de iustitia superius loquuti sumus.“ 279 Spec. uniu. 10, 12 (CCM 241A, p. 528): „Subiectionem quoque debemus principibus […].“ 280 Spec. uniu. 10, 12 (CCM 241A, p. 529): „Sed quam subiectionem debemus principibus? Subiectionem timoris, honoris, seruitii, tributi.“ 281 Spec. uniu. 10, 12 (CCM 241A, p. 530): „Sed quem timorem eis debemus? Filialem, non seruilem. Illi uero qui peccant et faciunt unde eos timeant, seruiliter eos timent.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Radulfus Ardens behandelt die Unterordnung aber auch noch im Traktat über die Tapferkeit. Dort führt er einen dritten Begriff ein, nämlich die geschuldete Unterordnung (‚debita subiectio‘). Sie wird in Kapitel 81 als Komplementärtugend der geschuldeten Herrschaft (‚debita dominatio‘) aufgeführt.282 Der Begriff ‚debitus‘ meint hier ‚von Rechts wegen‘ (‚iure‘). Das Recht, das die Unterordnung (bzw. die Herrschaft) begründet, ist entweder das Naturrecht (‚ius nature‘), das positive Recht (‚ius iustitie‘) oder das Strafrecht (‚ius pene‘). Dies wird aus der Darstellung der ‚debita dominatio‘ in Kapitel 80 deutlich.283 Da es sich hierbei offensichtlich um eine rechtmäßige (also geschuldete bzw. notwendige) Herrschaft handelt, lässt sich dies auf die ‚debita subiectio‘ übertragen, die nicht eigens definiert wird. (2) Auf der Grundlage dieses Überblicks zu den Äußerungen über die Unterwerfung in der speziellen Tugendlehre des Speculum universale lässt sich das Verhältnis zwischen den ‚subiectio‘-Begriffen nun klarer erfassen und damit die zweite Frage beantworten: In Buch 10 wird die Unterordnung zum einen in den Kapiteln 80 und 81 aus dem Blickwinkel der Tapferkeit betrachtet. Demzufolge besteht die ‚debita subiectio‘ darin, sich in den von Naturrecht und gesetztem Recht geforderten Fällen unterzuordnen. Zum anderen beschreibt Kapitel 12 die Unterwerfung als Pflicht im Bereich der Gerechtigkeit und legt fest, dass sie – durch den ‚timor filialis‘ geleitet – freiwillig und aus Liebe geschehen muss. In Buch 12 wird die ‚subiectio‘ in Kapitel 133 als Tochtertugend der Demut behandelt. Hier zeigt sich, dass es insgesamt drei Aspekte der Unterordnung gibt und dabei der erste, nämlich die Unterordnung gegenüber Höhergestellten, unbedingt notwendig ist. Buch 11 führt zunächst eine Definition an, die alle drei Aspekte umfasst, geht dann inhaltlich aber nur auf den ersten ein. Aus diesen vielfältigen Bezügen lässt sich schlussfolgern, dass in den drei Büchern dasselbe Phänomen aus der Perspektive von vier unterschiedlichen Tugenden in den Blick genommen wird. Die Bezüge zwischen den Ausführungen in den drei genannten Büchern lassen sich wie folgt abbilden:
282 Spec. uniu. 10, 81 (CCM 241A, p. 673): „Est autem uirtus collateralis debite dominationis debita subiectio.“ 283 Spec. uniu. 10, 80 (CCM 241A, p. 671): „Dominatio uero est fortitudo mentis principandi secundum Deum super iure subiectos sibi. […] Porro alii sunt subditi iure nature, alii iure iustitie, alii iure pene.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
iustitia (10, c. 12)
amor (c. 28)
humilitas (12, c. 133)
fortitudo (10, c. 81)
benignitas (c. 28)
uoluntaria subiectio (c. 44.45)
?
subdere se maiori (12, c. 133) / subiectio debita (10, c. 81)
↔
dominatio debita (10, c. 81)
uoluntaria dominatio (c. 45)
subdere se pari (12, c. 133) subdere se minori (12, c. 133)
Abb. 27: Die Zusammenhänge zwischen Unterwerfung und Herrschaft.
Daran wird deutlich, dass die Komplementärtugend ‚dominatio debita‘ lediglich auf den ersten der drei Aspekte der ‚subiectio‘ bezogen ist. Zu einer lasterhaften Form der ‚debita subiectio‘ äußert sich Radulfus Ardens nicht, hier wäre jedoch bspw. eine freiwillige Unterwerfung oder unhinterfragte Dienstbereitschaft gegenüber einem bösen Herrscher denkbar. Ebenso könnte eine Unterordnung lasterhaft ein, die sich vom ‚timor seruilis‘ leiten lässt. Radulfus Ardens scheint auch selbst in diese Richtung gedacht zu haben, da er die knechtische Unterwerfung als unzureichend betrachtet. Als entgegengesetztes Laster wird in Kapitel 45 die ‚uoluntaria dominatio‘ eingeführt, die sich als chaotische Willkürherrschaft beschreiben lässt.284 Sie orientiert sich nicht an der Ordnung des Naturrechts und des gesetzten Rechts, sondern am eigenen Gutdünken. Aus welcher Quelle dieses Laster entsteht, wird nicht erläutert. Die Tugend der ‚debita dominatio‘ ist dagegen der Vernunft und dem Recht verpflichtet und könnte daher auch als rechtmäßige Herrschaft bezeichnet werden. Sie gehört, wie die ‚fortitudo‘, in den Bereich der diskretiven Tugenden. Daraus ließe sich z. B. das folgende Komplementärtugendpaar konstruieren:
Unterordnung unter einen bösen Herrscher / Erzwungene Unterordnung
‚uoluntaria / debita subiectio‘
↔
‚debita dominatio‘
‚uoluntaria dominatio‘
284 Spec. uniu. 11, 45 (P, fol. 75raf.): „Huius uirtutis contraria est uoluntaria dominatio eorum scilicet, qui querunt ab omni subiectione emancipari et omnibus dominari, qui coacte seruiunt mutationes dominorum querunt, presentes dominos odiunt, preteritos laudant, futuros uel nullos amant […].“ Vgl. dazu (unter der Perspektive der ‚fortitudo‘) ebd. 10, 80 (CCM 241A, p. 671): „Sine enim mentis fortitudine exterior fortitudo tirannidem et dissipationem exercere potest, non debitam dominationem.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
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Die beiden übrigen Aspekte der Unterordnung haben keine Komplementärtugend. An den Bezügen zwischen ‚subiectio debita‘ und ‚uoluntaria subiectio‘ lässt sich jedenfalls erkennen, dass sich die unterschiedlichen Begriffe nicht widersprechen, sondern aufeinander aufbauen: So beschreibt der erste die Unterordnung von ihrem Pflichtcharakter her und der zweite nimmt ihre affektive Motivation in den Blick. Dass die freiwillige Unterordnung als Ganzes kein komplementäres Gegenstück hat, erklärt sich wohl daraus, dass es bei einer Unterordnung, die durch Liebe geleitet ist, kein Zuviel geben kann. Es lässt sich also zusammenfassen, dass die freiwillige Unterordnung per se keine Komplementärtugend hat. Dies ist auch daran abzulesen, dass die ‚perfecti‘ prinzipiell dazu aufgerufen werden, sich jedem Menschen ohne Einschränkung unterzuordnen. Zudem betont Radulfus Ardens erneut, dass eigentlich überhaupt keine Herrschaft nötig wäre, da alle Menschen von Natur aus gleich sind.285 Dass aber zusätzliche, vom Menschen gemachte Gesetze und eine straffe soziale Ordnung nötig sind, wird in Buch 10 mit der Tatsache begründet, dass im Diesseits Fleisch und Geist im Widerstreit liegen und die natürlich Ordnung oftmals aus dem Gleichgewicht gerät.286 In diesen Kontext – und nur in diesem – ist die Komplementärtugend ‚dominatio debita‘ also notwendig. (3) Es konnte also auf der Grundlage der besprochenen Äußerungen aus den Büchern 10, 11 und 12 gezeigt werden, dass auch hier in Einzelaspekten komplementäre Strukturen auffindbar sind. Dieses Resümee leitet direkt zur dritten Frage über, die bisher noch nicht behandelt wurde: Warum beschreibt Radulfus Ardens die ‚subiectio‘ in Buch 11 nur so vage und erwähnt die ‚debita dominatio‘ überhaupt nicht? Naheliegend wäre, dass die Unterordnung – unter dem Aspekt der Liebe betrachtet – kein Übermaß kennt und deshalb auch keine Komplementärtugend erwähnt wird. Falls dies zutrifft, wäre es aber umso verwunderlicher, dass die knappe inhaltliche Erläuterung in Buch 11 nahezu ausschließlich die ‚subiectio‘ gegenüber Herrschern und staatlichen Institutionen beschreibt. Schließlich ließe sich gerade vor dem Hintergrund der konzeptionellen Zweiteilung von Buch 11 aus dem guten Hass eine Art ‚notwendige Herrschaft‘ konzipieren, deren Aufgabe die Unterdrückung der Sünden und Laster wäre, was ja durch die in Kapitel 45 bestimmten ‚termini‘ in gewisser Weise auch angedeutet wird. Es ist aber definitiv festzuhalten, dass der erste Aspekt dieser Tugend eine Komplementärtugend in Form der ‚debita dominatio‘ besitzt.
285 Spec. uniu. 10, 80 (CCM 241A, p. 671): „Iure enim nature non sunt subditi homines hominibus, sed iuxta naturam omnes homines sunt equales.“ 286 Spec. uniu. 10, 80 (CCM 241A, p. 671 f.): „Porro iure nature subdita est sensualitas rationi, bruta animalia homini. […] Vnde Dominus in prima creatione non preposuit homines hominibus, sed brutis animalibus. […] Iure uero iustitie subditi sunt carnales homines spiritualibus. Et hoc quidem iustum est et in hoc homines hominibus non dominantur, sed spirituales animalibus.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
2.1.7 Die ‚species‘ aus dem Bereich der Wohltätigkeit: Der Traktat über das Almosen Im Traktat über das Almosen, das Radulfus Ardens als Tugend versteht,287 werden die unterschiedlichen Arten von Wohltaten (‚beneficia‘) dargestellt. Dass er diese Thematik damit eindeutig dem Bereich der Liebe zuordnet, ist insofern bemerkenswert, da die meisten Autoren des 12. Jahrhunderts (im Anschluss an die patristische Tradition) das Almosen aus der Gerechtigkeit oder der Buße herleiten.288 Er nimmt mit 50 bzw. 51 Kapiteln (c. 47–96 bzw. 97) einen beachtlichen Teil von Buch 11 ein und gliedert sich nach zwölf Leitfragen:289 . . . . . . . . . . . .
‚quid sit beneficium?‘ ‚quot sint species beneficiorum?‘ ‚quare sit dandum?‘ ‚cui sit dandum?‘ ‚quid sit dandum?‘ ‚quantum sit dandum?‘ ‚quale sit dandum?‘ ‚quando sit dandum?‘ ‚ubi sit dandum?‘ ‚de quo ordine sit dandum?‘ ‚quomodo sit dandum?‘ ‚quid largienti sit uitandum?‘
(c. .) (c. –) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. .) (c. .) (c. ?)
(1) In Kapitel 47 und 48 wird das Almosen (‚elemosina‘) definiert290 und seine Heilsbedeutsamkeit hervorgehoben.291 Nachdem Radulfus Ardens das ‚beneficium‘ zunächst sehr theoretisch als ‚bonum bene collatum‘ bestimmt hat, reflektiert er eingehend darüber, unter welchen Bedingungen ein Gut tatsächlich auf gute Weise erwiesen wird: Dazu muss erstens die direkte Absicht zu helfen (‚intentio profi-
287 Diese Sichtweise teilt er mit vielen Autoren der damaligen Zeit (vgl. dazu z. B. DORT, Caritas 60.69.76). 288 Bei vielen Autoren des 13. Jahrhunderts wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin wird das Almosen dann ebenfalls in Zusammenhang mit der ‚caritas‘ behandelt (vgl. DORT, Caritas). 289 Spec. uniu. 11, 47 (P, fol. 75va): „Igitur inspiciendum est, quid sit beneficium, quot sint species beneficiorum, quare sit dandum, cui et quid, quantum et quale, quando et ubi, de quo ordine, quomodo sit dandum et quid largienti sit uitandum.“ 290 Die Definition wurde bereits unter Punkt 2.1.3.4 angeführt. Was den Begriff des Guten betrifft bezieht sich Radulfus Ardens übrigens auf die Kapitel 12 und 13 aus Buch 1, in denen er sich genauer damit auseinandersetzt. 291 Vgl. bspw. Spec. uniu. 11, 48 (P, fol. 76rb): „Tam suaue et redolens est apud Deum opus misericordie, quod nemo misericors uisus est uitam suam, nisi bono fine conclusisse.“
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
261
ciendi‘) und zweitens die Liebe (‚dilectio‘) vorhanden sein. Wenn man ohne Liebe, nur aus Eigennutz oder zufällig hilft, handelt es sich nämlich nicht um ein ‚beneficium‘ im eigentlichen Sinne (‚proprie acceptum‘) und damit auch nicht um ein Almosen. Aber selbst dann, wenn beide Kriterien erfüllt sind, gibt es noch Abstufungen: So ist eine Wohltat ‚ex dilectione carnali‘ zwar noch wenig verdienstlich, öffnet aber in den meisten Fällen für die ‚caritas‘, die schon weit höher gewertet wird. Die beste Motivation für eine Wohltat ist aber das Mitleid (‚compassio‘).292 Nur dieses ‚benficium elemosinarium‘ kann als echtes Almosen gelten. Die genaue Aufgliederung der Unterteilung lässt sich der folgenden Übersicht entnehmen:
occasionarium nimis largius acceptum = sine dilectione et intentione proficiendi
casualium reciprocum mercenarium
beneficium
largius acceptum = sine dilectione et cum intentione proficiendi
seruilium meritorium mutuum ex carnali amore
proprie acceptum = cum dilectione et intentione proficiendi
ex caritate ex compassione = elemosinarium
Abb. 28: Die Arten der Wohltat.
292 Spec. uniu. 11, 47 (P, fol. 75vaf.): „Dicitur autem beneficium quandoque largius, quando minus large, quandoque stricte et proprie. Vnde et sic potest diuidi: Beneficia que fiunt nobis, quedam fiunt sine dilectione, et proficiendi intentione, quedam uero sine dilectione, sed cum proficiendi intentione, quedam et ex dilectione et ex proficiendi intentione. Eorum uero beneficiorum, que fiunt et sine dilectione et sine proficiendi intentione tres sunt species; nam alia proficiunt nobis tantum ex occasione, alia ex casu, alia ex sua utilitate. […] Eorum uero beneficiorum, que non sunt ex dilectione et tamen intendunt prodesse, quattuor sunt species: […] Prima igitur horum beneficiorum possunt dici mercennaria, secunda seruilia, tertia meritoria, quarta mutua. […] Eorum uero beneficiorum, que fiunt ex dilectione, tres sunt species; nam quedam fiunt ex carnali amore, quedam ex caritate, quedam ex compassione. Vnde et prima beneficia possunt dici carnalia, secunda caritatiua, tertia helemosinaria.“ Diese besonderee Wertschätzung des Mitleids findet sich auch bei vielen anderen Theologen der damaligen Zeit, die sich zum Almosen äußern (DORT, Caritas 55–60.65–69 zeigt dies etwa am Beispiel von Petrus Damiani oder Bernhard von Clairvaux).
262
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
(2) Danach wird das Almosen in den Kapiteln 49–85 weiter unterteilt. Radulfus Ardens unterscheidet dabei auf einer ersten Ebene zwischen dem geistigen (‚elemosina spiritualis‘), dem körperlichen (‚elemosina corporalis‘) und dem geschäftlichen Almosen (‚elemosina negotialis‘). 293 Wie sich dem unten angefügten Schema entnehmen lässt, unterteilt er diese drei Gruppen dann in 12, 10 und nochmals 12 (also insgesamt 34) Unterarten.294 Bereits auf den ersten Blick wird klar, dass Radulfus Ardens unter Almosen weit mehr als nur eine finanziell-materielle Unterstützung versteht. Vielmehr fordert seine Aufgliederung, die gerade solche Aspekte wie Unterricht, gut gemeinte Kritik, respektvollen Umgang miteinander und das Vergeben von Schuld hervorhebt, dazu auf, sich den Mitmenschen ganzheitlich zuzuwenden und die Hilfeleistung an der konkreten Lebenssituation des Nächsten auszurichten.295 Dabei ist zu beachten – das wurde in der Grafik auch bewusst abgebildet –, dass die einzelnen ‚species‘ aus systematischer Perspektive nicht etwa nur als Unterarten der ‚beneficientia‘ zu betrachten sind, sondern vielmehr aus dem Komplementärtugendpaar Wohltätigkeit – Sparsamkeit entstehen. In welcher Form die Sparsamkeit daran beteiligt ist, dass die jeweilige Wohltat auch tatsächlich ihr Ziel erreicht und demnach ein ‚echtes‘ Almosen ist, wird gleich noch genauer beleuchtet.
293 Spec. uniu. 11, 49 (P, fol. 76rb): „Elemosina uero alia est spiritualis, alia corporalis, alis negotialis.“ 294 Die ‚species‘ des geistigen Almosens werden gesammelt in Kapitel 49 genannt und dann aufeinander folgend behandelt. Bei den Unterarten des körperlichen Almosens, die erstmals in Kapitel 63 genannt werden, verfährt der Autor ähnlich. Die Unterarten des geschäftlichen Almosens werden nirgends gesammelt genannt, sondern lassen sich nur den jeweiligen Kapitelüberschriften entnehmen. Im Bereich des geistigen und körperlichen Almosens orientiert sich Radulfus Ardens an den Werken der Barmherzigkeit, ergänzt diese aber. Die einzelnen ‚species‘ der ‚elemosina negotialis‘ stellen v. a. Formen der Unterstützung im ‚geschäftlichen‘, also sozialen, finanziellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bereich dar (vgl. ERNST / JANOTTA, Typologie von Almosen). 295 Damit setzt Radulfus Ardens einen ähnlichen Schwerpunkt wie Bernhard von Clairvaux, der ebenfalls die Bedeutung der spirituellen Unterstützung hervorhebt (vgl. DORT, Caritas 66).
2.1 Das Komplementärtugendpaar ‚amor bonus‘ / ‚caritas‘ – ‚odium bonum‘
263
Abb. 29: Die Arten des Almosens.
(3) Die Leitfragen 3–11 werden in den Kapiteln 86–96 beantwortet. Dabei geht es dem Autor darum, einen möglichst genauen Leitfaden für die Vergabe von Almosen zu formulieren. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die zahlreichen ‚exempla‘, die dort vorkommen. Offenbar maß Radulfus Ardens diesem Thema eine große
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Bedeutung bei, was sicherlich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit zurückzuführen ist. Die Armutsfrage stellte sich im 12. Jahrhundert besonders dringlich. Viele Menschen lebten am Rande des Existenzminimums und waren auf Hilfe von außen angewiesen, die oft von Klöstern geleistet wurde.296 In diesem Zusammenhang entbrannte eine heftige Diskussion um das Ideal der Weltdistanz, das gerade von Seiten der religiösen Erneuerungsbewegungen (bspw. von den Kartäusern, Zisterziensern oder den häretischen Armutsbewegungen) gefordert wurde: Viele Ordensleute sahen nicht mehr den caritativen Dienst am Nächsten, sondern ein eremitisches Leben in Askese als ihre Hauptaufgabe an.297 Dieser Rückzug aus der Welt und ihren drängenden Problemen wurde z. T. heftig kritisiert. Dass sich Radulfus Ardens intensiv mit diesen Fragen beschäftigt hat, zeigt sich auch an mehreren Stellen Buch 12, wo er die radikale Weltdistanz mehrfach kritisch kommentiert und immer wieder die Bedeutung der tätigen Nächstenliebe hervorhebt.298 Für das systematische Ziel der Arbeit würde eine genaue Analyse der einzelnen Arten des Almosens und seiner Vergabekriterien wenig Gewinn bringen, weshalb auf diesen Komplex inhaltlich auch nicht genauer eingegangen wird. Jedoch sind im Traktat über das Almosen einige Punkte auffällig, die den komplementären Charakter der ‚beneficentia‘ noch deutlicher hervorheben. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff ‚talentum‘ eine Schlüsselrolle, der sich auch in der Übersicht zu den Arten des Almosens häufig findet. Er bezieht sich auf das Bild aus dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25, 14–30; Lc 19, 12–27).299 Damit ist die Vorstellung verbunden, dass jeder Mensch nur über ein bestimmtes Maß an Ressourcen verfügt, das er möglichst effektiv unter den Mitmenschen verteilen muss. Dieses Ziel kann er auf zweierlei Weise verfehlen: Er kann erstens – wie es der schlechte Knecht im Gleichnis tut – sein ‚Talent‘ überhaupt nicht nutzen und zurückhalten. Dieses Verhalten entspricht im Konzept des Radulfus Ardens dem Laster der ‚auaritia‘. Zweitens kann er seine Ressourcen aber auch falsch, d. h. ohne ‚discretio‘ und im Übermaß verteilen, sodass er entweder sich selbst damit in Not bringt oder viel weniger Menschen mit seiner Hilfe erreicht, als er eigentlich könnte. Dieses Fehlverhalten würde Radulfus Ardens mit dem Laster der ‚prodigalitas‘ gleichsetzten. Es geht also darum, sein Talent im Sinne der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe gut zu verteilen300 und dazu ist im Kontext des diesseitigen Ressourcenmangels auch ein bewahrendes Moment notwendig. Nur mithilfe der ‚parsimonia‘ ist es möglich, im eigentlichen Sinne gute,
296 Vgl. dazu ausführlich SCHNEIDER, Armenfürsorge 140–168. 297 Vgl. dazu z. B. SCHLEMMER, Frömmigkeitsformen 142–144. 298 Vgl. dazu Punkt 2.1.3.2 im dritten Teil der Arbeit. 299 Darauf nimmt Radulfus Ardens auch mehrfach direkt Bezug, so etwa in Spec. uniu. 11, 52 (P, fol. 77ra): „Nisi enim exhibeatur ab eis, qui habent facultatem, imputatur ad dampnationem. Quod bene demonstratur in parabola serui commissum talentum abscondentis, qui merito et talento priuatur et reprobatur.“ 300 Vgl. dazu auch die kurze Erwähnung bei SCHNEIDER, Armenfürsorge 159.
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘
265
d. h. situationsgerechte, Wohltaten zu erweisen, da diese Tugend den Gesamtzusammenhang der menschlichen Unheilssituation berücksichtigt und damit überhaupt erst eine gerechte Verteilung möglich macht. Von daher muss zumindest aus systematischer Perspektive das Kapitel 97 zum Almosentraktat hinzugerechnet werden, zumal sich die 12. Leitfrage (‚quid largienti uitandum sit?‘), die in keinem eigenen Kapitel behandelt wird, durchaus als Hinweis auf diese Ambivalenz der ‚beneficentia‘ und damit auf ihre Komplementärtugend in Kapitel 97 interpretieren lässt.
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘ Mit 15 Kapiteln (c. 123–137) bilden die Ausführungen über Hoffnung und Furcht den zweitgrößten Abschnitt über ein Komplementärtugendpaar in Buch 11. Auch Hoffnung und Furcht werden in Arten und Tochtertugenden, jedoch nicht in Unterarten aufgeteilt. Die vierte Gliederungsebene fehlt also in diesem Abschnitt. Radulfus Ardens leitet den Abschnitt in Kapitel 123 mit allgemeinen Aussagen zu den beiden Tugenden Hoffnung und Furcht ein. Er betont den engen systematischen Zusammenhang von Liebe und Hoffnung: So geht die Hoffnung zwar aus der Liebe hervor, hat jedoch auch selbst einen großen Einfluss auf sie. Dieser dynamische Prozess lässt sich folgendermaßen nachzeichnen: Am Anfang steht die Liebe, die einen bestimmten Gegenstand begehrt. Die daraus entstehende Hoffnung ist auf den zukünftigen Erwerb dieses gegenwärtig noch ausstehenden Gegenstandes bezogen und facht ihrerseits die Liebe weiter an. Erscheint das gewählte Ziel jedoch mit zunehmender Anstrengung unerreichbar, stellt sich Verzweiflung ein und die Hoffnung schwindet. Dies führt wiederum dazu, dass die Liebe, aus der die Hoffnung ursprünglich entstanden ist, erkaltet.301 Die Hoffnung ist also gewissermaßen als der durative Aspekt der begehrenden Liebe zu verstehen. Denn im Gegensatz zu den Tugenden Freude, Fröhlichkeit du Heiterkeit (die auch dauerhafte Zustände beschreiben) ist ihr Objekt kein vorhandener, sondern ein noch nicht erworbener Gegenstand. Obwohl er hier nicht explizit darauf zu sprechen kommt, lässt sich aus der Erwähnung der Verzweiflung (‚desperatio‘) – also der lasterhaften Übersteigerung der Furcht – schließen, dass Furcht und Hass in einem ähnlich reziproken Verhältnis stehen. Der Aufbau des Traktats über Hoffnung und Furcht erfordert einige kurze Bemerkungen. Zunächst präsentiert Radulfus Ardens in Kapitel 123 sieben Leitfragen, die er hinsichtlich der ‚spes‘ beantworten will:302 301 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va): „Spes quippe oritur ex caritate. Quia enim rem diligimus, ideo eam speramus. […] Quoniam spes inflammat dilectionem, et si non assit spes dilectio frigescit. Que enim nos habere posse desperamus, amare non curamus.“ 302 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va): „Videndum est igitur quid sit spes et unde dicatur, quot sint eius species, que sit spes uirtus, quanta uirtus sit, que uirtus sit ei collateralis, qui termini.“
266
. . . . . . .
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
‚quid sit spes?‘ ‚unde dicatur spes?‘ ‚quod sint eius species?‘ ‚que spes sit uirtus?‘ ‚quanta uirtus sit spes?‘ ‚que uirtus sit ei collateralis?‘ ‚qui sint eius termini?‘
) (c. 123) (c. 124) )(c. 126) (c. 128.129)
Diese Aufgliederung ist nicht ganz vollständig, da er noch zwei weitere Fragen thematisiert, nämlich ob dann von wahrer Hoffnung (‚uera spes‘) die Rede sein kann, wenn man die drei Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe nur zeitweise besitzt (c. 126) und was die Hoffnung vom Glauben unterscheidet (c. 127). Daran wird deutlich, dass es bestimmte Bezugspunkte zwischen Hoffnung und Glauben gibt. Wie sich aus Kapitel 129 ergibt, ist auch der Passus über die Furcht nach Leitfragen gegliedert:303 . . .
‚quid timendum sit et quare?‘ ‚quot sint species timoris?‘ ‚quod sit in hac uita semper timendum?‘
(c. ) (c. ) (c. )
Erstaunlicherweise endet der Traktat über Hoffnung und Furcht jedoch nicht nach der Beantwortung dieser Fragen in Kapitel 132; stattdessen schließen sich noch fünf weitere Kapitel (c. 133–137) an, in denen der Autor ausführlich über das komplementäre Verhältnis zwischen ‚spes‘ und ‚timor‘ reflektiert. Dabei leitet er aus der Verschmelzungstugend (‚timor bene sperans‘) und den beiden lasterhaften Formen (‚spes non timens‘ und ‚timor non sperans‘) weitere Untertugenden und -laster her. Dieser letzte Abschnitt enthält zahlreiche wichtige Informationen, weshalb darauf genauer eingegangen wird, während aus den übrigen Kapiteln nur Einzelaspekte herausgegriffen werden.
2.2.1 Die begriffliche Ausdifferenzierung von Hoffnung und Furcht und ihr komplementäres Verhältnis zueinander Im Folgenden wird zunächst untersucht, wie Radulfus Ardens die Hoffnung definiert und in welche ‚species‘ er sie aufteilt. Diese Rekonstruktion wird anschließend hinsichtlich der Furcht wiederholt und schließlich wird dargestellt, in welcher
303 Spec. uniu. 11, 129 (P, fol. 95va): „Vbi considerandum est quid sit timendum et quare et quot sint timoris species, et quod semper hac in uita sit timendum.“
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘
267
Weise diese begrifflichen Unterscheidungen im Rahmen der Komplementärtugend Hoffnung – Furcht aufeinander bezogen werden. – Zunächst also zur Hoffnung: Sie wird in Kapitel 123 als die Erwartung einer erwünschten Sache definiert.304 Dabei handelt es sich allerdings nur um die allgemeine (‚generalis‘) Definition des Affekts ‚spes‘, ohne dass damit schon das Wesen der entsprechenden Tugend in den Blick genommen wäre. Um genauer zu bestimmen, welche Hoffnung im eigentlichen Sinne eine Tugend ist, unterteilt sie Radulfus Ardens in Kapitel 123 zunächst in ihre Arten. Der Autor unterscheidet in einem ersten Schritt drei verschiedene Hoffnungsbegriffe: Dabei nennt er erstens die Hoffnung, die das bezeichnet, worauf wir hoffen (‚in quam speramus‘). Damit ist die Quelle der Hoffnung gemeint, die idealerweise Gott ist.305 Zweitens nennt er die Hoffnung, die den Gegenstand bezeichnet, den wir konkret erhoffen (‚quam speramus‘). Damit kann im allgemeinen Sinne weltliches Wohlergehen oder jenseitiges Heil gemeint sein, aber auch jedes beliebige Gut oder Übel, das man sich wüscht.306 Drittens führt er die Hoffnung an, in der wir hoffen (‚in qua speramus‘) und bezeichnet sie als einen Affekt des Geistes (‚affectus mentis‘).307 Mit dieser Bestimmung rückt er sie bereits in die Nähe der Tugend, da die ‚affectus mentis‘ das Grundmaterial für die affektiven Tugenden sind.308 Dieser dritte Begriff wird nun weiter ausdifferenziert und führt unmittelbar zur ‚spes uirtualis‘: Es gibt nämlich vier Arten der Hoffnung, die natürliche (‚spes naturalis‘), die lasterhafte (‚spes uitiosa‘), die tugendhafte (‚spes uirtualis‘) und die vorwegnehmende (‚spes presumptuosa‘).309 Auf die tugendhafte Hoffnung geht er hier nicht weiter ein, sondern behält sich das Thema für Kapitel 124 vor. Stattdessen erklärt er zunächst die drei übrigen Arten: Die natürliche Hoffnung ist nicht per se schlecht, sondern wird nur dann zu einem Laster, wenn sie in übersteigerter Weise geschaffene Güter erhofft. Sie ist auf die Dinge ausgerichtet, die sich der Mensch von Natur aus wünscht – Radulfus Ardens nennt diesbezüglich das Leben an sich, die Gesundheit, alle lebensnotwendigen Dinge und überhaupt alles, was dem Menschen
304 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va): „Spes autem generaliter describitur hoc modo: Spes est expectatio rei desiderate.“ 305 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94vb): „Porro spes in quam speramus est illud, unde tamquam ex causa estimamus nos consequuturos rem quam speramus.“ 306 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 95ra): „Spes uero quam speramus est salus uel spiritualis uel temporalis, uel quodcumque desideratum siue bonum siue malum.“ 307 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 95ra): „Spes autem qua speramus est affectio mentis quam superius descripsimus.“ 308 Zu der Unterscheidung von geistigen und fleischlichen Affekten vgl. den Punkt 2.2.2 im ersten Teil der Arbeit. Die ‚affectus mentis‘ werden in Buch 4 (c. 5) als Freunde des Menschen und die ‚affectus carnis‘ in Buch 3 (c. 5–9) als Feinde des Menschen behandelt. 309 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 95ra): „Hec autem est quadruplex. Nam alia est naturalis, alia uiciosa, alia presumptuosa, alia uirtualis.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
erstrebenswert erscheint.310 Von lasterhafter Hoffnung spricht er dagegen in zwei Fällen: Zum einen dann, wenn man sich die Erfüllung böser Wünsche erhofft und zum anderen im Fall einer übersteigerten natürlichen Hoffnung.311 Die vorwegnehmende Hoffnung meint schließlich die Haltung einer Person, die auf Gott hofft, aber ihre Rettung schon vorwegnimmt und in Verkennung ihrer Lage nicht von der Sünde ablässt.312 Auch wenn betont wird, dass sie gut ist, insofern sie sich auf Gott bezieht,313 gehört sie in den Bereich der ‚spes uitiosa‘. Dafür spricht zum einen, dass die Vorwegnahme (‚presumptio‘) die lasterhafte Form der Hoffnung ist, zum anderen werden der ‚spes presumptuosa‘ im dazugehörigen Baumdiagramm314 einige derjenigen Laster zugeordnet, die nach Kapitel 135 aus der ‚spes non timens‘ hervorgehen.315 Nach der begrifflichen Ausdifferenzierung ist der Weg geebnet, um die tugendhafte Hoffnung genauer zu beschreiben. Dies unternimmt Radulfus Ardens in den anschließenden vier Kapiteln (c. 124–127). Hier kann es nur darum gehen, einzelne Schlaglichter auf den Abschnitt zu werfen, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche Funktionen der ‚spes uirtualis‘ zugewiesen werden und wie sie über den Kontext der affektiven Tugenden hinaus systematisch in die spezielle Tugendlehre des Speculum universale eingebunden ist. Zunächst konkretisiert er die Verhaltensweise, die er unter der tugendhaften Hoffnung versteht, durch zwei Definitionen: In der ersten wird sie als Erwartung des ewigen Heils beschrieben.316 Die zweite ist ausführlicher und definiert sie als sichere Erwartung (‚expectatio certa‘) des ewigen Glücks, die aus der Gnade Gottes und den vorausgegangen Verdiensten hervorgeht.317 Während Radulfus Ardens auf die erste Definition nicht mehr zurückkommt, geht er kurz auf die Bestandteile der zweiten ein und deutet dabei einige Bezüge zur Tugend des Glaubens an: Denn dass es sich bei der Hoffnung um eine sichere
310 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 95ra): „Et naturalis quidem est quoniam uitam, uel salutem, uel aliqua necessaria, siue comoda nobis speramus, que sperare naturale et bonum est, nisi modus excedatur.“ 311 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 95ra): „Vitiosa uero est spes quando mala desideria nostra adimplere speramus, uel etiam ipsa naturalia ultra modum adipisci.“ 312 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 95ra): „Presumptuosa uero spes est quando speramus quod demeremur, ut quando aliquis sperat eternam salutem, cum tamen peccando faciat contra eam.“ 313 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 95ra): „Quod in quantum est spes, bona est, quoniam semper bonum est sperare in Domino, et si magnis detineamur peccatis; in quantum uero est presumptuosa, mala est in hoc uidelicet, quod sperans in Domino non recedit a peccato.“ 314 Nämlich ‚stulta securitas‘, ‚negligentia‘, ‚sompnolentia‘, ‚dissolutio‘ (vgl. P, fol. 98r). Hier fällt allerdings in Abgleich zu Kapitel 135 ein Unterschied auf: Von den sieben im Text genannten Lastern kommen im Baumdiagramm nur diese vier vor. 315 Spec. uniu. 11, 135 (P, fol. 97va): „Si uero fuerit in nobis spes sine timore, oritur ex ea stulta securitas, negligentia, incuria, sompnolentia, dissolutio, presumptio, peccati super peccatum accumulatio.“ 316 Spec. uniu. 11, 124 (P, fol. 95ra): „Spes uero uirtualis est expectatio salutis eterne […].“ 317 Spec. uniu. 11, 124 (P, fol. 95ra): „Spes est expectatio certa beatitudinis eterne proueniens ex gratia Dei et ex precedentibus meritis.“
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘
269
Erwartung handelt, erscheint auf den ersten Blick durchaus fragwürdig, da es sich beim Objekt der ‚spes‘ ja um einen noch nicht erworbenen Gegenstand handelt. Radulfus Ardens spezifiziert sie daher als eine gewissermaßen verschlüsselte Sicherheit (‚quedam enigmatica certitudo‘), die von ihrem Wahrheitsgehalt her zwar unter dem Wissen (‚scientia‘), aber über der Meinung (‚opinio‘) steht. Wie ist diese Aussage zu verstehen? Radulfus Ardens verweist selbst darauf, dass er den Begriff ‚certitudo‘ bereits früher erklärt hat.318 Die entsprechende Stelle findet sich am Anfang von Buch 7. Dort werden in den Kapiteln 4–6 insgesamt drei Glaubensdefinitionen angeführt, von denen die dritte in Kapitel 6 für das Verständnis der Aussage zur Hoffnung in Buch 11 relevant ist. Im Anschluss an Hugo von Sankt Viktor wird dort der Glaube als eine willentliche Gewissheit (‚certitudo‘) im Bereich unsichtbarer und auf das Heil bezogener Dinge definiert, die unter dem Wissen, aber über der Meinung steht.319 Ohne die dazugehörige Erklärung im Einzelnen nachzuzeichnen, lässt sich der Begriff ‚enigmatica certitudo‘ in Abgrenzung zu ‚scientia‘ und ‚opinio‘ folgendermaßen verstehen: Wissen entsteht aus notwendigen (‚necessario‘) vorhergehenden Ursachen und notwendigen späteren Folgen, während Meinung nur aus wahrscheinlichen (‚probaliliter‘) Ursachen und wahrscheinlichen Folgen erwächst. Die ‚enigmatica certitudo‘ wiederum hat mit dem Wissen die Gewissheit gemeinsam, fußt aber wie die Meinung lediglich auf wahrscheinlichen Ursachen und Auswirkungen.320 Diese Bestimmung trifft demnach sowohl auf den Glauben als auch auf die Hoffnung zu. Radulfus Ardens führt den Gedanken fort und nimmt ihn zum Anlass, in den Kapiteln 125 und 127 das systematische Verhältnis von Hoffnung und Glaube allgemein zu beleuchten. Die beiden Tugenden unterscheiden sich in zwei Punkten: Erstens erstreckt sich der Glaube auf Güter und Übel, die Hoffnung jedoch nur auf Güter; zweitens ist der Glaube auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges
318 Spec. uniu. 11, 124 (P, fol. 95ra): „Dicitur autem spes ‘certa expectatio’ certitudine enigmatica que, sicut superius diximus, est supra opinionem et infra scientiam constituta.“ 319 Spec. uniu. 7, 6 (CCM 241A, p. 11): „Item describitur fides et tertio modo: Fides est uoluntaria quedam certitudo inuisibilium ad salutem pertinentium citra scientiam et supra opinionem constituta.“ Vgl. dazu HUGO S. VICT., Sacram. 1, 10 (Corp.Vict. TH 1, p. 226 f.): „Ex his ergo conici potest quare fidem certitudinem appellauimus. quoniam adhuc ubi est dubitatio. fides non est. Patet etiam quare ipsam certitudinem quam fidem appellauimus supra opinionem uel estimationem. & infra scientiam diximus esse constitutam.“ 320 Spec. uniu. 7, 6 (CCM 241A, p. 12): „Enimuero scientia est perceptio ueritatis ex causis necessario precedentibus uel ex signis necessario consequentibus cum certitudine. […] Opinio uero est perceptio rei ex causis tantum probabiliter precedentibus uel ex signis tantum probabiliter sequentibus citra certitudinem. Fides autem est perceptio rei ex causis tantum probabiliter precedentibus uel ex signis tantum probabiliter sequentibus cum certitudine. Fides igitur media est inter scientiam et opinionem. In hoc enim, quod non est ex necessariis, est citra scientiam et in hoc quod habet certitudinem, est supra opinionem habens communem cum scientia certitudinem et habens commune cum opinione, quod tantum ex probabilibus est.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
ausgerichtet, die Hoffnung jedoch ausschließlich auf Zukünftiges.321 An dieser Bestimmung zeigt sich zum einen, dass die Hoffnung (wie alle Tugenden) in den Glauben eingebettet ist und dieser einen weitaus größeren Bezugsrahmen hat; zum anderen wird deutlich, dass Glaube und Hoffnung von der Sache her eng miteinander verwandt sind. Deshalb bilden die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe eine dynamische und organische Einheit: Sie müssen nämlich keineswegs zu jedem Zeitpunkt in gleichem Maß verwirklicht sein. Entscheidend ist vielmehr, dass sie von ihrer Herkunft her wahrhaftig sind. Dies wird am Beispiel der Hoffnung veranschaulicht: Auch wenn sich Hoffnung nicht immer konkret auswirkt, handelt es sich dabei dennoch um eine wahrhaftige Hoffnung (‚uera spes‘), wenn sie aus dem wahrhaftigen Glauben und der wahrhaftigen Liebe entsteht. Gleiches gilt auch für Liebe und Glaube.322 – Die Definition der Furcht lässt sich aus der Definition der Freude erschließen: Während die Hoffnung nämlich einen erwünschten bzw. geliebten Gegenstand ersehnt, ist die Furcht die Erwartung einer verhassten Sache.323 Sie wird in Kapitel 131 insgesamt in fünf Arten unterteilt: In einem ersten Schritt werden die natürliche (‚timor naturalis‘) und die lasterhafte Furcht (‚timor uitiosus‘) aufgeführt. Der ‚timor naturalis‘ meint dabei die Angst vor den Dingen, die der Mensch von Natur aus fürchtet. Radulfus Ardens nennt diesbezüglich Tod, Krankheit, Armut, Fremde und Gefängnis. Ähnlich wie die natürliche Hoffnung ist sie keine Sünde, solange sie im rechten Maß bleibt. Als Beweis dafür führt er an, dass selbst Christus den Tod fürchtete.324 Um verständlich zu machen, was die lasterhafte Furcht ist, konkretisiert er sie weiter und nennt drei Aspekte, die sich jeweils aus unterschiedlichen Quellen speisen: Zunächst kann die natürliche Furcht zum Laster werden, wenn man in übertriebener Weise (‚ex intemperantia‘) vor den weltlichen Gefahren Angst hat und dabei vergisst, dass an sich nur Gott zu fürchten
321 Spec. uniu. 11, 127 (P, fol. 95rbf.): „Differt autem spes a fide, quoniam fides est tam de bonis quam de malis, spes de solis bonis. Fides tam de preteritis quam de presentibus et futuris, spes uero de solis futuris.“ 322 Spec. uniu. 11, 125 (P, fol. 95rb): „Queritur autem de eo qui ad tempus habet spem, fidem et caritatem, utrum spes eius sit uera. […] Ad hoc respondetur: Quod huiusmodi spes uera est, ueritate generis, non ueritate effectus. Et ueritate quidem generis uera est, quoniam uera uirtus est, et ad uitam eternam duceret, si perseuerantiam secum haberet, sed quia perseuerantiam non habet, effectu quoque caret […].“ 323 Spec. uniu. 11, 123 (P, fol. 94va): „Quod autem adiunctum est ‘rei desiderate’, ad differentiam timoris positum est, que est expectatio rei non desiderate, sed exose. Ea quippe que desideramus, speramus, et ea que odimus, timemus.“ 324 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 95vb): „Sane naturalis est timere ea que naturaliter timet humana natura, ut infirmitatem, mortem, famem, paupertatem, exilium, carcerem et huiusmodi. Cuiusmodi timor non est peccatum, nisi modum excesserit. Vnde et redemptor noster legitur mortem timuisse. Cepit enim morte imminente pauere et tedere.“
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘
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ist.325 Um schlechte Furcht (‚ex malitia‘) handelt es sich, wenn man Angst davor hat, dass sich die eigenen verdorbenen Gelüste nicht erfüllen.326 Die engherzige Furcht (‚ex pusillanimitate‘) ist schließlich dadurch gekennzeichnet, dass man sich aus übertriebener Angst vor Schwierigkeiten nicht traut, Gutes zu tun bzw. damit zumindest anzufangen.327 In einem zweiten Schritt nennt Radulfus Ardens die Furcht des Knechts (‚timor seruilis‘), die Furcht des Anfangs (‚timor initialis‘) und die Furcht des Kindes (‚timor filialis‘).328 Diese drei Formen stehen für Entwicklungsstadien der tugendhaften Furcht (‚timor uirtualis‘) und setzten den Fokus auf ihre inneren Beweggründe. Die Furcht des Knechts erwächst aus der Angst vor Strafe. Sie ist nur bedingt als gut anzusehen, da sie nicht aus Liebe zu Gott entsteht, der Betroffene eigentlich lieber ungestraft sündigen würde und Gottes Weisungen letztlich nur aus Zwang erfüllt werden. Dass sie überhaupt zur tugendhaften Furcht gerechnet wird, liegt daran, dass sie in ihrem Wesenskern bereits auf Gott ausgerichtet ist und dazu motiviert, von der Sünde abzulassen. In dieser Hinsicht ist sie mit der Furcht des Anfangs deckungsgleich und steht am Anfang einer Entwicklung, die schließlich unter dem Einfluss der Liebe zum vollendeten ‚timor uirtualis‘ führt.329 Als ‚timor initialis‘ wird jede Furcht bezeichnet, die dazu motiviert, von der Sünde abzulassen; damit entspricht sie einerseits dem ‚timor seruilis‘, geht aber auch darüber hinaus, da sie sich nicht nur allein aus der Furcht, sondern auch schon aus der Liebe speist.330 Die vollendete Form der Furcht erwächst schließlich nur noch aus der Liebe, ähnlich wie die Liebe des Kindes zum Vater, weshalb Radulfus Ardens sie auch als
325 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 95vb): „Vitiosus uero timor, alius est intemperans, alius malus, alius pusillanimis. Primus est uitiosus ex intemperantia, secundus ex malitia, tertius ex pusillanimitate nimia. Sane intemperans est timor, quando timor naturalis superexcedit et contra Deum nos facere facit, ut Petrum timor mortis Christum negare fecit.“ 326 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 95vb): „Timor malus est, ut quando timemus quod timere malum est, ut quando timemus, ne mala desideria nostra adimplere ualeamus.“ 327 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 95vb): „Timor pusillanimis est, ut quando timemus bonum incipere ex animi debilitate.“ 328 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 95vb): „Timor uero alius est naturalis, alius uitiosus, alius seruilis, alius initialis, alius filialis.“ 329 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 95vbf.): „Seruilis uero timor est, quando quis timet Deum pro consciencie sue reatu, nec tamen deserit peccatum. Hic enim non diligit Deum, sed timet; uelletque Deum non esse, ut sibi impune liceret peccare. […] Queritur autem utrum seruilis timor sit bonus. Et dicimus quia in quantum est timor, est bonus; in quantum est seruilis, est malus.“ 330 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 96ra): „Initialis uero timor est, quando aliquis deuitat peccare tum propter pene timorem, tum propter Dei amorem. […] Primum enim incipit peccator propter timorem pene peccatum suum deserere, postea incipit et cum timore diligere, tandem timorem penitus excludit et propter solum Dei amorem offendere fugit.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
‚timor filialis‘ bezeichnet.331 Die naheliegende Frage, was diese Tugend dann noch von der Gottesliebe unterscheidet, beantwortet Radulfus Ardens so: Die Furcht hat zwei Auswirkungen, nämlich Strafe (‚pena‘) und Ehrfurcht (‚reuerentia‘); während der erste Aspekt unter dem Einfluss der Liebe verschwindet, wird der zweite immer wichtiger. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch präzisieren, welche Haltung mit dem Begriff ‚Gottesfurcht‘ genau gemeint ist: Der Gerechte fürchtet sich nicht vor Gott selbst, sondern vielmehr vor den Sünden und Lastern, durch die er Gott anstoßen und sich von ihm entfernen würde.332 Durch diese Ausführungen wird der Prozess verdeutlicht, in dem sich eine amative Tugend (Gottesliebe) und eine oditive Tugend (Furcht) zu einer einzigen Tugend, nämlich der durch Liebe getragenen Ehrfurcht gegenüber Gott, verbinden. An dieser Stelle bietet es sich an, die eben dargestellten begrifflichen Ausdifferenzierungen übersichtlich darzustellen:
spes
↔
timor
in quam speramus (c. 123) quam speramus (c. 123)
timor naturalis (c. 131) qua speramus (c. 123)
spes naturalis (c. 123)
spes uitiosa (c. 123) spes presumptuosa (c. 123) presumptio (c. 133)
spes uirtualis (c. 123)
spes (c. 123-127)
↔
↔
timor filialis ↑ timor initialis ↑ timor seruilis timor uirtualis (c. 131)
timor uitiosus (c. 131)
timor (c. 129-133)
desperatio (c. 128)
Abb. 30: Die Arten von Hoffnung und Furcht.
Die Überlegungen zum Verschmelzungsprozess der beiden Tugenden Gottesliebe und Gottesfurcht leiten direkt zum Kern des Abschnittes über, in dem das komplementäre Verhältnis von Hoffnung und Furcht beschrieben wird. Diesbezüglich sind
331 Spec. uniu. 11, 131 (P, fol. 96rb): „Timor uero filialis est, quando non propter malam conscientiam neque propter penam timemus Deum, sed propter solam dilectionem. Hic etiam dicitur castus timor.“ 332 Spec. uniu. 11, 130 (P, fol. 95vb): „Improprie dicitur iustus timere Deum, quoniam non timet Deum, sed timet eum offendere. Ea enim sola que odimus timemus. Vnde quia iustus sola uitia et peccata odit, ea sola timet incurrere.“ Diese Furcht hatte auch Christus; vgl. dazu ebd. 11, 132 (P, fol. 96va): „[…] de filiali timore qui solus fuit in Christo, et hic non quantum ad penam, sed quantum ad reuerentiam.“
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘
273
v. a. die drei Kapitel 128, 129 und 133 wichtig. In Kapitel 128 beschäftigt sich Radulfus Ardens ‚uitium contrarium‘ der Furcht, der Verzweiflung.333 Ohne dieses Laster eigens zu definieren, führt er aus, dass nicht jede Verzweiflung schlecht und nicht jede Hoffnung gut ist. Entscheidend für die Bewertung ist dabei der Gegenstand des Affekts: Stützt sich die Hoffnung auf menschliche Fähigkeiten und Verdienste, ist sie schlecht, stützt sie sich auf Gott, ist sie gut. Analog dazu ist die Verzweiflung im Hinblick auf Gott schlecht, im Hinblick auf die eigenen Fähigkeiten aber gut.334 In Kapitel 129 wird die Furcht als Komplementärtugend der Hoffnung bestimmt.335 Radulfus Ardens betont hier erneut, dass sich diese Angst ausschließlich darauf richten darf, Gott anzustoßen. Alle Arten von weltlichen Gefahren und Widrigkeiten dürfen dagegen niemals per se, sondern nur hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Verhältnis zu Gott Anlass von Furcht sein. Diese Gedanken gipfeln schließlich in der Aussage, dass derjenige, der Gott mit Liebe fürchtet, nichts anders fürchten muss und aus dieser Haltung zugleich Hoffnung und Stärke gewinnt; als Beispiel dafür führt er die Heiligen an.336 Damit ist die Komplementärtugend, die aus der Verschmelzung von Hoffnung und Furcht entsteht, schon angedeutet. Nachdem er bereits ganz am Ende von Kapitel 132 explizit auf das komplementäre Verhältnis von Hoffnung und Furcht sowie auf ihre Verschmelzungstugend (‚timor sperans‘ bzw. ‚spes timens‘) hingewiesen hat,337 beschreibt er in Kapitel 133 diese Struktur genauer. Zunächst bestimmt er die ‚termini‘ des Komplementärtugendpaares wie folgt: Man darf sich auf der einen Seite nicht in dem Maß ängstigen, dass man verzweifelt; auf der anderen Seite muss man sich davor hüten, so sicher in der Hoffnung zu sein, dass man die ersehnten Güter schon vorwegnimmt. Beide Laster beruhen auf einer verkehrten Wahrnehmung Gottes: Die ‚desperatio‘ sieht nur Gottes unerbittliche Gerechtigkeit, ohne auf seine gnädige Barmherzigkeit zu hoffen; die ‚presumptio‘ hat im Gegenteil nur die Barmherzigkeit Gottes, nicht aber
333 Spec. uniu. 11, 128 (P, fol. 95va): „Porro spei contraria est desperatio.“ 334 Spec. uniu. 11, 128 (P, fol. 95va): „Et sicut spes non omnis est bona, ita et desperatio non omnis est mala. Principali siquidem et optime spei que in Deo est, opposita est pessima desperatio a Deo que peccatum in Spiritum sanctum est. Male uero spei que est uel in uirtute uel in sapientia uel in potentia hominis, opposita est bona desperatio ab eis. Sicut enim malum est in uirtute nostra uel in meritis nostris sperare, sic bonum est de uirtute nostra et de meritis nostris desperare et in solo Deo sperare.“ 335 Spec. uniu. 11, 129 (P, fol. 95va): „Collateralis uero uirtus spei est timor.“ 336 Spec. uniu. 11, 129 (P, fol. 95va): „Itaque qui Deum cum dilectione timet, nichil aliud timere potest, immo cetera cuncta timent eum. Hinc est quod sancti sunt adeo audaces quod demonibus, malis hominibus, serpentibus et bestiis se constanter opponunt.“ 337 Spec. uniu. 11, 132 (P, fol. 96vb): „Sunt igitur spes et timor collaterales uirtutes. Vtraque enim sine altera uitium est. Spes enim sine timore facit hominem presumere, et peccatum super peccatum adiciendo de misericordia Dei nimis confidere; timor uero sine spe facit hominem desperare. Ceterum timor cum spe uirtus est; spes quoque cum timore uirtus est, uel potius una et eadem uirtus est et spes timens et timor sperans.“
274
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
seine Gerechtigkeit im Blick.338 Aus diesen Ausführungen ergibt sich die folgende Darstellung des Komplementärtugendpaares Hoffnung und Furcht, in der auch die Tugend- und Lasterbezeichnungen aus den Überschriften der Kapitel 134–137 zu den Tochtertugenden und -lastern mitenthalten sind: ‚spes timens‘ / ‚timor sperans‘ ‚presumptio‘
‚spes‘
↔
‚timor‘
‚desperatio‘
‚spes non timens‘
‚spes uirtualis‘
↔
‚timor bene sperans‘
‚timor non sperans‘
Im Zuge dieser Ausführungen kommt ein weiteres Detail der Komplementarität zum Vorschein: Radulfus Ardens sieht die Ursache für die Entstehung der beiden Laster Verzweiflung und Vorwegnahme darin, dass der Mensch Gott entweder nur als gerecht oder nur als barmherzig ansieht. Das Wesen Gottes ist also ebenfalls durch Komplementarität geprägt, da die beiden Tugenden ‚iustitia‘ und ‚misericordia‘ offensichtlich in vollendeter Weise in ihm verbunden sind.339 Dies lässt den Rückschluss zu, dass die Komplementarität im Wesen des Menschen ein zentraler Bestandteil seiner Gottebenbildlichkeit ist. Allerdings bleibt diese Wesenseigenschaft im Diesseits unvollendet und brüchig, sodass Harmonie zwischen den beiden komplementären Gegenpolen immer nur in einem gewissen Maß möglich ist. Erst im Eschaton wird die Natur des Menschen völlig wiederhergestellt – dies hat Radulfus Ardens bereits in Kapitel 26 in Zusammenhang der Tugend des Verlangens (‚desiderium‘) herausgearbeitet.
2.2.2 Die ‚filie‘ aus dem Bereich Hoffnung und Furcht Wie bereits angekündigt, benennt Radulfus Ardens im Bereich des zweiten Komplementärtugendpaars eine ganze Reihe von Tochtertugenden und -lastern. Dabei ist auffällig, dass die ‚filie‘ in den vier Kapiteln 134–137 in Anlehnung an das komplementäre Verhältnis von Hoffnung und Furcht entfaltet werden: So wird in Kapitel 134 die ‚spes uirtualis‘ und in Kapitel 135 ihre lasterhafte Übertreibung, die ‚spes non timens‘, unterteilt. In Kapitel 136 differenziert er den tugendhaften ‚timor bene 338 Spec. uniu. 11, 133 (P, fol. 96vbf.): „Sunt igitur termini spei timentis siue timoris sperantis: hinc presumptio, illinc desperatio. Enimuero sic debemus sperare, ne ueniamus usque ad presumptionem, sic quoque debemus timere, ne ueniamus usque ad desperationem. Qui enim presumit, ita credit Deum misericordem quod non iustum; qui uero desperat, ita credit eum iustum quod non misericordem […].“ 339 Spec. uniu. 11, 133 (P, fol. 96vbf.): „Qui enim presumit, ita credit Deum misericordem quod non iustum; qui uero desperat, ita credit eum iustum quod non misericordem; et sic uterque peccat in Spiritum sanctum, cum sacra scriptura eum cotidie predicet misericordem et iustum.“
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘
275
sperans‘ und in Kapitel 137 den lasterhaften ‚timor non sperans‘ aus. Diese Aufgliederung ist in Buch 11 einzigartig und auch sonst wird im Speculum universale das komplementäre Verhältnis zwischen zwei Tugenden nur selten in der Kapitelabfolge abgebildet. Ein Beispiel für ein ähnliches Vorgehen findet sich bspw. in Buch 9: Hier bespricht Radulfus Ardens in den Kapiteln 52–62 die tugend- und lasterhaften Formen der ‚prudentia‘ und ihrer Komplementärtugend ‚simplicitas‘. Die tugendhafte Hoffnung (‚spes uirtualis‘) wird in insgesamt vier ‚filie‘ aufgegliedert: das Verlangen (‚desiderium‘), das Entgegenseufzen (‚suspirium‘), die Langmütigkeit (‚longanimitas‘) und die Freude (‚gaudium‘).340 Bei dieser Aufzählung fällt auf, dass zwei der genannten Tugenden in Buch 11 noch an einer anderen Stelle vorkommen: Das Verlangen wurde bereits als Unterart der Gottesliebe in Kapitel 26 behandelt und die Freude wird zusammen mit dem Zorn als viertes Komplementärtugendpaar in den Kapiteln 144–155 ausführlich dargestellt. Diese Überschneidungen sind bewusst gewählt und Radulfus Ardens äußert sich auch explizit dazu: Das ‚desiderium‘ entsteht nämlich ursprünglich aus der Liebe, bleibt aber ohne Hoffnung nicht lange erhalten. Erst die Hoffnung verleiht ihm Dauer und steigert seine Intensität.341 Das Verlangen ist also ein wichtiger Kristallisationspunkt im Wechselverhältnis von Liebe und Hoffnung. Die Freude nennt er in diesem Kapitel nur kurz und verweist darauf, dass sie später behandelt wird.342 Warum bestimmt Radulfus Ardens gerade diese vier Tugenden als Töchter der Hoffnung? Diese Frage lässt sich durch einen Blick darauf beantworten, welche Aufgaben er ihnen jeweils zuweist: Nascitur autem ex spe uirtute desiderium, suspirium, longanimitas et gaudium. Per primum rem speratam desideramus, per secundum in eam suspiramus, per tertium nulla dilatione ab ea desperamus, per quartum etiam iam in eo gratulamur.343
Die Tugend des Verlangens ist demnach der ursprüngliche Ausgangspunkt dafür, dass ein Wunsch nach einer bestimmten Sache entsteht. Welche Verhaltensweise mit dem Begriff ‚suspirium‘ gemeint ist, wird dagegen nicht auf Anhieb klar. Aufgrund der angeführten Bibelstellen muss der Ausdruck jedoch wörtlich als ‚Seufzen‘ bzw. im Kontext des Verlangens als ‚Entgegenseufzen‘ übersetzt werden. Dieser zunächst rein äußerliche Akt ist für Radulfus Ardens der Ausdruck einer tiefen inneren Sehnsucht. Die sittliche Qualität des Entgegenseufzens ergibt sich aus der Natur des ersehnten Gegenstandes. Das beste Verlangen richtet sich dementsprechend auf Gott
340 Spec. uniu. 11, 134 (P, fol. 97ra): „Nascitur autem ex spe uirtute desiderium, suspirium, longanimitas et gaudium.“ 341 Spec. uniu. 11, 134 (P, fol. 97ra): „Et desiderium quidem diximus supra de dilectione procedere. Sed si ex dilectione procedit desiderium, multo magis ex dilectione sperante. Tepidum enim est desiderium cui spes non superponit incendium.“ 342 Spec. uniu. 11, 134 (P, fol. 97rb): „De gaudio quoque in sequentibus dicturi sumus.“ 343 Spec. uniu. 11, 134 (P, fol. 97ra).
276
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
selbst.344 Das Entgegenseufzen spezifiziert die Tugend des Verlangens dahingehend, dass damit nicht jedes beliebige flüchtige Verlangen gemeint ist, sondern nur ein besonders dauerhaftes, ehrliches und intensives. Die Aufgabe der Langmütigkeit wiederum besteht darin, einen Wunsch auch dann im Auge zu behalten, wenn Hindernisse seiner Erfüllung im Weg stehen. Selbst im Fall negativer Erfahrungen verhindert sie, dass man aufgibt und verzweifelt.345 Er grenzt sie explizit von der Geduld (‚pantientia‘) ab, betont aber auch, dass beide Tugenden untrennbar zusammenhängen. Diese Aussage erklärt sich aus der Definition der ‚patientia‘, die sich in Buch 10 findet. Dort wird die Geduld als eine von drei Arten (‚species‘) der Gerechtigkeit in den Kapiteln 71–79 behandelt. In Kapitel 71 beschreibt Radulfus Ardens die ‚patientia‘ als eine Tapferkeit des Geistes, die Widrigkeiten wegen Gott gleichmütig erträgt.346 Die Geduld deckt also ein wesentlich breiteres Spektrum ab, als die Langmütigkeit: Die ‚patientia‘ dient nämlich dazu, generell alle möglichen äußeren Übel wegen Gott zu ertragen – daher wird in diesem Kontext auch das Martyrium beleuchtet –, während das ‚suspirium‘ ausschließlich gewährleistet, dass gesteckte Ziele allen Hindernissen zum Trotz erreicht werden. Die Tugend ‚gaudium‘ beschreibt schließlich die Freude, die sich über den Erwerb der ersehnten Sache einstellt. Aus diesen Beschreibungen ergibt sich, dass die vier Töchter der tugendhaften Hoffnung den Prozess, in dem sich die Hoffnung ausformt und realisiert, aus der Perspektive der zeitlichen Abfolge abbilden. In ähnlicher Weise bildet auch – wie bereits dargestellt – das Gefolge von Liebe und Hass die zeitliche Konkretisierung der beiden Grundaffekte ab. Aus der ‚spes non timens‘ entstehen insgesamt sieben weitere Laster. In Kapitel 135 werden diesbezüglich törichte Sorglosigkeit (‚stulta securitas‘), Nachlässigkeit (‚negligentia‘), Unbekümmertheit (‚incuria‘), Schläfrigkeit (‚sompnolentia‘), Zügellosigkeit (‚dissolutio‘), Vorwegnahme (‚presumptio‘) und Anhäufung der Sünden (‚accumulatio peccati super peccata‘) genannt.347 Im Gegensatz zur eben besprochenen ‚spes uirtualis‘ ist hier kein systematischer Leitfaden zu erkennen. Radulfus Ardens scheint
344 Spec. uniu. 11, 134 (P, fol. 97raf.): „Est autem suspirare, propter desiderium rei absentis, flatum longius abstrahere. Quod conuenienter psalmista uidetur descripsisse cum ait: Os meum aperui et attraxi spiritum etc. Est enim ac si diceret: Suspiraui quia mandata tua desiderabam. Cum itaque malum est desiderium, et malum est suspirium; cum uero bonum est desiderium, et bonum est suspirium; et cum optimum est desiderium, ut desiderare Deum, optimum est et suspirium, quod quidem acceptissimum est Deo sacrificium et gratissimum, potius quam multitudo et magnitudo exteriorum oblationum.“ Das hier angeführte Schriftzitat (Ps 118, 131) lässt die Bedeutung des Begriffs ‚suspirium‘ klar hervortreten. 345 Spec. uniu. 11, 134 (P, fol. 97rb): „Ex spe quo nascitur longanimitas que est uirtus propter nullam dilectionem lassescendi ad expectationem desiderate rei.“ 346 Spec. uniu. 10, 71 (CCM 241A, p. 636): „Patientia est fortitudo mentis aduersitates propter Deum equanimiter tolerandi.“ 347 Spec. uniu. 11, 135 (P, fol. 97va): „Si uero fuerit in nobis spes sine timore, oritur ex ea stulta securitas, negligentia, incuria, sompnolentia, dissolutio, presumptio, peccati super peccatum accumulatio.“
2.2 Das Komplementärtugendpaar ‚spes‘ – ‚timor‘
277
mit den aufgeführten Verhaltensweisen eher eine leichtlebige und unbekümmerte Lebensweise zu beschreiben, die den widrigen Lebensbedingungen in der diesseitigen Welt jedoch nicht entspricht und daher zur Sünde führt. Genauere Informationen zu den einzelnen Lastern können aus dem Text nicht entnommen werden.348 Bei der tugend- und der lasterhaften Furcht verfährt er ähnlich und skizziert mithilfe der genannten Begriffe bestimmte Lebenseinstellungen. So ist die tugendhafte Furcht (‚timor bene sperans‘) nach Kapitel 136 durch sechs Tochtertugenden gekennzeichnet, nämlich Wachsamkeit (‚uigilantia‘), ängstliche Sorgfalt (‚sollicitudo‘), Vorsicht (‚cautela‘), Geschäftigkeit (‚strenuitas‘), nichts zu vernachlässigen (‚nihil negligere‘) und sich in diesem Leben niemals sicher zu fühlen (‚numquam se in hac uita securum estimare‘).349 Eine von diesen Eigenschaften getragene Lebensführung zeichnet sich also dadurch aus, stets wachsam zu sein ohne überängstlich zu werden. Diesen Aspekt repräsentieren v. a. die ersten drei ‚filie‘. Die gesunde Vorsicht führt allerdings nicht – wie ihre lasterhafte Übertreibung – zur Verzweiflung und Selbstaufgabe, sondern schlägt sich im Willen zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens nieder, was durch die vierte und fünfte ‚filia‘ zum Ausdruck kommt. Die sechste Tochtertugend benennt nochmals die Grundeinstellung, die im Hinblick auf die Lebensbedingungen im Diesseits notwendig ist. Kapitel 137 nennt schließlich sieben Laster, die vom ‚timor non spreans‘ abstammen: Ängstlichkeit (‚trepidatio‘), Unbeständigkeit (‚inconstantia‘), Abstumpfung (‚obstupefactio‘), Selbstentfremdung (‚alienatio‘), Verzweiflung (‚desperatio‘), nichts zu fürchten (‚nihil timere‘) und sich in alle Gefahren zu stürzen (‚se in omnia pericula precipitare‘).350 Diese Eigenschaften beschreiben die Lebenseinstellungen eines zugleich haltlos-verzweifelten und draufgängerischen Menschen: Durch übersteigerte Angst und Überbewertung einzelner Misserfolge verzweifelt er nicht nur an seinem eigenen Lebensplan, sondern auch am Leben an sich. Er entfremdet sich dadurch von sich selbst und von den Dingen, die der menschlichen Natur entsprechen – hierbei stehen sicherlich die ‚bona naturalia‘ im Hintergrund, von denen bei der begrifflichen Ausdifferenzierung mehrerer Tugenden bereits die Rede war. In Konsequenz sind für einen solchen Menschen weder seine körperliche Gesundheit noch sein Seelenheil von Bedeutung und er geht ohne Rücksicht auf Verluste Gefahren für sich selbst und Andere ein. Mit der Skizze der übersteigerten Furcht und
348 Spec. uniu. 11, 135 (P, fol. 97va): „Per primum inter pericula non timemus, per secundum nos custodire negligimus, per tertium nobis prouidere contempnimus, per quartum otio torpescimus, per quintum in uitiis dissoluimur, per sextum de misericordia Dei stulte presumimus, per septimum pondere peccatorum in abysso precipitamur.“ 349 Spec. uniu. 11, 136 (P, fol. 97va): „Ex timore uero bene sperante nascuntur hee uirtutes: uigilantia, sollicitudo, cautela, strenuitas, nichil negligere, nunquam in hac uita se securum estimare.“ 350 Spec. uniu. 11, 137 (P, fol. 97va): „Ex timore uero non sperante oriuntur hec uitia: trepidatio, inconstantia, obstupefactio, alienatio, desperatio, nichil timere, in omnia pericula se precipitare.“
278
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
der mit ihr verbundenen Laster endet der Traktat über Hoffnung und Furcht. Aus dem Textbefund ergibt sich damit folgende schematische Übersicht: timor bene sperans (c. 136)
timor non sperans (c. 137)
desiderium
uigilantia
tepidatio
negligentia
suspirium
sollicitudo
inconstantia
incuria
longanimitas
cautela
obstupefactio
sompnolentia
gaudium
strenuitas
alienatio
dissolutio
nihil negligere
desperatio
presumptio
numquam se in hac uita securum estimare
nihil timere
spes non timens (c. 135)
spes uirtualis (c. 134)
stulta securitas
↔
accumulatio peccati super peccata
in omnia pericula se precipitare
Abb. 31: Die Tochtertugenden von Hoffnung und Furcht.
Gerade die soeben besprochenen vier Kapitel 134–137 werfen jedoch Fragen auf, auf die noch eingegangen werden muss. Abgesehen von der Eigenart der Aufgliederung anhand der Komplementärtugenden und ihrer entgegengesetzten Laster fallen nämlich drei weitere Besonderheiten auf: Mit Ausnahme der vier ‚filie‘ der tugendhaften Hoffnung werden die übrigen Tochtertugenden und -laster lediglich aufgezählt, ohne dass sie genauer erklärt oder im Einzelnen beschrieben werden. Dieser Eindruck legt auch die eben geäußerte Annahme nahe, dass Radulfus Ardens hier nicht in erster Linie die einzelnen Haltungen im Blick hat, sondern eher Lebenseinstellungen beschreibt. Darauf deutet auch die zweite Auffälligkeit hin: Es ist ihm in diesem Bereich allem Anschein nach schwergefallen, für die von ihm gemeinten Verhaltensweisen treffende Begriffe zu finden. Manche von ihnen werden eher beschrieben, als konkret benannt, wie sich an den Beispielen ‚nihil negligere‘, ‚numquam se in hac uita securum estimare‘ und ‚se in omnia pericula precipitare‘ zeigt. Drittens stehen die einzelnen ‚filie‘ von Hoffnung und Furcht offensichtlich in keinem komplementären Verhältnis, obwohl sie von einem Komplementärtugendpaar abstammen. In der Aufzählung kommen zwar auch ‚presumptio‘ und ‚desperatio‘ vor – die lasterhaften Übertreibungen von Hoffnung und Furcht, die in den Kapiteln 128–133 ausführlich behandelt wurden –, dennoch stehen die Tochtertugenden damit in der Mehrzahl systematisch unverbunden nebeneinander. Dies ist umso erstaunlicher, da die entsprechenden Kapitel 134–137 nach komplementären Gesichtspunkten angeordnet sind, ohne dass sie hier genannten Tochtertugenden in einem komplementären Verhältnis stehen, während bspw. im Bereich der ‚caritas in proximum‘ jeder ‚filia‘ eine Komplementärtugend oder zumindest ‚termini‘ zugewiesen werden, obwohl dies aus den Kapi-
2.3 Das Komplementärtugendpaar ‚emulatio‘ – ‚exterritatio‘
279
telüberschriften keineswegs hervorgeht. Insgesamt wirkt der Abschnitt auf den Leser also unübersichtlich und es scheinen sich zwei Methoden zu überschneiden: Den vier Töchtern der Hoffnung liegt die bereits bekannte Struktur der zeitlichen Abfolge zugrunde, bei den übrigen drei Aufgliederungen geht Radulfus Ardens dagegen nicht systematisch, sondern eher assoziativ vor. Diese Beobachtung erlaubt generelle Rückschlüsse auf das Vorgehen des Autos: Neben solchen, die einem systematischen Leitfaden (bspw. der zeitlichen Abfolge oder der Komplementarität) folgen, gibt es auch solche, die scheinbar nur aneinandergereiht werden. Dabei werden im ersten Fall die einzelnen Eigenschaften stets genau beschrieben, erklärt und meist mit Schriftstellen belegt oder durch andere Zitate konkretisiert; im zweiten Fall findet sich dagegen meist nur ein Halbsatz zur Aufgabe bzw. Auswirkung der jeweiligen Verhaltensweise, dessen Informationsgehalt kaum über eine erste Assoziation zur Wortbedeutung hinausgeht. Bisher steht eine Erklärung dafür aus, warum Radulfus Ardens einmal unsystematisch und einmal systematisch aufgliedert. Möglicherweise könnte eine unsystematische Aufgliederung ein Indiz dafür sein, dass er an den entsprechenden Themen kein besonders großes Interesse hatte, nicht genauer darauf eingehen wollte oder sie als weitestgehend selbsterklärend ansah. Abschließend lässt sich zu dem Traktat über Hoffnung und Furcht resümieren, dass gerade bei der begrifflichen Ausdifferenzierung einige Parallelen zur Darstellung von Liebe und Hass erkennbar werden. So wird auch hier deutlich, dass Radulfus Ardens bestrebt ist, die beiden Tugenden ‚spes‘ und ‚timor‘ möglichst präzise zu definieren und sie systematisch in sein Tugendgebäude einzugliedern, wie bspw. am Vergleich von Hoffnung und Glauben (c. 125.127) und den Bezügen zwischen Langmütigkeit und Geduld (c. 134) ersichtlich wird. Hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung der Komplementarität für den Abschnitt lässt sich feststellen, dass sich die Aufgliederung der Kapitel eindeutig nach dem komplementären Verhältnis der beiden Tugenden richtet. Andererseits zeigt sich jedoch – anders als im Bereich von Liebe und Hass – kein einziges neues Komplementärtugendpaar.
2.3 Das Komplementärtugendpaar ‚emulatio‘ – ‚exterritatio‘ Der Abschnitt über das dritte Komplementärtugendpaar fällt mit sechs Kapiteln (c. 138–143) deutlich kürzer aus als der Traktat über Hoffnung und Furcht. Dieser äußerliche Befund schlägt sich auch in der inneren Struktur nieder: So werden Nacheifern und Abschreckung zwar in Arten unterteilt, jedoch keine Tochtertugenden oder Unterarten benannt. Anders als bei Liebe und Hoffnung unterlässt es Radulfus Ardens zudem am Anfang des Traktats, erkenntnisleitende Fragen zu benennen. Die Kapitel 138–143 sind sehr übersichtlich und lassen sich grob in vier Abschnitte gliedern: Zunächst wird der Affekt des Nacheiferns allgemein definiert (c. 138) und im Anschluss in Arten unterteilt bzw. begrifflich ausdifferenziert (c. 139). Sodann stellt
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Radulfus Ardens die Frage, wem man nacheifern soll und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung der ‚exempla‘ insgesamt zu sprechen (c. 140 und 141). Schließlich verortet er die beiden Tugenden ‚emulatio‘ und ‚exterritatio‘ systematisch in seiner Tugendkonzeption, indem er auf Bezugspunkte zu anderen Verhaltensweisen hinweist (c. 142) und sich genauer zu ihrem komplementären Verhältnis äußert. Bevor jedoch der Text im Detail untersucht werden kann, müssen noch zwei begriffliche Probleme besprochen werden. Zum einen stellt sich die Frage nach der passenden Übersetzung für das Wort ‚emulatio‘. Johannes Gründel, der den entsprechenden Affekt nur bei der Darstellung des Gefolges der amativen Seelenkraft erwähnt, übersetzt es mit ‚Wetteifer‘351. Dadurch wird der kompetitive Charakter der Emotion hervorgehoben. In der Tat ist es ein zentrales Moment der ‚emulatio‘, dass jemand, der sich eine bestimmte Sache aneignen möchte, mit seinem Vorbild gleichziehen oder es gar darin übertreffen will und sich von daher in einem gewissen Wettstreit befindet. Deshalb hat die Übersetzung Gründels auch ihre Berechtigung. Auf der anderen Seite gerät damit aber aus dem Fokus, dass es sich bei der Tugend ‚emulatio‘ im Kern um ein durch die Liebe zu sich selbst und zum Nächsten getragenes Bedürfnis handelt, sich die guten Eigenschaften eines anderen Menschen anzueignen. Für die gemeinte Verhaltensweise einen treffenden Begriff zu finden, ist nicht einfach. Daher scheint es geboten, sowohl den Affekt als auch die daraus entstehende Tugend möglichst neutral mit dem Begriff ‚Nacheifern‘ wiederzugeben. Alternativ wäre sicherlich auch die Übersetzung mit ‚Ehrgeiz‘ denkbar, zumal Radulfus Ardens in Kapitel 142 explizit auf die Gefahren des Neides zu sprechen kommt, der als negative Form des Ehrgeizes gelten kann. Allerdings wäre damit auch wieder eine Engführung des Bedeutungsspektrums verbunden. Ebenso könnte man die Tugend ganz grundlegend ‚Maßnehmen am anderen‘ nennen, dabei würde jedoch der Aspekt der tatsächlichen Auswirkung bzw. des aktiven Handelns in den Hintergrund geraten. Von daher wird ‚emulatio‘ im Folgenden der Einfachheit halber mit ‚Nacheifern‘ wiedergegeben.352 Zum anderen fällt eine Uneinheitlichkeit hinsichtlich der Bezeichnung für die Komplementärtugend der ‚emulatio‘ ins Auge. Johannes Gründel führt in seiner Übersicht zu den amativen und oditiven Tugenden diesbezüglich den Begriff ‚exercitatio‘ an,353 der inhaltlich jedoch nicht passt. Unabhängig vom Kontext in Buch 11 ergibt sich auch aus der Darstellung der ‚sequela‘ in Buch 1,354 dass hier ein Affekt des Erschreckens bzw. des Ab- oder Zurückschreckens (‚deterritatio‘) gemeint ist.
351 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 134 f. 352 So verfährt auch Stephan Ernst in seiner Einleitung zur Auswahlübersetzung der Bücher 1 und 5 (vgl. ERNST, Einleitung 1 36). 353 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 276. 354 In Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 52): „Ex odibilitate uero procedit odium, timor, deterritatio, ira, tristitia, penitentia […].“
2.3 Das Komplementärtugendpaar ‚emulatio‘ – ‚exterritatio‘
281
Wie kam dieser Irrtum zustande? Ein Blick in die Handschrift P zeigt, dass im Text von Kapitel 143 stets von ‚exterritatio‘ die Rede ist, während im dazugehörigen Baumdiagramm355 der Begriff ‚exercitatio‘ in Erscheinung tritt. Aus diesem Befund lässt sich erstens schließen, dass Johannes Gründel seine Übersicht allem Anschein nach auf der Grundlage der Baumdiagramme erarbeitet hat. Zweitens liegt eine Uneinheitlichkeit in der Leithandschrift selbst vor. Warum hier zwei unterschiedliche Begriffe genannt werden, lässt sich ohne genauere Untersuchungen der übrigen handschriftlichen Überlieferungsträger nicht beantworten. Für den Zweck der vorliegenden Arbeit genügt der Hinweis auf den schwierigen Textbefund – inhaltlich und systematisch ergeben ausschließlich die Begriffe ‚exterritatio‘ und ‚deterritatio‘ Sinn.356 Nach dieser begrifflichen Klärung werden nun die erwähnten vier Abschnitte dargestellt, in die sich der Traktat über Nacheifern und Abschreckung gliedern lässt. In Kapitel 138 wird der Affekt ‚emulatio‘ grundlegend definiert: Nacheifern heißt, einen anderen Menschen in einer bestimmten Sache nachzuahmen.357 Diese Beschreibung ist bewusst allgemein gehalten und enthält noch keine moralische Bewertung. Der Affekt des Nacheiferns ist also grundsätzlich dafür zuständig, einen bestimmten Gegenstand, der sich im Besitz eines anderen befindet als erstrebenswert anzusehen und dazu zu motivieren, ihn sich aktiv anzueignen. Dabei kann es sich sowohl um materiellen Besitz als auch um Charaktereigenschaften handeln. Der Betreffende nimmt im Zuge dieses Prozesses an seinen Mitmenschen Maß und richtet sich nach Vorbildern, in denen er die Güter verwirklicht sieht, die er liebt und die er für sich selbst erhofft.358 Auf diese Weise wird die ‚emulatio‘ auch mit der Hoffnung und der Liebe verknüpft. Radulfus Ardens weist explizit darauf hin, dass das Bedeutungsspektrum des Begriffes groß ist: So kann ‚emulatio‘ auch Eifersucht bzw. Eifer (‚zelus‘) oder Neid (‚inuidia‘) bedeuten. Diese Überlegungen deuten bereits die Bezugspunkte zu den beiden Tugenden Mitfreude und Zorn an; denn der Neid ist ja das entgegengesetzte Laster der ‚congratulatio‘ und bei der Darstellung des Zorns werden ‚ira‘ und ‚zelus‘ weitestgehend synonym verwendet. Radulfus Ardens meint jedoch stets das Nacheifern, wenn er den Begriff der ‚emulatio‘ im Speculum universale verwendet. Im Kapitel 139 wird der zuvor allgemein definierte Affekt unter der Perspektive der ethischen Bewertung in fünf ‚species‘ unterteilt. Radulfus Ardens nennt das gute (‚emulatio bona‘), das wertlose (‚emulatio uana‘), das schlechte (‚emulatio mala‘), das schmeichlerische (‚emulatio adulatoria‘) und das höhnische Nacheifern
355 Vgl. P, fol. 99v. 356 Auch Stephan Ernst verwendet den Begriff ‚exterritatio‘ (vgl. ERNST, Estote prudentes 564; DERS., Klug wie die Schlangen 52; DERS., Passiones animae 161; DERS., Einleitung 1 36). 357 Spec. uniu. 11, 138 (P, fol. 98va): „Est autem emulatio cupiditas imitandi alium in aliquo.“ 358 Spec. uniu. 11, 138 (P, fol. 98va): „Cum enim rem speramus amatam, consideramus qui et quomodo huiusmodi rem amatam et speratam consecuti sunt et illos emulamur et illos imitari satagimus.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
(‚emulatio irrisoria‘).359 Die ersten drei Arten sind nach dem bereits bekannten Schema gegliedert. Das schlechte Nacheifern beschreibt ein allzu menschliches und daher weit verbreitetes Verhalten: Selbst gute Menschen, die die Absicht haben, ehrlich und verantwortungsbewusst zu leben, kommen davon ab, wenn sie tagtäglich sehen, dass schlechte Menschen mit ihren bösen Taten Erfolg haben.360 Das wertlose Nacheifern richtet sich auf unwichtige Gegenstände, die in die Zuständigkeit des ‚contemptus‘ fallen. Obwohl dies nicht direkt negativ zu werten ist, hält es den Betreffenden von den eigentlich wichtigen Dingen ab und gehört daher ebenfalls in den lasterhaften Bereich.361 Als Beispiel dafür nennt er Paulus, der sich vor seiner Bekehrung zum christlichen Glauben mit übertriebenem Eifer um die Einhaltung der jüdischen Gesetze bemühte. Das gute bzw. tugendhafte Nacheifern richtet sich ausschließlich auf Tugenden anderer Menschen. Vorbilder sind dabei ehrenhafte Menschen (‚honesti uiri‘), die ein Leben nach ethischen Maßstäben führen.362 Die zwei übrigen Arten, die der Autor auflistet, stellen Sonderfälle der ‚emulatio uitiosa‘ dar. So bezeichnet das schmeichlerische Nacheifern das Verhalten eines Ehrgeizlings, der einen Vorgesetzten in allem imitiert und sich ihm unterwirft, um bessere Karrierechancen zu haben oder in den Genuss unlauterer Vorteile zu kommen.363 Dieses Laster ist auch eine typische Charaktereigenschaft kriecherischer Leute, die um jeden Preis gut bei ihren Mitmenschen ankommen wollen. Das höhnische Nacheifern beschreibt die Kunst des Schauspielers, der bestimmte Gesten und Eigenarten von Personen einstudiert, um sie lächerlich zu machen.364 Dass das Schauspiel so negativ bewertet wird, ist zum einen dem historischen Kontext des 12. Jahrhunderts geschuldet. Zum anderen ist darin auch ein aktuell relevanter Aspekt enthalten: Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Rolle im Theater spielt oder einen Menschen, den man emotional schädigen und ausgrenzen will, auf seine auffälligen Angewohnheiten reduziert und ihn böswillig verspottet. Dieses Laster würde man heute möglicherweise im Bereich des ‚Mobbing‘ ansiedeln oder in Zusammenhang mit respektloser bzw. verächtlicher Satire diskutieren.
359 Spec. uniu. 11, 139 (P, fol. 98va): „Porro emulatio alia est mala, alia est uana, alia est adulatoria, alia est irrisoria, alia est bona.“ 360 Spec. uniu. 11, 139 (P, fol. 98va): „Mala est quando aliquis imitatur aliquem in malo.“ 361 Spec. uniu. 11, 139 (P, fol. 98va): „Vana est, quando aliquis imitatur aliquem in uanis et in inutilibus, secundum quam dicit Paulus se antequam ad fidem conuerteretur fuisse emulatorem paternarum traditionum.“ 362 Spec. uniu. 11, 139 (P, fol. 98va): „Bona est, quando aliquis emulatur imitari bonos mores alicuius honesti uiri. […] Est igitur emulatio uirtus imitandi bonum in alio.“ 363 Spec. uniu. 11, 139 (P, fol. 98va): „Adulatoria est, quando adulator cupit imitari illum, cui cupit adulari.“ 364 Spec. uniu. 11, 139 (P, fol. 98va): „Irrisoria est, quando aliquis irridet aliquem turpes eius gestas et figuras imitando.“
2.3 Das Komplementärtugendpaar ‚emulatio‘ – ‚exterritatio‘
283
2.3.1 Die ‚emulatio‘ und ihre Bedeutung für die Funktion der ‚exempla‘ im Speculum universale Der dritte Abschnitt, der aus den beiden Kapiteln 140 und 141 besteht, beschäftigt sich mit der Frage, welche Vorbilder sich für das gute Nacheifern anbieten. Erwartungsgemäß stehen diese Überlegungen in einem engen Zusammenhang mit dem Ideal der Nachfolge Christi. So betont Radulfus Ardens gleich am Anfang von Kapitel 140, dass man in erster Linie Gott nacheifern muss und sich erst danach an den Mitmenschen orientieren darf. Dabei ist entscheidend, dass diese Vorbilder Christus aktiv nachfolgen und die göttliche Güte (‚bonitas‘) in ihrer Lebensführung sichtbar ist.365 Der Autor nennt hier vorerst die Apostel und Märtyrer.366 In Kapitel 141 geht er der Frage nach geeigneten Vorbildern weiter nach und nimmt zunächst eine begriffliche Unterscheidung vor: Während man Christus in allen seinen Taten und Eigenschaften nacheifern soll (‚principaliter et uniuersaliter‘), gilt dies für die Mitmenschen nur im Hinblick auf bestimmte erstrebenswerte Einzelphänomene (‚particulariter‘). Da also ausschließlich das Vorhandensein von Tugenden ein Anhaltspunkt dafür ist, ob der jeweilige Mensch als Vorbild geeignet ist oder nicht, folgt daraus zwangsläufig, dass man sich möglichst viele tugendhafte Persönlichkeiten zum Vorbild nehmen muss, um sich selbst viele Tugenden anzueignen.367 Diese Bemerkung lässt Rückschlüsse auf das methodische Vorgehen des Radulfus Ardens im Speculum universale insgesamt zu. Sowohl in der allgemeinen als auch in der speziellen Tugendlehre veranschaulicht er immer wieder zuvor theoretisch besprochene Themen praktisch, indem er ‚exempla‘ anführt.368 Dabei handelt es sich in vielen Fällen um Erzählungen aus den Lebensberichten der Mönchsväter (Vitae patrum), aber auch um legendenhafte Episoden aus dem Leben verschiedener Heiliger oder um damals bekannte Anekdoten über prominente Persönlichkeiten der griechisch-römischen Antike wie etwa Alexander den Großen oder Cato den Jüngeren. Alle diese Exkurse verbindet die Gemeinsamkeit, dass bestimmte Persönlichkeiten unter der Perspektive ihrer guten oder schlechten Charaktereigenschaften in Szene gesetzt werden, um an ihrem Beispiel auszumalen, welche Auswirkungen die
365 Spec. uniu. 11, 140 (P, fol. 98va): „Et qui sunt nobis magis emulandi siue immitandi? Deus principaliter et post illum ei in quibus magis relucet exemplar diuine bonitatis, ut apostoli, martires, uirgines, confessores.“ 366 Spec. uniu. 11, 140 (P, fol. 98vb): „Post Dominum emulandi sunt apostoli eius qui eum expressius secuti sunt. […] Post apostolos emulandi sunt sancti martyres qui gloriosum sanguinem fuderunt pro Domino.“ 367 Spec. uniu. 11, 141 (P, fol. 99vbf.): „Christus qui omnes uirtutes habet et omnes superexcellenter, principaliter et uniuersaliter emulandus est. Homines uero, quia nec principaliter nec uniuersaliter in omnibus radiant, uirtutibus tantum particulariter sunt imitandi. Ideoque non unus solus nobis sufficit ad exemplar imitationis, sed in unoquoque, quod honestius est imitandum est.“ 368 Vgl. dazu HEIMANN, Einleitung XIV.XXXVI.
284
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
jeweilige Tugend bzw. das jeweilige Laster nach sich ziehen. Damit kommt den ‚exempla‘ eine wichtige Bedeutung in der Tugendkonzeption des Speculum universale zu: Sie stellen Prototypen für Träger bestimmter Tugenden und Laster vor und geben damit auch Empfehlungen, welche Vorbilder man sich zum Erwerb von bestimmten Tugenden wählen muss. Dieser Gedanke wird in der zweiten Hälfte von Kapitel 141 weiter konkretisiert. Radulfus Ardens stellt drei Phasen vor, in denen sich der Erwerb einer Tugend durch ein gutes Vorbild vollzieht: In der ersten Phase hört man nur gerüchteweise von der guten Eigenschaft eines Menschen, bspw. von seiner Gerechtigkeit. Allein das Hörensagen erweckt das Bedürfnis, die Person genauer kennenzulernen und ihre Tugend erscheint erstrebenswert. Bereits in diesem Stadium wird die amative Seelenkraft geweckt und lässt die Emotionen Liebe und Hoffnung entstehen, die sich gegenseitig verstärken und schließlich die ‚emulatio‘ entflammen. Das Bedürfnis danach, die Tugend der Gerechtigkeit selbst zu besitzen motiviert dazu, die Begegnung mit gerechten Menschen zu suchen, von denen man bisher nur gehört hat. In der zweiten Phase trifft man tatsächlich mit ihm zusammen. Durch die Gegenwart seiner Gerechtigkeit und dadurch, dass man mit eigenen Augen beobachten kann, was es heißt, gerecht zu handeln, fasziniert die Tugend noch mehr. In der dritten Phase bemüht man sich darum, möglichst oft Zeit mit ihm verbringen, bis man sich schließlich durch den vertrauten Umgang mit ihm die Tugend der Gerechtigkeit selbst angeeignet hat.369 Hier skizziert Radulfus Ardens ein Lehrer-Schüler Verhältnis, das bereits in Zusammenhang mit der ‚condescensio‘ beschrieben wurde und im Traktat über den Lehrer in Buch 9 ausführlich dargestellt wurde. Diese ‚pädagogischen‘ Überlegungen prägen seine Vorstellung von Tugend und ihrem Erwerb maßgeblich. Vor diesem Hintergrund sind die Inhalte der Kapitel 140 und 141 als programmatische Aussagen zu werten. An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass der Autor Informationen zur Komposition und Methodik des Speculum universale nicht an einer bestimmten Stelle gebündelt hat, sondern im Zusammenhang einzelner Tugenden über das ganze Werk verstreut darauf zu sprechen kommt. Dieser Befund lässt daher vermuten, dass eine genaue Untersuchung der Bücher 13 und 14 ebenfalls neue Erkenntnisse in diesem Bereich zutage fördern würde.
369 Spec. uniu. 11, 141 (P, fol. 99ra): „Si autem sic nos inflammat ad emulandum uirtus audita multo plus uisa et multo amplius plus contacta. Porro uirtutem alicuius honesti audimus per bonam famam, uidemus per bone operationis presentiam, contrectamus per familiarem conuersationem.“
2.3 Das Komplementärtugendpaar ‚emulatio‘ – ‚exterritatio‘
285
2.3.2 Das komplementäre Verhältnis von ‚emulatio‘ und ‚exterritatio‘ im Detail Die Kapitel 142 und 143 bilden denn Abschluss des Traktats über Nacheifern und Abschreckung und behandeln ausführlich das komplementäre Verhältnis zwischen den beiden Tugenden. Zunächst widmet sich Radulfus Ardens dem ‚uitium contrarium‘ der ‚emulatio‘. Unter bestimmten negativen Bedingungen – er führt diese auf das Wirken des Teufels zurück – verwandelt sich das Nacheifern nämlich in Neid (‚inuidia‘). Diese Feststellung kommt nicht ganz überraschend. Bereits bei der Untersuchung des komplizierten Textbefundes zu den beiden Tugenden ‚congratulatio‘ und ‚compassio‘ war vom Laster des Neides die Rede. Dort wurde auch schon darauf hingewiesen, dass die ‚emulatio‘ als gute Form des Neides auf geistiges Vorankommen in die Darstellung des komplementären Verhältnisses von Mitfreude und Mitleid integriert werden müsste. Diese These bestätigt sich hier in Kapitel 142. Die ‚emulatio‘, die sich auf die geistigen Güter des anderen bzw. seine Tugenden richtet, wird nämlich folgendermaßen zum Neid: Wenn sich ein Mensch erst kurze Zeit auf dem Pfad der Tugenden befindet und wenig Erfahrung damit hat (‚rudis‘), kann es leicht geschehen, dass er sich zu hohe Ziele steckt und ein Vorbild auswählt, das er nicht erreichen kann. Zunächst investiert er seine gesamte Kraft, um diesem Anspruch zu genügen, verzweifelt aber schließlich daran, missgönnt seinem Vorbild die guten Eigenschaften und beginnt, ihn zu beneiden.370 Dass es überhaupt so weit kommt, sieht Radulfus Ardens darin begründet, dass der Betreffende noch nicht in der Lage ist, sich selbst und seinen Nächsten zu lieben. So haftet seiner möglicherweise durchaus anerkennenswerten Bemühung der Makel an, dass er immer noch eher den Ruhm (‚gloria‘), als die Tugend selbst im Blick hat und sich von seinem Vorbild übertroffen fühlt.371 Dabei würde ihm gerade die Nächstenliebe, die sich konkret in der ‚congatualtio‘ äußert, einen Anteil an den Gütern des Nächsten verschaffen, sodass er der von ihm angestrebten Tugend schon ein ganzes Stück nähergekommen wäre. Durch den Neid jedoch vergibt er auch die Gelegenheit auf eine bruchstückhafte Teilhabe daran.372 Vor dem Hintergrund dieser Darstellung treten die bisher nur vermuteten systematischen Bezugspunkte zwischen ‚congratulatio‘, ‚compassio‘ und ‚emulatio‘ offen zutage. Erneut
370 Spec. uniu. 11, 142 (P, fol. 99ra): „Notandum autem, quod nonnumquam suggerente diabolo emulatio uertitur in inuidiam, ut quando aliquis rudis cupiens emulari uirtutes alicuius iusti et non ualet assequi, incipit contristari et dolere se a iusto illo superari et sic incipit inuidere ei.“ 371 Spec. uniu. 11, 142 (P, fol. 99raf.): „Hoc autem inde contingit, quoniam nondum nouit uere proximum diligere nec etiam sese, dum magis dolet super hoc, quod a proximo suo superatur, quam quod ipse adhuc sit inperfectus et magis appetit uirtutis gloriam quam ueritatem.“ 372 Spec. uniu. 11, 142 (P, fol. 99rb): „Si enim uere proximum diligeret, uere in eo uirtutem amaret et sic non penitus sine illa uirtute esset, quoniam in proximo diligeret et sic tandem ad eam consequendam merito caritatis perueniret. Nunc autem merito parue emulationis ad eam uirtutem consequendam non insurgit.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
zeigt sich, wie differenziert und durchdacht Radulfus Ardens seine Tugendlehre angelegt hat. Zugleich verwundert es aber auch, dass er sich in den Kapiteln 31–40 nicht viel deutlicher zu diesen Verknüpfungen äußert, sondern dass diese auf Umwegen aus dem Text rekonstruiert werden müssen. Kapitel 143 ist schließlich der Komplementärtugend des Nacheiferns, nämlich der Abschreckung (‚exterritatio‘), gewidmet. Dieser Affekt ist allgemein dafür zuständig, von den Übeln bzw. den schlechten Charaktereigenschaften anderer Menschen Abstand zu nehmen.373 Auch die ‚exterritatio‘ wird in Arten ausdifferenziert, denen eine bestimmte ethische Wertigkeit zukommt. Radulfus Ardens nennt nach dem bekannten Schema die gute, die schlechte und die wertlose Abschreckung.374 Im Folgenden erläutert er diese durchaus erklärungsbedürftigen Begriffe genauer: Die wertlose Abschreckung (‚exterritatio uana‘) meint eine Charaktereigenschaft, die man auch als fehlende Courage bezeichnen könnte. Damit sind Menschen gemeint, die aus übertriebener Zurückhaltung oder Furcht nicht bereit sind, die Entscheidung für ein tugendhaftes Leben zu fassen. Sie haben dabei die schlechten Erfahrungen derjenigen Mitmenschen vor Augen, die zwar ein ethisch verantwortetes Leben führen, aber damit nicht immer Erfolg haben oder sogar im Alltag benachteiligt sind.375 Die schlechte Abschreckung (‚exterritatio mala‘) ist im Kern eine ähnliche Verhaltensweise, die sich allerdings noch drastischer auswirkt: Während die ‚exterritatio uana‘ ausschließlich auf Menschen bezogen ist, die mit den Tugenden und der Nachfolge Christi noch ganz am Anfang stehen, beschreibt die schlechte Abschreckung die Abkehr eines Gläubigen vom christlichen Glauben und der Gerechtigkeit. Auch hier spielt wieder die Angst vor sozialen Nachteilen oder vor unmittelbaren Gefahren eine Rolle, von daher verweist Radulfus Ardens auch exemplarisch auf die Christenverfolgung.376 Die gute bzw. tugendhafte Abschreckung (‚exterritatio bona‘) bewirkt schließlich, dass sich ihr Träger von den ungerechten Taten und den Lastern der Mitmenschen abwendet und sich von dem einmal eingeschlagenen Weg der Tugend nicht abbringen lässt.377 Die bereits dargestellten fünf ‚species‘ des Nacheiferns lassen sich gemeinsam mit den drei Arten der Abschreckung in ein Schema bringen:
373 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99rb): „Est autem bone emulationis uirtus collateralis exterritatio bona. Est autem exterrtatio in alterius malis aduertere quid debeamus euitare.“ 374 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99rb): „Exterritatio uero alia est mala, alia est bona, alia est uana.“ 375 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99rb): „Et uana quidem est, quando cernentes in uia uirtutum multos temptari, multos lascescere multos etiam ruere, deterremur a uirtutum inchoatione. […] Qui temptationes et persequutiones a malignis spiritibus motas metuit, semina uirtutum in corde suo inserere non incipit.“ 376 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99rb): „Mala uero est, ut quando quis cernens iustos pati, spoliari, uexari, occidi propter iustitiam uel propter Christi confessionem relinquit iustitiam et Christi confessionem.“ 377 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99rb): „Bona uero est, ut quando cernentes prauos mala operari et inde eos dampnari deterremur a uia eorum peruersa, ne eos emulari gestiamus.“
2.3 Das Komplementärtugendpaar ‚emulatio‘ – ‚exterritatio‘
↔
emulatio
287
exterritatio
emulatio adulatoria (c. 139) emulatio irrisoria (c. 139) emulatio uana (c. 139) emulatio mala (c. 139) / inuidia (c. 142)
emulatio bona (c. 139)
↔
exterritatio bona (c. 143)
exterritatio uana (c. 143) exterritatio mala (c. 143)
Abb. 32: Die Arten des Nacheiferns und der Abschreckung.
Die dritte ‚species‘ der Abschreckung ist also die Komplementärtugend der ‚emulatio bona‘.378 Befinden sich die beiden Tugenden im Gleichgewicht, gelingt es einerseits, von den Sünden und Lastern der schlechten Mitmenschen Abstand zu nehmen und andererseits, die Tugenden der gewählten Vorbilder im Blick zu behalten und sie sich selbst Schritt für Schritt anzueignen. So bestimmt Radulfus Ardens auch zum Abschluss von Kapitel 143 die ‚termini‘ der beiden Tugenden.379 Zu der Verschmelzungstugend, die aus dieser Balance entsteht, äußert er sich nicht. Die Ergebnisse zum komplementären Verhältnis von Nacheifern und Abschreckung können daher so zusammengefasst werden: ‚emulatio mala‘ / ‚inuidia‘
‚emulatio bona‘
↔
‚exterritatio bona‘
‚exterritatio mala‘
Obgleich der Traktat über das dritte Komplementärtugendpaar insgesamt übersichtlich strukturiert und leicht zu erschließen ist, lässt sich zum Abschluss dieses Kapitels dennoch eine systematische Rückfrage stellen. Im Verlauf der bisherigen Darstellung ist deutlich geworden, dass Radulfus Ardens auf der zweiten Gliederungsebene bei der Unterteilung der ‚species‘ ein nahezu einheitliches Prinzip verfolgt: Stets werden die zuvor in ihrer allgemeinen Bedeutung definierten Emotionen unter der Perspektive der drei affektiven Seelenkräfte mithilfe der Adjektive ‚bonus‘, ‚uanus‘ und ‚malus‘ ethisch bewertet. Diese Methode schafft zum einen Klarheit und hilft dabei, Verhaltensweisen systematisch voneinander abzugrenzen, für die sich in der Alltagssprache nur in wenigen Fällen ein treffender Begriff finden lässt. Zum an-
378 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99rb): „Sunt igitur uirtutes collaterales bona emulatio et bona exterritatio.“ 379 Spec. uniu. 11, 143 (P, fol. 99vaf.): „Termini quoque harum uirtutum sunt sic emulari bona eorum, quod non emulemur eorum uitia et sic aliorum uitia detestemur, quod tamen eorum bonos mores emulemur.“
288
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
deren treffen die auf diese Weise generierten Begriffe nicht immer den Wesenskern der gemeinten Tugend oder des gemeinten Lasters. Ein gutes Beispiel dafür ist in diesem Abschnitt die ‚exterritatio uana‘. Dieses Laster entsteht aus der Angst vor Hindernissen auf dem Weg der Tugend. Im Prinzip muss sie damit als Abwehrhaltung gegen Übel verstanden werden, wodurch sie eindeutig in den Bereich des Hasses und nicht der Geringschätzung gehört. Wie kommt dieser Widerspruch zustande? Er lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass Radulfus Ardens seine eigene Methode nicht immer konsequent angewandt bzw. seine Ergebnisse nicht immer vollständig durchdacht hat. Schließlich ließe sich die ‚exterritatio uana‘ auch als eine Verhaltensweise beschreiben, die von unwichtigen Dingen Abstand nimmt, nachdem der Betreffende mit ihrer Hilfe erkannt hat, wie die Mitmenschen durch diese Nebensächlichkeiten von den wirklich wichtigen Dingen im Leben – nämlich den Tugenden – abgehalten werden. Allerdings wäre eine solche Eigenschaft wohl eher als Tugend, statt als Laster anzusehen. Erneut zeigt sich, dass Radulfus Ardens den Spielraum, den die Konzeption der Komplementärtugendpaare eröffnet, nicht an allen Stellen ganz ausgeschöpft hat.
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘ Der Abschnitt über die beiden Tugenden Freude und Zorn ist mit einem Umfang von zwölf Kapiteln (c. 144–155) die letzte umfangreichere Darstellung eines Komplementärtugendpaars in Buch 11. Die übrigen vier werden deutlich knapper behandelt. Ganz ähnlich wie bei Mitfreude und Neid hat Radulfus Ardens hier deutlich größeres Interesse am oditiven als am amativen Affekt. So bespricht er den Zorn und seine Arten in insgesamt neun Kapiteln (c. 146–154), die Freude aber nur in zwei Kapiteln (c. 144–145). Der Grund dafür ist – ähnlich wie beim Neid –, dass der Zorn in der Tradition als besonders schweres Laster bzw. als Todsünde angesehen wurde. Die Auffassung, dass der Zorn eine massive und in höchstem Maße schädliche Verwirrung des Geistes (‚perturbatio animi‘) darstellt, findet sich bereits bei antiken Philosophen und dort besonders bei Vertretern der Stoa.380 So kommt bspw. Cicero immer wieder darauf zu sprechen381 und Seneca widmet diesem Affekt sogar eine eigene Schrift, nämlich den Traktat De ira.382 Dass Radulfus Ardens diese Positionen gut kannte, zeigt sich zum
380 Vgl. HÜHN, Zorn 1385 f.: „Die antiken Autoren besonders der stoischen Tradition hatten den Z. als ‚schlimmsten‘ aller Affekte bezeichnet. Sein destruktives Potential – individuell wie gesellschaftlich – bildet auch von der mittelalterlichen bis zur modernen Diskussion einen wichtigen Beweggrund, ihn zum Gegenstand eigener Reflexionen zu machen.“ 381 So bspw. im dritten und vierten Buch der Tusculanae disputationes. 382 So betont er die Sonderstellung des Zorns bereits in den ersten Sätzen seiner Schrift, die an seinen Bruder Novatus, dem Adressaten des Werkes, gerichtet sind. In SEN., Dial. III 1, 1 (p. 39)
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
289
einen daran, dass er den Terminus ‚perturbatio‘ bezüglich des Zorns aufgreift und gleich mehrfach verwendet, während er bei den anderen affektiven Lastern kaum vorkommt;383 zum anderen betont er mehrmals die herausgehobene Bedeutung des Zorns und beschäftigt sich mit dieser Frage in einem eigenen Kapitel.384 Es kann also einerseits nicht bezweifelt werden, dass Radulfus Ardens in seinen Ausführungen auf die traditionelle und im Kern stoische Interpretationslinie zurückgreift, die den Zorn als schlimmste aller ‚perturbationes animi‘ ansieht. Auf der anderen Seite gehen seine Überlegungen aber auch deutlich über diese Sichtweise hinaus, da er nicht nur auf biblischer Grundlage eine tugendhafte Form des Zorns (‚ira bona‘ bzw. ‚zelus‘) postuliert, sondern auch der lasterhaften Freude (‚gaudium malum‘) eine ähnlich verderbliche Wirkung attestiert.385 Dass er diese beiden Emotionen als so wirkmächtig ansieht, ist dabei ein zentraler Grund dafür, dass er sie einander komplementär zuordnet. Die Freude behandelt Radulfus Ardens anhand von sechs Leitfragen:386 . . . . . .
o ‚quid sit gaudium?‘ (c. 144) ‚que sint eius species?‘ o ‚quid sit spirituale gaudium?‘ (c. 145) ‚que sint eius species?‘ ‚que uirtus sit ei collateralis?‘ o (c. 146) ‚qui sint earum termini?‘
Betrachtet man die Formulierung der Leitfragen genauer, so fällt dabei auf, dass die geistige Freude (‚gaudium sprituale‘) eine besonders wichtige Rolle spielt und eigens in Unterarten unterteilt wird. Dies ist deshalb ungewöhnlich, da sie selbst bereits eine ‚species‘ der guten bzw. tugendhaften Freude ist. Radulfus Ardens greift sich hier also einen ganz bestimmten Aspekt der Freude heraus, um ihn ausführlich zu behandeln. Dieses Muster kehrt im Traktat über Fröhlichkeit (‚letitia‘) und Traurigkeit (‚tristitia‘)
heißt es dazu: „Exegisti a me, Nouate, ut scriberem quemadmodum posset ira leniri, nec inmerito mihi uideris hunc praecipue adfectum pertimuisse maxime ex omnibus taetrum ac rabidum.“ 383 Diesbezüglich sind zwei Stellen zu erwähnen. In einer kurzen Bemerkung in Kapitel 163 über die Heiterkeit (‚serenatio‘) bezeichnet er die affektiven Laster insgesamt als ‚perturbationes‘. Er schreibt dazu in Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Bona uero serenatio est et uera, quando mens non solum a nube tristitie, ire et inuidie ceterarumque perturbationem purgata est, sed et a nube peccatorum et uitiorum.“ Zudem wird der Gegenbegriff ‚imperturbabilis‘ in Zusammenhang mit der Sanftmut (‚mansuetudo‘) mehrfach verwendet; Genaueres findet sich dazu unter Punkt 2.8. 384 Nämlich Kapitel 148 mit dem Titel ‚quod ira pre ceteris passionibus perturbat hominem‘. 385 Spec. uniu. 11, 145 (P, fol. 100raf.): „Ideo enim non sine magna modestia hac in uita gaudere debemus, quoniam pre ceteris passionibus meritis gaudium et iram perturbant rationem hominis ferentes eum extra se et sui obliuisci facientes et iudicium rationis auferentes.“ 386 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Videndum est primo quid sit gaudium et que sint eius species; secundo quid sit spirituale gaudium et que eius sint species; tertio que uirtus sit ei collateralis; quarto qui sint earum termini.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
wieder; auch dort stehen die geistige Fröhlichkeit und Traurigkeit im Fokus seines Interesses. Auch der Traktat über den Zorn ist nach Leitfragen unterteilt.387 Hierbei ist auffällig, dass sich Radulfus Ardens ausführlich mit der Frage beschäftigt, in welche ‚species‘ der Zorn eingeteilt werden kann. Im Zuge dessen präsentiert er gleich mehrere mögliche Unterteilungen des Zorns. Obgleich er auch gute Art des Zorns benennt und er in Kapitel 147 sogar eigens herausarbeitet, dass auch Christus über diese Emotion verfügte, überwiegt die negative Sichtweise darauf. . . . .
‚quid sit ira?‘ ‚quantum humanam conturbet mentem?‘ ‚que sint species ire?‘ ‚quomodo ei resistatur?‘
(c. ) (c. ) (c. –) (c. )
Im Folgenden werden in der gewohnten Weise zunächst die Grundbestimmungen und dann die begrifflichen Ausdifferenzierungen der beiden Emotionen aus der Fülle der Informationen herausgefiltert. Erst auf dieser Grundlage wird nämlich verständlich, welche Aspekte von Freude und Zorn in einem komplementären Verhältnis stehen.
2.4.1 Grundlegende Bestimmungen zu den beiden Affekten Freude und Zorn – Die Freude wird in Kapitel 144 allgemein als eine Ausgelassenheit über das Erlangen einer erwünschten Sache oder die Hoffnung darauf definiert.388 Mit dieser Bestimmung wird sie nahtlos an die ‚emulatio‘ angebunden. Eifert man nämlich einem begehrenswerten Gegenstand nach, stellt sich nach dessen Erlagen als natürliche Reaktion Freude ein.389 Radulfus Ardens betont, dass die Freude allerdings auch schon durch die bloße Hoffnung auf die Erfüllung des Wunsches entstehen kann.390 – Der Zorn wird in Kapitel 146 als eine Regung des Geistes zur Rache hin definiert. Auch seine Entstehung vollzieht sich unter Mithilfe der vorhergehenden oditiven Affekte, nämlich Hass, Furcht und Abschreckung.391 Der Zornige meint also, eine Kränkung durch ein Unrecht erlitten zu haben und will sich dafür an
387 Spec. uniu. 11, 146 (P, fol. 100va): „Idcirco considerandum est quid sit ira, quantum humanam conturbet mentem, que sint species ire quomodo ei restitatur.“ 388 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Est igitur gaudium exultatio surgens ex adeptione uel spe rei desiderate.“ 389 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Emulationem boni iusto consecuto consequitur et gaudium.“ 390 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Non enim tantum in adeptione rei desiderate, sed etiam in adeptionis spe multotiens gaudemus.“ 391 Spec. uniu. 11, 146 (P, fol. 100va): „Est igitur ira commotio mentis ad uindicatam. Nascitur autem ex irascibilitate siue odibilitate mediante odio, timore et exteritatione.“
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
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demjenigen rächen, der es ihm zugefügt hat. Bereits aus den eben genannten Leitfragen geht hervor, dass ein Schwerpunkt der der Darstellung darauf liegt, dass der Zorn einen verderblichen Einfluss auf den menschlichen Geist hat. Radulfus Ardens konkretisiert diese Wertung mithilfe seiner anthropologischen Unterscheidung vom Inneren und Äußeren Menschen: Der Affekt des Zorns greift so massiv in die Harmonie der Seele (also die innere Struktur des Menschen) ein, dass sich diese Dissonanz auch im äußeren Bereich feststellen lässt. Der Zorn verhindert demnach nicht nur eine vernünftige Perspektive auf die Lage der Dinge, sondern verändert auch Sprache und Verhalten. Er kann eine solche Zerstörungskraft entfalten, dass sich der Betroffene selbst schädigt oder gar tötet.392 Auf der Grundlage dieser zutiefst negativen Bestimmung eine Tugend zu entwickeln, ist keine leichte Aufgabe und tatsächlich kostet es Radulfus Ardens einige Mühe, die schwer vorbelastete ‚ira‘ genau auszudifferenzieren, um letztendlich den guten Zorn oder Eifer (‚ira bona siue zelus‘) als komplementäres Gegenstück der Freude herausarbeiten zu können. Die Grundlagen dafür finden sich in den Überlegungen von Kapitel 147. Dort fragt er, ob auch Christus – ganz Gott und zugleich ganz Mensch – zornig war. Er bejaht dies, mit der Einschränkung, dass Christus zwar so wie alle anderen Affekte auch den Zorn besaß, aber nicht von der normalerweise damit verbundenen Verwirrung betroffen war.393 Dieser Gedanke ist für die weitere Argumentation zentral. Denn Radulfus Ardens führt direkt im Anschluss aus, dass die Eigenschaft Christi, die gemeinhin als Zorn bezeichnet wird, eher als Eifer oder Eifersucht (‚zelus‘) zu verstehen ist. Das Wort ‚zelus‘ übernimmt er dabei aus dem Alten Testament (z. B. Ps 68, 10 oder Ex 20, 5) und vergleicht die damit gemeinte Charaktereigenschaft mit dem Eifer eines Bräutigams für seine Braut. Wie dieser überwacht Christus seine Braut (die Kirche) argwöhnisch und fürchtet, dass sie vor der Vermählung einem anderen Liebhaber (dem Teufel bzw. dem Laster) verfallen könnte. Der entscheidende Unterschied zu dem oben definierten Affekt besteht allerdings darin, dass der ‚zelus‘ nicht aus dem Hass hervorgeht, sondern aus der Liebe. Der Eifer gegenüber einer Person oder einer Sache ist (ebenso wie die Eifersucht) also von der Nächstenliebe getragen.394 Hier zeichnet sich ab, wie sich der Affekt des Zorns durch die zunehmende Balance zwischen den beiden komple392 Spec. uniu. 11, 148 (P, fol. 100vbf.): „Perturbat autem ira pre ceteris passionibus hominis rationem uerba motus et gestus. […] Quemadmodum enim turbatus fontis fundus aquam turbat superiorem, sic interior homo turbatus hominem turbat exteriorem. Adeo namque nonnumquam ira hominem reddit furibundum, quod eum inducit ad semet occidendum.“ 393 Spec. uniu. 11, 147 (P, fol. 100vb): „Queritur autem utrum redemptor noster secundum quod homo habuerit iram. Et dicimus eum habuisse iram sine perturbatione.“ 394 Spec. uniu. 11, 147 (P, fol. 100vb): „Scriptum est enim de eo: Zelus domus tue comedit me. Est autem proprie zelus amor uiri in mulierem timentis, ne consentiat alii quam sibi et ideo erga eam suspiciosi et frequentis irascentis. […] Habuerit igitur Christus secundum quod homo zelum, id est amorem, cum ira ex dilectione contra peccatores, sed modestum et rationabilem.“
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mentären Emotionen Liebe und Hass verändert, bis er sich schließlich in eine Tugend verwandelt. 2.4.2 Begriffliche Ausdifferenzierung: Die ‚species‘ von Freude und Zorn Auf der Grundlage der allgemeinen Definitionen von ‚gaudium‘ und ‚ira‘ werden nun die ‚species‘ der beiden Affekte erläutert. – Die Freude wird in vier Arten unterteilt. Es werden die schlechte (‚gaudium malum‘), die wertlose (‚gaudium uanum‘), die unbedeutende (‚gaudium indifferens‘) und die gute Freude (‚gaudium bonum‘) genannt.395 Die schlechte Freude ist dadurch gekennzeichnet, dass sich jemand über eigene oder fremde Sünden sowie über materielle Schäden anderer Menschen freut. Radulfus Ardens verurteilt dieses Laster scharf und stellt fest, dass ein Mensch, der sich über die Sünden der anderen freut, an diesen mitschuldig ist und Anteil daran hat.396 Die einzige Ausnahme ist der Sonderfall, dass man einem an sich gerechten Menschen, der über seine Tugenden stolz geworden ist, ein kleines Vergehen wünscht, das ihn an seine Schwäche erinnert.397 Die wertlose Freude richtet sich auf Dinge aus dem Bereich des ‚contemptus‘ – an dieser Stelle werden die Beispiele Essen, Trinken, Zeitvertreib und Scherze aufgezählt.398 Die indifferente Freude bezieht sich dagegen auf ethisch völlig neutrale Gegenstände, die Anlässe zum Guten oder Schlechten sein können. Radulfus Ardens verweist exemplarisch auf Gesundheit, Überfluss und zeitlichen Frieden. Diese an sich erstrebenswerten Güter können zur Selbstüberschätzung oder zur Leichtsinnigkeit führen, wenn man sich falsch bzw. übertrieben daran freut.399 Die gute Freude kann sich sowohl auf eigene als auch auf fremde Güter richten. Sie wird sogleich in zwei weitere Aspekte unterteilt, nämlich in die Freude über materielle bzw. vergängliche Güter (‚gaudium de bono temporali‘) und die Freude über geistige bzw.
395 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Gaudium autem aliud est uanum, aliud est malum, aliud est indifferens, aliud est bonum.“ 396 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Sane gaudium malum est, quando quis de malo gaudet suo uel alieno; suo ut illi qui letantur cum male fecerint et exsultent in rebus pessimis; alieno ut illi, qui gaudent de alieno peccato uel temporali dampno. Porro qui de alieno peccato gratulantur eius participes efficiuntur.“ 397 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99vaf.): „Nec potest bene quisquam super alieno peccato gaudere, nisi forte cum uiderimus aliquem de iustitia sua superbientem si peccet aliquo minori peccato. Possumus in hoc gaudere, ut et sic humilietur et suam agnoscat infirmitatem; de dampno quippe temporali alterius gaudere malum est, nisi forte eum uiderimus dignum correctione.“ 398 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99vb): „Gaudium uero uanum est, quando quis gaudet in comessatione, in potatione, in ludis, in scurrilibus.“ 399 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 100ra): „Gaudium indifferens est, quando de eadem re possumus bene gaudere et male, ut quis letatur de sanitate, de abundantia, de pace temporali. Si enim quis gaudet in his eo, quia bene uti eis proponit, bene gaudet. Si uero gaudet eo quod eis male uti gestit, male gaudet.“
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
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ewige Güter (‚gaudium de bono eterno‘).400 Auf die Freude über vergängliches Gut geht Radulfus Ardens nur kurz ein. Er erwähnt lediglich, dass sie durchaus als gut zu werten ist, wenn sie dazu motiviert, Gott zu danken.401 Die Freude über geistiges Gut, die er als ‚gaudium spirituale‘ bezeichnet, untersucht er hingegen genauer. Eine differenzierte Betrachtung dieser Verhaltensweise ist deshalb notwendig, da man sich auch über geistige Güter schlecht freuen kann. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muss zunächst das ‚bonum spirituale‘ genauer betrachtet werden. Radulfus Ardens gibt drei Gründe für die geistige Freude an, die als konkrete geistige Güter identifiziert werden können: Der erste und allgemeine (‚generalis‘) besteht darin, dass Gott die ganze Menschheit in seine Liebe aufgenommen hat. Der zweite und anteilige (‚particularis‘) zeigt sich im Beistand der Heiligen und der Kirchenpatrone. Der dritte und spezifische (‚specialis‘) meint schließlich die Tugenden und guten Handlungen des einzelnen Menschen sowie die Vergebung seiner Sünden.402 Dass die Freude an diesen Gütern leicht ins Übermaß geraten kann, liegt daran, dass sie im Diesseits nur in Form eines Vorgeschmacks erfahrbar sind, der nicht mit der noch ausstehenden Erfüllung im Jenseits verwechselt werden darf. Wenn man sich also in Verkennung der tatsächlichen Lage selbstgefällig und stolz über die Tugenden und den Beistand Gottes freut, verwandelt sich das anfänglich gute ‚gaudium spirituale‘ in eine übertriebene und damit lasterhafte Freude (‚nimium gaudium‘). Diese zieht wiederum törichte Sicherheit (‚stulta securitas‘), Nachlässigkeit (‚negligentia‘) und Verachtung (‚contemptus‘) nach sich und führt schließlich in den Untergang (‚ruina‘). Es ist daher nicht die vorranginge Aufgabe der geistigen Freude, zu erfreuen, sondern zu trösten und auf diese Weise die Widrigkeiten des irdischen Lebens erträglicher zu machen.403 Genau genommen muss die geistige Freude also gut (‚bene‘), d. h. auf Gott, ausgerichtet sein und das rechte Maß (‚modeste‘) bewahren, um als Tugend gelten zu können.
400 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 100ra): „Gaudium uero bonum aliud est de bono temporali nostro uel alieno, aliud est de bono spirituali uel eterno nostro uel alieno. Gaudium de bono temporali bonum est, si gaudeamus de eo bene. Gaudium uero de bono spirituali et eterno gaudium spirituale nuncupatur.“ 401 Spec. uniu. 11, 145 (P, fol. 100ra): „Sic econtra de carnalibus nonnulli bene gaudent ea ad domini auctorem referendo.“ 402 Spec. uniu. 11, 145 (P, fol. 100rb): „Porro causa spiritualis gaudii aut est uniuersalis aut particularis aut singularis, et uniuersalis quidem est redemptio humani generis nobis proposita per Christi natiuitatem, passionem, resurrectionem, ascensionsem, sancti Spititus missionem, per secundum Christi aduentum. […] particularis uero causa gaudii est unicuique ecclesie patrocinium patroni specialis […]. Singularis quoque causa gaudendi est unicuique propriorum peccatorum dimissio, uirtutum et bonorum operum exercitatio.“ 403 Spec. uniu. 11, 145 (P, fol. 100raf.): „[…] nonnulli de spiritualibus male gaudent inde scilicet semet eleuando. […] Dum enim in hac uita inter pericula, inter hostes et inter insidias transimus, nonnisi cum timore et modo gaudendum est, quoniam nimium gaudium stultam generat securitatem, stulta uero securitas negligentiam, negligentia contemptum, contemptus ruinam. […] Propterea bona nostra raro uel numquam debemus reuocare ad memoriam, nisi forte in tempore tristitie ad consolationem.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Von daher ergibt sich auch ihre Definition als maßvolle Ausgelassenheit über das Erlangen eines geistigen Gutes oder die Hoffnung darauf.404 An der schematischen Darstellung zeigt sich einerseits, wie die geistige Freude aus dem ursprünglichen Affekt hervorgeht.
gaudium bonum (c. 144)
gaudium (c. 144-146.155)
gaudium uanum (c. 144) gaudium indifferens (c. 144) gaudium malum (c. 144)
gaudium bonum de temporali bono (c. 144.145) gaudium bonum de eterno bono / gaudium spirituale (c. 144.145)
gaudium malum de temporali bono (?) gaudium malum de eterno bono (c. 145)
Abb. 33: Die Arten der Freude.
– Der Zorn wird in Kapitel 149 in nur zwei Arten unterteilt, nämlich den guten bzw. tugendhaften (‚ira bona‘) und den schlechten bzw. lasterhaften Zorn (‚ira mala‘).405 Es finden sich also nicht zu allen ‚species‘ der Freude Entsprechungen. Die recht allgemeine Unterscheidung zwischen gut und schlecht präzisiert Radulfus Ardens im weiteren Verlauf der Darstellung anhand von vier Kriterien: dem Objekt des Zorns, seiner Ursache, der damit verbundenen Absicht und dem Maß des Zorns.406 Der schlechte Zorn ist erstens dadurch gekennzeichnet, dass man auf etwas zornig ist, auf das man nicht zornig sein darf. Diese erste Variante wird Zorn gegenüber leblosen (‚irasci insensate rei‘) oder unvernünftigen Dingen (‚irasci irrationabili rei‘) genannt. Damit ist gemeint, dass man Gegenständen zürnt, wie etwa ein Handwerker, der auf sein Werkzeug zornig ist, obwohl er selbst einen Fehler gemacht hat; oder dass man einem Tier zürnt, wie ein Reisender, dessen Esel nicht weitergehen will. Ein solches Verhalten nennt Radulfus Ardens unvernünftig und töricht.407 Zweitens
404 Spec. uniu. 11, 145 (P, fol. 100ra): „Gaudium igitur spirituale est exultatio mentis surgens bene et modeste ex boni spiritualis uel eterni spe uel adeptione.“ 405 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101ra): „Ira alia est mala, alia est bona.“ 406 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101ra): „Mala est quando aliquis irascitur aut cui non debet aut pro qua causa non debet aut qua intentione non debet aut quantum non debet. Prima igitur ira est irrationalibus, secunda iniusta, tertia indirecta, quarta intemperans.“ 407 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101raf.): „Sane cui non debet irascitur, qui irascitur aut rei insensate aut irrationabili aut innocenti. Rei insensate irascitur, qui irascitur contra instrumenta sua […]. Et enim in rebus insensatis non est causa irascendi, sed in homine irrationabili admiranda est talium
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
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ist schlechter Zorn daran erkennbar, dass man aus einem Grund zürnt, aus dem man nicht zürnen darf. Diese Variante bezeichnet er als ungerechten Zorn (‚ira iniusta‘). Dies ist z. B. dann der Fall, wenn ein böser Mensch auf einen anderen zornig ist, weil er ihn bei einer geplanten schlechten Tat nicht unterstützt oder wenn man seinem Nächsten zürnt, weil man durch ihn bspw. Geld verloren hat. Kein materieller Schaden – und sei er auch noch so groß – ist ein rechtfertigender Grund dafür, die Liebe zu den Mitmenschen preiszugeben.408 Dennoch ist es erlaubt, in berechtigten Fällen und in einem gewissen Maß auf jemanden zornig zu sein, der für einen Sachschaden verantwortlich ist.409 Die dritte Variante des schlechten Zorns, die als fehlgeleiteter Zorn (‚ira indirecta‘) bezeichnet wird, lässt sich an einer falschen Absicht erkennen. Man darf dem Nächsten nämlich nur zürnen, wenn es um Gott geht oder wenn das Seelenheil in Gefahr ist. Daraus lässt sich schließen, dass der gute Zorn immer von der Gottes- oder Nächstenliebe getragen sein muss und nicht durch Begehren, Neid oder Ungeduld motiviert sein darf.410 Die vierte und letzte Variante des schlechten Zorns wird als unmäßiger Zorn (‚ira intemperans‘) bezeichnet. Dabei kann es sich um ein Zuviel oder Zuwenig handeln: Wenn also jemand weniger zürnt, als es angemessen wäre, verfehlt der Zorn seine Wirkung und bewirkt keine Verbesserung beim Betreffenden. Radulfus Ardens verweist hier exemplarisch auf den Priester Eli im Alten Testament, der seinen frevelhaften Söhnen gegenüber zu milde war (vgl. 1 Sam 2, 12– 36). Ein Übermaß an Zorn führt dagegen zu Wut (‚furor‘), Beschimpfung (‚contumelia‘), Unrecht (‚iniuria‘), andauerndem Zorn (‚irositas‘) und Hass (‚odium‘). Damit ist jedoch die Grundlage für jede Form von Nächstenliebe zerstört.411 Dementsprechend ist der gute Zorn dadurch gekennzeichnet, dass man zürnt, wem man zürnen muss, dass der Grund dafür gerecht ist, dass die Absicht gut ist und dass das rechte Maß gewahrt bleibt. Radulfus Ardens verwendet dafür die Be-
insania, qui contra insensata strident et fremunt. […] Contra rem irrationabilem irascitur, qui irascitur contra bruta animalia, ut qui male parentem in rupes trudit asellum.“ 408 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101rb): „Contra innocentem irascitur, qui contra iustum nolentem sibi in illicitis obedire irascitur […]. Sciendum nimirum est quod non est uerus Christianus, qui propter aurum uel argentum uel aliquam possessionem uel rem temporalem sic cum Christiano irascitur, ut in se uel in illo mutuam caritatem extinguat.“ 409 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101rb): „Possumus enim propter terrenas res contra fratrem irasci aliquo motu paruo ire dicti uel facti, sed non in nobis uel in eo caritatem extinguente.“ 410 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101rbf.): „Qua intentione non debet irascitur, qui nec intuitu dilectionis Dei uel proximi ad iram commouetur, ut quando ex cupiditate uel inuidia uel impatientia irascitur.“ 411 Spec. uniu. 11, 149 (P, fol. 101va): „Quantum non debet irascitur, qui irascitur uel minus uel magis quam deberet; minus ut Heli sacerdos qui contra filios suos peccantes irascebatur quidem, sed non quantum deberet. Nimis ut quando ira excedit modum excrescens usque ad furorem uel usque in contumeliam uel iniuriam uel in odium uel in irositatem.“
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griffe ‚ira bona‘ und ‚zelus‘.412 Die beiden folgenden Kapitel sind dieser Verhaltensweise gewidmet. In Kapitel 150 interpretiert er Tugend nahezu ausschließlich als zornige Zurechtweisung gegenüber einzelnen Häretikern oder Personengruppen, die exkommuniziert bzw. aus der Gemeinschaft der Christen ausgeschlossen werden. Abgesehen von diesen Überlegungen, die für die vorliegende Untersuchung nur von untergeordnetem Interesse sind, stellt er am Ende des Kapitels am Beispiel des Zorns dar, in welchen Entwicklungsstufen die affektiven Tugenden aus den jeweiligen Affekten entstehen.413 Kapitel 151 ist für das Verständnis der Tugend, die Radulfus Ardens als guten Zorn versteht, von größerer Bedeutung. Wie bereits erwähnt, verwendet er gleich am Anfang des Kapitels den Begriff Eifer (‚zelus‘), der das Gemeinte seiner Ansicht nach besser zum Ausdruck bringt. Er nimmt dabei Bezug auf mehrere Bibelstellen, in denen der Eifer Gottes gegenüber seinem auserwählten Volk und auch der Eifer bestimmter Gottesmänner (z. B. der des Propheten Ezechiel oder des Paulus) für ihr Volk bzw. ihre Gemeinde thematisiert wird (vgl. Ps 68, 10; Ez 4, 3; 2 Cor 11, 29). Der ‚zelus‘ gegenüber Gott meint also einen Gotteseifer, der auch als heiliger Zorn bezeichnet werden kann. Als Beispiel dafür führt Radulfus Ardens das harte Eingreifen des Mose gegenüber den Israeliten an, die das goldene Kalb angebetet hatten (vgl. Ex 32, 29).414 Zudem bezeichnet er ein leidenschaftliches Engagement für die Mitmenschen, das zum einen Liebe und Zuneigung zum Ausdruck bringt, zum anderen aber auch argwöhnisch darauf achtet, dass alle auf dem rechten Weg bleiben. Von daher ist die ‚correctio fraterna‘ eine wichtige Aufgabe dieser Tugend. Insgesamt stellt er den ‚zelus‘ als die typische Tugend eines guten und engagierten Lehrers vor, dem das Vorankommen seiner Schüler am Herzen liegt und der sie notfalls mit aller gebotenen Härte zurechtweist.415 Obwohl Radulfus Ardens damit bereits ein differenziertes Bild vom Affekt des Zorns entworfen hat, lässt er es nicht dabei bewenden. In den beiden Kapiteln 152
412 Spec. uniu. 11, 151 (P, fol. 102va): „Est igitur ira bona quando est rationabilis, iusta, directa et temperata, id est quando irascimur, cui debemus et pro qua causa debemus et qua intentione debemus et quantum debemus. Hec autem et bonus zelus nuncupatur.“ 413 Dieser Abschnitt wurde ausführlich unter Punkt 1.2.2 besprochen. 414 Spec. uniu. 11, 151 (P, fol. 103ra): „Est enim huiusmodi zelus sacrificium Deo gratissimum sanctificans zelantem et eum, qui zelatur, purgans et ceteros a malo deterrens.“ 415 Spec. uniu. 11, 151 (P, fol. 102vb): „Omnis quippe doctoris animam spiritualis zelus frigit, quia ualde cruciatur, dum infirmos quosque Dominum contempnere et mundum diligere conspicit. […] Hanc autem frixuram zeli tamquam sartaginem ferream inter se et inter ciuitatem, id est animam obsessam ponit pastor, ut si is qui corrigitur, audire noluerit; pastor tamen pro zelo, quem exhibet reus, non sit. Precipitur quoque pastor contra animam peccatricem faciem obfirmare, ut si ea corrigi noluerit, zelum non remittat; sed potius contra eam fortius obrigescat.“ Hier ist zu beachten, dass Radulfus die in Ez 4, 3 erwähnte Röstpfanne (‚frixura‘), die Ezechiel zwischen sich und das ungläubige Volk (‚ciuitas‘) stellen soll, als Allegorie des Eifers versteht.
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
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und 153 präsentiert er zwei unterschiedliche Aufteilungen (‚diuisiones‘) des Zorns. Damit sind jedoch keine weiteren Unterarten oder etwa Tochtertugenden gemeint; vielmehr ist er bestrebt, zahlreiche Alltagsphänomene, in denen der Zorn eine Rolle spielt, unter systematische Kriterien zu fassen und ethisch zu bewerten. Obgleich diese Unterteilungen nicht direkt mit dem komplementären Verhältnis von Zorn und Freude in Verbindung stehen, legen sie dennoch ein Zeugnis davon ab, wie tiefgehend Radulfus Ardens das menschliche Verhalten durchleuchtet; deshalb werden sie in gebotener Kürze skizziert. Zum einen teilt er den guten Zorn oder Eifer in zwei Arten auf: den Zorn gegenüber sich selbst (‚reciproca‘) und den Zorn gegenüber anderen Menschen (‚transitiua‘).416 Die ‚ira reciproca‘ muss dabei zeitlich immer der ‚ira transitiua‘ vorausgehen, da man zuerst seine eigenen Verfehlungen bedenken und mit sich selbst ins Gericht gehen muss, bevor man auf die Mitmenschen zornig ist. Der Zorn gegenüber anderen wird wiederum in drei Aspekte aufgeteilt: den Zorn des Vorgesetzten, der seinen Untergebenen wegen Fehlern kritisiert (‚ira transitiua corrigens‘); den Zorn eines Menschen, der Unrecht abwehrt (‚ira transitiua repellens‘) und den Zorn des Richters, der ein Unrecht betraft (‚ira transitiua uindicans‘).417 Diese erste Aufteilung nimmt den guten Zorn also von seinem Objekt her in den Blick. Sie lässt sich wie folgt darstellen:
ira reciproca ira transitiua corrigens ira bona ira transitiua
ira transitiua repellens ira transitiua uindicans
Abb. 34: Die erste Aufteilung des Zorns.
Zum anderen unterteilt Radulfus Ardens den Zorn hinsichtlich seiner Dauer und dem Kriterium, ob er offen gezeigt oder im Herzen verborgen wird. In einem ersten Schritt zählt er dabei den offenen und schlechten (‚aperta et mala‘) und den verborgenen und schlechten (‚occulta et mala‘) sowie den offenen und guten (‚aperta et bona‘) und den verborgenen und guten (‚occulta et mala‘) auf.418 Welchem Zweck
416 Spec. uniu. 11, 152 (P, fol. 103ra): „Ira bona alia est reciproca, alia transitiua. Reciproca est in seipsum, transitiua in alium.“ 417 Spec. uniu. 11, 152 (P, fol. 103raf.): „Ira uero transitiua alia est corrigens, alia repellens, alia uindicans. Prior est pastorum excessus subditorum corrigentium, secunda quorumlibet iniurias siue iniuria a se uel ab aliis repellentium; tertia iudicum iniurias malefactorum uindicantium.“ 418 Spec. uniu. 11, 153 (P, fol. 103rb): „Item ira alia est aperta et mala, alia occulta et mala, alia aperta et bona, alia occulta et bona.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
dient diese Aufteilung? Ob es sich um guten oder schlechten Zorn handelt, bemisst sich daran, ob die vier oben erwähnten Kriterien für die ‚ira bona‘ erfüllt sind. Hier spielt besonders die Einhaltung des rechten Maßes eine wichtige Rolle. Dementsprechend meint die ‚ira aperta et mala‘ eine offene Feindschaft, die vor aller Augen ausgetragen wird und nicht nur das Verhältnis zwischen den beiden Streitenden irreversibel zerstört, sondern auch die Mitmenschen belastet. Die ‚ira occulta et mala‘ ist hingegen dadurch gekennzeichnet, dass der Zornige sein Gegenüber innerlich verabscheut, dies aber nicht nach außen zeigt. Der Zorn wächst dadurch jedoch immer weiter, da das Verbergen der Emotion einen Klärungsprozess unmöglich macht. Bei der ‚ira aperta et bona‘ könnte man an ein Verhältnis denken, in dem es zwischen beiden Seiten zwar Meinungsverschiedenheiten gibt, die Streitigkeiten aber dennoch von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet sind. Zudem muss sich der Zorn insbesondere dann offen zeigen, wenn der Betroffene dadurch gebessert werden kann. Auf diese Weise ist den Betroffenen und dem sozialen Umfeld klar, dass ein Problem besteht und dieses geklärt werden muss. Die ‚ira occulta et bona‘ bezieht sich dagegen auf Fälle, in denen eine offene Konfrontation eher einen Konflikt provozieren würde oder in denen man aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung keine Möglichkeit hat, dem Zorn – bspw. gegen einen Politiker oder Vorgesetzten – Ausdruck zu verleihen. Dabei muss der Zornige darauf achten, dass sich die ‚ira‘ in seinem Inneren nicht so weit steigert, dass sie zum Laster wird. Generell sieht Radulfus Ardens im versteckten Zorn die größere Gefahr, da er im Verborgenen unbemerkt immer weiter um sich greift.419 In einem zweiten Schritt beschäftigt er sich v. a. mit dem Phänomen des schlechten Zorns. Er nennt diesbezüglich den kurzen und schlechten (‚breuis et mala‘) sowie den langen und schlechten (‚longa et mala‘).420 Mit dieser Aufteilung macht er deutlich, dass der schlechte Zorn schlimmer wird, je länger er andauert. Beim guten Zorn hingegen ist nicht so sehr die Dauer, sondern eher das Maß bzw. die Angemessenheit das entscheidende Kriterium.421 Im besten Fall ergreift der Zornige also kurz nach dem Vorfall eine passende Gelegenheit, weist den, der ihm Schaden zugefügt hat, zurecht und hilft ihm damit, sich zu bessern und in Zukunft keine Fehler mehr zu machen. Je länger der schlechte Zorn zurückgehalten wird, desto größer ist auch die
419 Spec. uniu. 11, 153 (P, fol. 103rb): „Latens uero ira plus nitus seuit tamquam fex in ulcere et illum, cui latet, plus potest dampnificare. Ira uero aperta et bona melior est quam ira latens et bona, dum iratus ire sue zelum emittit et peccantem corrigit; nam bonam iram occultare non debemus, nisi forte uel auctoritate uel opportunitate corrigendi caruerimus.“ 420 Spec. uniu. 11, 153 (P, fol. 103rb): „Item ira alia est mala et longa, alia mala et breuis. Mala ira quanto est breuior, tanto uenialior, quanto uero prolixior, tanto dampnabilior.“ 421 Spec. uniu. 11, 153 (P, fol. 103rb): „Ira enim bona, siue sit longa, siue sit breuis, bona est, si respondeat mensure peccati; nam si culpa breuis est, nonnisi breuiter cum ea irascendum est. Si uero culpa fuerit prolixior, prolixius siue frequentius cum illa irasci debemus.“
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
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Wahrscheinlichkeit, dass er sich in tiefe Feindschaft bzw. Hass verwandelt. Radulfus Ardens weist darauf hin, dass diese Aussage auf den ersten Blick widersprüchlich ist, da der Zorn ja aus dem Hass entsteht. Er erklärt dies so, dass der Zorn hinsichtlich einer verhassten Sache erst dann entsteht, wenn sie sich ereignet. Die Emotion des Zorns führt aber wiederum zur Entstehung eines Hasses, der sich nicht mehr nur auf die Sache selbst richtet, sondern auch auf die dafür verantwortliche Person.422 Auch hier wird wieder die Verwobenheit der unterschiedlichen Affekte miteinander gut sichtbar. Abschließend verbindet er die beiden Kriterien Dauer und Offenheit bzw. Verborgenheit in einer Aufgliederung, welche die vier Mitteilungsweisen des schlechten Zorns folgendermaßen aufzählt: Der offene und kurze schlechte Zorn ist noch am wenigsten schlimm, steigert sich aber über den offenen und langen sowie den kurzen und verborgenen schließlich zum verborgenen und langen, der die schädlichste Variante der ‚ira mala‘ darstellt.423 Dieses Geflecht lässt sich folgendermaßen abbilden:
aperta ira bona occulta ira
breuis et aperta breuis et occulta ira mala longa et aperta longa et occulta
Abb. 35: Die zweite Aufteilung des Zorns.
Dabei muss an sich in Erinnerung rufen, dass Radulfus Ardens mittels dieser Aufgliederung darauf abzielt, die Einzelphänomene, die mit der Emotion des Zorns in Verbindung stehen, systematisch zu ordnen und moralisch zu bewerten. Von daher
422 Spec. uniu. 11, 153 (P, fol. 103rb): „Ira enim longius extensa in odium roboratur. Sed dices: Superius dictum est ex odio nasci iram, quomodo dicis nunc ex ira odium procreari? Ex odio rei nascitur ira, si res illa euenerit. Ex ira uero nascitur singulariter odium in hanc uel in aliam personam, per quam res illa euenerit.“ 423 Spec. uniu. 11, 153 (P, fol. 103va): „Item ira alia est breuis et aperta, alia est breuis et occulta, alia aperta et longa, alia occulta et longa. Prima est mala, secunda peior, tertia pessima, quia odium est inueteratum et peccatum in Spiritum sanctum. Humanum enim est peccare, sed diabolicum est perseuerare; quarta uero est pessimarum pessima et hec simultas nuncupatur. Peior quoque est occultus inimicus quam apertus, aperte siquidem insidie melius deuitantur quam occulte.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
tauchen in diesem Schema auch nur die ethisch relevanten Unterarten auf: So wertet er im Bereich der ‚ira bona‘ den offenen Zorn besser als den verborgenen. Ob der gute kurz oder lang ist, hängt ganz vom jeweiligen Einzelfall ab und hat damit keinen Einfluss auf die ethische Wertung. Im Bereich der ‚ira mala‘ spielen jedoch beide Kriterien eine Rolle.
2.4.3 Das komplementäre Verhältnis von ‚gaudium‘ und ‚ira‘ im Detail Zum Abschluss der Darstellung des vierten Komplementärtugendpaars gilt es, das komplementäre Verhältnis von Freude und Zorn genauer zu beleuchten. In Kapitel 155 nennt er die beiden Komplementärtugenden424 und ihre entgegengesetzten Laster425. Als ‚termini‘ bestimmt er die übermütige Freude über die eigenen Güter und die Verzweiflung, die sich durch den Zorn über die eigenen Verfehlungen einstellt.426 Die systematisch bedeutsamen Begrifflichkeiten dazu wurden bereits genannt: Im Bereich der Freude lag die Unterscheidung von ‚gaudium bonum‘ und ‚gaudium malum‘ auf der Hand. Beim Zorn gestaltete es sich dagegen weitaus schwieriger, den eher negativ gewerteten Affekt als Tugend zu interpretieren. Dies gelang Radulfus Ardens schließlich, indem er auf biblischer Grundlage mithilfe des Begriffes ‚Eifer‘ einen tugendhaften Aspekt des Zorns herausarbeitete. Dass die ‚ira bona‘ bzw. der ‚zelus‘ dabei von der Liebe zu Gott und zum Nächsten getragen ist, zugleich aber unerbittlich gegen die Sünden und Laster der Mitmenschen vorgeht, um sie auf den Pfad der Tugenden zu bringen, passt gut zu dem positiven Ergänzungsverhältnis zwischen Liebe und Hass. Diese Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
‚gaudium malum‘
‚gaudium bonum‘ ↔
‚ira bona‘ / ‚zelus‘
‚ira mala‘ / ‚desperatio‘
Radulfus Ardens erwähnt eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die aus den beiden Komplementärtugenden und ihren Lastern hervorgehen. Obgleich er diese nicht explizit als ‚filie‘ von Freude und Zorn bezeichnet, scheint es sich dabei um Tochtertugenden und -laster zu handeln. Ganz ähnlich wie bei Hoffnung und Furcht 424 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 103vb): „Itaque ira et gaudium sunt collaterales uirtutes altera siquidem alteram moderatur.“ 425 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 103vb): „Cum enim gaudemus de aliquo bono nostro […], ne gaudium nimis excedat et nos nimis securos reddat cogitemus quoque et delicta nostra, quibus irasci debemus. Et econtra delicta nostra indignamur, ne ipsa ira excedat et nos in desperationem detrudat, respiciamus ad aliquod bonum.“ 426 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 104ra): „Termini uero istarum uirtutum sunt sic gaudere de bonis nostris, ut memores simus et delictorum nostrorum, pro quibus irascendum est et econtra sic irasci delictis nostris, ut memores simus et bonorum que iam habebamus uel habere possumus, quibus congaudendum est.“
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
301
stehen sie in keinem komplementären Verhältnis zueinander, folgen aber von ihrer Aufgliederung her einem komplementären Schema. Aus der lasterhaften Freude entstehen Gelächter, Leichtlebigkeit, Unbeständigkeit, dummes Possenreißen, Zügellosigkeit des Geistes, Entfremdung von den eigenen Sünden, Vergessen der Gefahren, die einem drohen und Tun von verbotenen Dingen.427 Aus der lasterhaften Freude erwachsen hingegen Entrüstung, Verwirrung, Leichtfertigkeit, Unbeständigkeit des Geistes, Entfremdung, Wüten, Begehen von Taten, die einen reuen, Verzweiflung und Selbsttötung.428 Die Fülle der hier genannten Laster weist zum einen auf die gravierenden Auswirkungen hin, falls sich Freude und Zorn nicht gegenseitig ins rechte Maß bringen. Zum anderen fällt ins Auge, dass auf beiden Seiten z. T. die gleichen Laster entstehen, nämlich Leichtfertigkeit, Entfremdung und Unbeständigkeit. Auch daran zeigt sich, dass beide Affekte das Potential haben, den Menschen von sich selbst zu entfremden, sodass er leichtfertig handelt und nicht mehr in der Lage ist, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Radulfus Ardens äußert sich zu den an dieser Stelle genannten Lastern nicht genauer. Wenn sich die Freude im rechten Maß befindet, entstehen daraus Trost, Bestärkung, geistiger Frohsinn, Freude an Gott sowie Hoffnung und Erwartung der besseren Dinge.429 Aus dem guten Eifer entstehen Zurechtweisung, Verbesserung, Vernichtung der Sünden, Gefallen am göttlichen Zorn und Erlangung der göttlichen Gnade.430 Die lateinischen Begriffe dieser Tugenden und Laster lassen sich der folgenden Darstellung entnehmen:
427 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 103vb): „De gaudio quippe, si sit malum uel uanum uel intemperatum, nascitur risus, leuitas, inconstantia, stulta scurrilitas, dissolutio mentis, alienatio peccatorum et periculorum propriorum obliuio, illicitorum commissio.“ 428 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 103vbf.): „E regione quoque ex ira uel mala uel intemperata oritur indignatio, perturbatio, leuitas, inconstantia mentis, alienatio, furor, malorum sibi plangendorum commissio, desperatio, suiipsius interfectio.“ 429 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 104ra): „Nam si sic fuerit bonum gaudium temperatum oriuntur ex eo hec uirtutes spirituales: consolatio, confortatio, spiritualis hilaritas, in Deo delectatio, meliorum spes et exspectatio.“ 430 Spec. uniu. 11, 155 (P, fol. 104ra): „Econtra quoque ex bono zelo nascitur correctio, emendatio, peccatorum delectio, diuine ire placatio, diuine gratie consecutio.“
302
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
gaudium malum / uanum / intemperatum
gaudium bonum / temperatum
risus
zelus bonus
ira mala / intemperata
consolatio
correctio
indignatio
leuitas
confortatio
emendatio
perturbatio
inconstantia
spiritualis hilaritas
peccatorum deletio
leuitas
in deo delectatio
placatio diuine ire
↔
stulta scurrilitas dissoutio mentis
inconstantia mentis alienatio
alienatio peccatorum
spes et exspectatio meliorum
consecutio diuine ire
furor
obliuio peccatorum propriorum
malorum sibi plangendorum commissio
illicitorum commissio
desperatio sui ipsius interfectio
Abb. 36: Die Tochtertugenden von Hoffnung und Zorn.
Insgesamt müssen zwei systematische Rückfragen an den Traktat über Freude und Zorn gestellt werden. Erstens: Warum unterteilt Radulfus Ardens die beiden Affekte so aufwendig? Und zweitens: Spielen diese Unterteilungen eine Rolle für das komplementäre Verhältnis der beiden Affekte? Bezüglich der ersten Frage bleibt festzuhalten, dass sowohl Freude als auch Zorn nach der Ausdifferenzierung in ‚species‘ in weitere Aspekte unterteilt werden. Die Freude unterscheidet der Autor dabei hinsichtlich der Gegenstände, auf die sie sich richtet; da sich alle Güter entweder dem materiellen oder geistigen Bereich zuordnen lassen, kommt er jeweils auf eine gute und eine schlechte materielle bzw. geistige Freude. In diesem Gedankengang spielt das ‚gaudium spirituale‘, also die gute Freude über geistige Güter, eine herausgehobene Rolle. Auch den Zorn teilt der Autor zunächst hinsichtlich seiner Gegenstände in den Zorn gegenüber sich selbst und den gegenüber anderen auf. Zusätzlich unterscheidet er aber noch verschiedene Formen der ‚ira‘ hinsichtlich ihrer Dauer und anhand des Kriteriums, ob sie sich äußerlich zeigen oder im Inneren des Menschen verborgen bleiben. Diese komplexe Aufgliederung lässt sich letztlich nur mit der Sonderstellung von Freude und Zorn erklären. So betont Radulfus Ardens mehrfach, dass ‚gaudium‘ und ‚ira‘ die Affekte mit den größten Auswirkungen auf Geist und Körper des Menschen sind. Da gerade die Freude über materielle Güter hohes Gefahrenpotential in sich trägt, die trostlose Lage im Diesseits zu verkennen, warnt er eindringlich davor und betont den Vorrang der geistigen Freude. Die beiden ‚diuisiones‘ des Zorns zeigen hingegen mit ihren vielen Unterscheidungen, wie massiv der Zorn in
2.4 Das Komplementärtugendpaar ‚gaudium‘ – ‚ira‘
303
das menschliche Leben eingreift. Im Verlauf des Traktats wird der schlechte bzw. übermäßige Zorn immer wieder problematisiert und verschiedene Heilmittel gegen diese schädliche ‚perturbatio animi‘ genannt: So schützt die Geringschätzung materieller Dinge (‚contempnere temporalia‘) vor dem Zorn darüber,431 der Gedanke an die Barmherzigkeit Gottes (‚respicere immensam misericordiam Dei‘) vor dem übermäßigen Zorn gegen sich selbst432 und das Bedenken der eigenen Verfehlungen (‚considerare peccata nostra‘) vor dem lasterhaften Zorn gegen andere Menschen. Zudem muss er stets an der Verbesserung der Mitmenschen orientiert sein.433 Das beste Gegenmittel für jeden Zorn ist jedoch zeitlicher Abstand und Bedenkzeit.434 Damit kann letztlich nur eine vernünftig abgewogene, sachdienliche, offen kommunizierte und von der Nächstenliebe getragene Form der Kritik als guter Zorn oder Eifer verstanden werden. Dass Radulfus Ardens ein solches Verhalten v. a. guten Lehrern attestiert, die am geistigen Vorankommen ihrer Schüler interessiert sind, passt gut zur herausgehobenen Bedeutung der geistigen Freude. Aus diesem Querschnitt erschließt sich die Beantwortung der zweiten Frage: Radulfus Ardens legt den Kapiteln 144–155 zwar eine komplementäre Struktur zugrunde, setzt aber im Einzelnen bestimmte Schwerpunkte. So konzentriert er sich auf den Bereich der geistigen Güter und geht auf die Sphäre der materiellen Güter nur am Rande ein. Damit ist aber keineswegs ausgeschlossen, dass die hier genannten Begrifflichkeiten in eine komplementäre Struktur eingepasst werden könnten. So ließe sich bspw. zur guten Freude über materielle Dinge ein guter Zorn darüber ins Verhältnis setzen. Die Unterteilungen des Zorns dienen v. a. dazu, das Phänomen des Zornes in Gänze zu erfassen und zu bewerten. Sie stehen letztlich mit der Komplementärtugend ‚gaudium bonum‘ in keinem direkten Verhältnis. Dieser Textbefund kann schematisch wie folgt dargestellt werden:
431 Spec. uniu. 11, 154 (P, fol. 103va): „Ira uero propria aut est de dampno temporali aut de spirituali et ire quidem, que surgit de dampno temporali, nullomodo melius resistere ualemus quam si res temporales contempnamus.“ 432 Spec. uniu. 11, 154 (P, fol. 103va): „[…] si forte aliquis in aliquod facinus, decidens ira nimia in semetipso exarserit, ne in desperationem corruat, respiciat ad immensam Dei misericordiam.“ 433 Spec. uniu. 11, 154 (P, fol. 103vaf.): „Ire uero que surgit in nobis contra delinquentium peccata resistere, debemus nostra peccata considerando et illorum bona recordando et illorum penitentiam et ad melioritationem sperando.“ 434 Spec. uniu. 11, 154 (P, fol. 103vb): „Sane generale est contra omnem iram antidotum dilatio moraque temporalis. Ira quippe in prima perturbatione feruescit, sed retenta dilataque paulatim requiescit ad instar fontis, qui moto fundo perturbatur dimissus uero paulatim residet et clarificatur.“
304
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
gaudium (c. 144-148)
↔
gaudium bonum (c. 144)
↔
gaudium temporale malum (c. 144)
gaudium temporale bonum (c. 144)
↔
gaudium spirituale malum (c. 145)
gaudium spirituale bonum (c. 145)
↔
ira (c. 149-155)
gaudium indifferens (c. 144) gaudium uanum (c. 144) gaudium malum (c. 144)
ira mala / desperatio (c. 149.155)
ira bona / zelus (c. 149)
?
Abb. 37: Komplementäre Strukturen im Bereich Freude und Zorn.
2.5 Das Komplementärtugendpaar ‚letitia‘ – ‚tristitia‘ Der Traktat über Fröhlichkeit und Traurigkeit erstreckt sich über sieben Kapitel (c. 156–162) und vermittelt ein uneinheitliches Bild. Dies liegt daran, dass Radulfus Ardens einerseits in gewohnter Weise die beiden Tugenden behandelt, sich andererseits aber auch ausführlich mit dem Gesang (‚cantus‘) beschäftigt. Diese Ausführungen sind z. T. recht detailliert; so äußert er sich bspw. zur Harmonielehre, erwähnt unterschiedliche Arten von Liedern und nennt einzelne Beispiele dafür. Dabei geht er von zwei Grundgedanken aus: Erstens, dass der Gesang die vornehmste Form ist, in der sich Freude und Traurigkeit ausdrücken können und zweitens, dass sich an der Harmonie des Gesangs der Zusammenklang der Tugenden bzw. die Harmonie von Innerem und Äußerem Menschen erkennen lässt. Der Aufbau des Abschnitts ist aus zwei Gründen ungewöhnlich: Zum einen fällt aus systematischer Perspektive auf, dass hier ein Exkurs über ein Thema eingeflochten wird, das nicht direkt zur tugendethischen Fragestellung des Kontextes passt. So ist wenig nachvollziehbar, dass der Gesang und seine zahlreichen Unterarten als Tugenden bzw. als Laster beschrieben werden. Dass Radulfus Ardens selbst in diese Richtung gedacht hat, zeigt sich daran, dass er mehrfach Bezugspunkte zwischen dem Gesang und dem ethischen Zustand des Menschen herstellt. Zum anderen handelt es sich dabei nicht um einen zusammenhängenden Traktat ‚de cantu‘, wie es bspw. beim Almosen der Fall ist, sondern um zahlreiche Einzelinformationen, die über mehrere Kapitel hinweg verstreut sind. Da für die vorliegende Untersuchung in erster Linie die Informationen zu ‚letitia‘ und ‚tristitia‘ relevant sind, werden die inhaltlichen Bruchstücke über den Gesang weitestgehend ausgeblendet und nur dann in den Blick genommen, wenn sie einen Beitrag für das Verständnis des fünften Komplementärtugendpaars leisten.
2.5 Das Komplementärtugendpaar ‚letitia‘ – ‚tristitia‘
305
Abgesehen von dieser Besonderheit legt Radulfus Ardens in dem Abschnitt einen ähnlichen Schwerpunkt wie bei Freude und Zorn und stellt die Bedeutung der geistigen Fröhlichkeit (‚letitia spiritualis‘) und der geistigen Traurigkeit (‚tristitia spiritualis‘) heraus. Überhaupt sind die Übergänge zwischen den Affekten Freude und Fröhlichkeit bzw. Zorn und Traurigkeit fließend. So ist bspw. davon die Rede, dass der Gesang und die anderen Auswirkungen der Fröhlichkeit aus der Fröhlichkeit und der Freude (‚gaudium et letitia‘) hervorgehen.435 Ihre hauptsächliche Aufgabe ist es, vor übermäßiger Trauer zu bewahren und sie wird letztlich auch nur in dieser Form gutgeheißen. An mehreren Stellen wird nämlich betont, dass es in der gegenwärtigen Welt letztlich nur Gründe zum Trauern gibt, da der Mensch einerseits zahlreichen Prüfungen und Versuchungen ausgesetzt ist und andererseits die vollwertige geistige Fröhlichkeit erst im Jenseits erlangt werden kann;436 sich im Hier und Jetzt an geistigen Gütern zu erfreuen, führt hingegen oft dazu, dass man sich in törichter Sicherheit (‚stulta securitas‘) wiegt. Zudem lenkt die Freude über materielle Dinge den Blick des Menschen allzu leicht vom eigentlich Wichtigen ab. Am Ende des Traktats betont Radulfus Ardens dennoch, dass beide Tugenden gleich wichtig sind und dass manche Menschen von ihrem Naturell her eher zur Fröhlichkeit und manche eher zur Traurigkeit neigen, ohne dass die einen besser wären als die anderen. Er mutmaßt allerdings, dass die Fröhlichkeit eher zu den schon vollendeten Menschen und zu den Heiligen (‚perfecti‘) passt, während sich die Traurigkeit eher für die Anfänger (‚proficientes‘) ziemt.437
435 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Oritur autem ex gaudio et letitia plausus, ludus, risus, cantus, que talia sunt, qualia et ea de quibus oriuntur.“ 436 Vgl. dazu bspw. Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104va): „Plausus quippe ludus et risus, cum sint puerorum uel pueriliter uiuentium, minime decent personas graues et spirituales. Sunt enim signa uane mentis dissolute leuis et male secureque in exilio huius miserie uite hostibus, insidiis et periculis obsesse locum non habent, ubi est tempus et locus potius flendi quam ridendi. […] In hac uita est tempus flendi, in alia tempus ridendi; nam qui preposcerant et hic uolunt ridere, in alia uita necesse erit flere.“ Zur Rolle der Fröhlichkeit vgl. bspw. ebd. 11, 162 (P, fol. 106rb): „Cauendum uero summopere est […], ne aliquando […] nimis contristemur. Qui enim a tristitia uincitur, a ceteris quoque uitiis superatur.“ Im Zusammenhang mit den konkreten Auswirkungen der Fröhlichkeit sagt er in ebd. 11, 156 (P, fol. 104va): „Ceterum ad hoc tantum hac in uita possunt habere locum, ut quando nos uel fratres nostri nimia mestitia pressi fuerimus, ad expulsionem meroris plausui, ludo et risui aliquantis indulgeamus.“ 437 Spec. uniu. 11, 162 (P, fol. 106vaf.): „Verumtamen animaduertendum est, quod quidam sancti sunt magis apti et donati spirituali letitia, alii uero sunt magis apti spirituali tristitia. Et hoc quidem contingit aut ex natura aut ex gratia. Quidam uero sunt magis apti naturaliter ad contristandum ut melancholici. Quidam uero magis apti natura ad gaudendum, ut sanguinei. Quidam enim uel hanc uel illam uirtutem magis habent ex gratia quam ex natura. Vtri autem sint meliores, Deus nouit. […] Videtur tamen nobis, quod gaudere magis est perfectorum, tristari uero magis penitentium.“
306
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
2.5.1 Die beiden Affekte Fröhlichkeit und Traurigkeit und der Aufbau ihrer Darstellung Mit vier Kapiteln (c. 156–159) wird die Freude etwas ausführlicher behandelt als die Traurigkeit (c. 160–162). Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Kapitel 157–159 und 162 nahezu ausschließlich dem Gesang gewidmet sind. Das komplementäre Verhältnis der beiden Tugenden wird in Kapitel 160 erstmals erwähnt und in Kapitel 162 ausführlicher thematisiert. Radulfus Ardens gliedert weder die Überlegungen zur ‚letitia‘ noch zur ‚tristitia‘ durch Leitfragen. Aus seinem Vorgehen und den Kapitelüberschriften lässt sich jedoch entnehmen, dass er in einem ersten Schritt die beiden Affekte allgemein definiert, sie in einem zweiten ausdifferenziert bzw. ethisch bewertet und sich in einem dritten Schritt jeweils genauer mit der geistigen Fröhlichkeit und der geistigen Traurigkeit beschäftigt. Dieser Dreischritt wird jedoch immer wieder durch die Ausführungen über den Gesang unterbrochen und soll daher im Folgenden – beginnend mit der allgemeinen Definition von ‚letitia‘ und ‚tristitia‘ – möglichst stringent rekonstruiert werden. – Die Fröhlichkeit wird allgemein als ein Frohsinn (‚hilaritas‘) definiert, der von einer vorausgehenden Freude bestehen bleibt.438 Der Affekt ‚letitia‘ ist also ein Nachhall vergangener Freude über die Erlangung eines erwünschten Gegenstandes und stimmt den Betreffenden auch dann noch fröhlich, wenn der eigentliche Grund für die Freude zeitlich schon weit zurückliegt. Dieser Zusammenhang ist so zu verstehen, dass nach einiger Zeit der Ansturm (‚impetus‘) des Affektes Freude verschwindet und dann nur noch ein Rest der positiven Emotion in Form von Fröhlichkeit zurückbleibt.439 Von dieser Bestimmung her erklärt sich auch die bereits erwähnte enge Verbindung von ‚gaudium‘ und ‚letitia‘. Radulfus Ardens ist sich bewusst, dass er an dieser Stelle aus systematischen Gründen eine inhaltliche Differenz zwischen den beiden Affekten postuliert, die durch den Alltagsgebrauch der entsprechenden Begriffe nicht gedeckt ist. Gewöhnlich werden Freude und Fröhlichkeit nämlich synonym verwendet.440 Dabei ist zu beachten, dass die Verwendung des Begriffes ‚impetus‘ erneut auf die Rezeption stoischen Gedankengutes schließen lässt. So spielt der ‚impetus‘ in der Affektentstehungstheorie Senecas, die er in De ira zu Beginn des zweiten Buches darlegt, eine wichtige Rolle. Dort bezeichnet der Terminus die erste von insgesamt
438 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Letitia est hilaritas remanens in mente ex gaudio precedente.“ 439 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Similiter ex impetu precedentis gaudii licet impetus ille quiescat, tamen inde letitia remanet in mente.“ 440 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Indifferenter tamen secundum usum et gaudium ponitur pro letitia et letitia pro gaudio.“
2.5 Das Komplementärtugendpaar ‚letitia‘ – ‚tristitia‘
307
drei Entwicklungsstufen des Affektes.441 Die Phase des Ansturms (‚impetus‘) ist dabei durch eine spontane emotionale Regung in der Seele (‚agitatio animi‘) gekennzeichnet, die äußerlich durch charakteristische körperliche Reaktionen sichtbar wird, wie bspw. das Zittern der Hände im Falle der Angst oder das Erröten des Gesichts im Falle des Zorns.442 Nach Senecas Vorstellung handelt es sich dabei noch nicht um den eigentlichen Affekt. Dieser entsteht erst in der zweiten Phase, wenn die Vernunft dem ‚impetus‘ zustimmt.443 Würde man Senecas Konzeption als Grundlage für die Aussagen des Radulfus Ardens über die Fröhlichkeit heranziehen, ließe sich die Entstehung der ‚letitia‘ folgendermaßen präzisieren: Durch das Bemerken eines erwünschten Gegenstandes entsteht in der Seele des Betroffenen ein ‚impetus‘ der Freude. Dieser Ansturm verflüchtigt sich langsam, nachdem der Gegenstand erworben wurde und auch die Freude darüber verändert sich: Sie wird schwacher, bleibt aber noch lange in Form von einer positiven Stimmung, der Fröhlichkeit, erhalten. Aufgrund dieser terminologischen Gemeinsamkeiten und inhaltlichen Ähnlichkeit kann also mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Radulfus Ardens mit der Affektentstehungstheorie Senecas vertraut war und sie an dieser Stelle rezipiert.444 Er äußert sich im Speculum universale übrigens an keiner Stelle grundlegend zur Bedeutung des Begriffs ‚impetus‘, verwendet ihn aber immer wieder für die stürmische und kraftvolle Frühphase eines Affekts.445 – Analog zur Fröhlichkeit wird die Traurigkeit in Kapitel 156 als ein Kummer (‚anxietas‘) definiert, der im Geist über einen zeitlich zurückliegenden Zorn zurück-
441 Damit weicht er von seinen griechischen Vorgängern ab. Diese kennen nur die ersten beiden Phasen, nicht aber die dritte, in der sich der Affekt immer weiter steigert und schließlich gänzlich der Vernunft entzogen ist (vgl. FORSCHNER, Ethik 114–123). 442 SEN., Dial. III 2, 3 (p. 64): „Itaque et fortissimus plerumque uir dum armatur expalluit et signo pugnae dato ferocissimo militi paulum genua tremuerunt et magno imperatori antequam inter se acies arietarent cor exiluit et oratori eloquentissimo dum ad dicendum conponitur summa riguerunt.“ 443 SEN., Dial. III 2, 3 (p. 64): „Ergo prima illa agitatio animi quam species iniuriae incussit non magis ira est quam ipsa iniuriae species; ille sequens impetus, qui speciem iniuriae non tantum accepit sed adprobauit, ira est, concitatio animi ad ultionem uoluntate et iudicio pergentis.“ 444 Die Ethik Senecas war im 12. Jahrhundert gut bekannt und zwar sowohl durch seine eigenen Schriften als auch durch verschiedene Zusammenfassungen und Florilegien (wie etwa das schon erwähnte Florilegium morale oxoniense); vgl. dazu ausführlicher NOTHDURFT, Einfluss Senecas 11–20.28–34. 445 Bspw. in Spec. uniu. 8, 21 (CCM 241A, p. 196) in Zusammenhang mit der Frage, ob Christus wie der Mensch Affekte besaß: „In quo quamuis aut ictus incideret aut uulnus descenderet aut nodi concurrerent aut suspensio eleuaret, afferrent quidem hec impetum passionis, nec tamen dolorem inferrent passionis, ut telum aliquod aquam perforans uel ignem pungens uel aera uulnerans“ oder bei der Beschreigung der Grausamkeit (‚crudelitas‘), einer Art der Ungerechtigkeit, in Spec. uniu. 10, 61 (CCM 241A, p. 611): „Rursus crudelitas in tres species originaliter diuiditur. Nam crudelitas alia est impetuosa, alia consuetudinaria, alia est innata. Porro inpetuosa est que non est assidua, sed quandoque contingit ex impetu ire.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
bleibt. Auch hier verschwindet mit der Zeit der ‚impetus‘ des Zorns, bis nur noch eine schwache, aber dauerhafte negative Stimmung vorhanden ist, die ‚tristitia‘ genannt wird.446
2.5.2 Begriffliche Ausdifferenzierung: Die ‚species‘ von Fröhlichkeit und Traurigkeit – Die Fröhlichkeit teilt Radulfus Ardens in die gleichen ‚species‘ ein, wie die Freude und erwähnt diese Parallele auch explizit. Er nennt die gute (‚letitia bona‘), die wertlose (‚letitia uana‘), die indifferente (‚letitia indifferens‘) und die schlechte Fröhlichkeit (‚letitia mala‘).447 Obgleich er in Kapitel 156 keine weiteren Unterteilungen mehr nennt, ergibt sich aus der begrifflichen Ausdifferenzierung der Traurigkeit (‚tristitia‘) und dem Baumdiagramm am Ende des Traktats, dass er jeweils eine weitere Zweiteilung der guten und der schlechten Fröhlichkeit annimmt: Die ‚letitia naturalis‘ resultiert aus körperlichem Wohlbefinden und ist auf weltliche Güter bezogen. Sie ist nicht per se schlecht, wird aber durch Übertreibung lasterhaft. Die ‚letitia spiritualis‘448 ist auf geistige Güter bezogen und kann unter bestimmten Bedingungen ebenfalls lasterhaft werden. Diese Unterscheidungen werden später noch für das komplementäre Verhältnis der beiden Tugenden wichtig. Daraus ergibt sich folgendes Bild: letitia mala naturalis letitia mala letitia mala spiritualis letitia uana letitia letitia indifferens letitia bona naturalis letitia bona letitia bona spiritualis Abb. 38: Die Arten der Fröhlichkeit.
446 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Sicut ex oppositio tristitia et anxietas remanens in mente ex ira precedente, sicut enim ex ire procedentis impetu licet impetus ille resideat, tamen tristitia remanet in mente.“ 447 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Porro letitia alia est mala, alia est uana, alia indifferens, alia bona sicut et de gaudio diximus.“ 448 Die beiden Begriffe ‚letitia naturalis‘ und ‚letitia spiritualis‘ werden zwar von Radufus Ardens nicht erklärt, aber sie kommen im entsprechenden Baumdiagramm vor (P, fol. 107r); zudem findet sich die ‚letitia spiritualis‘ in der Überschrift von Kapitel 160 (vgl. P, fol. 105rb).
2.5 Das Komplementärtugendpaar ‚letitia‘ – ‚tristitia‘
309
Auffällig ist, dass er auf diese vier Arten inhaltlich nicht genauer eingeht, sondern direkt im Anschluss die äußeren Anzeichen der Freude bzw. der Fröhlichkeit bespricht, zu denen auch der Gesang gehört. Der Grund dafür ist wohl darin zu sehen, dass die ‚species‘ der Fröhlichkeit inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit denen der Freude sind, da die beiden Affekte so eng miteinander verbunden sind und daher keine Notwendigkeit bestand, sie eigens zu beschreiben. Insgesamt nennt er vier äußerliche Auswirkungen, nämlich Klatschen (‚plausus‘), Tanzen (‚ludus‘), Lachen (‚risus‘) und Gesang (‚cantus‘). Dabei handelt es sich aber weder um ‚species‘ noch um ‚filie‘, da diese Begriffe an sich noch keine moralische Wertung beinhalten. Vielmehr sind sie abhängig von der Fröhlichkeit, aus der sie entstehen, gut, schlecht, wertlos oder indifferent.449 Den Vorrang des Gesangs begründet Radulfus Ardens damit, dass alle drei übrigen Anzeichen der Fröhlichkeit in der Zeit nach Christus von der Sache her (‚ad rem‘) keinerlei Bedeutung mehr haben und eher zu vermeiden sind bzw. nur erlaubt sind, um vor übermäßiger Trauer zu schützen.450 Im Kontext des Neuen Testaments werden sie nur noch im übertragenen Sinne (‚ad figuram‘) gutgeheißen:451 Das Klatschen wird als gute Tat (‚bona operatio‘) umgedeutet, der Tanz zum Saitenspiel als Tötung des Fleisches (‚mortificatio carnis‘) und das Lachen als geistiger Jubel (‚exultatio spiritualis‘).452 Der Gesang ist hingegen sowohl von der Sache her als Lob mit der Stimme (‚laus uocalis‘) als auch im übertragenen Sinne als geistiges Lob (‚laus spiritualis‘) nützlich.453 Diese Gedankengänge lassen sich folgendermaßen veranschaulichen:
449 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Oritur autem ex gaudio et letitia plausus, ludus, risus, cantus, que talia sunt, qualia et ea de quibus oriuntur. Enimuero si bona est letitia, bonus est et plausus, bonus est etrisus, bonus ludus, bonus et cantus ex eis profectus. Et si mala est letitia, mala sunt similiter predicta.“ 450 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104va): „Ceterum ad hoc tantum hac in uita possunt habere locum, ut quando nos uel fratres nostri nimia mestitia pressi fuerimus, ad expulsionem meroris plausui, ludo et risui aliquantis indulgeamus.“ 451 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Ceterum aduertendum est quod in ueteri testamento hec commendabantur magis ad figuram quam ad rem, in Nouo uero cessat figura, res retinetur. Non enim nunc approbatur etiam in hominibus deuotis plausus manuum, ludus psallentium et citharizantium, risus gaudentium.“ 452 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104va): „[…] cessantem quippe plausum manuum retinemus in bona operatione, cessantem quoque ludum cithararum retinemus in carnis mortificatione, cessantem quoque risum retinemus in spirituali mentis exsultatione […].“ 453 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104va): „[…] manentem quoque cantum adhuc retinemus in spirituali et in uocali laude.“ und ebd. 11, 157 (P, fol. 104vb): „Cantum autem adhuc retinemus non solum in spirituali, sed etiam in uocali laude.“
310
gaudium
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
ad rem
ad figuram
plausus
bona operatio
ludus
mortificatio carnis
risus
exultatio spiritualis
cantus / laus uocalis
laus spiritualis
letitia
Abb. 39: Die Auswirkungen der Fröhlichkeit.
Die Kritik an Lachen, Tanz, Musik und Jubeln, wie sie hier von Radulfus Ardens zur Sprache gebracht wird, war im Mittelalter weit verbreitet und muss auch in diesem Kontext gesehen werden.454 Sie ist im Hinblick auf die Komplementarität von geringer Bedeutung. Dennoch sind zwei Punkte für das Verständnis des Traktates über Fröhlichkeit und Traurigkeit entscheidend: Zum einen ist die heilsgeschichtliche Sonderstellung des Gesangs die Begründung dafür, dass er überhaupt so ausführlich thematisiert wird; zum anderen lässt sich der Gesang auch tugendethisch interpretieren. Radulfus Ardens führt aus, dass Zusammenklang der Stimmen dazu motiviert, die eigenen Tugenden so auszubalancieren, dass sie in vollendeter Weise zusammenspielen (‚consonantia moralis‘) und nennt diesbezüglich drei verschiedene Harmonien: Den Zusammenklang von vier (‚diatessaron‘), fünf (‚diapente‘) und acht (‚diapason‘) Stimmen. Der erste steht dabei für die vier Kardinaltugenden, der zweite für die Verbindung dieser vier Tugenden mit dem Glauben bzw. für die Ausgeglichenheit der fünf Sinne und der dritte für die acht Seligpreisungen (‚beatitudines‘).455 An diesen Äußerungen werden gleich mehrere Charakteristika der Tugendkonzeption des Speculum universale sichtbar: die gegenseitige Durchdringung aller Tugenden, die herausgehobene Stellung der vier (diskretiven) Kardinaltugenden und des Glaubens, die Einbeziehung des Äußeren Menschen bzw. der Sinne in die Ethik und die ganzheitliche Perspektive auf den Menschen. – Die Traurigkeit wird in Kapitel 160 in drei ‚species‘ unterteilt: Es gibt die schlechte (‚tristitia mala‘), die wertlose (‚tristitia uana‘) und die gute Traurigkeit (‚tristitia
454 Vgl. dazu LE GOFF, Lachen 23 f. 455 Spec. uniu. 11, 157 (P, fol. 105ra): „Ad imitationem consonantie moralis mouemur per consonantiam, que resonat in canticis diuinis. Sicut quippe tres sunt consonantie in uocali modulatione uidelicet diatessaron quattuor uocum, diapente quinque e diapason octo, sic et in harmonia morali tres sunt consonantie scilicet diatessaron quattuor cardinalium uirtutum et diapente eorumdem quattuor cum fidei adiectione siue quique sensuum in harmonia morali bene consonantium et diapason octo beatitudinum.“
2.5 Das Komplementärtugendpaar ‚letitia‘ – ‚tristitia‘
311
bona‘).456 Die ‚tristitia mala‘ ist dadurch gekennzeichnet, dass jemand deshalb traurig ist, weil er böse Absichten nicht in die Tat umsetzen kann. Daher ist damit die lasterhafte Form der Traurigkeit gemeint.457 Die ‚tristitia uana‘ ist per se noch kein Laster und meint die Trauer über den Verlust von eigentlich unbedeutenden bzw. nicht heilsrelevanten Dingen, wie z. B. Geld. Steigert sie sich ins Übermaß, wird sie aber leicht zu einem Laster.458 Die ‚tristitia bona‘ teilt sich – ähnlich wie schon ‚gaudium‘ und ‚letitia‘ – wiederum in die Trauer über materielle (‚tristitia naturalis‘) und die geistige Dinge (‚tristitia spiritualis‘).459 Die natürliche Traurigkeit wird durch materiellen Schaden, körperliche Krankheit oder sonstige Bedrängnisse hervorgerufen. Diese Tugend ist also auf unser eigenes Wohlergehen bzw. das unserer Familie und Freunde ausgerichtet. Sie ist für ein gelingendes Leben unerlässlich, läuft aber ständig Gefahr, den Betroffenen durch die zahlreichen weltlichen Kümmernisse von den eigentlich wichtigen geistigen Gütern abzulenken und kann von daher auch lasterhaft werden.460 Ein geeignetes Gegenmittel ist die Fröhlichkeit über die Hilfe Gottes und seine Heilzusage an den Menschen.461 Diese Bestimmung ist bereits als Vorverweis auf das komplementäre Verhältnis der beiden Tugenden zu werten. Nachdem die natürliche Traurigkeit auf diese Weise skizziert wurde, beschäftigt sich Radulfus Ardens in Kapitel 161 genauer mit der geistigen Traurigkeit und unterteilt sie in drei weitere Unterarten: Die erste gehört zum Bereich der Buße (‚penitentialis‘), die zweite zum Bereich des Mitleids (‚compassionaria‘) und die dritte zum Bereich der Sehnsucht nach Gott (‚desideratoria‘).462 Dabei liegt auf der Hand, dass die ‚tristitia penitentialis‘ aus der Betrachtung der eigenen Sünden entsteht, die ‚tristitia compassionaria‘ aus den Üblen, die unsere Mitmenschen zu erdulden haben und die ‚tristitia desideratoria‘ aus der unerfüllten Sehnsucht, Gott zu schauen und ewige Erlösung zu 456 Spec. uniu. 11, 160 (P, fol. 105rb): „Letitie uero spirituali tristitia est uirtus collateralis. Sed sciendum, quoniam tristitia alia est uana, alia mala, alia bona.“ 457 Spec. uniu. 11, 160 (P, fol. 105rbf.): „Mala est tristitia, quando aliquis tristatur ideo, quia tristia non operatur, quando quis dolet ideo, quia dolenda non implet. Sane huiusmodi tristitia est reproborum in hac uita, sed et eis perpetuabitur et multiplicabitur in eterna.“ 458 Spec. uniu. 11, 160 (P, fol. 105va): „Vana uero tristitia est, quando de dampno temporalium rerum affligimur et contristamur uel quando de amissione denarii contristamur […]. Hec etiam tristitia si creuerit uel si perdurauerit, potest esse criminalis.“ 459 Spec. uniu. 11, 160 (P, fol. 105va): „Bona uero tristitia alia est naturalis, alia spiritualis.“ 460 Spec. uniu. 11, 160 (P, fol. 105va): „Naturalis tristitia est, quando in corporalibus infirmitatibus uel persecutionibus nostris uel amicorum nostrorum contristamur. Hec autem tristitia non est peccatum, nisi excesserit modum.“ 461 Spec. uniu. 11, 160 (P, fol. 105va): „Tristitia que nobis ex infirmitatibus et tribulationibus nostris uel amicorum nostrorum innascitur, quia non potest omnino diuelli, saltem debet temperari et certa spe diuine consolationis refoueri.“ 462 Spec. uniu. 11, 161 (P, fol. 105vb): „Spiritualis quoque tristitia alia est penitentialis, alia compassionaria, alia desideratoria.“
312
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
finden.463 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich im Baumdiagramm zu Fröhlichkeit und Traurigkeit von der ‚letitia spiritualis‘ drei Unterarten abspalten, die den eben dargestellten Aspekten der geistigen Traurigkeit entsprechen, nämlich die Fröhlichkeit über die eigenen (‚de suis bonis‘), fremden (‚de alienis bonis‘) und zukünftigen Güter (‚de futuris bonis‘).464 Aus dem Textbefund und den eben dargelegten Rekonstruktionen ergibt sich folgende Übersicht zu den ‚species‘ der Traurigkeit:
tristitia mala tristitia
tristitia uana
tristitia bona naturalis
tristitia penitentialis
tristitia bona
tristitia bona spiritualis
tristitia compassionaria tristitia desideratoria
Abb. 40: Die Arten der Traurigkeit.
Auch auf die äußeren Auswirkungen der Traurigkeit kommt Radulfus Ardens zu sprechen: Er nennt diesbezüglich den Schmerz des Herzens (‚dolor cordis‘), das Jammern (‚gemitus‘), das Weinen (‚fletus‘) und die Klage (‚planctus‘). Ihre sittliche Qualität hängt – ebenso wie bei den Auswirkungen der Fröhlichkeit – von der Art der Traurigkeit ab, aus der sie entstehen.465 Dass diese Auswirkungen wiederum mit den eben besprochenen ‚species‘ der ‚tristitia‘ und dem Gesang in Verbindung stehen, zeigt sich in der ersten Hälfte von Kapitel 162. Dort wird den drei Unterarten der geistigen Traurigkeit jeweils eine bestimmte Form des Trauerliedes zugeordnet.
2.5.3 Das komplementäre Verhältnis von ‚letitia‘ und ‚tristitia‘ im Detail In der zweiten Hälfte von Kapitel 162 beschreibt Radulfus Ardens das komplementäre Verhältnis der beiden Tugenden. Nachdem er bereits in Kapitel 160 vor der übermäßigen Trauer gewarnt hat, greift er diesen Gedanken am Ende des Traktats wieder auf: Wer nur noch trauert, gerät in Verzweiflung und lässt sich letztendlich gar nicht mehr aufmuntern. Damit verschließt sich der Betroffene automatisch der 463 Spec. uniu. 11, 161 (P, fol. 106ra): „Et fletus quidem de propriis peccatis penitentialis est, fletus uero de alienis compassionarius est; fletus uero de dilatione regni desideratorius.“ 464 Vgl. P, fol. 107r. 465 Spec. uniu. 11, 161 (P, fol. 105vb): „Nascuntur autem ex tristitia dolor cordis, gemitus, fletus et planctus. Hec autem talia sunt, qualis est tristitia, de qua procedunt; nam si tristitia ex qua procedunt est mala, et ista sunt mala; si tristitia ex qua procedunt est uana, et ista sunt uana; si bona, et ista sunt bona.“
2.5 Das Komplementärtugendpaar ‚letitia‘ – ‚tristitia‘
313
Heilszusage Gottes, beschädigt die Beziehung zu Gott nachhaltig und wird auf diese Weise auch von den Lastern überwunden.466 Da der eigentliche Zweck der Traurigkeit darin besteht, sich sukzessive von der Welt ab- und Gott zuzuwenden, ist eine solche Verhaltensweise kontraproduktiv und damit lasterhaft. Dies lässt sich nur durch ein ausgewogenes Verhältnis der beiden Komplementärtugenden ‚letitia‘ und ‚tristitia‘ vermeiden.467 Die gute Trauer verhindert dabei, dass sich die Fröhlichkeit in törichte Sorglosigkeit (‚stulta securitas‘) oder Vorwegnahme (‚presumptio‘) verwandelt, während die gute Fröhlichkeit die Traurigkeit davor bewahrt, sich in Verzweiflung (‚desperatio‘) zu verwandeln. Aus diesen Bestimmungen ergeben sich auch die ‚termini‘ der beiden Tugenden.468 Radulfus Ardens belässt es bei diesen knappen Sätzen. Daraus lässt sich folgendes Ergebnis erschließen:
‚letitia mala‘
‚letitia bona‘
↔
‚tristitia bona‘
‚desperatio‘
Damit ist letztlich der Kerngedanke des Traktats erfasst. Allerdings lohnt es sich darüber hinaus, einen Blick auf die Bezüge zwischen den einzelnen ‚species‘ zu werfen. Im Fall des fünften Komplementärtugendpaars liefern die Ausführungen des Radulfus Ardens nämlich Begrifflichkeiten, die eine komplementäre Struktur auf drei Ebenen ableiten lassen. Die erste Ebene bilden die ‚species‘, also die Aufteilung mithilfe der Adjektive ‚malus‘, ‚uanus‘, ‚indifferens‘ und ‚bonus‘. Als zweite Ebene kann die Trennung der beiden Bereiche ‚naturalis‘ und ‚spiritualis‘ gelten, während die dritte Ebene jeweils die geistige Freude und die geistige Traurigkeit weiter unterteilt. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass die Unterteilungen auf allen drei Ebenen systematisch gesehen passgenau aufeinander zugeschnitten sind, wie sich auch anhand der schematischen Darstellung zeigt:
466 Spec. uniu. 11, 162 (P, fol. 106rbf.): „Cauendum uero summopere est non tantum, ne aliquando male, nec uane, sed nec etiam aliquando bene nimis tristemur. Qui enim a tristitia uincitur, a ceteris quoque uitiis superatur. Homo quippe tristis nequit mouere mentis intuitum ad contemplandum Deum nec mundam aliquando mittit orationem, uincula pedum sunt impedimenta cursori et tristitia impedimentum est diuine uisioni.“ 467 Spec. uniu. 11, 162 (P, fol. 106va): „Itaque letitia et tristitia sunt uirtutes collaterales.“ 468 Spec. uniu. 11, 162 (P, fol. 106va): „Bona enim tristitia habita de peccatis nostris uel alienis siue de miseria presenti temperat letitiam nostram, ne scilicet decidat in stultam securitatem ac presumptionem. Letitia uero bona de bonis nobis collatis temperat tristitiam, ne excedat usque in desperationem. Termini uero, inter quos letitia et tristitia spirituales concluduntur, sunt inde presumptio, inde desperatio.“
314
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
letitia
↔
tristitia
letitia indifferens (c. 156) letitia uana (c. 156)
tristitia uana (c. 160)
tristitia bona (c. 160)
letitia bona (c. 156)
↔
letitia naturalis mala (?)
letitia naturalis bona (?)
↔
tristitia naturalis bona (c. 160)
tristitia naturalis mala (c. 160)
stulta securitas / presumptio (c. 162)
letitia spiritualis bona (c. 160)
↔
tristitia spiritualis bona (c.160)
desperatio (c. 162)
letitia de suis bonis (arbor)
↔
tristitia penitentialis (c. 161)
letitia de alienis bonis (arbor)
↔
tristitia compassionaria (c. 161)
letitia de futuris bonis (arbor)
↔
tristitia desideratoria (c. 161)
letitia mala (c. 156)
?
tristitia uana (c. 160)
Ebene 1
Ebene 2
?
Ebene 3
Abb. 41: Komplementäre Strukturen im Bereich Fröhlichkeit und Traurigkeit.
Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Erstens liegt hier der bisher einzige Fall eines Tugendpaares vor, in dem Radulfus Ardens eine Komplementarität auf drei Ebenen konzipiert hat. Man könnte auch sagen, dass die Terminologie der Kapitel 156–162 konsequenter als in den meisten anderen Fällen auf die komplementäre Grundstruktur bezogen ist. Zweitens wird hier gut sichtbar, dass die Äußerungen zum komplementären Verhältnis der beiden Tugenden in Kapitel 162 eigentlich nur auf die zweite Ebene bezogen sind bzw. streng genommen nur den Bereich der geistigen Güter – also das Verhältnis von ‚letitia spiritualis‘ und ‚tristitia spiritualis‘ – beschreiben. Dies gilt übrigens auch für fast alle vergleichbaren Passagen zu den anderen Komplementärtugendpaaren, wodurch erneut der Interessensschwerpunkt des Radulfus Ardens im Bereich des Geistigen deutlich zutage tritt. Trotz der Vielzahl der Begriffe und der Tatsache, dass sie relativ genau aufeinander abgestimmt sind, bleiben einige Stellen unklar. Die guten und schlechten Unterarten der natürlichen und materiellen Fröhlichkeit werden im Text nicht explizit erwähnt. Allerdings lassen sie sich aus der Aufteilung der Freude erschließen, auf die Radulfus Ardens mehrmals Bezug nimmt. Zu den negativen Übertreibungen der je drei Unterarten im Bereich der geistigen Güter äußert er sich ebenfalls nicht. Diese ließen sich jedoch ohne größere Schwierigkeiten aus der ‚stulta securitas‘ bzw. der ‚presumptio‘ und der ‚desperatio‘ herleiten. Abschließend lässt sich festhalten, dass Radulfus Ardens großen Aufwand betrieben hat, um die konkret im Alltag sichtbaren Auswirkungen von Fröhlichkeit und
2.6 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘
315
Traurigkeit zu beschreiben. Deutlich wurde in jedem Fall, dass der ganze Traktat von komplementären Gedankengängen durchzogen ist und in welcher Weise Radulfus Ardens die von ihm entwickelte Terminologie nutzt, um dieses Grundelement seiner Tugendethik abzubilden.
2.6 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘ Der Abschnitt über Heiterkeit und Scham umfasst lediglich zwei Kapitel: In Kapitel 163 beschäftigt sich Radulfus Ardens hauptsächlich mit der ‚serenatio‘, im deutlich längeren Kapitel 164 mit dem ‚pudor‘. Trotz seiner Kürze ist der Passus in sich geschlossen und enthält alle charakteristischen Methodenschritte eines Komplementärtugendtraktats: Auf engem Raum werden ‚serenatio‘ und ‚pudor‘ allgemein definiert, in ‚species‘ unterteilt und einander komplementär zugeordnet. Zudem wirft der Traktat gleich an mehreren Stellen Fragen auf. Die erste dieser Auffälligkeiten wurde bereits erwähnt: Die beiden Affekte Heiterkeit und Scham fehlen bei der Aufzählung der ‚sequela‘ von Liebe und Hass in Buch 1.469 Da sich Radulfus Ardens in der Aufgliederung von Buch 11 ansonsten sehr genau an die im ersten Buch dargebotene Abfolge hält, ist zu fragen, warum Heiterkeit und Scham als sechstes Komplementärtugendpaar genau an dieser Stelle eingeschoben wurden.470 Da diesbezüglich weder Erklärungen noch anderweitige Hinweise auffindbar sind, können nur Spekulationen anhand des Textbefundes angestellt werden. Da hierzu jedoch ein tieferes Verständnis der beiden Emotionen notwendig ist, wird die Problematik erst später wieder thematisiert. Unabhängig davon fällt bei der Lektüre eine inhaltliche Besonderheit auf: Radulfus Ardens behandelt Heiterkeit und Scham in einem engen Zusammenhang mit dem Gewissen (‚conscientia‘). Der Begriff kommt in den beiden Kapiteln 163 und 164 dabei insgesamt neunmal vor. Dieser Befund verdient deshalb eine eigene Erwähnung, weil es sich dabei – zumindest quantitativ – um die größte Konzentration des Wortes ‚conscientia‘ innerhalb eines zusammenhängenden Abschnittes im gesamten Speculum universale handelt. Um zu verstehen, welche Emotionen mit den Begriffen ‚serenatio‘ und ‚pudor‘ genau gemeint sind, müssen im Vorfeld also zwei
469 Auf diesen Umstand wurde bereits unter Punkt 1.2.2.1 hingewiesen. 470 Diese Frage wurde in der Forschung bisher noch nicht formuliert und dementsprechend gibt es auch keine Lösungsansätze hinzu. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Johannes Gründel ‚serenatio‘ und ‚pudor‘ ohne weitere Kommentare unter der Nummer VI. in seine Übersicht der amativen bzw. oditiven Komplementärtugendpaare aufnimmt (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 276). In einigen Veröffentlichung beschreibt Stephan Ernst sie dagegen gemeinsam mit der ‚letitia‘ (ERNST, Estote prudentes 565; DERS., Klug wie die Schlangen 52; DERS., Passiones animae 160) und geht demnach offenbar von einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Tugenden aus. In seiner jüngsten Veröffentlichung dazu bespricht er sie jedoch getrennt voneinander (vgl. ERNST, Einleitung 1 36).
316
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Fragen beantwortet werden. Erstens: Welchen systematischen Bezug haben die beiden Affekte zum Gewissen? Und zweitens: Was lässt sich allgemein zum Gewissen bei Radulfus Ardens sagen? Um darüber Klarheit zu erlangen, werden zunächst die allgemeinen Definitionen der beiden Affekte in den Blick genommen. Im Anschluss daran werden sie mit den wichtigsten Aussagen zum Gewissen im übrigen Werk in Beziehung gesetzt. Dazu ist ein kurzer Exkurs zum Begriff des Gewissens und seiner Bedeutung im Speculum universale unerlässlich.
2.6.1 Die beiden Affekte Heiterkeit und Scham und ihr Zusammenhang mit dem Gewissen – Radulfus Ardens beginnt seine Überlegungen zur Heiterkeit mit dem Hinweis, dass sie aus der Fröhlichkeit entsteht.471 In welchem Punkt sie sich systematisch von ihr unterscheidet, wird anhand der allgemeinen Definition der Heiterkeit deutlich: Est autem serenatio claredo conscientie sicut a mente sic et a facie nubilum fugans.472
Demnach wird mit dem Begriff ‚serenatio‘ eine positive Emotion beschrieben, die sich bei der Reflexion des Gewissens über das eigene Verhalten einstellt. Daran wird zum einen deutlich, dass die Heiterkeit in zeitlicher Distanz zur Fröhlichkeit entsteht, zum anderen lässt sich daraus ableiten, dass das Gewissen offensichtlich in enger Verbindung mit den emotionalen Vorgängen in der menschlichen Seele steht. Die Heiterkeit wird hier als ‚claredo‘ bezeichnet, wobei eine Übersetzung dieses Ausdrucks nicht ganz einfach ist. Radulfus Ardens spielt damit zunächst allegorisch auf die Reinheit des Gewissens an, bezieht den Begriff aber im Folgenden auch auf die äußerlich sichtbaren Auswirkungen des Affektes. So zeigt sich die Heiterkeit, die aus dem guten Gewissen entsteht, an einem hellen bzw. ‚strahlenden‘ Gesichtsausdruck, das schlechte Gewissen hingegen lässt sich an düsteren bzw. ‚bewölkten‘ Gesichtszügen ablesen.473 Das gute Gewissen wird also mit Helligkeit bzw. der Farbe Weiß assoziiert, während das schlechte Gewissen als dunkle Befleckung bzw. Beschmutzung beschrieben wird. Diese anschaulich-bildhafte Sprache zieht sich durch den ganzen Traktat.
471 Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Serenatio de letitia nascitur.“ 472 Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra). 473 Radulfus Ardens bezeichnet das Gesicht allgemein als Spiegelbild der Seele (vgl. Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Enimuero speculum mentis est facies et qualis conscientia, talis facies.“) und erwähnt später die spezifischen Erkennungszeichen der Affekte Scham, Furcht, Zorn, Traurigkeit und Freude bzw. Fröhlichkeit im Gesichtsausdruch des Menschen (vgl. ebd. 11, 164 (P, fol. 107va): „Efficit quippe pudor hominem erubescentem sicut timor exanguem, ira ignescentem, tristitia nubilosum, gaudium et letitia serenum“).
2.6 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘
317
– In Kapitel 164 fehlt der Hinweis, dass die Scham aus der Traurigkeit entsteht. Allerdings lässt sich aus der Parallelisierung (‚opponitur‘) von ‚serenatio‘ und ‚pudor‘ schließen, dass hier ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis zum vorhergehenden Affekt besteht.474 Auch in der allgemeinen Definition der Scham spielt das Gewissen eine zentrale Rolle: Est autem pudor passio conscientie per inhonestatem lese nos nobismet displicere faciens et exterius se per ruborem faciei naturaliter prodens.475
Dabei stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Begriffs ‚passio‘, der hier mit ‚Leiden‘ übersetzt wurde. Das Wort ‚passio‘ bezeichnet nämlich zunächst einen Schmerz oder ein Leiden im Allgemeinen, wird aber insbesondere für die negativ vorgeprägte Vorstellung des Affekts und seiner schädlichen Auswirkungen im Sinne von ‚passio anime‘ verwendet. Diese zweite Bedeutung ist auch die an dieser Stelle einschlägige. Allerdings ist dabei zu erwähnen, dass Radulfus Ardens den Begriff ‚passio‘ sehr selten476 und den Terminus ‚passiones anime‘ sogar nur ein einziges Mal, und zwar im ersten Buch in Kapitel 45, verwendet. Dort führt er mehrere unterschiedliche Begriffe an, um das Wesen von Liebe und Hass zu beschreiben und führt dabei auch das Wort ‚passio‘ an, das dort eindeutig im Sinne von Leidenschaft bzw. Leiden verstanden wird. Dort begründet er auch, warum dieser Begriff nicht als wertneutrale Bezeichnung für menschliche Emotionen geeignet ist: Er meint nur die negativen bzw. oditiven (‚ille displicent‘) und nicht die positiven bzw. amativen Gefühle (‚hec placent‘).477 Ein unmittelbarer Zusammenhang der beiden Stellen ergibt sich dadurch, dass Radulfus Ardens auch hier das Verb ‚displicere‘ verwendet, um die Auswirkung der Scham zu beschreiben. Die Scham ist also das negative Gefühl, das aus der Reflexion des eigenen Tuns entsteht und dazu führt, dass man mit sich selbst unzufrieden ist. Sie zeigt sich äußerlich am Erröten des Gesichts. Erneut tritt klar zutage, dass das Gewissen unmittelbare Auswirkungen auf die emotionale Befindlichkeit des Menschen hat. Dieser Befund macht die ‚conscientia‘ für die vorliegende Untersuchung interessant, sodass sich ein Blick darauf lohnt, in welcher Weise sich Radulfus Ardens in seinem Werk dazu äußert.
474 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107rb): „Opponitur autem serenationi pudor.“ 475 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107rb). 476 Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs ‚passio‘ im Speculum universale vgl. ERNST, Passiones animae 143 f., n. 36. 477 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 53): „Porro has uidelicet cupiditatem et odium cum sequelis suis nuncupauerunt philosophi naturales passiones siue affectiones siue perturbationes anime –: passiones, quoniam reuera genere passiones anime sunt et utreque animam affligunt, sed hec minus, quoniam placent, ille uero magis, quoniam displicent […]“; vgl. dazu auch ERNST, Passiones animae 143 f. sowie Punkt 2.1 im ersten Teil der vorliegenden Arbeit..
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
2.6.2 Exkurs: Der Begriff ‚conscientia‘ im Speculum universale 2.6.2.1 Sammlung relevanter Aussagen zum Gewissen Im gesamten Speculum universale findet sich kein zusammenhängender Abschnitt oder ein eigenes Kapitel über das Gewissen. Allein daraus lässt sich schließen, dass die ‚conscientia‘ nur eine untergeordnete Bedeutung für die tugendethische Konzeption des Werkes hat. Allerdings stößt man immer wieder auf einzelne Aussagen, die nicht nur deutlich machen, welche Vorstellungen Radulfus Ardens vom Gewissen hat, sondern auch einige Rückschlüsse auf seine Verbindung mit den Affekten und speziell der Scham zulassen. Er erwähnt das Gewissen erstmals in Buch 1. Dort bezeichnet er die Tugend in Kapitel 31 als wertvollstes Geschenk Gottes, das Laster hingegen in Kapitel 33 als das größte Übel und stellt im Zuge dessen jeweils einen Konnex zum Gewissen her: Nichts erfreut den Menschen mehr als die Ruhe (‚securitas‘) eines durch den Besitz von Tugenden reinen Gewissens;478 ein schlechtes und durch lasterhafte Taten belastetes Gewissen wird hingegen als schlimmste Qual bezeichnet.479 Die ‚conscientia mala‘ gehört dabei zum ‚inneren Gerichtshof‘ des Menschen, der insgesamt aus vier Instanzen besteht: Erstens tritt das Gewissen als Ankläger auf, indem es sich selbst anklagt; zweitens als Zeuge, da es die eigenen Verfehlungen in Erinnerung ruft (‚memoria‘) und gegen sich selbst aussagt; drittens als Richter, da es mithilfe der Vernunft (‚ratio‘) zu einem Urteil kommt und sich selbst verurteilt; viertens als Strafvollzug, indem es Furcht (‚timor‘) hervorruft.480 Diese Aussagen betonen den Zusammenhang zwischen Emotionalität und Gewissen und decken sich somit zunächst mit den Anklängen aus den Kapiteln 163 und 164 in Buch 11. Allerdings birgt gerade die Beschreibung des inneren Gerichtshofes Unklarheiten: Erstens ist das Gewissen im Gegensatz zu den drei übrigen dort genannten Begriffen nicht in der Seelenlehre verankert: ‚Ratio‘ und ‚memoria‘ gehören nämlich zum Bereich der vernünftigen Seelenkraft,481 während der ‚timor‘ bekanntermaßen unter das Gefolge des Hasses gerechnet wird und damit zur hassenden Seelenkraft gehört. Das Gewissen wird dagegen im weiteren Verlauf des Buches nicht mehr erwähnt. Von daher hängt der Begriff systematisch in der Luft, zumal sich nirgends eine Definition der ‚conscientia‘ findet. Zweitens bleibt unklar, wie die
478 Spec. uniu. 1, 30 (CCM 241, p. 39): „Nichil delectabilius uirtute, quoniam nichil plus hominem delectat quam securitas conscientie munde.“ 479 Spec. uniu. 1, 33 (CCM 241, p. 41): „Nichil cruciabilius uitio, quoniam reus et antequam ueniat ad cruciatus eternos, etiam in ipsa sua uoluptate uermis ree conscientie illum cruciat et corrodit.“ 480 Spec. uniu. 1, 33 (CCM 241, p. 41 f.): „Vera nimirum philosophi est sententia dicentis: Saluatur sese iudice nemo nocens. – In seipso quippe gerit et conscientiam sui ipsius accusatricem et memoriam contra se testificantem et rationem semet iudicantem et dampnantem et timorem semetipsum punientem.“ 481 Spec. uniu. 1, 43 (CCM 241, p. 49): „Rationem autem comitantur intellectus et memoria.“
2.6 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘
319
vier genannten Instanzen zusammenwirken bzw. ob Vernunft oder Gefühl den Ausgangspunkt des Gewissens bilden und drittens widerspricht die Bestimmung Furcht als Resultat des schlechten Gewissens der Tatsache, dass in Buch 11 der Scham diese Funktion zugewiesen wird. Neben einem Verweis auf den Zusammenhang von Gewissen und Scham in Buch 2482 und zwei Erwähnungen in den Büchern 3 und 4, die in erster Linie die Verbindung zwischen dem Gewissen und den Affekten bestätigen,483 finden sich erst in Buch 8 wieder weiterführende Informationen. Hier sind v. a. zwei Stellen wichtig, in denen das Bild vom ‚inneren Gerichtshof‘ wieder aufgegriffen wird. So erwähnt Radulfus Ardens in Kapitel 77 über die Zerknirschung des Herzens (‚contritio cordis‘) nochmals die Funktion des Gewissens als Ankläger, nennt die drei übrigen bekannten Instanzen und fügt anschließend noch eine fünfte Instanz, nämlich die Tränen und das Seufzen (‚lacrime et suspiria‘) in der Rolle des Verteidigers, hinzu.484 Wieder repräsentieren die Affekte den Strafvollzug, allerdings werden hier neben Scham (‚pudor‘) und Furcht (‚timor‘) auch noch Schmerz (‚dolor‘), Schluchzen (‚singultus‘) und Klagen (‚planctus‘) genannt. Mit diesen drei Hinzufügungen sind keine bestimmten Affekte, sondern eher äußere Auswirkungen von Emotionen gemeint. Ein zweites Mal beschäftigt er sich in Zusammenhang mit der der Frage nach den Höllenstrafen in Kapitel 112 mit dem Thema. Dabei ist besonders interessant, dass die einzelnen Strafen an der Anthropologie ausgerichtet sind: So klagt das Gewissen an, Erinnern und Einsicht legen Zeugnis ab und die Vernunft verurteilt. Erneut wird den Affekten die Aufgabe zugewiesen, den Sünder zu betrafen.485 Radulfus Ardens präzisiert diese Aussage dadurch, dass ausschließlich die quälenden Affekte (‚affectiones
482 Spec. uniu. 2, 43 (CCM 241, p. 143): „Turpitudinem namque uitiorum semper pudor et mala conscientia comitantur […]. Econtra uero honestatem uirtutum honor et securitas bone conscientie semper comitantur.“ 483 So werden in den Büchern 3 und 4 die Affekte einerseits als Feinde, andererseits aber auch als Freunde des Menschen beschrieben und mit dem Gewissen in Verbindung gesetzt. Vgl. dazu Spec. uniu. 3, 6 (CCM 241, p. 154): „Modestus directusque est affectus uoluptatis, si desideria carnis ad mensuram necessitatis restringentes munde coram conscientie desideramus uoluptatem.“ und ebd. 4, 5 (CCM 241, p. 238): „Appetit quippe naturaliter spiritus […] et uoluptatem in iocunditate munde conscientie siue beatitudinis sempiterne.“ 484 Spec. uniu. 8, 77 (CCM 241A, p. 274): „Conscientia quippe reum accusat, memoria contra eum testimonium pronuntiat, ratio eum iudicat et dampnat, pudor, timor, dolor, singultus et planctus eum torquent, lacrime et suspiria pro eo intercedunt.“ 485 Spec. uniu. 8, 112 (CCM 241A, p. 334 f.): „Conscientia quippe hominem accusabit, memoria et intellectus testificabunt, ratio iudicabit, ut ita unusquisque proprio iudicio pereat, non alium quemquam, nisi se de dampnatione propria accusare queat. Affectiones uero uexantes erunt eius tortores: odium etiam sui ipsius sine euitatione, timor sine spe, ira et perturbatio sine tranquillitate, tristitia sine consolatione, erubescentia sine tegumine, penitentia sine utilitate, cupiditas et inuidia sine consecutione. Affectiones uero mulcentes, id est dilectio, spes, gaudium, letitia, claritas, glorificatio in eis locum non habent. Econtra in electis erunt affectiones demulcentes, non uexantes.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
uexantes‘) Hass (‚odium‘), Furcht (‚timor‘), Zorn (‚ira‘), Traurigkeit (‚tristitia‘), Scham (‚erubescentia‘), Reue bzw. Buße (‚penitentia‘), Begehren (‚cupiditas‘) und Neid (‚inuidia‘) für die Bestrafung der Sünder zuständig sind, während ihnen die tröstenden Affekte (‚affectiones mulcentes‘) Liebe (‚dilectio‘), Hoffnung (‚spes‘), Freude (‚gaudium‘), Fröhlichkeit (‚letitia‘), Klarheit (‚claritas‘) und Rühmen (‚glorificatio‘) gänzlich vorenthalten bleiben. Diese Aussagen erfordern eine genauere Betrachtung. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass hier die bereits in Zusammenhang mit dem ‚desiderium‘ erwähnte Relevanz der Komplementarität für die eschatologischen Vorstellungen des Radulfus Ardens deutlich zutage tritt.486 Offensichtlich handelt es sich bei dieser Aufzählung um eine leicht veränderte Version der ‚sequela‘ von Liebe und Hass. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass die beiden Affekte des sechsten Komplementärtugendpaars, die in Buch 1 fehlen, hier aufgeführt sind. Allerdings verwendet Radulfus Ardens an dieser Stelle dafür andere Begriffe: Die Scham bezeichnet er als ‚erubescentia‘ und die Heiterkeit als ‚claritas‘. Beide Begriffe greift er später in Buch 11 wieder auf.487 Daneben sind noch zwei weitere Abweichungen festzustellen: Das Sich-Rühmen wird hier ‚glorificatio‘ genannt und bei den quälenden Affekten sind ‚cupiditas‘ und ‚inuidia‘ aufgeführt, die weder in Buch 1 noch in Buch 11 zur Gefolgschaft von Liebe und Hass gerechnet werden.488 Generell legt der Abgleich der Aussagen zu den Affekten in den Büchern 1, 8 und 11 die Vermutung nahe, dass die Radulfus Ardens die endgültige Zusammenstellung der Affekte, die er als amative und oditive Tugenden behandeln wollte, nicht von Anfang an festgelegt hatte, sondern sich diese im Verlauf seiner Abfassung mehrfach änderte. Schließlich wurde bspw. auch das letzte Komplementärtugendpaar ‚mansuetudo‘ – ‚seueritas‘ nicht in Buch 1 genannt. Denn obwohl diese beiden Tugenden weder der amativen noch der oditiven Seelenkraft zuzurechnen sind, sondern aus beiden gemeinsam entstehen, wären eine Erwähnung in Zusammenhang mit dem Gefolge von ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘ zu erwarten gewesen.
486 So werden bei den Erlösten die amativen Tugenden vollendet und damit das liebende Verlangen des Menschen in vollkommener Weise gesättigt. Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass die komplementäre Spannung aufgehoben wird. Bei den Verurteilten hingegen verbinden sich die oditiven (also entgegengesetzten) Laster ohne komplementäres Gegengewicht mit einem Verlangen ohne die Möglichkeit der Sättigung. Vgl. dazu Punkt 2.1.2.7 des vorliegenden Teils der Arbeit. 487 Die ‚claritas‘ in leichter Abwandlung in Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Est autem serenatio claredo conscientie sicut a mente sic et a facie nubilum fugans“ und die ‚erubescentia‘ in ebd. 11, 164 (P, fol. 107rbf.): „[…] naturale est propter pudorem erubescere. Vnde et pudor erubescentia nuncupatur.“ 488 Die ‚inuidia‘ ist – wie bereits besprochen – kein eigenständiger Affekt, sondern stellt das entgegengesetzte Laster der ‚compassio‘ dar. Die ‚cupiditas‘ wird in Buch 12 in Zusammenhang mit den kontemptiven Tugenden und Lastern dargestellt.
2.6 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘
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2.6.2.2 Versuch einer Zusammenfassung zur Bedeutung des Begriffs Die besprochenen Textstellen aus Buch 1 und Buch 8 bilden letztlich das Kondensat dessen, was der Begriff ‚conscientia‘ im Speculum universale meint. In den späteren Büchern finden sich nur noch kleinere Details, die das bisher entstandene Bild weiter ausschmücken. So wird das gute Gewissen in Buch 9 als Grundlage dafür angesehen, dass man überhaupt fähig dazu ist, sich Gott zuzuwenden und sich an ihm zu erfreuen, während ein schlechte Gewissen dies unmöglich macht.489 In Buch 10 ist die Aufrichtigkeit bzw. Reinheit des Gewissens eine wichtiger Bestandteil der beiden Tugenden Verstandesgerechtigkeit (‚iustitia mentalis‘)490 und Beständigkeit (‚constantia‘).491 Dieser Befund lässt darauf schließen, dass das Gewissen nicht ausschließlich mit den affektiven Seelenkräften zusammenhängt, sondern auch Auswirkungen im Bereich des Rationalen hat. In Buch 12 wird das gute Gewissen in Kapitel 116 als höchste Lust im Gegensatz zur negativ gewerteten Lust des Fleisches beschrieben,492 während es in den Büchern 13 und 14 keine Rolle mehr spielt. Beim Versuch, ein Resümee aus diesen inhaltlichen Bruchstücken zu ziehen, lässt sich zunächst sagen, dass Radulfus Ardens seinen Gewissenbegriff offensichtlich kaum systematisch reflektiert hat, sondern eher einem intuitiv-anschaulichen Verständnis folgt. Damit liegt er ganz auf der Linie seiner Zeit. Während im 13. Jahrhundert ein reges Interesse am Gewissen besteht, das schließlich etwa in die ausgefeilte Konzeption des Thomas von Aquin mündet, spielt die ‚conscientia‘ im 12. Jahrhundert kaum eine Rolle und es wird meist nur aus der Kirchenväterzeit tradiertes bzw. allgemein bekanntes Material wiedergegeben.493 Obwohl sich also kein einheitliches Bild ergibt, lassen sich dennoch vier Grundaussagen zum Gewissen im Speculum universale erkennen: (1) Die ‚conscientia‘ stellt eine nicht näher beschriebene Instanz im Menschen dar, die ihn anklagt, wenn er Böses tut und sich lasterhaft verhält. Sie gehört dabei zum ‚inneren Gerichtshof‘ des Menschen, wird aber nirgends konkret definiert. (2) Die ‚conscientia mala‘ wird durchgehend als Verschmutzung einer ursprünglichen Reinheit beschrieben und quält den Betroffenen mit Gewissensbissen, die
489 Spec. uniu. 9, 23 (CCM 241A, p. 392): „Delectari in contemplatione Dei non omnes homines possunt. Qui enim eum iudicem timentes uel reatu conscientie torquentur uel dolore penitentie cruciantur uel qui contra uitia motusque prauos suos adhuc rixantur, nondum habent delectari in Dei contemplatione, sed tantum homines quiete mundeque conscientie et qui ab obstaculo tam mundane quam carnalis habitationis semet exerunt, ad celum quantum possunt.“ 490 Spec. uniu. 10, 34 (CCM 241A, p. 563 f.): „Porro mentalis iustitia in tribus constitit: In munditia uite, in rectitudine conscientie, in finis directione. […] In rectitudine conscientie, ut secundum quod melius intelligit iudicet et contra conscientiam suam non ambulet […].“ 491 Spec. uniu. 10, 86 (CCM 241A, p. 682): „Nascitur autem et constantia sicut et mater eius fortitudo ex firmo fundamento fidei et prudentie et ex bona mentis constitutione et ex bona conscientia.“ 492 Spec. uniu. 12, 118 (P, fol. 143ra): „Melior uero maiorque uoluptas habetur in puritate conscientie.“ 493 Vgl. REINER, Gewissen 581 f.
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
auf der Grundlage des Textbefundes als ein emotionales Leiden zu verstehen sind. Dabei spielen die beiden Affekte Furcht und Scham eine zentrale Rolle. (3) Die ‚bona conscientia‘ wird mit verschiedenen Begriffen wie Helligkeit, Strahlkraft oder Reinheit beschrieben. Sie ist mit einer großen Lustempfindung verbunden, die nicht nur erlaubt ist, sondern auch alle anderen Formen der Lust an Intensität übertrifft. Erst auf dieser Grundlage ist es dem Menschen möglich, sich Gott zuzuwenden. (4) Im Eschaton wird das reine Gewissen mit einem vollkommenen Zustand des Glücks verbunden, der konkret aus der Gesamtheit der amativen Affekte mit Ausnahme des Begehrens und des Neides besteht. Das schlechte Gewissen hingegen führt die ganze Bandbreite der oditiven Affekte in Verbindung mit Begehren und Neid ohne Aussicht auf Sättigung herbei. 2.6.2.3 Der Ertrag für das Verständnis der Affekte ‚serenatio‘ und ‚pudor‘ und ihre Stellung in Buch 11 Was lässt sich aus dem Exkurs über das Gewissen für das Verständnis der beiden Affekte Heiterkeit und Scham gewinnen? Zunächst ist festzuhalten, dass die eschatologischen Aussagen keine besondere Verknüpfung der beiden Emotionen des sechsten Komplementärtugendpaares mit dem Gewissen erkennen lassen. Dort geht es um die Gesamtheit der affektiven Seelenkräfte. Die Äußerungen zum diesseitigen Zustand lassen jedoch andere Schwerpunkte erkennen, die sich im Bereich des schlechten Gewissens zuerst nur auf die Furcht und dann auf die Verbindung von Furcht und Scham konzentrieren, wobei die Hinzufügungen im 77. Kapitel von Buch 8 scheinbar auch Traurigkeit und Reue bzw. Buße miteinschließen. Dennoch bilden Heiterkeit und Scham in Buch 11 zweifelsohne einen spezifischen Anknüpfungspunkt für das Gewissen. Aus diesem Befund lässt sich folgende These formulieren: Die beiden komplementären Affekte ‚pudor‘ und ‚serenatio‘ in Buch 11 stehen am Ende eines gedanklichen Prozesses, in dem sich Radulfus Ardens während der Arbeit am Speculum universale immer wieder Gedanken darüber gemacht hat, welche Affekte die Auswirkungen eines guten bzw. eines schlechten Gewissens sind. Dieser Entwicklungsprozess könnte in etwa so nachgezeichnet werden: In Buch 1 führt er nur die Furcht als Auswirkung des schlechten Gewissens an, an die Scham dachte er dort noch nicht. Daher fehlt sie auch bei der Aufzählung der Gefolgschaft des Hasses. Sie wird zunächst in Buch 2 erwähnt und im 77. Kapitel von Buch 8 als ‚erubescentia‘ erstmals explizit als Auswirkung des schlechten Gewissens beschrieben. Das amative Gegenstück bzw. die Auswirkung des guten Gewissens fehlt bis dahin noch völlig; sie erscheint zum ersten Mal in Form der ‚claritas‘ in Kapitel 112 von Buch 8. Damit ist die Grundlage für das Komplementärtugendpaar Heiterkeit und Scham in derjenigen Form geschaffen, wie es schließlich in Buch 11 behandelt wird. Diese Annahme kann aufgrund der wenigen auswertbaren Stellen nicht sicher bewiesen
2.6 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘
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werden; sie wird aber zumindest dadurch gestützt, dass im Traktat über das siebte Komplementärtugendpaar darauf hingewiesen wird, dass das Sich-Rühmen (‚gloriatio‘) nur auf der Grundlage eines guten Gewissens zulässig ist.494 Damit wird deutlich, dass die ‚gloriatio‘ zeitlich nach der ‚serenatio‘ anzusetzen ist und die Heiterkeit durch ein gutes Gewissen ein wichtiger Bestandteil dieser Tugend ist. Falls diese Überlegungen zutreffen, würden sie die bereits geäußerten Vermutungen bestätigen, dass das Werk unvollendet ist und Radulfus Ardens keine Gelegenheit mehr hatte, das Speculum universale abschließend zu überarbeiten und Widersprüche zu glätten bzw. Fehler zu korrigieren. Ansonsten wäre kaum erklärbar, dass Buch 11 zwei Affekte behandelt werden, die in Buch 1 an entsprechender Stelle fehlen. Darüber hinaus wäre dieser Befund ein Indiz dafür, dass die Bücher letztlich wohl doch nacheinander abgefasst wurden. Diese Spekulationen können jedoch nicht als abschließende Antwort auf die Frage nach der Abfassungsgeschichte des Werkes gelten.
2.6.3 Die ‚species‘ von Heiterkeit und Scham und ihr komplementäres Verhältnis zueinander In den vorhergehenden Kapiteln wurde herausgearbeitet, dass es sich bei der ‚serenatio‘ um die gute und beim ‚pudor‘ um die schlechte Emotion handelt, die aus der Reflexion des eigenen Handelns unter dem Einfluss des Gewissens entsteht. Beide Affekte unterteilt Radulfus Ardens mithilfe der Adjektive ‚malus‘, ‚uanus‘ und ‚bonus‘ in drei Arten, um sie ethisch zu bewerten. Die ‚serenatio mala‘ und die ‚serenatio uana‘ behandelt der Autor gemeinsam und man kann aus seinen Ausführungen keine inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Begriffen entnehmen. Zunächst verweist er darauf, dass sie ihren Ursprung in der schlechten bzw. wertlosen Fröhlichkeit haben und bezeichnet sie als unechte Heiterkeit (‚serenatio non uera‘). Damit ist eine oberflächlich gute Laune gemeint, die nicht aus einem reinen Gewissen, sondern aus der Verdrängung der eigenen Fehler entsteht. Ein solcher Mensch hat zwar äußerlich ein heiteres Gemüt, müsste aber eigentlich trauern. Diese Form der Heiterkeit ist also Selbstbetrug und
494 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rbf.): „Et simpliciter quidem de bono nostro gloriamur, si non ex comparatione aliene uel malitie uel minoris gratie uel exauditu laudis uel opinionis uane gloriamur, sed tantum in bono conscientie nostre. Sicut enim impiis magna pena est conscientia, sic piis eadem est magna letitia qua letantur in cubilibus suis, id est in cordibus suis et hoc est quod ait: Et sic gloriam habebit in seipso id est in propria conscientia et non in alio.“ Dass hier der Begriff ‚letitia‘ und nicht ‚serenatio‘ verwendet wird, um die Freude über das gute Gewissen zu beschreiben, ist wohl darauf zurückzuführen, dass es sich hier um eine eher allgemeine Aussage handelt – schließlich wird die Folge des schlechten Gewissens auch allgemein als Strafe (‚pena‘) bezeichnet.
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
wird daher auch klar als Laster gewertet.495 Die wahre Heiterkeit (‚serenatio uera‘), die mit der ‚serenatio bona‘ gleichzusetzen ist, entsteht aus der Freiheit von Sünden und Lastern. Jedoch bleibt auch ein Mensch, der sich seiner Laster weitgehend entledigt hat, nicht von negativen Gefühlen verschont und so überkommen ihn immer wieder Trauer, Zorn und Furcht. Dabei handelt es sich jedoch nur um flüchtige Anwandlungen, die seine an sich gute Stimmung nicht wirklich beeinträchtigen können. Radulfus Ardens spricht in dieser Hinsicht von gemäßigten (‚temperate‘) Affekten und spielt damit auf das komplementäre Ergänzungsverhältnis von amativen und oditiven Gefühlen an.496 Dass eine Freiheit von allen negativen Affekten im Diesseits nicht möglich ist, liegt daran, dass der Mensch trotz seiner Bemühungen immer wieder sündigt. Von daher ergeben sich drei graduelle Abstufungen der guten bzw. echten Heiterkeit: Die erste Entwicklungsstufe ist zwar frei von Todsünden (‚criminalia‘), wird aber noch durch viele lässliche Sünden (‚uenialia‘) belastet. Bei der zweiten finden sich nur wenige kleinere Sünden, während die dritte gänzlich frei davon ist. Diese vollkommene Heiterkeit ist jedoch dem Diesseits vorbehalten.497 Wie bereits erwähnt, wird auch die Scham in drei Arten aufgeteilt. Radulfus Ardens verknüpft sie jeweils mit einer bestimmten Art von Schande (‚inhonestas‘):498 Der ‚pudor malus‘ wird mit der Schande hinsichtlich des Teufels (‚inhonestas secundum diabolum‘) assoziiert.499 Damit ist gemeint, dass man sich aus Eitelkeit für
495 Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Porro serenatio alia est uana, alia mala, alia bona; uana est, que de uana letitia surgit; mala quoque est, que de mala letitia procedit. Ceterum talis serenatio nubilum peccatorum non fugat ab animo, sed tantum nubem tristitie. […] Propterea sicut letitia eorum est uana uel mala, sic et serenatio mentis uel faciei eorum est uana uel mala et non uera.“ 496 Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107raf.): „Et quidem bona conscientia nonnumquam cum facie ira tristitia et timore et huiusmodi obnubilatur ad horam, sed temperate cum illa tristitia, ira et timor bonus fuit et temperati et hoc tantum ad horam fit, quoniam cito, uera et uiua conscientie serenitas mentem et faciem ad consuetam reducit serenitatem.“ 497 Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107raf.): „Sunt bone serenationis tres species: Prima est que et si caret tenebris criminalium tamen interfucatur pluribus maculis uenialium. Secunda est, que paucis notatur uenialium notulis. Tertia est, que sicut criminalium ita et penitus notis caret uenialium. Ceterum hec mentis serenitas non est uie, sed tantum patrie.“ 498 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107va): „Sunt autem tres species pudoris secundum tres species inhonestatis; nam sicut superius dictum est inhonestas alia est secundum diabolum, alia secundum seculum, alia secundum Deum.“ Dabei ist zu erwähnen, dass der ‚superius‘-Verweis an dieser Stelle ins Leere geht. Radulfus Ardens beschäftigt sich weder davor noch danach ausführlich mit dem Begriff ‚inhonestas‘ und auch die drei an dieser Stelle erwähnten Arten finden sich im Speculum universale sonst nirgends. Auch das auf den ersten Blick vielversprechende Kapitel 16 im ersten Buch (‚Quid sit honestum et quot modis dicatur‘) führt dabei nicht weiter. Auch dieses Detail scheint den Verdacht zu bestätigen, dass Radulfus Ardens keine Gelegenheit mehr hatte, sein Werk noch einmal durchzusehen und eventuelle Fehler auszubessern. 499 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107va): „Itaque erubescere propter hoc, quod inhonestum est diabolo, est pudor malus; erubescere uero propter hoc, quod inhonestum est mundo, et est pudor uanus; erubescere uero propter hoc, quod inhonestum est Deo, est pudor bonus.“
2.6 Das Komplementärtugendpaar ‚serenatio‘ – ‚pudor‘
325
Dinge schämt, die eigentlich gut sind, wie z. B. Buße, Demut oder das Erdulden von Unrecht.500 Letztlich ist damit eine Verschämtheit gemeint, die nicht zu den eigenen Vorsätzen steht.501 Der Begriff ‚pudor uanus‘ ist mit Schande in den Augen weltlich gesinnter Menschen verbunden. Da im Diesseits Ehrenstellungen und Reichtum von vielen für wertvolle Güter gehalten werden, rufen Armut und ein einfacher Lebensstil diese ‚inhonestas secundum seculum‘ hervor.502 Letztlich ist nur der ‚pudor malus‘ im eigentlichen Sinne schlecht. Die bedeutungslose Scham ist dagegen irrelevant. Auch sie kann allerdings zum Laster werden, wenn man zu viel Wert auf weltliches Ansehen legt. Der ‚pudor bonus‘ entsteht schließlich durch die Schande vor Gott (‚inhonestas secundum deum‘); damit ist die Sünde gemeint.503 Radulfus Ardens weist darauf hin, dass die gute Scham in einem engen Verhältnis zur Züchtigkeit (‚pudicitia‘) steht, die er später in Buch 14 behandelt.504 Wie bei der guten Heiterkeit gibt es auch hier drei Entwicklungsstufen: Zuerst beschämt einen die Sünde nur wegen der Meinung anderer Menschen. Diese Form der Scham beschreibt die erste Regung dieses Affektes und deckt die eigenen Fehler eher zu, als dass sie sie beheben würde. Auf der zweiten Stufe schämt man sich vor sich selbst, da man seinen eigenen Prinzipien nicht folgt und auf der dritten entsteht die Scham nur noch aus dem Bewusstsein, dass man durch die Sünde das Verhältnis zu Gott beschädigt hat. Diese dritte Form stellt das höchste Entwicklungsniveau dar und ist nur noch durch die Liebe zu Gott motiviert.505 Die Aufteilung von Heiterkeit und Scham lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen:
500 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107va): „Porro secundum diabolum inhonestas est penitere, humiliari, iniurias pati et huiusmodi.“ 501 Auch Stephan Ernst beschreibt den ‚pudor malus‘ einheitlich als Verschämtheit (vgl. ERNST, Estote prudentes 565; DERS., Klug wie die Schlangen 52; DERS., Passiones animae 160; DERS., Einleitung 1 36). 502 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107va): „Secundum uero seculum inhonestas est pauperem esse, uilia indumenta habere, uili tugurio habitare et huiusmodi.“ 503 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107va): „Secundum uero Deum inhonestas est peccare.“ 504 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107vb): „A pudore siquidem pudicus et pudicitia dicitur. Immo ipsa pudicitia pudor nuncupatur.“ 505 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 107vbf.): „Sunt autem huius boni pudoris tres species; nam alius erubescit peccare propter homines, alius propter seipsum, alius propter Deum. […] Itaque primus erubescit peccare propter hominum oculos et ideo non semper uitat peccare, sed occultat. Secundus erubescit peccare propter amorem munde conscientie. Tertius uero erubescit peccare propter timorem et amorem Dei. Primus est bonus, secundus melior, tertius optimus.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
serenatio (c. 163)
serenatio non uera (c. 163) serenatio uana
serenatio uera / serenatio bona (c. 163)
↔
pudor / erubescentia (c. 164)
↔
erubescere propter inhonestatem secundum deum / pudor bonus (c. 164)
serenatio mala
erubescere propter inhonestatem secundum diabolum / pudor malus (c. 164) erubescere propter inhonestatem secundum mundum / pudor uanus (c. 164)
Abb. 42: Komplementäre Strukturen im Bereich Heiterkeit und Scham.
Das komplementäre Verhältnis zwischen ‚serenatio bona‘ und ‚pudor bonus‘ wird am Ende des Traktats beschrieben. Die Notwendigkeit der Scham rührt daher, dass es unter den Lebensbedingungen im Diesseits nicht möglich ist, die Sünde gänzlich zu vermeiden. Von daher bleibt immer ein Rest schlechten Gewissens erhalten, welches durch die Scham repräsentiert wird. Von daher bestehen auch die ‚termini‘ der beiden Tugenden darin, dass man sich so für seine Sünden schämt, dass man die grundsätzliche Heiterkeit über sein gutes Gewissen nicht verliert und sich auf der anderen Seite aber nur in dem Maß freut, wie es den Zuständen im Diesseits angemessen ist.506 Einen Namen für die daraus entstehende Verschmelzungstugend erwähnt Radulfus Ardens nicht.
‚serenatio mala‘
‚serenatio bona‘
↔
‚pudor bonus‘
‚pudor malus‘
2.7 Das Komplementärtugendpaar ‚gloriatio‘ – ‚penitentia‘ 2.7.1 Die beiden Affekte Sich-Rühmen und Reue und die Eigenheiten ihrer Darstellung Der Traktat über die beiden Tugenden Sich-Rühmen und Bereitschaft zur Buße507 besteht ebenfalls nur aus zwei Kapiteln. Die ‚gloriatio‘ wird in Kapitel 165 und die 506 Spec. uniu. 11, 164 (P, fol. 108ra): „Sunt autem hec uirtutes serenatio bonusque pudor hac in uita collaterales. Sic enim iusti hic, ubi peccatum penitus nequit uitari, uiuunt, quod sic sunt in conscientia sereni, quod sunt pudorosi; et sic sunt pudorosi, quod sunt sereni, ut et in facie eorum sit immixtus et candor rubori et rubor candori.“ 507 Im Folgenden wird der Begriff ‚penitentia‘ mit ‚Buße‘ übersetzt, wenn das ensprechende Sakrament gemeint ist. Wenn es hingegen um den Affekt geht, wird er mit ‚Reue‘ wiedergegeben und die daraus entstehende Tugend wird als ‚Bereitschaft zur Buße‘ bezeichnet. Die Gründe dafür werden im weiteren Verlauf des Kapitels erläutert.
2.7 Das Komplementärtugendpaar ‚gloriatio‘ – ‚penitentia‘
327
‚penitentia‘ in Kapitel 166 besprochen. Die Überlegungen zum siebten Komplementärtugendpaar bilden den Abschluss des ersten Bereiches von Buch 11.508 Die augenscheinliche Kürze des Abschnitts täuscht darüber hinweg, dass Radulfus Ardens hinsichtlich der ‚penitentia‘ auf die spezielle Sakramentenlehre in Buch 8 verweist. Dort findet sich in den Kapiteln 68–91 eine ausführliche Darstellung zum Bußsakrament, die zwar nicht in allen Details für das Verständnis der Tugend in Buch 11 relevant ist, aber die Grundlage dafür bildet. Aufgrund dieses Zusammenhangs ist die ‚penitentia‘ ein gutes Beispiel dafür, wie dogmatische Inhalte in den tugendethischen Aufbau des Speculum universale einfügt werden. Indem Radulfus Ardens den Affekt ‚penitentia‘ und sein komplementäres Gegenstück untersucht, nimmt er die Buße aus einer anthropologischen Perspektive in den Blick. Hier zeigt sich, dass er die menschliche Natur als Grundlage für jedwede Glaubenspraxis ansieht und dass er seine theologischen Positionen stets in Rückbindung an sein Menschenbild entwickelt. Da der Traktat sehr übersichtlich und in sich schlüssig ist, können die allgemeinen Definitionen der beiden Affekte ohne weitere Vorbemerkungen besprochen werden. – Der Affekt des Sich-Rühmens wird als Freude über das Erreichte definiert.509 Diese kurze und recht allgemeine Bestimmung muss noch über viele Zwischenschritte ausdifferenziert werden, um schlussendlich zu der Tugend zu gelangen, die Radulfus Ardens mit diesem Affekt verbindet. Zunächst präzisiert er, dass er mit ‚dem Erreichten‘ (‚perpetrata‘) nicht etwa nur Taten meint, sondern ein weiteres Verständnis davon hat: Er schließt nämlich alles Gedachte, Gesagte und Getane mit ein und zusätzlich alles, was möglicherweise aus einem bestimmten Grund nicht getan oder vermieden wurde.510 Hier kommt zum Ausdruck, dass im Kontext der beiden Affekte Sich-Rühmen und Reue nicht nur Einzelhandlungen betrachtet werden, sondern das gesamte Verhalten eines Menschen auf dem Prüfstand steht. Diese ganzheitliche Perspektive wird bereits in Buch 8 bei der Reflexion über das Bußsakrament deutlich. Dort stellt Radulfus Ardens in zwei Kapiteln511 die Frage, ob sich die Buße auf einzelne Taten (‚particulariter‘) oder das Verhalten insgesamt (‚uniuersaliter‘) bezieht und kommt zu dem Schluss, dass der Mensch sein gesamtes Tun und Unterlassen kritisch hinterfragen muss.512
508 Genauere Informationen zum Aufbau des Buches findet sich unter Punkt 1.2.1 des vorliegenden Teils. 509 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Gloriatio uero est de perpetratis gratulatio.“ 510 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Quod autem dixi perpetratis, largius intelligendum est, ut comprehendantur tam cogitata quam dicta et facta, tam facta quam euitata.“ 511 Vgl. Spec. uniu. 8, 69 (CCM 241A, p. 261–265) mit dem Titel ‚Quod particularis penitentia sit inutilis‘ und Spec. uniu. 8, 70 (CCM 241A, p. 265–266) mit dem Titel ‚Quod uniuersaliter penitendum est‘. 512 So heißt es in Spec. uniu. 8, 70 (CCM 241A, p. 265): „Ex predictis habemus quod predicta penitentie diffinitio non sit intelligenda particulariter; probatum quippe est quod penitentia particularis est inutilis. Si autem intelligatur uniuersaliter hoc modo: Penitentia est preterita mala omnia plangere et nulla iterum committere, uidetur impossibile.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Die Frage nach dem Spezifikum der ‚gloriatio‘ im Vergleich mit den vorhergehenden Affekten lässt sich so beantworten: Während sich bspw. die Fröhlichkeit auf eigene und fremde Güter beziehen kann und dabei Gegenwärtiges und Vergangenes im Blick hat, richtet sich die ‚gloriatio‘ ausschließlich auf eigene und bereits erreichte Güter. Aus dieser Bestimmung ergibt sich auch, dass ‚gloriatio‘ mit Sich-Rühmen übersetzt werden muss.513 Der Begriff ‚gloriatio‘ meint also einen besonderen, klar abgegrenzten Bereich der ‚letitia‘; von daher wird das Sich-Rühmen auch als eine Sonderform (‚species‘) der Fröhlichkeit beschrieben, die demgegenüber als Gattung (‚genus‘) bezeichnet wird.514 Diese systematische Bestimmung der Zuständigkeitsbereiche der beiden Emotionen lässt sich so abbilden: bona aliena
bona nostra
bona adipiscenda
letitia
letitia
bona iam adepta
letitia
gloriatio
Abb. 43: Zuständigkeitsbereiche von Freude, Fröhlichkeit und Heiterkeit.
Erneut trifft er damit eine Unterscheidung, die – wie er selbst sagt – durch den alltäglichen Gebrauch der entsprechenden Wörter nicht gedeckt ist.515 Es lässt sich daher fragen, welchem Zweck diese spezifische Betrachtung der ‚gloriatio‘ dient, die doch eigentlich bereits in der ‚letitia‘ enthalten ist. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Buße ein zentraler Bestandteil des christlichen Lebens darstellt und Radulfus Ardens durch die Überlegungen zu Sich-Rühmen und Reue den emotionalen Vorgängen dahinter auf den Grund gehen wollte. Außerdem scheint die ‚gloriatio‘ trotz der starken Abhängigkeit von der Fröhlichkeit ein eigenständiges Phänomen darzustellen, da später noch das gute Gewissen als Grundbedingung für das gute Sich-Rühmen angeführt wird und sie demnach zeitlich nach ‚letitia‘ und ‚serenatio‘ anzusetzen ist. – Der Affekt der Reue wird parallel zum Sich-Rühmen als Betrübnis über das Erreichte definiert.516 So ist er als Sonderbereich der geistigen Traurigkeit anzusehen, der sich – ebenso wie die ‚gloriatio‘ – ausschließlich auf eigene und in der Vergan513 In der Forschungsliteratur finden sich unterschiedliche Übersetzungen. Johannes Gründel gibt ‚gloriatio‘ mit ‚Lob oder Ruhmredigkeit‘ wieder (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 135), Stephan Ernst verwendet dafür häufig den Begriff ‚Ruhmrederei‘ (ERNST, Estote prudentes 565; DERS., Klug wie die Schlangen 52; DERS., Passiones animae 160), übersetzt ihn in seiner jüngsten Veröffentlichung aber ebenfalls mit ‚Sich-Rühmen‘ (vgl. ERNST, Einleitung 1 36). 514 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Differt autem gloriatio a letitia, quoniam gloriatio est species, letitia uero genus. Letamur enim tam de bonis nostris quam alienis, tam de adeptis quam de adipiscendis. Gloriatio uero est proprie de bonis nostris tantum et iam adeptis.“ 515 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Verumtamen nonnumquam et gloriatio pro letitia et letitia pro gloriatione indifferenter ponuntur.“ 516 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „[…] penitentia est de perpetratis contristatio.“
2.7 Das Komplementärtugendpaar ‚gloriatio‘ – ‚penitentia‘
329
genheit liegende Dinge richtet. Auch ihm kommt trotz dieser grundsätzlichen Abhängigkeit noch eine gewisse Eigenständigkeit zu. Da die Definition in Kapitel 165 enthalten ist, liefert Kapitel 166 streng genommen gar keine Informationen zur ‚penitentia‘, sondern verweist nur auf Buch 8517 und behandelt im Anschluss direkt das komplementäre Verhältnis der beiden Tugenden. In Buch 8 führt Radulfus Ardens in Kapitel 68 gleich zwei Definitionen der Buße an. Obwohl er dafür Ambrosius und Gregor den Großen als Gewährsmänner angibt, ist der ganze Passus direkt vom vierten Buch der Summa Sententiarum des Petrus Lombardus abhängig.518 Der Abgleich der beiden dort auffindbaren Varianten mit der Bestimmung in Buch 11 zeigt, dass sich die zwei Definitionen in Buch 8 inhaltlich weitestgehend entsprechen, während in Buch 11 eine Kurzversion vorliegt, die dem Umstand Rechnung trägt, dass hier nicht das Sakrament, sondern lediglich der entsprechende Affekt definiert wird: Spec. uniu. , (CCM A, p. ) = PS. AMBR., Serm. , (PL , col. Af.)
Spec. uniu. , (CCM A, p. ) = GREG. M., In euang. , (CCL , p. f.)
Spec. uniu. , (P, fol. rb)
„Est igitur penitentia [...] preterita mala plangere et plangenda iterum non committere.“
„Penitere autem est acta peccata deflere et flenda non committere.“
„[...] penitentia est de perpetratis contristatio.“
Hier zeigt sich, dass Radulfus Ardens nicht nur Informationen aus der Tradition oder von seinen Zeitgenossen sammelt, sondern sie mit seinen eigenen Ansichten verbindet und gedanklich weiterentwickelt. Er unterscheidet klar zwischen dem Sakrament und dem zugrundeliegenden Affekt. Von daher wird ‚penitentia‘ auch als Buße übersetzt, wenn das Sakrament gemeint ist und als Reue, wenn es um den Affekt geht. Die Perspektive der Reue ist dabei eine umfassende: Der Betreffende hinterfragt sein Handeln und bedauert seine Fehler, was sich durch eine negative, abwehrende Emotion bemerkbar macht.
2.7.2 Die ‚species‘ von Sich-Rühmen und Reue und ihr komplementäres Verhältnis zueinander Durch die begriffliche Ausdifferenzierung wird deutlich, welche Tugenden und Laster konkret aus dem Affekt des Sich-Rühmens hervorgehen. Radulfus Ardens unter-
517 Spec. uniu. 11, 166 (P, fol. 108vb): „Porro que sint species penitentie et que sit penitentia bona, superius demonstratum est.“ 518 Vgl. PETR. LOMB., Sent. 4, 14, 2, 2 (SpicBon 5, p. 316 f.).
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
teilt die ‚gloriatio‘ in drei Arten:519 Die lasterhafte ‚gloriatio mala‘ beschreibt ein Verhalten, in dem sich schlechte Menschen für ihre bösen Taten rühmen oder dafür, dass sie ihren Mitmenschen Schaden zugefügt haben.520 Die ‚gloriatio uana‘ meint die Selbstzufriedenheit weltlich gesinnter Menschen, die sich für ihr Ansehen in der Gesellschaft oder ihren materiellen Besitz rühmen.521 – Welche Verhaltensweise mit der tugendhaften ‚gloriatio bona‘ gemeint ist, erklärt Radulfus Ardens über mehrere Schritte. Zunächst weist er ihr die Aufgabe zu, sich für die Güter, die man erworben hat, auf gute Weise (‚bene‘) zu rühmen.522 Diese Bestimmung ist noch sehr abstrakt und wird in zweifacher Hinsicht weiter konkretisiert. Zuerst muss im Vorfeld verhindert werden, dass man sich versehentlich für ein Übel rühmt. Dies gelingt nur durch genaue Untersuchung des entsprechenden Gegenstandes, der nur dann als Gut zu betrachten ist, wenn er fünf Kriterien523 genügt: Er muss erstens der Gattung nach gut sein. Zweitens muss er auf ein gutes Ziel – also auf Gott – ausgerichtet sein. Drittens muss es sich um etwas rein Gutes handeln, d. h. es darf kein Übel damit verbunden sein, das die ganze Sache entwerten würde. Viertens darf er nicht das rechte Maß verfehlen, also nicht im Übermaß oder nur in mangelhafter Form vorhanden sein. Fünftens muss er angemessen sein, d. h. hinsichtlich der ‚occasiones‘ zum Ort, zum Zeitpunkt, zu den beteiligten Personen usw. passen.524 Kommt man durch diese Prüfung tatsächlich zu dem Ergebnis, dass es sich um ein Gut handelt, besteht die Gefahr, dass man sich auf die falsche Weise dafür rühmt. Deshalb ist das Sich-Rühmen nur dann erlaubt, wenn es auf ehrliche (‚simplici-
519 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Gloriatio uero alia est mala, alia uana, alia bona.“ 520 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Sane gloriatio mala est, quando mali letantur se male fecisse et nocuisse.“ 521 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Vana est, quando homines gloriantur in acquisitis diuitiis, honoribus et huiusmodi.“ 522 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Bona uero gloriatio est, quando de bonis nostris gloriamur et bene.“ 523 Die fünf Kriterien für die Güte eines Gegenstandes, also Gattung (‚genus‘), Ziel (‚finis‘), Reinheit (‚puritas‘), Maßhaltung (‚temperantia‘) und Angemessenheit (‚conuenientia‘), übernimmt Radulfus Ardens aus Spec. uniu. 1, 19 (CCM 241, p. 28 f.). Dort geht es darum, dass der Geist durch die Tugend auf das Gute ausgerichtet wird: „Constituitur enim uirtute mens non ad malum, non ad uanum, sed ad bonum: ad bonum genere, ad bonum fine, ad bonum puritate, ad bonum temperantia, ad bonum conuenientia. Porro bonum genere est quod in genere bonorum numeratur, bonum fine est quod intentione ad Deum refertur, bonum puritate est cum recte intentioni nichil admixtionis sinistre se subiungit, bonum temperantia est quod nec modum excedit nec deficit, bonum conuenientia est quod persone, loco, tempori et eis inter quos uiuitur, conueniens et utile fit. Porro quod his quinque de causis bonum est, omnifariam bonum est. Ceterum si unum ex his defuerit, non usquequaque bonum erit.“ 524 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Inspiciendo scilicet, utrum opus nostrum sit bonum genere, bonum fine, bonum puritate, bonum temperantia, bonum conuenientia, sicut supra docuimus, quo consideratio et probato possumus bene super eo gloriari.“
2.7 Das Komplementärtugendpaar ‚gloriatio‘ – ‚penitentia‘
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ter‘), demütige Weise (‚humiliter‘) geschieht und nützt (‚utile‘).525 Ehrlich bedeutet, dass es durch ein gutes Gewissen abgesichert ist. Diese Aussage ist als Hinweis auf die vorher besprochene ‚serenatio‘ zu verstehen.526 Der Bezug zur Demut bringt zum Ausdruck, dass jederzeit Gefahr besteht, dass der Mensch sich selbst im Vertrauen auf seine eigenen Kräfte rechtfertigt, was unbedingt vermieden werden muss.527 Zudem muss man stets den Nutzen ‚gloriatio‘ für das geistige Vorankommen im Auge behalten.528 Um deutlich zu machen, was er damit meint, nennt Radulfus Ardens vier Beispielfälle: So kann es in Zeiten der Not helfen, sich seiner Güter zu vergewissern, um nicht den Mut zu verlieren. Ebenso räumt das Sich-Rühmen unberechtigte Zweifel an der Hoffnung aus und stärkt auf diese Weise die Zuversicht auf Gott. Auch aus dem Bereich der Lehre führt er ein Beispiel an: Wenn es darum geht, vor schlechtem Unterricht oder gar Irrlehren zu bewahren, darf sich der Lehrer selbst rühmen, um den Zuhörern den richtigen Weg zu zeigen. Schließlich ist das Sich-Rühmen auch dann zulässig, wenn es dazu motiviert, Gott zu danken.529 Betrachtet man diesen Gedankengang insgesamt, fällt ins Auge, dass der ursprüngliche Affekt mehrere ‚Filter‘ durchlaufen muss, bis er schließlich eine Form angenommen hat, die als Tugend gelten kann. Anhand der genannten Beispiele lässt sich erkennen, dass mit der ‚gloriatio bona‘ eine selbstkritische und opferbereite aber zugleich auch selbstbewusste und von Gottvertrauen getragene Verhaltensweise gemeint ist, die besonders in Situationen der Bedrängnis Mut und Kraft gibt. Warum unternimmt Radulfus Ardens einen solchen Aufwand, um zu diesem Ergebnis zu gelangen? Er war sich zweifelsohne bewusst, dass die Konzeption einer solchen Tugend zahlreiche Missverständnisse hervorrufen kann, weshalb er auch mehrfach auf die Gefahr durch Stolz und Selbstgerechtigkeit hinweist. Dies kann auch als Vorverweis auf das entgegengesetzte Laster bzw. die entsprechende Komplementärtugend gewertet werden. Die Tugend des Sich-Rühmens ist demnach zum
525 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Porro bene super bono nostro gloriamur, si simpliciter, si humiliter, si utiliter super eo gloriamur.“ 526 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108rb): „Et simpliciter quidem de bono nostro gloriamur, si non ex comparatione aliene uel malitie uel minoris gratie uel exauditu laudis uel opinionis uane gloriamur, sed tantum in bono conscientie nostre.“ 527 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108va): „Humiliter uero de bono nostro gloriamur, si nec causam salutis nostre penes opera nostra statuimus.“ 528 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108va): „Vtiliter uero gloriamur, si gloriationem quam de bonis nostris habemus in occasionem non uanitatis, sed maioris profectus nobis conuertimus.“ 529 Spec. uniu. 11, 165 (P, fol. 108va): „Ea propter nonnisi certis et utilibus de causis debemus bona nostra intueri, pensare et inde gloriari. Quarum causarum prima est ad consolandum nos inter aduersa […]. Secunda est ad amplificandam et confirmandam spem nostram inter dubia […]. Tertia ad utilitatem auditorum, ut Paulus qui se commendat et prefert falsis predicatoribus, ut magis sibi credatur quam eis. […] Quarta ad excitandum nos ad gratiarum Deo actionem […].“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
einen das Ergebnis der Akzeptanz der eigenen Schwächen und zum anderen vom Stolz gekennzeichnet, als Christ zu seinen Prinzipien stehen zu können. – Allein aus der Tatsache, dass die ‚gloriatio‘ nur unter ganz bestimmten Bedingungen erlaubt ist, lässt sich ableiten, dass der ‚penitentia‘ eine umfassendere Bedeutung zukommt. Dieses Ergebnis deckt sich mit den bereits erwähnten Aussagen zum Bußsakrament in den Kapitel 69–71 von Buch 8. Der ‚superius‘-Verweis hinsichtlich der ‚species‘ der Reue führt zum 73. Kapitel von Buch 8. In diesem Kapitel werden insgesamt sieben Arten der Buße aufgezählt, die sich auf den Affekt der Reue übertragen lassen. Die Aufteilung weicht deutlich von dem Schema ab, dem Radulfus Ardens sonst folgt, was hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass er darum bemüht ist, praktische Aspekte des Bußsakraments in seine Überlegungen zur Tugend miteinzubeziehen.530 Er zählt die schlechte (‚mala‘), die heuchlerische (‚ficta‘), die falsche (‚falsa‘), die unbeständige (‚deficiens‘), die übertriebene (‚excedens‘), die ungenügende (‚insufficiens‘) und die genügende (‚sufficiens‘) Buße auf.531 Da die ‚penitentia sufficiens‘ die einzige Art der Buße ist, die auch tatsächlich in vollem Umfang Vergebung erlangt, entspricht sie systematisch gesehen der tugendhaften Buße (‚penitentia bona‘). Die ‚penitentia insufficiens‘ ist als eine ungenügende Vorstufe anzusehen, die von der Sache her in die richtige Richtung weist, jedoch aufgrund von Unzulänglichkeiten erst nach dem Tod im Fegefeuer vollendet werden kann. Sie wird als eine zu laue Buße (‚tepide penitentes‘) definiert. Damit ist gemeint, dass der Betreffende nur halbherzig bereut und die Sache nicht mit dem dafür notwendigen Eifer angeht. Da der ‚tepor‘ in Zusammenhang mit dem ‚contemptus‘ in Buch 12 behandelt wird, ließe sich diese Art in Richtung einer wertlosen Buße (‚penitentia uana‘) interpretieren. Einiges spricht dafür, dass auch die falsche und die unbeständige Buße diesem Bereich zugewiesen werden: Die erste bereut nämlich nur Einzelaspekte und ist daher nutzlos,532 während die zweite auf halbem Weg abbricht und daher die bereits erlangte Vergebung zunichtemacht. Diese drei Arten sind nicht per se schlecht, entwerten jedoch die bis dahin unternommene Anstrengungen. Die restlichen drei ‚species‘ sind dagegen klar als Laster zu werten: Die schlechte Buße meint die Reue über gute Taten bzw. ein Bedauern darüber, dass man nichts Böses getan hat. Die heuchlerische Buße vergrößert die
530 Obgleich sich der ganze Passus über die Sakramentenlehre in Buch 8 stark am vierten Buch der Summa Sententiarum des Petrus Lombardus orientiert, bildet Kapitel 73 dabei eine Ausnahme. Die dort angeführten ‚species‘ finden sich in dieser Zusammenstellung auch sonst nirgends und sind daher als Eigengut des Radulfus Ardens zu betrachten. Von daher gibt auch Christopher Evans in den Fußnoten zu seiner Übersetzung keine Quellentexte für dieses Kapitel an: Vgl. Spec. uniu. 8, 73 (STPIMS 171, p. 149). 531 Spec. uniu. 8, 73(CCM 241A, p. 269): „Penitentia alia est mala, alia est ficta, alia falsa, alia deficiens, alia est excedens, alia insufficiens, alia sufficiens.“ 532 Vgl. dazu die bereits erwähnten Kapitel 69 und 70 aus Buch 8.
2.7 Das Komplementärtugendpaar ‚gloriatio‘ – ‚penitentia‘
333
Sünde dadurch, dass Reue ohne die innere Bereitschaft zur Umkehr äußerlich vorgespielt wird. Die übertriebene Buße ist nicht durch einen Mangel, sondern durch ein Übermaß bestimmt und kann als Minderwertigkeitskomplex oder Selbstanklage verstanden werden.533 Daraus ergibt sich folgende Übersichtsskizze:
gloriatio (c. 165)
↔
penitentia (c. 166)
gloriatio uana (c. 165) gloriatio bona (c. 165) gloriatio mala (c. 165)
↔
penitentia sufficiens (8, c. 73)
penitentia falsa / deficiens / insufficiens (8, c. 73) penitentia mala / ficta / excedens (8, c. 73)
Abb. 44: Komplementäre Strukturen im Bereich des Sich-Rühmens und der Scham.
Aus den abschließenden Bestimmungen in Kapitel 166 wird deutlich, dass die tugendhafte ‚penitentia bona‘ eine Bereitschaft zum Eingeständnis eigener Fehler ist. Von daher könnte man sie als Bußfertigkeit oder – um einen moderneren Begriff dafür zu wählen – als Bereitschaft zur Buße bezeichnen. Soviel ist klar geworden: Eigentlich müsste sich der Mensch im Hier und Jetzt ganz (‚uniuersaliter‘) der Buße widmen. Diese Aufgabe kann er aufgrund seiner eigenen körperlichen und geistigen Begrenztheit nicht leisten,534 sodass die Reue über das eigene Tun mit dem Bewusstsein der eigenen Güter in einem komplementären Verhältnis stehen muss.535 Somit ist die hauptsächliche Funktion der ‚gloriatio‘, dass sich das Schuldbewusstsein der tugendhaften Buße nicht zur verzweifelten Selbstanklage (‚penitentia desperans‘) steigert. Die Tugend des Sich-Rühmens birgt ihrerseits die Gefahr, dass daraus das
533 Spec. uniu. 8, 73 (CCM 241A, p. 269): „Prima est malorum de bono penitentium, secunda ypocritarum, tertia penitentium particulariter, quarta penitentium non perseueranter, quinta desperantium, sexta penitentium tepide, septima penitentium perseueranter et fortiter. Porro penitentia mala delet bonum, ficta auget malum, falsa ueniam non meretur, excedens demeretur, deficiens ueniam iam meritam amittit, insufficiens quod hic minus fecit, in purgatorio supplens ueniam obtinebit, sufficiens ab hac uita in aliam cum plena uenia pertransit.“ 534 Spec. uniu. 8, 70 (CCM 241A, p. 265): „Quis enim queat omnia perpetrata mala plangere aut nulla iterum committere? Omnia quippe peccata plangere non ualemus, quoniam quedam non recordamur, quedam non colligimus, quedam non intelligimus, quedam non pensamus […].“ 535 Spec. uniu. 11, 166 (P, fol. 108vbf.): „Est autem penitentia bona uirtus collateralis bone gloriationis. […] Itaque penitentia temperat gloriationem et gloriatio penitentiam. Quando igitur consideramus bona nostra, unde gloriari ualemus, ne gloriatio nostra excedat, consideremus econtra peccata nostra, unde penitere debeamus. Et quando consideramus peccatorum nostrorum multitudinem, unde penitere debemus, ne penitentia usque ad desperationem excedat. Inspiciamus econtra, si qua bona habemus uel habere possumus, unde sperare ualeamus.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Laster des Stolzes (‚gloriatio superbiens‘) entsteht. Von daher ergeben sich auch die Grenzen der Tugend.536 Es liegt auf der Hand, dass die tugendhafte Buße (‚penitentia bona‘) der ‚penitentia sufficiens‘ aus Buch 8 entspricht, während die schlechte Buße durch die ‚penitentia desperans‘ und das schlechte Sich-Rühmen durch die ‚gloriatio superbiens‘ repräsentiert wird:537
‚gloriatio superbiens‘
‚gloriatio bona‘ ↔
‚penitentia bona‘
‚penitentia desperans‘
2.8 Der Traktat über Sanftmut und Strenge und seine Bedeutung als systematischer ‚Schlussstein‘ von Buch 11 Die letzten sechs Kapitel 167–172 enthalten nicht nur den Traktat über Sanftmut und Strenge, sondern sind – systematisch betrachtet – als ein eigenständiger, zweiter Bereich in Abgrenzung zum bisher besprochenen ersten Bereich (c. 1–166) zu betrachten.538 Diese Trennung begründet sich dadurch, dass die bis hierher besprochenen sieben Komplementärtugendpaare aus je einer amativen und einer oditiven Tugend bestehen. Dagegen sind ‚mansuetudo‘ und ‚rigor‘ keiner bestimmten Seelenkraft zugeordnet, sondern stellen das Ergebnis des Prozesses dar, in dem sich ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘ ins rechte Verhältnis setzen. Radulfus Ardens beschreibt hier also nicht nur ein weiteres Komplementärtugendpaar; die Ausführungen sind vielmehr als Resümee zum komplementären Verhältnis der liebenden und hassenden Seelenkraft insgesamt zu interpretieren. Diese abschließende Reflexion ließe sich genau genommen noch einmal aufteilen, und zwar in die Kapitel 167–171, in denen es in erster Linie um Sanftmut und Strenge geht und das Kapitel 172. Dort werden grundlegende Aussagen über das Wesen der amativen und oditiven Tugenden getroffen, ihre Bezogenheit aufeinander herausgestellt und ihre Bedeutung im diesseitigen sowie im jenseitigen Leben erläutert. Ungeachtet dieser Tatsache bilden die sechs Kapitel jedoch dahingehend eine Einheit, dass sie grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Liebe und Hass, zur komplementären Struktur der menschlichen Seelenkräfte und zum Verhältnis von menschlicher Natur und göttlicher Gnade behandeln, weshalb sie im Folgenden auch als eine Einheit dargestellt und interpretiert werden.
536 Spec. uniu. 11, 166 (P, fol. 109ra): „Termini uero bone gloriationis et bone penitentie sunt mala penitentia et mala gloriatio. Sic enim debemus gloriari, ne excedamus usque ad gloriationem superbientem et sic penitere ne excedamus usque ad penitentiam desperantem.“ 537 Im Baumdiagramm auf fol. 109ra findet sich übrigens noch die ‚penitentia excedens‘, die offenbar der ‚penitentia desperans‘ entspricht. 538 Bereits Johannes Gründel weist auf die Zweiteilung des elften Buches hin (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 276 f.). Zudem wurde diese Beobachtung bereits unter Punkt 1.2.2.2 des vorliegenden Teils angedeutet.
2.8 Der Traktat über Sanftmut und Strenge
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Die Sonderstellung des achten Komplementärtugendpaares zeigt sich besonders daran, dass bei Sanftmut und Strenge nicht wie bei den anderen Tugenden zwei einzelne Affekte die Grundlage sind, sondern dass die beiden das gesamte ethische Potential der Seelenkräfte abbilden. Aus diesem Grund werden sie in Buch 1 auch nicht unter die Gefolgschaft der ‚amabilitas‘ oder ‚odibilitas‘ gerechnet. Diese Besonderheit wird im Folgenden genauer betrachtet, da sie wichtige Informationen zu komplementären Strukturen in der Seelenlehre des Radulfus Ardens enthält. Der inhaltliche und systematische Schnitt zum ersten Bereich von Buch 11 zeigt sich bereits am ersten Satz von Kapitel 167. Dort heißt es: Ex predictis affectionibus si fuerint bene culte, moderate et composite, sicut premonstrauimus, nascitur quedam uirtus que mansuetudo nuncupatur.539
Mit den ‚predicte affectiones‘ sind die bis dahin beschriebenen 14 Affekte und ihre Unterarten gemeint. Die Aussage, dass sie ‚bene culte, moderate et composite‘ sind, setzt voraus, dass im Prozess der wechselseitigen Balance daraus Komplementärtugendpaare entstanden sind, die dementsprechend auch die Grundlage von ‚mansuetudo‘ und ‚rigor‘ bilden. Weshalb Radulfus Ardens gerade den Begriff ‚Sanftmut‘ für geeignet hält, um das Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses zu beschreiben, erklärt er mithilfe einer Allegorie: Wie ein wildes Tier durch Abrichtung und Zähmung sanft wird und der Hand des Herrn aus Gewohnheit gehorcht, so werden auch die anfangs rohen und unausgeglichenen Seelenkräfte im Entstehungsprozess der Komplementärtugenden ‚gezähmt‘ und ins rechte Maß gebracht.540 An dieser Formulierung überrascht zunächst, dass nicht nur von ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘, sondern von der Seele insgesamt die Rede ist. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die komplementäre Balance zwischen den affektiven Seelenkräften nicht unabhängig von der rationalen Seelenkraft einstellt, sondern unmittelbar mit ihr zusammenhängt. Denn wie zu Beginn des Buches dargestellt, stehen auch die ‚discretio‘ und die affektiven Tugenden in ihrer Gesamtheit in einem komplementären Verhältnis zueinander,541 sodass die ‚mansuetudo‘ letztlich nur durch die Harmonie aller Seelenkräfte entstehen kann. Damit verdichten sich im achten Komplementärtugendpaar die komplementären Bezüge zwischen den Seelenkräften wie in einem Brennspiegel. Dies lässt sich auch an den Definitionen von Sanftmut und Strenge ablesen: Während die erste eine Haltung beschreibt, die empfänglich für jedes Gut bzw. bereit zu jedem
539 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109ra). 540 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109raf.): „Dicitur autem metaphorice mansuetudo, quoniam sicut animal bene domitum et eruditum fit mansuetum, id est obedire manui suetum, ita si animus prius agrestis et ferus fuerit bene domitus et compositus fit mansuetus et bene obedire paratus.“ 541 Vgl. Punkt 1.1 des vorliegenden Teils.
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
guten Werk ist,542 meint die zweite eine Haltung, die sich klar gegen jedes Übel stellt.543 Damit sich der Mensch wirklich ausschließlich auf das Gute ausrichtet und das Übel unter allen Umständen ablehnt, genügt es nämlich nicht, dass nur einzelne Bereiche der Seele geordnet sind, vielmehr müssen alle Seelenkräfte harmonisch aufeinander abgestimmt sein. Aus diesen Überlegungen wird erneut deutlich, dass die affektiven Seelenkräfte nicht von einer anderen Seelenkraft (bspw. der Vernunft) geordnet und gezähmt werden, sondern sich alle Kräfte der Seele gegenseitig ins Gleichgewicht bringen. Von daher stellt sich in Zusammenhang mit dem Bild von der Seele, die gezähmt wird und der gewohnten Hand gehorcht, die Frage, welche Instanz diesen Ordnungsprozess auslöst bzw. anleitet. Die Antwort darauf findet sich in einer zweiten Allegorie, die Radulfus Ardens in Kapitel 169 in Zuge einer Psalmenauslegung entwickelt. Ausgangspunkt bildet dabei die Aussage in Ps 131, 6, dass die Bundeslade in Ephrata in gefunden wurde.544 Den Ortsnamen Ephrata assoziiert er im Anschluss an die Tradition mit Fruchtbarkeit545 und betrachtet die Bundeslade als Verkörperung der göttlichen Gnade. Von daher bestimmt er die Gnade Gottes als diejenige Kraft, die die unbebauten und unkultivierten Affekte (wieder) fruchtbar macht.546 Damit erhält der Entstehungsprozess der affektiven Tugenden eine soteriologische Komponente: Erst die göttliche Gnade hebt die durch den Sündenfall verursachte Unordnung auf, tilgt die Laster aus, heilt den Menschen und führt seine natürlichen Anlagen wieder zur reinen Natur (‚natura pura‘) zurück.547 Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass die Gnade Gottes im Hintergrund den Prozess der komplementären Mäßigung anstößt, begleitet und vollendet. Das Verhältnis zwischen Gnade und menschlicher Natur wird dabei nicht weiter reflektiert. Entscheidend für das Verständnis des tugendethischen Entwurfs des Radulfus Ardens bildet der Gedanke, dass sich die Seelenkräfte gegenseitig austarieren, aber nur auf der Grundlage der ‚gratia‘ dazu in der Lage sind. Diese in der speziellen Tugendlehre nur sehr selten erwähnte aber dennoch zentrale Bestimmung wird hier in Zusammenhang mit der ‚mansuetudo‘ eindrucksvoll hervorgehoben.
542 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109rb): „[…] mansuetus animus tractabilis et flexibilis est ad omne opus bonum.“ 543 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 109vb): „Est ergo seueritas uirtus, per quam efficitur mens inflexibilis ad illicita.“ 544 Ps 131, 6: „ecce audivimus illum in Ephrata invenimus illum in regione saltus.“ 545 Vgl. ADAM, Ephrata. 546 Spec. uniu. 11, 169 (P, fol. 109vb): „Effrata siquidem interpretatur frugifera et signat gratiam que mentem humanam fructiferam reddit. Per campos uero silue designatur lasciuia libera siluestrum affectionum, ut rudis amoris, rudis odii, rudis cupiditatis, rudis timoris, rudis spei, rudis ire, rudis gaudii, rudis tristitie, rudis letitie que quamdiu manent inculte et steriles in corde, in eo Spiritus sanctus templum non ualet habere.“ 547 Spec. uniu. 11, 169 (P, fol. 109vb): „Vtrum si fuerint per gratiam exculte composite et fecundate, ut natura pura remaneat expulsa uitiositate, tunc poterit Spiritus sanctus in ea habitare.“
2.8 Der Traktat über Sanftmut und Strenge
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2.8.1 Das Komplementärtugendpaar ‚mansuetudo‘ und ‚rigor‘ 2.8.1.1 Die grundlegende Bestimmung von Sanftmut und Strenge Wie soeben erwähnt, unterscheiden sich ‚mansuetudo‘ und ‚rigor‘ von den vorhergehenden amativen und oditiven Tugenden darin, dass sie keine Affekte im eigentlichen Sinne darstellen, sondern eher die grundlegenden Momente von Liebe und Hass beschreiben. Folgerichtig findet sich deshalb weder zur Sanftmut noch zur Strenge eine allgemeine Definition. Auch unter den Leitfragen, die den Traktat gliedern,548 kommt die ansonsten obligatorische Frage nach der Definition nicht vor, wie sich der folgenden Übersicht zeigt: . . . . .
‚quod sint species mansuetudinis?‘ o (c. 167.168) ‚que earum sit uirtus?‘ ‚quanta uirtus sit mansuetudo?‘ (c. 169) o ‚que uirtus sit ei collateralis?‘ (c. 170.171) ‚qui sint termini eius?‘
Stattdessen führt Radulfus Ardens jeweils eine grundlegende Bestimmung der beiden Wesenszüge an. Zur Sanftmut heißt es in Kapitel 167: […] quoniam mansuetus animus tractabilis et flexibilis est ad omne opus bonum.549
Hier wird durch den Hinweis auf die Seele (‚animus‘) deutlich, dass es sich dabei nicht nur um einen Affekt, sondern um eine fertig ausgebildete Charaktereigenschaft handelt. Ebenso lässt sich daran ablesen, dass die rechte Unterscheidung (‚discretio‘) bereits mitenthalten ist, da sich die beschriebene Eigenschaft ansonsten in keiner Weise von der guten Liebe unterscheiden würde. Analog dazu wird über die Strenge gesagt: Est ergo seueritas uirtus, per quam efficitur mens inflexibilis ad illicita.550
Diese Bestimmungen sind sehr theoretisch und abstrakt. Radulfus Ardens verwendet daher im Laufe des Traktats einige Mühe darauf, den beiden komplexen und facettenreichen Charakterzügen mehr Profil zu verleihen und greift im Zuge dessen auf mehrere Alternativbegriffe zurück, die – wie er mehrfach betont – dieselben Tugenden bezeichnen, jedoch andere Schwerpunkte setzen. Er ist sich also bewusst, dass es für die Verhaltensweisen, die er allegorisch als ‚mansuetudo‘ und ‚rigor‘ be-
548 Radulfus Ardens kündigt in Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109rb) an, fünf Fragen zu beantworten, nämlich: „Considerandum est igitur quot sint species mansuetudinis, que earum sit uirtus, quanta uirtus sit, que uirtus sit ei collateralis et qui sint termini.“ 549 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109rb). 550 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 109vb).
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zeichnet, aufgrund der Begrenztheit der Sprache keine wirklich treffenden Bezeichnungen gibt. Die von ihm angeführten Alternativbezeichnungen werden im folgenden Kapitel genauer in den Blick genommen, da nur so ein tieferes Verständnis der beiden Tugenden Sanftmut und Strenge möglich ist. 2.8.1.2 Die inhaltlichen Aspekte der beiden Tugenden Um die alternativen Begriffe interpretieren zu können, ist es zuvor nötig, die Frage nach der passenden Übersetzung für die ‚mansuetudo‘ selbst zu stellen. Etymologisch leitet sich das Wort von ‚manus‘ und ‚suetus‘ her und steht damit in klarer Verbindung zu der oben wiedergegebenen allegorischen Erläuterung des Radulfus Ardens. Wörtlich könnte sie – bezogen auf die Seelenvermögen – also durchaus als ‚Zahmheit‘ übersetzt werden, allerdings bietet sich der besseren Verständlichkeit wegen eher der Begriff ‚Sanftmut‘ an, womit eine gutherzige, freundliche und ausgeglichene Wesensart gemeint ist.551 Um aufzuzeigen, welche inhaltlichen Aspekte noch in der ‚mansuetudo‘ enthalten sind, führt Radulfus Ardens in Kapitel 167 zunächst drei begriffliche Alternativen an, nämlich ‚mititudo‘, ‚lenitas‘ und ‚suauitas‘.552 Gerade die ersten beiden Wörter sind von ihrem Bedeutungsspektrum her der ‚mansuetudo‘ sehr ähnlich. Die ‚mitutudo‘ legt den Schwerpunkt aber auf die Friedlichkeit bzw. die Milde und beschreibt damit die Haltung eines gütigen Menschen, der von sich aus niemandem schaden will. Die ‚lenitas‘ meint hingegen eine Gelassenheit, die sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Die ‚suauitas‘ ist schließlich als eine anziehende bzw. gewinnende Art zu verstehen, die ihren Träger für die Mitmenschen sympathisch macht. Zwei weitere Zusatzbestimmungen sind in den Adjektiven ‚tractabilis‘ und ‚flexibilis‘ enthalten, die zu der eben erwähnten Grundbestimmung der Sanftmut gehören. Die beiden Begriffe stellen die Anpassungsfähigkeit einer in rechter Weise geordneten Seele gegenüber dem Guten dar. Sie entstammen einer physikalischplastischen Bildsprache, die zum Ausdruck bringt, dass der Mensch im Entstehungsprozess der Tugenden empfänglich für das Gute wird, sich dadurch formen lässt und ganzheitlich darauf ausrichtet. Von daher kann ‚tractabilis‘ mit ‚anpassungsfähig‘ oder ‚nachgiebig‘ und ‚flexibilis‘ mit ‚empfänglich‘ wiedergegeben werden. Diese Bedeutungsaspekte werden teilweise bei der Darstellung der guten bzw. tugendhaften Sanftmut (von der im nächsten Teilabschnitt die Rede sein wird) in Kapitel 168 nochmals wiederholt,553 allerdings findet sich hier noch ein weiterer As551 Der Begriff ‚mansuetudo‘ wird daher auch in der Forschungsliteratur meist mit ‚Sanftmut‘ wiedergegeben (vgl. ERNST, Estote prudentes 565; DERS., Klug wie die Schlangen 53; DERS., Passiones animae 161). 552 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109rb): „Vnde et eadem uirtus dicitur mititudo, lenitas, suauitas […].“ 553 Spec. uniu. 11, 168 (P, fol. 109rb): „Bona igitur mansuetudo uirtus est que sic describi potest: Mansuetudo est uirtus, per quam homo efficitur imperturbabilis, bene socialis et tractabilis.“ Das Adjektiv ‚tractabilis‘ verwendet Radulfus Ardens bereits bei der grundlegenden Bestimmung der Sanftmut. Es
2.8 Der Traktat über Sanftmut und Strenge
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pekt, der sich speziell auf den Zustand der Affekte bezieht: Radulfus Ardens spricht davon, dass ein sanftmütiger Mensch unerschütterlich (‚inturbabilis‘) ist. Das bedeutet, dass ihn die Affekte nicht mehr in Form von ‚perturbationes animi‘ aus der Ruhe bringen können. Er räumt zwar ein, dass innere Unruhen nicht völlig ausbleiben, jedoch handelt es sich dabei nur um kurze Anwandlungen ohne größere Konsequenzen.554 Ein sanftmütiger Mensch bleibt nicht nur selbst ruhig, sondern seine Gelassenheit strahlt auch auf andere Menschen aus.555 Radulfus Ardens nennt also mindestens sechs Alternativbezeichnungen für die ‚mansuetudo‘, die zur besseren Übersichtlichkeit hier gesammelt dargestellt sind: ‚mansuetudo‘
Zahmheit (der Seelenkräfte), Sanftmut
‚mititudo‘
Milde, Friedlichkeit
‚lenitas‘
Gelassenheit
‚suauitas‘/ ‚bene sociabilis‘
Sympathisches Wesen, Umgänglichkeit
‚tractabilitas‘
Anpassungsfähigkeit, Gute
‚flexibilitas‘
Beweglichkeit, Empfänglichkeit (für das Gute)
‚imperturbabilitas‘
Unerschütterlichkeit (durch die ‚perturbationes anime‘)
Eine solche Fülle an Bedeutungsaspekten ist in Buch 11 einzigartig und zeigt, wie bedeutend diese Tugend ist, lässt aber auch erkennen, wie schwer es Radulfus Ardens fällt, dafür einen passenden Begriff zu finden. An den aufgeführten Begriffen lässt sich jedenfalls erkennen, dass der Träger einer solchen Haltung durch und durch im Guten gefestigt ist. Er lässt sich durch nichts und niemanden mehr aus der Ruhe bringen und ist ausgeglichen, jederzeit zugänglich für die Mitmenschen und sympathisch. Bei der ‚seueritas‘ finden sich deutlich weniger Alternativbegriffe, allerdings stellt sich dort ein ähnliches Problem, was sich allein daran erkennen lässt, dass die Tugend von vorne herein mit zwei Begriffen als ‚seueritas siue rigor‘ bezeichnet wird.556 ‚Seueritas‘ bedeutet wörtlich ‚Härte‘ und passt damit sehr gut zu der Bildmeint die Anpassungsfähigkeit zum Guten und könnte hier auch als ‚gütig‘ übersetzt werden. ‚Bene socialis‘ bedeutet ‚umgänglich‘ oder ‚zugänglich‘ und legt deshalb Bezüge zur ‚suauitas‘ nahe. 554 Spec. uniu. 11, 168 (P, fol. 109rb): „Porro imperturbabilis sit non quin possit aliquando perturbari, sed quia uix et raro perturbatur.“ 555 Spec. uniu. 11, 168 (P, fol. 109rb): „Fit quoque non inturbabilis, sed imperturbabilis id est non ualde turbabilis. Imperturbabilis uero potest dici et actiue et passiue, quoniam non perturbatur nec a suis nec ab alienis affectionibus malis nec alios ipse perturbat.“ 556 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 109vb): „Collateralis uero mansuetudinis est seueritas siue rigor.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
sprache, die Radulfus Ardens bereits bei der Beschreibung der Sanftmut verwendet hat. Dazu gehört eine ‚inflexibilitas‘ gegenüber unerlaubten – also bösen – Dingen. Hier ist also eine Form der Strenge gemeint, die sich klar gegen alles Schlechte stellt. Das Synonym ‚rigor‘ enthält zusätzlich den Aspekt der Starrheit, die als Geradlinigkeit zu verstehen ist, durch die der Träger dieser Tugend zu seinen Prinzipien steht und sich auch durch Widerstände und Druck von innen oder außen nicht davon abbringen lässt. An dieser Stelle ist also zusammenfassend nochmals darauf hinzuweisen, dass es sich bei ‚mansuetudo‘ und ‚rigor‘ um Verhaltensweisen handelt, die den ganzen Menschen in seinem Wesenskern betreffen und sich in allen Bereichen des Lebens, an der eigenen emotionalen Befindlichkeit und dem Umgang mit dem Mitmenschen zeigen. Auch bei der Darstellung der lasterhaften Arten der beiden Tugenden greift Radulfus Ardens auf die plastisch-physikalische Bildsprache zurück. 2.8.1.3 Die ‚species‘ von Sanftmut und Strenge und ihr komplementäres Verhältnis zueinander Es ist schon mehrfach angeklungen: Da die beiden Tugenden nicht aus einzelnen Affekten hervorgehen, sondern das Verhältnis der Seelenkräfte allgemein beschreiben, kann es keine ethisch neutralen Formen von Sanftmut oder Strenge geben. Ist die Seele harmonisch geordnet, handelt es sich dabei um Tugenden, ist sie es nicht, um Laster – eine wertlose oder indifferente Form kann es hier nicht geben. Diese systematische Notwendigkeit spiegelt sich auch in den ‚species‘ wider, die im Folgenden in den Blick genommen werden. – Die Arten der Sanftmut bespricht Radulfus Ardens in Kapitel 168. Es gibt nur eine einzige tugendhafte Form, die sich dadurch bestimmt, dass man sich sowohl sich selbst gegenüber, als auch gegenüber seinen Mitmenschen im rechten Maß sanftmütig verhält.557 Diese ‚mansuetudo bona‘ wird in einer ersten Definition als ein Charakterzug beschrieben, durch den ihr Träger unerschütterlich, umgänglich und gütig wird.558 Bereits hier lassen sich Hinweise auf die Komplementärtugend der Strenge erkennen, da Radulfus Ardens durch die Hinzufügung des Adjektivs ‚bene‘ vor der Gefahr warnt, dass man auch für das Schlechte empfänglich und für das Böse zugänglich sein kann.559 Eine zweite Definition stellt die emotionale Festigkeit der ‚mansuetudo bona‘ besonders heraus: Sie kann weder durch innere noch durch äußere Unruhen beeinträchtigt werden.560 Die schlechte Sanftmut be557 Vgl. dazu den Text in n. 553. 558 Spec. uniu. 11, 168 (P, fol. 109rb): „Mansuetudo est uirtus, per quam homo efficitur imperturbabilis, bene socialis et tractabilis.“ 559 Spec. uniu. 11, 168 (P, fol. 109va): „Ceterum quoniam posset in malo esse et socialis et tractabilis, adiungitur bene, quoniam bona mansuetudo nulli acquiescit malo.“ 560 Spec. uniu. 11, 168 (P, fol. 109va): „Potest autem et sic describi: Mansuetudo est tranquillitas mentis que nec perturbat nec perturbatur.“
2.8 Der Traktat über Sanftmut und Strenge
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stimmt sich dagegen dadurch, dass man zu sich selbst und zu den Mitmenschen zu sanftmütig bzw. zu nachgiebig ist. Zwei leicht abgeschwächte, aber dennoch lasterhafte Formen der ‚mansuetudo mala‘ sind dadurch gekennzeichnet, dass man zwar in einem der beiden Bereiche das rechte Maß einhält, im jeweils anderen aber nicht. Als ein Beispiel für eine solche Verfehlung führt Radulfus Ardens den Priester Eli aus 1 Sam an, der zwar selbst rechtschaffen lebte, aber seinen verkommenen Söhnen allzu viel durchgehen ließ.561 – Die Arten der Strenge werden nicht explizit benannt. Implizit lässt sich aber in Kapitel 171 erkennen, welche Vorstellungen diesbezüglich im Hintergrund stehen. Nach der Feststellung, dass die Aufgabe der Strenge darin besteht, den Menschen gegenüber allem Schlechten unnachgiebig (‚inflexibilis‘) zu machen, spielen die Überlegungen zu den Begriffen ‚flexibilitas‘ bzw. ‚inflexibilitas‘ dafür eine wichtige Rolle. Sowohl Nachgiebigkeit als auch Unnachgiebigkeit entstehen aus drei Faktoren: Erstens durch den Willen (‚uoluntate‘), also weil man aus eigenem Antrieb so handeln will; zweitens durch eine Übereinkunft (‚consensu‘), womit gemeint ist, dass man sich auf einen Kompromiss in einer Sache einigt, die man eigentlich selbst nicht möchte; drittens aus Geduld (‚patientia‘), wobei man sich langsam an den entsprechenden Umstand gewöhnt und ihn schließlich akzeptiert.562 Während die gute Sanftmut also durch eine Nachgiebigkeit gegenüber allem Guten gekennzeichnet sein muss, zeichnet sich die gute Strenge (‚seueritas bona‘) dadurch aus, der Sünde und dem Laster gegenüber unnachgiebig zu sein.563 Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich die schlechte Strenge (‚seueritas mala‘) irrtümlicherweise gegen das Gute sperren würde. Auf dieser Grundlage lassen sich die ‚species‘ von Sanftmut und Strenge schematisch so darstellen:
561 Spec. uniu. 11, 168 (P, fol. 109rb): „Sunt igitur tres species mansuetudinis. Quidem enim mites modeste sunt et sibi et suis. Quidem uero etsi sint in se modeste mites, tamen suis sunt nimis mites, ut Heli sacerdos qui filios suos peccantes sua lenitate corrumpebat […]. Quidam autem et in se et in alios nimis sunt mites […]. Prima igitur mansuetudo siue lenitas est bona, secunda mala, tertia pessima.“ 562 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 109vbf.): „Est autem inflexibilitas sicut flexibilitas triplex: Flexibilis enim est homo aut uoluntate aut consensu aut patientia. Salomon quoque flexibilis erat non uoluntate, sed consensu ydolatrie suarum uxorum. Heli uero flexibilis erat non uoluntate, non consensu, sed sola patientia peccatis filiorum suorum.“ 563 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 110ra): „Itaque ille bene et penitus inflexibilis est qui peccatis aliorum nec uoluntate nec consensu nec etiam patientia consentit.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
discretio ↕ uirtutes affectiue ↔
amor ↓
↓
mansuetudo (c. 167-169)
mansuetudo mala (c. 168)
mansuetudo bona (c. 168)
↓
odium ↓
↔
↔
↓
↓
seueritas / rigor (c. 170.171)
seueritas bona (c. 171)
seueritas mala (c. 170)
Abb. 45: Die Stellung von Sanftmut und Strenge innerhalb der Tugendlehre.
Zum Abschluss der Kapitel über Sanftmut und Strenge erläutert Radulfus Ardens das komplementäre Verhältnis zwischen den beiden genauer und benennt die daraus entstehenden Laster, die bisher nur als ‚mansuetudo mala‘ und ‚seueritas mala‘ systematisch bestimmt hat. Das ‚uitium contrarium‘ der Sanftmut nennt er dabei Wildheit (‚feritas‘) oder Hartherzigkeit (‚asperitas‘). Der erste Begriff bezieht sich auf die allegorische Beschreibung der Seele als wildes Tier, das erst gezähmt werden muss.564 Die ‚feritas‘ meint demnach einen Zustand, in dem sich die Seelenkräfte in einem chaotischen bzw. von der Ursünde entstellten Zustand befinden, miteinander im Konflikt liegen und ständig durch Unruhen erschüttert werden. Ein solcher Mensch ist völlig unausgeglichen, da er ungestüm jeder Gefühlsaufwallung nachgibt. Diese Unruhe wirkt sich auch auf sein Umfeld aus, sodass er mit seinen Mitmenschen häufig in Streit gerät. Von daher könnte dieses Laster auch gut als ‚ungestümes Wesen‘ übersetzt werden. Hier steht allem Anschein nach erneut stoisches Gedankengut im Hintergrund, da das Komplementärtugendpaar Sanftmut – Strenge offenbar einen Zustand der Ausgeglichenheit und der Seelenruhe beschreibt, den der Stoiker als ‚tranquillitas animi‘ bezeichnen würde. Der zweite Begriff entstammt dabei erneut der plastisch-physikalischen Bildsprache und meint eine innere Verhärtung, die verhindert, dass man sich auf das Gute ausrichtet. Diese Charaktereigenschaft kann passenderweise ‚übertriebene Härte‘ oder ‚Hartherzigkeit‘ genannt werden. Der Strenge ist hingegen die übertriebene Weichheit (‚mollities nimia‘) entgegengesetzt565 – eine schwächliche und inkonsequente Haltung, die bei jedem Widerstand von den eigenen Prinzipien abweicht. Ein zu weichlicher Mensch lässt 564 Spec. uniu. 11, 170 (P, fol. 109vb): „Est autem mansuetudini contraria feritas siue asperitas. Sicut enim animal siluestre est asperum et indomitum et intractabile, sic animus quorundam ferocium est agrestis, ferus et intractabilis.“ 565 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 110ra): „Seueritati uero contraria est nimia mollities […].“
2.8 Der Traktat über Sanftmut und Strenge
343
sich unter Umständen auch auf das Böse ein, um seine eigene ‚Komfortzone‘ nicht verlassen zu müssen. Deshalb müssen sich Sanftmut und Strenge komplementär ergänzen. Radulfus Ardens skizziert nach dieser Bestimmung noch einzelne Fälle, in denen Strenge geboten ist (z. B. gegenüber Sündern oder Unruhestiftern) oder eher Sanftmut weiterhilft (z. B. gegenüber reumütigen Personen).566 Die ‚termini‘ der beiden Tugenden ergeben sich aus diesen recht ausführlichen Zusatzinformationen gewissermaßen von selbst.567
‚mollities nimia‘
‚mansuetudo‘
↔
‚seueritas‘ / ‚rigor‘
‚asperitas‘ / ‚feritas‘
2.8.2 Beschaffenheit und Aufgaben der amativen und oditiven Tugenden im Diesseits und im Jenseits unter der Perspektive der Komplementarität Mit Kapitel 172 endet Buch 11. Radulfus Ardens äußert sich darin abschließend zu den Eigenheiten (‚proprietates‘) der amativen und oditiven Tugenden. Den Schwerpunkt dieser Überlegungen bildet die Frage nach der Bedeutung der affektiven Tugenden im diesseitigen und im jenseitigen Leben. Damit steht in erster Linie der verdienstliche Charakter dieser Tugenden im Fokus, was bereits Johannes Gründel aufgefallen ist.568 Die oditiven Tugenden gehören an sich zum Bereich des diesseitigen Lebens, weshalb sie als zum Exil gehörige Tugenden (‚uirtutes exulatorie‘) bezeichnet werden.569 Diese durchweg negativen Gefühle übernehmen die wichtige Aufgabe, den Menschen auf seine Sünden und Laster hinzuweisen und ihn nach Möglichkeit davon abzubringen.570 Sie wirkend reinigend (‚purgatorie‘), wenn sie ihre Aufgabe erfüllen und den Menschen bereits im Diesseits auf den Pfad der Tugenden lenken.
566 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 110ra): „Mansuetudo quoque temperat seueritatem, ne declinet usque ad feritatem. Debemus ergo esse mansueti cum seueritate et seueri cum mansuetudine. Verumtamen erga penitentes mansueti, erga delinquentes seueri, erga mites mites, erga immites immites et seueri.“ 567 Spec. uniu. 11, 171 (P, fol. 110ra): „Termini igitur mansuetudinis et seueritatis sunt hinc mollities nimia, inde feritas et asperitas nimia. Inter que nos continere debemus, ne uel hinc uel hinc excedamus.“ 568 GRÜNDEL, Verstandestugenden 277: „Im letzten Kapitel des Buches XI hebt Radulfus den verdienstlichen, strafenden und sündenreinigenden Charakter gerade dieser Tugenden besonders hervor.“ 569 Spec. uniu. 11, 172 (P, fol. 110rb): „Possunt quoque uocari exsulatorie uirtutes, quoniam in hoc exilio dumtaxat nos comitantur.“ 570 Spec. uniu. 11, 172 (P, fol. 110rb): „Possumus etiam has nuncupare punitiuas et purgatorias, quoniam puniunt et purgant nos a peccatis. Bonum quippe odium, bonus timor, bona ira, bona tristitia, bona penitentia affligunt animas nostras et arcent nos a peccatis.“
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
Ist der Prozess der Reinigung abgeschlossen, werden sie im Jenseits nicht mehr gebraucht und sind dort auch nicht mehr vorhanden.571 Bleibt der Mensch jedoch auf dem Pfad der Laster, übernehmen sie im Jenseits die Aufgabe des Strafvollzugs (‚punitiue‘). Das bedeutet, dass der Sünder in der Hölle nur noch oditiven Gefühlen ohne jedes (komplementäre) amative Gegengewicht ausgesetzt ist.572 Die amativen Tugenden gehören dagegen im eigentlichen Sinne zum Bereich des jenseitigen Lebens. Daher findet sich auch im Verlauf des Buches mehrfach der Hinweis, dass die amativen Tugenden im Diesseits lediglich als Angeld oder Pfand zu betrachten sind, während ihre Vollendung noch aussteht. Radulfus Ardens weist ihnen im Diesseits die Aufgaben des Trostes (‚consolatorie‘) und der Belohnung (‚remuneratorie‘) zu, da sie dem Menschen den rechten Weg zeigen und ihn in Bedrängnis und Gefahren stärken. Diese Belohnung ist im Diesseits allerdings nur anteilig und wird erst im ewigen Leben vollendet.573 Um das Ziel, auf das sie ausgerichtet sind, deutlich hervorzuheben, werden sie ewige Tugenden (‚eternales‘) genannt. Die von Gott Erlösten werden schließlich ganz von der Qual der oditiven Affekte erlöst und mit den amativen Tugenden in vollendeter Form belohnt. Selbst Hoffnung und Nacheifern, die sich eigentlich auf zukünftige Güter beziehen, bleiben in Form der Freude, die damit verbunden ist, erhalten.574 Doch auch sie können trotz ihrer grundsätzlichen Ausrichtung auf das Gute auf den falschen Weg führen. Gibt sich ein Mensch mit ihren privativen bzw. anteiligen Vorformen im Diesseits zufrieden, betrügt er sich selbst, richtet sich in der Welt ein und kommt vom Pfad der Tugenden ab.575 Betrachtet man diese Ausführungen aus der Perspektive des komplementären Denkens, vervollständigt sich hier ein Bild, das in einzelnen Details über das ganze 11. Buch verteilt sichtbar geworden ist. Die Existenz der oditiven Komplementärtugenden liegt in der ursündlichen Verfasstheit und der Unvollendetheit der diessei571 Spec. uniu. 11, 172 (P, fol. 110rb): „In patria uero eterna penitus relegabuntur. Tunc enim commotio non erit odii non timoris non ire non tristitie nec penitentie.“ 572 Spec. uniu. 11, 172 (P, fol. 110va): „Oditiue uero uertentur eis in supplicium sempiternum, ut semper omnia odiant, omnia timeant, de omnibus irascantur, de omnibus contristentur, de omnibus peniteant.“ 573 Spec. uniu. 11, 172 (P, fol. 110rb): „Ille uero uirtutes, id est amatiue, possunt uocari consolatorie, remuneratorie, eternales. Consolatorie, quoniam per eas consolamur. Consolamur enim in parte inter huius mundi miserias, dum summum bonum diligimus, dum speramus, dum in eo gaudemus, dum in eo gloriamur. Remuneratorie, quoniam eas hic particulariter accipimus in eterne beatitudinis arram et in futuro in perfectionem. Eternales, quoniam nonnumquam excident, sed crescent in plenitudinem sempiternam.“ 574 Spec. uniu. 11, 172 (P, fol. 110rb): „Eternales, quoniam nonnumquam excident, sed crescent in plenitudinem sempiternam. Etsi enim spes et emulatio decident quantum ad exspectationem, tamen semper manebunt quantum ad rem.“ 575 Spec. uniu. 11, 172 (P, fol. 110rb): „In reprobis uero qui istis affectionibus abutuntur, nec utuntur oditiuis affectionibus ad purgationem, sed potius ad pollutionem, nec amatiuis ad consolationem ueram, sed falsam.“
2.9 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 11
345
tigen Welt begründet. Prinzipiell lässt sich die komplementäre Verfasstheit des Menschen, wie sie bereits in der Seelenlehre deutlich zutage tritt, auf diesen Umstand zurückführen. Dass also überhaupt Gegensätze ausgeglichen werden müssen, liegt daran, dass die Seelenkräfte und die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen durch den Sündenfall aus dem Gleichgewicht geraten sind. Von daher ist auch verständlich, dass im Jenseits alle Widersprüche aufgehoben werden. Erst dadurch kann sich der Mensch ganzheitlich und in vollendeter Weise in Liebe auf Gott ausrichten. Umgekehrt sind die oditiven Affekte, die als Manifestation der Zerrissenheit der menschlichen Natur angesehen werden können, im Jenseits die entsprechende Strafe für diejenigen, die nicht von Gott erlöst werden. Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, dass Radulfus Ardens gewissermaßen eine ‚affektive Eschatologie‘ entwickelt hat. Denn das Himmelreich besteht (systematisch gesehen) aus nichts anderem, als in der Gesamtheit der amativen Emotionen in ewiger Vollendung und umfänglicher Sättigung. Die Hölle besteht aus nichts anderem, als den oditiven Lastern, also quälenden negativen Emotionen ohne Aussicht auf Sättigung oder Trost. Damit setzt Radulfus Ardens zum einen noch einmal in eindrucksvoller Art und Weise die Bedeutung der Affekte für die Sittlichkeit des Menschen und eine gelungene Lebensführung in Szene;576 zum anderen zeigt sich, dass er die Komplementarität als eine äußerst leistungsfähige Denkstruktur betrachtet, die letztlich dafür geeignet ist, viele Themenfelder der Theologie zu reflektieren.
2.9 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 11 für die Frage nach der Bedeutung des komplementären Denkens für die Anlage des Werkes Nach dieser ausführlichen Analyse des Textes von Buch 11 gilt es nun, die gewonnenen Ergebnisse zusammenzufassen. Da die zentralen Punkte bereits im Verlauf der Untersuchung genannt wurden, geht es an dieser Stelle v. a. darum, die Erkenntnisse zu strukturieren und im Überblick zu präsentieren. Im Folgenden werden acht besonders wichtige Aspekte angeführt: (1) Zunächst einmal konnten zwei bisher gänzlich unbekannte Komplementärtugendpaare gefunden werden: Erstens das Komplementärtugendpaar ‚bona gratitudo‘ – ‚bona ingratitudo‘, das zu denjenigen Tochtertugenden der Liebe gehört, die aus der Gottes- und Nächstenliebe gemeinsam hervorgehen. Es verkörpert dabei den Aspekt der ‚gratitudo‘, der sich auf den Nächsten richtet. Zweitens das Komple-
576 Dies betont auch ERNST, Passiones animae 163 f.
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2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
mentärtugendpaar ‚congratulatio‘ – ‚compassio‘, das zu den Unterarten der Güte gehört. Eine auffällige Besonderheit stellt dabei die Tatsache dar, dass sowohl die Mitfreude als auch das Mitleiden aus der Liebe erwachsen, sodass sich in diesem Fall zwei amative Affekte und nicht (wie sonst) ein amativer und ein oditiver Affekt komplementär ergänzen. (2) Diese Besonderheit verweist auf mehrere inhaltliche und systematische Probleme im Traktat über die Liebe, der den größten Teil von Buch 11 einnimmt: Erstens lässt sich in diesem Abschnitt mindestens eine größere inhaltliche Lücke ausmachen: Die Behandlung Tugend ‚communitas‘, einer Tochtertugend der Nächstenliebe, wird zwar angekündigt, aber nirgends durchgeführt. Auch ein weiterführender Querverweis fehlt. Zweitens macht Radulfus Ardens gerade im Bereich der Tochtertugenden der ‚caritas in proximum‘ und der Unterarten der ‚benignitas‘ zahlreiche Andeutungen zu möglichen Komplementärtugenden, benennt diese (mit Ausnahme der ‚gratitudo in proximum‘ und der ‚congratulatio‘) aber nicht konkret. Dies ist umso verwunderlicher, da er in mehreren Fällen sogar ‚termini‘ bestimmt, die ein komplementäres Korrektiv geradezu zwingend voraussetzen und die Benennung der jeweiligen Komplementärtugend auch inhaltlich naheliegen würde. Drittens unterlässt er es, neben der Gottes- und Nächstenliebe auch den Aspekt der Eigenliebe klar herauszuarbeiten. Diese Aussparung hat zur Folge, dass etwa bei der Tugend der ‚amicitia‘ das systematische Fundament dafür fehlt, dass die Liebe zum Freund durch die Liebe zu sich selbst begrenzt werden muss. In jedem Fall lässt sich aber sowohl aus der Tatsache, dass ‚congratulatio‘ und ‚compassio‘ in einem komplementären Verhältnis stehen, als auch aus dem mehrfach geäußerten Hinweis, dass die Nächstenliebe nicht soweit gesteigert werden darf, dass sie selbstzerstörerisch wird, erschließen, dass sich bestimmte Aspekte der Liebe auch gegenseitig bzw. ohne den Hass ins rechte Maß setzen. (3) Der Grund für diese inhaltlichen und systematischen Schwierigkeiten lässt sich nicht mit abschließender Sicherheit benennen. Entweder war sich der Autor selbst in machen Fragen unsicher oder er hat seine eigenen Gedankengänge gelegentlich nicht konsequent zu Ende gedacht. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er nicht mehr dazu gekommen ist, die Lücken zu schließen und die Brüche zu glätten. In diesem Fall wäre der Zustand von Buch 11 ein weiterer Beweis dafür, dass das Werk als Ganzes unabgeschlossen ist und Radulfus Ardens möglicherweise bei der Arbeit darüber gestorben ist. (4) An der Tendenz, dass sich die Liebe in gewissen Bereichen selbst ins rechte Maß setzen kann, zeichnet sich bereits ab, dass die Liebe im Vergleich zum Hass der wichtigere Affekt ist. Dieser qualitative Unterschied ist heilsgeschichtlich begründet, da die Liebe grundsätzlich auf Gott und die Erlangung des Glücks und damit auf das Gute ausgerichtet ist, während der Hass und seine Begleiter lediglich dazu da
2.9 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 11
347
sind, dem im Diesseits faktisch vorhandenen Heilsdefizit entgegenzuwirken, welches sich in Form von Sünden und Lastern manifestiert. (5) Davon ausgehend kommt sowohl den amativen als auch den oditiven Affekten eine zentrale Bedeutung im Jenseits zu: Die von Gott Verdammten werden ewig durch die oditiven Affekte gestraft, ohne dass ihnen die amativen Trost spenden. Hingegen wird den Erlösten eine innere Harmonie geschenkt, die das durch die Erbsünde entstandenen Ungleichgewicht auflöst und die amativen Affekte sättigt und vollendet. An diesem Zusammenhang lässt sich gut erkennen, dass Radulfus Ardens komplementäre Gedankengänge nicht nur im Kontext tugendethischer Fragen nutzt. Vielmehr scheint das komplementäre Denken die Art und Weise, in der er Theologie betreibt, insgesamt zu prägen. Im Zuge dessen stellt er bspw. auch Überlegungen dazu an, wie die Gegensätze in der Natur des Menschen im Eschaton in komplementärer Weise aufgehoben werden (vgl. Kapitel 24 über das ‚desiderium‘) und dass auch das Wesen Gottes durch komplementäre Elemente, wie etwa Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, geprägt ist (vgl. Kapitel 88 über den ‚timor filialis‘). (6) Angesehen von den genannten Schwierigkeiten im Traktat über Liebe und Hass lässt der Aufbau von Buch 11 insgesamt einen in sich schlüssigen Aufbau und eine konsequent umgesetzte Programmatik erkennen. Dies zeigt sich besonders deutlich im methodischen Bereich: Radulfus Ardens geht stets so vor, dass er die jeweiligen Affekte zunächst ohne ethische Wertung beschreibt. Anschließend unterteilt er sie in mehrere Unterarten und bewertet sie aus tugendethischer Perspektive. Schließlich bezieht er bestimmte ‚species‘ der beschriebenen Emotionen in Gestalt eines Komplementärtugendpaares aufeinander. Dadurch macht er deutlich, dass die Affekte des Menschen von ihrem Wesen her weder gut noch schlecht sind, sondern dass es darauf ankommt, wie man sie gestaltet und dass man sie ins Gleichgewicht bringt. (7) Die sechs Komplementärtugendpaare, die nach Liebe und Hass dargestellt werden, sind auf der Grundlage dieser Methodik sehr übersichtlich gestaltet und stellen damit unter Beweis, dass die Lehre von den Komplementärtugenden großes Potential für eine tugendethische Reflexion über das sittlichen Könnens des Menschen hat. (8) Wie eng die spezielle Tugendlehre mit der Seelenlehre zusammenhängt, zeigt sich im Traktat über Sanftmut und Strenge. Es konnte nämlich gezeigt werden, dass es sich dabei nicht nur um ein weiteres Komplementärtugendpaar handelt, sondern dass dieser Abschnitt den systematischen Schlussstein von Buch 11 bildet: Denn Sanftmut und Strenge repräsentieren nicht nur die Balance aller amativen und oditiven Emotionen, sondern sind zusätzlich als Ergebnis des Ausgleichsprozesses zwischen den ‚uirtutes amatiue‘ und den ‚uirtutes discretiue‘ anzusehen. Von daher zeigt sich am achten Komplementärtugendpaar von Buch 11, wie die komplementä-
348
2 Die weitere Entfaltung der amativen und oditiven Tugenden
ren Bezüge zwischen den einzelnen Seelenkräften konkret am Verhalten des Menschen sichtbar werden. Somit können die vierte und fünfte in der Einleitung formulierte Frage für den Bereich von Buch 11 als beantwortet gelten: Denn zum einen wurde gezeigt, welche Einzeltugenden aus den beiden Grund-Affekten Liebe und Hass entstehen. Dabei hat sich an dem beachtlichen Detailreichtum gerade bei den begrifflichen Unterteilungen gezeigt, dass Radulfus Ardens tatsächlich darum bemüht ist, die Gesamtheit der menschlichen Emotionen darzustellen. Ebenso konnte geklärt werden, dass der Autor die einzelnen Affekte nicht unverbunden nebeneinanderstellt, sondern eine zeitliche Abfolge zugrunde legt, die die Dynamik des Prozesses veranschaulicht, in dem die einzelnen Affekte aus der ‚amabilitas‘ und der ‚odibilitas‘ hervorgehen. Zum anderen wurde herausgearbeitet, dass Buch 11 insgesamt nach komplementären Gesichtspunkten aufgebaut ist und dass die bereits in der Vorrede hervorgehobene, strukturgebende Funktion der Komplementarität von Liebe und Hass – abgesehen von einigen schwer verständlichen Stellen im Traktat über die Liebe – weitestgehend einheitlich und kohärent umgesetzt wurde. Bevor im dritten Teil der Arbeit der Bereich der kontemptiven Tugenden genauer beleuchtet wird, ist noch zu fragen, wie diese Betrachtungsweise von Liebe und Hass traditionsgeschichtlich einzuordnen ist.
3 Die Affektenlehre im Speculum universale im exemplarischen Vergleich mit den antiken Grundlagen und mittelalterlichen Ansätzen Im Zuge der detaillierten Analyse der einzelnen amativen und oditiven Tugenden und ihres komplementären Verhältnisses zueinander wurde deutlich, dass in Buch 11 – abgesehen von einigen inhaltlichen Lücken und ungeklärten systematischen Einzelfragen – insgesamt eine kohärente und in sich schlüssige Programmatik umgesetzt wird. Radulfus Ardens folgt dabei im Prinzip konsequent dem anthropologisch fundierten Leitgedanken, dass die beiden Grundaffekte Liebe und Hass in einem positiven Spannungsverhältnis stehen und sich gegenseitig ausbalancieren bzw. ins richtige Maß bringen. Dass dieser Ausgleichsprozess ausschließlich zwischen ‚amor‘ und ‚odium‘ und ohne Einflussnahme der nicht-affektiven Seelenkräfte vonstattengeht, zeigt sich allein schon daran, dass weder die ‚uirtutes discretiue‘ noch die ‚mores exterioris hominis‘ in Buch 11 eine Rolle spielen und lediglich dann erwähnt werden, wenn einzelne Tugenden oder Laster mehreren Seelenkräften zugeordnet werden können. Bereits zu Beginn des vorliegenden Teils wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit Radulfus Ardens diesen Grundgedanken und die damit verbundene Konzeption eigenständig entwickelt oder dabei auf Vorlagen zurückgegriffen hat. Sie lässt sich nur beantworten, indem die Affektenlehre im Speculum universale mit anderen Ansätzen verglichen wird. Von daher wird zum Abschluss der Darlegungen über die amativen und oditiven Tugenden der Versuch unternommen, den Gedanken von der Komplementarität zwischen Liebe und Hass traditionsgeschichtlich einzuordnen. Dabei sind zwei Vorbemerkungen zu beachten: Erstens kann eine solche Spurensuche nicht nur auf zeitgenössische bzw. mittelalterliche Konzepte beschränkt bleiben, sondern muss auch die antiken Grundlagen in den Blick nehmen. Damit sind in erster Linie die Positionen der hellenistischen Philosophenschulen gemeint, die im 12. Jahrhundert bspw. durch die Werke römischer Rezipienten wie Cicero und Seneca aber auch durch die Literatur der Kirchenväter bekannt waren. Eine besonders wichtige Rolle spielten dabei die Schriften des Augustinus, der die antik-paganen Affektenlehren bereits teilweise christlich adaptiert und transformiert hatte.577 Davon ausgehend fand in der Theologie des Mittelalters eine rege Diskussion über die Affekte statt, die einerseits als Zusammenfassung der antiken Traditionen gelten kann, andererseits aber auch durch ihre Komplexität und die große Zahl von Neuansätzen bzw. Umarbeitungen vom Niveau der Durchdringung her deutlich darüber
577 Die Bedeutung der Überlegungen Augustins für die mittelalterliche Diskussion über die Affekte ist in der Fachliteratur unbestritten (vgl. z. B. KOCH, Emotion und Affekt 13 f.). https://doi.org/10.1515/9783110758924-011
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3 Die Affektenlehre im Speculum universale
hinausging.578 Zweitens ist der Emotionsdiskurs im Mittelalter eng mit der Tugendlehre579 und damit mit der Anthropologie verknüpft, die – wie bei Radulfus Ardens auch – in Gestalt einer Seelenlehre begegnet580. Von daher ist es für den hier vorgenommenen Vergleich unerlässlich, neben den Aussagen zu den Affekten jeweils auch die zugrundeliegenden Vorstellungen über die Seele und ihre Kräfte in den Blick zu nehmen. Im Folgenden geht es also nicht darum, die jeweiligen Ansätze ausführlich darzustellen. Das Ziel der kurzen Gegenüberstellungen besteht vielmehr darin, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob sich der grundlegende Gedanke des Radulfus Ardens – nämlich, dass sich die emotionalen Kräfte der Seele gegenseitig ohne direkten Einfluss der Vernunft ins Gleichgewicht bringen – irgendwo finden lässt, und wenn nicht, ob Vorarbeiten oder in diese Richtung weisende Vorgängerkonzeptionen auffindbar sind. Bei der Betrachtung der antiken und mittelalterlichen Ansätze können v. a. drei Fragen als Leitfaden dienen: Werden die Affekte als solche ethisch bewertet und wenn ja, wie? Welche Bedeutung nehmen die Emotionen innerhalb der Seele ein und in welchem Verhältnis stehen sie zu den übrigen Seelenkräften? Welchen Einfluss haben die Emotionen auf die Herausbildung der Tugenden und Laster? Die Untersuchung gliedert sich in drei Abschnitte: In einem ersten Schritt werden die grundlegenden Aussagen der hellenistischen Philosophenschulen zu den Affekten in den Blick genommen, um im Anschluss daran skizzieren zu können, wie Augustinus diese pagan-philosophischen Konzepte in die christliche Gedankenwelt integriert hat. In einem zweiten Schritt werden zunächst mit den Affektkonzeptionen bei Petrus Abaelardus und Bernhard von Clairvaux zwei Neuansätze des 12. Jahrhunderts beleuchtet, die für die weitere Diskussion große Bedeutung hatten und eine ganz unterschiedliche Grundausrichtung aufweisen, weshalb sie sich für eine einordnende Gegenüberstellung in besonderer Weise eignen.581 Nachdem durch diese Untersuchungen – so viel kann vorweggenommen werden – deutlich wurde, dass sich im Denken Bernhards einige bedeutsame Parallelen zur Affektenlehre des
578 So wird bspw. bei HENGELBROCK, Affekt 91 f. die mittelalterliche Affektenlehre als abschließende Diskussion der antiken Traditionen gewertet. Ähnlich äußern sich auch SCHÄFER / THURNER, Einführung 8. 579 Vgl. KOCH, Emotion und Affekt 13.16. Die Behandlung der Affekte in Zusammenhang mit der Rhetorik nimmt dagegen im Mittelalter nur einen geringen Raum ein, obgleich auch hier keinen Bruch zwischen Antike und Mittelalter festzustellen ist. In den entsprechenden Abhandlungen (wie bspw. De arte praedicandi des Alanus von Lille) geht es fast ausschließlich um Predigtunterricht (vgl. dazu VOLLMANN, Pathos 702–704). 580 Vgl. KOCH, Emotion und Affekt 13. 581 So werden die Ansätze dieser beiden Denker in der Forschungsliteratur immer wieder als richtungsweisende Neuansätze am Beginn der Scholastik gewertet, die in entscheidenden Punkten über Augustinus hinausgehen (vgl. bspw. KOCH, Emotion und Affekt 15 f.; KNUUTTILA, Emotions 177– 205; KING, Emotions 171–173; LAARMANN, Passiones animae 1770).
3.1 Die antiken Grundlagen und ihre christliche Aneignung
351
Radulfus Ardens ausmachen lassen, geht die Untersuchung dieser Spur noch etwas genauer nach. Im Zuge dessen wird der Blick auf den pseudoaugustinischen Traktat De spiritu et anima gerichtet, der im Umfeld der sogenannten ‚Zisterzienserschule‘ einzuordnen ist. Diese bislang vergleichsweise wenig erforschte Schrift war im 12. Jahrhundert weit verbreitet582 und erweist sich bei genauerer Betrachtung zumindest in bestimmten systematischen Aspekten als lohnendes Vergleichsobjekt auf der Suche nach den Quellen des Speculum universale. In einem dritten Schritt werden schließlich die Erträge der Spurensuche zusammengefasst und der Versuch unternommen, die Stellung der Affektenlehre des Raulfus Ardens im 12. Jahrhundert zu bestimmen. Die Geschichte der Emotionen und Emotionstheorien erfahren seit einigen Jahren in der philosophischen Forschung große Aufmerksamkeit.583 Gerade die Positionen der hellenistischen Philosophenschulen und des Augustinus wurden bereits mehrfach thematisiert und teilweise ausführlich beschrieben. Zu den Affekten bei Petrus Abaelardus und Bernhard von Clairvaux gibt es zwar noch keine ausführlichen Gesamtdarstellungen, jedoch sind dazu in letzter Zeit recht umfangreiche Beiträge erschienen, in denen die zentralen Aspekte der beiden Ansätze auf der Grundlage der lateinischen Quellentexte präzise herausgearbeitet wurden. Von daher kann sich der hier vorgenommene Vergleich, der ja keinen Erkenntnisgewinn zu den Vergleichstexten selbst, sondern nur zum Speculum universale zum Ziel hat, auf bereits vorhandenen Vorarbeiten stützen und die Untersuchung der Originaltexte weitestgehend vermeiden. Die für die Affekte bedeutsamen Aussagen aus De spiritu et anima müssen dagegen aus dem lateinischen Text selbst entnommen werden, da dieses Thema in der Forschung bisher noch nicht genauer beleuchtet wurde.
3.1 Die antiken Grundlagen und ihre christliche Aneignung als Ausgangspunkt der mittelalterlichen Konzeptionen Die mittelalterliche Debatte über die Affekte hat mit der antiken u. a. zwei zentrale Gemeinsamkeiten: Zum einen den Begriff selbst. Die Autoren beider Epochen verstanden Affekte, Gefühle und Emotionen als mentale Phänomene bzw. psychische Erregungen und bedienten sich dabei – ausgehend vom griechischen Wort
582 Vgl. dazu z. B. LAARMANN, Passiones animae 1770. 583 Die zeigt sich u. a. an einer beachtlichen Zahl neuerer und neuester Gesamtdarstellungen, in denen antiken und mittelalterlichen Konzeptionen stets eine hohe Bedeutung zugemessen wird (vgl. bspw. KNUUTTILA, Emotions; LANDWEER / RENZ, Klassische Emotionstheorien; GOLDIE, Philosophy of Emotion; KAPPELHOFF, Emotionen; BESNIER / MOREAU / RENAULT, Les passions; CAIRNS / DAMIEN, Emotions).
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3 Die Affektenlehre im Speculum universale
‚pathos‘ – Begriffen wie ‚affectus‘ (bzw. ‚affectio‘), ‚passio‘ oder ‚perturbatio‘.584 Damit kommt ein Verständnis zum Ausdruck, demzufolge Emotionen etwas im Wesen des Menschen natürlich Angelegtes sind, dem das menschliche Individuum passiv ausgesetzt ist.585 Zum anderen die ethisch-eudaimonistische Perspektive auf das Thema. So unterschiedlich die verschiedenen Positionen im Einzelnen erscheinen mögen, so kommen sie doch alle in dem Punkt überein, dass die Affekte einen entscheidenden Einfluss darauf haben, ob der Mensch glücklich wird oder nicht. Damit ist auch die Vorstellung verknüpft, dass sich die Affekte zunächst in einem chaotischen Urzustand befinden und einer ordnenden Therapie unterzogen werden müssen.586 So formten sich die unterschiedlichen Positionen der vier philosophischen Hauptströmungen – also Platonismus, Aristotelismus, Stoa und Epikureismus – letztlich v. a. an der Frage aus, wie die Therapie der Affekte gestaltet werden muss.
3.1.1 Die unterschiedlichen Vorstellungen zur ‚Therapie der Affekte‘ in den hellenistischen Philosophenschulen (1) In den Dialogen Platons wurden Aussagen zu den Affekten getroffen und Fragestellungen formuliert, die im weiteren Verlauf der Debatte immer wieder aufgegriffen wurden und damit gewissermaßen als ihr Ausgangspunkt gelten können. Obwohl die relevanten Informationen über viele Einzelstellen verteilt sind und sich nirgends eine grundlegende Definition des Begriffs ‚pathos‘ findet, konnten in der Forschung Grundzüge einer weitgehend kohärenten Affekttheorie bei Platon herausgearbeitet werden.587 Hinsichtlich der Frage, ob sie für das Erreichen der ‚eudaimonia‘ zu- oder abträglich sind, werden die Affekte durchgehend negativ bewertet, da sie mit der Vernunft – dem einzige Mittel zur Glückseligkeit – zumeist im direkten Konflikt stehen.588 Der Grund für diesen disharmonischen Zustand liegt in der Dreiteilung der Seele: Platon unterscheidet zwischen einem vernünftigen (‚logistikon‘) auf der einen und zwei emotionalen Seelenteilen – dem begehrend-triebhaften (‚epithymetikon‘) sowie dem muthaft-zornigen (‚thymoeides‘) – auf der anderen Seite. Das ‚logistikon‘
584 Vgl. HUMAR, Antike Emotionstheorien 3. Die allgemeine Akzeptanz dieser Vorstellung kommt auch bei Radulfus Ardens im 45. Kapitel von Buch 1 zum Ausdruck; dort gibt er unter Berufung auf Augustinus die damals gängigen Begrifflichkeiten an (vgl. Punkt 2.1 im ersten Teil der Arbeit). 585 Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen und konzeptuellen Überschneidungen meinen die in dieser Arbeit verwendeten deutschen Begriffe ‚Emotion‘, ‚Affekt‘, ‚Gefühl‘, ‚Leidenschaft‘ usw. dasselbe Phänomen. In ähnlicher Weise verfahren auch andere Autoren (vgl. BRACHTENDORF, Emotionen 13 oder KÖPF, Leidenschaften 97). 586 Vgl. dazu z. B. BRACHTENDORF, Emotionen 13–15; HUMAR, Antike Emotionstheorien 11. 587 Der folgende Abschnitt basiert in erster Linie auf dem Beitrag ERLER, Platon. Er bietet eine fundierte, leicht verständliche und zugleich aktuelle Darstellung der Thematik. 588 Vgl. HUMAR, Antike Emotionstheorien 4.
3.1 Die antiken Grundlagen und ihre christliche Aneignung
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ist dabei auf den Erwerb von Wissen ausgerichtet, während das ‚epithymetikon‘ Sitz der körperbezogenen Begierden ist und das ‚thymoeides‘ einen Willen entwickelt und Urteile über die eigene Person bzw. andere fällt.589 Dass diese drei Teile keineswegs harmonisch aufeinander abgestimmt sind, drückt Platon in verschiedenen Bildern aus.590 In all diesen (auch im Mittelalter bekannten) Allegorien kommt erstens zum Ausdruck, dass die Affekte negative Auswirkung für den Menschen haben, wenn sie nicht durch die Vernunft gebändigt werden, dass sie zweitens auch im gebändigten Zustand keinen aktiven Beitrag zum Glück des Menschen liefern und drittens hierarchisch eindeutig unterhalb der Vernunft stehen. Obgleich hin und wieder auch einzelne Tugenden mit den Affekten in Verbindung gebracht werden591, überwiegt demnach eine Betrachtungsweise, die die Emotionen als ‚Störenfriede‘ ansieht, die durch Gewöhnung, Maß, Vernunft, Übung und vernunftgeleitete Situationsanalysen vertrieben oder zum Schweigen gebracht werden müssen – ein Ideal, dass in der literarischen Sokrates-Figur konkrete Gestalt annimmt. Diese Lehre blieb im Kern die ganze Antike über bis in den Neuplatonismus hinein unverändert592 und war in Grundzügen auch im Mittelalter allgemein verbreitet. Von daher verwundert es auch nicht, dass Radulfus Ardens in seiner Seelenlehre zunächst von der platonischen Dreiteilung der Seele ausgeht. Jedoch widerspricht er ihr nicht nur hinsichtlich der Bezeichnungen593, sondern legt seiner Tugendethik auch ein völlig anderes Verhältnis von Vernunft und Affekten zugrunde: Im Speculum universale sind die beiden Kräfte nicht nur gleichwertig, sondern die Balance zwischen den beiden Grundemotionen erfolgt auch noch völlig losgelöst von der Vernunft. Damit umgeht Radulfus Ardens übrigens eine Problematik, auf die schon in der Antike immer wieder – gerade von den Stoikern – hingewiesen wurde: Wenn die Affekte der Vernunft gehorchen können, müssten sie eigentlich auch mit dem vernünftigen Seelenteil verbunden oder zumindest vernunftzugänglich sein, was wiederum die Eigenständigkeit der Seelenteile infragestellt. Eine zumindest assoziative Parallele zur Vorstellung der Komplementarität zwischen Liebe und Hass findet sich im Dialog Philebos: Dort werden die
589 Diese Seelenlehre entfaltet Platon v. a. im Dialog Politeia (vgl. R. 435c-e; 439d-e; 440af.e; 602e603a). 590 So spricht er im Phaidros (vgl. Phdr. 264af.) von einem Seelenwagen, wobei der Wagenlenker für die Vernunft und die beiden in unterschiedliche Richtungen drängenden Pferde für die Affekte stehen. In der Politeia (vgl. R. 588b-590d) beschreibt er die Seele als ein Ungeheuer mit Menschenverstand, Löwenmut und einer vielköpfigen Hydra von Begierden und in den Nomoi (vgl. Lg. 644d645b) stellt er den Menschen als Marionette dar, die von goldenen (der Vernunft) und von eisernen Fäden (den Affekten) bewegt wird (vgl. ERLER, Platon 23–25). 591 So werden bspw. die Tapferkeit der Furcht und die Besonnenheit der Begierde oder der Lust zugeordnet (vgl. ERLER, Platon 25). 592 So weicht auch Plotin von der Dreiteilung der Seele nicht ab und folgt Platons Sichtweise auf die Affekte weitestgehend (vgl. CALOURI, Plotin 126). 593 Vgl. ausführlich Punkt 1.1.2 des ersten Teils der Arbeit sowie JANOTTA, Philosophi errauerunt 133–138.
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Gefühle differenzierter bewertet und als komplexe Gebilde aus Lust und Schmerz beschrieben.594 Jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass dieser Einzelaspekt im 12. Jahrhundert bekannt war, da man das Werk im lateinischen Westen nicht kannte. (2) Auch im Werk des Aristoteles müssen die Einzelinformationen zu den Affekten zusammengetragen werden und es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs, dafür aber mehrere Listen, in denen wichtige Emotionen zusammengestellt sind.595 Insgesamt lassen sich die einzelnen Aussagen folgendermaßen verdichten:596 Aristoteles betrachtet die ‚pathe tes psyches‘ als Widerfahrnisse der Seele, die Lust oder Schmerz zur Folge haben und mit körperlichen Veränderungen einhergehen. Ethisch werden sie als neutral bewertet.597 Obgleich sie stets aus kausalen Zusammenhängen entstehen und bestimmte Zwecke verfolgen, sind sie nicht unbeeinflussbar, sondern hängen eng damit zusammen, welche Vorstellungen der Betroffene vom jeweiligen Sachverhalt hat und welche Urteile er darüber trifft. Wieder ergibt sich dieser Zusammenhang aus der Seelenlehre: Aristoteles geht auf einer ersten Ebene von einem rationalen (‚logon‘) und einen irrationalen (‚alogon‘) Seelenteil aus. Diese beiden unterteilt er auf einer zweiten Ebene in weitere Unterteile. Dabei ist der vegetative Teil (‚phytikon‘) gänzlich irrational, während der strebende bzw. affektive Seelenteil (‚orektikon‘) mit dem der praktischen Vernunft (‚logikon‘) in Verbindung steht, der sich seinerseits von der theoretischen bzw. reinen Vernunft (‚epistemonikon‘) unterscheidet.598 Auf dieser Grundlage stellt sich Aristoteles die Entstehung der ethischen Tugenden so vor, dass das ‚logistikon‘ – in Gestalt der Klugheit – das ‚oretikon‘ in die richtigen Bahnen lenkt und sich dabei habituelle Dispositionen entwickeln. Der Besitzer solcher ‚ethischer Tugenden‘ empfindet schließlich nicht mehr aufgrund von willkürlichen und möglicherweise falschen Vorstellungen Lust, sondern nur noch beim Tun des Guten.599 Ausgehend von dem Grundgedanken, dass die Tugend in der Mitte zwischen zwei negativen Extremen steht (‚mesotes‘-Lehre), betont Aristoteles, dass es nicht darum geht, keine Emotionen zu empfinden. Vielmehr muss die emotionale Reaktion der jeweiligen Situation entsprechen und darf nicht zu schwach oder zu stark ausfallen. Im Anschluss daran
594 Vgl. ERLER, Platon 37; KNUUTTILA, Emotions 18–24. 595 Vgl. HUMAR, Antike Emotionstheorien 5 sowie RAPP, Aristoteles 49. Insgesamt finden sich drei Listen: Eine in der Nikomachischen Ethik mit elf (vgl. EN II 4, 1105b21–23), eine weitere in De anima mit acht (vgl. De An. I 1, 403a16–18) und eine letzte in der Eudemischen Ethik mit vier Affekten (vgl. EE II 2, 1220b12–14). 596 Dass Aristoteles eine einheitliche Affekttheorie entwickelt hat, gilt in der Forschung als gesichert (vgl. KREWET, Theorie der Gefühle 7–76). 597 Vgl. dazu EN II, 4, 1105b21–23 sowie RAPP, Aristoteles 48–50. 598 Vgl. dazu v. a. De An. II, 4, 416a18–20 und ebd. III, 10, 433a21–25 sowie FORSCHNER, Stoa 236. 599 Vgl. dazu RAPP, Aristoteles 60–63.
3.1 Die antiken Grundlagen und ihre christliche Aneignung
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entwickelten die Peripatetiker die Lehre von der ‚metriopatheia‘, die bereits in der Antike – bspw. in Ciceros Tusculanae disputationes – kontrovers diskutiert wurde. Obgleich ein Großteil der aristotelischen Schriften (und gerade die Nikomachische Ethik) im 12. Jahrhundert noch nicht zugänglich war, ist davon auszugehen, dass sowohl die Seelenkonzeption als auch die Metriopathie-Lehre in Grundzügen bekannt waren.600 Dass auch Radulfus Ardens damit vertraut war, zeigt sich bspw. an seiner Seelenlehre, da auch er von einer vegetativen Seelenkraft ausgeht, die sich in der platonischen Tradition so nicht findet.601 Die Affektkonzeption des Aristoteles scheint auf den ersten Blick einige Ähnlichkeit mit der im Speculum universale zu haben: So bewertet Aristoteles die Emotionen grundsätzlich positiv, wenn sie entsprechend ‚trainiert‘ wurden und weist ihnen eine wichtige Funktion beim Erwerb der Tugenden zu. Jedoch lassen sich v. a. zwei wichtige Unterschiede ausmachen: Zum einen sind die Affekte bei Aristoteles immer noch eindeutig der Vernunft untergeordnet und bedürfen ihrer Anleitung602, sodass die Tugenden nicht unmittelbar aus dem affektiven Seelenteil entstehen; zum anderen geht Aristoteles letztlich nur von einem einzelnen affektiven Seelenteil aus und thematisiert das Verhältnis der Affekte untereinander kaum. (3) Die Affektenlehre stellt das Kernelement der Ethik der Stoa dar und wird dementsprechend auch in der neueren Forschung ausführlich besprochen.603 Die Stoa versteht unter den ‚pathe‘ – im Gegensatz zu den ‚eupatheiai‘ – ausschließlich negative bzw. falsche Gefühle, weshalb der Terminus automatisch eine moralische Bewertung enthält. Die Stoiker bemühten sich darum, die Leidenschaften systematisch zu ordnen und benannten vier Grundaffekte, wobei ihnen die Zeit und die Beurteilung des jeweiligen Gegenstandes als erwünscht oder unerwünscht als Kategorien dienten. Die vier Kombinationsmöglichkeiten lassen sich der folgenden Übersicht entnehmen:604
600 V. a. durch die Werke des Boethius oder auch lateinische Übersetzungen der entsprechenden Werke des Nemesius von Emesa oder des Johannes von Damaskus (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 104 f.). 601 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 35 f. 602 Vgl. RAPP, Aristoteles 66 f. 603 Vgl. FORSCHNER, Stoa 224 n. 410 f. 604 Vgl. z. B. HUMAR, Antike Emotionstheorien 8. Die lateinischen Begriffe wurden aus Ciceros Tusculanae disputationes (vgl. Tusc. 3, 24 f. (p. 329 f.) sowie ebd. 4, 14 (p. 368)) entnommen. Diese Lehre von den vier Grundaffekten (der sogenannte ‚stoische Tetrachord‘) fand eine derart große Verbreitung, dass er auch in der Spätantike und im Mittelalter geradezu als Allgemeinwissen zu der Thematik angesehen wurde (vgl. SCHÄFER, Johannes Damascenus 69).
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gegenwärtig
zukünftig
erwünscht
Vergnügen (‚voluptas‘ / ‚laetitia‘)
Begehren (‚cupiditas‘ / ‚libido‘)
unerwünscht
Leiden (‚aegritudo‘)
Furcht (‚metus‘)
Abb. 46: Die vier Grundaffekte in der Stoa.
Jeder dieser Affekte ist ein Entscheidungsakt605, der unmittelbar aus einer kognitiven Einstellung bzw. einer Grundüberzeugung erwächst, die jedoch ein falsches Werturteil enthält. Damit sind ‚pathe‘ Akte der fehlgeleiteten Vernunft und unterliegen prinzipiell der Kontrolle des Menschen. Auch diese Sichtweise gründet auf anthropologischen Vorstellungen: Die Stoa geht – im erklärten Gegensatz zu Platon und Aristoteles – nicht von einer Seele mit verschiedenen Teilen bzw. Vermögen aus, sondern betrachtet den ‚logos‘ als das leitende Organ des Menschen, der nicht nur Fühlen, Denken und Streben in sich vereint, sondern als körperlich gedachtes Pneuma auch die leibliche Dimension des Menschen repräsentiert.606 Praktisch gesehen spiegelt sich in den Affekten der Weltbezug des jeweiligen Menschen wieder. Wenn das falsche Werturteil nicht geändert, sondern immer wieder bestätigt wird, können sich Affekte in pathologische Dispositionen bzw. Laster verwandeln, die sich aufgrund der langen Gewohnheit und der Selbstverstärkung kaum mehr kontrollieren lassen.607 Für die Therapie bzw. Austilgung der Affekte ist es daher notwendig, das Wesen der Dinge genau zu unterscheiden und sie in drei Kategorien einzuteilen, nämlich in gute (die Tugend), schlechte (die Laster) und solche, die dazwischenliegen (die sogenannten ‚adiaphora‘). Gerade zu den unzuverlässigen und vergänglichen Adiaphora, die sich in eher nützliche, eher schädliche Dinge und völlig wertlose Gegenstände untergliedern lassen, muss der Mensch die richtige innere Einstellung einnehmen.608 Nur wenn das gelingt, rufen sie keine Affekte, sondern durch die rechte Vernunft gemäßigte und daher ‚gute‘ Emotionen (‚eupateiai‘) hervor.609 Daran zeigt sich, dass es beim stoischen Ideal der ‚apatheia‘ nicht um eine dumpfe Gefühllosigkeit geht, sondern darum, dass die Emotionen Ausprägungen der rechten Vernunft sind.
605 Die griechischen Worte ‚krisis‘ und ‚doxa‘ wurde im Lateinischen meist mit ‚opinio‘ oder ‚iudicium‘ wiedergegeben (vgl. FORSCHNER, Stoa 241). 606 Vgl. FORSCHNER, Stoa 225–235. 607 Diese Meinung vertrat in der älteren Stoa v. a. Chrysipp (vgl. FORSCHNER, Stoa 226 f.). Sie schlägt sich in der jüngeren Stoa bspw. in Senecas Beschreibung der Affekte in De ira nieder. 608 Vgl. HOSSENFELDER, Philosophie 45–69; FORSCHNER, Stoa 188 f. 609 In Gegenüberstellung zu den vier oben genannten ‚pathe‘ ergeben sich drei ‚eupateiai‘: vernünftiges Streben, vernünftige Freude und vernünftige Vorsicht. Der Schmerz hat, da er aufgrund der Natur des Gegenstandes per se unberechtigt ist, kein vernünftiges Pendant (vgl. FORSCHNER, Stoa 225).
3.1 Die antiken Grundlagen und ihre christliche Aneignung
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Diese im Detail hochkomplexe und keineswegs einheitliche Lehre wurde hier nur mit groben Strichen nachgezeichnet. Eine vereinfachende Skizze genügt jedoch deshalb, weil die stoische Affekttheorie auch im Mittelalter nur in Grundzügen bekannt war, dafür aber in dieser v. a. durch Seneca610 und Cicero vermittelten Form sehr breit rezipiert wurde. Gerade die stoische Vierteilung der Affekte galt geradezu als klassisch und war allgemein bekannt. Radulfus Ardens war damit – das konnte bereits Johannes Gründel zeigen – gut vertraut. Dass er im Speculum universale immer wieder längere Seneca-Zitate präsentiert, spricht dafür, dass er der stoischen Ethik einen hohen Wert beimaß. Besonders hinsichtlich des ‚contemptus‘, der sich als Tugend offensichtlich genau zu diesen Gegenständen positioniert, die nach stoischer Lehre als ‚adiaphora‘ gelten, lässt sich die Rezeption der stoischen Güterlehre kaum verleugnen.611 Gerade im Bereich der Affektenlehre lässt die Konzeption des Radulfus Ardens aber fundamentale Unterschiede erkennen: Erstens übernimmt er – ganz anders als die meisten seiner Zeitgenossen – die Aufteilung in die vier Grundaffekte Vergnügen, Leiden, Begehren und Furcht offenbar bewusst nicht. Zwar kommen alle vier Emotionen in seinem Werk vor, jedoch leitet er sie alle aus den drei Grundemotionen Liebe, Hass und Geringschätzung her und spricht ihnen damit indirekt ihre grundlegende Bedeutung ab. Zweitens ist der Gedanke, dass aus den Affekten Tugenden entstehen, mit der stoischen Lehre grundsätzlich nicht kompatibel. Zwar mag die Vorstellung von den ‚eupatheiai‘ als zulässige (weil geordnete) Affekte ihm oberflächlich ähneln, jedoch handelt es sich dabei auf den zweiten Blick um nichts anderes als emotionale Ausprägungen der rechten Vernunft, die im Idealfall ebenfalls nicht vorhanden sein sollten. Dieser Befund weist bereits auf den dritten und entscheidenden Unterschied hin: Die Annahme dreier affektiver Seelenvermögen, die gegenüber der ‚ratio‘ auch noch völlig eigenständig sind, widerspricht nicht nur der stoischen Vorstellung von der spezifischen Einheit des Menschen im ‚logos‘612 fundamental, sondern auch ihrer kognitivistischen Sichtweise auf die Affekte. Von daher kann man bei Radulfus Ardens gerade in Bezug auf die Affekte nur von einer sehr punktuellen Stoa-Rezeption sprechen. (4) Welche Ansichten die Epikureer über die Affekte vertraten, lässt sich aufgrund der Quellenlage nur vage umreißen.613 In jedem Fall kamen sie grundsätzlich mit den Stoikern darin überein, dass die Affekte persönliche Wertvorstellungen bzw. Urteile über äußere Gegenstände darstellen. Anders als diese gingen sie aber offenbar davon aus, dass die Emotionen eine Orientierungshilfe dabei bieten, welche Ge-
610 Gerade die Affektenlehre Senecas unterscheidet sich abgesehen von einigen Hinzufügungen kaum von derjenigen der älteren Stoa (vgl. BUDDENSIEK, Stoa und Epikur 76). Für Cicero gilt Ähnliches (vgl. HUMAR, Antike Emotionstheorien 10 f.). 611 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 376. 612 Vgl. FORSCHNER, Stoa 226; BUDDENSIEK, Stoa und Epikur 71.74. 613 Vgl. HUMAR, Antike Emotionstheorien 9.
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3 Die Affektenlehre im Speculum universale
genstände aufgrund ihrer schädlichen Wirkung unbedingt gemieden werden müssen. Da die Epikureer den Zustand der Lust als Abwesenheit von Schmerz definierten, kommt dieser Funktion der Affekte einige Bedeutung zu. Um eine echte Orientierung bieten zu können, müssen sie jedoch in den natürlichen Urzustand zurückentwickelt werden. Dieser ist dann erreicht, wenn die Vernunft von allen falschen bzw. leeren Begierden (‚epithymiai kenai‘) gereinigt ist. Damit sind Ausrichtungen auf scheinbare (möglicherweise durch das soziale Umfeld nahegelegte) Güter gemeint, die der natürlichen Ausrichtung des Menschen überhaupt nicht entsprechen und zudem keine Grenze der Befriedigung kennen. Diese Therapie geschah offenbar v. a. in Form einer äußeren Unterweisung.614 Dass die epikureeische Philosophie im Mittelalter wenig Beachtung fand, ist allgemein bekannt. Einige zentrale Aussagen waren immerhin durch die Verse des Horaz bekannt, der auch von Radulfus Ardens häufig zitiert wird. Abgesehen von dem Ideal der Selbstbeschränkung – ein Gedanke, der sich besonders in Buch 12 im Kontext des ‚contemptus mundi‘ und des ‚contemptus sui ipsius‘ findet – und der Vorstellung, dass eine Reinigung von leeren bzw. bedeutungslosen Bedürfnissen stattfinden muss615, lassen sich keine tiefergehenden Parallelen erkennen.
3.1.2 Augustinus und die christliche Umdeutung der antiken Affektkonzeptionen Augustins Überlegungen zu den Affekten schließen unmittelbar an die antike Kontroverse an, wobei er sich hauptsächlich mit Ciceros Tusculanae disputationes auseinandersetzt.616 Dort wird die Ansicht vertreten, dass die Diskussion jener Zeit v. a. zwischen zwei Hauptlinien verlief: Auf der einen Seite stand der sogenannte akademisch-peripatetische Konsens, demzufolge die Affekte etwas Natürliches darstellen und nur der richtigen Ausrichtung bzw. Erziehung bedürfen, auf der anderen die radikale Ablehnung der Affekte durch die Stoiker. Augustinus setzt sich in den Büchern 9 und 14 von De civitate dei mit beiden Positionen kritisch auseinander und entwickelt im Zuge dessen eigene Positionen zu den Affekten. Dabei argumentiert er besonders entschieden gegen das stoische Ideal der Affektfreiheit und stellt es 614 Zu dieser Zusammenfassung vgl. HUMAR, Antike Emotionstheorien 9 f. sowie BUDDENSIEK, Stoa und Epikur 85–89. 615 Vgl. dazu Punkt 3 des dritten Hauptteils. 616 Dies zeigt sich bereits an seinem Begriffsverständnis, dass er in Ciu. 9, 4 (CCL 47, p. 251) durch eine Zusammenstellung der traditionellen antiken Termini zum Ausdruck bringt: „duae sunt sententiae philosophorum de his animi motibus, quae Graeci πάθη, nostri autem quidam, sicut Cicero, perturbationes, quidam affectiones uel affectus, quidam uero, sicut iste, de Graeco expressius passiones uocant.“ Diese Stelle wird im 12. Jahrhundert sehr häufig zitiert und auch Radulfus Ardens führt sie im 45. Kapitel von Buch 1 (über die ‚irascibilitas‘) an. Augustinus bezieht die entsprechenden Informationen v. a. aus Buch 4 der Tusculanae disputationes; dieser Zusammenhang wird ausführlich in dem Beitrag BRACHTENDORF, Cicero and Augustine herausgearbeitet.
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mit dem Argument infrage, dass auch der Weise durch die ersten Regungen der Affekte in Unruhe gebracht wird, selbst wenn er ihnen nicht mit seiner Vernunft zustimmt. Daraus schließt er, dass die Affekte nicht gänzlich kontrollierbar sind und der Mensch in diesem Leben daher auch nicht vollkommen glücklich sein kann.617 Gegen die akademisch-peripatetische Sichtweise wendet er ein, dass die menschliche Vernunft allein nicht in der Lage ist, die Affekte richtig auszurichten. Nur die Ausrichtung auf Gott, die nicht aus eigener Kraft, sondern mithilfe der Gnade gelingt, kann ein glückliches Leben gewährleisten.618 Um zu verdeutlichen, dass die Grundorientierung auf Gott hin im fundamentalen Gegensatz zu einer rein weltlichen Ausrichtung steht und sich die Qualität der Affekte allein daran bestimmen lässt, ob der Wille auf das höchste Gut oder andere, niedriger stehende Güter ausgerichtet ist, fügt er den Bezeichnungen der jeweiligen Emotionen Adjektive hinzu, die diese Grundausrichtung verdeutlichen und unterscheidet dementsprechend z. B. zwischen der ‚tristitia mundi‘ und der ‚tristitia secundum deum‘.619 Überhaupt leitet er die Affekte vom Willen (‚uoluntas‘) ab und versteht sie – über seine Vorlage Cicero hinausgehend – als dessen konkrete Erscheinungsformen. Damit führt er sie alle auf das Begehren bzw. die Liebe zurück, die er mit dem Willen gleichsetzt.620 Daraus folgt, dass die Therapie der Affekte von einer Neuausrichtung des Willens abhängt, die letztendlich in der Bekehrung geschieht. Nur unter dieser Voraussetzung nehmen die Emotionen positive Form an und helfen dem Menschen dabei, sein Leben weiter auf Gott auszurichten, wie Augustinus etwa am Beispiel der Nächstenliebe hervorhebt.621 Obgleich diese Gedankengänge auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit zur peripatetischen Metriopathie-Lehre aufweisen, ist Augustinus weitaus kritischer: So bleiben selbst die guten Affekte im Diesseits immer ambivalent, da auch sie den Geist verwirren und vom rechten Weg abbringen können. Dies gilt umso mehr für die schlechten Affekte, die einem verkehrten Willen (‚uoluntas peruersa‘)
617 Dieser Gedankengang findet sich in AUG., Ciu. 9, 4 (CCL 47, p. 251–253). 618 Vgl. AUG., Ciu. 14, 9 (CCL 48, p. 425–430). 619 Oft geht er dabei von Bibelstellen – in diesem Beispiel (Ciu. 14, 8) von 2 Cor 7, 8–10 – aus. Weitere Beispiele erwähnt BRACHTENDORF, Augustinus 17 f. 620 In Ciu. 14, 6 (CCL 48, p. 421) heißt es dazu: „interest autem qualis sit uoluntas hominis; quia si peruersa est, peruersos habebit hos motus; si autem recta est, non solum inculpabiles, uerum etiam laudabiles erunt. uoluntas est quippe in omnibus; immo omnes nihil aliud quam uoluntates sunt. nam quid est cupiditas et laetitia nisi uoluntas in eorum consensione quae uolumus? et quid est metus atque tristitia nisi uoluntas in dissensione ab his quae nolumus?“ Vgl. O’DALY / ZUMKELLER, Affectus 168 f. sowie KOCH, Emotion und Affekt 14. Zur Gleichsetzung von ‚uoluntas‘ und ‚amor‘ heißt es in Ciu. 14, 7 (CCL 48, p. 422): „recta itaque uoluntas est bonus amor et uoluntas peruersa malus amor. amor ergo inhians habere quod amatur, cupiditas est, id autem habens eoque fruens laetitia; fugiens quod ei aduersatur, timor est, idque si acciderit sentiens tristitia est. proinde mala sunt ista, si malus amor est; bona, si bonus.“ 621 Vgl. O’DALY / ZUMKELLER, Affectus 179.
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3 Die Affektenlehre im Speculum universale
entspringen. Sie manifestieren sich v. a. in Gestalt der schlechten Begehrlichkeit (‚concupiscentia‘), der der Mensch ohne die Hilfe der Gnade weitgehend hilflos ausgeliefert ist. Dafür macht er die durch den Sündenfall gebrochene Natur des Menschen verantwortlich, die sich im Bereich der Seelenlehre am Antagonismus von Vernunft und Gefühlen zeigt. Hier tritt klar zutage, dass Augustinus von der (neu) platonischen Seelenlehre bzw. Anthropologie ausgeht. Den Platonikern schließt er sich auch in dem Punkt an, dass die Vernunft in der Hierarchie deutlich über den Affekten steht und diese auf ihre Anleitung angewiesen sind, obgleich auch die ‚anima irrationalis‘ ein gottgegebener Teil der Seele ist und zur menschlichen Natur dazugehört. Die Dysfunktionalitäten der Seelenkräfte interpretiert er vor diesem Hintergrund als klares Anzeichen für den Mangel- bzw. Unheilszustand des diesseitigen Menschen. Neben dieser Umformung von platonisch-peripatetischen Gedanken lässt sich – trotz seiner eben erwähnten Kritik – an einzelnen Stellen auch die Adaption stoischer Ansichten erkennen: So übernimmt er die Lehre von den vier stoischen Grundaffekten, wobei er das Begehren (‚cupiditas‘) mit der Liebe (‚amor‘) gleichsetzt und es theologisch in diese Richtung umdeutet.622 Zudem macht er diese Vierteilung für seine eschatologischen Überlegungen fruchtbar und geht davon aus, dass Schmerz und Furcht als Reaktionen auf unerwünschte Gegenstände im Jenseits nicht mehr vorhanden sein werden, da es dort keine Übel mehr gibt. Nur Liebe und Freude bleiben im Eschaton erhalten und werden dort durch die Wiederherstellung der Harmonie zwischen ‚anima rationalis‘ und ‚anima irrationalis‘ erst vervollkommnet.623 Stellt man diese schlaglichtartige Beleuchtung der augustinischen Affektkonzeption der Affektenlehre des Radulfus Ardens gegenüber, lassen sich einerseits zahlreiche Parallelen erkennen und Grundgedanken ausmachen, die im Speculum universale aufgegriffen und weiterverarbeitet wurden. So sind zunächst einmal die Definition des Affektbegriffes selbst und der theologische Überbau weitgehend identisch. Auch Radulfus Ardens lässt keinen Zweifel daran, dass der Mensch aufgrund der erbsündlichen Beschädigung seiner Natur beim Erwerb von Tugenden auf die Hilfe der göttlichen Gnade angewiesen ist, obgleich er in seiner Darstellung – wie bereits mehrfach erwähnt – weniger am heilsgeschichtlichen Hintergrund als an der Frage nach den anthropologischen Grundlagen für die Aneignung der Tugenden interessiert ist. Zudem übernimmt er die augustinische Gleichsetzung von Willen und Affekt. Davon ausgehend kommt er ebenso wie Augustinus zu dem Ergebnis, dass sich die Qualität der jeweiligen Emotion nur an der Grundausrichtung des Willens bestimmen lässt. Dies zeigt sich konkret daran, dass Radulfus Ardens in vielen Fällen nicht den Begriff selbst verändert, wenn er zwischen der tugend- und lasterhaften
622 Vgl. O’DALY / ZUMKELLER, Affectus 176 f. 623 Vgl. O’DALY / ZUMKELLER, Affectus 176; BRACHTENDORF, Augustinus 19.
3.1 Die antiken Grundlagen und ihre christliche Aneignung
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Form eines Affekts unterscheidet, sondern stattdessen wie Augustinus ein wertendes Adjektiv hinzufügt.624 Auch bei seinen Überlegungen zu den Affekten im Eschaton folgt er Augustinus und geht davon aus, dass im Jenseits nur die amativen Emotionen erhalten bleiben, während die oditiven nicht mehr vonnöten sind, da es ja nichts mehr gibt, das gehasst bzw. gemieden werden muss. Andererseits zeigen sich jedoch auch v. a. systematisch bedeutende Unterschiede. So legt Augustinus bspw. den gerade eben erwähnten eschatologischen Aussagen die stoische Vierteilung der Affekte zugrunde und die für das Verständnis des Radulfus Ardens so zentrale Aufteilung in amative und oditive Affekte findet sich bei ihm in dieser Form nicht. Dies schlägt sich auch im Willensbegriffs nieder: Augustinus hebt bekanntermaßen die Rolle der Liebe besonders hervor und führt alle Affekte auf das Begehren zurück, das aus der ‚uoluntas‘ entsteht; Radulfus Ardens hingegen geht mit dem aus der ‚noluntas‘ entstehenden Hass und der aus der ‚non-uoluntas‘ hervorhegenden Geringschätzung noch von zwei weiteren Grundaspekten der menschlichen Emotionalität aus. Da diese Aufteilung des Willens in zwei bzw. drei Pole überhaupt erst die systematische Grundlage für die Lehre von den Komplementärtugenden ist, überrascht es wenig, dass sich bei Augustinus keine Ansätze für eine komplementäre Betrachtungsweise der Affekte ausmachen lassen. Vielmehr übernimmt er – trotz aller Kritik und Umformung – im Prinzip die platonisch-peripatetischen Ansicht, dass die ‚anima rationalis‘ in der Hierarchie klar über der ‚anima irrationalis‘ steht. Auch die praktischen Konsequenzen, die aus diesem möglichweise zunächst unbedeutend erscheinenden Unterschied hervorgehen, sind weitreichend: Während Augustinus nämlich davon ausgeht, dass der Mensch seine durch die Bekehrung erstmalig auf Gott ausgerichtete Liebe mithilfe der Vernunft zeit seines Lebens immer wieder ‚nachjustieren‘ bzw. vor dem ‚amor malus‘ alias ‚concupiscentia‘ schützen muss, geht es bei Radulfus Ardens eher darum, Liebe und Hass im richtigen Verhältnis aufeinander zu beziehen. So lässt sich fürs Erste resümieren, dass sich in den Konzeptionen der hellenistischen Philosophenschulen und in noch größerem Umfang bei Augustinus viele wichtige Bausteine finden, die Radulfus Ardens für die Konstruktion seiner Affektenlehre verwendet hat. Der fundamentale Gedanke, dass sich zwei (oder mehr) Grundemotionen gegenseitig ausbalancieren, kommt jedoch nirgends vor. Daher ist es notwendig, die Spurensuche weiter auszudehnen.
624 Ein besonderes auffälliges Beispiel ist das vierte Komplementärtugendpaar in Buch 11: Hier werden ausschließlich die Adjektive variiert (‚gaudium malum‘ – ‚gaudium bonum‘ – ‚ira bona‘ – ‚ira mala‘). Tatsächlich geht Radulfus Ardens gerade in Buch 11 sehr häufig auf diese Weise vor, wie sich an der Übersicht unter Punkt 1.2.2.4 auf den ersten Blick erkennen lässt.
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3 Die Affektenlehre im Speculum universale
3.2 Neue Perspektiven auf die Affekte im 12. Jahrhundert Wie soeben beschrieben, übernahm Augustinus für seine Betrachtung der menschlichen Emotionen ganz verschiedenes Gedankengut aus der paganen Philosophie. Dabei kam es ihm nicht unmittelbar darauf an, aus welchen Quellen er schöpfte, sondern dass sich das vorgefundene Material christlich umdeuten ließ bzw. dass es grundsätzlich mit der christlichen Gedankenwelt kompatibel war. Diese Tendenz ist auch bei zahlreichen anderen Autoren in der Übergangszeit von der Spätantike bis hin zum Frühmittelalter festzustellen.625 Die verschiedenen pagan-philosophischen, medizinischen und christlichen Bestandteile wurden dabei zumeist ohne tiefergehende systematische Reflexion nebeneinander gestellt, sodass sich dort weder eine einheitliche Seelenlehre noch eine kohärente Affektkonzeption finden.626 Auch in der karolingischen Renaissance lassen sich kaum neue, weiterführende Gedanken zu den Affekten ausmachen.627 Erst im 12. Jahrhundert gewinnt die Diskussion neue Dynamik und es entstehen gleich mehrere Neuansätze, die sich teilweise stark voneinander unterscheiden und auch mit dem tradierten Wissen in diesem Bereich völlig anders umgehen.628 Im Folgenden werden (wie oben angekündigt) zwei Positionen genauer in den Blick genommen, die zu Beginn des Jahrhunderts neue Akzente setzten. Ein kurzer Blick darauf leistet einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage, auf welche Vorlagen Radulfus Ardens zurückgegriffen hat.
3.2.1 Die Affekte bei Petrus Abaelardus und Bernhard von Clairvaux (1) Petrus Abaelardus setzte zu Beginn des 12. Jahrhunderts viele neue Akzente in der Theologie, die bekanntermaßen kontrovers diskutiert wurden. Auch im Bereich 625 Zwei – besonders hinsichtlich ihrer Rezeption im 12. Jahrhundert – wichtige Beispiele dafür sind die ursprünglich in griechischer Sprache verfassten Schriften De natura hominis des Nemesius von Emesa und De fide orthodoxa des Johannes Damascenus. In beiden Werken wurden erste Ansätze einer christlichen Anthropologie auf Grundlage (neu)platonischen, aristotelischen und stoischen Gedankenguts, aber auch unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse der antiken Medizin entwickelt. Diese teilweise sonst unzugänglichen Informationen zu den Affekten fanden im 12. Jahrhundert über lateinische Übersetzungen in den Westen und wurden dort breit rezipiert. Auch in diesen Schriften wird allerdings grundsätzlich die Ansicht vertreten, dass die Affekte hierarchisch unter der Vernunft stehen und ohne ihre Kontrolle einem gottgefälligen Leben entgegenstehen (vgl. dazu ausführlich BRUNGS, Christliche Denker 171–177 sowie HENGELBROCK, Affekt 90–92; KOCH, Emotion und Affekt 16). 626 Vgl. BRUNGS, Christliche Denker 175; SCHÄFER, Johannes Damascenus 68–72. 627 So verfassten zwar gleich mehrere Autoren der karolingischen Zeit Traktate über die Seele, jedoch ging es dabei (ausgehend von Augustins Spekulationen in De trinitate) hauptsächlich um die Frage, wie die Seele trotz unterschiedlicher Vermögen bzw. Fähigkeiten als Einheit zu verstehen ist (vgl. dazu GRÜNDEL, Verstandestugenden 105; KÜNZLE, Potenzen 39–43). 628 Vgl. KING, Emotions 167.
3.2 Neue Perspektiven auf die Affekte im 12. Jahrhundert
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der Affektenlehre beschritt er neue gedankliche Wege.629 Dabei setzte er sich gleich in mehreren Punkten von der augustinischen Tradition, aber auch von darauf aufbauenden Sichtweisen wie etwa der Anselms von Canterbury ab.630 Zunächst fällt ins Auge, dass er nicht mehr wie Augustinus die Affekte unmittelbar aus dem Willen herleitet und damit gleichsetzt. Stattdessen unterscheidet er zwei verschiedene Formen des Willens: Zum einen das rationale, evaluative Wollen, das er als vernünftige Billigung (‚approbare‘) deutet. Zum anderen das rein sinnliche, appetitive Wollen, das seine körperlichen Begehren (‚concupiscentiae‘) und Lüste (‚voluptates‘) spontan als Gefallen (‚placere‘) oder Missfallen (‚displicere‘) ausdrückt. Sodann legt er seinen Überlegungen hinsichtlich der Affekte eine andere Terminologie zugrunde. Als ‚passiones‘ bezeichnet er Dinge, die man nicht will, sondern erleidet, also negative Nebenprodukte (z. B. Einnahme der bitteren Medizin) einer an sich positiven Handlung (z. B. Heilung). Er betont, dass diese ‚passiones‘ keine Formen des Willens sind, sondern dass sich dieser jeweils nur auf das angestrebte Gut richtet. Diese Ansicht, die sich gerade von der Augustins maßgeblich unterscheidet, hat zur Folge, dass er alle Phänomene der Abwehr oder Vermeidung nicht als Nicht-Wollen, sondern als passives Erleiden oder als eine Erscheinungsform des (positiven) Wollens deutet. Damit sind die ‚passiones‘ rationale Akte und keine Emotionen. Die Affekte in dem Verständnis, in dem sie bisher thematisiert wurden, sind in seinem Denken vielmehr durch die ‚voluptates‘ bzw. ‚concupiscentiae‘ des appetitiven Wollens repräsentiert und gehören von daher zum Bereich des Körpers.631 In Verbindung mit seiner Grundüberzeugung, dass sich die sittliche Qualität ausschließlich aus der handlungsleitenden Absicht (‚intentio‘) bestimmen lässt632, die wiederum als Zustimmung (‚consensus‘) des evaluativen Willens zu verstehen ist, folgt daraus: Die Affekte sind ebenso wie die gesamte Triebstruktur des Menschen zunächst sittlich neutral; jedoch versuchen die körperlichen ‚concupiscentiae‘ den Willen immer wieder dazu zu bringen, den falschen Dingen zuzustimmen, weshalb sie von der Vernunft unterdrückt, kontrolliert und bekämpft werden müssen. Bei der Aneignung der Tugenden kommt ihnen allenfalls eine pädagogische Funktion zu, da sie gewissermaßen als ‚Wetzstein‘ der Willensstärke dienen. Praktisch folgt daraus, dass der Mensch zum einen Anlässe vermeiden muss, die ‚voluptates‘ hervorrufen könnten; zum anderen muss er sie, 629 Vgl. KNUUTTILA, Emotions 178–181; LEHMANN, Leidenschaften 73. Die wichtigen Aussagen zu den Affekten finden sich v. a. in den drei Werken Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum, Commentaria in epistulam Pauli ad Romanos und Ethica seu Nosce teipsum (vgl. ERNST, Ethische Vernunft 122). 630 Vgl. KING, Emotions 171–173. 631 Diese kurze Zusammenfassung stützt sich auf LEHMANN, Leidenschaften 74–81. 632 Der ‚intentio‘-Begriff des Petrus Abaelardus ist komplex wurde in der Forschung intensiv diskutiert. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist es weder möglich noch notwendig, genauer darauf einzugehen. Dass damit jedenfalls nicht nur die subjektive Gesinnung gemeint ist, sondern sich bei Petrus Abaelardus durchaus Ansätze für eine situationsbezogene Verantwortungsethik erkennen lassen, wurde in dem Beitrag ERNST, Bloße Gesinnungsethik? 38–49 herausgearbeitet.
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wenn sie doch einmal entstehen, diszipliniert bekämpfen, damit sie keinen Einfluss auf seinen handlungsleitenden Willen und damit auf die Intention bekommen.633 Selbst wenn der Ansatz des Petrus Abaelardus – wie hier geschehen – nur ganz oberflächlich betrachtet wird, zeigt sich sofort, dass er sich von der Sichtweise des Radulfus Ardens fundamental unterscheidet. Dabei fällt zunächst einmal die eigenwillige Terminologie des Petrus Abaelardus ins Auge, mit der er sich ganz bewusst von den traditionellen, durch Augustinus vermittelten und auch von Radulfus Ardens verwendeten Begriffen abgrenzt. Systematisch weitaus bedeutsamer ist jedoch, dass Petrus Abaelardus die Emotionen in erster Linie als körperliche Vorgänge ansieht, die in der Seele als solche nicht repräsentiert sind, weshalb es in seinem Konzept auch keine affektiven Seelenkräfte (oder etwas Vergleichbares) gibt. Diese schroffe Trennung zwischen ‚homo exterior‘ (sinnlich-körperlicher Aspekt) und ‚homo interior‘ (vernünftig-seelischer Aspekt)634 hat zur Konsequenz, dass die Affekte keinen Eigenwert haben und ihnen beim Erwerb der Tugenden lediglich eine pädagogische Funktion zukommt. Davon ausgehend zeichnet Petrus Abaelardus ein Bild, in dem der Kampf der Vernunft gegen die Affekte die Tugenden hervorbringt, während Radulfus Ardens davon ausgeht, dass die Affekte selbst Tugenden hervorbringen und sich beide Instanzen in positiver Weise ergänzen. (2) Im Denken Bernhards von Clairvaux nehmen die Affekte einen höchst bedeutsamen Platz ein, da der stufenweise mystische Aufstieg zu Gott bis hin zur ‚contemplatio‘ kein rein intellektuelles, sondern v. a. ein affektives Geschehen in Form einer persönlichen religiösen Erfahrung ist.635 Da sich Bernhard einerseits oft und theologisch anspruchsvoll zu den Affekten äußerte, andererseits aber keine systematische Theologie entwickelt hat und auch die typischen scholastischen Methoden nicht anwandte, ist das Gesamtbild sehr unübersichtlich und nicht frei von Unstimmigkeiten.636 Die Punkte, die im Folgenden beleuchtet werden, stellen daher auch nur eine kleine Auswahl von Bernhards Aussagen über die Affekte dar, die nur deshalb herausgegriffen wurden, da sie sich gut mit der Affektkonzeption des Speculum universale vergleichen lassen. – Die Termini, die Augustinus in De civitate dei anführt und mehr oder weniger als Alternativbegriffe für das gleiche Phänomen betrachtet, sind Bernhard bekannt. Er verwendet sie jedoch nicht synonym, sondern durchaus verschieden: Der Begriff ‚perturbatio‘ kommt selten vor und ist immer negativ gewertet. In vielen Fällen ist er sogar gleichbedeutend mit ‚Laster‘. Auch das Wort ‚passio‘ kommt nicht 633 Vgl. LEHMANN, Leidenschaften 88–90; KOCH, Emotion und Affekt 16. 634 Vgl. LEHMANN, Leidenschaften 81–84. 635 So schreibt bereits HISS, Anthropologie 102: „Bei der großen Bedeutung, die Bernhard dem affektiven Leben beimißt, darf man von ihm noch manche wertvolle Einsicht zu diesem Thema erwarten.“ 636 Eine ausführliche Studie gibt es dazu bisher noch nicht; jedoch wurden zentrale Aspekte der Thematik luzide in dem Beitrag KÖPF, Leidenschaften herausgearbeitet, an dem sich der hier dargebotene Überblick hauptsächlich orientiert. Ein kurzer Forschungsüberblick findet sich ebd. 93.
3.2 Neue Perspektiven auf die Affekte im 12. Jahrhundert
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häufig vor und meint meist keinen Affekt, sondern ein körperliches Leiden oder die Passion Christi. Die Leidenschaften der Seele bezeichnet er in den meisten Fällen als ‚affectus‘ oder ‚affectio‘. Er versteht sie als rein innere Bewegungen (‚motus animi‘) und unterscheidet sie scharf von den körperlichen ‚passiones‘, obgleich sie sich natürlich auch körperlich auswirken und selbst vom Körper beeinflusst oder gar korrumpiert werden können.637 Sie gehören zur Natur des Menschen (‚affectus naturales‘) und sind per se weder positiv noch negativ zu werten. – Neben der Seele (‚animus‘ bzw. ‚anima‘) nennt Bernhard häufig auch noch zwei andere Entstehungsorte der Affekte, nämlich den Geist (‚mens‘) und das Herz (‚cor‘), wobei es sich dabei weitestgehend um gleichbedeutende Synonyme handelt.638 Obgleich er nirgends eine kohärente Seelenlehre entwirft, äußert er sich immer wieder zum Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Kräften der Seele: So steht die ‚ratio‘ zwar häufig im Gegensatz zu den Affekten, allerdings ist sie auch auf ihre Mitwirkung angewiesen, wie z. B. bei der Aneignung von Wissen, die nicht nur durch intellektuelle Unterweisung, sondern auch durch affektive Verinnerlichung vonstattengeht.639 Auch dass bei ihm mehrere Tugenden sowohl aus rationalen als auch aus affektiven Aspekten bestehen640, verstärkt den Eindruck, dass er offenbar von einer Gleichwertigkeit von Vernunft und Gefühl ausgeht. Von daher muss auch nicht nur der Affekt durch die Reinigung (‚purificatio‘), sondern auch der Intellekt durch die Erleuchtung (‚clarificatio‘) bearbeitet werden, um ein auf Gott ausgerichtetes Leben führen zu können. Den Affekten kommt dabei v. a. die Aufgabe der Motivation zu, während sich die Vernunft Wissen aneignet und kritisch unterscheidet. – Wie für Augustinus sind für Bernhard Willen und Affekte identisch. Davon ausgehend ordnet er – über Augustinus hinausgehend – die vier stoischen Hauptaffekte641 den beiden unterschiedlichen Formen des Willens und damit den beiden affektiven Seelenkräften folgendermaßen zu: Begierde (‚desiderium‘) und Ablehnung (‚contemptus‘) entstehen aus der ‚vis concupiscibilis‘, Freude (‚laetitia‘) und Zorn (‚ira‘) aus der ‚vis irascibilis‘.642
637 Bernhard spricht diesbezüglich gelegentlich von den ‚affectus carnales‘, wobei dieser Terminus fast immer negativ gewertet ist und eine Fehlorientierung im Sinne der ‚perturbationes‘ meint (vgl. dazu insgesamt KÖPF, Leidenschaften 94–98.110 f.). 638 Vgl. KÖPF, Leidenschaften 114. 639 Zum Verhältnis von Vernunft und Affekt vgl. ausführlich KÖPF, Leidenschaften 116–121. 640 Vgl. BERNARD., SC 42, 6 (SBO 2; p. 36): „[…] est humilitas, quam caritas format, et inflammat; et est humilitas quam nobis veritas parit, et non habet colorem. Atque haec quidem in cognitione, illa consistit in affectu.“ Vgl. dazu auch KÖPF, Leidenschaften 117. 641 Auf den stoischen Tetrachord der Affekte rekurriert er sehr häufig und bezeichnet ihn gar als ‚quattuor animi affectiones notissimae‘, also als Hauptaffekte, die gewissermaßen jeder kennt (vgl. dazu KÖPF, Leidenschaften 101 und den Text aus Sermo de diversis 50 in n. 1191). 642 Vgl. BERNARD., OS 4, 5 (SBO 5; p. 358): „Constat enim animarum triplicem esse naturam. Unde et sapientes mundi huius animam humanam rationalem, irsacibilem, concupiscibilem esse tradi-
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– In seinem Werk kommt er jedoch nicht nur auf diese vier Hauptaffekte, sondern auch auf zahlreiche andere Affekte zu sprechen, wobei er immer wieder verschiedene Emotionen zusammenstellt, um ihre Bedeutung für das jeweilige Thema herauszuarbeiten. Dabei fällt auf, dass zahlreiche Phänomene als Affekte bezeichnet werden, die man intuitiv zunächst nicht als Emotion auffassen würde.643 An diesen Zusammenstellungen wird deutlich, dass Bernhard die einzelnen Affekte nicht isoliert bestachtet, sondern auch an ihrem Verhältnis zueinander interessiert ist. Dabei ist v. a. Sermo 50 aus dem Predigtcorpus De Diversis höchst aufschlussreich, in dem sich Bernhard mit der Frage beschäftigt, wie die Affekte auf rechte Weise geordnet werden (‚de affectionibus recte ordinandis‘). Dort führt er aus, dass sie ungeordnet als negative ‚perturbationes‘ zu betrachten sind, die die Seele verwirren (‚confusio‘). Stehen sie aber im richtigen Verhältnis zueinander und sind wohlgeordnet, entstehen aus ihnen Tugenden, die er als Krone der Seele (‚corona‘) bezeichnet. Diese Aussage präzisiert er weiter: Der Status der ‚perturbationes‘ ist in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass jeweils ein ‚Überschuss‘ an liebenden oder abwehrenden Affekten vorhanden ist, sodass Furcht Traurigkeit hervorruft und schließlich zur Verzweiflung (‚desperatio‘) wird oder Liebe Freude entstehen lässt und dadurch zur sittlichen Auflösung (‚dissolutio‘) führt. Verbinden sich dagegen ein liebender und ein abwehrender Affekt in der richtigen Art und Weise, entstehen aus vier bestimmten Kombinationsmöglichkeiten die vier Kardinaltugenden, wie in der folgenden Tabelle veranschaulicht wird:644
derunt […]. Porro quemadmodum circa rationale nostrum, et scientia, et ignorantia constat, tamquam habitus et privatio, sic et circa concupiscibile, desiderium et contemptus; et circa id quod dicitur irsacibile et laetitia pariter et ira versatur.“ Vgl. auch KÖPF, Leidenschaften 120. 643 So kennzeichnen neben Furcht, Hoffnung und Liebe auch die beiden Affekte Gehorsam und Ehrerbietigkeit das Verhältnis der Seele zu Gott (vgl. KÖPF, Leidenschaften 103). 644 Der entsprechende Textabschnitt aus BERNARD., Div. 50, 2 f. (SBO 6,1; p. 271 f.) wird hier wegen seiner Bedeutung komplett angeführt: „Sunt autem affectiones istae quattuor notissimae: amor et laetitia, timor et tristitia. Absque his non subsistit humana anima, sed quibusdam sunt in coronam, quibusdam in confusionem. Purgatae enim et ordinatae gloriosam in virtutum corona reddunt animam, inordinatae per confusionem deiectam et ignominiosam. Purgantur autem sic. Si amamus quae amanda sunt, si magis amamus quae magis amanda sunt, si non amamus quae amanda non sunt, amor purgatus erit. Sic et de ceteris. Ordinatur autem sic: in initio timor, deinde laetitia, post hanc tristitia, in consummatione amor. Compositio quarum talis est: ex timore et laetitia nascitur prudentia, et est timor causa prudentiae, laetitia fructus; de laetitia et tristitia nascitur temperantia, et est tristitia causa temperantiae, laetitia fructus; de tristitia et amore nascitur fortitudo, et est tristitia causa fortitudinis, amor fructus. Clauditur circulus coronae. De amore et timore nascitur iustitia, et est timor causa iustitiae, amor fructus. Considera ergo quomodo istae affectiones ordinatae virtutes sunt; inordinatae, perturbationes. Si timorem sequatur tristitia, desperationem generat; si amorem laetitia, dissolutionem.“ Vgl. dazu auch KÖPF, Leidenschaften 121–124.
3.2 Neue Perspektiven auf die Affekte im 12. Jahrhundert
Liebe (‚amor‘)
Freude (‚laetitia‘)
Furcht (‚timor‘)
Gerechtigkeit (‚iustitia‘)
Klugheit (‚prudentia‘)
Trauer (‚tristitia‘)
Tapferkeit (‚fortitudo‘)
Mäβigung (‚temperantia‘)
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Abb. 47: Die Entstehung der Tugenden aus den Affekten bei Bernhard von Clairvaux.
Hierbei spielt auch das zeitliche Verhältnis zwischen den genannten Affekten eine nicht unbedeutende Rolle. So begründet er etwa die Aussage, dass die Klugheit aus Furcht und Freude hervorgeht, damit, dass auf die Furcht, die sich auf die Zukunft richtet, die Freude, die sich auf die Gegenwart richtet, folgen muss. In Verbindung miteinander sind die beiden nämlich ein Zeichen der klugen Vorsorge (‚cautela prudens‘).645 Der Prozess, in dem die Affekte geordnet werden, beschäftigt Bernhard auch noch an anderen Stellen seines Werkes, wobei er z. T. auch ganz andere Schwerpunkte setzt. So sieht er bspw. in seinen Hoheliedpredigten die Unterscheidung (‚discretio‘) als diejenige Instanz an, die das Viergespann der Tugenden (und damit auch der Affekte) leitet. Ohne sie werden die Affekte wieder zu ‚perturbationes‘, durch ihre Anleitung zu Tugenden. Dabei ist die ‚discretio‘ offenbar selbst keine Tugend, sondern eher die Ordnungsinstanz der Affekte, die durch sie zu Tugenden werden.646 Obgleich in diesem sehr skizzenhaften Einblick naturgemäß nur einige wenige Einzelaspekte beleuchtet werden konnten, lässt sich deutlich erkennen, dass Bernhard den Affekten eine zentrale Bedeutung beim Erwerb der Tugenden zuspricht und sie geradezu als ihr ‚Material‘ ansieht.647 Zudem geht er offenbar davon aus, dass liebende und meidende Affekte in der richtigen ‚Dosis‘ miteinander verbunden sein müssen, um positive Formen annehmen zu können. Diese Gedankengänge weisen unverkennbare Ähnlichkeiten zum Ansatz im Speculum universale auf. So nutzt auch Radulfus Ardens den Begriff ‚perturbatio‘ nur für eindeutig lasterhafte Emotionen, während ‚affectus‘ der ethisch neutrale und am häufigsten anzutreffende Ausdruck ist.648 Zudem teilen beide Theologen offenbar auch ein sehr breites Affektverständnis, sodass Radulfus Ardens – ähnlich wie Bernhard bspw. den Gehorsam – etwa Freundschaft (‚amicitia‘), Gesang (‚cantus‘) oder Sparsamkeit (‚parsimonia‘) dazu zählt und dementsprechend auch als affektive Tugenden oder
645 BERNARD., Div. 50, 3 (SBO 6,1; p. 272): „Sequatur ergo timorem laetitia, quia timor futura cavet, laetitia de praesenti gaudet, prudentis cautelae finem laetitia possidet.“ 646 BERNARD., SC 49, 5 (SBO 2; p. 76): „Discretio quippe omni virtute ponit ordinem, ordo modum tribuit et decorem, etiam et perpetuitatem. […] Est ergo discretio non tam virtus, quam quaedam moderatrix et auriga virtutum, ordinatrix affectuum, et morum doctrix. Tolle hanc, et virtus vitium erit, ipsaque affectio naturalis in perturbationem magis convertetur exterminiumque naturae.“ Vgl. dazu auch KÖPF, Leidenschaften 124. 647 Vgl. LAARMANN, Passiones animae 1770. 648 Vgl. im Detail Punkt 2.1 im ersten Teil der Arbeit.
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3 Die Affektenlehre im Speculum universale
Laster behandelt. Auch die synonyme Verwendung der Begriffe ‚anima‘, ‚cor‘ und ‚mens‘ lässt sich bei beiden Autoren feststellen und beide betrachten die ‚disceretio‘ als Ordnungsinstanz der Emotionen. Doch nicht nur die verwendete Terminologie ist beinahe deckungsgleich, auch im inhaltlich-systematischen Bereich gibt es mehrere Überschneidungen: So prägt erstens der Grundgedanke, dass sich Vernunft und Emotionen nur im Zusammenwirken miteinander in rechter Weise ausprägen können, das Denken beider Autoren. Zweitens scheint Radulfus Ardens die Idee, die einzelnen Affekte spezifischen affektiven Seelenkräften bzw. den Erscheinungsformen des Willens zuzuordnen, aufgegriffen und weiterentwickelt zu haben: So stellt er akribisch das Gefolge (‚sequela‘) der drei affektiven Seelenkräfte zusammen und leitet aus diesen Hauptaffekten alle anderen denkbaren Emotionen her. Drittens geht Bernhard ähnlich wie Radulfus Ardens offenbar davon aus, dass die einzelnen Emotionen lediglich verschiedene Manifestationen der jeweiligen Seelenkraft sind, aus der sie hervorgehen. Selbst die in Buch 11 ausgearbeitete zeitliche Abfolge der Affekte ist bei Bernhard bereits angedeutet, wenn er bspw. davon spricht, dass aus der Liebe erst die Freude und dann die (lasterhafte) sittliche Auflösung hervorgeht. Dass er in Sermo de diversis 50 die These aufstellt, dass die affektiven ‚perturbationes‘ stets aus einem Überschuss bzw. einer Einseitigkeit an liebenden oder vermeidenden Affekten entstehen, während die Tugend aus einem Gemisch der beiden Aspekte erwächst, ist viertens aus systematischer Perspektive die bedeutsamste Parallele zwischen beiden Ansätzen. Denn damit ist der Grundgedanke von der Komplementarität der zwei Hauptaffekte im Prinzip erfasst und ausformuliert, obgleich Bernhard in diesem Zusammenhang den Begriff ‚collateralis‘ nicht verwendet.649 Dieser terminologische Hinweis leitet gut zu der Frage über, worin sich die beiden Ansätze eigentlich unterscheiden. Würde man den letzten Abschnitt für sich allein gestellt betrachten, entstünde beinahe der Eindruck, Radulfus Ardens hätte fast alle Grundgedanken seiner Konzeption von Bernhard übernommen. Tatsächlich lassen die Konzeptionen jedoch eine ganze Reihe bedeutsamer Unterschiede erkennen: Erstens fällt dabei ins Auge, dass bei Bernhard die richtige Balance der Affekte zwar Tugenden hervorbringt, jedoch handelt es sich dabei nicht um die im Speculum universale genannten affektiven Tugenden, sondern um die vier Kardinaltugenden, die Radulfus Ardens als diskretive Tugenden alle der ‚rationabilitas‘ zuordnet. Bernhard scheint also im Gegensatz zu Radulfus Ardens nicht von eigenständigen, rein rationalen Tugenden ausgegangen zu sein. Zweitens spielt die stoische Vierteilung der Affekte im Speculum universale kaum eine Rolle. Stattdessen legt Radulfus Ardens – darauf wurde schon mehrfach hingewiesen – seinen Aus649 In der Forschung wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Gedanke eines komplementären Ergänzungsverhältnisses zwischen zwei Gegensätzen bei Bernhard zumindest an einer Stelle in einer Predigt zum Sonntag in der Oktav von Mariä Himmelfahrt vorgezeichnet ist (vgl. ERNST, Estote prudentes 568 f.; DERS., Klug wie die Schlangen 56 f.).
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führungen in Buch 11 je acht amative und oditive Affekte zugrunde. Drittens ordnet zwar auch Radulfus Ardens die einzelnen Affekte der irasziblen und der konkupisziblen Seelenkraft zu, jedoch geht er dabei anders vor als Bernhard: Während dieser Begierde und Abneigung (also die beiden auf die Zukunft gerichteten stoischen Grundaffekte) aus dem begehrenden Seelenvermögen und Freude und Zorn (die beide auf die Gegenwart ausgerichtet sind) aus der zornmütigen Seelenkraft hervorgehen lässt, weist Radulfus Ardens der ‚concupiscibilitas‘ alle liebend-begehrenden Affekte und der ‚irascibilitas‘ alle hassend-ablehnenden zu. Viertens ist bezüglich des Grundgedankens der Komplementarität darauf hinzuweisen, dass er nur an ganz wenigen Stellen mehr oder weniger vage angedeutet ist und Bernhard nirgends eine spezielle Terminologie entwickelt, um diesen Zusammenhang genauer herauszuarbeiten; zudem geht er offenbar davon aus, dass die lasterhafte Ausprägung eines Affekts erst nach einer (oder mehreren?) Transformation entsteht – also bspw. erst dann, wenn sich die Liebe in Freude verwandelt hat. Radulfus Ardens leitet dagegen aus (fast) jeder tugendhaften Emotion auch ein spezifisches Laster her. Fünftens findet sich bei Bernhard zwar die Aufteilung der Affekte in einen irasziblen und einen konkupisziblen Bereich, von einem dritten Grundaffekt in Gestalt des ‚contemptus‘ geht er aber offenbar nicht aus. Dass so zahlreiche Detailunterschiede ins Auge fallen, ist darauf zurückzuführen, dass Bernhard eben keine systematische Theologie entwickelt hat und auch nicht entwickeln wollte, sondern sich eher situations- bzw. themenbezogen mit bestimmen Affekten auseinandersetzt. Zudem handelt es sich bei den angeführten Bernhardstellen (wie bereits erwähnt) um sehr punktuelle Ausschnitte, die nur einen kleinen Teil seiner zahlreichen und z. T. ganz unterschiedlichen Aussagen zu den Affekten widerspiegeln. Darin liegt auch sechstens der größte Unterschied zwischen beiden Autoren: Radulfus Ardens setzt im Gegensatz zu Bernhard den von ihm ins Auge gefassten Grundgedanken von der selbstständigen Ausbalancierung der Affekte in seinem Werk systematisch, deutlich ausführlicher, in Form einer zusammenhängenden Konzeption und auf der Grundlage einer hochspezialisierten Fachterminologie um. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Gedanke von der Komplementarität der Affekte bisher weder bei den untersuchten antik-paganen noch den spätantik-christlichen Denkern zu finden war, lässt sich auf der Grundlage der soeben zusammengetragenen Parallelen trotz aller Unterschiede im Detail die These formulieren, dass sich Radulfus Ardens bei der Konzeption seiner Affektenlehre zumindest in einigen wichtigen Punkten an Bernhard orientiert hat. Dieses Ergebnis ist auf der einen Seite durchaus überraschend, da Radulfus Ardens in der Forschung lange Zeit v. a. dem Umfeld der Porretaner zugeordnet wurde650, deren theologischer Ansatz in vielen Aspekten gerade den Gegenpol zur Theologie Bernhards bil-
650 Vgl. etwa GRÜNDEL, Verstandestugenden 3.
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dete. Diese Auffassung muss bei genauerer Betrachtung zumindest relativiert werden. Es lassen sich nämlich auf der anderen Seite nicht nur im Bereich der Affektenlehre Einflüsse Bernhards feststellen. Bereits im ersten Buch des Speculum universale finden sich an drei durchaus bedeutsamen Stellen Zitate aus Bernhards Schrift De gratia et libero arbitrio: So orientiert sich Radulfus Ardens bei seiner Seelendefinition in Kapitel 39, die große Bedeutung für seinen tugendethischen Ansatz hat, daran.651 Auch bei der genaueren Bestimmung der Sinnlichkeit (‚sensualitas‘) führt er in Kapitel 52 zwei weitere Stellen daraus an.652 Auch in Buch 2 findet sich im Kontext der Frage, wie die Willensfreiheit mit den heilgeschichtlichen Status des Menschen zusammenhängt, ein ganzer Passus, der stark an De gratia et libero arbitrio angelehnt ist.653 Schließlich zitiert er auch die oben mehrfach angeführten Hoheliedpredigten zumindest an einer Stelle in Buch 10, obgleich es sich dabei nur um ein sehr kurzes Zitat handelt.654 Zwar sind die Arbeiten am Quellenapparat der Edition noch nicht abgeschlossen, sodass sich möglicherweise noch einige weitere Bernhard-Zitate ermitteln lassen, aber es gibt offenbar aufs Ganze gesehen nur sehr wenige wörtliche Übernahmen.655 Dennoch tritt klar hervor, dass Radulfus Ardens die Werke Bernhards kannte und mehrfach für seine Arbeiten heranzog. Als Zeichen seiner Hochachtung Bernhard gegenüber ließe sich auch die Tatsache interpretieren, dass er ihn einmal sogar als ‚sanctus Bernardus‘ namentlich erwähnt. Da er außer ihm nur noch einen weiteren zeitgenössischen Theologen (nämlich Gilbert von Poitiers) beim Namen nennt, handelt es sich dabei durchaus um eine Auffälligkeit.656 So lässt sich als vorläufiges Zwischenergebnis festhalten: Radulfus Ardens hat in seiner Affektenlehre zum einen zahlreiche Bausteine des im 12. Jahrhundert bekannten hellenistisch-augustinischen Allgemeinguts zu diesem Thema verarbeitet und weiterentwickelt. Zum anderen weist der Leitgedanke seiner Lehre von den 651 Genauer gesagt stammt das letzte Element der Definition in Spec. uniu. 1, 39 (CCL 241, p. 46), also die Bestimmung der Sinnlichkeit, aus Bernhards Werk: „Est igitur anima substantia rationalis et immortalis, motu ignea, organum membrorum uiuificando corpori et mouendis auide sensibus attributa.“ (vgl. BERNARD., Gratia 2, 3 (SBO 3; p. 167)). 652 Die beiden Zitate stammen aus demselben Zusammenhang wie in Kapitel 39 und überschneiden sich teilweise sogar. Das erste in Spec. uniu. 1, 52 (CCL 241, p. 59 f.) lautet: „Sensus quoque nichil aliud est quam uitalis in corpore motus uigilans extrinsecus.“ und das zweite: „Est autem appetitus sensualis naturalis uis in animante mouendis auide sensibus attributa habetque suam uoluntatem, suam spem, suam emulationem, suum gaudium suamque letitiam.“ (vgl. BERNARD., Gratia 2, 3 (SBO 3; p. 167)). 653 Die Parallele (v. a. in den Kapiteln 12–14) ist bereits Johannes Gründel aufgefallen, der diesen Zusammenhang eingehender thematisiert und die beiden Texte gegenüberstellt (vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 197–203). 654 Spec. uniu. 10, 104 (CCM 241A, p. 702): „Fremit enim mundus, premit corpus, insidiatur diabolus.“ (vgl. BERNARD., SC 61, 3 (SBO 2; p. 150)). 655 Vgl. dazu auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 50. 656 Vgl. dazu Punkt 2.2.1 in der Einleitung der Arbeit.
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amativen und oditiven Tugenden, nämlich dass sich die menschlichen Emotionen gegenseitig ins Gleichgewicht bringen, darauf hin, dass Radulfus Ardens vom Menschenbild Bernhards von Clairvaux einige Kenntnis besaß und sich durch einzelne Elemente daraus bei seinem eigenen Entwurf inspirieren ließ. Diese Annahme legt nahe, die weitere Rezeption der Anthropologie Bernhards im 12. Jahrhundert in den Blick zu nehmen und auf diese Weise der soeben aufgenommenen Spur noch etwas genauer nachzugehen. Ein solches Vorhaben führt in das Umfeld der sognannten Zisterzienserschule, einem Kreis von Zisterziensertheologen, die Bernhards neuartige Gedanken zum Wesen des Menschen aufgriffen, weiterdachten und teilweise sogar erste Versuche einer Systematisierung unternahmen. Der Traktat De spiritu et anima ist ein Ergebnis dieses Reflexionsprozesses. Er ist für die in diesem Kapitel vorgenommene Untersuchung nicht nur deshalb interessant, weil er im 12. Jahrhundert weite Verbreitung fand, sondern auch deshalb, weil ihn Radulfus Ardens mehrfach zitiert und offenbar gut kannte.
3.2.2 Die Affekte in der pseudoaugustinischen Schrift De spiritu et anima Obgleich immer noch nicht geklärt ist, wer der Autor von De spiritu et anima war, lässt sich der Traktat eindeutig in den Kontext der sogenannten Zisterzienserschule einordnen.657 Zu diesem Kreis von Theologen, mit dem sich die Forschung erst seit kurzer Zeit genauer beschäftigt, werden neben Wilhelm von Saint Thierry († um 1148), Isaak von Stella († 1178) und Aelred von Rievaulx († 1167) gelegentlich auch Alanus von Lille und Thierry von Chartres († um 1155) gezählt.658 Sie alle verbindet, dass sie von den innovativen Zentren der frühen Scholastik ihre Prägung erhalten hatten, dann aber nach einiger Zeit in den Zisterzienserorden ein- oder übergetreten sind und damit gewissermaßen eine der Synthesen des 12. Jahrhunderts darstellen. Hier entstanden – ausgehend von den Überlegungen Bernhards659 – eine ganze
657 Trotz seiner Bedeutung für die Theologie des 12. Jahrhunderts wurde er in der Forschung lange Zeit nur wenig beachtet. Bis heute wichtige Einzelstudien dazu sind eine 1924 verfasste aber erst 1971 veröffentlichte Dissertation (NORPOTH, De spiritu et anima) sowie ein Aufsatz, der sich ausführlicher mit der Autorenfrage auseinandersetzt (RACITI, L’autore). Eine englische Übersetzung des Werkes findet sich in MCGINN, Three Treatises 177–282. Obgleich in den letzten Jahren einige Beiträge dazu erschienen sind, bleiben immer noch viele Forschungsfragen offen (neben BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 98–124.575–580 ist hier v. a. MEWS, Authority zu nennen. Hier finden sich weitere Literaturhinweise). 658 Zur ‚Zisterzienserschule‘ allgemein, zu ihren Vertretern und zum aktuellen Stand der Forschung vgl. BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 17–23, MEWS, Authority 329–331 sowie BRUNGS, Christliche Denker 178. 659 Hierbei bildeten v. a. die beiden (auch von Radulfus Ardens zitierten) Werke De gratia et libero arbitrio und Sermones super cantica canticorum einen wichtigen Ausgangspunkt (vgl. BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 93; BRUNGS, Christliche Denker 178 n. 28; KOCH, Emotion und Affekt 15).
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Reihe anthropologischer Schriften, deren Rezeption nach dem aktuellen Stand der Forschung in erster Linie auf diesen Kreis beschränkt blieb.660 Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet De spiritu et anima. Der wohl zwischen 1165 und 1174 entstandene Traktat erlangte auch außerhalb des zisterziensischen Milieus große Bedeutung, galt in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhundert geradezu als ‚Handbuch‘ der Seelenlehre und wurde auch noch im 13. Jahrhundert von mehreren Theologen zitiert.661 Ein wichtiger Grund für diese auffällig breite Rezeption war die Zuschreibung an Augustinus, die allerdings schon sehr früh in Zweifel gezogen wurde.662 Zwar sind darin tatsächlich zahlreiche Aspekte augustinischer Theologie enthalten, aber neben Stil und Inhalt der Schrift lassen v. a. mehrere z. T. wörtliche Übernahmen aus der Epistola de anima des Isaak von Stella663 darauf schließen, dass De spiritu et anima entweder von Isaak selbst664 oder einem von ihm stark beeinflussten Zisterziensertheologen, wie etwa Alcher von Clairvaux665, verfasst wurde. Nach dem aktuellen Stand der Forschung besteht das Werk aus drei Teilen, die in mehreren Aspekten nicht kohärent miteinander verbunden sind. Im ersten Teil (Kapitel 1–33) wird v. a. die Ansicht entfaltet, dass Seele (‚anima‘) und Geist (‚spiritus‘) in Interaktion miteinander eine eigene Substanz bilden, die nicht identisch mit der des Körpers ist. Die Überlegungen sind stark an Isaaks Epistola de anima orientiert. Dies ändert sich im zweiten (Kapitel 34–50) und dritten Teil (Kapitel 51–65). Hier
660 So verfasste Wilhelm von Saint Thierry die beiden Werke De natura corporis et animae und De natura et dignitate amoris, Isaak von Stella schrieb den Brieftraktat Epistola de anima und auch Aelred von Rievaulx stellte in seinen beiden Schriften Dialogus de anima und De spirituali amicitia anthropologische Überlegungen an (vgl. BRUNGS, Christliche Denker 178; dort finden sich auch Angaben zu den Texteditionen dieser hier nicht näher untersuchten Werke). 661 Zur Datierung vgl. BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 118 f. Seine Bedeutung zeigt sich allein daran, dass noch heute 300–400 handschriftliche Überlieferungsträger bekannt sind (vgl. ebd. 117 f.121; KÜNZLE, Potenzen 66 f.; LAARMANN, Passiones animae 1770). 662 So setzten sich etwa auch Albertus Magnus und Thomas von Aquin damit auseinander, kritisieren den Inhalt der Schrift aber durchweg und unterstellen dem anonymen Autor (bereits Albert vermutet einen Zisterziensertheologen) zahlreiche Unstimmigkeiten und Fehler. Diese Bewertung ist wohl v. a. darauf zurückzuführen, dass die neuplatonisch-augustinischen Ansätze des 12. Jahrhundert mit der verstärkten Aristotelesrezeption im 13. Jahrhundert gewissermaßen außer Mode geraten waren (vgl. z. B. BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 103.113–119 oder MEWS, Authority 322 f.339–342). 663 Auf zahlreiche Parallelen verweisen u. a. KÜNZLE, Potenzen 66–72 und MCGINN, Three Treatises 181–288. Ein Vergleich findet sich auch bei MICHAUD-QUANTIN, Puissances 24–28. 664 Diese These vertritt etwa BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 98–124 zumindest hinsichtlich des ersten Teils (Kapitel 1–33). 665 Diese Vermutung wurde immer wieder erwähnt, wegen des Mangels an eindeutigen Beweisen aber schon früh in Zweifel gezogen (vgl. KÜNZLE, Potenzen 66; RACITI, L’autore). Wie sie zustande kam, ist rekonstruiert worden und lässt sich bei BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 98–103 im Detail nachlesen. Sie ist allerdings noch nicht gänzlich verworfen (vgl. MEWS, Authority 342 f.).
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lassen sich u. a. zahlreiche Parallelen zu Hugo von Sankt Viktor feststellen.666 Dabei wird im zweiten Teil die Gottebenbildlichkeit der Seele (und ihrer Kräfte) herausgearbeitet, während im dritten Teil die Frage nach den Folgen von Gedanken, Worten und Taten gestellt wird.667 An dieser Übersicht zeigt sich, dass es in De spiritu et anima neben theoretisch-spekulativen Fragen der Psychologie zumindest ansatzweise auch um praktische Themen geht. Insgesamt scheint es sich um einen Leitfaden zur geistigen Selbstkontrolle mit asketischem Hintergrund zu handeln.668 Trotz dieses sehr uneinheitlichen Gesamtbildes wird immer wieder in einzelnen Passagen ein Bestreben sichtbar, die verschiedenen Bestandteile miteinander zu synthetisieren und zu systematisieren. Dies gilt gerade für die wenigen, aber zumeist relativ aussagekräftigen Überlegungen zu den Emotionen. Im Folgenden werden einzelne, für den Vergleich mit Radulfus Ardens besonders interessante Textpassagen aus dem Traktat genauer in den Blick genommen. Diese stammen ausnahmslos aus den ersten beiden Teilen des Werkes, da sich im dritten Teil kaum systematisch relevante Information dazu ausmachen lassen. (1) Im ersten Teil sind zunächst die Kapitel 3 und 4 von grundlegender Bedeutung. Dort werden grundsätzliche Aussagen über das Menschenbild und die Seelenlehre getroffen. Der Mensch besteht aus zwei unterschiedlichen Substanzen, nämlich der Seele (‚anima‘), die mit der Vernunft (‚ratio‘) verbunden ist und dem Fleisch (‚caro‘), welches die Sinne (‚sensus‘) enthält. Diese beiden sind aber nicht vollkommen voneinander getrennt und auch nicht gleichwertig, da der Körper die Sinne nicht eigenständig bewegen kann, sondern nur mithilfe der Seele dazu in der Lage ist.669 Es gibt drei Kräfte der Seele (‚vires animae‘): Sie ist zur vernünftigen Erkenntnis (‚rationalis‘), zum Begehren (‚concupiscibilis‘) und zum Zürnen (‚irascibilis‘) fähig. Hierbei handelt es sich offenbar weniger um aktive Fähigkeiten als um passive Vermögen: So ist die Seele durch das rationale Vermögen in der Lage, zur Erkenntnis erleuchtet zu werden (‚illuminari ad cognoscendum‘), durch die affektiven Vermögen kann sie mit Affekten versehen werden (‚affici‘). Genauer gesagt kann sie dadurch
666 So stehen im zweiten und dritten Teil insgesamt 13 Zitate Hugos von Sankt Viktor lediglich sechs eindeutige Augustinstellen gegenüber (vgl. BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 105–109.115). Eine ausführlichere Zusammenstellung der Quellen des Werkes findet sich bei NORPOTH, De spiritu et anima 239–253. 667 Vgl. MEWS, Authority 325. 668 Vgl. BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 116 f. 669 PS. AUG., Spir. et an. 3 (PL 40, col. 781): „Ex duabus substantiis constat homo, anima et carne; anima cum ratione, carne cum sensibus suis: quos tamen sensus non movet caro absque animae societate; anima vero rationale suum tenet sine carne.“
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begehren oder meiden (‚appetere vel fugere‘) bzw. lieben oder hassen (‚amare vel odi‘).670 Diese Aussagen sind insofern von einiger Bedeutung, da hier – ganz ähnlich wie bei Radulfus Ardens – das Begehren mit dem Lieben und das Meiden mit dem Hassen gleichgesetzt wird. Der Eindruck, dass der unbekannte Autor Liebe und Hass als die beiden eigentlichen Grundaffekte betrachtet, verstärkt sich noch weiter, wenn man seine Überlegungen zu den stoischen Hauptaffekten betrachtet: So freuen (‚gaudere‘) wir uns nur über das, was wir lieben und hoffen (‚sperare‘) auch nur darauf, liebenswerte Dinge zu erlangen. In ähnlicher Weise leiden (‚dolere‘) wir auch nur an dem, was wir hassen und fürchten (‚metuere‘) uns auch nur vor hassenswerten Dingen. Davon ausgehend weist er der ‚concupiscibilitas‘ Freude und Hoffnung, der ‚irascibilitas‘ dagegen Leiden bzw. Trauer und Furcht zu.671 Diese vier Affekte – so fährt er fort – sind gewissermaßen die Grundlagen (‚quaedam principia‘) aller Tugenden oder ihr gemeinsames Material (‚communis materia‘). Und da die Tugend – hier liegt die Tugenddefinition des Boethius zugrunde – ein Habitus eines gut eingerichteten Geistes (‚habitus mentis bonae compositae‘) ist, entsteht sie aus der richtigen Anordnung der Affekte. Konkret bedeutet das: Wenn die ‚affectus‘ klug, maßvoll, tapfer und gerecht geordnet werden, entstehen daraus schließlich auch Klugheit, Maßhaltung, Tapferkeit und Gerechtigkeit.672 Sofort wird deutlich, dass diese Bestimmung große Ähnlichkeit mit den Aussagen Bernhards in Sermo de diversis 50 aufweist.
670 PS. AUG., Spir. et an. 4 (PL 40, col. 781 f.): „Est siquidem rationalis, concupiscibilis et irascibilis. Per rationalitatem habilis est illuminari ad aliquid cognoscendum […]. Per concupiscibilitatem et irascibilitatem habilis est affici ad aliquid appetendum vel fugiendum, amandum vel odiendum: et ideo de rationalitate omnis sensus oritur animae, de aliis omnis affectus.“ 671 PS. AUG., Spir. et an. 4 (PL 40, col. 782): „Affectus vero quadripartitus esse dignoscitur: dum de eo quod amamus, jam gaudemus, vel gaudendum speramus; et de eo quod odimus, jam dolemus, sive dolendum metuimus; et ob hoc de concupiscibilitate gaudium et spes, de irascibilitate dolor et metus oriuntur.“ 672 PS. AUG., Spir. et an. 4 (PL 40, col. 782): „Qui quidem quatuor affectus animae omnium sunt vitiorum et virtutum quasi quaedam principia, et communis materia. Affectus siquidem operi nomen imponit. Et quoniam virtus est habitus mentis bene compositae, componendi et instituendi atque ordinandi sunt animi affectus ad id quod debent, et quomodo debent, ut in virtutes proficere possint; alioquin in vitia facile deficient. Cum igitur prudenter, modeste, fortiter et juste amor et odium instituuntur, in virtutes exsurgunt, prudentiam scilicet, temperantiam, fortitudinem atque justitiam, quae quasi origines et cardines sunt omnium virtutum.“ Ganz ähnlich heißt es auch ebd. 20 (PL 40, col. 794) über die Kardinaltugenden: „Habet anima affectiones, quibus exercetur ad virtutes. Dolor namque de peccatis, timor de suppliciis, desiderium de promissis, gaudium de praemiis quaedam exercitia sunt virtutum.“
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Wirken die vier Hauptaffekte in richtiger Weise zusammen, entsteht daraus die ‚caritas‘ als vollendete Ausprägung des emotionalen Potentials der Seele.673 Wie dieser Ausgleichsprozess genau vonstattengeht, wird zwar nicht genau beschrieben, aber vom Prinzip her angedeutet: Die konkupisziblen und irasziblen Kräfte balancieren sich im Idealfall nämlich so aus, dass sich durch den Hass gegenüber der Welt und sich selbst (‚odium mundi et sui‘) die Liebe zu Gott und dem Nächsten (‚amor Dei et proximi‘) einstellt oder – anders gesprochen – die Verachtung der niedrigen und vergänglichen Güter (‚contemptus inferiorum et temporalium‘) die Sehnsucht nach den ewigen und höheren (‚desiderium aeternorum et superiorum‘) erweckt.674 (2) Dieser Aspekt wird im zweiten Teil in Kapitel 38 nochmals aufgegriffen: So sind die Affekte selbst weder positiv noch negativ zu bewerten; vielmehr ist entscheidend, worauf sie sich richten. Strebt der Mensch nach körperlichen Lüsten, ist von ‚appetitus carnalis vel animalis‘ die Rede, strebt er nach geistigen Gütern von ‚appetitus spiritualis‘.675 Hier liegt eine Adaption der bekannten augustinischen Zweiteilung in die weltliche und himmlische bzw. geistige Sphäre vor. Von weitaus entscheidender Bedeutung sind jedoch die Aussagen, die in den Kapiteln 45 und 46 getroffen werden.676 Dort geht es um eine genauere Bestimmung der Liebe (und des Hasses) und um die Frage, welchen Zweck die vier Hauptaffekte im heilsgeschichtlichen Kontext spielen. Hier wird zunächst erläutert, dass der Mensch im diesseitigen Leben in der Mitte zwischen Gut und Böse steht. Nur wenn seine Seelenkräfte ihre Funktionen fehlerfrei erfüllen, gelingt es ihm, sich auf das Gut auszurichten: Die ‚vis rationalis‘ muss dabei zwischen Gut und Böse unterscheiden, während die ‚vis concupiscibilis‘ das Gute lieben und die ‚vis irascibilis‘ das Böse hassen soll. Diese Grundbestimmung ist aus dem ersten Buch des Speculum universale wohl vertraut und es ist durchaus möglich, dass sie direkt von hier übernom-
673 In PS. AUG., Spir. et an. 4 (PL 40, col. 782) geht es dabei auch um die ‚sapientia‘ als vollendete Form der fünf rationalen Kräfte ‚sensus‘, ‚imaginatio‘, ‚ratio‘, ‚intellectus‘ und ‚intelligentia‘, auf die an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden kann: „Quinque enim progressionibus rationalitas exercetur ad sapientiam, et quatuor affectibus ad charitatem […].“ 674 PS. AUG., Spir. et an. 4 (PL 40, col. 782): „Et haec omnia cum affectuose et virtuose in anima constituuntur, per odium mundi et sui, proficit in amorem Dei et proximi: per contemptum temporalium et inferiorum, crescit in desiderium aeternorum et superiorum.“ 675 PS. AUG., Spir. et an. 38 (PL 40, col. 808): „Humanus appetitus inter summa et ima positus, cum plerumque in utraque divisus sibimetipsi sit contrarius, in quamcumque partem totus transierit, nomen ejus merito sortitur. Si carnis voluptatibus pascitur, carnalis sive animalis nominatur. Si spiritualibus desideriis delectatur, spiritualis nuncupatur. Appetitus siquidem est naturalis vis in animante movendis avide sensibus attributa.“ 676 Gerade Kapitel 45 basiert dabei wesentlich auf HUGO S. VICT., Sacram. 1, 6 (CorpVict. TH 1, p. 136–168); vgl. dazu auch BRUNGS, Christliche Denker 180 n. 37.
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men wurde.677 Im Anschluss daran stellt nun der unbekannte Autor Überlegungen dazu an, wie die einzelnen Affekte aus diesen beiden Vermögen hervorgehen: So geht aus der ‚concupiscibilitas‘ zuerst die Liebe hervor, aus dieser das Begehren und daraus schließlich die Freude. Diese Abfolge begründet sich dadurch, dass die Liebe die grundlegende positive Ausrichtung einer Person auf einen bestimmten Gegenstand (‚delectatio cordis alicujus ad aliquid‘), die durch das Begehren in Fahrt kommt (‚per desiderium currens‘) und schließlich durch die Freude zur Ruhe kommt (‚per gaudium requiscens‘). Analog dazu entsteht aus der ‚irascibilitas‘ zuerst durch den Zorn auf die eigenen Sünden der Hass, dann der Schmerz über die eigenen Fehler und schließlich die Furcht vor den Konsequenzen.678 Damit erfüllen die vier ‚naturales affectiones‘ im Kontext der heilgeschichtlichen Situation des Menschen folgende Aufgaben: Durch das ‚desiderium‘ kann der Mensch die wahren Güter begehren und sich durch die ‚laetitia‘ daran freuen; der ‚metus‘ hingegen schützt vor den Übeln und durch den ‚dolor‘ kann der Mensch über seine Fehler traurig sein und sie bedauern.679 Offensichtlich wurde hier der bei Bernhard angeklungene Gedanke von der zeitlichen Abfolge der Affekte dahingehend weitergedacht, dass die affektiv positiven Reaktionen Begehren und Freude der ‚concupiscibilitas‘ und die affektiv negativen Reaktionen Schmerz und Furcht der ‚irascibilitas‘ zugeordnet werden. Diese systematische Synthese der stoischen Vierteilung der Affekte mit der platonischen Seelenlehre vor dem Hintergrund der christlichen Heilgeschichte ist als Eigenleistung des unbekannten Autors zu betrachten und wurde im weiteren Verlauf der Debatte
677 Vgl. dazu etwa RADULF. ARD., Spec. uniu. 1, 42 (CCL 241, p. 48): „Enimuero nisi anima ratione predita esset, nequaquam bonum discernere aut queritare posset; nisi quoque cum ratione etiam concupiscibilitatem et odibilitatem ceterasque affectiones cum potestate et libertate possideret, nec bonum nec malum promereri nec premio nec pena remunerari ualeret.“ 678 PS. AUG., Spir. et an. 45 (PL 40, col. 813): „Nos ergo qui in medio bonorum et malorum positi sumus, considerare saepe debemus et gaudium illorum, et istorum supplicium, atque nostram miseriam. Rationalis siquidem est anima nostra, ut sciat discernere inter bonum et malum. Est etiam concupiscibilis atque irascibilis, ut possit amare bonum et odire malum. De concupiscibilitate nascitur amor, et de amore desiderium et gaudium. Amor est delectatio cordis alicujus ad aliquid propter aliquid, per desiderium currens, atque per gaudium requiescens; per desiderium in appetendo, et per gaudium in perfruendo. Nec aliunde bonum est, si bonum est, cor humanum, nisi quod bene amat quod bonum est. Nec aliunde malum est, si malum est, nisi quod male amat quod bonum est. Omne enim quod est, bonum est: sed in eo quod male amatur tantum vitium est. De irascibilitate nascitur odium. Ira enim generat odium: et de odio dolor et timor. Cum enim contra peccata nostra irascimur, et ea odire incipimus, dolemus quia peccavimus, et poenas pro peccatis timemus.“ 679 PS. AUG., Spir. et an. 46 (PL 40, col. 813): „Quia tamen et illius beatitudinis, et illius nihilominus damnationis aeternae humanam Deus animam pro suorum qualitate meritorum participem fieri posse cognovit, naturales affectus ei quatuor indidit; ut haberet unde bona illa posset optare, et in eis quandoque laetari; et rursum unde mala illa metuere, vel in eis etiam dolore perpetuo contristari.“
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so selbstverständlich aufgegriffen, dass sie geradezu als ‚Standardtheorie‘ gelten kann.680 Dadurch aber, dass der Autor die vier stoischen Hauptaffekte nicht mehr direkt aus den beiden affektiven Seelenkräfte hervorgehen lässt, sondern Liebe und Hass als noch grundlegendere Emotionen dazwischenschiebt, gibt er die klassische Vierteilung der Affekte bereits teilweise auf und geht eigene Wege. Eine kurze Bemerkung zum Verhältnis der beiden affektiven Kräfte ließe sich schließlich sogar in die Richtung einer komplementären Bezogenheit interpretieren: So spricht der Autor davon, dass ‚irascibilitas‘ und ‚concupiscibilitas‘ – obgleich es sich dabei grundsätzlich um unterschiedliche Seelenkräfte handelt – in gewisser Weise aufeinander bezogen sind und in einem gewissen Verhältnis zueinander (‚quadam cognatione sibi junctos‘) stehen.681 Weitere Aussagen dazu trifft er jedoch nicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Überlegungen eine wichtige Vorlage für die Affektenlehre des Radulfus Ardens waren. Gerade der für das Speculum universale so wichtige Ansatz, die einzelnen Affekte als zeitlich verschiedene Manifestationen der affektiven Potenzen der Seele anzusehen ist hier klar und übersichtlich formuliert. Radulfus Ardens übernimmt die skizzierten Bestimmungen jedoch keineswegs unverändert. Dies zeigt sich allein schon äußerlich daran, dass er nicht nur sechs, sondern insgesamt 16 amative und oditive Affekte behandelt. Dabei wählte er an vielen Stellen offenkundig bewusst andere (womöglich seiner Meinung nach treffendere) Bezeichnungen für einzelne Affekte oder differenzierte sie genauer aus. Auch das Schema der vier stoischen Hauptaffekte gibt er gänzlich auf und setzt mit der (nicht immer konsequenten) Umbenennung der beiden affektiven Seelenkräfte in ‚amabilitas‘ und ‚odibilitas‘ den in De spiritu et anima eingeschlagenen Weg fort. Dass Radulfus Ardens den Traktat nur an wenigen Stellen direkt zitiert682, ist darauf zurückzuführen, dass er das Material in vielen Punkten umstrukturiert und stark erweitert hat. Falls der Traktat tatsächlich im Umfeld Isaaks von Stella entstanden sein sollte, wäre es auch durchaus denkbar, dass sich die beiden Autoren persönlich kannten oder zumindest von den Arbeiten und dem Ein-
680 Vgl. BRUNGS, Christliche Denker 179 f. 681 PS. AUG., Spir. et an. 46 (PL 40, col. 814): „Sane qui triplicem esse vim animae docuerunt, rationalem illam, irascibilem et concupiscibilem asserentes, affectus quidem diversos, sed quadam sibi cognatione junctos, sub irascibili metum et tristitiam, sub concupiscibili desiderium et laetitiam comprehendisse videntur.“ 682 So zitiert er ihn v. a. an zwei Stellen in Buch 1. Erstens in Spec. uniu. 1, 40 (CCM 241, p. 46). Dort gibt er die ‚klassische‘ Ansicht von der Identität der Seele mit ihren Vermögen aus PS. AUG., Spir. et an. 13 (PL 40, col. 788) wieder: „Cum autem anima in substantia sit unica et simplex, tamen in effectibus et affectibus est multiplex, ex quorum multiplicitate multiplices sortitur appellationes. Dicitur autem anima dum animat, animus dum vult, mens dum scit, intellectus dum intelligit, ratio dum discernit, memoria dum meminit, cor dum meditatur, sensus dum sentit.“ (vgl. KÜNZLE, Potenzen 93); zweitens lässt sich in Spec. uniu. 1, 43 (CCM 241, p. 50) eine Parallele aus PS. AUG., Spir. et an. 22 (PL 40, col. 795) hinsichtlich der Frage feststellen, an welcher Stelle im Kopf die rationalen Fähigkeiten der Seele zu finden sind.
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flussbereich des jeweils anderen wussten: Das Kloster L’Étoile, in dem Issak ab 1147 Abt war, liegt nur 35 Kilometer östlich von Poitiers683, einer möglichen Wirkungsstätte des Radulfus Ardens. Diese Beobachtungen leiten dazu über, ein vorläufiges Fazit zu ziehen und einige Überlegungen zu Stellung der Affektenlehre des Radulfus Ardens im 12. Jahrhundert anzustellen.
3.3 Der Ertrag der Spurensuche: Einige Überlegungen zur Stellung der Affektenlehre des Radulfus Ardens im 12. Jahrhundert Welche Ergebnisse hat die Suche nach Vorlagen für die Konzeption im Speculum universale ergeben? Es lassen sich hauptsächlich fünf Punkte festhalten: (1) Der terminologische Grundbestand, der theologische Überbau und ein bestimmtes Repertoire von Einzelelementen aus der antik-paganen Affektenlehre stammen von Augustinus. Zudem identifiziert auch Radulfus Ardens die Affekte mit dem Willen (bzw. seinen verschiedenen Ausformungen) und bindet damit die ethische Qualität der Emotionen unmittelbar daran zurück, ob die ‚uoluntas‘ auf materiellvergängliche oder geistig-ewige Güter ausgerichtet ist. Dieser systematische Zusammenhang schlägt sich sprachlich durch die Beifügung wertender Adjektive zu den jeweiligen Bezeichnungen der einzelnen Affekte nieder. Diese Methode stellt eine wichtige terminologische Grundlage für die Konzeption der affektiven Komplementärtugenden dar. (2) Auch bei der Einteilung der affektiven Seelenkräfte besteht eine gewisse Nähe zur augustinisch-platonischen Tradition. So übernimmt Radulfus Ardens einerseits die grundsätzliche Zweiteilung des Affekts in ein konkupiszibles und ein iraszibles Moment. Auf der anderen Seite sieht er statt in Begehren und Zorn in Liebe und Hass die grundlegenden Momente menschlicher Emotionalität und benennt die beiden Seelenkräfte entsprechend um, wobei er sich offensichtlich an Kapitel 45 aus De Spiritu et anima oder auch an ähnlichen Aussagen Hugos von Sankt Viktor in De Sacramentis orientiert. (3) Die Lehre von der Geringschätzung (‚contemptus‘) als drittem Grundaffekt ist als Eigengut des Radulfus Ardens zu betrachten, für das sich nach dem aktuellen Stand der Forschung keine unmittelbaren Vorlagen finden lassen. Am ehesten sind sich hier Einflüsse stoischen Denkens zu vermuten: Denn ähnlich wie die Stoiker geht er davon aus, dass die Affekte den Weltbezug des Menschen widerspiegeln und somit das Wesen und die ethische Qualität der in der Welt vorhandenen Dinge
683 Vgl. BUCHMÜLLER, Isaak von Étoile 86–89.124–128.
3.3 Der Ertrag der Spurensuche
379
repräsentieren. Demnach würde das amative Moment das ethisch Gute, das oditive das ethisch Böse, und das kontemptive die ethisch neutrale bzw. irrelevante Sphäre der Adiaphora repräsentieren. Diese eigenwillige Aufteilung ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass Radulfus Ardens sich intensiv mit der stoischen Ethik befasst hat, wofür bspw. die zahlreichen und z. T. auch längeren Seneca-Zitate sprechen würden.684 (4) Trotz aller Eigenheiten in der Umsetzung stammt der Grundansatz, die einzelnen Emotionen als zeitlich-konkrete Ausprägungen der affektiven Seelenkräfte bzw. der Grund-Affekte zu betrachten und sie mit diesen systematisch zu verknüpfen, offenbar aus dem Denken Bernhards von Clairvaux oder aus der sogenannten ‚Zisterzienserschule‘, wobei wiederum De spiritu et anima als direkte Vorlage in Frage kommt. In jedem Fall gibt es diese Vorstellung weder bei Augustinus noch in den Konzeptionen der antiken Philosophenschulen. Sie baut jedoch darauf auf, da sie im Kern eine systematische Verbindung des stoischen Tetrachords mit der platonischen Zweiteilung der Affektivität des Menschen darstellt. (5) Für den Leitgedanken, dass sich die Komplementarität der beiden Grundaffekte Liebe und Hass in Gestalt mehrerer komplementärer Tugendpaare ausprägt, konnte hingegen keine direkte Vorlage gefunden werden. Er sticht v. a. deshalb heraus, da sich alle vier hellenistischen Philosophenschulen darin einig sind, dass die Gefühle hierarchisch unterhalb der Vernunft stehen, und auch alle in diesem kurzen Abriss untersuchten christlichen Denker der Spätantike und des frühen Mittelalters diese Sichtweise letztlich ohne grundlegende Veränderungen übernehmen. Erst zu Beginn des 12. Jahrhundert wird von Bernard von Clairvaux der Gedanke formuliert, dass aus der richtigen Zusammensetzung von negativen und positiven Emotionen Tugenden entstehen können. In dieser Hinsicht kommt dem besprochenen Sermo de diversis 50 eine besondere Bedeutung zu. Jedoch gehen sowohl Bernhard als auch seine Rezipienten davon aus, dass aus diesem Prozess die vier Kardinaltugenden und keine eigenen affektiven Tugenden hervorgehen. Zudem stellen sie keine genaueren Überlegungen dazu an, reflektieren kaum systematisch darüber und entwickeln auch keine Spezialterminologie dafür. All dies ist erst im Speculum universale zu finden: Radulfus Ardens widmet dem Verhältnis von Liebe und Hass mit Buch 11 das umfangreichste seines Werkes. Er stellt in 172 Kapiteln geradezu alle denkbaren Affekte dar, die sich aus Liebe und Hass ableiten lassen und verknüpft sie (fast) alle in Form von Komplementärtugenden miteinander. Dazu bedient er sich einer eigens dafür konzipierten und gelegentlich durchaus missverständlichen Terminologie, die er bereits in Buch 1 vorstellt und konsequent verwendet. Auf diese Weise liefert er in seinem Werk – gerade wenn man die
684 Vgl. dazu ausführlich Punkt 3 im dritten Teil der Arbeit.
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3 Die Affektenlehre im Speculum universale
Überlegungen zum ‚contemptus‘ in Buch 12 noch hinzurechnet – eine höchst differenzierte und systematisch vergleichsweise konsistente Reflexion über die menschlichen Gefühle, die tiefschürfende Spekulationen zu den innerseelischen Vorgängen mit dem Anspruch praktischer Anwendbarkeit verbindet. Damit stellt die Affektenlehre des Radulfus Ardens auf der einen Seite eine Synthese der damals zugänglichen Ansichten zu den Affekten dar; zum anderen geht sie aber weit über die Rezeption vorhandenen Gedankenguts hinaus und erschließt neue Zugänge zu der Thematik. Diese wurden jedoch – soweit sich das bisher sagen lässt – nicht weiterverfolgt: Denn während bspw. die Verknüpfung der stoischen Hauptaffekte mit der platonischen Seelenlehre aus De spiritu et anima im späten 12 und frühen 13. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen wurde, lässt sich dabei keine Adaption der Lehre von den affektiven Komplementärtugenden erkennen.685 Durch das gesteigerte Interesse an den Werken des Aristoteles, auf deren Grundlage Thomas von Aquin schließlich einen Neuansatz entworfen hat, der auch heute noch als Höhepunkt der antikmittelalterlichen Diskussion gilt 686, erschien der Ansatz des Radulfus Ardens möglicherweise schon sehr früh ‚veraltet‘; zu dieser Bewertung dürfte auch die Eigenwilligkeit von Sprache und Inhalt des Werkes beigetragen haben. Trotzdem – so viel konnte durch die unternommenen Vergleiche gezeigt werden – nimmt die Affektenlehre im Speculum universale innerhalb des 12. Jahrhunderts sowohl hinsichtlich der systematischen Konzeption als auch der inhaltlichen Durchdringung des Stoffes eine Sonderstellung ein. Damit kann die sechsten in der Einleitung formulierte Leitfrage hinsichtlich der in Buch 11 behandelten Affekte Liebe und Hass als beantwortet gelten.
685 Nach BRUNGS, Christliche Denker 179 f. haben v. a. Franziskanertheologen (wie etwa Johannes von La Rochelle, Alexander von Hales und Bonaventura) diese Lehre übernommen, da sie durch die Autorität Augustins abgesicherte Alternative zu aristotelischem Gedankengut sahen. Vgl. dazu auch GRÜNDEL, Verstandestugenden 3. 686 Vgl. z. B. LAARMANN, Passiones animae oder HENGELBROCK, Affekt 92 f.
Dritter Teil: Buch 12 – Die kontemptiven Tugenden
Im letzten Teil konnte zum einen gezeigt werden, dass die Anlage von Buch 11 von komplementärem Denken geprägt ist. Dies wurde besonders dadurch sichtbar, dass acht Komplementärtugendpaare das Grundgerüst des Buches bilden. Zum anderen wurden durch detaillierte Textuntersuchungen bisher unbekannte Komplementärtugendpaare zutage gefördert und es konnte an mehreren Stellen gezeigt werden, dass auch solche Themen, die nicht unmittelbar in den Bereich der Tugendethik gehören, mithilfe von komplementären Denkstrukturen erschlossen werden. Trotz einer ganzen Reihe nicht abschließend klärbarer systematischer Fragen konnte damit die anfangs formulierte These für Buch 11 bestätigt werden: Das komplementäre Denken bestimmt in Buch 11 nicht nur die Gliederung, sondern es schlägt sich auch in der inhaltlichen Entfaltung der einzelnen Themenbereiche bis in kleine Details hinein nieder. Dies ist immer wieder auch an solchen Stellen zu beobachten, an denen die Komplementarität auf den ersten Blick gar nicht direkt erwähnt wird. Damit kann sie als das zentrale Strukturprinzip des Buches gelten. Bleibt dieser Befund auf Buch 11 beschränkt oder lassen sich auch in Buch 12 ähnliche Beobachtungen machen? Um dieser Frage nachzugehen, legt sich ein ähnliches Vorgehen wie im zweiten Teil der Arbeit nahe. Von daher wird in einem ersten Schritt (Punkt 1) ein Überblick über den Inhalt und den Aufbau des Buchs dargeboten. Im Zuge dessen erfolgt auch die schon im ersten Teil angekündigte, detaillierte Beschreibung der Entwicklungsstufen zur Geringschätzung, die in der Einleitung des Buches behandelt werden. Sie bilden das systematische Fundament für die weitere Entfaltung der kontemptiven Einzel- bzw. Komplementärtugenden im Hauptteil, die im zweiten Schritt (Punkt 2) ausführlich besprochen werden. In einem dritten Schritt (Punkt 3) wird schließlich untersucht, in welcher Beziehung die Inhalte von Buch 12 zur zeitgenössischen ‚contemptus mundi‘-Literatur stehen. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, inwieweit die Lehre von der Geringschätzung als eigenständigem Affekt als Sondergut bzw. originelle Denkleistung des Radulfus Ardens angesehen werden kann. Ein zentraler Unterschied zu Buch 11 fällt bereits bei der oberflächlichen Betrachtung der Gliederung von Buch 12 ins Auge: Die Entfaltung der ‚uirtutes contemptiue‘ orientiert sich im Kern an vier Gliedern (‚distinctiones‘) der Geringschätzung und ist damit auf den ersten Blick nicht direkt von der Komplementarität bestimmt. Zwar werden in Buch 12 mehrere Komplementärtugenden genannt, jedoch ist deren Bedeutung für die Aufgliederung des Stoffes zunächst nicht ersichtlich. Bevor jedoch genauer erläutert wird, wie Buch 12 aufgebaut ist und welche Inhalte dort behandelt werden, ist es hilfreich, sich die grundlegenden Aussagen zur Geringschätzung aus der allgemeinen Tugendlehre noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Die im Folgenden angeführten sieben Punkte fassen die Erkenntnisse aus dem ersten Teil der Arbeit thesenartig zusammen. Nur auf dieser Verständnisgrundlage kann eine detaillierte Untersuchung der ‚gradus ad contemptum‘ und der kontemptiven Einzeltugenden erfolgen:
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Dritter Teil: Buch 12 – Die kontemptiven Tugenden
(1) Die menschliche Emotionalität ist in erster Linie von den Grund-Leidenschaften Liebe und Hass geprägt. Diese werden als affektive Befähigungen (‚due aptitudines‘) bestimmt, die aktiv auf gute bzw. erstrebenswerte (‚bona‘) und schlechte bzw. zu meidende Gegenstände (‚mala‘) reagieren. Die Geringschätzung ist dagegen durch die Zurücknahme (‚redemptio‘) der beiden anderen Affekte gekennzeichnet. Sie wird durch wertlose bzw. bedeutungslose Dinge (‚uana‘) ausgelöst. (2) Diese Trias bildet sich auch im Bereich des Willens ab: Dort lösen die ‚bona‘ das Gefallen (‚placentia‘), die ‚mala‘ das Missfallen (‚displicentia‘) und die ‚uana‘ das Nicht-Gefallen (‚nonplacentia‘) aus. Diese Reaktionen nehmen im Zuge der Willensbildung die Formen Wollen (‚uoluntas‘), Widerwillen (‚noluntas‘) und Nicht-Wollen (‚nonuoluntas‘) an. Auch hier wird deutlich, dass die Geringschätzung nichts positiv setzt und dass die Willensregungen mit den Affekten identisch sind. (3) Damit ist der ‚contemptus‘ kein Affekt im eigentlichen Sinne. Dennoch kann er als passive Reaktion der affektiven Kräfte der Seele auf eine der drei Kategorien von Gegenständen verstanden werden, die in der Welt vorkommen. Diese Reaktion ist durch das Ausbleiben einer aktiven emotionalen Reaktion gekennzeichnet. (4) Als völlig affektfreier Zustand ist die Geringschätzung im Idealfall ein affektiv neutraler Null- bzw. Ruhepunkt in der Mitte zwischen Liebe und Hass. Dennoch scheint sie in einem gewissen Maß eine emotionale Erregung hervorzurufen, die sich gewöhnlich dadurch bemerkbar macht, dass der Mensch Dinge, die in den Bereich des ‚contemptus‘ fallen, nicht völlig unbeachtet lässt, sondern abschätzig darüber denkt oder sie verhöhnt. (5) Aus der Tatsache, dass die Geringschätzung praktisch gesehen meist eine Tendenz zum Affekt des Hasses aufweist, lässt sich schließen, dass sie sich prinzipiell den beiden Grund-Leidenschaften annähern kann. Unter den Bedingungen des diesseitigen Lebens ist sie deshalb nie oder fast nie ein völlig affektfreier Zustand, sondern lässt sich als mehr oder weniger weit fortgeschrittenes Entwicklungsstadium von Liebe und Hass aus in diese Richtung beschreiben. (6) Damit ist die Aussage, dass die Geringschätzung in der Nähe des Hasses steht, streng genommen keine systematische Bestimmung. Vielmehr spiegelt sich darin eine praktische Alltagserfahrung wider. Deshalb wird sie auch in Buch 1 nicht in einem eigenen Kapitel, sondern im Kontext des Hasses behandelt. (7) Obwohl die Vorstellung von drei affektiven Grundreaktionen auf die drei Kategorien von in der Welt existenten Gegenständen praktisch gesehen durchaus nachvollziehbar ist, bleibt ein systematisches Problem bestehen: Ein völliges Fehlen von Affekten kann eigentlich nicht als Affekt gelten und dies widerspricht auch der von Radulfus Ardens selbst verwendeten Affektdefinition als ‚afflictio mentis‘.
Dritter Teil: Buch 12 – Die kontemptiven Tugenden
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Ausgehend von diesen grundlegenden Ergebnissen, die aus dem Text der Bücher 1–5 gewonnen werden konnten, lässt sich das Ziel im Hinblick auf Buch 12 bzw. die Ausfaltung des dritten Affektes im Rahmen der speziellen Tugendlehre in Form von vier zentralen Thesen präzisieren: (1) Die Eigenschaft des ‚contemptus‘, sich entweder der Liebe oder dem Hass anzunähern, eröffnet bei genauerer Betrachtung den eigentlichen Raum für Entfaltung der kontemptiven Komplementärtugenden – schließlich würde es systematisch gesehen keinen Sinn machen, aus einem affektiv neutralen Nullpunkt Gegensatzpaare abzuleiten, die sich gegenseitig ins rechte Maß bringen. (2) Dass Radulfus Ardens die Geringschätzung in die Nähe des Hasses stellt bzw. ihm zuordnet, ist mehr eine programmatische Ankündigung als eine systematische Bestimmung. Denn tatsächlich erwecken bedeutungslose Dinge bei vielen Menschen amative Emotionen und lenken dadurch von Gott ab. Um auf diese Problematik aufmerksam zu machen und eine Gegenstrategie zu entwerfen, nähert er sich in Buch 12 den an sich neutralen bzw. affektlosen kontemptiven Verhaltensweisen aus der Richtung des Hasses an. (3) Dass er sich dem Phänomen rein theoretisch auch aus der Richtung der Liebe annähern könnte, zeigt sich daran, dass die jeweils nur kurz erwähnten Komplementärtugenden aus diesem Bereich stammen. Von daher kommt der Komplementarität weit größere Bedeutung für den Gedankengang von Buch 12 zu, als auf den ersten Blick ersichtlich. (4) Die systematischen Unklarheiten und die Eigenwilligkeit des Ansatzes legen nahe, dass Radulfus Ardens hier selbst spekuliert hat und seine Lehre vom ‚contemptus‘ weitgehend unabhängig von literarischen Vorlagen entwickelt hat. Ausgangsund Bezugspunkt waren dabei spirituelle Fragen aus dem geistigen Umfeld des 12. Jahrhunderts und die aufkommende ‚contemptus mundi‘-Literatur. Diese vier Thesen enthalten letztlich einen Lösungsvorschlag für die systematischen Probleme, die sich bereits im ersten Teil der Arbeit bei der Untersuchung des ‚contemptus‘ abgezeichnet haben. Von daher ist es das Hauptanliegen des zweiten Teils, diese Annahmen auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen und damit das Potential des komplementären Denkens in einem wichtigen Themenbereich des Speculum universale herauszuarbeiten.
1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12 Im Vorfeld dieses Unterfangens wird zunächst eine überblicksartige Skizze von Aufbau und Inhalt dargeboten. Wie weiter oben bereits erwähnt, lässt sich das Buch grundsätzlich in zwei Teile gliedern: Der erste Teil, den man auch als Einleitung bezeichnen könnte, behandelt in den Kapiteln 1–11 die ‚gradus ad contemptum‘. Sie sind für das Verständnis der systematischen Stellung der Geringschätzung grundlegend, weshalb die Aussagen in diesem Abschnitt auch als ‚prolegomena‘ interpretiert werden können. Dieser Eindruck wird dadurch weiter verstärkt, dass sie für den Gesamtaufbau des Buches nur eine sekundäre Bedeutung haben. Im zweiten Teil werden die kontemptiven Tugenden inhaltlich erläutert, definiert und begrifflich unterteilt. Aufgrund der Tatsache, dass dieser Teil mit den Kapiteln 12–144 den Großteil von Buch 12 einnimmt, kann er als Hauptteil gelten. Den roten Faden dieser Entfaltung bilden die ebenfalls schon erwähnten vier Glieder der Geringschätzung. Das letzte Kapitel des Buches (c. 145) gehört inhaltlich nicht mehr zum Bereich der Geringschätzung. Es bildet den Abschluss der Ethik des Inneren Menschen insgesamt und wurde bereits im ersten Teil der Arbeit beschrieben.1 Dieser Aufriss von Buch 12 legt für das weitere Vorgehen im Rahmen des inhaltlichen Überblicks Folgendes nahe: In einem ersten Schritt (Punkt 1) muss der Aufbau des Hauptteils grundlegend erläutert werden. Dabei ist zuvorderst die genaue Bedeutung der vier ‚distinctiones‘ zu klären. Nur auf dieser Basis lässt sich verstehen, welcher Stellenwert den darin enthaltenen Komplementärtugendpaaren zukommt. Die Vorbemerkungen in der Einleitung stehen zwar nicht direkt mit der Aufgliederung des Hauptteils in Verbindung, leiten aber unmittelbar zu zentralen systematischen Fragestellungen über, die bei der detaillierten Beleuchtung der ‚uirtutes contemptiue‘ stets im Hintergrund stehen und daher werden sie erst im zweiten Schritt genauer in den Blick genommen (Punkt 2). Auf der Grundlage dieser Untersuchungen wird ein Zwischenfazit gezogen (Punkt 3), in dem die bereits in der Einleitung formulierte Frage nach dem Verhältnis des ‚contemptus‘ zu Liebe und Hass abschließend beantwortet wird. Ebenso lässt sich genauer erläutern, inwieweit die Geringschätzung als eigenständiger Affekt gelten kann.
1 Vgl. Punkt 1.1.3 im ersten Teil der Arbeit. https://doi.org/10.1515/9783110758924-013
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
1.1 Der Hauptteil von Buch 12 und die vier Glieder der Geringschätzung 1.1.1 Funktion und Herkunft der ‚distinctiones contemptus‘ Radulfus Ardens nimmt an keiner anderen Stelle im Speculum universale eine Aufteilung in ‚distinctiones‘ vor, um einen Themenblock zu strukturieren. Dabei handelt es sich jedoch nur auf den ersten Blick um eine Besonderheit. Tatsächlich lassen sich nämlich in der speziellen Tugendlehre eine ganze Reihe vergleichbarer Ordnungsverfahren entdecken. Besonders gute Beispiele finden sich in den Traktaten über die Klugheit in Buch 9 und über die Gerechtigkeit in Buch 10, denn auch dort werden die z. T. sehr umfangreichen Inhalte nach einer ähnlichen Methode strukturiert: So gliedert der Autor die ‚prudentia‘ in fünf Arten, die Klugheit zu gebrauchen (‚usus prudentie‘), die Gerechtigkeit des Evangeliums (‚iustitia euangelica‘) in 19 Gerechtigkeitspflichten (‚officia iustitie‘) und die richtende Gerechtigkeit (‚iustitia iudicaria‘) in vier Pflichten des Richters (‚officia iudicis‘). Von daher lässt sich schließen, dass zumindest der äußere Aufbau des Buches nicht von der Komplementarität bestimmt ist, sondern sich eher an der Programmatik der Bücher über die diskretiven Tugenden orientiert. Dies ist allerdings insofern nicht weiter verwunderlich, da in Buch 12 – ebenso wie in den Büchern 7–10 – eine einzelne, in sich geschlossene Tugendgruppe, dargestellt wird. Was aber ist mit den vier Gliedern der Geringschätzung konkret gemeint? Warum teilt der Autor den Hauptteil des zweitgrößten Buches seines Werkes auf diese Weise ein? Ein Blick in Kapitel 12 bringt Licht ins Dunkel. Dort heißt es: Que autem sint contempnenda uel non istis duobus uersiculis declaratur: Spernere mundum, spernere nullum, spernere sese, spernere se sperni, quatuor hec bona sunt. Ceterum unumquodque istorum discreta indiget considerationem.2
Radulfus Ardens führt hier zwei Verse (‚uersiculi‘) an, die der Geringschätzung vier verschiedene Güter (‚bona‘) zuweisen: Erstens soll man die Welt verachten (‚spernere mundum‘) und zweitens sich selbst (‚spernere sese‘). Drittens darf man keinen anderen Menschen verachten (‚spernere nullum‘) und viertens soll man es verachten, von anderen Menschen verachtet zu werden. Er kündigt an, jeden dieser vier Punkte (‚unumquodque istorum‘) eigens zu behandeln. Er bezeichnet sie hier noch als ‚discreta‘, während er sie im weiteren Verlauf des Buches ‚distinctiones‘ nennt.3
2 Spec. uniu. 12, 12 (P, fol. 115ra). 3 So z. B. in den Kapitelüberschriften des zweiten und vierten Gliedes in Spec. uniu. 12, 122 (P, fol. 146ra): „De secunda distinctione contemptus uidelicet quod nullum debeamus contempnere.“ sowie ebd. 12, 144 (P, fol. 159ra): „De quarta distinctione contemptus uidelicet quod debeamus contempnere nos contempni.“ Der Begriff findet sich ebenfalls zu Beginn des dritten Gliedes in ebd. 12, 123 (P, fol. 146vb): „Tertia distinctio est semet contempnere.“ Im Bereich des ersten Gliedes – also
1.1 Der Hauptteil von Buch 12 und die vier Glieder der Geringschätzung
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Die Übersetzung dieses Begriffs als ‚Glieder‘ der Geringschätzung bedarf einer kurzen Erläuterung: Denn wörtlich meint ‚distinctio‘ eher ‚Unterscheidung‘ oder ‚Unterteilung‘, was auch durch den synonym gebrauchten Terminus ‚discreta‘ deutlich wird. In der Tat wird der ‚contemptus‘ hier auch in seine Momente bzw. Wirkungsfelder unterteilt. Praktisch gesehen handelt es sich bei den vier ‚distinctiones‘ aber eher um ‚Arten‘ der Geringschätzung. Der Begriff ‚distinctio‘ wird im Folgenden aber nicht mit ‚Art‘, sondern mit ‚Glied‘ wiedergegeben, da ‚Art‘ (‚species‘) in der speziellen Tugendlehre fast immer eine bestimmte Unterart einer Tugend oder eines Lasters meint. Bei des ‚distinctiones‘ handelt es sich aber nicht um Unterarten, sondern – wie gesagt – eher um Wirkungsfelder, sodass die Übersetzung als Glieder diesem Missverständnis vorbeugt. Zudem fällt an dem Textausschnitt auf, dass zu Beginn noch das Verb ‚contempnere‘ verwendet wird, in den beiden darauffolgenden Versen jedoch von ‚spernere‘ die Rede ist. Daraus lässt sich zum einen schließen, dass die beiden Begriffe geringschätzen (‚contempnere‘) und verachten (‚spernere‘) im Verständnis des Radulfus Ardens synonym sind. Zum anderen handelt es sich dabei offensichtlich nicht um eine eigene Formulierung des Autors, da er über das ganze Buch 12 hinweg fast ausschließlich das Verb ‚contempnere‘ verwendet. Er zitiert an dieser Stelle ein Gedicht des Hildebert von Lavardin. Dabei handelt es sich um die erste Hälfte des Carmen 124 ‚de quatuor bonis et de quatuor malis‘, das aus zwei Distichen besteht: Spernere mundum, spernere sese, spernere nullum, Spernere se sperni, quatuor haec bona sunt. Quaerere fraudem, quaerere pompam, quaerere laudem, Quaerere se quaeri, quatuor haec mala sunt.4
Da dieses Zitat den Ausgangspunkt für den gesamten Aufbau von Buch 12 darstellt, muss seine Herkunft und Wirkungsgeschichte kurz näher betrachtet werden. Hildebert von Lavardin († um 1133) war nicht nur einer der bekanntesten lateinischen Dichter des Hochmittelalters, sondern auch Leiter der Kathedralschule in Le Mans und später Erzbischof von Tours.5 Bei der Ausübung dieser Ämter stand er in regem Austausch mit vielen wichtigen Theologen und kirchlichen Funktionsträgern der damaligen Zeit und hatte, wie sich an seinen Briefen erkennen lässt, u. a. Kontakt zu Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von Champeaux.6 In besonderer Weise stand er jedoch in Verbindung mit der ‚Schule‘ von Chartres und verfasste selbst mehrere Schriften, die sich in diesen Kontext einordnen lassen.7 Aus diesem Grund ist es wenig verwunderlich,
dem ‚contemptus mundi‘ – kommt der Begriff übrigens nicht vor, sondern wird von Radulfus Ardens stillschweigend vorausgesetzt. 4 HILDEB., Carm. 124 (PL 171, col. 1437A). 5 Vgl. V. MOOS, Hildebert. 6 Vgl. HALFEN, Chartres 145. 7 Vgl. HALFEN, Chartres 141–146.
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
dass seine Werke weit verbreitet waren und insbesondere Versatzstücke seiner Gedichte in der damaligen Zeit als Allgemeingut angesehen werden können.8 So ist das hier von Radulfus Ardens zitierte Bruchstück bspw. auch bei Petrus Cantor nachweisbar.9 Wie in der Einleitung beschrieben, lassen sich immer wieder Bezüge zwischen dem Verbum adbreviatum und dem Speculum universale erkennen, wobei jedoch nicht abschließend geklärt ist, wer von wem abgeschrieben hat.10 Welche Bekanntheit das Distichon im Laufe der Zeit erlangt hat, lässt sich daran ablesen, dass es noch in der Renaissance präsent war und bspw. von Petrarca in seinem Traktat De remediis utriusque fortune vorkommt.11 So lässt sich also nicht mit Sicherheit bestimmen, aus welcher Quelle Radulfus Ardens diese vier ‚distinctiones‘ der Verachtung bzw. – in seiner Wortwahl – der Geringschätzung übernimmt. Ein direkter Bezug zu Hildebert von Lavardin ist eher unwahrscheinlich, da im Speculum universale bisher nur selten Zitate aus den Werken Hildeberts gefunden wurden, bei denen es sich stets nur um einzelne Sätze oder Aphorismen handelt, die bspw. auch einer Florilegiensammlung entnommen sein können.12 Wesentlich wahrscheinlicher ist, dass er das Gedicht aus dem Unterricht kannte oder über andere Autoren, wie z. B. Petrus Cantor, damit in Kontakt kam. Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass Radulfus Ardens die Aussagen in Carmen 124 als roten Faden nutzt, um die Inhalte im Bereich des ‚contemptus‘ aufzugliedern.
1.1.2 Die Aufgliederung des Hauptteils und seine konkreten Inhalte Diese Struktur erfordert eine eingehendere Betrachtung. Zunächst stellt sich die Frage, welchen Raum bzw. welche Bedeutung die vier ‚distinctiones‘ im Einzelnen einneh8 SILAGI, Contemptus mundi hebt diesbezüglich eigens hervor, dass das Gedicht ‚de IV bonis et IV malis‘ sprichwörtlich verbreitet war und dass der Gedanke des ‚contemptus mundi‘ darin besonders prägnant ist. Ähnlich äußert sich auch ALSZEGHY, Fuite 1602. 9 PETR. CANTOR, Verb. adbreu. 2, 24 (CCM 196, p. 695): „Ne cures ergo si a talibus contempnaris. Vnde quidam: “Spernere mundum, spernere nullum, spernere sese. Spernere se sperni, quatuor hec bona sunt”; sed ultimum maius.“ 10 Vgl. Punkt 2.1.1.2 in der Einleitung. 11 Vgl. HEITMANN, Petrarca 149. 12 So zitiert er bspw. in Spec. uniu. 1, 52 (CCM 241, p. 60) die Carmina Hildeberts ein weiteres Mal: „Qui semel est lesus fallaci piscis ab amo, omnibus aera cibis unca subesse putat.“ (vgl. HILDEB., Carm. 76 (PL 171, col. 1421Bf.)). Ansonsten finden sich v. a. in den Büchern 7–9 mehrere Formulierungen aus seinen Sermones (so bspw. im 7. Kapitel von Buch 7, im 2. Kapitel von Buch 8 und im 12. Kapitel von Buch 9). In Buch 10 wird an zwei Stellen seine Moralis philosophia de honesto et utili zitiert: Im 32. Kapitel hat Radulfus Ardens hinsichtlich der ‚iustitia iudicaria‘ ein längeres Zitat daraus entnommen (vgl. HILDEB., Moral. 1, 11 (PL 171, col. 1014Af.)) und auch eine angebliche SenecaReferenz in Kapitel 39 stammt offenbar aus dieser Schrift (vgl. HILDEB., Moral. 1, 12 (PL 171, col. 1014D)).
1.1 Der Hauptteil von Buch 12 und die vier Glieder der Geringschätzung
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men. Hier sind zunächst vom Umfang her beträchtliche Unterschiede festzustellen: So bildet die Darstellung der Geringschätzung gegenüber der Welt (‚contemptus mundi‘) mit einem Umfang von 110 Kapiteln (c. 12–121) bei Weitem den größten Teil von Buch 12. Die Geringschätzung sich selbst gegenüber (‚contemptus sui ipsius‘) stellt mit immerhin noch 21 Kapiteln (c. 123–143) den zweitgrößten Abschnitt dar. Die beiden übrigen Glieder werden dagegen jeweils nur in einem einzigen Kapitel abgehandelt: Die Vorschrift, keinen anderen Menschen geringzuschätzen (‚nullum contempnere‘) wird in Kapitel 122 erläutert und die Aufforderung, der Geringschätzung keinen Wert beizumessen, die sich gegen einen selbst richtet (‚contempnere se contempni‘), in Kapitel 144. Dieses auffällige Ungleichgewicht liegt wohl darin begründet, dass im Bereich des ‚contemptus mundi‘ und des ‚contemptus sui ipsius‘ eine Vielzahl von Verhaltensweisen beschrieben werden können, während dies bei den anderen beiden Gliedern deutlich schwieriger ist. Zudem handelt es sich bei diesen beiden Themen um Gegenstände, die im Rahmen der ‚contemptus mundi‘-Lehre in der christlichen Tradition schon häufig dargestellt wurden und Radulfus Ardens in diesen Bereichen auf deutlich mehr Vorwissen zurückgreifen konnte.13 Dagegen ist im Hinblick auf die ‚secunda distinctio‘ aber besonders hinsichtlich der ‚quarta distinctio‘ auf den ersten Blick überhaupt nicht klar, welche Tugend damit eigentlich gemeint sein könnte. Es lässt sich daher zunächst festhalten: Aus der Perspektive des Tugendethikers sind die erste und die dritte ‚distinctio‘ die ergiebigeren und daher auch die bedeutsameren Themenfelder. Um eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, welche konkreten Inhalte in Zusammenhang mit den einzelnen Gliedern verbunden sind, werden die vier Abschnitte nun kurz beschrieben. (1) Das erste Glied handelt in den Kapiteln 12–121 das gesamte Spektrum der Geringschätzung gegenüber der Welt ab. Aus dem Gliederungskapitel (c. 12) geht hervor, dass der Begriff ‚Welt‘ hier mit den weltlichen Dingen (‚res mundane‘) gleichzusetzen ist.14 Grundsätzlich bildet die Liebe zur Welt bzw. das Streben nach den vermeintlichen Gütern der Welt den Gegenbegriff zur Geringschätzung der Welt, woraus folgt, dass der ‚contemptus mundi‘ ebenso viele Formen annehmen kann, wie der ‚amor mundi‘.15 Die weltlichen Güter teilt er in die fünf Bereiche Reichtümer (‚diuitie‘), Ehrenstellungen (‚honores‘), Machtpositionen (‚potentie‘), wertloser Ruhm (‚uana gloria‘) und Lust (‚uoluptas‘) ein. Daraus ergeben sich wiederum fünf Arten der Geringschätzung bzw.
13 Vgl. dazu ausführlich Punkt 3 des vorliegenden Teils. 14 Spec. uniu. 12, 12 (P, fol. 115rb): „Quarto uero dicitur mundus amor uite mundane rerumque mundanarum, ut amor honoris, potestatis, conodoxie, diuitiarum et uoluptatum. Que iste mundus erroneus tanquam summa bona desiderat, appetit et commendat, que quidem non esse diligenda, sed potius contempnenda […].“ 15 Spec. uniu. 12, 20 (P, fol. 117rb): „Diuiditur autem contemptus mundi in tot species, in quot et amor mundi.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
der Liebe gegenüber der Welt.16 Diese fünf Komplexe werden jeweils in einem eigenen Traktat aus tugendethischer Perspektive beschrieben. Dabei wird der jeweilige ‚contemptus‘ als Tugend dem entsprechenden ‚amor‘ als Laster gegenübergestellt: – Die Tugend der freiwilligen Armut (‚uoluntaria paupertas‘) und das Laster der Habgier (‚auarita‘ bzw. ‚cupiditas‘) werden in den Kapiteln 21–86 besprochen. Damit ist dieser Abschnitt die größte zusammenhängende Einheit des Buches. Dies liegt nicht nur daran, dass die Habgier als Quelle einer enormen Vielzahl von Lastern angesehen wird, die alle einzeln behandelt werden, sondern dass sich in diesem Bereich auch zwei sehr ausführliche Exkurse finden: Einer über den Wucherzins (‚usura‘) in den Kapiteln 67–70 und einer über den Ämterkauf (‚simonia‘) in den Kapiteln 71–84. – Der freiwilligen Niedrigkeit (‚uoluntaria uilitas‘) wird in den Kapiteln 87–90 das Streben nach Ehrenstellungen bzw. der Ehrgeiz (‚ambitus‘) entgegengestellt. – In einem ähnlich kurzen Traktat widmet sich Radulfus Ardens der freiwilligen Unterordnung (‚uoluntaria subiectio‘) und ihrem Gegensatz, dem Machtstreben, das ebenfalls als ‚ambitus‘ bezeichnet wird (c. 91–95). – Die freiwillige Selbstverachtung (‚uoluntarius suidespectus‘) steht der Liebe zum wertlosen Ruhm (‚amor uane glorie‘) gegenüber. Die beiden Gegensätze werden in den Kapiteln 96–115 behandelt. Dabei verwendet Radulfus Ardes den Begriff des Lobes (‚laus‘) als Synonym für ‚Ruhm‘. – Schließlich bilden das Streben nach Lust (‚amor uoluptatum‘ bzw. ‚libido‘) und die freiwillige Annahme von Leid und Schmerz (‚uoluntarius labor siue uoluntaria afflictio‘) Gegensätze. Mit diesem Abschnitt, der die Kapitel 116–121 umfasst, endet die erste ‚distinctio‘ der Geringschätzung. (2) In Verbindung mit dem zweiten Glied wird in Kapitel 122 die Vorschrift erläutert, dass man keinen anderen Menschen geringschätzen darf. Radulfus Ardens begründet diese Vorgabe zunächst und gibt zu ihrer Veranschaulichung einen längeren Passus aus den Vitae patrum wieder. Am Ende des Kapitels macht er deutlich, dass man zwar die Sünden und Laster des Nächsten von sich weisen oder verachten darf, niemals jedoch seine Person. Hier werden Anklänge an die Bestimmung des Hasses in Buch 11 sichtbar. (3) Im Abschnitt zur dritten ‚distinctio‘ widmet sich der Autor der Frage, was es bedeutet, sich selbst geringzuschätzen. Den ‚contemptus sui ipsius‘ sieht er dabei in
16 Spec. uniu. 12, 20 (P, fol. 117rb): „Hoc est in amorem diuitiarum qui grece philargiria, latine uero auaritia siue cupiditas appropriato nomine nuncupatur; in amore siue cupiditatem honorum qui proprie ambitus appellatur; in amorem potentiarum qui similiter ambitio nominatur; in amorem uane glorie qui grece cenodoxia nominatur; in amorem uoluptatum qui proprie libido nuncupatur. Ex regione quoque contemptus mundi in quinque species diuiratur, uidelicet in contemptum diuitiarum que frugalitas siue paupertas uoluntaria nuncupatur; in contemptum honorum qui uilitas uoluntaria nominatur; in contemptum potentiarum qui subiectio uoluntaria dicitur; in contemptum uane glorie qui uoluntarius sui despectus appellatur; in contemptum uoluptatum qui uoluntarius labor siue afflictio nominatur.“
1.1 Der Hauptteil von Buch 12 und die vier Glieder der Geringschätzung
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der Tugend der Demut (‚humilitas‘) verkörpert. Sie wird ihrem ‚uitium contrarium‘, dem Stolz (‚superbia‘), gegenübergestellt. Zudem werden acht Tochtertugenden genannt und in der Mitte des Traktats beschrieben. (4) In Kapitel 144 wird das vierte und letzte Glied dargestellt. Die sperrige Formulierung ‚contempnere se contempni‘ zielt dabei letztlich auf eine charakterliche Festigkeit ab, die sich nicht durch negative Reaktionen vonseiten der Mitmenschen vom Weg der Tugenden abbringen lässt. Diese Vorschrift unterzieht Radulfus Ardens in Kapitel 144 einer genauen Analyse und relativiert sie dahingehend, dass ausschließlich das Unverständnis weltlich orientierter Mitmenschen über einen auf die geistigen Güter ausgerichteten Lebensstil unberücksichtigt bleiben darf.
1.1.3 Die Komplementarität in der Programmatik von Buch 12 Die Gedankenführung erscheint also im Vergleich mit Buch 11 relativ uneinheitlich und ist stark durch das Ungleichgewicht bei der Behandlung der vier ‚distinctiones‘ bestimmt. Zudem wurde in Anbetracht dessen, dass es im vorliegenden Teil v. a. darum gehen soll, die Bedeutung der Komplementarität als Strukturelement für die Entfaltung der kontemptiven Tugenden aufzuzeigen, bisher auffällig wenig zu diesem Thema gesagt. Inwieweit – so ließe sich fragen – spielt die Komplementarität in der eben dargestellten Programmatik von Buch 12 überhaupt eine Rolle? Bei genauerem Hinsehen lassen sich Hinweise darauf erkennen, dass das komplementäre Denken eine wesentlich größere Rolle bei der Behandlung der zahlreichen Themenfeder spielt, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Am offensichtlichsten tritt dies im Bereich der dritten ‚distinctio‘ hervor. Hier behandelt Radulfus Ardens die Tugend der Demut – deren Bedeutung übrigens zum Abschluss der Ethik des Inneren Menschen in Kapitel 145 eigens hervorgehoben wird – nach seiner bewährten Methode. Im Zuge dessen widmet er der Komplementärtugend der ‚humilitas‘, die er als Selbstwertschätzung (‚honorantia sui‘) bezeichnet sowie ihren ‚termini‘ das gesamte Kapitel 132.17 Zudem stellt er auch die damit verbundenen Laster ausführlich dar: Bei der Demut besteht nämlich die Gefahr, dass sie ohne Korrektiv zur Kleingeistigkeit (‚pusillanimitas‘) bzw. Verzweiflung (‚desperatio‘) verkommt.18 Das Laster des Stolzes (‚superbia‘) behandelt er wegen seiner besonderen Wichtigkeit sogar in einem eigenen Traktat, der die Kapitel 137–143 umfasst. Das dritte Glied der Geringschätzung ist also sowohl vom Inhalt als auch von der Kapitelanordnung her von komplementären Grundstrukturen geprägt.
17 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152ra): „Est autem uirtus collateralis humilitatis honorantia sui.“ 18 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152raf.): „Itaque honorantia sui temperat humilitatem, ne in pusillanimitatem malam abiectionem et desperationem ruat. Humilitas quoque temperat sui honorantiam, ne in uanam gloriam, arrogantiam et superbiam erumpat.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
Obgleich es sich im Bereich der Geringschätzung gegenüber der Welt an der äußeren Struktur und den Kapitelüberschriften zunächst kaum erkennen lässt, hat die Komplementarität bei der Anordnung der Inhalte auch hier eine zentrale Bedeutung. Denn die fünf Kategorien weltlicher Gegenstände werden in der Weise behandelt, dass die Geringschätzung gegenüber dem jeweiligen Gut als Tugend dem Streben nach diesen Dingen als Laster gegenübergestellt wird. Diese Anlage ist an sich prädestiniert dafür, um aus diesen fünf Komplexen fünf Komplementärtugendpaare zu entwickeln. Und in der Tat – so viel kann vorweggenommen werden – finden sich innerhalb der Darstellungen zu Reichtum, Ehre, Macht, Ruhm und Lust jeweils Aussagen zu Komplementärtugenden. Dabei fallen allerdings deutliche Unterschiede auf: In den letzten beiden Bereichen wird jeweils eine konkrete Komplementärtugend bestimmt und in einem eigenen Kapitel behandelt: So wird dem ‚contemptus laudis‘ in Kapitel 115 die Vermeidung der Schande (‚fuga infamie‘) als Korrektiv zugewiesen. Als Laster werden hier die Schande (‚infamia‘) sowie der wertlose Ruhm (‚uana gloria‘) genannt.19 In Kapitel 121 führt Radulfus Ardens die natürliche Wiederherstellung des Körpers (‚naturalis refectio corporis‘) als Komplementärtugend des ‚contemptus uoluptatis‘ an. Durch diese Verbindung wird auf der einen Seite verhindert, dass man gänzlich der Lust verfällt (‚superfluitas uoluptatis‘) und auf der anderen, dass man dem Körper die unbedingt notwendige Lebensgrundlage entzieht (‚naturalem refectionem subtrahere‘).20 Während in diesen beiden Fällen die komplementäre Struktur der Verhaltensweisen ohne große Schwierigkeiten erkennbar ist, gestaltet sich die Suche in den drei verbleibenden Bereichen weitaus aufwändiger. Dort lässt sich an der Anordnung der Kapitel oder ihrer Überschriften zunächst nichts Konkretes erkennen. Erst genauere Textanalysen fördern hier Informationen zutage. Die deutlichsten Hinweise finden sich dabei noch im Bereich des ‚contemptus diuitiarum‘, da in Kapitel 47 die ‚termini‘ dieser Tugend behandelt werden. Sie wird dahingehend eingeschränkt, dass man Güter, die man zum Leben braucht, durchaus besitzen darf, um nicht in Armut und Verwahrlosung zu geraten.21 Zudem beschäftigt sich Radulfus Ardens im Anschluss daran ausführlich mit ihrem ‚uitium contrarium‘, der Habgier bzw. dem Geiz (‚cupiditas‘ bzw. ‚auaritia‘). Hier lässt allein schon die verwendete Terminologie darauf schließen, dass eine komplementäre Struktur im Hintergrund steht, obgleich keine 19 Spec. uniu. 12, 115 (P, fol. 141ra): „Habet autem contemptus laudis uirtutem sibi collateralem infamie fugem. […] Sunt itaque termini harum uirtutum sic fugere uanam gloriam quod infamiam non incurramus et sic fugere infamiam quod in uanam gloriam non incidamus.“ 20 Spec. uniu. 12, 121 (P, fol. 145raf.): „Habet autem contemptus uoluptatis collateralem sibi uirtutem naturalem corporis refectionem. […] Termini uero harum uirtutum sunt sic refouere corporis naturam quod non ueniamus usque ad uoluptatis superfluitatem et sic resecare uoluptatis superfluitatem quod non subtrahamus corpori naturalem refectionem.“ 21 Spec. uniu. 12, 47 (P, fol. 122va): „Termini uero uoluntarie paupertatis sunt nec ultra necessaria congregare nec ea que necessaria sunt, nature sue denegare, ne uidelicet per illud corrumpamur superfluitate nec per istud deficiamus egestate.“
1.1 Der Hauptteil von Buch 12 und die vier Glieder der Geringschätzung
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konkrete Komplementärtugend benannt wird. In den beiden kürzeren Traktaten zur Geringschätzung des Lobes und der Macht findet sich dagegen keine eigene Abhandlung über ihre Grenzen oder entgegengesetzten Laster. Jedoch äußert sich der Autor in beiden Fällen sehr knapp, aber zugleich klar über ihre Komplementärtugenden: Dem ‚contemptus honorum‘ stellt er in Kapitel 88 die Liebe zur geistigen Ehre (‚amor honoris spiritualis‘) zur Seite, die letztlich über die Tugenden in einem gewissen Maß mit der weltlichen Ehre (‚honor secularis‘) in Verbindung steht, warnt aber zugleich davor, im Übermaß nach Ehren zu streben.22 Die Aufforderung zum ‚contemptus potestatum‘ schränkt er in Kapitel 94 dahingehend ein, dass man unter bestimmten Umständen Macht- und Leitungspositionen mit einem entsprechenden Maß an Respekt davor übernehmen muss (‚potestatem cum timore suscipere‘), damit man sich einer Berufung nicht gänzlich verschließt (‚potestatem penitus respuere‘).23 Obgleich es offensichtlich ist, dass hier die Konzeption eines Komplementärtugendpaares im Hintergrund steht, kommt an dieser Stelle weder der Begriff ‚collateralis‘ noch die ansonsten darauf hindeutende Terminologie vor. Er spricht lediglich davon, dass das Machtstreben zur Geringschätzung der Macht im Gegensatz (‚opposita‘) steht. Diese komplexen Zusammenhänge werden nun mithilfe eines Schemas veranschaulicht. Einerseits greift die hier dargebotene Skizze bereits auf Erkenntnisse vor, die nur durch die detaillierte Textuntersuchung in Punkt 2 gewonnen werden konnten; andererseits bildet dieser Überblick überhaupt erst die Verständnisgrundlage für eine auf die zentrale Fragestellung der Arbeit ausgerichtete Betrachtung des Textes. Es lässt sich festhalten: Buch 12 ist zwar – anders als Buch 11 – in seinem äußeren Aufbau nicht direkt von der Komplementarität bestimmt, jedoch sind mit der ersten und dritten ‚distinctio‘ gerade die beiden größten Themenblöcke des Hauptteils stark durch komplementäres Denken geprägt. Ob sich noch weitere Komplementärtugendpaare finden lassen und ob auch in den beiden anderen Gliedern Elemente komplementären Denkens enthalten sind, wird im weiteren Fortgang der Arbeit geklärt. Übrigens wurden bei den Bezeichnungen der einzelnen Tugenden – ähnlich wie bei der Darstellung zu Buch 11 – im vorliegenden Schema nicht alle im Text genannten Begriffe aufgeführt. Ebenso verleiht diese Übersicht bereits der These Ausdruck, dass alle fünf Formen des ‚contemptus mundi‘ eine Komplementärtugend haben, obwohl manchmal nur einzelne Hinweise darauf zu finden sind. Zudem ist auf 22 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 132ra): „Sic quippe debemus amare uilitatem et inferioritatem secularem quod non amittamus honorem spirituale. Et sic debemus amare honorem spiritualem et moralem quod non amemus secularem. Sunt enim uirtutes collaterales amor uilitatis secularis et amor honoris spiritualis. Et ambe coniuncte sunt uirtutes, separate uero uitia.“ 23 Spec. uniu. 12, 94 (P, fol. 135rb): „Verumtamen si quis potens est proprios cordis corporisque sui motus refrenare et regere sentitque se populum Dei iuste posse gubernare, si a Deo uocatur ad potestatem, non debet penitus respuere, sed suscipere cum timore. […] Sic igitur sapiens fugiat potestatem quod, si fuerit necessarium, eam cum timore suscipiat et sic eam cum timore suscipiat quod nunquam appetat. Est autem huic uirtuti, id est contemptui potestatis, ambitio potestatis opposita.“
396
1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
eine Besonderheit hinzuweisen: Radulfus Ardens erwähnt keine allgemeine Komplementärtugend zum ‚contemptus mundi‘, sondern nur sein entgegengesetztes Laster, den ‚amor mundi‘. Dieser Befund wird später noch eingehender untersucht werden. contemptus --------------------------------------------- distinctio 1 --------------------------------------------c. 12-121
contemptus mundi
necessaria nature denegare
contemptus diuitiarum
↔
necessaria congregare
auaritia / cupiditas
c. 20-86
honorem secularem amittere
contemptus honorum
↔
amare honorem spiritualem
ambitio
c. 87-90
potestatem penitus respuere
contemptus potestatum
↔
potestatem cum timore suscipere
ambitio
c. 91-95
infamia
contemptus laudis
↔
fuga infamie
amor uane glorie
c. 96-115
crudelitas
contemptus uoluptatis
↔
refectio corporis
superfluitas uoluptatum
c. 116-121
--------------------------------------------- distinctio 2 --------------------------------------------c. 122
neminem contempnere --------------------------------------------- distinctio 3 --------------------------------------------contemptus sui ipsius
abiectio sui
humilitas
↔
honorantia sui
c. 123-143
superbia
c. 123-132
--------------------------------------------- distinctio 4 --------------------------------------------contempnere se contempni Abb. 48: Die kontemptiven (Komplementär-)Tugenden.
c. 144
1.2 Die Einleitung von Buch 12
397
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die soeben dargestellte Struktur in der Forschung bisher noch nicht vollständig herausgearbeitet wurde. So blieb Johannes Gründel offensichtlich verborgen, dass nicht nur der Demut, sondern auch den fünf Bereichen des ‚contemptus mundi‘ Komplementärtugenden zugewiesen wurden. Zudem erkannte er die Bedeutung der vier ‚distinctiones‘ für den Aufbau des Buches nicht in vollen Umfang, da er in seiner Übersicht zu den kontemptiven Tugenden nur drei Glieder nennt und das vierte unerwähnt lässt.24 Auch in späteren Veröffentlichungen, die sich eingehender mit speziellen Tugendlehre des Speculum universale beschäftigen, wird in Zusammenhang mit Buch 12 lediglich auf die drei Komplementärtugenden verwiesen, deren Existenz aus der Anordnung der Kapitel bzw. ihren Überschriften unmittelbar hervorgeht, nämlich den ‚contemptus laudis‘ und die ‚fuga infamie‘, den ‚contemptus uoluptatis‘ und die ‚refectio corporis‘ sowie die ‚humilitas‘ und die ‚honorantia sui‘.25 Die bloß angedeuteten bzw. nicht in einem eigenen Kapitel behandelten Komplementärtugenden blieben also bislang unberücksichtigt. Der Grund dafür ist sicher darin zu sehen, dass die Aussagen zur Komplementarität in Buch 12 nur sehr kurz und z. T. auch vage sind. Zudem finden sie sich an Stellen, wo man sie zunächst nicht unbedingt vermuten würde.
1.2 Die Einleitung von Buch 12 und die systematische Bestimmung der Geringschätzung Im letzten Abschnitt wurde der Aufbau von Buch 12 grob skizziert und es konnte gezeigt werden, dass komplementäre Denkstrukturen zumindest im Bereich des ersten und dritten Gliedes der Geringschätzung eine wichtige Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund wird nun die Einleitung des Buches genauer in den Blick genommen, in der sich Radulfus Ardens mit den bereits mehrfach erwähnten ‚gradus ad contemptum‘ beschäftigt. Diese Überlegungen sind aufs Engste mit der dritten in der Einleitung formulierten Leitfrage verbunden, in welchem systematischen Verhältnis der ‚contemptus‘ zu den anderen beiden Grundaffekten steht und inwieweit er als eigenständiger Affekt gelten kann. Dass diese nicht einfach zu klären ist, wurde bereits im ersten Teil der Arbeit deutlich.26 Zur Erinnerung: Dort konnten die Aussagen zur Geringschätzung in Buch 1 nur durch einen Vorgriff auf die Informationen aus der Einleitung von Buch 12 systematisch verständlich gemacht werden. Denn aus der Tatsache, dass es offensichtlich verschiedene Entwicklungsstufen von Liebe und Hass bis hin zur Geringschätzung gibt, konnte geschlossen werden, dass
24 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 277–280. 25 Vgl. dazu ERNST, Estote prudentes 565–568, DERS., Klug wie die Schlangen 55; DERS., Passiones animae 163; DERS., Tugendethik 64 f.; DERS., Tugendsysteme 368 f.; DERS., Einleitung 1 36 sowie Punkt 1.2.3 im ersten Teil der Arbeit. 26 Vgl. Punkt 2.1.2 des ersten Teils.
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
der ‚contemptus‘ unter den Verhältnissen im Diesseits realiter keinen absoluten Nullpunkt darstellt, sondern eher als dynamisches Wechselverhältnis auf einer ‚Skala‘ zwischen Liebe und Hass anzusehen ist. Erst vor diesem Hintergrund – so die These – lässt sich erklären, wie sich im Wirkungsfeld der Geringschätzung überhaupt Komplementärtugenden ausbilden können. Wäre der ‚contemptus‘ nämlich ein emotionaler Nullpunkt und damit letztlich überhaupt kein Affekt, könnte die Existenz von kontemptiven Komplementärtugenden kaum schlüssig erklärt werden. Deshalb besteht das Ziel der folgenden Überlegungen darin, diese in einem gewissen Maße spekulative These durch eine detaillierte Analyse der Kapitel 1–11 noch klarer zu belegen bzw. abzusichern. Bei genauerer Betrachtung lässt sich Einleitung übrigens nochmals untergliedern: In Kapitel 1 bestimmt Radulfus Ardens den ‚contemptus‘ als Mitte zwischen Liebe und Hass, in den Kapiteln 2–11 beschäftigt er sich mit seinen Entwicklungsstufen und definiert ihn allgemein. Diese beiden Abschnitte werden daher auch in einzelnen Unterkapiteln besprochen. Zusätzlich steht noch eine Frage im Raum, die bisher überhaupt noch nicht formuliert wurde: Welche Rolle spielen die Affekte aus dem Gefolge (‚sequela‘) der Geringschätzung bei der Entfaltung der kontemptiven Tugenden? Da der Gefolgschaft von Liebe und Hass – wie bereits gezeigt – in Buch 11 eine zentrale Bedeutung für die Abfolge der einzelnen amativen und oditiven Tugenden zukommt, ist ein Vergleich mit Buch 12 in dieser Hinsicht für das Verständnis der affektiven Tugenden insgesamt aufschlussreich. Dieser wird zum Abschluss der inhaltlichen Einführung im Zwischenfazit durchgeführt und bildet damit die Überleitung zu Punkt 2.
1.2.1 Die Geringschätzung als Mittelposition zwischen Liebe und Hass Bereits in Buch 1 hat Radulfus Ardens den ‚contemptus‘ so beschrieben, dass er aus der Zurücknahme (‚ex redemtione‘) von Liebe und Hass und damit aus der Mitte (‚de medio‘) zwischen diesen beiden Grundaffekten entsteht. Diese Aussage greift er am Anfang von Buch 12 wieder auf und führt aus, dass Liebe und Hass so im Gegensatz zueinander stehen (‚inuicem contraria sunt‘), dass es ein Mittleres zwischen ihnen gibt (‚medium habentia‘). Um diese Grundbestimmung noch deutlicher hervorzuheben, schließt er das Gegenteil, also dass es sich bei Liebe und Hass um Gegensätze ohne ein Mittleres (‚contraria immediata‘) handelt, explizit aus.27 Was damit gemeint ist, erklärt er wie folgt: Es gibt Gegenstände, die wir weder lieben, noch hassen, sondern die wir geringschätzen.28 Dass alle existenten Gegenstände
27 Spec. uniu. 12, 1 (P, fol. 112ra): „Ad quod intelligendum considerandum est quod oditiue et amatiue affectiones cum sibi inuicem sint contrarie. Non sunt contrarie ut contraria inmediata, sed ut medium habentia.“ 28 Spec. uniu. 12, 1 (P, fol. 112ra): „Non enim quidlibet aut diligimus aut odimus, sed est aliquid quod nec diligimus nec odimus, sed diligere uel odire contempnimus.“
1.2 Die Einleitung von Buch 12
399
in die drei Bereiche Liebe, Hass und Geringschätzung eingeteilt werden können, ist bereits aus der Besprechung der Bücher 1 und 5 bekannt. Jedoch enthält die hier gewählte Formulierung noch ein weiteres Detail, das bisher noch nicht erwähnt wurde: Er spricht nämlich nicht davon, dass wir die jeweiligen Dinge geringschätzen, sondern dass wir im eigentlichen Sinne die affektiven Reaktionen auf sie geringschätzen, also dass wir ihnen keine Form von Aufmerksamkeit in Form von Liebe und Hass schenken (‚contempnimus diligere uel odi‘). Hier wird nochmals verdeutlicht, dass der Mensch eigentlich nur zwei Möglichkeiten hat, aktiv auf einen Gegenstand zu reagieren, nämlich Liebe und Hass, während der ‚contemptus‘ per se eine rein passive Zurückhaltung eben dieser beiden Grund-Leidenschaften ist. Damit deckt sich der Inhalt des ersten Kapitels weitestgehend mit den bereits bekannten Informationen aus der allgemeinen Tugendlehre. Im weiteren Fortgang überträgt Radulfus Ardens die Aussage, dass wir manche Dinge weder hassen noch lieben, sondern geringschätzen auch auf weitere amative und oditive Affekte aus Buch 11 und nennt dabei Hoffnung und Furcht, Freude und Zorn, Fröhlichkeit und Traurigkeit sowie Sich-Rühmen und Reue.29 Aus dem Befund, dass Nacheifern und Abschreckung bzw. Heiterkeit und Scham bei dieser Aufzählung fehlen, lässt sich nicht ableiten, dass diese vier Affekte etwa eine Ausnahme sind, sondern auch bei diesen beiden Gegensatzpaaren bildet der ‚contemptus‘ den Mittelpunkt. Auch bei Sanftmut und Strenge muss davon ausgegangen werden, dass die Geringschätzung eine gewisse Rolle bei ihrer Entstehung spielt. Da dieses Komplementärtugendpaar das Ergebnis des Ausgleichsprozesses zwischen Liebe und Hass darstellt, gehört sicherlich auch die richtige Einordnung der Gegenstände in die drei Kategorien dazu; dabei handelt es sich jedoch um eine bloße Vermutung, da der Autor sich mit dieser Frage nicht beschäftigt. Dass Radulfus Ardens hier überhaupt auf die übrigen Gegensatzpaare eingeht und ihnen jeweils die Geringschätzung als Mittelpunkt (‚contemptus medius‘) zuweist, ist keineswegs als überflüssige Wiederholung zu betrachten. Daraus lässt sich ein wichtiges systematisches Detail ableiten: Während sich Liebe und Hass im Laufe der Zeit transformieren bzw. dynamisch weiterentwickeln, ist dies beim ‚contemptus‘ nicht der Fall. Er bleibt stets ein neutraler Nullpunkt und verändert sich nicht – dabei wäre dies auf den ersten Blick durchaus erwartbar: In Buch 1 werden nämlich mehrere kontemptive Affekte als Gefolge der Geringschätzung aufgezählt, die analog zur Dynamik von Liebe und Hass Transformationen des ‚contemptus‘ beschreiben könnten. Sie spielen hier jedoch offensichtlich keinerlei Rolle, sodass die Frage nach ihrer Funktion an sich noch weiter aufgeschoben werden muss. Hinsichtlich des 1. Kapitels lässt sich jedenfalls resümieren, dass hier die Infor-
29 Spec. uniu. 12, 1 (P, fol. 112ra): „Similiter non quodlibet aut speramus aut timemus, sed contempnimus. Similiter non de quolibet aut letamur aut tristamur, sed contempnimus. Similiter non de quolibet facto nostro aut gloriamur aut penitemus, sed contempnimus. Inter amorem itaque et odium contemptus medius est. Similiter inter spem et timorem, inter gaudium et iram, inter letitiam et tristitiam, inter gloriationem et penitentiam.“
400
1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
mationen zur Geringschätzung noch einmal knapp zusammengefasst, ergänzt und v. a. in Bezug zu den amativen und oditiven Affekten in Buch 11 gesetzt werden.
1.2.2 Die vier Entwicklungsstufen der Geringschätzung und ihre Bedeutung für die Komplementarität der kontemptiven Tugenden Die Bestimmung, dass der ‚contemptus‘ aus der Zurücknahme von Liebe und Hass entsteht, bildet den Ausgangspunkt für die weiteren Gedankengänge in der Einleitung von Buch 12. Radulfus Ardens stellt sich unter dieser ‚redemptio‘ einen Prozess vor, in dem sich die beiden Grund-Emotionen schrittweise immer weiter zurückziehen, bis zu dem Punkt, an dem schließlich überhaupt kein emotionales Moment mehr vorhanden ist. Diese Konzeption hat weitreichende Folgen, die besonders für die Komplementarität der kontemptiven Tugenden von entscheidender Bedeutung sind. Auf die Entwicklungsstufen zur Geringschätzung (‚gradus ad contemptum‘) kommt er erstmals in Kapitel 2 zu sprechen und schreibt dort: Sunt autem quidam gradus ab amore ad contemptum. Similiter et econtra ab odio et contemptum.30
Daraus lässt sich entnehmen, dass sich der Entwicklungsprozess vom Hass zur Geringschätzung und von der Liebe zur Geringschätzung in identischen Schritten (‚similiter‘) vollzieht. Gerade der Verweis auf die beiden entgegengesetzten Seiten, auf denen sich Liebe und Hass befinden (‚econtra‘), weist deutlich darauf hin, dass diese beiden gewissermaßen als die zwei emotionalen Extrempunkte anzusehen sind, die immer umso mehr Intensität verlieren, je näher sie sich dem neutralen Mittelpunkt der Geringschätzung annähern. In diesem Zusammenhang hebt der Autor explizit den Unterschied zwischen Geringschätzung und Hass hervor. Das entscheidende Kriterium ist für ihn dabei, dass der Hass mit Aufregung und Beunruhigung (‚commouente et sollicitante‘) verbunden ist, während die Geringschätzung eines Gegenstandes keinerlei emotionale Regung mit sich bringt.31 Diese Aussage sah er wohl v. a. deshalb als notwendig an, um zu vermeiden, dass die gemeinsame Behandlung von ‚odibilitas‘ und ‚contemptibilitas‘ im 45. Kapitel von Buch 1 zu dem Missverständnis führt, es handle sich um denselben Affekt. Wie sich aus dem Text entnehmen lässt, geht Radulfus Ardens von einem vierstufigen Prozess aus, an dessen Ende der ‚contemptus‘ steht, sodass es insgesamt drei Zwischenstufen gibt, die er folgendermaßen benennt:
30 Spec. uniu. 12, 2 (P, fol. 112ra). 31 Spec. uniu. 12, 2 (P, fol. 112ra): „Non enim idem odimus et contempnimus odio scilicet nos commouente sollicitante.“
1.2 Die Einleitung von Buch 12
401
Ab amore igitur siue ab odio alicuius ad eiusdem contemptum tendentes. Prius tepescamus, secundo negligimus, tertio fastidimus, quarto contempnimus.32
Über das Lauwerden (‚tepescere‘), das Vernachlässigen (‚negligere‘) und das Überdrüssigwerden (‚fastidire‘) entsteht also schließlich das Geringschätzen (‚contempnere‘). Radulfus Ardens wertet diese vier Verhaltensweisen nicht von vorne herein als negativ oder positiv. Er ist sich jedoch bewusst, dass diese Begrifflichkeiten durchweg negativ vorgeprägt sind und betont deshalb, dass sich ihre ethische Qualität ausschließlich daraus ergibt, ob sie aus einer schlechten oder guten Liebe bzw. aus einem schlechten oder guten Hass hervorgehen. So ist es als gut zu werten, wenn man von einer schlechten Emotion – bspw. gegenüber einer Sünde – Abstand gewinnt; vernachlässigt man jedoch eine gute Sache, wie z. B. die Liebe zu Gott, handelt es sich dabei klar um lasterhaftes Handeln.33 Trotz der Bestimmung, dass Lauheit, Vernachlässigung und Überdruss nicht per se etwas Schlechtes sind, nimmt der Autor im Zuge der Darstellung eher ihre negative Seite in den Blick. Dies zeigt sich daran, dass jede der drei Entwicklungsstufen zunächst in einem eigenen Kapitel definiert und beschrieben wird, während das darauffolgende Kapitel den Lastern gewidmet ist, die daraus entstehen können. Diese Besonderheit ist bereits Johannes Gründel aufgefallen, der daher auch zurecht feststellt, dass sich in diesem Abschnitt sowie in Buch 12 als Ganzem die ausführlichsten Lasterkataloge des gesamten Werkes finden.34 Radulfus Ardens äußert sich auch selbst dazu und betont die negativen Auswirkungen der drei ‚gradus ad contemptum‘ unter den Bedingungen des diesseitigen Lebens.35 Im Folgenden werden nun die drei Zwischenstufen sowie die Grundbestimmung der Geringschätzung genauer beleuchtet. 1.2.2.1 ‚tepor‘ Die Lauheit wird als Mangel an Hitze (‚remissio feruoris‘) des jeweiligen Affektes definiert und zwar sowohl was seine tatsächliche Ausprägung, als auch sein bloßes Potential betrifft.36 Mit dem Begriff Hitze ist hier allegorisch die Intensität der emotionalen Regung gemeint. Dieser Bildsprache bedient sich Radulfus Ardens im weiteren Verlauf der Darstellung immer wieder und bezeichnet die Liebe als heiß (‚calidus‘), den
32 Spec. uniu. 12, 2 (P, fol. 112ra). 33 Spec. uniu. 12, 2 (P, fol. 112ra): „Si autem malus est amor uel odium, bonum est ab eo tepescere, melius negligere, multo magis fastidire, optimum contempnere. Si uero bonus est amor uel odium, malum est ab ea tepescere, peius negligere, multo peius fastidire, pessimum contempnere.“ 34 Vgl. GRÜNDEL, Verstandestugenden 279. 35 Spec. uniu. 12, 7 (P, fol. 113vb): „Hoc autem aduertendum est quoniam hec tria scilicet accidia, tepor et negligentia cum eis que ex eis proficiscuntur, magis accedunt ad uitium quam ad bonum. Et ad bonum quidem accedunt, quoniam tedere, negligere, tepescere in malo quidam accessus est ad bonum. Quoniam quanto a malis recedimus, tanto bonis accedimus.“ 36 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112ra): „Tepor nichil aliud est quam affectionis remissio a feruore, quam habuit uel habere potuit.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
Hass als kalt (‚frigidus‘) und die Geringschätzung als lauwarm (‚tepidus‘). Um konkreter verständlich zu machen, was mit ‚Lauheit‘ gemeint ist, teilt er sie nach dem Ursprung ihrer Entstehung in vier verschiedene Arten (‚species‘) auf und erläutert sie im Einzelnen.37 Ein kurzer Blick darauf ist deshalb lohnenswert, da sich hier einige bedeutsame Aussagen zu den Affekten und zur Konzeption des ‚contemptus‘ finden lassen. Die erste Art entsteht aus Ermüdung (‚ex fatigatione‘). Sie ist natürlich, da der Mensch aufgrund seiner zeitlichen Verfasstheit nach Abwechslung strebt und daher auch bei der Beschäftigung mit wichtigen Dingen mit der Zeit ermüdet. Sie ist deshalb weder sträflich noch verdienstlich, während dies bei den anderen drei Arten hingegen schon der Fall ist.38 Die zweite entsteht zufällig (‚ex occasione‘). Damit ist gemeint, dass man sich an manchen Tagen bei einer bestimmten Sache leichter tut als an anderen. Radulfus Ardens sieht darin eine ‚pädagogische‘ Einrichtung Gottes, durch die der Mensch darauf aufmerksam gemacht wird, dass nicht er selbst Herr über seine eigene Leistungsfähigkeit ist, sondern dass sie ein Geschenk Gottes ist.39 Diese zweite Form ist zwar mit einem gewissen Verdienst verbunden, jedoch in einem so geringen Maß, dass er vernachlässigt werden kann.40 Während sich die beiden ersten Formen der Lauheit im Bereich des Unbewussten abspielen und daher dem direkten Zugriff des Menschen entzogen sind, sind die letzten beiden willentlich gesteuert und daher je nach Fall entweder verdienstlich oder sträflich. Hier stehen die Bestimmungen über den menschlichen Willen in Buch 5 im Hintergrund und es wird erneut deutlich, dass dem Vorhandensein von Affekten bei der ethischen Beurteilung einer Tat entscheidende Bedeutung zukommt. Die dritte Art der Lauheit bezeichnet er daher auch als willentlich (‚tepor uoluntarius‘), da der Mensch in gewissem Maß frei darüber entscheiden kann, auf welche Gegenstände er seine Gefühle ausrichtet und von welchen er sie abzieht.41
37 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112raf.): „Teporis uero quatuor sunt species. Primus oritur ex fatigatione. Secundus ex occasione. Tertius ex uoluntatis ad aliud applicatione. Quartus ex diutino torpore. Et primus quidem est naturalis, secundus accidentalis, tertius arbitrarius, quartus languidus. Et primus quidem est breuis et horarius, secundus diurnus, tertius prolixior, quartus consuetudinarius et communis. “ 38 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112rb): „Primus igitur nascitur naturaliter ex fatigatione. […] Et iste quidem tepor, quia naturalis est nec in bono amore malus nec in malo bonus reputatur.“ 39 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112rb): „Secundus uero tepor ex occasione nascitur et accidentalis et diurnus dicitur. […] Quod ex diuina dispensatione nonnumquam accidere credimus, ut inde nobis uilescamus et deuotionis feruorem non ex nobis, sed ex solo Deo habere credamus et inde magis Deo grati semper existamus.“ Wie sich an diesem Textausschnitt zeigt, führt er seine Analyse am Beispiel des Gebets (‚oratio‘) bzw. der Gottesverehrung (‚deuotio‘) durch. 40 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112rb): „Est autem iste tepor in bono amore malus, sed non multum et in malo bonus, sed non multum.“ 41 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112rb): „Tertius uero tepor est arbitrarius, quoniam ex arbitrio hominis nascitur suum amorem ab una re ad aliam applicantis. Quanto enim in noua re feruescit, tanto in priori tepescit.“
1.2 Die Einleitung von Buch 12
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Dabei spielt auch die Anzahl der Gegenstände eine Rolle: Wenn man nach vielen Dingen zugleich strebt, teilt sich auch die Intensität des Affektes auf und verringert sich dadurch. Daher ist es gerade in Bezug auf heilsrelevante Dinge wichtig, sich dauerhaft und konzentriert darum zu bemühen. Handelt es sich jedoch um einen schlechten Affekt, ist die Verteilung dieses lasterhaften Strebens auf mehrere Gegenstände unter Umständen aber auch ein wirksames Gegenmittel.42 Die dauerhafte Lauheit (‚tepor continuus‘) ist die vierte Unterart. Sie stellt die habituelle Verfestigung einer charakterlichen Anlage dar oder entsteht durch mehrfach wiederholte Unterlassung einer bestimmten Sache.43 Radulfus Ardens stellt in diesem Zusammenhang Überlegungen dazu an, ob es schlimmer ist, in einer guten Sache lau bzw. dauerhaft unmotiviert zu sein oder ihr ablehnend gegenüber zu stehen. Der Hintergrund dieser Frage ist bereits im 46. Kapitel von Buch 1 angeklungen. Hier geht es um die individuell ungleiche Verteilung von Affekten und rationalem Unterscheidungsvermögen, wobei sich hier vier Kombinationsmöglichkeiten ergeben, die auch im unten angefügten Schema der Übersichtlichkeit halber dargestellt wurden: Ein Mensch, der gut unterscheiden kann, aber wenig Affekte hat, ist von Natur sowohl dem Bösen als auch dem Guten gegenüber lau (‚naturaliter tepidus‘). Dagegen werden Leute, die nicht gut unterscheiden können, aber über ein großes emotionales Potential verfügen, entweder zu guten und gedankenlosen (‚boni indiscreti‘) oder bösen und verwegenen Menschen (mali temerarii‘). Menschen, die ebenso vernunftbegabt wie emotional veranlagt sind, werden entweder gut und einsichtsvoll (‚boni discreti‘) oder böse und betrügerisch (‚mali uersuti‘). Wer schließlich weder über Unterscheidungsvermögen noch über emotionales Potential verfügt, wird entweder nur lau gedankenlos gut (‚bonus indiscretus et tepidus‘) oder nur lau gedankenlos schlecht (‚malus temerarius et tepidus‘). Diese vierte Variante sieht der Autor letztlich als die schlechteste aller genannten (‚peior uniuersis‘) an, ohne dass klar wird, ob die übrigen drei alle gleich gut bzw. schlecht sind oder ob es dort auch Abstufungen gibt.44
42 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112va): „Itaque diuisio ista in mala dilectione bona est et utillima, ut quando scilicet ardemus nimis in una re illicita. Si non possumus illum ardorem penitus deponere, saltem ad alia diuidendo eum debilitemus.“ 43 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112va): „Quartus uero tepor, quia est continuus, nascitur aut ex defectu et quasi naturali mentis torpore in quibusdam, in aliis uero ex remissione per incuriam facta paulatim et in consuetudinem uersa.“ 44 Spec. uniu. 1, 46 (CCM 241, p. 54 f.): „Porro qui bene discernunt et parum affectant, tepidi siue ad bonum siue ad malum naturaliter existunt; qui uero multum affectant, sed et parum discernunt, aut boni indiscreti aut mali temerarii fiunt; qui uero et multum discernunt et multum affectant, fiunt aut boni discreti aut mali uersuti; qui uero parum discernunt et parum affectant, fiunt aut boni indiscreti et tepidi aut mali temerarii et tepidi. Que condicio peior est uniuersis.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
parum affectare
multum affectare
parum discernere
bonus indiscretus et tepidus / malus temerarius et tepidus
bonus indiscretus / malus temerarius
multum discernere
naturaliter tepidus ad bonum et malum
boni discreti / mali uersuti
Abb. 49: Die Abstufungen im Verhältnis zwischen der Unterscheidung und den Affekten.
Diesen Gedanken greift er in Buch 12 wieder auf und konkretisiert ihn dort weiter: Wer aufgrund von charakterlichen Anlagen oder durch Gewohnheit emotional taub geworden ist und sich daher weder für etwas Erstrebenswertes begeistern, noch etwas Unerwünschtes entschieden ablehnen kann, ist kaum dazu zu bewegen, ein tugendhaftes Leben zu führen und sein Leben auf Gott hin auszurichten. Dagegen ist ein Mensch, bei dem Affekte vorhanden sind, selbst dann leichter für das Richtige zu begeistern, wenn seine Emotionen anfänglich noch ungeordnet oder sogar lasterhaft sind.45 Daraus folgt, dass die Lauheit gegenüber einem wichtigen Gut zwar nicht hinsichtlich der damit verbundenen Bosheit (‚quantum ad malitiam‘) schlechter als seine aktive Ablehnung ist; jedoch besteht bei einem solchen Menschen wenig Aussicht darauf, ihn zu einer Veränderung seines Lebenswandels zu bewegen, sodass sein ‚tepor‘ im Hinblick auf die Verbesserung (‚quantum ad correctionem‘) als höchst negativ zu werten ist.46 Mit anderen Worten: Die lasterhafte Lauheit stellt einen Zustand des völligen Unvermögens dar, überhaupt Affekte auszubilden, wodurch letztlich kein ‚Material‘ zur Verfügung steht, um am eigenen Charakter zu arbeiten und Tugenden auszubilden. Radulfus Ardens betont an dieser Stelle nochmals, wie eng Verdienst und Affekte verbunden sind47 und bemisst die ethische Bewertung des ‚tepor continuus‘ daran, wie weit er von der Hitze gegenüber dem Guten entfernt ist und teilt ihn in dieser Hinsicht in drei Arten auf: Die erste ist nicht weit von der Liebe entfernt (‚calori caritatis proximus‘), die zweite ist weiter weg (‚aliquantulum remotior‘) und dritte schließlich so entfernt, dass sie schon zum Hass tendiert.48
45 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112va): „Sunt enim nonnulli, qui ad nulla sunt animosi uel affectuosi, sed ad omnia segnes et torpidi nec in bono nec in malo feruent, sed uniuersa tepide lenteque ministrant, numquam compunguntur ad orationem uel ad contemplationem.“ 46 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112va): „In quo uidetur innuere tepidum frigido peiorem esse et est utique peior, non quantum ad malitiam, sed quantum ad correctionem. Facilius quippe frigidi conuertuntur quam tepidi. Coditie nimirum uidemus multos frigidos calescere, tepidos uero uix uel numquam.“ 47 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112vb): „Est igitur uitium teporis summopere euitandum, quoniam sicut feruidus omnia opera sua, etiam parua facit sibi multum ualere eo quod ea facit ex feruore, sic tepidus opera sua etiam magna facit sibi parum uel nichil ualere eo quod ea facit tepide et remisse.“ 48 Spec. uniu. 12, 3 (P, fol. 112vb): „Ad quod responditur quoniam tres sunt species tepidorum. Sunt enim quidam tepidi calori caritatis proximi, quidam aliquantulum remotiores, quidam uero magis
1.2 Die Einleitung von Buch 12
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Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass vor diesem Hintergrund klar ist, was Radulfus Ardens in Buch 1 gemeint hat: Die erste Unterart der Lauheit, die zur Liebe tendiert, gehört zu den nur lau guten und gedankenlosen Menschen, während die letzte das Verhalten einer nur lau bösen und gedankenlosen Person beschreibt. Es hat zwar einige Zeit in Anspruch genommen, diesen Gedanken nachzuzeichnen, jedoch nimmt an dieser Stelle die in Buch 1 postulierte ‚Skala‘ der Geringschätzung eine konkretere Gestalt an: Bereits die Zwischenstufe der Lauheit kann eine Tendenz zu Liebe oder Hass haben und ist von daher je nach Gegenstand und Situation eine Tugend oder ein Laster. Diese systematische Konstruktion ist die Grundlage dafür, dass sich in diesem Bereich komplementäre Verhaltensweisen ausprägen können und von daher leuchtet ein, warum der ‚tepor continuus‘ im Bereich eines heilsrelevanten Gutes so negativ bewertet wird: Da in einem solchen Fall kaum noch emotionales Potential vorhanden ist, lässt sich auch kein komplementärer Gegenpol in Stellung bringen, der eine Veränderung des Verhaltens bewirken können. Diese Perspektive wird auch bei den zwei verbleibenden Entwicklungsstufen weitere Details zutage fördern. Zuvor sei der Blick jedoch noch auf die Laster gerichtet, die aus der Lauheit hervorgehen, da sie noch klarer vor Augen führen, was die Lauheit als Charaktereigenschaft eigentlich ausmacht. Radulfus Ardens widmet ihnen immerhin ein eigenes Kapitel (c. 4) und führt dort die fünf Laster Stumpfsinn (‚stupor‘), Leidenschaftslosigkeit (‚inpassibilitas‘), Sorglosigkeit (‚socordia‘), Verderbnis (‚uapiditas‘) und Nachlässigkeit (‚negligentia‘) auf.49 Hier fällt sogleich ins Auge, dass die ‚negligentia‘ bereits die nächste Entwicklungsstufe in Richtung des ‚contemptus‘ ist, woraus sich schließen lässt, dass die einzelnen ‚gradus‘ zeitlich betrachtet immer aus der jeweils vorherigen entstehen. Dass sie hier bereits als Laster gewertet wird, obwohl die Zwischenstufen zur Geringschätzung ebenso wenig wie sie selbst per se negativ zu werten sind, zeigt an, dass der Autor hier zunächst die negativen Auswirkungen des kontemptiven Affekts und seiner Vorformen betrachtet. Dies tritt auch an den Definitionen der ersten vier der genannten Verhaltensweisen zutage: So ist der Stumpfsinn die Entfremdung des Geistes von heilsnotwendigen Dingen; die Leidenschaftslosigkeit meint eine Verhärtung gegenüber Gott, die weder durch Androhung von Strafe oder die Aussicht auf Lohn aufgehoben werden kann; das Laster der Sorglosigkeit ist eine Lähmung des Geistes bei der Selbstreflexion und der zunächst nicht leicht verständliche Begriff ‚Verderbnis‘ beschreibt bildlich den Zu-
remoti. Et primi quidem, quia pene calidi sunt, saluantur; secundi uero, si retinent caritatem et opera licet tepide, per purgatoria saluari possunt; tertii uero, quia magis accedunt frigiditati quam caritati et fere nichil habent de caritate, dampnantur. Est igitur uitium teporis summopere euitandum, quoniam sicut feruidus omnia opera sua, etiam parua facit sibi multum ualere eo quod ea facit ex feruore, sic tepidus opera sua etiam magna facit sibi parum uel nichil ualere eo quod ea facit tepide et remisse.“ 49 Spec. uniu. 12, 4 (P, fol. 112vb): „Oriuntur autem ex tepore quinque uitia, uidelicet stupor, inpassibilitas, socordia, uapiditas, negligentia.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
stand, dass der ganze Geist verdorben bzw. zu nichts mehr zu gebrauchen ist.50 Der Blick richtet sich hier klar auf die Sphäre heilsnotwendiger Dinge und sogar auf Gott selbst, woraus folgt, dass eine Lauheit in diesem Bereich auf jeden Fall als negativ anzusehen ist. Ginge es um böse Dinge oder Sünden, wäre die Lauheit dagegen eine Tugend. Radulfus Ardens nähert sich dem Phänomen bewusst aus der praktisch-pastoralen Perspektive, dass Menschen allzu oft bei den falschen Dingen hoch motiviert sind und die dabei eigentlich wichtigen aus dem Blickfeld verlieren. Dieser Schwerpunkt, der sich v. a. bei der Darstellung der ‚gradus ad contemptum‘ findet, bildet einen Gegenpol zum Hauptteil über die Geringschätzung, wo in erster Linie die negativen Auswirkungen der Liebe zur Welt in Szene gesetzt werden. Auch hier tritt wieder die Bandbreite des ‚contemptus‘ und damit auch seine komplementäre Grundstruktur vor Augen: So hätte man rein theoretisch auch umgekehrt verfahren können und die schädlichen Auswirkungen der Geringschätzung gegenüber Gott sowie den tugendhaften Charakter der Lauheit gegenüber unwichtigen Dingen herausarbeiten können. Radulfus Ardens hat sich für die von ihm gewählte Methode mit einiger Sicherheit aus Traditionsgründen entschieden, da der ‚contemptus‘ eher mit positiven und der ‚tepor‘ eher mit negativen Assoziationen verbunden war. 1.2.2.2 ‚negligentia‘ Die zweite Entwicklungsstufe, die Nachlässigkeit (‚negligentia‘) ist sowohl inhaltlich als auch von ihrer Aufgliederung her eng mit der Lauheit verknüpft und wird in Kapitel 5 behandelt. Sie wird als ein Mangel an Mühe oder Aufwand (‚remissio operis‘) bei einer guten Tat bestimmt.51 Allein daran wird schon die enge Beziehung zum ‚tepor‘ deutlich: Beide stellen einen Mangel dar, wobei es bei der Lauheit am Affekt als solchem und bei der Nachlässigkeit an der Mühe beim Vollzug der Handlung fehlt. Radulfus Ardens hebt in diesem Zusammenhang zunächst den Unterschied zwischen den beiden Eigenschaften hervor, betont aber zugleich, dass sie nur in Verbindung miteinander vorkommen und nicht voneinander zu trennen sind.52 Die Nachlässigkeit wird in die gleichen vier Arten (‚species‘) eingeteilt wie die Lauheit. Die ‚negligentia naturalis‘ entsteht genau wie ihre Entsprechung beim
50 Spec. uniu. 12, 4 (P, fol. 112vbf.): „Est autem stupor alienatio mentis molita, ne intendat his que ad salutem sunt necessaria. […] Inpassibilitas uero est uitium mentis obdurate, ne commoueatur ad promissiones uel comminationes Dei nec ad prospera uel ad aduersa proximi. […] Soccordia uero est torpor mentis ad meditandum de salute propria, non semet euigilantis. […] Vapiditas est remissio et inutilitas mentis a uigore mentis naturali degenerantis. Sumptum est autem a uapa quod est uapidum uinum, a naturali calore et uigore remissum.“ 51 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113ra): „Negligentia autem est remissio opere ad opera facienda […]. Est autem differentia inter teporem et negligentiam, quoniam tepor est remissio dilectionis siue uoluntatis, negligentia uero est remissio opere operis.“ 52 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113ra): „Verumtamen inseparabiliter sese commitantur. Nam tepor nequit esse sine negligentia nec negligentia sine tepore.“
1.2 Die Einleitung von Buch 12
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‚tepor‘ ganz natürlich aus zu langer Beschäftigung mit ein und derselben Tätigkeit. Da sie nicht willentlich gesteuert ist, hat sie keinerlei ethische Qualität. Die ‚negligentia accidentialis‘ entsteht dagegen aus Zufall und auch sie lässt sich nur in sehr eingeschränktem Maß steuern.53 Die dritte Art – die ‚negligentia uoluntaria‘ – beschreibt die bewusste und willentliche Nachlässigkeit. Dass sie unter Umständen auch als etwas Positives anzusehen ist, zeigt sich daran, dass sie sich auch auf böse oder wertlose Dinge richten kann. Im Bereich des Guten ist die allerdings als schädlich einzustufen.54 Die ‚negligentia continua‘ stellt eine habituell verfestigte Nachlässigkeit dar, die den Betroffenen bei fast allem schlaff und träge macht. Eine solche Haltung bezeichnet Radulfus Ardens als ‚sehr schlecht und beinahe unverbesserlich‘.55 Hier wird deutlich, dass das Fehlen von Affekten letztlich auch für den Mangel an Arbeitseinsatz bzw. Mühe verantwortlich ist und auf dieser Grundlage eine charakterliche Verbesserung kaum gelingen kann. Im weiteren Verlauf des Kapitels stellt der Autor die negativen Auswirkungen der lasterhaften Nachlässigkeit heraus. Um die beiden Laster Lauheit und Nachlässigkeit gänzlich auszutilgen, ist es notwendig, ihre Ursprünge in den Blick zu nehmen und dort mit dem Heilungsprozess zu beginnen. Als Quellen werden nämlich Trägheit (‚torpor‘), törichte Sorglosigkeit (‚stulta securitas‘) sowie allzu häufige Gewohnheit (‚nimia frequentatio‘) genannt. Den ersten beiden wird die kluge Furcht (‚timor prudens‘) als Gegenmittel gegenübergestellt und der letzten die Kürze und Abwechslung (‚breuitas et interpositio‘) bei jeder auch noch so bedeutsamen Handlung.56 Während die Abwechslung selbsterklärend ist, bedarf der ‚timor prudens‘ noch einiger erklärender Bemerkungen. Der ‚superius‘-Verweis an entsprechender Stelle verweist offensichtlich auf Buch 9, genauer gesagt auf Kapitel 6. Dort erörtert Radulfus Ardens, aus welchem Ursprung die Klugheit entsteht. Zunächst stellt er fest, dass die ‚prudentia‘ aus der Tugend des Glaubens (‚fides‘) entsteht. Im Anschluss daran beschäftigt er sich mit der Frage, welche Rolle die Furcht dabei
53 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113ra): „Prima est, que nascitur ex fatigatione que quasi naturalis est. […] Et ideo nec in bono opere malum nec in malo opere bonum reputatur. Secunda est, que nascitur ex accidenti et hec accidentalis potest dici.“ 54 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113ra): „Tertia species est uoluntaria et particularis, ut quando aliquis in aliquo opere fit negligens et in alio diligens. Qui si fit negligens in malo et diligens in bono, utrumque bonum est. Si uero fiat negligens in bono et diligens in malo uel in uano, malum est utrumque.“ 55 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113ra): „Quarta species est quasi continua et uniuersalis. Sunt enim quidam qui ex uitio naturae in omnibus tam in bonis quam in malis remissi sunt et negligentes. Et hec pessima est et pene incorrigibilis.“ 56 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113vaf.): „Si autem hec duo uitia scilicet teporem et negligentiam a nobis resecare uolumus, radices eorum a nobis extirpemus, uidelicet torporem, stultam securitatem, nimiam frequentationem. […] Itaque torpori et stulte securitati resistendum est per timorem prudentem. Que autem generent in nobis timorem, superius demonstratum est. Nimie uero assiduitati et frequentationi resistendum est per breuitatem et interpositionem.“
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spielt, wobei die Aussage von Ps 110, 10, nämlich dass die Furcht der Beginn der Klugheit ist, den Ausgangspunkt bildet. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis, dass die Klugheit nicht ursächlich (‚originaliter‘) aus der Furcht hervorgeht, sondern dass der ‚timor dei‘ vielmehr selbst unter Vermittlung des Glaubens entsteht und daher lediglich bei der Genese der Klugheit mithilft (‚opitulatur‘).57 Diese Furcht resultiert aus der Glaubenserkenntnis, dass Gott die Sünder bestraft und die tugendhaft handelnden Menschen belohnt, wodurch der ‚timor dei‘ eine klar ethische Prägung erhält.58 Auf dieser Grundlage wird auch deutlich, was in Buch 12 gemeint ist: Das Laster der Nachlässigkeit schleicht sich nur dann ein, wenn man den Glauben und ganz konkret Gottes Aufruf zum Tun des Guten nicht ernst nimmt. Radulfus Ardens warnt hier also vor der Gefahr, dass der christliche Glaube durch alltägliche Gewohnheit zu einer vagen Selbstverständlichkeit wird und sich dadurch ein Mangel an Liebe und Einsatz entwickelt, der den Menschen träge und unmotiviert werden lässt. In einer solchen Stimmung der tatenlosen Bequemlichkeit breiten sich schließlich auch die Laster immer weiter aus.59 Mithilfe der angeführten Textstellen konnte das Wesen der Nachlässigkeit und ihre Verbindung mit der Lauheit herausgearbeitet werden. Schließlich steht es noch aus, die Laster bzw. Verhaltensweisen, die aus der zweiten Entwicklungsstufe hervorgehen, in den Blick zu nehmen. In Kapitel 6 werden diesbezüglich Gleichgültigkeit (‚incuria‘), Untätigkeit (‚desidia‘), Unlust (‚pigritia‘), Ziellosigkeit (‚dissolutio‘) und Überdruss (‚accidia‘) genannt.60 Auch hier illustrieren die Unterarten die Eigenschaft, aus der sie entstehen, genauer und ebenso wie bei der Lauheit stellt der zuletzt genannte Überdruss die nächste (und letzte) Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Geringschätzung dar. Abgesehen von der ‚accidia‘ haben die übrigen vier Verhaltensweisen kaum eine spezifische Prägung und werden alle als eine bestimmte Form der Trägheit (‚segnities‘) bestimmt: Die Gleichgültigkeit ist die Trägheit bei wichtigen Taten im Allgemeinen, die Untätigkeit beim Anfangen, die Unlust beim Weitermachen und die Ziellosigkeit beim Vollenden.61 Hier ist anzumerken, dass die Übersetzung der von Radulfus Ardens gewählten Begriffe große Schwierigkeiten mit sich bringt, da kaum auszumachen ist, was hier eigentlich gemeint ist. Bei
57 Spec. uniu. 9, 6 (CCM 241A, p. 358 f.): „Sed quid est quod dicit scriptura timor Domini est initium sapientie? Non dicitur ob hoc quod ex timore originaliter prudentia nascatur, sed quoniam ad ortum eius opitulatur. Sed et ipsum Dei timorem fides incutit nobis.“ 58 Spec. uniu. 9, 6 (CCM 241A, p. 359): „Cum enim fides tradat nobis Deum esse remuneratorem tam bonorum quam malorum et malos quidem dampnaturum, bonos uero glorificaturum, incutit nobis peccatoribus timorem, ut de cetero mala caueamus, bona uero facere studeamus.“ 59 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113rb): „Tantum est uitium negligentie quod per eam omnia uitia in nobis oriuntur, nutriuntur et proficiuntur.“ 60 Spec. uniu. 12, 6 (P, fol. 113va): „Nascuntur autem ex negligentia filie quinque, uidelicet incuria, desidia, pigritia, dissolutio, accidia.“ 61 Spec. uniu. 12, 6 (P, fol. 113va): „Et incuria quidem est segnities ad curandum ea que facienda sunt. Desidia uero est segnities ad incipiendum, pigritia ad prosequendum, dissolutio ad perficiendum.“
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diesen vier Haltungen hat er wohl eine innerliche Barriere vor Augen, die den Menschen träge macht und ihn davon abhält, überhaupt eine Handlung – sei sie nun gut oder schlecht – auszuführen. Diese Trägheit wird im Anschluss auf die einzelnen Phasen des Handlungsverlauf appliziert, ohne dass dabei systematisch relevante Informationen hervortreten würden. Dabei fällt wieder die für das Speculum universale typische Dreiteilung ‚incipere‘ – ‚prosequi‘ – ‚perficere‘ auf. Im Gegensatz dazu ist die Definition des Überdrusses bemerkenswert: Er wird nämlich als eine Neigung (‚pronitas‘) dazu beschrieben, eine Sache ganz und gar aufzugeben (‚deserere‘).62 Mit ‚Neigung‘ ist hier keine natürliche Anlage gemeint, sondern vielmehr eine faktische Bereitschaft, sich von einem bestimmten Gegenstand, einer bestimmten Handlung oder einem Verhalten gänzlich abzuwenden. Damit steht der Überdruss unmittelbar in der Nähe des ‚contemptus‘, weshalb ihn Radulfus Ardens auch als letzte Vorstufe in diesem Prozess bestimmt hat. 1.2.2.3 ‚accidia‘ Die soeben erläuterte Definition des Überdrusses wiederholt Radulfus Ardens gleich zu Beginn von Kapitel 7, wobei er zwei Ergänzungen hinzufügt.63 Er bezeichnet ihn dort als ‚accidia siue tedium‘. Der Begriff ‚tedium‘ lässt sich als ‚Abscheu‘ oder ‚Ekel‘ übersetzen, womit verdeutlicht wird, dass man eine bestimmte Sache als abstoßend wahrnimmt; allerdings ist hier nicht die Abscheu gegenüber allen möglichen Gegenständen gemeint – eine solche Emotion würde eher in den Bereich des Hasses gehören –, sondern es geht hierbei ausschließlich um zuvor geliebte bzw. erstrebte Dinge (‚res prius appetite‘). Der Affekt ‚accidia‘ beschreibt also eine Gefühlslage, in der sich der Mensch von einer Sache abwendet, die er möglicherweise im Übermaß genossen hat oder weil er sich einfach nach Abwechslung sehnt. Von der Geringschätzung unterscheidet sich dieser Affekt jedoch dadurch, dass noch ein Rest an affektivem Potential vorhanden ist, wobei sich die Sichtweise radikal ändert: Die Perspektive verkehrt sich in ihr Gegenteil und der Gegenstand, der bis dahin erstrebenswert erschien, wird nun abgelehnt und man ekelt sich schließlich sogar davor. An dieser Stelle lässt sich eine bedeutsame Veränderung feststellen: Lauheit und Nachlässigkeit waren beide dadurch bestimmt, dass ein Mangel an Liebe bzw. Motivation oder Tatkraft besteht – an sich blieb die grundsätzlich positive Sichtweise auf den jeweiligen Gegenstand bestehen. Bei der ‚accidia‘ ändert sich dies jedoch grundlegend. Es findet gewissermaßen eine totale Umwertung statt und der Affekt ‚polt‘ sich bei der Bewertung des Gegenstandes um: Aus Liebe wird Hass.
62 Spec. uniu. 12, 6 (P, fol. 113va): „Accidia est pronitas ad deserendum.“ 63 Spec. uniu. 12, 7 (P, fol. 113va): „Accidia uero siue tedium est lascessere ab usu rei prius appetite.“
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Lassen sich diese durchaus erklärungsbedürftigen Bestimmungen in die anfangs als These formulierte Vorstellung von einer Skala zwischen ‚amor‘ und ‚odium‘ mit dem ‚contemptus‘ als Mittelpunkt integrieren? Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Zunächst stellt sich scheinbar das Problem, dass der beschriebene Vorgang auf Grundlage der im Text genannten Begriffe eigentlich nur für die Entwicklungsrichtung von der Liebe zur Geringschätzung nachvollziehbar ist. Demnach werden die amativen Affekte im Stadium der Lauheit und der Nachlässigkeit immer schwächer (erste Phase), verkehren sich im Überdruss schließlich in ihr Gegenteil (zweite Phase) und verschwinden zuletzt bei der Geringschätzung völlig (dritte Phase). Dieser Prozess ließe sich in der zweiten Phase als eine Überkompensation deuten: Der zuvor fälschlich als erstrebenswert wahrgenommene Gegenstand wird als das erkannt, was er ist, nämlich als etwas Wertloses, das keinerlei Bedeutung hat. Aus dieser plötzlichen Erkenntnis heraus stellt sich ein praktisch nachvollziehbares, jedoch letztlich unnötiges Gefühl der aktiven Ablehnung (also des Hasses) ein, das dann nach einiger Zeit in der dritten und letzten Phase gänzlich abklingt. Diese Vorstellung passt also zur Vorstellung einer ‚Skala‘ zwischen Liebe und Hass: Die Liebe verringert sich immer mehr und pendelt sich am Ende dieses Prozesses auf den Nullpunkt des ‚contemptus‘ ein. Wie bereits gesagt, ist dieser Vorgang im Bereich der Liebe unmittelbar verständlich, beim Hass fehlt dagegen scheinbar ein passender Begriff für die Überkompensation. Denn im oditiven Bereich müsste sich – zumindest theoretisch – der durch Lauheit und Nachlässigkeit immer weiter abgeschwächte Hass kurz in eine Form der Liebe verwandeln, um schließlich zur Geringschätzung werden zu können. Ein solcher Begriff findet sich jedoch nicht – Radulfus Ardens betont ja am Anfang des Buches, dass Liebe und Hass identische Entwicklungsstadien durchlaufen. Wie lässt sich dieses Problem lösen? Die Vorstellung, dass sich auch der Hass in Form einer Überkompensation einpendeln muss, um schließlich in der Geringschätzung aufzugehen, ist wohl für das Anliegen des Autors zu theoretisch bzw. zu arithmetisch gedacht. Aus praktischer Perspektive stellt es nämlich keinerlei Problem dar, dass auch etwas, das zunächst leidenschaftlich gehasst wird, Gegenstand des Überdrusses werden kann. Auch hier kann die Erkenntnis der Wertlosigkeit dazu führen, dass der Gegenstand bzw. der Hass darauf aktiv abgelehnt wird und schließlich verschwindet. Möglicherweise hat sich Radulfus Ardens auch nicht so ausführlich mit der Entwicklungsrichtung vom Hass zur Geringschätzung beschäftigt, da sie aus der Perspektive der ethischen Praxis sehr viel seltener ein Problem darstellt. Schließlich neigt der Mensch im Allgemeinen viel eher zur Liebe als zum Hass gegenüber den ‚res uane‘. Festhalten lässt sich aber in jedem Fall, dass die These einer ‚Skala‘ mit dem ‚contemptus‘ als Nullpunkt bei genauerer Textanalyse immer konkretere Gestalt gewinnt. Diese Tendenz wird sich in den Kapiteln über die Geringschätzung verstärken. Die weitere Unterteilung der ‚accidia‘ in Arten folgt einem anderen Schema als bei ‚tepor‘ und ‚negligentia‘. Genannt werden vier ‚species‘: Die erste entsteht aus der dauerhaften Beschäftigung mit derselben Sache (‚ex uisitatione continua eiusdem‘), die zweite aus der Einsamkeit des Aufenthaltsortes (‚ex solitudine mansionis‘), die dritte
1.2 Die Einleitung von Buch 12
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durch Bitterkeit (‚ex adiunctione amaritudinis‘) bzw. Schicksalsschläge und die vierte aus Übernahme einer zu großen Aufgabe (‚ex assumptione nimii ponderis‘).64 Den ersten beiden wird die Abwechslung als Heilmittel entgegengestellt, der dritten die Geduld und größeres Vertrauen auf Gott und der vierten eine genaue Abgleichung der Lasten mit den eigenen Kräften.65 Bei dieser Aufgliederung waren offensichtlich keine systematischen Gedankengänge leitend. Vielmehr scheinen die Begriffe aus dem Kontext einer monastisch-eremitischen Lebensweise zu stammen. Sie nehmen das Phänomen des Überdrusses aus der Perspektive eines Menschen in den Blick, der sich in einer gewissen Weltdistanz um geistiges Vorankommen bemüht und trotz aller Misserfolge und Unwägbarkeiten von diesem Vorsatz nicht abweicht. Inwieweit hier unter Umständen Interessensschwerpunkte des Autors deutlich werden, lässt sich nur vermuten. Festzuhalten ist aber, dass die Gedankenwelt dieser Aufgliederung durchaus auffällig ist und von den beiden vorherigen abweicht. In Kapitel 8 widmet sich Radulfus Ardens zunächst der Charakterisierung eines im lasterhaften Sinne überdrüssigen Menschen. Das Bedürfnis nach Abwechslung und ständiger Veränderung übersteigert sich dabei soweit, dass nicht mehr die ethische Qualität der Gegenstände von Belang ist, sondern nur noch ihre Neuheit. Er entwirft hier das Bild eines umtriebigen, rastlosen und aufdringlichen Menschen, der letztlich nichts Bedeutendes zustande bringt und dessen flüchtige Beschäftigung mit einer Vielzahl völlig unbedeutender Dinge als reine Prokrastination zu bewerten ist. Dieser Eindruck wird auch noch durch die Töchter (‚filie‘) der ‚accidia‘ verstärkt. Am Ende des Kapitels werden hier insgesamt neun Verhaltensweisen genannt, nämlich die Müßigkeit (‚otiositas‘), die Schläfrigkeit (‚sompnolentia‘), die Neugier (‚curiositas‘), die Geschwätzigkeit (‚uerbositas‘), die Unruhe (‚inquietudo‘), die Aufdringlichkeit (‚inportunitas‘), die Unbeständigkeit (‚instabilitas‘), die Umtriebigkeit (‚peruagatio‘) und schließlich die Geringschätzung (‚contemptus‘).66 Die Eigenschaften werden lediglich aufgezählt, jedoch nicht weiter beschrieben, sodass die Übersetzung der Begriffe erneut einen gewissen Anteil an Spekulation enthält. Jedenfalls stellt auch hier die letztgenannte ‚filia‘ das nächste und in diesem Fall finale Stadium der Entwicklung dar, das in den letzten drei Kapiteln der Einleitung (c. 9–11) besprochen wird.
64 Spec. uniu. 12, 7 (P, fol. 113vbf.): „Sunt autem quattuor species accidiarum. Nam alia nascitur ex eiusdem continua usitatione. […] Alia uero nascitur ex solitudine mansionis. […] Alia uero nascitur ex amaritudinis adiunctione. […] Alia uero nascitur ex nimii ponderis assumptione.“ 65 Spec. uniu. 12, 7 (P, fol. 114ra): „Sane contra primum genus accidie remedium est uariatio. […] Eadem uariatio est remedium accidie quam patitur, quis ex solitudinis habitatione. […] Contra uero genus accidie que nascitur ex uite huius amaritudine, remedium est patientia et maior in Deo fiducia. […] Contra uero genus accidie que ex maioris oneris oritur assumptione remedium debuit esse, ut antequam honus assumeremus, illud cum uiribus nostris metiremur.“ 66 Spec. uniu. 12, 8 (P, fol. 114rb): „Tantum est accidie uitium, quod quidam doctorum in numero septem criminalium illud connumerauerunt. Accidie igitur filie sunt otiositas, sompnolentia, curiositas, uerbositas, inquietudo, inportunitas, instabilitas, peruagatio et contemptus.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
1.2.2.4 ‚contemptus‘ Die Ausführungen zur Geringschätzung sind in gleichem Maß bedeutsam wie unübersichtlich. Zum einen zeigt sich an mehreren Details noch deutlicher als bisher, dass der ‚contemptus‘ tatsächlich nur im Idealfall einen affektiven Nullpunkt bildet und dies unter den Bedingungen des diesseitigen Lebens praktisch fast nie der Fall ist. Daneben gibt es jedoch eine ganze Reihe von Vorformen, die einem solchen Ideal schrittweise näherkommen und die im Alltag durchaus erworben werden können. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Vorstellung einer Skala von Liebe und Hass hin zur Geringschätzung klar belegen und nimmt nochmals eine konkretere Gestalt an. Zum anderen ist es schwierig, diese Informationen aus dem Text herauszulösen, da Radulfus Ardens den an sich systematisch einleuchtenden Gedankengang immer wieder durch paränetische Einschübe unterbricht, z. T. komplett neue Begriffe einführt und in den Kapiteln 9 und 11 verschiedene Aufteilungen des ‚contemptus‘ entwickelt, die sich zwar teilweise überschneiden, aber dann doch deutlich voneinander abweichen. Daher sind im Folgenden neben einer genauen Analyse der Vorformen der Geringschätzung auch einige allgemeine Begriffsklärungen notwendig, die im weiteren Verlauf von Buch 12 noch von Bedeutung sind. Zu Beginn von Kapitel 9 wird die Geringschätzung als willentliche Aufgabe irgendeiner Sache hinsichtlich Bemühung (‚cura‘), Besitz (‚possessio‘) und Nutzen (‚usus‘) definiert.67 Hier ist zunächst auf das Adjektiv ‚willentlich‘ (‚uoluntarius‘) hinzuweisen. Dadurch wird hervorgehoben, dass die Geringschätzung als Affekt untrennbar mit einer bestimmten Willensregung – in diesem Fall mit dem Nichtwollen (‚nonuoluntas‘) – verbunden ist. Dadurch unterscheidet sich der ‚contemptus‘ auch von anderen Phänomenen, die man möglicherweise damit verwechseln könnte: So kann z. B. die Entsagung (‚abrenuntiatio‘) gegenüber einer bestimmten Sache sowohl selbstgewählt (‚spontanea‘) als auch von außen auferlegt (‚inuita‘) sein. Auch die weiter oben dargestellte Nachlässigkeit (‚negligentia‘) ist von der Sache her etwas anderes, da sie nicht im eigentlichen Sinne eine Bewegung des Willens darstellt, sondern lediglich durch einen Mangel an Motivation und Tatkräftigkeit gekennzeichnet ist.68 Diese begriffliche Unterscheidung, die in Kapitel 10 durchgeführt wird, dient hauptsächlich dem Zweck, die Geringschätzung in Abgrenzung zu anderen, aus praktischspirituellen Gesichtspunkten ähnlichen, Begrifflichkeiten klar im affektiven Bereich zu verorten.
67 Spec. uniu. 12, 9 (P, fol. 114rb): „Contemptus est alicuius a cura, possessione usuque nostro uoluntarius abiectus.“ 68 Spec. uniu. 12, 10 (P, fol. 114va): „Est autem differentia inter negligentiam, abrenuntiationem et contemptum, quoniam negligentia propositum penitus non deserit, sed tepide desidioseque prosequitur. Abrenuntiatio uero penitus deserit rem cui abrenuntiat. Contemptus autem rem quam contempnit, aliquando deserit, aliquando non deserit. Item negligentia teporis est et desidie; abrenuntiatio uero aliquando spontanea, aliquando inuita; contemptus uero semper est spontaneus.“
1.2 Die Einleitung von Buch 12
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Die eben angeführte Definition enthält zudem bereits die terminologischen Grundlagen für die weitere Unterteilung der Geringschätzung in ‚species‘. Radulfus Ardens betont nämlich unmittelbar im Anschluss daran, dass diese Definition ausschließlich den vollständigen und vollendeten ‚contemptus‘ beschreibt und verweist zusätzlich darauf, dass es eine kleine, eine große, eine größere und eine größte Geringschätzung gibt.69 Wegen der Bedeutung dieser Aufgliederung für das Verständnis des dritten Affekts insgesamt wird sie genauer untersucht. Der graduelle Unterschied zwischen diesen vier Stufen lässt sich dabei an den drei Kriterien Bemühung, Besitz und Nutzen ablesen. Der ‚contemptus maximus‘ zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Mensch um den Gegenstand, den er geringschätzt, nicht bemüht, nicht nach seinem Besitz strebt und ihn schließlich auch nicht benutzt. Eine solche Haltung beinhaltet demnach eine völlige Unabhängigkeit von der entsprechenden Sache und der Autor nennt diesbezüglich auch das konkrete Beispiel eines klugen Mannes an, der sich aus Vernunft vom Glücksspiel fernhält.70 Die vollkommene Geringschätzung ist daher auch nach der oben genannten Definition mit dem ‚contemptus plenus et perfectus‘ gleichzusetzen. Bei den drei übrigen Vorformen sind dagegen noch bestimmte Abhängigkeiten vorhanden: So lassen sich beim ‚contemptus paruus‘ zwar noch ein Bemühen um den jeweiligen Gegenstand, seinen Besitz und seine Benutzung feststellen, allerdings fehlt hier bereits die Liebe. Damit ist gemeint, dass sich das Streben danach deutlich reduziert hat, obgleich eine grundsätzlich positive Ausrichtung darauf vorerst erhalten bleibt.71 Beim ‚contemptus magnus‘ fehlt die Bemühung schon vollständig. Das bedeutet, dass der Gegenstand zwar noch besessen und genutzt wird, die Beschaffung und Verwaltung jedoch in anderen Händen liegt. Hier wird auf das Beispiel der Apostel verwiesen, die mehrere Diakone für Verwaltungsaufgaben einsetzten, um mehr Zeit zum Predigen zur Verfügung zu haben. 72 Für den ‚contemptus maior‘ ist schließlich charakteristisch, dass man die Dinge nur noch benutzt, sich jedoch nicht mehr um sie kümmert und sie auch nicht besitzt. Der Autor nennt hier das Beispiel von Mönchen, die in
69 Spec. uniu. 12, 9 (P, fol. 114rb): „Describitur autem hic plenus et perfectus contemptus. Nam contemptus alius est paruus, alius est magnus, alius est maior, alius est maximus.“ 70 Spec. uniu. 12, 9 (P, fol. 114rbf.): „Maximus uero contemptus est, quando quis rem et a cura et a possessione et ab usu excludit, ut uir prudens contempnit ludum alearum, et quantum ad curam et quantum ad possessionem et quantum ad usum.“ 71 Spec. uniu. 12, 9 (P, fol. 114rb): „Paruus est, quando aliquis fidelis res temporales contempnit, id est sine amore possidet, nec tamen eas a cura, a possessione usuque suo excludit […].“ 72 Spec. uniu. 12, 9 (P, fol. 114rb): „Magnus uero contemptus est, quando aliquis res a cura sua, sed non a possessione uel usu excludit, uelut quidam fideles qui res suas a cura sua excludentes per procuratores fideles eas regunt. Cum tamen ipsi eas possideant et utantur, quod apostoli fecisse leguntur, quando septem diacones elegerunt in ministerium, ipsi uero solius uerbi ministerio uacauerunt.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
der Klausur leben. Sie benötigen zwar einige materielle Dinge wie Wohnung und Kleidung zum Leben, sorgen sich aber nicht mehr aktiv darum.73 Mit den drei Kriterien Bemühung, Besitz und Gebrauch hat Radulfus Ardens eine Systematik entwickelt, mit deren Hilfe sich die graduelle Ausprägung der Geringschätzung noch genauer bestimmen lässt. Diese Überlegungen sind zum einen praktisch einleuchtend und zeigen konkrete Wege auf, um sich Schritt für Schritt von den materiellen Dingen zu lösen. Zum anderen sind sie aber auch für die Bestätigung der schon mehrfach geäußerten These von entscheidender Bedeutung: Was bereits bei der Beschreibung der drei Entwicklungsstufen Lauheit, Nachlässigkeit und Überdruss immer wieder angeklungen ist, tritt hier nämlich klar und deutlich vor Augen: Der ‚contemptus‘ ist in der Praxis nur äußerst selten ein affektiv neutraler Punkt, sondern beinhaltet vielmehr eine ganze Bandbreite an Abstufungen, an denen sich ablesen lässt, wie weit der Mensch bereits dabei gekommen ist, Distanz zu den wertlosen bzw. rein weltlich-materiellen Dingen aufzubauen. Damit ist der ‚Affekt‘ der Geringschätzung trotz einiger systematischer Schwierigkeiten nicht nur eine wichtige und wohl durchdachte Ergänzung zu den beiden Grundaffekten Liebe und Hass, sondern er enthält letztlich auch den Grundgedanken eines praktisch-spirituellen Programms zur Charakterbildung. So erklärt sich auch, dass in Kapitel 11 noch eine weitere (dreigliedrige) Einteilung des ‚contemptus‘ aus praktischer Perspektive gefunden werden kann. Radulfus Ardens nennt dort erstens die vollkommene Geringschätzung (‚absolutus‘). Sie ist identisch mit dem ‚contemptus perfectus‘ aus der ersten Aufteilung. Als zweites führt er die begrenzte Geringschätzung (‚terminatiuus‘) an, die noch gewisse Einschränkungen beinhaltet: So kann man ein zeitliches Gut (wie z. B. Speisen) unter dem Gesichtspunkt des Überflusses geringschätzen, es aber im Hinblick darauf nicht geringschätzen, dass es zum Leben notwendig ist. Von daher könnte man diese zweite Art auch als ‚relative Geringschätzung‘ bezeichnen. Drittens wird die Geringschätzung im Vergleich zu etwas anderem (‚conparatiuus‘) genannt, die sich dadurch bestimmt, dass man etwas nicht per se geringschätzt, sondern in Vergleich mit etwas anderem, dem ein höherer Wert zukommt. Radulfus Ardens nennt hier u. a. den Vorzug des kontemplativen Lebens im Vergleich zur aktiven Lebensführung als Beispiel.74 Diese ‚praktische‘ Einteilung knüpft eindeutig an die oben 73 Spec. uniu. 12, 9 (P, fol. 114rb): „Maior uero est, quando aliquis rem a cura et possessione abscidit, sed non ab usu, ut claustrales qui et a cura et a possessione sua res temporales excludunt, utuntur tamen eis.“ 74 Spec. uniu. 12, 11 (P, fol. 114vbf.): „Contemptus quoque triplex est: alius est absolutus, alius terminatiuus, alius conparatiuus. Et absolutus quidem est, quando rem absolute et penitus contempnimus, illam a cura, possessione usuque nostro propulsantes, ut ludum alearum. Terminatiuus uero est, quando rem et ad aliquid contempnimus et ad aliquid non contempnimus, sicut quilibet fidelis contempnit res temporales ad superfluitatem, non contempnit uero eas ad necessitatem. Conparatiuus autem est, quando aliquid contempnimus non in se, sed in conparatione melioris, ut quando contempnimus uitam actiuam in respectu contemplatiue, uitam temporalem in respectu sempiterne.“
1.2 Die Einleitung von Buch 12
415
dargestellte ‚systematische‘ an, setzt aber nochmals neue Schwerpunkte und nimmt das Phänomen aus einer anderen Perspektive in den Blick. Diese Zusammenhänge werden der Übersichtlichkeit wegen in einem Schaubild dargestellt, wobei zu beachten ist, dass die Adjektive ‚plenus‘, ‚perfectus‘ und ‚absolutus‘ die höchste Ausprägung der Geringschätzung als affektiven Nullpunkt bezeichnen. ‚Systematische‘ Aufteilung
maximus
‚Praktische‘ Aufteilung
=
contemptus plenus / perfectus
=
absolutus
maior contemptus
terminatiuus
contemptus
magnus paruus
conparatiuus
Abb. 50: Die beiden Aufteilungen der Geringschätzung.
Abschließend kommt er noch auf die Gründe zu sprechen, aus denen der ‚contemptus‘ grundsätzlich entsteht. Auch diese Überlegungen sind für das Verständnis des dritten Affekts durchaus bedeutsam. Denn die fünf in Kapitel 11 genannten Gründe werfen nochmals Schlaglichter darauf, welche Schwerpunkte der Mensch in seinem Verhältnis zu den weltlich-materiellen Gegenständen setzen kann und welche Fehler ihm dabei unterlaufen können. Der eigentliche Grund für die Entstehung der Geringschätzung ist die Nutzlosigkeit einer Sache (‚inutilitas rei‘). Mit Nutzen ist hier die Bedeutung des Gegenstandes für das Heil gemeint. Der Mensch beurteilt die Dinge aber nicht immer richtig, sodass stets die Gefahr eines Irrtums (‚error‘) besteht. So kann er sowohl Dinge geringschätzen, die er eigentlich hassen und ablehnen müsste, als auch solche, die er lieben und erstreben müsste. Drittens kann auch eine plötzliche Verlockung der Begehrlichkeit, die seiner eigentlichen Beurteilung widerspricht (‚illecebra contraria concupiscentie‘), in ihm die Meinung entstehen lassen, dass es sich bei der wertlosen Sache um etwas Erstrebenswertes handelt. Auch kommt es vor, dass die Kräfte durch die Vielzahl der Dinge (‚copia rerum‘) aufgeteilt und dadurch immer weiter geschwächt werden. Schließlich kann auch schlicht der Vorzug bzw. die höhere Priorität einer anderen Sache der Grund für die Geringschätzung sein.75 Mit dieser Zusammenstellung zeigt Radulfus Ardens nochmals auf, dass das Beiseitelassen bedeutungsloser Dinge die grundlegende Aufgabe des ‚contemptus‘ ist und lenkt zugleich den Blick darauf, wodurch diese Grundfunktion behindert oder fehlgeleitet werden kann.
75 Spec. uniu. 12, 11 (P, fol. 115ra): „Sunt autem quinque cause propter quas aliquid contempnitur, uidelicet inutilitas rei, error, illecebra contraria concupiscentie, copia rei et antepositio melioris.“
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1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
1.3 Zwischenfazit zur Bestimmung des ‚contemptus‘ und seiner Funktion als Grundlage der kontemptiven Komplementärtugenden Auf der Grundlage der bis hierhin besprochenen Textpassagen lassen sich zwei wichtige Zwischenergebnisse festhalten. Erstens wurde deutlich, dass der ‚contemptus‘ zwar schlüssig und einleuchtend als Affekt bestimmt wurde, dem Gedankengang in Buch 12 aber ein gänzlich anderer Leitfaden zugrunde liegt, als der Entfaltung von Liebe und Hass in Buch 11. Der entscheidende Punkt ist, dass die ‚sequela‘ der Geringschätzung letztlich keinerlei Bedeutung für den Fortgang der Darstellung hat, während die Gefolgschaften von Liebe und Hass in Buch 11 die Grundlage für die Zusammenstellung der insgesamt acht Komplementärtugendpaare bilden. Stattdessen gliedert Radulfus Ardens den Hauptteil nach den beschriebenen vier ‚distinctiones‘. An dieser Stelle bietet es sich an, nochmals auf die in Buch 1 genannten Affekte einzugehen, die unter die Gefolgschaft der Geringschätzung gerechnet werden und mit der Terminologie in Buch 12 abzugleichen. Im 45. Kapitel des 1. Buches werden in diesem Zusammenhang Verhöhnung (‚subsannatio‘), Gleichgültigkeit (‚incuria‘), Vergessen (‚obliuio‘), Sorglosigkeit (‚securitas‘), Gemütsruhe (‚socordia‘) und Schläfrigkeit (‚sompnolentia‘) aufgeführt.76 Sogleich fällt ins Auge, dass keine der genannten Emotionen bei den Entwicklungsstufen oder bei den in Buch 12 behandelten Komplementärtugendpaaren eine bedeutsame Rolle spielt. Bei genauerem Hinsehen lassen sich einzelne Stellen ausmachen, an denen die fünf Begriffe vorkommen: Die ‚subsannatio‘ wird nur einmal genannt und in Kapitel 141 als ein Erkennungszeichen des Stolzes aufgeführt.77 Die ‚incuria‘ wird hingegen unter die fünf Töchter der Nachlässigkeit gerechnet.78 Die ‚obliuio‘ kommt unter der in Buch 1 gemeinten Bedeutung überhaupt nicht vor, sondern erscheint nur im Kontext der Ausübung eines kirchlichen Leitungsamtes in Kapitel 89 als Selbstvergessenheit (‚obliuio sui ipsius‘) vor.79 Die Sorglosigkeit wird im Speculum
76 Spec. uniu. 1, 45 (CCM 241, p. 54): „Porro ex contemptu nascitur subsannatio, incuria, obliuio, securitas, socordia, sompnolentia.“ 77 Spec. uniu. 12, 141 (P, fol. 157vb): „Nares spirantes iniurias et subsannantes, scemata risibilia, collum erectum, risus incontinens et subbulliens, uultus gestuosus, corpus rigidum, incessus festinus et artificiosus.“ Diese Aussage steht im Kontext einer längeren Aufzählung zu den Erkennungszeichen eines stolzen Menschen. 78 Spec. uniu. 12, 6 (P, fol. 113va): „Nascuntur autem ex negligentia filie quinque, uidelicet incuria, desidia, pigritia, dissolutio, accidia. Et incuria quidem est segnities ad curandum ea que facienda sunt.“ 79 Spec. uniu. 12, 89 (P, fol. 132rb): „Quare etiam talis ministerium regiminis debeat timere septem sunt cause, uidelicet septem uitia que dignitatem regiminis solent comitare, scilicet multorum sollicitudo, sui ipsius obliuio, cenodoxia, elatio, subditorum despectio, circa eos negligentia et cum eis ruina. […] Obliuio quoque sui comitatur regimen multorum.“
1.3 Zwischenfazit zur Bestimmung des ‚contemptus‘ und seiner Funktion
417
universale immer wieder erwähnt, wobei – und das gilt auch für Buch 12 – in erster Linie zwei unterschiedliche Bedeutungen festzustellen sind: Zum einen gibt es die törichte bzw. unbegründete oder leichtfertige Sorglosigkeit (‚stulta securitas‘), die bspw. eine Quelle der Nachlässigkeit darstellt.80 Zum anderen gibt es aber auch die positiv bewertete Sorglosigkeit, die ihren Ursprung in Vertrauen auf Gott und das richtige Verhältnis zur Welt hat.81 Der Begriff ‚socordia‘ kommt in Buch 12 nicht vor. Die ‚sompnolentia‘ wird schließlich in erster Linie in Kapitel 8 als ein Tochterlaster des Überdrusses bestimmt.82 An diesem Befund lässt sich festmachen, dass Radulfus Ardens das 12. Buch von Grund auf anders konzipiert hat, als das 11. Dass die Komplementarität im Bereich der kontemptiven Tugenden trotzdem eine große Rolle spielt, leitet unmittelbar zum zweiten, wichtigeren Zwischenergebnis über. Aufgrund der analysierten Textstellen ist klar, dass der Raum, in dem sich die verschiedenen Komplementärtugendpaare aus dem Bereich des ‚contemptus‘ ausformen, dadurch entsteht, dass der dritte Affekt für gewöhnlich eine Tendenz zur Liebe oder zum Hass aufweist. Mit diesem Ergebnis kann auch die anfangs geäußerte erste These als belegt gelten. Denn die menschliche Einschätzung erfasst nur in den seltensten Fällen die ethische Wertigkeit der weltlichen Gegenstände richtig. Meistens verschätzt sie sich dabei, sodass entweder eine zu starke Ablehnung gegenüber der jeweiligen Sache entsteht oder die ‚uana‘ viel erstrebenswerter erscheinen, als sie es tatsächlich sind. Von daher braucht die Geringschätzung gegenüber der Welt, die faktisch meist zum Hass tendiert, ein Korrektiv aus dem Bereich der Liebe, also einen maßvollen und vernunftgeleiteten ‚amor mundi‘. Allerdings übersteigert sich auch dieses natürlich angelegte Streben nach einer soliden Lebensgrundlage häufig, sodass der ‚amor mundi‘ seinerseits durch die Distanz gegenüber der Welt ins rechte Maß gebracht werden muss. Dieser Grundgedanke zieht sich durch den gesamten Hauptteil von Buch 12 und wird bei der Besprechung der einzelnen Tugenden noch deutlich hervortreten, sodass die soeben ausgeführte skizzenhafte Beschreibung vorerst genügt. Auch die Annahme einer positiven Form des ‚amor mundi‘ muss zunächst unkommentiert stehen bleiben. Was darunter zu verstehen ist, wird in Zusammenhang mit der Behandlung des ‚contemptus diuitiarum‘ genauer beleuchtet.83 In jedem Fall kann die in der Einleitung formulierte Leitfrage
80 Spec. uniu. 12, 5 (P, fol. 113rb): „Si autem hec duo uitia scilicet teporem et negligentiam a nobis resecare uolumus, radices eorum a nobis extirpemus, uidelicet torporem, stultam securitatem, nimiam frequentationem.“ 81 Vgl. dazu bspw. die Aussagen in Zusammenhang mit der Tugend der Armut in Spec. uniu. 12, 22 (P, fol. 117va): „Diuites et potentes cum trepidant, inopes sese simulare solent. Vt sub umbra paupertatis possint habere libertatem securitatis.“ 82 Spec. uniu. 12, 8 (P, fol. 114rb): „Accidie igitur filie sunt otiositas, sompnolentia, curiositas, uerbositas, inquietudo, inportunitas, instabilitas, peruagatio et contemptus.“ 83 Vgl. dazu Punkt 2.1.2.6.
418
1 Einführung zum Aufbau und Inhalt von Buch 12
nach dem Verhältnis des ‚contemptus‘ zu Liebe und Hass sowie seinem Status als drittem Grund-Affekt als beantwortet gelten. Zum Abschluss der Einführung zu Buch 12 bietet es sich an, das systematischen Grundlage für die Entstehung der kontemptiven Komplementärtugenden in den Blick zu nehmen, die in der schrittweisen Abstufung bzw. Verringerung der beiden Grundaffekte Liebe und Hass angelegt ist und in den ‚gradus ad contemptum‘ konkrete Gestalt annimmt. Die unten angefügte Skizze bildet als Gesamtüberblick alle in den Kapiteln 3–9 genannten kontemptiven Emotionen und Verhaltensweisen ab, die Liebe und Hass auf dem Weg zur Geringschätzung durchlaufen. Daran zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass Radulfus Ardens einen enormen konzeptionellen Aufwand unternommen hat, um den Prozess nachzuzeichnen, in dem sich der ‚contemptus‘ Schritt für Schritt herausbildet: Er belässt es nicht nur bei den drei Entwicklungsstufen Lauheit, Nachlässigkeit und Überdruss, sondern führt noch weitere Zwischenstadien an und unterteilt schließlich auch die Geringschätzung selbst in vier graduelle Abstufungen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die ‚species‘ bzw. ‚filie‘ der einzelnen Entwicklungsstufen nicht unbedingt in chronologischer Abfolge nacheinander entstehen, obgleich die hier gewählte Darstellungsform diese Assoziation hervorrufen könnte. Im Text finden sich keine Aussagen dazu, ob die Auflistungen einer bestimmten Systematik folgen und auch die Begriffe selbst lassen eine solche nicht unmittelbar erkennen; auffällig ist jedoch, dass in allen drei Fällen die jeweils nächste Entwicklungsstufe an letzter Stelle steht. Von daher lässt sich ableiten, dass die Grenzen zwischen ‚tepor‘, ‚negiligentia‘, ‚accidia‘ und ‚contemptus‘ fließend bzw. in erster Linie durch graduelle Unterschiede bestimmt sind. Definitiv liegt der Darstellung der Gedanke eines dynamischen, aber dennoch einheitlichen Prozesses zugrunde, der sich immer weiter verstärkt und dabei verschiedene Formen annimmt. Allein aus der Vielzahl der im Schema aufgeführten Emotionen und Verhaltensweisen kann man ableiten, wie klar der Autor die Tatsache vor Augen hatte, dass eine vollkommene emotionale Distanz zu den weltlich-materiellen Dingen im Alltag kaum möglich ist. Folgerichtig lenkt er den Bick daher eher auf die praktischen Möglichkeiten des Menschen zu Selbstverbesserung in diesem Bereich. Nicht umsonst führt er bereits in der Einleitung eine ganze Reihe ‚exempla‘ an und lässt an seinen Erklärungen immer wieder monastisch-asketische Interessensschwerpunkte erkennen. Diese Perspektive zeigt sich im Verlauf des Buches immer deutlicher und an mindestens einer Stelle trifft der Autor auch eine Aussage in eigener Sache hinsichtlich der von ihm gewählten Lebensführung.84 Die komplexe Struktur der Ausführungen, die Ausführlichkeit des Buches, das deutlich erkennbare Interesse des Autors an der Thematik und die
84 Vgl. dazu Punkt 2.1.2.3.
1.3 Zwischenfazit zur Bestimmung des ‚contemptus‘ und seiner Funktion
419
vergleichsweise zahlreichen persönlichen Einsprengsel erwecken den Eindruck, dass der ‚contemptus‘ als einer der zentralen Inhalte des gesamten Werkes anzusehen ist.
amor / odium (c. 4) (1)
tepor stupor inpassibilitas socordia uapiditas (c. 6) (2)
negligentia incuria desidia pirgritia dissolutio (c. 8) (3)
accidia otiositas sompnolentia curiositas uerbositas inquietudo inportunitas instabilitas peruagatio (c. 9) (4)
contemptus paruus magnus maior maximus
Abb. 51: Die Abstufungen von Liebe und Hass hin zur Geringschätzung.
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden Die detaillierte Beschreibung der kontemptiven Tugenden und ihrer komplementären Bezüge zueinander folgt im Wesentlichen der Aufgliederung des Buches in die vier Glieder der Geringschätzung. Wie schon bei der Darstellung über Buch 11 geht es nicht darum, den Inhalt in seiner Gesamtheit wiederzugeben. Stattdessen steht erneut die Frage im Zentrum, wo Komplementärtugendpaare bzw. komplementäre Denkstrukturen sichtbar werden. Aus diesem Grund werden auch das zweite und vierte Glied noch einmal genauer betrachtet, obgleich in den beiden Kapiteln auf den ersten Blick überhaupt keine Tugenden benannt werden. In der Hauptsache geht es also darum, die These zu belegen, dass die Komplementarität für die Konzeption von Buch 12 eine zentrale Rolle spielt, obwohl sich zunächst nur wenige und darüber hinaus sehr kompakte Äußerungen dazu finden.
2.1 ‚Mundum contempnere‘ – Die Komplementärtugenden aus dem Bereich des ersten Gliedes der Geringschätzung Der ‚contemptus mundi‘ bildet das erste Glied der Geringschätzung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass dieser Abschnitt der umfangreichste des gesamten Buches ist und die Kapitel 12–121 umfasst. Diese Tatsache ist zweifelsohne darauf zurückzuführen, dass der ‚contemptus mundi‘ im gesamten Mittelalter ein gängiges Thema war, das in ganz unterschiedlicher Weise behandelt wurde.85 Der Begriff ‚contemptus mundi‘ bedeutet im Speculum universale stets ‚Geringschätzung gegenüber der Welt‘. In der christlichen Tradition sind jedoch die Begriffe ‚Verachtung gegenüber der Welt‘ bzw. ‚Weltverachtung‘ sowie ‚Weltflucht‘ (‚fuga mundi‘ oder ‚fuga saeculi‘) weitaus geläufiger.86 Radulfus Ardens verwendet dabei ausschließlich das Nomen ‚contemptus‘ und das Verb ‚contempnere‘, obwohl es durchaus Alternativen gäbe, wie bspw. an dem Hildebert-Gedicht deutlich wird, in dem das Verb ‚spernere‘ diese Funktion übernimmt. Der Autor legt demnach offensichtlich besonderen Wert darauf, die Ausführungen über das an sich weit verbreitete praktische-spirituelle Thema möglichst fest mit seiner Konzeption des ‚contemptus‘ bzw. mit der Seelenlehre zu verknüpfen.
85 So schreibt SILAGI, Contemptus mundi zu dem Begriff: „Die Lehre, daß alles Diesseitige, zur Welt Gehörige, im Vergleich zum Leben nach dem Tode gering zu schätzen sei, beherrscht das ma. Denken so vollkommen, daß Ausdrücke wie „hic mundus“ oder „saeculum“ von vornherein pejorative Konnotation besitzen […]. C. m. ist auch Titel zahlreicher lit. Werke in Dichtung und Prosa, die zur Weltflucht mahnen.“ Ähnlich äußert sich HÜHN, Weltverachtung 521 f. 86 Zu dieser allgemeinen Beschreibung vgl. GNÄDINGER, Contemptus mundi und HÜHN, Weltverachtung 521. https://doi.org/10.1515/9783110758924-014
2.1 ‚Mundum contempnere‘
421
Allgemein betrachtet ist der ‚contemptus mundi‘ seit der Spätantike ein Terminus technicus der christlichen Spiritualität und hat ein höchst umfassendes Bedeutungsspektrum. Im Kern ist damit eine Distanz zu den weltlichen Gütern und der weltlichen Aktivität gemeint, die sich in erster Linie aus der Glaubensgewissheit des zukünftigen Heils speist. Von daher ist er der Leitbegriff einer asketisch-kontemplativen Lebensweise und hat gerade im monastischen Kontext eine besonders wichtige Bedeutung.87 Radulfus Ardens war sich offenbar der Tatsache bewusst, wie komplex und erklärungsbedürftig die Rede von der Geringschätzung der Welt ist und stellte seiner Darstellung über die dazugehörigen Tugenden und Laster daher auch ausführliche Erläuterungen voran. Dabei bestimmt er in einem ersten Schritt den ‚mundus‘-Begriff genauer und identifiziert den ‚mundus‘ mit den weltlichen Dingen (‚res mundane‘);88 im zweiten Schritt nimmt er die unterschiedlichen Arten von weltlichen Gütern in den Blick, teilt sie Gruppen ein und bewertet sie aus ethischer Perspektive. Diese einleitenden Bestimmungen finden sich in den Kapiteln 12–20; sie werden im Folgenden zuerst besprochen.
2.1.1 Grundlegende Bestimmungen zum ‚contemptus mundi‘ Mit Kapitel 12 beginnt der Hauptteil von Buch 12. Obwohl es sich dabei um ein relativ kurzes Kapitel handelt, enthält es zentrale Informationen, die insgesamt drei Ebenen der weiteren Gedankenführung vorstrukturieren: Zuerst führt Radulfus Ardens die beiden Distichen aus dem Carmen Hildeberts an. Wie bereits ausführlich im inhaltlichen Überblick besprochen, leitet er daraus die vier Glieder der Geringschätzung ab und kündigt an, jedem von ihnen einen einzelnen Traktat zu widmen. Sodann konkretisiert er, was mit ‚Welt‘ (‚mundus‘) im Rahmen seiner Darstellung gemeint ist. Diese Überlegungen nehmen den Mittelteil des Kapitels und sind gerade für das Verständnis dessen, was der Begriff ‚contemptus mundi‘ eigentlich bedeutet, von großer Wichtigkeit. Danach teilt er die weltlichen Güter schließlich in fünf Bestandteile ein und schafft damit die Grundlage für die oben genannten fünf Komplementärtugendpaare der ersten ‚distinctio‘. Auf diesem Fundament beschäftigt er sich in den Kapiteln 13–20 ausführlich mit der natürlichen Verfassung und den Eigenschaften der weltlichen Dinge. Im Zuge dessen wird auch genauer bestimmt, was der im gesamten Speculum universale meist unkommentiert verwendete Begriff des ‚Wertlosen‘ (‚uanum‘) eigentlich meint.
87 Vgl. GNÄDINGER, Contemptus mundi 187. 88 Wie HÜHN, Weltverachtung 521 betont, weist der Begriff ‚mundus‘ in der spirituellen Literatur des Mittelalters viele Bedeutungsnuancen auf und kann sowohl die Boshaftigkeit der Menschen, die Unbeständigkeit des menschlichen Daseins oder die Sündenhaftigkeit der Welt allgemein meinen. All diese Aspekte kommen – wie noch ausführlich gezeigt wird – in Buch 12 zur Sprache.
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
2.1.1.1 Der ‚mundus‘-Begriff und die fünffache Aufgliederung des ‚amor mundi‘ Radulfus Ardens nennt insgesamt vier verschiedene Bedeutungsaspekte des Begriffes ‚Welt‘ und stellt dabei zuerst fest, dass er mit dem Wort ‚mundus‘ ausschließlich die diesseitige Welt meint.89 Unter dieser Voraussetzung kann erstens der Weltenlauf – also die Naturgesetze und die Verbindung der vier Elemente – als Welt bezeichnet werden. In dieser durch die Schöpfung grundgelegten, harmonischen Ordnung der diesseitigen Welt lassen sich auch die herausragenden Eigenschaften ihres Schöpfers erkennen. Von daher darf man ihn nicht geringschätzen, sondern muss ihn vielmehr bewundern.90 Zweitens kann ‚mundus‘ für die Bewohner der Erde, also die Menschen, stehen. Auch sie gehören nicht zum Bereich des ‚contemptus‘, sondern zum Bereich der Liebe.91 Drittens bezeichnet der Begriff auch die Bosheit (‚malitia‘) und Unzulänglichkeit (‚iniquitas‘) der Welt. Damit ist gemeint, dass sich die diesseitige Welt in einem Unheilszustand befindet und durch diesen wesenhaften Mangel den Nährboden für die Sünde liefert. Auch die Bosheit darf man nicht geringschätzen, sondern muss sie stattdessen mithilfe des Hasses abwehren.92 Unter den bisher genannten Bedeutungsaspekten ist der eigentliche Gegenstand des ‚contemptus‘ also nicht enthalten. Ihn identifiziert Radulfus Ardens erst in Zusammenhang mit der vierten Bedeutung des ‚mundus‘-Begriffs mit dem weltlichen Leben (‚uita mundana‘) und den weltlichen Dingen (‚res mundane‘). Zunächst sagt er jedoch nicht direkt, dass man diese beiden Dinge geringschätzen soll, sondern wählt stattdessen die Formulierung, dass die Liebe zu ihnen (‚amor uite mundane rerumque mundanorum‘) geringzuschätzen ist.93 Damit wird der ‚amor mundi‘ klar als Gegenbegriff zum ‚contemptus mundi‘ in Stellung gebracht. An der Aussage, dass die im Irrtum befangene Welt (‚iste mundus erroneus‘) die weltlichen Güter so liebt, als ob sie das höchste Gut selbst wären, wird deutlich, dass mit dem ‚amor mundi‘ hier per se die negative und unmäßige bzw. lasterhafte Liebe zur Welt gemeint ist. Radulfus Ardens setzt hier also offensichtlich voraus, dass der Mensch realiter fast immer
89 Spec. uniu. 12, 12 (P, fol. 115ra): „Nam ut a mundo incipiamus, mundus, quantum ad presentem locum pertinet, dicitur quatuor modis.“ 90 Spec. uniu. 12, 12 (P, fol. 115ra): „Dicitur quippe mundus machina mundialis admirabilis uidelicet connexio quatuor elementorum que quidem non est contempnenda, sed potius admiranda. Quoniam cum sit conposita prudenter, fortiter, speciose, stabiliter, prudentiam, fortitudinem, speciositatem, eternitatem sui predicat creatoris.“ 91 Spec. uniu. 12, 12 (P, fol. 115ra): „Secundo uero dicitur mundus habitatores mundi, homines uidelicet, qui utique non sunt contempnendi, sed potius diligendi et ad salutem adtrahendi.“ 92 Spec. uniu. 12, 12 (P, fol. 115ra): „Tertio dicitur mundus malitia et iniquitas mundana. Ecce quidem non tantum contempnenda, sed etiam fuganda siue fugienda est.“ 93 Spec. uniu. 12, 12 (P, fol. 115rb): „Quarto uero dicitur mundus amor uite mundane rerumque mundanarum, ut amor honoris, potestatis, cenodoxie, diuitiarum et uoluptatum. Que iste mundus erroneus tanquam summa bona desiderat, appetit et commendat, que quidem non esse diligenda, sed potius contempnenda, demonstrat Iohannes apostolus in Epistola sua dicens: Nolite diligere mundum neque ea que in mundo sunt, quoniam si quis diligit mundum, non est caritas Patris in eo […].“
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eine Tendenz zu dieser lasterhaften Liebe gegenüber der Welt hat. Während er in den allermeisten Fällen auch sehr negativ gewertete Verhaltensweisen (wie bspw. den Hass oder den Zorn) begrifflich ausdifferenziert und erst dann im Einzelnen wertet, unterlässt er dies hier und erwähnt eine positive Form der Liebe zur Welt mit keinem Wort. Dieser Befund wird später noch einige Fragestellungen hinsichtlich der Komplementarität in Buch 12 aufwerfen. Zunächst soll der Blick jedoch darauf gelenkt werden, wie der Autor die weltlichen Güter bzw. die Liebe zu ihnen weiter unterteilt. Die soeben angeführte Textstelle nennt fünf Bestandteile, nämlich die Liebe zu Ehrenstellungen (‚amor honoris‘), die Liebe zu Machtpositionen (‚amor potestatis‘), die Liebe zu Lob und Anerkennung (‚cenodoxia‘), die Liebe zum Reichtum (‚amor diuitiarum‘) und die Liebe zur (körperlichen) Lust (‚amor uoluptatum‘). Bei dieser Aufteilung fällt ins Auge, dass Radulfus Ardens den Fokus weniger auf materiellen Reichtum legt, sondern den Blick auf die immateriellen ‚uana‘ richtet, denen der Mensch aufgrund seiner Selbstbezogenheit viel zu viel Raum beimisst. Dies lässt keine pauschal-oberflächliche Kritik an Reichtum und Besitz, sondern eher eine tiefergehende Analyse des menschlichen Verhaltens erwarten. Da die Aussagen zum ‚mundus‘-Begriff als Fundament für die weitere Beschreibung der ersten ‚distinctio‘ anzusehen sind, werden sie Übersichtlichkeit halber schematisch dargestellt. Dabei wird nochmals deutlich, welche Affekte sich im Idealfall auf welchen Aspekt der diesseitigen Welt richten:
machina mundialis
admiratio
habitatores mundi
amor
malitia mundana
odium
mundus
honor potestas uita mundana / res mundane
cenodoxia
contemptus
diuitie libido
Abb. 52: Die unterschiedlichen Aspekte der Welt.
2.1.1.2 Genauere Bestimmung und ethische Wertung der weltlichen Güter als ‚uana‘ Nachdem Radulfus Ardens mithilfe seiner Aufgliederung deutlich gemacht hat, mit welchem Bereich der diesseitigen Welt er sich beschäftigt, nimmt er in den Kapiteln 13–20 die ‚res mundane‘ genauer in den Blick. Dabei bezeichnet er sie meist als
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‚temporalia‘ und betont damit ihre materiell-vergängliche Verfasstheit. Der Abschnitt begründet in mehreren Argumentationsschritten, warum die weltlichen Dinge geringgeschätzt werden müssen. Von daher finden sich hier eine ganze Reihe zusätzlicher Informationen zum dritten Affekt und seiner Funktion. Zunächst nennt der Autor fünf Gründe, aus denen man sämtliche ‚temporalia‘ geringschätzen muss: Wegen ihrer spezifischen Eigenschaften (‚proprietas‘), weil mit ihnen schwerwiegende Übel verbunden sind (‚adiunctio mala‘), wegen der Autorität des Schöpfers (‚auctoritas creatoris‘), um die ewigen Güter zu erlangen (‚consecutio bonorum eternorum‘) und schließlich wegen der Schwierigkeit der Verteilung (‚difficultas dispensationis‘).94 Diese Aufgliederung bildet den Leitfaden der weiteren Überlegungen. Diesbezüglich genügt es, nur die wichtigsten Bestimmungen zusammenzutragen, da große Teile der Darstellung für das Ziel der Arbeit nicht unmittelbar relevant sind. (1) Die ‚proprietas‘ der weltlichen Dinge ist dadurch gekennzeichnet, dass sie wertlos (‚uana‘), unzureichend (‚insufficientia‘) und trügerisch (‚falsa‘) sind.95 Diese drei Wesenseigenschaften werden eingehend definiert und beschrieben (c. 13–15). So sind die ‚res mundane‘ deshalb wertlos, weil sie aufgrund ihrer Materialität nicht bestehen bleiben, sondern zwangsläufig vergehen und von daher schlichtweg nicht als Basis für dauerhaftes Glück geeignet sind. Sie sind von der Schöpfungsordnung stattdessen als eine vorübergehende Stütze auf dem Weg (‚transitorium fulcimentum‘) hin zu den ewigen Gütern gedacht. An dieser Stelle wird deutlich, dass die materiellen Güter an sich überhaupt nichts Negatives sind. Vielmehr missbraucht sie der Mensch, indem er sie liebt und den eigentlichen ‚bona‘ vorzieht.96 Diese übersteigerten, lasterhaften Erwartungen und Hoffnungen können die materiellen Güter natürlich nicht erfüllen, weshalb sie auch als unzureichend qualifiziert werden. Erstens sind sie nämlich nicht geeignet, das Begehren (‚concupiscentia‘) des Menschen auf die Dauer zu stillen, sondern ihr Besitz facht dieses noch weiter an. Zweitens können sie auch die natürlichen Bedürfnisse des Menschen nur bedingt befriedigen und bieten in seinen existenziellen Nöten (‚necessitates‘) keine wirkliche Abhilfe. Konkret ist damit gemeint, dass sie weder körperliche Krankheiten heilen können, noch von den Lastern und der Sünde befreien.97 Die bisher angedeutete Perspektive verstärkt sich noch bei den Erläuterun-
94 Spec. uniu. 12, 13 (P, fol. 115rb): „Sunt autem hec temporalia nobis contempnenda propter quinque causas: propter ipsorum proprietatem, propter malam adiunctionem, propter creatoris auctoritatem, propter eternorum bonorum consecutionem, propter dispensationis difficultatem.“ 95 Spec. uniu. 12, 13 (P, fol. 115rb): „Propter suam proprietatem sunt contempnenda temporalia ista, quoniam proprium est eorum quod sint uana, quod insufficientia, quod falsa.“ 96 Spec. uniu. 12, 13 (P, fol. 115rb): „Et uana quidem sunt, quia proprium est eorum numquam stare, sed semper transire. Et ad hoc creata sunt, ut homini per huius mundi exilium transeunti transitorium essent fulcimentum, ut uidelicet per hec ad bona transiret sempiterna. Sunt igitur hec uana et uanior est illis homo qui ea diligens preponit sempiternis bonis.“ 97 Spec. uniu. 12, 14 (P, fol. 115vaf.): „Insufficientia uero sunt tripliciter, quoniam non sufficiunt humanam cupiditatem satiare, non sufficiunt omnibus necessitatibus nostris satisfacere, non suffi-
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gen zur ‚falsitas‘ der materiellen Güter. Denn Radulfus Ardens betont hier explizit, dass die ‚temporalia‘ nicht von ihrem Wesen her trügerisch und falsch sind, sondern nur unter der Voraussetzung des menschlichen Missbrauchs als solche bezeichnet werden dürfen. Damit ist gemeint, dass der Mensch von seiner eigenen falschen Meinung über die weltlichen Dinge immer weiter in die Irre geführt und von der ‚uia uirtutum‘ abgebracht wird.98 In eindrücklicher Weise werden hier dem fehlgeleiteten Streben des Menschen die tatsächlichen, ernüchternden Ergebnisse gegenübergestellt: An die Stelle eines genügenden Maßes (‚sufficientia‘) tritt ein Übermaß, dass sich ins Unermessliche steigert; statt in Sorglosigkeit (‚securitas‘) lebt der Mensch in ständiger Angst (‚timor‘); statt die verdiente Ruhe (‚quies‘) zu genießen, wird er zu immer neuer Mühe (‚labor‘) angetrieben und häufig verfällt er in Trauer (‚tristitia‘), anstatt sich zu freuen (‚iocunditas‘). Letztlich ist sein gesamtes Leben eher von Leid (‚dolor multiplex‘) als von Glück (‚felicitas‘) geprägt.99 Bei den Erläuterungen zu diesem ersten Punkt wird also deutlich, dass das fehlgeleitete Streben des Menschen nach weltlichen Gütern völlig kontraproduktiv ist, da gerade die angezielte Sicherheit im Leben nicht nur verfehlt, sondern sogar zerstört wird. (2) Auch der zweite Grund knüpft an den eben beschriebenen Gedanken an. So sind zwar einerseits in der Praxis schädliche Übel mit den weltlichen Gütern verbunden, andererseits lässt sich daraus aber auch ableiten, dass sie selbst keine Übel im eigentlichen Sinne darstellen. Radulfus Ardens nennt diesbezüglich drei Arten von Übeln (‚mala‘), nämlich Sorgen (‚anxietates‘), Laster (‚uitia‘) und Verblendungen (‚excecationes‘).100 Auch diese drei Begleiter werden im Einzelnen beschrieben. Unter ‚Sorgen‘ versteht er die Unruhe, die in jeder einzelnen Phase der Interaktion mit den weltlichen Gütern aufkommt: So kennzeichnet Begierde (‚cupiditas‘) die Phase ihrer ersten Aneignung und bei ihrer Vermehrung entsteht Aufregung (‚sollicitudo‘). Hat man schließlich einen größeren Besitz zusammengebracht,
ciunt esuriem nostram finire. Et cupiditatem quidem nostram non satiant, sed potius irritant. […] Item non sufficiunt omnibus necessitatibus nostris satisfacere. Non enim possunt res temporales, quantumcumque multiplices, expellere febrem a corpore, iram et inuidiam a mente, uanitatem et mendicitatem ab ore. […] Rursus non sufficiunt esuriem nostram finire. Repletus enim in mane, esuriet in uespere. Libido quoque insatiabilis est et post copiam rursus inops est.“ 98 Spec. uniu. 12, 15 (P, fol. 115vb): „Falsa etiam sunt, quoniam felicitatem quam uidentur promittere, non efficiunt. Falsa sunt, non quidem secundum naturam eorum, sed secundum falsam opinionem hominum, in eis spem ponentium.“ 99 Spec. uniu. 12, 15 (P, fol. 115vb): „Opinantur enim, ut eis se posse consequi sufficientiam, securitatem, quietem, iocunditatem et felicitatem. Ceterum falluntur, quoniam bona temporalia non tribuunt sufficientiam, immo potius augent; non prebent securitatem, immo potius timorem; non quietem, immo potius laborem; non iocunditatem, immo potius frequentem tristitiam; non felicitatem, immo multiplicem dolorem.“ 100 Spec. uniu. 12, 16 (P, fol. 116ra): „Propter uero malam adiunctionem contempnenda sunt temporalia ista. Quoniam tria genera malorum comitantur ea, uidelicet anxietates, uitia et excecationes […].“
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schleicht sich die Furcht (‚timor‘) ein und wenn er – was letztlich aufgrund der Natur der ‚temporalia‘ zwangsläufig geschieht – abhandenkommt, leidet man unter dem Schmerz des Verlustes (‚dolor‘).101 In den Erläuterungen finden sich hauptsächlich Beispiele in Zusammenhang mit materiellem Besitz bzw. Reichtum, wobei die genannten Punkte in gleicher Weise für die übrigen vier Bereiche der weltlichen Güter gelten. Neben den Sorgen begleiten sie ein ganzes Bündel von Lastern, wobei hier Überhebung (‚elatio‘), Ruhmsucht (‚cenodoxia‘), Völlerei (‚ingluuies‘), Ausschweifung (‚luxuria‘), Zorn (‚ira‘), Neid (‚inuidia‘) und Trauer (‚tristitia‘) aufgeführt werden. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine eher assoziative Aufzählung ohne systematischen Hintergrund.102 Die Verblendungen wiederholen in erster Linie bereits angedeutete Gedanken. Damit sind nämlich Aufregung und Unruhe durch weltliche Sorgen, die Dunkelheit der Laster sowie eine falsche bzw. fehlgeleitete Liebe (‚amor erroneus‘) gemeint.103 Der dritte Bestandteil ist insofern von besonderem Interesse, weil hier deutlich wird, dass sich der Affekt der Liebe – in welcher Form auch immer – keinesfalls auf die weltlichen Güter richten darf. Diese Bestimmung wird später nochmals aufgegriffen.104 (3) Dass die zeitlichen Güter aufgrund der Autorität des Schöpfers geringgeschätzt werden müssen, bedarf vor den Hintergrund des bisher Gesagten nur wenig Erläuterung. Zum einen sind die materiellen Dinge von der Schöpfungsordnung her so beschaffen, dass sie automatisch den ‚contemptus‘ des Menschen auf sich ziehen und eben nicht sein ‚odium‘ oder seinen ‚amor‘. Zum anderen lässt sich auch rein biblisch aus den Berichten über das Leben Jesu ableiten, dass die eigentliche Sorge den himmlischen und nicht den weltlichen Gütern gelten muss.105 Radulfus Ardens kommt hier nochmals auf den bereits geäußerten Gedanken zu sprechen, dass die Notlagen und Bedrängnisse im Leben in erster Linie als ‚pädagogische‘ Maßnahmen Gottes anzusehen sind, um den Menschen von seiner irrigen Liebe zur Welt abzubringen.106
101 Spec. uniu. 12, 16 (P, fol. 116ra): „Comitantur autem ea primum anxietates, ut cupiditas, sollicitudo, timor et dolor. Cupiditas in acquirendo, sollicitudo in augmentando, timor in custodiendo, dolor in amittendo.“ 102 Spec. uniu. 12, 16 (P, fol. 116rb): „Secundo uero comitantur amorem temporalium huius uitia, uidelicet elatio, cenodoxia, ingluuies, luxuria, ira, inuidia, tristitia.“ 103 Spec. uniu. 12, 16 (P, fol. 116rbf.): „Tertio uero comitantur ea excecationes. Tria quippe sunt que excecant amatores mundanorum. Primo turbe et turbines sollicitudinum mundanarum. […] Secundo tenebre uitiorum. […] Tertio excecat eos amor erroneus. Hoc enim habet omnis affectus quod de eo quod stulte diligit, recte iudicare non ualet.“ 104 Vgl. Punkt 2.1.6. 105 Spec. uniu. 12, 17 (P, fol. 116va): „Propter creatoris etiam auctoritatem contempnendum est mundus. Ipse quippe eum esse contempnendum ostendit, precipit et cogit: Ostendit sui ipsius exemplo, precipit in euangelii mandato, cogit necessitatum impedimento.“ 106 Spec. uniu. 12, 17 (P, fol. 116va): „Cogit etiam nos Deus contempnere mundum per infirmitates, per aduersitates, per amaritudines istius uite.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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(4) Als vierten Grund führt Radulfus Ardens an, dass nur die Geringschätzer der Welt (‚contemptores mundi‘) dazu würdig sind, das Himmelreich zu erlangen.107 Diese Aussage ist allerdings nicht so zu verstehen, dass das ‚regnum celorum‘ ein Lohn oder Verdienst wäre; vielmehr ist der Mensch nur dann für die ewigen Güter offen bzw. empfänglich, wenn er nicht in lasterhafter Weise nach den vergänglichen strebt.108 Die Ausrichtung auf die himmlischen und das Streben nach den weltlichen Gütern werden im weiteren Verlauf des Kapitels bildlich-allegorisch dargestellt: So wird der Mensch, der sich nur mit der diesseitigen Welt beschäftigt, durch die Last der Sorgen und Nöte auch in die Tiefe hinabgedrückt, während der Gläubige sämtlichen Ballast abwerfen kann und dadurch leicht genug wird, um sich der Höhe Gottes anzunähern.109 Diese Bildsprache kommt im weiteren Verlauf des Buches immer wieder vor und veranschaulicht die beiden gegensätzlichen Lebensstile der ‚uita actiua‘ und der ‚uita contemplatiua‘. (5) Der fünfte Grund für die Geringschätzung der weltlichen Güter thematisiert die Problematik der gerechten Verteilung. Dieser Punkt wurde bereits in Buch 11 in Zusammenhang mit dem Komplementärtugendpaar ‚beneficientia‘ – ‚parsimonia‘ und im Traktat über das Almosen mehrfach angesprochen,110 weshalb es sich anbietet, die Grundzüge noch einmal nachzuzeichnen: Jeder Mensch hat in einem gewissen Umfang Ressourcen zur Verfügung, die Radulfus Ardens in Anlehnung an die biblische Sprache als Talent (‚talentum‘) bezeichnet. ‚Talent‘ meint dabei jedoch nicht nur materiellen Besitz wie z. B. Geld, sondern kann auch geistigen Beistand (bspw. in Form der ‚correctio fraterna‘) oder generell Engagement für die Mitmenschen meinen. Der Mensch besitzt das jeweilige ‚talentum‘ in erster Linie dazu, um es zu verteilen und nicht, um es für sich zu behalten. Da dies aber selbst guten aktiv lebenden Menschen (‚boni actiui‘) nur in den wenigsten Fällen in der Weise gelingt, wie es von Gott vorgesehen ist, ergibt sich automatisch die Problematik der rechten Verteilung (‚difficultas dispesationis‘).111 Diese Schwierigkeit ist mit zwei großen
107 Spec. uniu. 12, 18 (P, fol. 116vb): „Propter eternorum bonorum consequtionem contempnendus est mundus, quoniam soli contemptatores mundi sunt quibus promittitur regnum celorum. Soli eo digni sunt, soli consequi possunt. Et solis quippe contemptoribus mundi regnum celorum promittitur […].“ 108 Spec. uniu. 12, 18 (P, fol. 116vb): „Soli quoque contemptores mundi regno celorum sunt digni. Nam illi soli sicut statura, sic et mente erecti sunt ad celum.“ 109 Spec. uniu. 12, 18 (P, fol. 116vb): „Illi uero qui more pecudum incurui sunt mente ad terrena, non sunt digni celo, sed ut in terram, immo subtus terram, quam sapiunt et querunt, deprimantur. […] Soli quoque contemptores mundi ad celum ascendere possunt. Illi quippe soli sunt liberi, expediti et ueloces.“ 110 Vgl. für den folgenden Kurzabriss Punkt 2.1.7 im zweiten Teil der Arbeit. 111 Spec. uniu. 12, 19 (P, fol. 117ra): „Propter etiam dispensationis difficultatem sunt ista temporalia non solum contempnenda, sed etiam relinquenda. Enimuero difficile est etiam ipsis bonis actiuis illa bene et sine peccato dispensare.“
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Gefahren verbunden: Erstens wird der Mensch gezwungen, sich mit einer Vielzahl von Details zu beschäftigen, um sein ‚talentum‘ auch wirklich im richtigen Maß an die richtigen Leute zu verteilen. Dabei kann ihm nicht nur leicht ein Fehler unterlaufen, der dann als Sünde gewertet wird, sondern seine Gedanken konzentrieren sich viel zu sehr auf innerweltliche Angelegenheiten, sodass Gott leicht aus dem Blickfeld gerät.112 Zweitens muss er ständig der Versuchung widerstehen, seine Besitztümer für sich zu behalten oder sie aus scheinbar sinnvollen Gründen weiter zu vermehren und zu horten. Ausgehend vom Axiom, dass der derjenige, der viel hat, auch viel verteilen muss und dabei viele Fehler machen kann, sind für Radulfus Ardens Armut und Bedürfnislosigkeit ein weit einfacherer Weg, um das Ziel der Glückseligkeit zu erlangen, weshalb er das Kapitel auch mit einer eindringlichen Warnung in diese Richtung abschließt.113 Trotz dem negativen Grundtenor hinsichtlich des weltlichen Lebens muss an dieser Stelle dennoch betont werden, dass Radulfus Ardens offensichtlich voraussetzt, dass man auch bei der Wahl eines aktiven Lebens gut und tugendhaft leben kann – anders ließe sich die Rede von den ‚boni actiui‘ nicht erklären. Es muss also die Möglichkeit bestehen, trotz der häufigen Beschäftigung mit weltlichen Problemen weder die Ausrichtung auf Gott, noch das rechte Urteilsvermögen zu verlieren. Welche Vorstellungen mit dem Konzept der ‚boni actiui‘ konkret verbunden sind, muss noch genauer untersucht werden, weil in diesem Zusammenhang auch Details über eine mögliche Komplementärtugend des ‚contemptus mundi‘ zu erwarten sind. Die Vorbemerkungen zu den weltlichen Gütern enden in Kapitel 20 mit einer Gegenüberstellung der Arten des ‚amor mundi‘ und des ‚contemptus mundi‘. Radulfus Ardens geht dabei von den ‚species‘ der Liebe zur Welt aus und bestimmt im Gegensatz dazu die Formen der Geringschätzung gegenüber der Welt. Dieses Vorgehen wählt er deshalb, weil der ‚amor mundi‘ und seine verschiedenen Formen im Alltag wesentlich häufiger vorkommt und daher vertrauter ist als der ‚contemptus‘. Beide werden in fünf Arten unterteilt, wobei ein ganzes Bündel an Begriffen bzw. Synonymen für die jeweiligen Verhaltensweisen angeführt werden, die für das Verständnis der folgenden Traktate von großer Wichtigkeit sind.114
112 Spec. uniu. 12, 19 (P, fol. 117ra): „Propter enim illarum dispensationem mens diuiditur, turbatur, grauatur, retardatur, periclitatur. Diuidendo siquidem turbatur, turbando grauatur, grauando retardatur, retardando periclitatur. Diuiditur ab uno necessario ad multa. […] Grauatur non solum honere curarum, sed etiam uenialium multorum sine quibus terrena non possunt dispensari.“ 113 Spec. uniu. 12, 19 (P, fol. 117raf.): „Periclitatur etiam et dum a recto cursu retardatur et dum substantia temporalis propter subsidia pauperum ei commissa multotiens non bene distribuitur. Cui enim Dominus plus committit, ab eo plus exigit. Et potentes potenter tormenta patientur et maioribus maior instat cruciatio.“ 114 Spec. uniu. 12, 20 (P, fol. 117rbf.): „Diuiditur autem contemptus mundi in tot species, in quot et amor mundi. Amor autem mundi in quinque species principaliter diuiditur. Hoc est in amorem diui-
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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(1) Zuerst wird die Liebe zum Reichtum (‚amor diuitiarum‘) genannt. Diesen recht abstrakten Terminus konkretisiert er mithilfe von drei alternativen Begriffen: So wird zunächst das griechische Wort ‚philargia‘ als direkte Übersetzung angegeben. Als lateinische Begriffe führt er ‚auaritia‘ und ‚cupiditas‘ an. Wie sich im Folgenden zeigt, haben diese beiden Ausdrücke unterschiedliche Bedeutungsnuancen: Mit der ‚auaritia‘ ist eher der Geiz, also das Zurückhalten bereits erworbener Dinge gemeint; die ‚cupiditas‘ kann dagegen als Habsucht bzw. Habgier beim Streben nach weltlichen Gütern gelten. Im Kern meinen alle drei Alternativbegriffe letztlich dieselbe Haltung, nämlich eine übertriebene und daher schlechte Liebe zu materiellen Gütern. Dass hier der Terminus ‚cupiditas‘ verwendet wird, macht nochmals deutlich, dass es sich bei diesem Laster um eine Unterart der Begierde bzw. der Liebe handelt. Ihr wird die Geringschätzung des Reichtums (‚contemptus diuitiarum‘) gegenübergestellt, die jedoch als die Tugend der Bescheidenheit (‚frugalitas‘) bzw. der freiwilligen Armut (‚uolutaria paupertas‘) geläufiger ist. (2) Die Liebe zu Ehrenstellungen (‚amor siue cupiditas honorum‘) kann man auch Ehrgeiz (‚ambitus‘) nennen. Dabei ist diese lasterhafte Form des Ehrgeizes nicht mit der als ‚emulatio‘ bezeichneten Tugend in Buch 11 zu verwechseln. Ihr steht der ‚contemptus honorum‘ bzw. die freiwillige Einnahme einer niedrigeren Position (‚uoluntaria uilitas‘) gegenüber. (3) Die Liebe zu Machtpositionen (‚amor postestatum‘) wird ebenfalls als ‚ambitus‘ bezeichnet. Die Geringschätzung der Macht (‚contemptus potestatum‘) bzw. die freiwillige Unterordnung (‚uoluntaria subiectio‘) steht zu ihr im Gegensatz. Sie wurde bereits in Buch 11 als eine Unterart der Güte (‚benignitas‘) behandelt. (4) Für die Liebe zum wertlosen Ruhm (‚amor uane glorie‘) kennt Radulfus Ardens als Alternative nur den griechischen Begriff ‚kenodoxia‘, den er hier latinisiert als ‚cenodoxia‘ anführt. Er lässt sich als Ruhmsucht oder Eitelkeit übersetzen. Ihr Gegensatz ist der ‚contemptus uane glorie‘, der auch als freiwillige Selbstverachtung (‚uoluntarius suidespectus‘) bzw. Geringschätzung seiner selbst bezeichnet werden kann.
tiarum qui grece philargiria, latine uero auaritia siue cupiditas appropriato nomine nuncupatur; in amore siue cupiditatem honorum qui proprie ambitus appellatur; in amorem potentiarum qui similiter ambitio nominatur; in amorem uane glorie qui grece cenodoxia nominatur; in amorem uoluptatum qui proprie libido nuncupatur. Ex regione quoque contemptus mundi in quinque species diuiratur, uidelicet in contemptum diuitiarum que frugalitas siue paupertas uoluntaria nuncupatur; in contemptum honorum qui uilitas uoluntaria nominatur; in contemptum potentiarum qui subiectio uoluntaria dicitur; in contemptum uane glorie qui uoluntarius sui despectus appellatur; in contemptum uoluptatum qui uoluntarius labor siue afflictio nominatur.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
(5) Zuletzt führt er die Liebe zu den Lüsten (‚amor uoluptatum‘) an. Mit ‚uoluptas‘ ist in diesem Kontext die rein körperliche (und speziell die sexuelle) Lust gemeint, wie sich an bei der genaueren Beschreibung dieses Bereichs in den Kapiteln 116–121 zeigt. Ihr stellt Radulfus Ardens die Geringschätzung der Lüste gegenüber, die er als freiwilliges Leid oder Bedrängnis (‚uoluntarius labor siue afflictio‘) beschreibt. Diese Gegenüberstellung lässt deutlich erkennen, dass jeweils zwischen einem systematisch-abstrakten und einem oder mehreren praktisch-konkreten Begriffen unterschieden wird. Radulfus Ardens gelingt es auf diese Weise, die Vielzahl der hier genannten Tugenden und Laster allgemein verständlich zu benennen und sie zugleich über eine einleuchtendes Ordnungssystems mit seinen theoretischen Überlegungen zum Affekt der Geringschätzung zu verknüpfen. Im folgenden Schema werden daher auch die konkreten Begriffe der Übersichtlichkeit halber in Klammern gesetzt. Um hervorzuheben, dass es sich hier (noch) nicht um komplementäre Strukturen handelt, wurde jeweils ein Gegensatzpfeil zwischen die gegenüberliegenden Elemente gestellt.
amor mundi
amor diuitiarum (philargia / auaritia / cupiditas)
→←
contemptus diuitiarum (frugalitas / uoluntaria paupertas)
amor honorum (ambitus)
→←
contemptus honorum (uoluntaria uilitas)
amor potestatum (ambitus)
→←
contemptus potestatum (uoluntaria subiectio)
amor uane glorie (cenodoxia)
→←
contemptus uane glorie (uoluntarius suidespectus)
amor uoluptatum (libido)
→←
contemptus uoluptatum (uoluntarius labor siue afflictio)
contemptus mundi
Abb. 53: Der Gegensatz zwischen Liebe und Geringschätzung der Welt.
Mit der ausführliche Beschreibung der weltlichen Güter in den Vorbemerkungen zur ersten ‚distinctio‘ wurden also zwei wichtige Zwischenziele erreicht: Zum einen wurde dargelegt, aus welchen Gründen die ‚res mundane‘ geringgeschätzt werden müssen und zum anderen ist klar, dass damit nicht nur materielle Besitztümer wie bspw. Geld gemeint sind, sondern auch soziale Stellung, Macht, gesellschaftliche Anerkennung und körperliche Lust zu diesem Bereich zählen. Radulfus Ardens versucht offenkundig, möglichst viele Aspekte des weltlichen Lebens in den Blick zu nehmen und ethisch zu reflektieren. Im Folgenden werden die Tugenden und Las-
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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ter zu den genannten fünf Hauptbereichen der weltlichen Güter inhaltlich entfaltet, wobei der Autor erwartungsgemäß mit den ‚diuitie‘ beginnt.
2.1.2 Die ‚uoluntaria paupertas‘ und mögliche Komplementärtugenden 2.1.2.1 Aufbau, Gliederung und thematische Schwerpunkte des Traktats Der Traktat über die freiwillige Armut – womit nichts Anderes gemeint ist als der ‚contemptus diuitie‘ – erstreckt sich über die Kapitel 21–86 und zerfällt in zwei Teile. Der erste Teil (c. 21–47) nimmt die Tugend der freiwilligen Armut selbst in den Blick und der zweite Teil (c. 48–86) ihr ‚uitium contrarium‘, nämlich die Liebe zum Reichtum (‚amor diuitiarum‘), die konkret als Geiz (‚auaritia‘) oder Habgier (‚cupiditas‘) bezeichnet wird. In Kapitel 21 finden sich insgesamt sieben Leitfragen, die die Gliederung des Traktats darstellen. Sie werden nacheinander beantwortet.115 . . . . . . .
‚quot bona paupertatem committentur?‘ ‚quot sint species eius?‘ ‚quod uoluntaria paupertas sit ad salutem necessaria?‘ ‚quis sit modus habendi?‘ ‚que uitia bono pauperi sint euitanda?‘ ‚qualiter diabolus soleat impugnare paupertatem?‘ ‚de uitio paupertati contrario?‘
(c. –) (c. –) (c. ) (c. .) (c. –) (c. ) (c. –)
Daran wird zunächst ersichtlich, dass Kapitel 48 die Funktion eines Bindegliedes zwischen den beiden Teilen erfüllt: Hier wird nämlich zum einen die letzte Frage des Traktats über die Armut beantwortet und zum anderen bildet diese Antwort selbst den Auftakt für die ausführliche Behandlung der Liebe zum Reichtum sowie ihrer Abarten. Diese Überlegungen sind – wie sich allein an der Zahl der Kapitel ablesen lässt – ausgesprochen detailreich und befassen sich besonders ausführlich mit dem Ämterkauf (‚simonia‘) und dem Wucherzins (‚usura‘), also Themen, die im zeitgeschichtlichen Kontext des 12 Jahrhunderts offenkundig besonders relevant waren.116 Ähnlich wie der lange Exkurs über das Almosen in Buch 11 spielen sie für das Ziel der vorliegenden Arbeit nur eine sekundäre Rolle und werden daher auch nur kursorisch behandelt. 115 Spec. uniu. 12, 21 (P, fol. 117rb): „Sunt autem septem consideranda circa paupertatem: quot bona eam committentur, quot sint species eius, quod uoluntaria paupertas sit ad salutem necessaria, quis sit modus habendi, que uitia bono pauperi sint euitanda, qualiter diabolus soleat impugnare paupertatem, de uitio paupertati contrario.“ 116 So war der Ämterkauf im gesamten Früh- und Hochmittelalter und gerade in der Zeit des Investiturstreits ein häufiges Streitthema in der Kirche (vgl. SCHIEFFER, Simonie 1923 f.). Auch der Wucherzins (‚usura‘) wurde immer wieder problematisiert und das III. Laterankonzil drohte bei diesem Vergehen sogar mich dem Kirchenbann (vgl. GILOMEN, Wucher 343 f.).
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Ein anderer thematischer Schwerpunkt ist dagegen von zentraler Bedeutung. So zeigt sich an der Zusammenstellung der Leitfragen, dass Radulfus Ardens das Phänomen der Armut einer kritischen Analyse unterzieht und dabei neben ihren positiven Aspekten (Frage 1) und ihrer Heilsnotwendigkeit (Frage 3) auch ihre negativen Seiten und die mit ihr verbundenen Gefahren in den Blick nimmt. Diesbezüglich fallen besonders die Fragen 4 und 5 ins Auge: So lässt sich aus der vierten Leitfrage ableiten, dass weltlicher Besitz nicht per se abgelehnt wird, sondern dass es ein bestimmtes Maß dafür gibt (‚modus habendi‘) und die Formulierung der fünften Frage weist darauf hin, dass es eine ganze Reihe von Lastern gibt, in die ein falsches Verständnis von Armut münden kann. Diese offensichtliche Ambivalenz der ‚paupertas‘ legt nahe, dass es auch ein komplementäres Gegenstück dieser Tugend gibt, das die Armut in die rechten Bahnen lenkt und vor lasterhaften Übersteigerungen schützt. Umso erstaunlicher ist es, dass der Autor an keiner Stelle eine konkrete Komplementärtugend benennt. Immerhin legt er in Kapitel 47 ihre Grenzen fest, woraus sich gewissermaßen indirekt eine komplementäre Haltung ableiten lässt. Hier ist allerdings darauf hinzuweisen, dass in Kapitel 21 ausgerechnet die Frage nach den ‚termini‘ nicht unter die Leitfragen des Traktats gerechnet wird, obwohl Radulfus Ardens eigentlich am Anfang eines Traktates immer explizit darauf hinweist, wenn er den ‚termini‘ einer Tugend ein eigenes Kapitel widmet. Da der Befund also auf den ersten Blick gerade hinsichtlich der Komplementarität im Passus über die freiwillige Armut und die Habsucht unklar erscheint, sind hier detaillierte Textanalysen nötig. Bei dieser Analyse ist die These leitend, dass Radulfus Ardens das Thema in insgesamt drei Schritten bearbeitet, wobei er von einer paränetisch-praktischen Perspektive immer mehr zu einer systematisch-kritischen übergeht. Etwas konkreter ausgedrückt: Im ersten Schritt seines Gedankengangs empfiehlt er die ‚uoluntaria paupertas‘ zunächst einmal uneingeschränkt als typisch christliche Tugend, die ein wichtiger Bestandteil eines zugleich gottgefälligen und naturgemäßen Lebens ist (c. 21–29). In einem zweiten Schritt differenziert er die verschiedenen Arten der Armut genau aus und führt vor Augen, dass nicht jede Armut gut ist (c. 30–37). Schließlich nimmt er im dritten Schritt eine ausführliche kritische Analyse des Phänomens vor (c. 38–48), die in den Überlegungen zu den ‚termini‘ in Kapitel 47 gipfeln, die wiederum die Grundlage für ein Komplementärtugendpaar bilden. Ließe sich am Text tatsächlich zeigen, dass Radulfus Ardens so vorgeht, wäre dies ein Beleg dafür, dass das komplementäre Denken für den gesamten Traktat über den ‚contemptus mundi‘ eine zentrale Bedeutung hat, obwohl dies kein einziges Mal klar vom Autor klar gesagt wird. Allerdings müsste dann auch nach einer Erklärung dafür gesucht werden, warum gerade der finale und geradezu zwingend notwendige Schritt – nämlich die klare Bestimmung und Beschreibung der Komplementärtugend der freiwilligen Armut – nicht erfolgt. Im Folgenden werden Inhalte, die für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung sind und belastbares Material für die Bestätigung der eben beschriebenen These darstellen, Stück für Stück herausgearbeitet; schließlich werden die zentralen Ergebnisse festgehalten.
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2.1.2.2 Die Armut als spezifisch christliche Tugend und Kernbestandteil der ‚imitatio Christi‘ Der Abschnitt beginnt nicht mit einer Definition der freiwilligen Armut. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Radulfus Ardens die Tugend bereits mit dem ‚contemptus diuitiarum‘ gleichgesetzt hat und von daher keine eigene Definition mehr notwendig ist. Dabei ist zu erwähnen, dass der Begriff ‚Armut‘ eigentlich keine Tugend, sondern einen Zustand beschreibt. Durch die Beifügung des Adjektivs ‚uoluntaria‘ betont der Autor jedoch, dass es sich um eine affektive Disposition handelt, die der Mensch aktiv einnehmen muss. Damit ist sie eine bewusste Wahl einer ganz bestimmten Lebensform. Diese kann zwar durchaus als Tugend verstanden werden, allerdings gibt es dafür in der Alltagssprache kaum treffende Begriffe. Am ehesten bietet sich dafür noch das Wort Bescheidenheit (‚frugalitas‘) an, das Radulfus Ardens zwar noch in den Vorbemerkungen, jedoch nicht mehr im Traktat selbst verwendet. Ungeachtet dieser begrifflichen Schwierigkeiten meint das Wort ‚paupertas‘ in Buch 12 offenkundig eine willentlich gesteuerte Selbstbeschränkung, die sich am eigenen Seelenheil und an Gott ausrichtet und damit als Tugend gelten kann. Wie an der Abfolge der Leitfragen zu erkennen ist, stellt Radulfus Ardens zunächst Überlegungen zu den Gütern an, die mit der ‚uoluntaria paupertas‘ verbunden sind, um ihren tugendhaften Charakter herauszuarbeiten. Dieser Abschnitt weist eine überwiegend paränetische Prägung auf. Es entsteht insgesamt der Eindruck, dass Radulfus Ardens hier ‚Werbung‘ für eine Tugend macht, die für eine christliche Lebensführung von besonderer Bedeutung ist. Inhalt und Stil lassen darauf schließen, dass hier eine breite Rezeption von Allgemeingut aus der römischen Philosophie (meist stoischer Provenienz) stattgefunden hat, wobei neben Horaz, Juvenal und Lukan v. a. Seneca zu nennen ist, der hier als ‚philosophus‘ bezeichnet wird und besonders häufig herangezogen wird. So sind gleich an mehreren Stellen längere wörtliche Zitate aus den Epistulae morales nachweisbar, die zur Erläuterung der Güter der Armut herangezogen werden. Da quellenkritische Forschungen nicht das Hauptinteresse der Arbeit darstellen, kann diesen Fragen nicht im Detail nachgegangen werden; stattdessen wird nur in besonderen Fällen auf die konkreten Referenzstellen verwiesen, um das Verständnis zu erleichtern. Insgesamt werden acht Punkte aufgeführt, die das Wesen der Armut als Tugend schlaglichtartig beleuchten, weshalb es sich lohnt, die zentralen Aussagen dieser Kapitel genauer in den Blick zu nehmen.117 (1) Die Armut macht zunächst sorglos (‚securus‘) und furchtlos (‚intrepidus‘). Radulfus Ardens führt diese Wirkung darauf zurück, dass der Arme genau die Güter nicht besitzt, wegen deren Besitz einem Menschen normalerweise Gefahr droht. So 117 Spec. uniu. 12, 21 (P, fol. 117rb): „Igitur bona sunt octo que solent commitari paupertatem. Quoniam est secura, modico contenta, expedita, nouerca uitiorum et nutrix uirtutum. Quod facit contempnere uitam presentem et desiderare futuram. Quod multa bona conueniunt ei, que non diuitibus. Quod non decipitur, ut diues a falsis amicis et ab adulatoribus. Quod patronum et remuneratorem habet Christum.“
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muss sich nur der Reiche vor Dieben, Mördern und Betrügern fürchten, während sie an einem Armen für gewöhnlich wenig Interesse haben. Dieser Gegensatz zeigt sich auch daran, dass der Arme eigentlich überall sicher ist, während den Reichen auch alle möglichen äußeren Barrieren nicht wirklich schützen.118 Es geht hier also um eine innere Haltung, aus der Furcht- und Sorglosigkeit erwachsen. Diese Argumente stammen größtenteils aus der römischen Philosophie, wobei sich inhaltliche Überschneidungen zum 14. Brief Senecas erkennen lassen.119 (2) Das zweite Gut besteht darin, dass durch einen einfachen Lebensstil auch die Begierde selbst gemäßigt wird (‚cupiditas modesta‘). Damit ist gemeint, dass es für das persönliche Glück genügt, nach den lebensnotwendigen Dingen wie Nahrung, Kleidung und Wohnung zu streben. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist dabei ohne große Mühen und Enttäuschungen möglich. Radulfus Ardens bezeichnet die genannten Grundbedürfnisse als natürlich (‚cupiditas naturalis‘) und sieht sie als positiv an.120 Auch hier zeigt sich ein starker stoischer Einfluss, da die Armut als ein naturgemäßes Leben beschrieben wird. Diese Sichtweise orientiert sich maßgeblich an dem stoischen Grundgedanken des ‚secundum naturam uiuere‘. (3) Sodann macht die Armut frei (‚liber‘) und ungebunden (‚expeditus‘). Damit ist eine Freiheit zu Gott und eine Freiheit von drei verschiedenen Hindernissen gemeint, die als Ketten (‚catena‘) bezeichnet werden: die Kette der fleischlichen Begierden (‚carnalium uolptatum‘), der weltliche Sorgen (‚mundanarum sollicitudinum‘) sowie der des Teufels und der Laster (‚diaboli et uitiorum‘). Diese Aspekte wurden bereits genannt, jedoch legt Radulfus Ardens hier den Fokus darauf, dass eine von Armut geprägte Lebensweise der Entstehung vieler Laster die Grundlage entzieht. Ein Leben in Reichtum hingegen fördert sie.121
118 Spec. uniu. 12, 22 (P, fol. 117rbf.): „Primum igitur bonum paupertatis est, quoniam nos reddit securos et intrepidos. Enimuero pauper nichil timet, quia unde timeat, non habet. Amatores quippe mundani non sequuntur nos propter nos, sed propter nostra, quoniam nemo hominem iugulat propter se. […] Econtra diuites semper formidant, etsi claustris ferreis muniantur, etsi domibus muratis circumdentur, etsi crebris armis circumuallentur, quamuis sibi uideantur tuti, tamen numquam sunt securi.“ 119 Hier beschäftigt sich Seneca insgesamt mit den Vorteilen der selbst gewählten Armut und nennt in Ep. 14, 9 (p. 35 f.) ganz ähnliche Argumente. 120 Spec. uniu. 12, 23 (P, fol. 117vb): „Secundum uero bonum paupertatis est, quoniam cum sit paruis contenta rebus modestam habet cupiditatem. Non enim cupit thesauros, non urbes, non regiones. Cupiditas illius est cibus dumtaxat et uestitus et uterque naturalis et modestus. […] Hec autem cupiditas naturalis est et breuis et adipiscibilis.“ 121 Spec. uniu. 12, 24 (P, fol. 117va-118ra): „Tertium uero bonum paupertatis est, quia est expedita et libera. Est enim expedita a triplici seruitutis cathena, uidelicet a carnalium cathena uoluptatum, a cathena mundanarum sollicitudinum, a cathena diaboli ceterorumque uitiorum. Econtra diuites et potentes huius seculi ista triplici cathena uinciuntur et serui sunt. […] Bonus uero pauper ab omnibus istis uinculis expeditus est et absolutus. Et idcirco uiam Dei facilius expeditiusque percurrit.“
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(4) Dieser Gedanke führt direkt weiter zum nächsten Punkt. Denn hier zählt Radulfus Ardens zum einen die Laster auf, vor denen die Armut schützt: Genusssucht (‚luxus et luxuria‘), fleischliche Lust (‚uoluptas‘), Maßlosigkeit (‚intemperantia‘), Ungeduld (‚impatientia‘), wertlose Freude (‚uana letitia‘), wertloser Ruhm (‚uana gloria‘) und Stolz (‚superbia‘). Zum anderen verweist er auf die Tugenden, die durch sie genährt werden: Enthaltsamkeit (‚abstinentia‘), Selbstbeherrschung (‚continentia‘), Maßhaltung (‚temperantia‘), Geduld (‚patientia‘), gute Trauer (‚bona tristitia‘), Buße (‚penitentia‘) und Demut (‚humilitas‘).122 Er weist darauf hin, dass die Liste noch fortgesetzt werden könnte und es lässt sich erkennen, dass die hier genannten Tugenden und Laster Gegensatzpaare bilden. Insgesamt hebt er hervor, dass die Armut das Entstehen der Tugenden im Allgemeinen wesentlich erleichtert, während der Reichtum dies zwar nicht unmöglich macht, aber deutlich erschwert.123 (5) Zudem erleichtert es die Armut, das gegenwärtige Leben insgesamt geringzuschätzen und den Blick auf das zukünftige, vollendete Heil bei Gott zu richten. Dies fällt umso schwerer, je mehr Wert man den weltlichen Gütern beimisst und dabei dem Irrtum erliegt, dass die Welt an sich etwas Erstrebenswertes ist.124 (6) Im Kapitel über das sechste Gut, das mit der Armut zusammenhängt, vertritt Radulfus Ardens die Meinung, dass ein bedürfnisloser und bescheidener Mensch wesentlich besser mit den Lebensbedingungen in der Welt zurechtkommt als ein reicher. In der Aussage, dass sich die Grundbedürfnisse mithilfe der einfachen, in der Natur vorhandenen Güter stillen lassen, entspricht erneut dem Gedanken eines naturgemäßen Lebens im Sinne der Stoa. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Radulfus Ardens hier auch explizit von ‚secundum naturam uiuere‘ als etwas Positivem spricht und diesem Ideal eine Lebensweise gemäß dem Ruhm der Welt (‚secundum gloriam mundi uiuere‘) gegenüberstellt.125
122 Spec. uniu. 12, 25 (P, fol. 118ra): „Quartum uero bonum paupertatis est, quoniam uitia destruit et uirtutes bonosque mores nutrit. Destruit enim in nobis paupertas luxum et luxuriam, uoluptatem, intemperantiam, impatientiam, uanam letitiam, uanam gloriam, superbiam ceterorumque monstra uitiorum. Et e regione nutrit in nobis abstinentiam, continentiam, temperantiam, patientiam, bonam tristitiam, penitentiam, humilitatem ceterarumque flores uirtutum.“ 123 Spec. uniu. 12, 25 (P, fol. 118raf.): „Ex his autem ac similibus exemplis luce clarius constat, quod in paupertate fidem et iustitiam tenuerunt multi, inter diuitias uero pauci. Et quod multo plures saluentur per paupertatem quam per diuitiarum habundantiam.“ 124 Spec. uniu. 12, 26 (P, fol. 118rb): „Quintum uero bonum paupertatis est quod facit nos presentem uitam contempnere et uenturam desiderare. Non enim habet hoc in mundo quibus delectetur, quibus gaudeat, quibus detineatur, sed potius amaritudines, aduersitates et anxietates quibus cogitur odisse presentem uitam et suspirare uenturam.“ 125 Spec. uniu. 12, 27 (P, fol. 118rb): „Sextum uero bonum paupertatis est quod multa bene conueniunt pauperibus que minus conueniunt diuitibus. Nam pedes it pauper uel curto uectus asello ad terram residet, solus it atque redit. Ceterum diuitibus qui uolunt uiuere non secundum naturam, sed secundum mundi gloriam, dedecus uidetur uti pedibus a natura sibi donatis, sed egent equis
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(7) Das siebte Gut ist inhaltlich eng mit dem Grundgedanken des zweiten verbunden, nämlich dass der Arme vor den Nachstellungen schlechter Menschen sicherer ist, als der Reiche. Während dort besonders offene Gewalt oder Betrug im Fokus standen, geht es hier um Hinterlist, Schmeicheleien und Intrigen. So dienen sich einem armen und gesellschaftlich niedrigstehenden Menschen nur selten Schmeichler und falsche Ratgeber (‚assentatores blandi‘) an. Er wird von wahren Freunden zurecht kritisiert, wenn er eine Sünde begangen hat oder einem Laster verfallen ist. Reiche und mächtige Personen verlieren durch ständige Schmeichelei stattdessen immer mehr den Realitätsbezug, sodass eine korrekte Selbsteinschätzung fast unmöglich wird.126 (8) Schließlich stellt er ein Leben in freiwilliger Armut insgesamt in den Kontext der ‚imitatio Christi‘. In diesem Zusammenhang betont er, dass das Leben Christi als Musterbeispiel nicht nur für die geistige Armut (‚paupertas spiritualis‘), sondern auch für die tatsächliche, also sichtbare Armut (‚paupertas uisibilis‘) liefert.127 Mit der geistigen Armut ist hier übrigens nichts anderes als ein freiwilliger Verzicht auf weltliche Güter bzw. der tugendhafte ‚contemptus mundi‘ gemeint. Raulfus Ardens betont, dass sie eine fruchtbare Grundlage für die Entstehung aller übrigen Tugenden bildet. Sie kann damit als eine typisch christliche Tugend und als Leitbegriff für eine gottgefällige Lebensweise gelten. 2.1.2.3 Die ‚species‘ der Armut und ihre ethische Bewertung Dass Radulfus Ardens im nächsten Abschnitt eine andere Perspektive einnimmt, zeigt sich bereits am ersten Satz von Kapitel 30. Nachdem er nun über mehrere Kapitel hinweg die Bedeutung der Armut hervorgehoben und sie grundsätzlich als etwas Positives dargestellt hat, schränkt er diese Einschätzung nun ein und bringt zur Sprache, dass es neben der guten (‚pauperies bona‘) auch eine schlechte Armut (‚pauperies mala‘) gibt.128 Dies begründet er damit, dass sowohl Reichtum als auch Armut per se bzw. als rein äußere Lebensumstände nichts darüber aussagen, ob ein
faleratis. […] Licet quoque pauperi priuate uiuere, quando uult latere, quando uult apparere, in silentio Deum exorare, cursum uite sue prudenter preconsiderare.“ 126 Spec. uniu. 12, 28 (P, fol. 118va): „Septimum uero bonum paupertatis est, quia non decipitur a falsis amicis, nec ab assentatoribus blandis. Falsus enim amicus et assentator non sequntur hominem propter semet ipsum, sed propter suum. […] Econtra uero pauper nullis blanditiis, nullis adulationibus decipitur, sed potius etiam non peccans a quibuslibet durius increpatur. Est autem multo melius sustinere quemlibet correctorem quamgaudere perniciter ad subdolum adulatorem. Hic enim frequenter prodest, ille uero semper obest.“ 127 Spec. uniu. 12, 29 (P, fol. 118va): „Octauum bonum paupertatis est, quod patronum et remuneratorem habet Christum. […] Paupertatem autem dico non solum spiritualem, sed etiam uisibilem. Que et si non sit uirtus, est tamen nutrix custosque uirtutum.“ 128 Spec. uniu. 12, 30 (P, fol. 118vb): „Ceterum non quamlibet commendamus paupertatem. Est enim pauperies mala, est et pauperies bona.“
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Mensch tugendhaft oder lasterhaft lebt. Das eigentliche Kriterium ist vielmehr, wie sich der Wille der jeweiligen Person gegenüber diesen Umständen positioniert.129 Die grundlegende Bestimmung, dass die innere Disposition zu den äußeren Umständen den eigentlichen Wesenskern des Phänomens der ‚paupertas‘ bildet, wird nun genauer bestimmt. Aus den Kombinationsmöglichkeiten von verschiedenen Willensregungen und Lebensumständen ergeben sich nämlich insgesamt fünf ‚species‘ der Armut, die Radulfus Ardens in Kapitel 31 benennt130 und dann nacheinander beschreibt bzw. ethisch bewertet. Da seine Analyse äußerst differenziert ist und er dabei ins Detail geht, hat er erneut mit dem Problem zu kämpfen, dass es für die von ihm bezeichneten Verhaltensweisen in der Alltagssprache kaum Entsprechungen gibt. Von daher versucht er gar nicht erst, die hier behandelten Tugenden und Laster konkret zu benennen, sondern beschreibt sie systematisch und nummeriert sie anschließend durch. (1) Die erste Art der Armut ist dadurch gekennzeichnet, dass man arm an geistigen Gütern (‚pauper bono spirituali‘) ist. Da die geistigen Güter die Tugenden sind, ist diese Armut sehr schlecht (‚pessima‘). Radulfus Ardens bezeichnet sie auch als eine Eigenschaft des Teufels und seiner Anhänger, weil sie letztlich eine willentliche Abwendung von Gott und seiner Gnade ist.131 (2) Die übrigen Arten beziehen sich im Gegensatz zur ersten nicht mehr auf geistige, sondern auf weltliche Güter (‚pauper re temporali‘). Die Erklärungen zur zweiten Art schließen sich direkt an die Überlegungen in Kapitel 30 an. Sie ist nämlich daran erkennbar, dass ein Mensch zwar wenig besitzt und faktisch in Armut lebt, aber mit diesem Zustand innerlich unzufrieden ist und mit allen Mitteln etwas daran ändern will (‚pauper secularis sed inuitus‘). So ist er bereit zu lügen, zu betrügen und zu rauben, um sich ebendiese weltlichen Besitztümer anzueignen, die er für erstrebenswerte Güter hält.132 Der Autor stellt fest, dass man die Verblendung von Reichen prinzipiell noch verstehen kann, da sie durch ihren Besitz in der irrigen Meinung bestärkt werden, dass es sich dabei um Güter handelt; der Arme hin-
129 Spec. uniu. 12, 30 (P, fol. 118vb): „Sunt enim multi peruersi locupletes qui et si essent pauperes non inde fierent meliores. Est enim uitium non in rebus, sed in animo. Eadem quippe causa que paupertatem nobis grauem fecit et diuitias graues fecit.“ 130 Spec. uniu. 12, 31 (P, fol. 118vb): „Sunt autem quinque species pauperum. Nam sunt quidam pauperes bono spirituali, quidam re temporali, sed non uoluntate. Quidam sunt pauperes uoluntate, sed non re. Quidam et re et uoluntate. Quidam sunt pauperes uoluntate, re uero neque pauperes sunt neque diuites.“ 131 Spec. uniu. 12, 32 (P, fol. 118vb): „Est autem prima paupertas pessima, propria diaboli membrorumque eius.“ 132 Spec. uniu. 12, 33 (P, fol. 118vbf.): „Secunda uero species paupertatis est pauperum secularium, qui inuiti pauperes sunt. Vellent esse diuites et non possunt. […] Gestiunt quoquo modo diuitias adipisci. Fiunt mendaces, periuri, fallaces, fures, latrones, raptores, homicide, proditores nullumque facinus abhorrentes.“
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gegen, der überhaupt keinen direkten Kontakt zu diesen Gegenständen hat, aber trotzdem danach strebt, muss also daher noch stärker verblendet sein.133 Wie negativ Radulfus Ardens diese Haltung bewertet, lässt sich auch daran erkennen, dass er damit vier verschiedene Sünden verknüpft: Erstens gebrauchen solche Menschen die Armut, völlig falsch und werden dadurch zu Sündern. Zweitens stellen sie den Heilsplan Gottes infrage und bemitleiden sich aus falschen Motiven selbst. Drittens begehren sie aus ungerechten Motiven den Besitz anderer und viertens benutzen sie die Armut als bloßen Vorwand, um ihre Bosheit zu entschuldigen.134 (3) Die dritte Art ist insofern von Interesse, da sie das Vorhandensein der ‚uoluntaria paupertas‘ von der tatsächlichen, sichtbaren Armut entkoppelt. Mit anderen Worten: Hier wird der Frage nachgegangen, ob man die Tugend der Armut auch dann haben kann, wenn man weltliche Güter besitzt. Die Antwort fällt – was nicht ganz selbstverständlich ist – positiv aus. Es gibt nämlich Menschen, die zwar weltliche Güter im Überfluss besitzen (‚rebus habundantes‘), diesen aber distanziert gegenüberstehen und ihr Herz nicht an sie hängen.135 Sie bewerten die ‚res temporales‘ völlig korrekt als Produkte des Zufalls bzw. als ‚talentum‘, das ihnen von Gott einzig zu dem Zweck gegeben wurde, ihre Grundbedürfnisse zu stillen und den Rest an bedürftige Menschen zu verteilen. Als wirkliche Reichtümer betrachten sie nur die geistigen Güter. Radulfus Ardens wertet sie als große Tugend und nennt sie dem Willen, aber nicht der Sache nach arm (‚pauper uoluntate sed non re‘).136 Da solche Menschen trotz ihres Besitzes ein einfaches Leben führen, gegenüber Armen jedoch großzügig sind, tritt das komplementäre Wesen ihres Charakterzugs deutlich hervor. Sie halten das richtige Maß zwischen zwei lasterhaften Gegensätzen, die ebenfalls nahe beieinanderliegen, nämlich der Missachtung der Armen und dem egoistischen Luxus. Von daher hebt der Autor auch hervor, dass es besonders schwierig ist, in einer Situation des Überflusses das rechte Maß einzuhalten, während deutlich einfacher ist, in einer Situation des Mangels enthaltsam zu sein.137
133 Spec. uniu. 12, 33 (P, fol. 119ra): „Non est mirandum si diuites non resipicunt prospera quos fallunt nullaque dura terrent. Ceterum eorum ammiranda est duritia, quos flagella nulla ualent emundare uel emendare.“ 134 Spec. uniu. 12, 33 (P, fol. 119ra): „Hii uero quadrupliter peccant: Primo, quia bono paupertatis abutuntur. Secundo, quia contra Deum murmurant de quo eum benedicere deberent. Tertio, quia cupiunt aliena. Quarto, quia paupertatis nomine nituntur malitiam suam excusare.“ 135 Spec. uniu. 12, 34 (P, fol. 119ra): „Tertia uero species paupertatis eorum est qui, cum sint rebus habundantes, eas contempnunt et inter diuitias uoluntate et usu pauperes fiunt. Hii utuntur mundum tanquam non utentes. Horum est diuitiis affluentibus, cor non apponere.“ 136 Spec. uniu. 12, 34 (P, fol. 119raf.): „Sese reputant diuitiarum dispensatores constitutos esse, non possessores. Sibi parsimoniam pauperibus largitatem. Solas autem illas diuitias estimant esse ueras qui hominem sanctificant et regni celorum constituunt possessorem. Isti proculdubio magne uirtutis sunt.“ 137 Spec. uniu. 12, 34 (P, fol. 119rb): „Immo si bene perspicias, maius est in habundantiam quam in egestatem abstinentem esse.“
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(4) Die vierte ist dadurch gekennzeichnet, dass man sowohl dem Willen als auch der Sache nach arm ist (‚pauper uoluntate et re‘). Sie wird nochmals in graduell abgestufte Unterarten gegliedert, wobei Radulfus Ardens eine seiner häufig verwendeten Dreiteilungen zu Hilfe nimmt:138 Die ‚perfecti‘ entscheiden sich gänzlich aus eigenem Antrieb dazu, ihren weltlichen Besitztümern zu entsagen – selbst dann, wenn sie im Überfluss leben und es ihnen gut geht. Die entscheidende Motivation ist dabei, Gott näher zu kommen. Als Beispiele für diese vollendete Form der Armut nennt er die Apostel, aber auch die Mönchsväter, wie z. B. den heiligen Antonius.139 Generell stellt er vier Gruppen von Menschen in die Tradition dieses Armutsideals: Die Prediger (‚predicatores‘), die vom Erlös ihrer Predigt leben, die Mönche (‚monachi‘), die ihren Lebensunterhalt im Kloster gemeinschaftlich bestreiten, die Eremiten (‚heremite‘), die in erster Linie mit eigenen Händen arbeiten und schließlich auch die Weltgeistlichen (‚clerici‘), die von ihren Diensten für die Kirche leben. Er hat also offensichtlich ein recht weites Verständnis von tugendhafter Armut; die hier aufgeführten Personengruppen sind v. a. durch die Gemeinsamkeit verbunden, dass sie sich nicht direkt mit dem Erwerb weltlicher Güter beschäftigen, aber trotzdem über alles Lebensnotwendige verfügen und daher die Möglichkeit haben, sich in erster Linie um geistige Güter zu bemühen. Umso schärfer wendet er sich gegen eine Form der Armut, die dazu führt, dass ein Mensch betteln muss, weil er all seinen Besitz unbedacht aufgegeben hat. Radulfus Ardens qualifiziert ein solches Verhalten als unehrenhaft (‚inhonestum‘) im Gegensatz zu den eben beschriebenen Lebensweisen, die er als ehrenhaft (‚honestum‘) ansieht. Er kommt daher zu dem Schluss, dass es wesentlich besser ist, einen geringen Teil seines Besitzes zu behalten und dadurch den Mitmenschen nicht unnötig zur Last zu fallen.140 Der Autor redet also keineswegs einer rigorosen Ablehnung der weltlichen Güter das Wort,
138 Spec. uniu. 12, 35 (P, fol. 119rb): „Quarta uero species est eorum qui et re et uoluntate pauperes sunt. Horum autem sunt tres species. Nam quidam cum temporalibus rebus habundent eis propter Deum abrenuntiantes sponte pauperes fiunt. Alii uero paupertatem non assumunt, sed illatam gratanter suscipiunt. Alii uero illatam non gratanter primum accipiunt, sed postea redeuntes ad cor incipiunt de necessitate uirtutem facere et illatam a Deo paupertatem patienter portare et cum gratiarum actione.“ 139 Spec. uniu. 12, 35 (P, fol. 119rbf.): „Prior igitur species paupertatis est perfectorum qui didiscerunt modico esse contenti et in fide sunt firmi, nichil sibi defore Domino prouidente. […] Talis fuit Anthonius, talis Arsenius, talis et Simacus.“ 140 Spec. uniu. 12, 35 (P, fol. 119va): „Ceterum eis qui sic penitus abrenuntiant, preconsiderandus est aliquis honestus uiuendi modus. Et uidelicet fiant predicatores et uiuant de stipendiis predicationis aut fiant monachi et uiuant communiter de rebus monasteriorum aut fiant clerici et uiuant de stipendiis ecclesiarum aut fiant heremite et uiuant de laboribus manuum suarum. Aut aliquem alium honestum uiuendi modum accipiant, unde suam sustentent infirmitatem. Nam suis abrenuntiare et post publice mendicare inhonestum est nec uiro honesto dignum. […] Eapropter melius est huiusmodi, ut de rebus suis modeste uiuant et sua pro loco et tempore in operibus misericordie distribuant.“
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sondern unterscheidet genau: Die Armut ist von daher kein Selbstzweck, sondern soll den Menschen dazu freimachen, sich geistige Güter – also die Tugenden – anzueignen und Gott in den Blick zu nehmen. Die zweite Unterart lässt sich dadurch von der ersten unterscheiden, dass die Armut durch äußere Umstände aufgezwungen wird. Der Betreffende nimmt sie jedoch mit Freude an, hadert nicht damit und erkennt sie als ein Gut an. Ein gutes Beispiel dafür sind die frühen Christen, die oft unter Verfolgungen litten und dabei meist ihren gesamten Besitz verloren, ohne ihm viel Wert beizumessen.141 Ein solches Verhalten ist zwar in hohem Maße tugendhaft, dennoch weist er die zweite Art den ‚minus perfecti‘ zu, da sie nicht gänzlich frei gewählt wurde. Die dritte und letzte Art unterscheidet sich von der zweiten lediglich darin, dass es in diesem Fall deutlich länger dauert, bis sich der Betreffende mit seinem Schicksal abfindet und die positive Wirkung der Armut anerkennt. Von daher ist sie auch die Tugend der ‚imperfecti‘.142 In diesem Kapitel formuliert Radulfus Ardens erstmals Positionen, die er im weiteren Verlauf der Darstellung immer wieder aufgreift und die seiner Lehre vom ‚contemptus mundi‘ auch eine gewisse eigene Note verleihen: Erstens wendet er sich entschiedenen gegen eine Form der Armut, die unüberlegt bzw. unreflektiert herbeigeführt wird und mit einer Last verbunden ist, die der Betreffende gar nicht tragen kann. Sie ist rein destruktiv, da sie nicht nur die eigene Lebensgrundlage zerstört, sondern auch zu einer unnötigen Belastung der Mitmenschen führt. Eine solche Armut entsteht letztlich aus egoistischen Motiven und ist – modern gesprochen – wenig nachhaltig, da sie nicht befreit, sondern nur noch mehr einengt. Zum anderen verdeutlicht er immer wieder, dass die Armut kein Wert an sich ist. Vielmehr bildet sie eine fruchtbare Grundlage für die Entstehung anderer Tugenden und lässt sich auch nur an diesem Kriterium bemessen, ob es sich um eine ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Armut handelt. In dem Zusammenhang empfiehlt er dem gewöhnlichen Menschen, der kein Eremit oder Mönch ist, eher ein Leben in bescheidenen Verhältnissen als in völliger Armut. Diese Perspektive ist letztlich sehr realistisch und knüpft unmittelbar an das stoische Ideal vom naturgemäßen Leben an, wodurch sich auch die große Zahl der Seneca-Zitate erklärt. Drittens lässt sich eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten zum Komplementärtugendpaar Sparsamkeit – Freigiebigkeit und den Überlegungen zum Almosen in Buch 11 feststellen. Radulfus Ardens geht offenbar von einem feinen Geflecht von Überschuss (‚superfluum‘) und Mangel (‚necessitas‘) aus, wobei es Aufgabe des vermögenden Menschen ist, die ihm anvertrauten Güter gerecht zu verteilen und der Bedürftige seinerseits nur so viel nehmen darf, wie er wirklich
141 Spec. uniu. 12, 35 (P, fol. 119va): „Secunda uero species paupertatis est minus perfectorum qui etsi non sponte suis abrenuntiant, tamen expoliationem bonorum suorum illatamque paupertatem gratanter susceptant et uoluntarii pauperes fiunt. Sicut solebant facere Christiani in primitiua ecclesia a persequutoribus expoliati.“ 142 Spec. uniu. 12, 35 (P, fol. 119va): „Tertia uero species imperfectorum est qui illatam paupertatem inuiti suscipiunt, postea uero resipiscentes ad Deum redeunt […].“
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benötigt. Im Idealfall – und das ist das eigentlich entscheidende Ergebnis – wären beide im Besitz der Tugend ‚paupertas‘. Hier deutet sich eine komplementäre Struktur im zwischenmenschlichen Handeln an, wie sie anhand mehrerer Beispiele im ersten Teil der Arbeit beschrieben wurde.143 Diese Tendenz tritt im folgenden Kapitel noch klarer vor Augen, wobei sich Radulfus Ardens auch persönlich zu seinem eigenen Lebensstil äußert. (5) Die Aussagen in Kapitel 36 sind hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Verständnis des 12. Buches (und in gewisser Weise auch für das des gesamten Werkes) sehr bedeutsam. Radulfus Ardens stellt sich hier nämlich mit einer knappen Randbemerkung in die Tradition der ‚philosophi‘, womit die pagan-antiken Philosophen allgemein und speziell die Stoiker gemeint sind. Zudem deutet er Bezugspunkte zwischen dem stoischen Ideal des naturgemäßen Lebens und dem Konzept der Komplementärtugenden an. Zu Beginn des Kapitels identifiziert er die fünfte Art der Armut mit einer Lebensweise gemäß der Natur. Menschen, die so leben, wollen das Lebensnotwendige (‚necessaria‘) erwerben und zugleich den Überfluss (‚superuacua‘) geringschätzen.144 Diese Haltung hatte er in Kapitel 31 etwas umständlicher als ‚dem Willen nach arm, aber der Sache nach weder arm noch reich‘ (‚pauper uoluntate, re neque pauper neque diues‘) beschrieben.145 Vor dem Hintergrund der vier bisher besprochenen ‚species‘ ließe sich fragen: In welchem Verhältnis steht die fünfte Art zur dritten (‚pauper uoluntate et non re‘) und zur vierten (‚pauper uoluntate et re‘)? Auf den ersten Blick scheint klar, dass jemand, der als ‚neque pauper neque diues‘ bezeichnet wird, definitiv etwas besitzt und damit nicht als ‚pauper re‘ gelten kann. Die fünfte Art scheint also eher in Richtung der dritten zu tendieren, da es offensichtlich darum geht, mit vorhandenem Besitz verantwortungsvoll umzugehen. Bei genauerem Hinsehen ist die Sache aber komplizierter. So wird hervorgehoben, dass jemand, der die fünfte Art der Armut besitzt, einem mittleren Maß folgt (‚mediocriter uiuere‘) und gleichzeitig darauf bedacht ist, nichts Lebensnotwendiges zu vermissen und nichts Überflüssiges zu besitzen. Diesen beiden Bestrebungen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass einerseits durch Reichtum das richtige Einschätzungsvermögen verloren gehen kann; andererseits kann aber auch die Armut so unerträglich werden, dass man lügt, betrügt und stielt, um nicht völlig zu verwahrlosen. Von daher legt sich ein bescheidenes Mittelmaß (‚modesta mediocritas‘) nahe, in dem man weder zu arm (‚pauperior‘), noch zu
143 Vgl. Punkt 1.2 im ersten Teil der Arbeit. 144 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119va): „Quinta species paupertatis est eorum qui iuxta naturam uiuere uolunt, sola querentes necessaria et contempnentes superflua.“ 145 Spec. uniu. 12, 31 (P, fol. 118vb): „Quidam sunt pauperes uoluntate, re uero neque pauperes sunt neque diuites.“
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reich (‚diuitior‘) ist.146 Dass diese Überlegungen, in denen der stoische Begriff des Mittelmaßes (‚mediocritas‘) eine tragende Rolle spielt, im Prinzip nichts anderes als das Komplementärtugendpaar von ‚guter Armut‘ und ‚gutem Reichtum‘ bzw. ‚gutem Umgang mit weltlichem Besitz‘ beschreiben, liegt klar auf der Hand. So werden die Vorzüge der beiden Verhaltensweisen klar benannt, ohne die Gefahren zu verschweigen, die von ihnen ausgehen, wenn sie sich zu sehr übersteigern. Umso erstaunlicher ist es, dass dies an den hier verwendeten Begriffen zunächst einmal nicht erkennbar ist, da Radulfus Ardens Komparative verwendet, um das Übermaß – im Gegensatz zur ‚mediocritas‘ – zu beschreiben. Den Grundgedanken, den der Autor hier entfaltet, erkennt er zum einen in der Bibel (Prv 30, 8) wieder. Hier bittet Salomon den Herrn darum, ihm weder Armut noch Reichtum, sondern nur das Lebensnotwendige zu geben. Dieser Stelle entnimmt Radulfus Ardens offensichtlich auch die erste, relativ umständliche Benennung der Tugend in Kapitel 31.147 Zum anderen verbindet er sie mit der stoischen Lehre vom Gesetz der Natur (‚lex naturalis‘). Er zitiert diesbezüglich den 4. Brief Senecas, in dem die durch die ‚lex naturalis‘ bestimmte Armut als großer Reichtum bezeichnet wird.148 Dieses Paradoxon erinnert nicht zufällig an die ‚komplementäre Sprache‘, für die im ersten Teil der Arbeit einige Beispiele genannt wurden.149 So ließe sich nämlich einerseits sagen, dass der Inhaber dieser Art der Armut weder arm noch reich ist. Damit wären die beiden Laster (schlechter Reichtum bzw. schlechte Armut) gemeint und dies entspräche der Formulierung im Buch der Sprichwörter. Andererseits würde jedoch auch gelten, dass eine solche Person sowohl arm als auch reich ist, womit dann die beiden positiven Arten (guter Reichtum bzw. gute Armut) bzw. ihre Verschmelzungstugend gemeint wäre, was der Formulierung Senecas entspräche. Hier tritt klar hervor, in welcher Weise Radulfus Ardens seine eigene Konzeption von der Komplementarität der Tugenden mit der stoischen Ethik verbindet: In der ‚mediocritas‘ sieht er nichts anderes, als den Punkt, an dem sich beide gegensätzlichen Aspekte zu einer Verschmelzungstugend verbinden in der das ‚sowohl – als auch‘ ebenso gilt, wie das ‚weder – noch‘. Unmittelbar im Anschluss bewertet er diese fünfte Art der Armut. Dabei verdeutlicht er, dass er sie nicht als besonders hochwertig oder gar vollendet ansieht,
146 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vaf.): „Volentes mediocriter uiuere nec necessaria relinquere nec superflua possidere. Horrent quippe diuitias, ne se sicut multos corrumpant. Horrent et paupertates, ne se sicut et multos mendaces, falsos et fures efficiant. Eapropter nec diuitiores esse uolunt nec pauperiores, sed modestam amant mediocritatem […].“ 147 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vb): „[…] cum Salomone Deum exorant: Diuitias et paupertates, Domine, ne dederis michi, sed tantum uictui meo tribue necessaria. In quibus uerbis Salomon eos qui hanc obseruant mediocritatem nec pauperes uocat nec locupletes.“ 148 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vb): „Quos philosophus appellat simul et pauperes et diuites dicens: Magne diuitie sunt lege nature conposita paupertas.“ 149 Vgl. dazu Punkt 1.2.4 im ersten Teil der Arbeit.
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indem er darauf hinweist, dass die eben beschriebene ‚mediocritas‘ zwar nach der Meinung der Menschen (‚secundum opinionem hominum‘) Armut ist, tatsächlich jedoch noch in relativ großem Maß Besitztümer vorhanden sind.150 Damit stellt er sie klar unter die vierte Art, die unter gewissen Umständen als vollendet (‚perfecta‘) gewertet wird. Die fünfte Art der Armut weist er daher den ‚Geringen‘ (‚paruuli‘) zu, unter die er sich – das ist an dieser Stelle besonders auffällig – auch selbst rechnet.151 Diese Gruppe charakterisiert er so, dass sie sich zwar nach Kräften um ein bedürfnisloses Leben bemüht, Reichtum und Armut jedoch nicht mit völligem Gleichmut (‚equa mente‘) gegenübersteht. Damit ist die fünfte Art der Armut als eine Vorstufe zur vollendeten Armut, wie sie sich bspw. bei den Aposteln oder Eremiten findet, anzusehen. Radulfus Ardens betont mit dieser Aussage also, dass er sich zwar um die Tugend der Armut bemüht, aber noch nicht so umfänglich auf weltliche Besitztümer verzichten kann, wie es theoretisch möglich wäre. Auch hier werden wieder Anklänge an die Stoa sichtbar: Der Autor klassifiziert sich letztlich als ‚proficiens‘, der auf dem richtigen Weg ist, aber noch viel Arbeit vor sich hat. Dies bestätigt sich auch dadurch, dass er die soeben beschriebene Lebensweise v. a. den Philosophen attestiert.152 Wie schon mehrfach gezeigt, findet dieser Begriff auch bei der Dreiteilung ‚incipiens‘ – ‚proficiens‘ – ‚perfectus‘ Verwendung, die sich über das gesamte Werk hinweg immer wieder findet.153 Ebenso greift er den stoischen Gedanken auf, dass Reichtum im eigentlichen bzw. geistigen Sinne nicht durch den Erwerb von materiellem Besitz zustande kommt, sondern durch die Verringerung der eigenen Begierde (‚cupiditas‘). Dabei stellt er nochmals die Lebensführung gemäß der Meinung der Menschen (‚secundum opinionem hominum‘), durch die man niemals reich wird, dem naturgemäßen Leben entgegen (‚secundum naturam‘), durch das man niemals arm ist.154 Daraus folgt, dass es also auch eine positive Form des Reichtums geben muss. Diese wird als Genügsamkeit des Geistes (‚sufficientia mentis‘) im Gegensatz zu einem Überfluss an Gütern (‚copia rerum‘) bestimmt. Auf der anderen Seite gibt es auch eine negative Variante der Armut, die keineswegs von einem Mangel an Besitz (‚exilis substantia‘), sondern von einer unersättlichen Begierde (‚insatiabilis concupiscentia‘) geprägt ist.155 Auch hier lassen sich eindeutig Ansätze von komplementären Denkstrukturen erkennen. Die Schwierigkeit besteht dabei v. a. darin, dass Radulfus Ardens z. T. völ-
150 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vb): „Huiusmodi quippe mediocritas et paupertas uidetur secundum opinionem hominum, et tamen magne diuitie sunt secundum naturam uiuentium.“ 151 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vb): „Et hec quidem paupertas modusque uiuendi paruulorum est mei scilicet meique similium qui nec diuitias nec paupertates cum Apostolo equa mente possumus tolerare.“ 152 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vb): „Hunc tamen uiuendi modum pre ceteris philosophi dilexerunt.“ 153 Vgl. Punkt 2.1.1.5 in der Einleitung. 154 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vb): „Si secundum naturam uixeris, numquam eris pauper. Si secundum opinionem, numquam eris diues.“ 155 Spec. uniu. 12, 36 (P, fol. 119vb): „Cui cum paupertate bene conuenit, diues est. Non qui parum habet, sed qui plus cupit pauper est. Si uis diues fieri, non est rebus addendum, sed cupiditati det-
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lig unterschiedliche Verhaltensweisen mit denselben Wörtern bezeichnet und viele scheinbar widersprüchliche Begriffe gleichsetzt. In der folgenden Übersicht wurde der Versuch unternommen, anhand eines fiktiven Komplementärtugendpaars ‚paupertas bona‘ – ‚diuite bone‘ die einzelnen Formulierungen zu ordnen und komplementäre Strukturen sichtbar zu machen.
paupertas mala nesessaria relinquere / pauperiores / insatiabilis concupiscentia
paupertas bona
↔
diuitie bone
modesta mediocritas / magne diuitie sunt lege naturali composita paupertas / cui cum paupertate bene conuenit, diues est /
diuiutie male superflua possidere / diuitiores / copia rerum
sufficientia mentis
Abb. 54: Komplementäre Strukturen im Bereich Armut und Reichtum.
Radulfus Ardens benennt die beiden Komplementärtugenden also nicht direkt, dennoch ist offensichtlich, dass der Grundgedanke eines Komplementärtugendpaars im Hintergrund steht. Dies lässt sich auch daraus ableiten, dass er eine ganze Reihe von Paradoxa anführt, in denen jeweils eine gute Form des Reichtums und eine gute Form der Armut angedeutet werden. Zudem setzt er sowohl die beiden jeweiligen Laster, als auch die beiden Tugenden mehrfach einander gleich. Dass er sich in diesem Kapitel auch in eigener Sache äußert, ist v. a. deshalb bemerkenswert, weil er sich ansonsten im Speculum universale mit persönlichen Aussagen stark zurückhält. Dies macht zum einen deutlich, dass er große Sympathien für die pagan-antike Philosophie hatte, was in der damaligen Zeit bei theologischen Schriftstellern keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Zum anderen zeigt sich daran erneut eine Tendenz, die auch an anderen Stellen des Werkes mehrfach sichtbar wurde:156 Der Autor begegnet dem Leser als reflektierter Denker, der das menschliche Verhalten möglichst genau analysieren will, dabei jedoch keineswegs über alle Zweifel erhaben ist. Vielmehr erscheint es so, als ob er sowohl hinsichtlich seiner eigenen Lebensweise als auch hinsichtlich seiner Perspektive auf den Gegenstand, den er untersucht, große Unsicherheiten hat. Dies zeigt sich an der eben besprochenen Stelle – an der er sich den ‚paruuli‘ zuordnet – ebenso wie z. B. an der bereits erwähnten Aussage in Buch 14, in der er dem Konzept der Komplementärtugenden die Allgemeingültigkeit abspricht. Diese Grundtendenz geht definitiv über bloße Bescheidenheitstopoi hinaus. Wie bereits erwähnt, scheint der Autor sein Werk als unabgeschlossenes denkerisches Experiment anzusehen.
rahendum. Diuitem quippe facit non rerum copia, sed mentis sufficientia. Nec pauperem facit exilis substantia, sed insatiabilis concupiscentia. Itaque cui sua sufficiunt, diues est.“ 156 Vgl. dazu auch Punkt 2.1.1.5 in der Einleitung.
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Diese freilich in einem gewissen Maß spekulative These spielt im weiteren Verlauf insofern eine wichtige Rolle, da sie die Grundlage für die Lösung mehrerer systematischer Schwierigkeiten und die Erklärung inhaltlicher Lücken bildet. Zum Abschluss dieses zweiten Abschnitts, in der die Ambivalenz der Armut deutlich gemacht und auch erstmals eine positive Form des Reichtums bzw. der Liebe zur Welt angedeutet wurde, ruft Radulfus Ardens dazu auf, eine der drei guten Arten der Armut auszuwählen. Das entscheidende Kriterium dafür ist die Kenntnis der eigenen Sitten (‚mores‘) und Kräfte (‚uires‘) – nur so kann man die für sich passende Lebensweise finden. Nochmals wird deutlich, dass der Autor eher zur schrittweisen Aufgabe von weltlichem Besitz tendiert und es durchaus für berechtigt hält, bestimmte Dinge zu erwerben und auch dauerhaft zu behalten. Diese Empfehlung resultiert aus dem Bewusstsein, dass nur sehr wenige Menschen zur ‚paupertas perfecta‘ in der Lage sind. Deshalb nivelliert er in seiner Formulierung die graduellen Unterschiede zwischen den drei guten ‚species‘ und klassifiziert sie insgesamt als nützlich und heilsnotwendig.157 Da die Ausführungen zu den fünf Arten der Armut durchaus komplex und mangels einprägsamer Bezeichnungen stellenweise unübersichtlich waren, werden sie hier noch einmal schematisch dargestellt. Dabei steht v. a. im Fokus, aus welchen Gründen die jeweiligen Arten gut oder schlecht sind. uoluntaria
non uoluntaria
(1) pauper bonorum spiritualium (2) pauper re sed non uoluntate
mala (3) pauper uoluntate sed non re
paupertas bona
perfecta (4) pauper uoluntate et re
minus perfecta imperfecta
(5) pauper uoluntate, re neque pauper neque diues Abb. 55: Die Arten der Armut. 157 Spec. uniu. 12, 37 (P, fol. 120ra): „Cum igitur sint tres species bone paupertatis, elige de tribus unam moribus et uiribus tuis magis conuenientem. Quoniam non solum paupertas utilis est, sed etiam necessaria tendentibus ad superna.“
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2.1.2.4 Systematisch-kritische Betrachtung des Phänomens im Rahmen komplementärer Denkstrukturen Im letzten Abschnitt hat sich bereits angedeutet, dass die Armut nur unter bestimmten Bedingungen eine Tugend ist und ohne Korrektiv Gefahr läuft, ein Laster zu werden. Diesen Gegenpol bildet besonders in Zusammenhang mit der fünften Art der Armut eine positive Form des Reichtums, womit eine richtige innere Einstellung zu weltlichen Besitztümern gemeint ist. Diese Haltung ließe sich in Anlehnung an die sonst von Radulfus Ardens verwendete Terminologie als ‚geistiger Reichtum‘ bezeichnen und könnte durchaus als eine mögliche Komplementärtugend der Armut gelten. Trotz offensichtlicher Tendenzen zu einer ambivalenten bzw. komplementären Perspektive auf das Phänomen der Armut finden sich in den besprochenen Textstellen im Großen und Ganzen eher vage und z. T. auch unverständliche Andeutungen als konkrete Bestimmungen. Im dritten Abschnitt des Traktats über die Armut (c. 38–48) finden sich dazu deutlichere Aussagen, wobei allerdings auch hier manches unklar bleibt. Zunächst wird ein Begriff für eine positive Beziehung zwischen Mensch und materiellen Gütern entwickelt (c. 38.39). Sodann untersucht der Autor ausführlich, zu welchen Lastern die schlechte Armut tendiert, sodass diese wesentlich an Kontur gewinnt (c. 40–45). Schließlich benennt er die Gründe dafür, aus denen bestimmte Formen der Armut abgelehnt werden können und bestimmt auf dieser Grundlage die ‚termini‘ der ‚uoluntaria paupertas‘ (c. 47) und ihr ‚uitium contrarium‘ (c. 48). Damit findet der Traktat seinen Abschluss und leitet zur ausführlichen Behandlung des ‚amor diuitiarum‘ in Gestalt von ‚auaritia‘ und ‚cupiditas‘ in den Kapiteln 49–86 über. (1) Dass einem Leben in völliger Armut und ohne jeden Besitz eine ganze Reihe von lebenspraktischen Hindernissen entgegenstehen, liegt vor dem Hintergrund des bisher Gesagten auf der Hand. Da dieses Ideal im Neuen Testament aber immer wieder thematisiert wird, setzt sich Radulfus Ardens mit den entsprechenden Stellen auseinander und relativiert bzw. präzisiert sie. Bei diesen Überlegungen konzentriert er sich auf zwei Fragen. Erstens: Was ist das richtige Maß für weltlichen Besitz (‚modus possidendi‘)? Und zweitens: Wie weit in die Zukunft darf sich die Vorsorge im Bereich der vergänglichen Dinge (‚prouidentia temporalium‘) erstrecken? Die erste Frage beantwortet er so, dass sich der ‚modus possidendi‘ danach bemisst, was zum Leben unbedingt notwendig ist. Da diese Bestimmung durchaus offen für Interpretationen ist, bemüht sich der Autor zumindest darum, eine klare Tendenz vorzugeben und schreibt deshalb eine Lebensweise ‚iuxta necessitatem‘ oder knapp darunter (‚uel inferior‘) vor.158 Dabei handelt es sich letztlich um eine rein systematische Bestimmung, die sich nach dem Grundsatz richtet, dass jegliches Übermaß ver-
158 Spec. uniu. 12, 38 (P, fol. 120raf.): „Quis autem sit modus possidendi considerandum est. […] Quod enim modicum est, non est super necessitatem, sed iuxta necessitatem uel potius infra.“
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mieden werden muss. Dass sich Radulfus Ardens nicht konkreter dazu äußert, begründet er damit, dass sich das jeweils genügende Maß (‚sufficientia‘) nach der individuellen Beschaffenheit des einzelnen Menschen richten muss; auch diese Aussage erklärt er aber nicht genauer und führt auch keine Beispiele dazu an. Dass er der Beschaffenheit der Beteiligten und der Situation, in der sie sich befinden, eine entscheidende Bedeutung beimisst, zeigt sich auch daran, dass er in Sonderfällen ausdrücklich erlaubt, mehr als das Lebensnotwendige zu besitzen. So kann es durchaus angebracht sein, im Vorfeld einer Hungersnot Güter zu sammeln, um sie anschließend an die Armen zu verteilen, die sich für eine solche Notlage nicht wappnen können.159 Hinsichtlich der zweiten Frage argumentiert er ähnlich. Hier scheint zunächst durch die Formulierung Jesu in Mt 6, 34 jegliche Vorsorge für die Zukunft verboten bzw. unnötig zu sein.160 Wäre diese Aussage jedoch wörtlich gemeint, hätten auch Jesus und seine Jünger mehrfach gegen dieses Gebot verstoßen, wie Radulfus Ardens an mehreren Beispielen aus der Heiligen Schrift aufzeigt. Die Lösung des Problems sieht er darin, dass Christus hier nur die übermäßige Sorge (‚sollicitudo‘) um die ferne Zukunft und nicht die vernünftige und durchaus angebrachte Vorsorge (‚prouidentia‘) für unmittelbar bevorstehende Probleme verbietet. Diese Unterscheidung passt sich gut in die tugendethische Konzeption des Speculum universale ein: Demnach ist in der ‚sollicitudo‘ eine übertriebene Unruhe bzw. eine krankhafte Zukunftsangst zu sehen, die letztlich mehr Kummer schafft, als verhindert und zusätzlich noch von Gott ablenkt.161 Die ‚prouidentia‘ meint demnach eine wohlüberlegte und der Situation angemessene Planung (‚cura modesta‘), weshalb sie durchaus als Tugend zu betrachten ist. Auch hier sind die konkreten Umstände und die Situation der beteiligten Personen das entscheidende Kriterium für die zulässige Reichweite der ‚prouidentia‘.162 Da es sich bei der ‚prouidentia‘ also um eine Vorsorge handelt, die sich mit ganzer Kraft der Lösung unmittelbar drängender Probleme widmet und die zukünftigen nicht zuletzt durch die feste Hoffnung auf die Hilfe Gottes vorerst aus-
159 Spec. uniu. 12, 38 (P, fol. 120rbf.): „Est autem […] sufficientia […] metienda secundum salutem corporis et habitam conuenientem persone hominis quo habitu conueniat eis, cum quibus honeste officioseque uiuendum est. […] Quod autem supra necessitatem uel nostrum uel nostrorum possidemus, non propter nos, sed propter subueniendum pauperibus possidere debemus.“ 160 Spec. uniu. 12, 39 (P, fol. 120va): „Sed quantum est prouidentia necessariorum temporalium extendenda? Redemptor noster uidetur prohibuisse, ne usque in crastinum extendatur. Ait enim: Nolite solliciti esse in crastinum. Crastinus enim dies sollicitus erit sibiipsi. Sufficit enim diei malitia sua.“ 161 Spec. uniu. 12, 39 (P, fol. 120vb): „Propterea quod Dominus dicit ‘nolite solliciti esse in crastinumʼ intelligendum est uel hoc tantum dictum esse predicatoribus quibus et prohibitum est, ne dum predicatum irent, sacculum uel pani uel es in zonam deportarent. Vel si etiam aliis dictum est sollicitudo tantum est prohibita, non prouidentia […].“ 162 Spec. uniu. 12, 39 (P, fol. 120vb): „Prohibemur ergo, ne sollicitemur nec precipue in longum futurum. […] Prouidentie uero longitudo est metienda secundum uniuscuiusque necessitatem.“
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klammern kann163, werden hier Anklänge einer Komplementärtugend sichtbar. Diese zeichnet sich durch festes Gottvertrauen auf der einen und sachgerechte Planung auf der anderen Seite aus. Würde diese Balance aus dem Gleichgewicht geraten, entstünden die Laster des unberechtigten, sorglosen Gottvertrauens und der übertriebenen Besorgtheit bzw. Zukunftsangst. Diese Bezüge ließen sich etwa so abbilden:
schlechtes bzw. unberechtigtes Gottvertrauen
gutes bzw. berechtigtes Gottvertrauen
↔
‚prouidentia‘ / ‚cura modesta‘
‚sollicitudo‘
Durch die Herausarbeitung dieser Tendenz im Text zeigt sich, dass im Bereich des ‚contemptus diuitiarum‘ wohl nicht nur eine, sondern gleich mehrere Möglichkeiten für Komplementärtugenden denkbar sind und diese auch bei den Überlegungen des Autors im Hintergrund stehen. In jedem Fall wird die Komplexität und die Erklärungsbedürftigkeit des Armutsideals von Radulfus Ardens nicht verschwiegen; stattdessen bemüht er sich offenbar nach Kräften, die ‚paupertas‘ möglichst differenziert zu betrachten. (2) In einem zweiten Schritt beschäftigt er sich ausführlich mit den lasterhaften Formen der Armut. Dazu zählt er Laster auf, die für den Armen naheliegend sind (‚uitia pauperibus affinia‘). Damit nimmt er auf die bereits in Buch 1 beschriebene Konzeption Bezug, dass fast jede tugendhafte Verhaltensweise ohne Korrektiv zu einer lasterhaften werden kann. Der Übergang zwischen beiden ist fließend und sie können auf den ersten Blick durchaus ähnlich erscheinen, weshalb sie auch als ‚nebeneinanderstehend‘ (‚affinia‘ bzw. ‚collateralia‘) beschrieben werden. Insgesamt führt Radulfus Ardens sieben negative Verhaltensweisen als ‚uitia collateralia‘ der ‚bona paupertas‘ auf;164 nur wer diese vermeidet, kann als ‚Armer Christi‘ (‚pauper Christi ‘) gelten. Auch hier zeigt sich, wie viele Aspekte in der Armut enthalten sind und wie genau hier unterschieden werden muss. In diesem Passus werden mehrere Gedankengänge aufgegriffen, die bereits angeklungen sind, sodass eine Wiedergabe der zentralen Aspekte genügt. Erstens weist er auf die Gefahr hin, in extreme Armut (‚extrema paupertas‘) zu verfallen. Diese ist besonders dann zu verurteilen, wenn sie bspw. durch Zügellosigkeit oder Faulheit – also unabsichtlich – entstanden ist. Damit wird wieder hervorgehoben, dass die Armut nur dann als Tugend angesehen werden kann, wenn sie auf einer freien Willensentscheidung beruht und dem individuellen Können ent-
163 Spec. uniu. 12, 39 (P, fol. 120vb): „Prohibuit autem Dominus, ne in re temporali haberemus sollicitudinem, sed tantum curam modestam. In suorum exequtione mandatorum totam sollicitudinem nostram precepit nos habere. Et sic nobis facientibus se per omnia prouisurum esse.“ 164 Spec. uniu. 12, 40 (P, fol. 121ra): „Sunt autem uitia pauperibus affinia que sumopere bonus pauper debet deuitare.“
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spricht. Ist sie nämlich eine Qual und trägt nicht zum Glück des Betreffenden bei, kann sie auch keine Tugend sein. Radulfus Ardens gibt daher einer schrittweisen, reflektierten Selbstbeschränkung klar den Vorzug gegenüber einer totalen Ablehnung aller weltlichen Güter.165 Zweitens verurteilt er entschieden solche Arme, die sich nach dem Verlust ihres eigenen Vermögens durch Betrug und Diebstahl fremdes aneignen wollen. Dieses Verhalten ist kein Zeichen des rechten Maßes und der Bedürfnislosigkeit, sondern legt eher die Zügellosigkeit und Willkür (‚libido‘) des Trägers offen.166 Anklänge an das zuletzt beschriebene Komplementärtugendpaar werden dadurch deutlich, dass die enge Verbindung von maßvoller Selbstbeschränkung und Fürsorge Gottes hervorgehoben wird.167 Drittens kann ein Leben in Armut dazu führen, dass man nicht nur die weltlichen Güter, sondern auch sich selbst in einem übertriebenen Maß geringschätzt. Dadurch hält man sich selbst für völlig wertlos und unbedeutend (‚nimis uiliter‘). Eine solche Selbstentwertung darf nicht mit der Tugend der Demut verwechselt werden, da hier die Meinung der Mitmenschen, die arme Leute oft verachten und an den Rand der Gesellschaft drängen, unreflektiert auf das Selbstbild übertragen wird. Dabei gerät völlig aus dem Blickfeld, welchen Wert der Mensch vor Gott hat. Diese totale Selbstaufgabe führt dazu, dass man sich selbst vernachlässigt und sich auch nicht mehr um die Tugenden bemüht, sodass letztendlich den Lastern Tür und Tor geöffnet sind.168 Die Beschreibung dieses Lasters lässt Bezugspunkte zur vierten ‚distinctio‘ am Ende von Buch 12 erkennen, die eine Haltung vorstellt, die die Ablehnung vonseiten der Mitmenschen geringschätzt. Das vierte Laster weist eine gegensätzliche Tendenz auf: So kann die Armut auch zur Überheblichkeit führen, da man sich selbst als etwas Besonderes ansieht, die Reichen dagegen verachtet und als schwache und von Gott verworfene Existenzen betrachtet. Dabei wird allerdings übersehen, dass auch der Reichtum zu Gott führen kann, wenn man mit seinem Besitz richtig umgeht und damit bspw.
165 Spec. uniu. 12, 40 (P, fol. 121ra): „Primum est, ne uitio suo ad extremam ueniat paupertatem. Multi siquidem aut per castrimargiam aut per libidinem aut per pigritiam aut per inscitiam aut per aleam res suas alligurierunt et patrimonia sua dilapidauerunt. Te autem si pauper Christi uis esse, non depauperet uitiositas, sed uoluntas. Sit tibi paupertas non tormentum, sed meritum, uirtus non cruciatus. Pretempta igitur modico uictu contentus esse. Et inter ipsas diuitias predisce pauper esse, ut sic addiscas sine diuitiis uitam ducere securam et sufficientem.“ 166 Spec. uniu. 12, 41 (P, fol. 121ra): „Secundum uitium est quod paupertas est multis occasio mentiendi, fallendi, furandi, rapiendi. Que, si tu pauper Christi uis esse, penitus debes deuitare. Et hec quidam qui modico contentus est, facile deuitare potest.“ 167 Spec. uniu. 12, 41 (P, fol. 121rb): „Pauper uero Christi prouidet, laborat, acquirit, parce uiuit et modeste et se in cunctis exibendo modestum, meretur Deo prouidente, nichil sibi de futurum.“ 168 Spec. uniu. 12, 42 (P, fol. 121rb): „Tertium uitium est quod quidam pauperes se nimis despiciunt et abiciunt tractantes se nimis uiliter et inhoneste eo scilicet quod sicut apud homines sic et apud Deum sese putant uiles et despectos esse. Vnde per contemptum et incuriam patiuntur in se plura uitia et peccata pullulare. Quod pauper Christi debet deuitare non ignorantes pauperes bonos ante diuinum conspectum esse pretiosos.“
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bedürftigen Menschen hilft. Ebenso kann die Armut stolz machen und so ein Laster werden. Wieder zeigt sich die Ambivalenz der ‚paupertas‘ in aller Deutlichkeit.169 Fünftens bringt die Armut manche Leute dazu, unverschämt und ohne tatsächliche Notlage ständig um Hilfe und Geschenke zu bitten. Denn Bitten um Hilfe ist nur unter ganz bestimmten und nahezu ausweglosen Bedingungen erlaubt und der ‚pauper Christi‘ muss solange es nur geht für sich selbst sorgen. Dabei spielt auch die Tugend des guten Schams (‚pudor bonus‘) eine wichtige Rolle. Besitzt nämlich jemand diese Tugend, kann er nicht um fremden Besitz bitten, ohne sich deswegen zu schämen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, warum Radulfus Ardens das Betteln so kritisch bewertet und geradezu ablehnt.170 Die letzten beiden Laster hängen eng zusammen und werden daher wohl auch in einem Kapitel gemeinsam behandelt. Das sechste Laster besteht darin, dass der Arme zwar nicht direkt um etwas bittet, aber ständig über sein Los klagt und jammert. Radulfus Ardens entlarvt ein solches Verhalten als eine Form der Verschlagenheit (‚callidius‘), da es den Mitmenschen die Hilfe gewissermaßen indirekt, aber dafür umso wirksamer abnötigt. Tugendhafte Armut ist dagegen mit Zufriedenheit und Dankbarkeit verbunden.171 Schließlich ist es ebenso ein Laster, seine geringen Güter, die man trotz der Armut besitzt, kleinzureden. Dahinter verbergen sich Undankbarkeit gegenüber Gott und Unaufrichtigkeit hinsichtlich des eigenen Verzichts.172 Diese insgesamt sieben Laster, die aus einer falschen bzw. schlechten Armut hervorgehen, bilden letztlich einen Leitfaden, an dem ein ganzes Bündel von ambivalenten Aspekten der ‚paupertas‘ deutlich gemacht werden kann. Wie diffizil die einzelnen Verhaltensweisen miteinander verwoben sind, zeigt sich z. B. daran, dass auf
169 Spec. uniu. 12, 43 (P, fol. 121rb): „Quartum uitium est quod quidam pauperes solent diuitibus inuidere et detrahere. Estimant quippe se per afflictionem paupertatis defecari et sanctificari, diuites per superfluitatem diuitiarum corrumpi et reprobari. Quod pauper Christi euitare animaduertens quod diuites, si nouerint diuitiis suis bene uti, possunt per eis saluari. Et pauperes, si paupertate sua non bene usi fuerint, possunt per paupertatem dampnari.“ 170 Spec. uniu. 12, 44 (P, fol. 121va): „Quintum uitium est quod quidam pauperes sunt ad petendum effrontes. […] At pauper Christi de magna necessitate uix aliquando cogatur postulare, diligens magis laborare, dare quam postulare. […] In emptione quippe que sit per pecuniam, res exterior datur sine lesione nature. In emptione uero que per preces fit, pudor ponitur, uultus rubescit et natura uiolatur. Bonus igitur pauper numquam postulet. Quod si ex necessitate cogatur postulare, postulet a digno et dignum, postulet clanculo, postulet modeste cum breui prece.“ 171 Spec. uniu. 12, 45 (P, fol. 121vaf.): „Sextum uitium est quod quidam pauperes solent esse queruli. Qui etsi non aperte petunt, tamen callidius conquerendo querunt. Enimuero qui queritur, querit, satis est conquestio questa. Qui enim queritur se esse pauperem, nudum et esurientem, non potest melius persuadere, ut sibi subueniatur. […] At pauper Christi numquam conqueritur, semper demonstret se iocundum, sufficientem et gratum, sperans non in hominis, sed in solius Dei largitate.“ 172 Spec. uniu. 12, 45 (P, fol. 121vb): „Septimum uitium est quod quidam pauperes solent bonum quod habent, diminuere aut negare. […] Eapropter Christi pauper de collatis a Deo sibi bonus, ipsi coram omnibus gratias agat.“
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451
den ersten Blick völlig gegensätzliche Laster wie Stolz und Selbstentwertung daraus erwachsen können. Diese Zusammenhänge laden erneut zu Spekulationen ein, ob hier komplementäre Denkansätze im Hintergrund stehen. Für diese These spricht, dass hier einige Aspekte genauer beleuchtet werden, die schon in den vorherigen Kapiteln komplementäre Grundstrukturen erkennen ließen. Dagegen spricht, dass die dazugehörige Terminologie völlig fehlt. Von daher zeigen die im Folgenden angeführten Beispiele eher das Potential der Gedankengänge des Radulfus auf, als dass sie im Text nachweisbare Bestimmungen wiedergeben. Insgesamt wurden aus den sieben Lastern fünf fiktive Komplementärtugenden konstruiert, da sich das erste und das zweite sowie das sechste und das siebte Laster wegen inhaltlicher Überschneidungen zusammenfassen lassen. Auch lateinische Begriffe fehlen, da sich im Text eher Andeutungen als konkrete Bezeichnungen finden.
‚uitio suo in extremam paupertatem uenire‘ / ‚occasio mentiendi, fallendi et furandi‘ Unfreiwillige Armut in Verbindung mit der Bereitschaft, sich unberechtigt fremden Besitz zu nehmen
Freiwillige Armut, die mit wenig zufrieden ist
↔
Verantwortungsvoller Reichtum, durch den die Lebensgrundlage gesichert wird
Krankhafte, übertriebene Vorsorge und Zukunftsangst
‚se nimis despicere et abicere‘ Selbstentwertung durch unreflektierte Übernahme der ‚opinio hominum‘
Zurücknahme der eigenen Bedürfnisse / Demut
↔
Gesunde Selbstliebe
Stolz / Überheblichkeit
‚diuites inuidere et detrahere‘ Stolz durch das Gefühl, von Gott durch die Armut besonders erwählt zu sein
Freude und Dankbarkeit über die Hilfe Gottes und die Distanz zur Welt
↔
Keistige Traurigkeit mit Bewusstsein der Gefahren im Diesseits
Verzweiflung und Pessimismus
‚ad petendum effrons‘ Unverschämtes Bitten und Belästigung der Mitmenschen
Angebrachtes Bitten, wenn Not herrscht
↔
Zurücknahme der eigenen Bedürfnisse, Selbstversorgung
Übertriebene Zurücknahme auch in Notsituationen
‚querulus esse‘ / ‚bonum quod habeo, diminuere aut negare‘ Durch Jammern betteln und vorhandene Güter kleinmachen
Berechtigte Klage über die Unzulänglichkeit der Welt
↔
Freude und Dankbarkeit über die Hilfe Gottes und die Distanz zur Welt
Abb. 56: Überlegungen zur Komplementarität von Armut und Reichtum.
Stolz
452
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
(3) Die letzten drei Kapitel des Traktats über die Armut dienen einerseits als Überleitung zur Behandlung des ‚amor diuitiarum‘. Zum anderen erhält die bisher mehrfach angeklungene komplementäre Struktur durch das ‚termini‘-Kapitel nochmals eine schärfere Kontur. Zunächst benennt der Autor die vier Hauptgründe, aus denen der Mensch die Armut ablehnt und Reichtümer erstrebt. Urheber dieser Ängste und Wünsche des Menschen ist der Teufel, der dem Menschen Versuchungen einflüstert. Jedoch verfügt der Christ über geeignete Gegenmittel, die auch im Einzelnen benannt werden. Der erste der vier Gründe ist die Angst vor Alter und Krankheit. Im Bewusstsein seiner eigenen Schwäche und Vergänglichkeit versucht der Mensch, aus eigener Kraft für sich vorzusorgen, obwohl er dazu eigentlich gar nicht in der Lage ist. Dieses Verhalten ist letztlich ein Ausdruck dafür, dass er keine Hoffnung auf Gott hat und sich selbst erlösen will.173 In ähnlicher Weise versucht der Mensch auch, für Zeiten des Mangels vorzusorgen und gerät dabei schnell in Versuchung, ohne triftigen Grund und viel mehr als nötig zu sammeln. Gegen diese beiden ersten Gefahren schützt eine feste Zuversicht auf die Hilfe Gottes (‚certa fiducia‘).174 Drittens fürchtet sich der Mensch vor Ablehnung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Gegen diese Angst hilft die Tugend, die im vierten Glied der Geringschätzung als ‚contempnere se contempni‘ beschrieben wird.175 Der vierte Grund ist keine Form der Angst, sondern des Begehrens. Von den Reichtümern geht nämlich eine unwiderstehliche Anziehung aus, die sie (aufgrund falscher Bewertung) als etwas Begehrenswertes erscheinen lassen. Von daher ist es gerade für leicht verführbare Menschen am besten, in einem bescheidenen und einfachen Umfeld zu leben bzw. überflüssige Reize und die Konfrontation mit Reichtümern zu vermeiden.176 Durch diese Analyse der unterschiedlichen Motivationen, die der Armut entgegenwirken, lässt sich die Liebe zum Reichtum klar als ‚uitium contrarium‘ der ‚uoluntaria paupertas‘ bestimmen.177 Nur auf dieser Grundlage ist die Festlegung der ‚termini‘ in
173 Spec. uniu. 12, 46 (P, fol. 121vb): „Impugnat autem diabolus uoluntariam in nobis paupertatem quatuor modis: Primo propter inmissionem congregandi in solarium senectutis et infirmitatis uenture.“ 174 Spec. uniu. 12, 46 (P, fol. 122ra): „Secundo impugnat diabolus in nobis uoluntariam paupertatem suggerens, ut congregemus pecuniam in famem aliquando uenturam. […] Ceterum contra hec est inexpugnabilis clipeus, firma in Deum fides et certa fiducia qui non derelinquit sperantes in se […].“ 175 Spec. uniu. 12, 46 (P, fol. 122raf.): „Tertio impugnat diabolus in nobis uoluntariam paupertatem per contemptum et abiectionem. […] Porro contra hoc clipeus est pauperi Christi contempnere se contempni. Nam quos mundus eligit, Deus contempnit, et quos mundus contempnit, Deus eligit.“ 176 Spec. uniu. 12, 46 (P, fol. 122rbf.): „Quarto impugnat diabolus in nobis uoluntaria paupertatem ostendendo et ammirari faciendo pulcritudine diuinarum, ut sic uilitatem et paupertatem nostram doleamus et ad contemptum respiciamus. […] Itaque hiis qui contemptu mundi non sunt firmi, utile est, si fugiant a conspectu diuitiarum, honorum et gloriarum, ne se in respectu eorum esse sordidos et uiles mundo aut doleant aut ammirentur.“ 177 Spec. uniu. 12, 48 (P, fol. 122va): „Vitium uoluntarie paupertati contrarium est amor diuitiarum.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
453
Kapitel 47 überhaupt erst verständlich. Auf der einen Seite ist die Armut nämlich nur solange eine Tugend, solange nicht mehr angesammelt wird, als tatsächlich zum Leben notwendig ist (‚non ultra necessaria congregare‘); auf der anderen Seite darf sich das Streben nach Bedürfnislosigkeit aber auch nicht soweit ausdehnen, dass der eigenen Natur die Lebensgrundlage entzogen wird (‚non ea que necessaria sunt, nature sue denegare‘). Lebt der Mensch in allzu großem Überfluss, läuft er Gefahr, dadurch verdorben zu werden. Das bedeutet konkret, dass er sein Einschätzungsvermögen (‚discretio‘) und damit auch seine Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung verliert.178 Ebenso muss er aber auch darauf achtgeben, nicht in existentielle Not (‚egestas‘) zu geraten. Denn durch einen Mangel an Lebensnotwendigem wird seine Natur schließlich zerstört. Diese Bestimmungen lassen sich folgendermaßen visualisieren:
‚egestate deficere‘
‚non ultra necessaria congregare‘
↔
‚non ea que necessaria sunt, nature sue denegare‘
‚superfluitate corrumpi‘
Hier fallen zwei Punkte ins Auge: Erstens wird wieder nicht konkret erläutert, wie sich das richtige Maß nun genau beziffern lässt und die ‚termini‘ erscheinen auf den ersten Blick eher vage. Allerdings dürfte aus den bisherigen Ausführungen klar geworden sein, dass die spezifische Situation und die Umstände eine entscheidende Rolle spielen. Zudem braucht nicht jeder Mensch gleich viel bzw. gleich wenig, um seine Lebensgrundlage zu sichern. Vielmehr gibt es hier große Unterschiede. Dabei merkt der Autor an, dass für manche Reiche durch Gewohnheit (‚per consuetudinem‘) lebensnotwendig geworden sind, die gewöhnlich Menschen nicht benötigen; umgekehrt haben sich einzelne besonders disziplinierte Menschen daran gewöhnt, auch auf Dinge zu verzichten, die die Mehrzahl als absolut lebensnotwendig ansehen würde.179 Hier zeigt sich erneut, wie viele Einflüsse für die Festlegung der ‚necessaria‘ bzw. des rechten Maßes der Armut berücksichtigt werden müssen. Zweitens präsentiert Radulfus Ardens keine konkreten Bezeichnungen für die gemeinten Tugenden und Laster. Stattdessen beschreibt er sie durch relativ lange negative Formulierungen, die verdeutlichen sollen, dass die jeweiligen Verhaltensweisen in jedem Fall zu meiden sind. Dabei ließen sich die beiden Tugenden auch positiv benennen. Damit ist klar, dass hier definitiv ein Komplementärtugendpaar beschrieben wird. So ließe sich nämlich auf der einen Seite eine gute Geringschät177 Spec. uniu. 12, 48 (P, fol. 122va): „Vitium uoluntarie paupertati contrarium est amor diuitiarum.“ 178 Spec. uniu. 12, 47 (P, fol. 122va): „Termini uero uoluntarie paupertatis sunt nec ultra necessaria congregare nec ea que necessaria sunt, nature sue denegare, ne uidelicet per illud corrumpamur superfluitate nec per istud deficiamus egestate. Illud enim naturam corrumpit, hoc occidit.“ 179 Spec. uniu. 12, 47 (P, fol. 122va): „Ceterum quidam diuites ipsa superflua per consuetudinem fecerunt sibi necessaria. Et econtra quidam pauperes quorundam necessariorum subtractionem per consuetudinem fecerunt sibi tolerabilem. Illorum status peior, istorum uero melior est.“
454
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
zung der weltlichen Dinge (‚bonus contemptus diuitiarum‘) anführen, der in Gestalt der ‚uoluntaria paupertas‘ alles Überflüssige von sich weist. Auf der anderen Seite stünde dann eine gute Liebe zum Reichtum (‚bonus amor diuitiarum‘). Dieser Begriff ist allerdings in hohem Maße erklärungsbedürftig. So darf sich die tugendhafte Liebe – wie in Buch 11 gezeigt – nur auf Gott und den Nächsten, jedoch nicht auf die Welt als solche richten. Allerdings gibt es einen dritten, von Radulfus Ardens nur beiläufig erwähnten Aspekt des ‚amor bonus‘, nämlich die Liebe gegenüber sich selbst. Sie könnte die Basis für eine positive Beziehung des Menschen zu den weltlichen Besitztümern bilden. Der ‚amor bonus diuitiarum‘ wäre demnach ein durch den Willen zur Selbsterhaltung und dem Ideal des ‚secundum naturam uiuere‘ getragenes Bestreben nach körperlicher und geistiger Gesundheit, die ja Grundlage für den Erwerb von Tugenden ist. Die beiden Laster bestünden demzufolge darin, durch übermäßige Enthaltsamkeit seine eigene Natur zu zerstören und im übersteigerten Streben nach Reichtum und Luxus das ‚summum bonum‘ aus dem Blick zu verlieren. Diese Überlegungen, die sich ohne größere Brüche in das Konzept des Speculum universale einfügen würden, ließen sich folgendermaßen darstellen:
‚contemptus malus diuitiarum‘
‚contemptus bonus diuitiarum‘
(‚naturam suam egestate occidere‘)
(‚paupertas uoluntaria‘)
↔
‚bonus amor diuitiarum‘
‚malus amor diuitiarum‘
(‚necessaria congregare‘)
(‚superfluitate corrumpi‘)
Warum unterlässt es Radulfus Ardens, konkretere Aussagen zu einer Komplementärtugend der ‚uoluntria paupertas‘ zu treffen, obwohl er sie letztlich schon gedanklich vorbereitet hat? Erneut können dazu nur Spekulationen angestellt werden. Möglicherweise stehen praktisch-spirituelle Motive im Hintergrund. Während eine kritische Analyse der Armut und eine differenzierte Betrachtung der Laster, die aus ihr entstehen können, durchaus sinnvoll und wenig missverständlich ist, birgt die Rede von einem ‚guten Reichtum‘ oder einer ‚guten Liebe zur Welt‘ weitaus mehr Probleme. Zum einen könnten diese beiden Begriffe leicht als Rechtfertigung einer Lebensweise verstanden werden, die sich viel zu sehr in der Sphäre des Weltlichmateriellen aufhält und bereits in der Bibel scharf verurteilt wird. Zum anderen fehlt im Speculum universale schlichtweg eine systematische Reflexion über die Eigenliebe, die sich biblisch einwandfrei begründen ließe und eigentlich als dritter Aspekt zur Gottes- und Eigenliebe hinzutreten müsste. Wie bereits gesagt, ließe sich ein positives Verhältnis zu den vergänglichen Gütern der Welt nur auf diesem Fundament in das tugendethische Konzept des Radulfus Ardens integrieren. Auf diese Fragestellungen muss am Ende der Darstellung zur ersten ‚distinctio‘ noch genauer eingegangen werden und auch die hier nur knapp geäußerten Lösungsvorschläge werden dort genauer auf ihre systematische Tragfähigkeit hin untersucht.
2.1 ‚Mundum contempnere‘
455
2.1.2.5 Die Kapitel über den ‚amor diuitiarum‘ und ihre Relevanz für die Komplementarität im Traktat über die Armut Vor der Behandlung der vier übrigen Bereiche des ‚contemptus mundi‘ ist ein kurzer Blick in die Ausführungen über sein ‚uitium contrarium‘, die Liebe zum Reichtum, vonnöten. Genau genommen zerfällt dieser Passus in drei Teile: In den Kapiteln 49–52 behandelt der Autor das Laster des Geizes (‚auaritia‘), danach porträtiert er die Habgier (‚cupiditas‘) in den Kapiteln 53 und 54. Schließlich beschäftigt er sich ausführlich mit den Übeln, die aus diesen beiden Lastern hervorgehen (c. 55–86). Soviel kann vorweggenommen werden: In den insgesamt 38 Kapiteln spielt das komplementäre Denken nur an wenigen Stellen eine Rolle. Gerade der dritte Teil hat v. a. praktisch-paränetischen Charakter, weshalb er nicht eingehender in den Blick genommen wird. Vielmehr werden nur diejenigen Stellen herausgegriffen, die Ergänzungen zu den bereits beschriebenen Gedankengängen enthalten. Da dies nicht losgelöst vom jeweiligen inhaltlichen Kontext erfolgen kann, muss der strukturelle Rahmen der Traktate über die ‚auaritia‘ und die ‚cupiditas‘ kurz skizziert werden. Dabei wird auch die schon weiter oben angeklungene Frage geklärt, wie die zahlreichen Alternativbegriffe für den ‚amor diuitiarum‘ miteinander in Verbindung stehen und inwieweit sie sich voneinander unterscheiden bzw. einander entsprechen. Wichtige Vorbemerkungen dazu finden sich in Kapitel 48. Dort wird die Liebe zum Reichtum in drei unterschiedliche ‚species‘ aufgeteilt: Die erste Art bewahrt hauptsächlich schon erworbenen Reichtum. Die zweite ist dagegen ganz auf Erwerb fremden Besitzes ausgerichtet, kann diesen aber nicht auf Dauer erhalten. Die dritte zielt schließlich sowohl auf Anhäufung neuer Reichtümer als auch auf deren Bewahrung ab. Die erste Art lässt sich eindeutig als Geiz identifizieren. Sie wird mit den Begriffen ‚auaritia‘ und ‚philargia‘ bzw. ‚philargiria‘ benannt. Die zweite Formulierung beschreibt offensichtlich die Habgier bzw. Habsucht. Dafür verwendet Radulfus Ardens die beiden Bezeichnungen ‚cupiditas‘ und ‚pleonexia‘. Die dritte ist schließlich eine Verbindung aus beiden Lastern.180 Hier bestätigt sich, dass in der Mehrzahl der Fälle ‚auaritia‘ mit Geiz und ‚cupiditas‘ mit Habgier übersetzt werden muss. Allerdings handelt es sich dabei eher um Tendenzen als um eine präzise Festlegung, sodass im Einzelfall immer genau abgewogen werden muss, was eigentlich gemeint ist. (1) Bei der Behandlung der ‚auaritia‘ folgt Radulfus Ardens einem Leitfaden von insgesamt vier Fragen.181 Dabei sind hauptsächlich die ersten beiden Fragen von
180 Spec. uniu. 12, 48 (P, fol. 122vaf.): „Huius uero tres sunt species. Nam quidam nimis ardenter amant sua: alii uero non multum captant; alii uero multum aliena capiunt, sed adepta seruare nesciunt; alii uero et aliena cupiunt et adepta auare custodiunt. Primi igitur laborant auaritia que et philargiria grece nuncupatur a philare quod est seruare et argentum. Secundi laborant cupiditate que est pleonexia grece nominatur. Tertii laborant utroque.“ 181 Spec. uniu. 12, 48 (P, fol. 122vb): „Primum igitur de auaritia considerandum est quid ipsa sit, quot eius species, quantum malum sit et quot mala ex ea oriantur.“
456
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
Bedeutung. Die dritte wird hingegen nicht konkret beantwortet und die vierte enthält keinerlei systematisch relevanten Informationen. . . . .
‚quid auaritia sit?‘ ‚quot eius species sint?‘ ‚quantum malum auaritia sit?‘ ‚quot mala ex ea oriantur?‘
(c. ) (c. .) (?) (c. )
Gleich zu Beginn definiert er den Geiz als ein unvernünftiges und maßloses Festhalten an weltlichen Gütern (‚irrationabilis et intemperata tenacitas‘). Die beiden Adjektive beschreiben dabei den Umstand, dass es fast immer möglich oder sogar geboten ist, den eigenen Besitz zu verteilen bzw. die Mitmenschen damit zu unterstützen. Dennoch ist das Zurückhalten von Gütern nicht per se schlecht. So kann es durchaus vernünftig sein, Reichtümer anzusammeln, solange man einen rechtfertigenden Grund, wie bspw. eine geplante Wallfahrt, dafür angeben kann.182 Hier bestätigt sich die These, dass durchaus eine positive Form von Reichtum denkbar ist und bei vielen Gedankengängen auch im Hintergrund steht. Damit ist keineswegs nur Geld gemeint. Tatsächlich sind auch alle sonstigen Gnadengaben (‚gratie‘) unter dem Paradigma der ‚caritas fraterna‘ als Ressourcen (‚talentum‘) anzusehen, die nicht besessen und festgehalten werden dürfen, sondern verteilt werden müssen. Nur wenn jeder sein spezifisches ‚talentum‘ einbringt, kann die Lebensgrundlage aller Menschen gesichert werden.183 Hier treten deutliche Bezugspunkte zum Traktat über das Almosen in Buch 11 zutage. Zudem verwendet der Autor an dieser Stelle eine Allegorie vom Zusammenspiel der unterschiedlichen Glieder des Kör-
182 Spec. uniu. 12, 49 (P, fol. 122vb): „Est igitur auaritia irrationabilis et intemperata tenacitas eorum que utiliter expendendi haberent locum. Dicitur autem irrationabilis ad differantiam illius que est rationabilis. Quando enim aliquis congregat et retinet diuitias rationabiliter, ut in constructionem ecclesiarum uel in iter peregrinandi Iherusalem uel in filie sue dotem, non peccat, nisi modum excedat. Vnde et adiunctum est ‘intemperataʼ, quoniam auarus et irrationabiliter retinet et intemperanter.“ 183 Spec. uniu. 12, 49 (P, fol. 122vb): „Subiunctum quoque est ‘eorum que utiliter expendendi haberent locumʼ, quoniam quando non est locus utiliter expendendi, ut in tempore grandis habundantie rationabiliter possunt reseruari. […] Itaque cum non solos debeamus impendere denarios, non tantum denariorum est auaritia, sed et aliorum que fraterna debet adinuicem impendere caritas. […] Porro quecumque bona diuina confert nobis munificentia, non ad hoc nobis confert, ut ea solis nobis reseruemus, sed ut ea indigentibus impartiamur. Vnde et diuina dispensatio gratias suas non omnes omnibus tribuit nec aliquem expertem relinquit […]. Nullus enim est qui aliquam gratiam non habeat, et nullus est qui omnes habeat. Nullusque est qui aliqua gratia non splendeat, et nullus est qui aliqua non indigeat. Itaque quam quisque habet gratiam digne curet dispensare, ut eam quam non habet, mereatur acquirere.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
457
pers, die sich in nahezu identischer Form im 99. Kapitel von Buch 11 in Zusammenhang mit der ‚concordia‘ findet.184 Um noch genauer herauszuarbeiten, welche weltlichen Güter zum Reichtum gehören, differenziert er die Bereiche, auf die sich die ‚auaritia‘ beziehen kann, weiter aus und benennt dabei ihre ‚species‘. Er führt zunächst den Geiz hinsichtlich der inneren (‚de bonis interioribus‘) und der äußeren Güter (‚de bonis exterioris‘) an.185 Diese Aufteilung orientiert sich – wie die Begriffe schon vermuten lassen – an der in der Anthropologie grundgelegten Unterscheidung vom Inneren und Äußeren Menschen. Als innere Güter werden erstens die Klugheit (‚prudentia‘), zweitens der Affekt (‚affectio‘), drittens die Verbundenheit (‚confederatio‘) und viertens die Barmherzigkeit (‚misericordia‘) genannt.186 Während das erste und das vierte Gut weitgehend selbsterklärend sind, erfordern das zweite und das dritte Gut eine kurze Erklärung: Mit ‚Affekt‘ ist hier die Liebe und damit in erster Linie die Gottes- und Nächstenliebe gemeint. Den Mangel an ‚dilectio‘ bezeichnet der Autor dabei als gravierenden Schaden an der menschlichen Natur (‚humana natura uitiata‘), da der Mensch von der Schöpfung zur liebenden Anteilnahme geschaffen ist.187 Der Begriff ‚confederatio‘ ist als Anteilnahme oder Zusammenhalt mit den Mitmenschen und Zugänglichkeit zu verstehen.188 Die ‚auaritia‘ hinsichtlich Liebe, Anteilnahme und Barmherzigkeit wird als Stumpfsinn (‚stupor‘) bezeichnet.189 Der Geiz im Bereich der äußeren Güter zeigt sich dagegen erstens in einer extremen Verschwiegenheit (‚auarus de sermone‘). Damit ist gemeint, dass man weder gute Worte (bspw. in Form von Trost) für seine Mitmenschen aufwendet, noch bereit
184 Spec. uniu. 12, 49 (P, fol. 123ra): „Sicut enim in uno corpore solus oculus uidet, sed non sibi soli, sed etiam ceteris membris. Et pes solus portat, sed non solum se, sed etiam cetera membra. Et manus utilia attrahit, sed non sibi soli, sed et ceteris membris. Sic in ecclesia quisquis accepit aliquam gratiam, non sibi soli accepit, sed aliis.“ Vgl. dazu ebd. 11, 99 (P, fol. 88vbf.): „[…] in mutua communitate, quoniam caput non sibi soli preuidet, sed omnibus membris, oculus non sibi soli uidet, sed omnibus membris, manus non sibi soli laborat, sed omnibus membris; pes non sibi soli ambulat, sed omnibus membris; et similiter in ceteris membris.“ 185 Spec. uniu. 12, 50 (P, fol. 123ra): „Auarorum autem alii sunt auari de bonis interioribus, alii de exterioribus.“ 186 Spec. uniu. 12, 50 (P, fol. 123ra): „De interioribus, ut de prudentia, de affectione, de confederatione, de misericordia.“ 187 Dabei verweist er in Spec. uniu. 12, 50 (P, fol. 123rb) auch explizit auf Buch 11: „Est igitur auarus affectione qui aliis debitam non impendit affectionem. Sunt etenim quidam homines adeo duri et inhumani, quod neminem nouerunt diligere nec in Deum nec in proximum aliqua mouentur affectione nec etiam seipsos nouerunt diligere, nisi male uel tepide. In quibus non solum uirtus, sed etiam ipsa humana natura uiciata est, sicut in priori libro huius operis demonstratum est.“ 188 Spec. uniu. 12, 50 (P, fol. 123rb): „In confederatione uero auarus est qui cum ceteris nullam habeat familiaritatem, nullam societatem, nullam concilii sui communicabilitatem, nullam in aliquo participationem.“ 189 Spec. uniu. 12, 50 (P, fol. 123va): „Hec autem tria, uidelicet esse sine affectione, sine fede, sine, misericordia, uno nomine stupor mentis dicuntur.“
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dazu ist, sie durch Kritik und Tadel auf den richtigen Weg zu bringen.190 Zweitens äußert sich diese ‚auaritia‘ in der mangelnden Bereitschaft, bedürftigen Menschen mit den eigenen Fähigkeiten in Form von Werken (‚opera‘) und Diensten (‚officia‘) zu helfen.191 Die Erwähnung der ‚opera‘ in Zusammenhang mit dem Äußeren Menschen weist dabei wiederum auf das wohl nicht mehr begonnene, aber dennoch geplante Buch 15 hin. Drittens zeigt sie sich daran, dass der materielle Besitz nicht dazu eingesetzt wird, um den Mitmenschen zu helfen.192 Da ein solchen Verhalten in einem fundamentalen Gegensatz zur Verteilungsgerechtigkeit steht, werden hier nicht zufällig Anklänge an die Tugend der ‚iustitia‘ deutlich: Wie schon im Traktat über das Almosen betont Radulfus Ardens, dass eine gerechte Verteilung der Güter im eigentlichen Sinne keine noble Geste der Wohlhaben, sondern vielmehr eine unbedingte Pflicht ist. Von daher bezeichnet er die Hilfeleistung (‚pauperi ministrare‘) auch als Rückgabe des Besitzes (‚pauperi sua reddere‘).193 Diese Aufteilung wird der Übersichtlichkeit halber in einem Schema dargestellt. Hierbei tritt hervor, dass das Bedeutungsspektrum des Begriffes ‚auaritia‘ im Speculum universale weit über die assoziative Konnotation mit Geld und rein materiellem Besitz hinausgeht. Viel größeren Schaden richtet das Zurückhalten innerer Güter an. An diesem Beispiel lässt sich exemplarisch erkennen, wie eng die praktischen Details oftmals mit den systematisch-theoretischen Bestimmungen in der allgemeinen Tugendlehre verbunden sind.
190 Spec. uniu. 12, 51 (P, fol. 123va): „Eorum uero qui auari sunt de exterioribus bonis aut sunt auari de sermone suo aut de opere uel officio suo aut de re sua. Porro auaritia sermonis uitium est taciturnitatis, quando uidelicet aliquis non uult aliis communicare bonum sermonem suum, sermonem scilicet aut correctionis aut eruditionis aut consolationis aut affabilitatis et huiusmodi.“ 191 Spec. uniu. 12, 51 (P, fol. 123va): „Auaritia uero boni operis uel officii est, quando aliquis de bono opere uel officio suo indigentibus non uult amministrare […].“ 192 Spec. uniu. 12, 51 (P, fol. 123va): „Auaritia uero rei est, quando habundans de rebus suis indigentibus contempnit subuenire. Ceterum eorum qui de rebus suis auari sunt, alii sunt auari aliis et non sibi, alii auari sunt et aliis et etiam sibi.“ 193 Spec. uniu. 12, 51 (P, fol. 123vb): „Cum enim pauperibus ministramus, sua eis reddimus. Ceterum reddere unicuique, quod suum est, iustitia est. Ergo ministrare pauperibus iustitia est potius quam helemosina.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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de prudentia de bonis interioribus
de affectione de confederatione
stupor
de misericordia auaritia de sermone de bonis exterioribus
de opere / officio de re
Abb. 57: Die Arten des Geizes.
(2) Radulfus Ardens äußert sich nicht konkret dazu, wie der Passus über die Habgier aufgegliedert ist. Jedoch lässt sich aus dem Gedankengang erschließen, dass er insgesamt drei Leitfragen beantwortet: Zunächst fragt er nach der Definition der ‚cupiditas‘ (c. 53), sodann nach ihren Arten (c. 54) und schließlich nach den Lastern bzw. Übeln, die aus ihr hervorgehen (c. 55–86). Neben der recht unübersichtlichen Struktur ist auch die Terminologie durchaus erklärungsbedürftig. So erfordert zunächst die Verwendung des Begriffes ‚concupiscentia‘ in Kapitel 53 eine genauere Erläuterung. An sich meint dieser Begriff, der meist als ‚böse Begehrlichkeit‘ übersetzt wird, den Willen zur Sünde, der letztlich mit dem Sündenfall in Verbindung steht und als Erbsünde an alle Menschen weitergegeben wurde. In welchem Zusammenhang stehen ‚concupiscentia‘ und ‚cupiditas‘? Radulfus Ardens beatwortet diese Frage, indem er mehrere Begriffe systematisch miteinander gleichsetzt. Diesbezüglich ist zunächst die Definition der Habgier aufschlussreich. Gleich zu Beginn des Abschnitts definiert er dieses Laster als ein schlechtes oder unmäßiges Verlangen nach weltlichen Gütern (‚malus uel immoderatus appetitus terrenorum‘) und bezeichnet es als ‚concupiscentia siue mala cupiditas‘.194 Daraus lässt sich ableiten, dass die ‚concupiscentia‘ ein von vorne herein negativ gewertetes Begehren des Menschen darstellt, während dies bei der ‚cupiditas‘ nicht der Fall ist und hier durchaus eine gute Form denkbar ist; Gleiches gilt offenbar für das Verlangen (‚appetitus‘). Diese Annahme bestätigt sich dadurch, dass direkt im Anschluss von einem gemäßigten, natürlichen und guten Verlangen nach weltlichen Gütern (‚moderatus, naturalis et bonus appetitus‘) die Rede ist.195 Welche positive Hal-
194 Spec. uniu. 12, 53 (P, fol. 124rb): „Concupiscentia uero siue cupiditas mala est, malus uel immoderatus terrenorum appetitus.“ 195 Spec. uniu. 12, 53 (P, fol. 124rb): „Et appetitus quidem quorundam temporalium, si sit moderatus, naturalis est et bonus. Cum uero concupiuntur non concupiscenda uel concupiscenda sine mensura, peccatum est.“
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tung sich dahinter verbirgt, wird allerdings erst im nächsten Kapitel genauer beschrieben. Festhalten lässt sich hier zunächst, dass sich die Begriffe ‚concupiscentia‘, ‚cupiditas mala‘ und ‚appetitus malus‘ systematisch gesehen entsprechen. Daraus folgt, dass sie sich daher letztlich alle als ‚Habgier‘ übersetzen lassen, wenn es um die weltlichen Güter bzw. die ‚diuitie‘ geht. Der Autor weist darauf hin, dass die böse Begehrlichkeit eigentlich der übergeordnete Begriff ist und je nachdem, worauf sie sich richtet, auch anders genannt wird, wie aus der folgenden Darstellung deutlich wird:196 diuitie
pleonexia / cupiditas
honores
ambitus
potentia
ambitio
uana gloria
philodoxia
cibi
auiditas
uoluptates
libido
concupiscentia
Abb. 58: Die unterschiedlichen Arten der Begehrlichkeit.
Diese Aufstellung ähnelt der Einteilung der Liebe zur Welt zu Beginn der ersten ‚distinctio‘ in Kapitel 20. Das ist insofern nicht verwunderlich, da es sich bei der ‚cuncupiscentia‘ letztlich um nichts anderes als eine schlechte Liebe bzw. einen schlechten Willen handelt. Allerdings fallen zwei Unterschiede auf: So führt Radulfus Ardens für Ehrsucht und Machtgier zwei unterschiedliche Begriffe an, während er diese beiden Laster in Kapitel 20 als ‚ambitio‘ bezeichnet. Neben dieser eher kosmetischen Differenz nennt er hier noch eine sechste Form der schlechten Liebe, die bisher noch nicht genannt wurde, nämlich die Essbegierde bzw. den allzu großen Appetit auf Essen (‚auiditas‘). Dieses Laster wird jedoch nicht mehr in Buch 12, sondern in Buch 14 im Kontext der Tugenden des Äußeren Menschen behandelt. Radulfus Ardens verortet die ‚concupiscentia‘ hier also im systematischen Rahmen einer Tugendlehre und greift im Folgenden die ‚concupiscentia in diuitiis‘ alias ‚cupiditas‘ heraus, um sie genauer zu untersuchen. Dazu teilt er sie zunächst in vier Arten ein. Wieder hat er dafür keine griffigen Bezeichnungen parat, sondern umschreibt die gemeinten Verhaltensweisen. Die erste Art der ‚cupiditas‘ ist dadurch gekennzeichnet, dass man erlaubte (‚licita‘) und sogar notwendige Dinge (‚necessaria‘) auf die falsche Art und Weise begehrt. Untrüg-
196 Vgl. als Textgrundlage dazu Spec. uniu. 12, 53 (P, fol. 124rb): „In diuitiis enim grece pleonexia, latine uero cupiditas nuncupatur, in honoribus ambitus, in potentiis ambitio, in uana gloria philodoxia, in cibis auiditas, in uoluptatibus generaliter libido.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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liche Zeichen dafür sind die Sorge (‚sollicitudo‘) und ein übertriebenes Begehren (‚nimia cupiditas‘). Problematisch ist in diesem Fall also nicht der Gegenstand, sondern die Motivation. Hier nimmt er auf die Unterscheidung von sachdienlicher Vorsorge (‚prouidentia‘) und übertriebener Besorgtheit Bezug. Demzufolge steht der aktiv lebende Mensch immer im Zwiespalt zwischen weltlichen und himmlischen Gütern und darf die letztgenannten auf keinen Fall aus dem Blick verlieren.197 Die zweite Art ist zwar auf die richtigen Güter ausgerichtet und erstrebt sie auch mit der richtigen Motivation, veranlasst ihren Träger jedoch dazu, mehr als das anzusammeln, was für ihn selbst unmittelbar notwendig wäre. Radulfus Ardens bewertet diese Verhaltensweise nicht sofort, sondern unterscheidet hier genauer: In bestimmten Fällen ist das Aufbewahren von Gütern zulässig. Dabei muss jedoch das Interesse im Vordergrund stehen, mit dieser Reserve für eine Zeit des Mangels vorzusorgen und das Ersparte dann an Bedürftige weiterzugeben, die selbst nicht vorsorgen können.198 Diese Variante bezeichnet er unter der Voraussetzung als gut, dass man die Armen nicht unterschiedlich behandelt und einzelne Personen vorzieht. Ist die Liebe zum Reichtum aber Selbstzweck und wird nur zur Befriedigung der eigenen ‚cupiditas‘ gesammelt, handelt es sich dabei um ein Laster.199 Wieder gibt es hier ein Hinweis auf eine positive Form des Reichtums und damit eine mögliche Kandidatin für die Komplementärtugend der ‚uoluntaria paupertas‘, worauf am Ende des Kapitels noch eingegangen wird. Die dritte Art der ‚cupiditas‘ findet sich bei Armen, die aber mit ihrer Lage unzufrieden sind ihre Mitmenschen um ihren Besitz beneiden.200 Diese Haltung ist bereits aus den mit der Armut verbundenen Lastern bekannt. Die vierte Art verurteilt Radulfus Ardens ganz besonders, da es sich dabei
197 Spec. uniu. 12, 54 (P, fol. 124rbf.): „Cupiditatis uero quatuor sunt species. Prima est eorum qui et si licita et necessaria tantum appetant, tamen ea cum nimia cupiditate querunt et sollicitudine. Cum enim omnis uir actiuus sibi suisque habeat prouidere, cura prouidentie illi conceditur, sed sollicitudo prohibetur. […] Enimuero uir actiuus cum tanta equilibratione uitam suam debet temperare, ut nec sollicitudinem spiritualium propter temporalia minuat nec curam temporalium propter spiritualia derelinquat.“ 198 Spec. uniu. 12, 54 (P, fol. 124vb): „Secunda uero species cupiditatis est eorum qui congregant licita, sed plusquam necessaria. Qui enim de proprio iure superhabundanter cupit congregare, licita quidem cupit, sed plusquam necesse sit. Licita quidem sunt ei non ad coadceruandum, sed ad erogandum.“ 199 Spec. uniu. 12, 54 (P, fol. 124vb): „Sed talium alia et uaria est intentio. Alii enim ad hoc congregare cupiunt, ut in tempore famis inde subueniant egenis. Alii uero cupiunt congregare propter ipsarum amorem diuitiarum. Porro qui propter familiarium pauperumque prouidentiam temporalia bona congregant, bene faciunt. Ita tamen si pauperibus quos inueniunt, benefacere non differunt. […] Qui uero propter amorem diuitiarum licita superflue congregant, uitio cupiditatis laborant.“ 200 Spec. uniu. 12, 54 (P, fol. 125ra): „Tertia uero species cupiditatis est pauperum qui necessaria quidem, sed illicita cupiunt. Qui cum non habeant propria, cupiunt aliena.“
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um eine völlig ungehemmte Habgier handelt, die sogar dann immer mehr begehrt, wenn sie längst schon alles Notwendige hat.201 Offensichtlich stellt der Autor die ‚species‘ der Habgier in einer Reihenfolge dar, die dem Grad ihrer Lasterhaftigkeit entspricht. So erklärt sich auch, dass er die letzten beiden Arten klar als negativ wertet, während er bei der ersten mildere Formulierungen wählt und bei der zweiten sogar eine gute Variante anführt. Auch diese Untergliederung wird der Übersichtlichkeit halber mittels eines Schemas veranschaulicht: malus
bonus
ii qui licita et necessaria cum nimia cupiditate et sollicitudine congregant
ii qui licita, sed plusquam necessaria congregant cupiditas (concupiscentia) pauperi qui necessaria, sed illicita cupiunt
ii qui congregant, ut in tempore famis egenis subueniant ii qui propter amorem diuitiarum congragant
ii qui habent necessaria cupiunt habere aliena Abb. 59: Die Arten der Begehrlichkeit.
Hier wird gut sichtbar, dass es eine gute Art der ‚cupiditas‘ gibt und woraus sie hervorgeht. Man könnte durchaus von einer ‚bona cupiditas‘, also einem guten Begehren nach weltlichen Gütern sprechen, das als Komplementärtugend zur Armut gelten kann. Das entsprechende Komplementärtugendpaar könnte so aussehen:
‚egestate deficere‘
‚non ultra necessaria congregare‘
↔
‚ii qui congregant, ut in tempore famis egenis subueniant‘
‚propter amorem diuitiarum congragare‘
(3) Neben der soeben herausgegriffenen positiven Äußerung wurde deutlich, dass die meisten Verhaltensweisen aus dem Komplex ‚auaritia‘ – ‚cupiditas‘ schwerwiegende Laster darstellen und immensen Schaden anrichten. Von daher beschäftigt sich Radulfus Ardens ausführlich in insgesamt 32 Kapiteln mit den Übeln (‚mala‘), die daraus hervorgehen. Die hier besprochenen Übel folgen keiner systematischen Aufgliederung, was allein schon daran deutlich wird, dass die Habgier in Kapitel 55
201 Spec. uniu. 12, 54 (P, fol. 125rb): „Quarta uero species cupiditatis est illorum qui cum habeant necessaria, cupiunt quoquomodo habere aliena. In quibus est cupiditas infinita.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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als Quelle fast aller Übel und Laster bezeichnet wird.202 Es handelt sich also um Themen, die Radulfus Ardens eigens herausgreift und wohl wegen ihrer zeitbedingten Aktualität bespricht. Eine summarische Auflistung findet sich in Kapitel 55.203 Dort werden Unersättlichkeit (‚insatiabilitas‘), Unruhe (‚inquietudo‘), Geringschätzung Gottes und der eigenen Seele (‚contemptus dei et anime sue‘), Lüge (‚mendacium‘) und Meineid (‚periurium‘), List (‚dolus‘), Betrug (‚fraus‘), Diebstahl (‚furtum‘), Raub (‚latrocinium‘), Plünderung (‚rapina‘), unrechtmäßiges Eintreiben von Abgaben (‚exactio‘), unrechtmäßige Fronarbeit (‚angaria‘), Wucherzins (‚usura‘), Ämterkauf (‚simonia‘), gewaltsame Aneignung von Ämtern (‚pestis choretica‘) sowie Aufruhr (‚rixa‘), Krieg (‚bellum‘) und Mord (‚cedes‘) genannt. Die letzten drei Übel stellt er nicht mehr dar, da er sie für selbsterklärend hält204 und im Laufe der Darstellung führ er in Kapitel 86 noch die Klüngelei unter Verwandten (‚pestis consanguinistarum‘) hinzu. Die zeitbedingten Hintergründe dieser Auswahl wären sicherlich ein lohnenswerter Forschungsgegenstand. Da die Ausführungen aber letztlich nichts Relevantes über die Bedeutung der Komplementarität enthalten, genügt eine kurze Erwähnung der verschiedenen Übel und der Angabe der Kapitel, in denen sie behandelt werden. Daran wird sichtbar, dass der Ämterkauf und der Wucherzins besonders ausführlich behandelt werden. uitia que ex cupiditate et auarita oriuntur insatiabilitas (c. )
fraus (c. )
angaria (c. )
inquietudo (c. )
furtum (c. )
usura (c. -)
contemptus anime sue et dei (c. ) latrocinium (c. ) simonia (c. -) mendacium et periurium (c. )
rapina (c. )
pestis choretica (c. )
dolus (c. )
exactio (c. )
pestis consanguinistarum (c. )
2.1.2.6 Die Suche nach Komplementärtugenden der ‚uoluntria paupertas‘ und ihre Ergebnisse Zum Abschluss der Untersuchungen zum ‚contemptus diuitiarum‘ ist zu fragen, ob sich die zu Beginn geäußerten Vermutungen über mögliche Komplementärtugenden zur ‚uoluntaria paupertas‘ nun tatsächlich bestätigt haben oder nicht. Wie an den bis202 Spec. uniu. 12, 55 (P, fol. 125va): „Ex cupiditate et auaritia uitia generantur plurima, immo ferme uniuersa.“ 203 Spec. uniu. 12, 55 (P, fol. 125vb): „Cupiditas igitur, nisi refrenetur, parit insatiabilitatem, inquietudinem, contemptum anime sue et Dei, mendacium, periurium, dolum, fraudem, furtum, latrocinium, rapinam, exactionem, angariam, usuram, symoniam, choreticham pestem, rixam, bellum, cedem.“ 204 Spec. uniu. 12, 86 (P, fol. 130va): „Et hec quidem de uitiis et malis qui ex cupiditate nascuntur, diximus. De rixa uero, cede et bello et huiusmodi, quoniam aperta sunt, scribere supersedemus.“
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herigen Ausführungen ersichtlich ist, finden sich gleich an mehreren Stellen Äußerungen zu verschiedenen lasterhaften Formen der Armut. Daneben werden auch immer wieder Hinweise darauf erkennbar, dass die Armut ein Korrektiv benötigt und dass sie nur innerhalb bestimmter Grenzen als Tugend gelten kann. Dabei kristallisieren sich in erster Linie zwei Bereiche heraus, die letztlich mit den beiden Aspekten des ‚amor diuitiarum‘, nämlich der ‚auaritia‘ und der ‚cupiditas‘, zusammenhängen: Die erste zielt auf das Bewahren bereits vorhandener Güter ab; sie ist dann als gut zu werten, wenn sie durch vernunftbegründete Vorsorge und Bereitschaft zum ‚ministerium‘ gegenüber armen und bedürftigen Personen motiviert ist. Die zweite ist auf den Erwerb noch nicht vorhandener Güter ausgerichtet; sie ist unter der Bedingung gut, dass man sich auf die Absicherung einer soliden Lebensgrundlage für sich oder die Mitmenschen beschränkt und dabei das rechte Maß einhält. Gerade der zweite Aspekt steht in einem engen Konnex zum stoischen Ideal des ‚secundum naturam uiuere‘. Damit kann die These, dass eine Komplementärtugend der Armut nicht nur theoretisch denkbar, sondern auch im Text erkennbar ist, zunächst einmal grundsätzlich als bestätigt gelten. Bei der inhaltlichen Auswertung und Interpretation dieser oft schwer verständlichen und vagen Hinweise sieht sich der Leser jedoch zwei gravierenden Problemen ausgesetzt, deren Lösung sich alles andere als einfach gestaltet. Das erste Problem ist ein terminologisches. So benennt der Autor die von ihm offensichtlich angedachten komplementären Gegenstücke der ‚uoluntaria paupertas‘ an keiner Stelle mit einem konkreten Begriff. Am ehesten ist hier noch auf die in Kapitel 47 bei der Bestimmung der ‚termini‘ erwähnte Haltung des ‚non nature sue necessaria denegare‘ zu verweisen. Diese Tugend ist systematisch gesehen wohl mit dem ‚appetitus naturalis‘ aus Kapitel 53 weitgehend identisch, da es darum geht, die existenziellen Bedürfnisse der menschlichen Natur zu befriedigen. Ansonsten wird in Kapitel 54 beschrieben, unter welchen Voraussetzungen es erlaubt ist, mehr als das unmittelbar zum Leben Notwendige zu sammeln; eine griffige Formulierung für die gemeinte Haltung lässt sich jedoch nicht ausmachen. Damit ist allein schon begrifflich unklar, welche Gedankengänge hier im Hintergrund stehen. Das zweite und entscheidende Problem ist wiederum ein systematisches. Denn dass die Namen der gemeinten Tugenden fehlen, ist genau genommen nur eine sprachliche und damit äußerliche Schwierigkeit. So könnte man entweder mithilfe längerer Formulierungen klarmachen, was die jeweiligen Verhaltensweisen ausmacht oder Hilfsbegriffe wie gute Liebe zum Reichtum (‚bonus amor diuitiarum‘), gutes Bewahren von Reichtum (‚bona auaritia‘) oder gutes Streben nach Reichtum (‚bona cupiditas‘) einführen, die zwar missverständlich sind, aber dafür systematische Kohärenz gewährleisten. Dass beide Verfahren im Speculum universale sehr häufig angewendet werden, lässt die Frage umso drängender erscheinen, warum dies ausgerechnet hier unterbleibt. Der Grund dafür ist eine schwerwiegende systematische Problematik, auf die Radulfus Ardens immer dann stößt, wenn er sich über einen problematischen Aspekt der ‚paupertas‘ einem möglichen Korrektiv anzunähern versucht. Diese bekommt er letztlich den ganzen Traktat über nicht in den Griff.
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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Denn dadurch, dass er den ‚amor diuitiarum‘ per se als lasterhaft wertet, entzieht er sich zwangsläufig die Möglichkeit, daraus Tugenden abzuleiten, die er den ‚species‘ der Armut als komplementäre Gegenpole zuweisen könnte. Diese Schwierigkeit lässt sich jedoch nicht nur dadurch lösen, dass man eine gute Art der Liebe zum Reichtum postuliert. Wie aus Buch 11 bereits bekannt ist, gibt es nämlich nur drei (bzw. vier) gute Arten der Liebe. So nennt er in Kapitel 11 ausgehend von einem Zitat aus Augustins De doctrina christiana die Liebe zu Gott (‚caritas‘), die Nächstenliebe (‚dilectio fraterna‘) und die Liebe gegenüber sich selbst und gegenüber seinem eigenen Körper (‚dilectio sui et corporis sui‘).205 Betrachtet man diese biblisch fundierte Aufteilung, wird sofort klar, vor welchem Problem Radulfus Ardens stand: Da auch die Selbstliebe in erster Linie auf die eigene Seele bzw. das Seelenheil ausgerichtet ist und den Körper dabei nur insofern berücksichtigt, dass er die Gesundheit der Seele gewährleistet, lässt sich eine tugendhafte Liebe zur Welt oder zum Reichtum in diese Aufgliederung auf den ersten Blick kaum integrieren. In diesem Bewusstsein lässt der Autor gewissermaßen eine systematische Lücke und beschreibt die nichtsdestotrotz notwendigen amativen Gegenpole der ‚paupertas‘ in Form von alltagstauglichen Ratschlägen und negativen Formulierungen. Dadurch kommt der uneinheitliche Charakter der Ausführungen zustande: Die Untergliederung der Armut und ihre kritische Analyse überzeugen im Einzelnen, der übergeordnete systematische Rahmen fehlt jedoch. Welchen Raum eröffnet die Affektlehre des Radulfus Ardens, um diesem Problem beizukommen? Ein wichtiger Ansatzpunkt ist zunächst die Liebe zu sich selbst und seinem Körper (‚dilectio sui et corporis sui‘). Sie wird in Buch 11 nur kurz an der eben angeführten Stelle erwähnt und nicht genauer beschrieben.206 Dies begründet der Autor damit, dass jeder Mensch sich ohnehin selbst liebt und daher keine Vorschriften (‚precepta‘) dazu notwendig sind. Dass diese Aussage im Grunde genommen falsch ist, zeigt sich am Beispiel der Armut paradigmatisch: Verwandelt sich der ‚contemptus mundi‘ nämlich in eine solche Ablehnung der Welt, dass der eigene Körper verächtlich erscheint und durch Mangel Schaden nimmt, wird auch
205 Diese Drei- bzw. Vierteilung entnimmt Radulfus Ardens in Spec. uniu. 11, 11 (P. fol. 65rb) aus AUG., Doctr. chr. 1, 22 (p. 42): „Quis autem sit ordo caritatis, ostendit Augustinus dicens in libro De doctrina Christiana: Quattuor diligenda sunt, unum quod supra nos est Deus, alterum quod nos sumus, tertium quod iuxta nos est scilicet proximus, quartum quod infra nos est scilicet nostrum corpus. De secundo et quarto nulla precepta erant danda, ut scilicet diligeremus nos uel corpus nostrum. Precipitur autem diligi Deus et proximus; ut autem quisque se diligat precepto non est opus.“ 206 So wird in Kapitel 11 lediglich die Frage behandelt, ob man den eigenen Körper für das Seelenheil des Nächsten opfern soll, ohne dass dabei klar wird, was der Begriff ‚dilectio sui‘ überhaupt genau meint. Auch in Kapitel 4, das die beiden Regungen (‚motus‘) der Liebe, nämlich die Gottesund Nächstenliebe, benennt und damit die Grundlage für die weitere Entfaltung der ‚filie‘ der Liebe schafft, kommt die Liebe gegenüber sich selbst nicht vor (vgl. dazu auch die Punkte 2.1.1 und 2.1.2 im zweiten Teil der Arbeit).
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die Seele in Mitleidenschaft gezogen. Damit ist der Aspekt der Selbstliebe, der sich nicht nur auf die Seele, sondern auch auf den eigenen Körper richtet, durchaus als heilsrelevant zu betrachten. Daraus folgt, dass in diesem Bereich sehr wohl ein ‚preceptum‘ nötig wäre, das dazu aufruft, den eigenen Körper gesund zu halten um das eigene Seelenheil nicht zu gefährden. Nichts anderes meint ja letztlich der ‚terminus‘ im 47. Kapitel von Buch 12, der dazu aufruft, dem Körper nicht das Notwendige zu verweigern. Ähnlich wie bei der Entkoppelung der Armut als Tugend von der äußerlich sichtbaren Armut wäre es hier notwendig gewesen, das natürliche Streben nach Gütern von der lasterhaften Liebe zum Reichtum zu trennen. Entscheidend ist in beiden Fällen nämlich die Motivation: Ebenso wie ein äußerlich reicher Mensch innerlich arm sein kann, so kann auch derjenige, der weltliche Güter zum Lebensunterhalt sammelt ein aufrichtiger ‚contemptor mundi‘ sein. Diese Zusammenhänge ließen sich so abbilden: contemptus sui et sui corporis
contemptus mundi
contemptus necessariorum
nature sue necessaria negare
↔
dilectio sui et sui corporis
amor mundi
contemptus diuitiarum
↔
moderatus, bonus et naturalis appetitus terrenorum
malus et immoderatus appetitus terrenorum
uoluntaria paupertas
↔
nature sue necessaria prebere
ultra necessaria congregare
Abb. 60: Überlegungen zur Komplementarität von Geringschätzung seiner selbst und Selbstliebe.
Während die Komplementärtugend des ersten Aspekts aus der tugendhaften Liebe gegenüber sich selbst erwächst, entsteht die des zweiten aus der Nächstenliebe. Diese Tugend ist darauf ausgerichtet, sinnvoll vorzusorgen und das Angesparte je nach Lage gerecht zu verteilen:
contemptus proximi
contemptus mundi
contemptus necessariorum proximi
contemptus diuitiarum / uoluntaria paupertas
↔
dilectio fraterna
amor mundi
↔
plusquam necessaria congregant, ut egenis subueniant
plusquam necessaria congregant propter amorem duiutiarum
Abb. 61: Überlegungen zur Komplementarität von Geringschätzung der Welt und Nächstenliebe.
2.1 ‚Mundum contempnere‘
467
Wie er selbst andeutet, ist der Übergang zwischen beiden Aspekten fließend, da sich beide sowohl auf den Nächsten als auch auf die eigene Person richten können und beide auch in Verbindung miteinander vorkommen; ein ähnliches Verhältnis besteht daher auch zwischen ‚auaritia‘ und ‚cupiditas‘. In jedem Fall konnte anhand dieser Überlegungen gezeigt werden, dass die tugendethische Konzeption des Speculum universale durchaus eine systematisch stringente Bestimmung mehrerer Komplementärtugenden zu verschiedenen Aspekten der ‚paupertas‘ erlauben würde; Radulfus Ardens führt sie jedoch nicht durch. Ob dies einem Zeitmangel oder schlichtweg der fehlenden Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den im hohen Maße erklärungsbedürftigen amativen Komplementärtugenden geschuldet ist, spielt letztlich kaum eine Rolle. Wieder wird der unabgeschlossene und teilweise inkonsequente Charakter des Gedankenganges sichtbar, der im scharfen Kontrast zum systematischen Potential des Ansatzes steht.
2.1.3 Das Komplementärtugendpaar ‚uoluntaria uilitas‘ – ‚amor honoris spiritualis‘ Der Passus über den ‚contemptus honorum‘ fällt mit vier Kapiteln (c. 87–90) weit kürzer aus als der über den ‚contemptus diuitiarum‘. Dies ist jedoch nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden Traktaten. Denn erstens lesen sich die Ausführungen in weiten Teilen wie ein Spiegel für kirchliche Amtsträger und sind damit thematisch deutlich fokussierter als die praktischen Hinweise im Bereich der Armut. Dies liegt daran, dass Radulfus Ardens die beiden an sich interpretationsoffenen Begriffe ‚honores‘ und ‚dignitates‘ in seiner Darstellung nahezu ausschließlich auf den kirchlichen Bereich bezieht und sich bspw. zu rein politischen Ehrenstellungen fast überhaupt nicht äußert. Zum anderen weist er der freiwilligen Niedrigkeit (‚uoluntaria uilitas‘) eine konkrete Komplementärtugend zu und belässt es hier nicht nur bei vagen Bemerkungen. Damit ist der Abschnitt vom Gedankengang her übersichtlicher als der vorherige. Allerdings ist die Gliederung auch hier stellenweise unklar, wie sich am Abgleich der anfangs gestellten Leitfragen mit den tatsächlich im Traktat behandelten Themen zeigt. So formuliert der Autor in Kapitel 87 zunächst die folgenden fünf Leitfragen:207
207 Spec. uniu. 12, 87 (P, fol. 130vaf.): „De contemptu uero honorum et dignitatum qui amor uilitatis secularis potest dici, loquuturis quinque consideranda sunt, uidelicet quot sint species honorum, qui honores sint contempnendi uel appetendi et quare, que uirtus sit collateralis amoris uilitatis secularis et quod uitium sit ei contrarium.“
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. . . . .
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‚quot sint species honorum?‘ ‚qui honores sint contempnendi uel appetendi?‘ ‚quare honores sint contempnendi uel appetendi?‘ ‚que uirtus sit collateralis amoris uilitatis secularis?‘ ‚quod uitium sit ei contrarium?‘
) (c. 88)
Dabei fällt zunächst auf der rein begrifflichen Ebene ins Auge, dass die Liebe zur weltlichen Niedrigkeit (‚amor uilitatis secularis‘) nichts anderes als eine positive Alternativbezeichnung für den negativen Begriff des ‚contemptus honorum‘ ist. Dabei wird wiederum deutlich, wie eng der dritte Affekt systematisch mit den beiden Grundaffekten Liebe und Hass zusammenhängt. Als ein weiteres Synonym kann übrigens der zu Beginn von Buch 12 verwendete Ausdruck ‚uoluntaria uilitas‘ gelten. Abgesehen davon ist jedoch die Tatsache ungewöhnlich, dass alle fünf Leitfragen in einem einzigen, dafür aber sehr langen Kapitel (c. 88) beantwortet werden. Dieses Vorgehen führt dazu, dass es sich nicht ganz einfach gestaltet, die einzelnen Sinnabschnitte genau voneinander zu trennen und dem Gedankengang zu folgen. Zudem repräsentieren die fünf Fragen die tatsächlich behandelten Inhalte nur unvollständig, da noch zwei Kapitel folgen, in denen zuvor nicht angekündigte Themen behandelt werden. So beschäftigt sich Radulfus Ardens in Kapitel 89 mit der Frage, unter welchen Bedingungen weltliche Ehrenstellungen und Würden übernommen werden dürfen. Diese Überlegungen sind von großer Bedeutung, da sie in unmittelbaren Zusammenhang mit der Komplementärtugend der ‚uoluntaria uilitas‘ stehen. In Kapitel 90 führt er schließlich – ähnlich wie im vorherigen Traktat – eine ganze Fülle von Übeln bzw. Lastern an, die aus dem ‚amor honorum‘ hervorgehen. Ein Teil davon wurde bereits im Kontext von ‚auaritia‘ und ‚cupiditas‘ beschrieben, sodass der Autor sie hier nur nennt, aber nicht mehr auf Einzelheiten zu sprechen kommt.208 Die Untersuchung des Textabschnitts konzentriert sich im Folgenden in erster Linie auf zwei Punkte: Erstens stehen die genaue Bedeutung der Begriffe ‚honores‘ und ‚dignitates‘ sowie ihre ‚species‘ im Fokus. Zweitens wird die in Kapitel 88 genannte Komplementärtugend genauer in den Blick genommen, da sich an diesem Beispiel sehr gut zeigen lässt, wie Radulfus Ardens bei der Suche nach passenden Komplementärtugenden vorgeht bzw. welcher Gedankenmodelle er sich dabei bedient.
208 Neben den bereits erwähnten Übeln ‚insatiabilitas‘, ‚inquietudo‘, ‚simonia‘, ‚pestis choretica‘, ‚bellum‘ und ‚strages‘ führt er hier noch elf weitere an, nämlich Ungeduld (‚inpatientia‘), Gedankenlosigkeit (‚inconsideratio‘), Neid (‚inuidia‘), Geiz und Habgier (‚auaritia et cupiditas‘), Ausfälligkeit (‚prodigalitas‘), Heuchelei (‚ypocrisis‘), offene Bosheit (‚aperta malitia‘), Giftmischerei (‚ueneficium‘), Mord (‚homicidium‘), Verrat (‚proditio‘) sowie die Verwüstung des Landes (‚uastatio terrarum‘). Vgl. dazu Spec. uniu. 12, 90 (P, fol. 132vbf.): „Oriuntur autem ex ambitione honorum uitia fere uniuersa: insatiabilitas, inconsideratio, inquietudo, inpatientia, inuidia, cupiditas, auaritia, prodigalitas, symonia, pestis corithica, ypocrisis, aperta malitia, ueneficium, homicidium, proditio, bellum, strages hominum, uastatio terrarum.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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2.1.3.1 Die ‚species‘ der Ehre und ihre ethische Bewertung Da Radulfus Ardens den ‚contemptus honorum‘ bisher noch nicht definiert hat, wird erst aus der Beschreibung der unterschiedlichen Bedeutungsaspekte des Begriffs ‚honores‘ klar, was damit eigentlich gemeint ist. Die dreigliedrige Aufteilung in weltliche bzw. vergängliche (‚honores temporales‘), geistige (‚honores spirituales‘) und himmlische Ehren (‚honores celestes‘) folgt hauptsächlich einer heilsgeschichtlichen Perspektive.209 Die vergänglichen Ehren sind überhaupt keine wirklichen Ehren, sondern nur deren äußere Zeichen (‚signa‘), weshalb sie an sich nichts Erstrebenswertes darstellen. Vielmehr muss man sie meiden, da sie als reine Äußerlichkeiten letztlich nicht nur überflüssig sind, sondern auch durch den Anschein des Bedeutungsvollen von den tatsächlich heilsrelevanten Dingen ablenken. Als konkrete Beispiele führt er die ‚dignitates‘ an, die mit der herausgehobenen Stellung eines weltlichen Fürsten, Bischofs oder Priesters verbunden sind. Diese äußerlichen Ehrenzeichen sind zunächst nicht per se als schlecht zu werten, da sie im Idealfall nur bezeugen, dass die entsprechende Person tatsächlich ehrwürdig (‚honorabilis‘) ist; das Problem entsteht jedoch durch das weit verbreitete Missverständnis, dass sie die Ehrwürdigkeit nicht nur symbolisieren, sondern auch bewirken.210 Wirkliche Ehren sind dagegen diejenigen ‚dignitates‘, die mit dem Besitz von Tugenden und den daraus hervorgehenden guten Werken verbunden sind. Radulfus Ardens bezeichnet sie als geistige bzw. innere Würden (‚honores sprituales‘) und betont ihren verdienstvollen Charakter. Nur durch sie ist der Mensch dazu in der Lage, sich selbst zu beherrschen und nur unter dieser Voraussetzung darf er andere Menschen unterweisen oder anleiten.211 Die himmlischen Ehren sind zwar von Gott verheißen, bleiben aber dem jenseitigen Leben vorbehalten. Konkret sind damit Gemeinschaft mit den Engeln, die individuelle Rechtfertigung und die Richtergewalt über gute und schlechte Menschen gemeint. In diesem Stadium wird die diesseitige Diskrepanz zwischen tatsächlicher Ehrwürdigkeit und äußeren Ehrenzeichen vollkommen aufgehoben, sodass die ‚honores celestes‘ auch als Belohnungen (‚premia‘) für ein tugendhaftes Leben gelten können.212
209 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 130vb): „Honorum igitur alii sunt temporales, alii spirituales, alii celestes.“ 210 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 130vb): „Et primi quidem sunt tantum signa honorum. […] Primi uero honores sine secundis non appetendi, sed fugiendi sunt. […] Temporales igitur honores sunt, ut dignitas imperii, pontificii, sacerdocii et huiusmodi. […] Itaque temporales honores ostendunt hominem esse honorabilem, non faciunt.“ 211 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 130vb): „Secundi uero sunt et merita honorum et honores. […] Secundi uero sine primis plurium appetendi sunt. […] Spirituales uero honores sunt, ut dignitates fidei, spei, caritatis ceterarumque uirtutum et operum earum. […] Spirituales uero honores hominem honorabilem faciunt et sic sepe non ostendunt.“ 212 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 130vb): „Tertii uero et premia honorum et honores. […] Tertii uero super omnia desiderandi et appetendi sunt. […] Celestes uero honores sunt associari angelis Dei, inter filios Dei reputari, super celestes sedes residere et iudicandi malos potestatem obtinere et hui-
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Hier ist zunächst einmal auf die Definition der beiden Begriffe ‚temporalis‘ und ‚spiritualis‘ im Kontext der ‚honores‘ hinzuweisen. Sie kommen im Speculum universale immer wieder vor und dienen oftmals zur systematischen Unterscheidung von Tugenden und Lastern, ohne dass sie zuvor klar definiert wurden. An den eben beschriebenen Bestimmungen wird deutlich, dass sie gewissermaßen zwei Sphären beschreiben, die aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit in Konkurrenz zueinanderstehen. Dieser Gegensatz ist für den Menschen insofern von großer Bedeutung, da er zwar Zeit seines diesseitigen Lebens in der Sphäre des Vergänglich-Weltlichen verhaftet bleibt, sich aber trotzdem so weit wie möglich daraus lösen muss, um geistige Güter – also die Tugenden – zu erwerben. Sodann kann man erkennen, dass Radulfus Ardens die weltlichen Ehren von ihren praktischen Auswirkungen her letztlich ablehnt und als etwas Negatives betrachtet, obwohl sie per se keine ethische Wertigkeit haben. Diese Ansicht bekräftigt er durch zwei Vorschriften, von denen sich die eine auf lasterhafte und die andere auf tugendhafte Menschen bezieht: So darf auf der einen Seite niemand weltliche Ehren anstreben, dem es an geistigen Ehren mangelt, da er damit die von Gott vorgeschriebene Übereinstimmung von innerem Zustand und äußeren Zeichen zerstört, seine eigenen Laster öffentlich präsentiert, sich damit lächerlich macht und in letzter Konsequenz zu Fall kommt bzw. von Gott verworfen wird.213 Auf der anderen Seite benötigt niemand ‚honores temporales‘, der über geistige Ehren verfügt; durch diese würde er nämlich nichts hinzugewinnen, sondern wäre vielmehr einer ganze Reihe von Gefahren ausgesetzt: So sagen die äußeren Ehren realiter nichts über den tatsächlichen Besitz von Tugenden aus, sondern verzerren sie sogar eher, da auch schlechte Menschen sie innehaben. Sie beladen den Geist und hindern ihn am Aufstieg zu Gott, da man als Autoritätsperson auch noch die Verfehlungen der Mitmenschen im Auge haben muss und eventuell dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Zudem können sie zur Verdammnis führen, da man gänzlich im Weltlichen verhaftet bleibt und sich so nicht mehr um die himmlischen Güter kümmert. Schließlich verweist Radulfus Ardens noch auf das Beispiel der Heiligen und Jesu selbst, die weltliche Ehren nach dem Zeugnis des Neuen Testaments stets vehement abgelehnt haben.214 Die ‚exempla‘, die er anschließend zur didaktischen Veranschaulichung seiner Gedankengänge anführt, leiten unmittelbar zur Komplementärtugend der ‚uoluntaria uilitas‘ über. usmodi alia. Que solis celestibus ciuibus sunt manifesta. […] Celestes uero honores esse honorabilem faciunt et ostendunt.“ 213 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 130vb): „Itaque illi qui spiritualibus honoribus uacui sunt, exteriores honores non appetere, sed penitus fugere debent et hoc propter quatuor causas: Ne scilicet contra mandatum Dei hoc faciant, ne feditatem suam publicent, ne ridiculum omnibus fiant, ne se cum multis precipitent.“ 214 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 131ra): „Illi uero qui interioribus fulgent honoribus, honores non debent appetere exteriores propter sex causas: quia tam bonorum quam malorum communes sunt, quia mentem honerant, quia impediunt, quia periculum faciunt, quia dampnificant, quia exemplo preceptoque Domini multorumque sanctorum precipiuntur non appeti.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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2.1.3.2 Die Ambivalenz des ‚amor uilitatis secularis‘ als Ausgangspunkt für die Bestimmung seiner Komplementärtugend Bereits bei der Beantwortung der dritten Leitfrage (‚quare honores appetendi sint‘) lassen sich Hinweise auf die gegen Ende des Kapitels beschriebene Komplementärtugend der Liebe zur weltlichen Niedrigkeit erkennen. Bei der Darstellung der unterschiedlichen Arten von ‚honores‘ bzw. ‚dignitates‘ wurde noch mit Nachdruck betont, dass ausschließlich die geistigen Ehren erstrebenswert sind, während die äußerlichen Ehren, die zumeist mit einem politischen der kirchlichen Amt verbunden sind, wegen ihren potenziell negativen Auswirkungen grundsätzlich abgelehnt werden müssen. Nun wird jedoch angedeutet, dass es unter gewissen Bedingungen gut bzw. notwendig sein kann, eine Leitungsfunktion und die damit verbundenen ‚honores‘ zu übernehmen. Dies ist v. a. dann der Fall, wenn es der entsprechenden Person nicht um ihr eigenes Ansehen geht, sondern auf den Nutzen für die Mitmenschen geht.215 Wie bereits im Traktat über den guten Lehrer in Buch 9 beschrieben wurde, kann ein tugendhafter Vorgesetzter in hohem Maß positiven Einfluss auf die individuelle Charakterentwicklung seiner Untergebenen bzw. Schüler haben. Dieser Gedanke bildet den Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Komplementärtugend der ‚uoluntaria uilitas‘ und ihrem ‚uitium contrarium‘. Die Überlegungen zu diesen beiden Themen im weiteren Verlauf des Kapitels sind nicht nur deshalb für die Untersuchung von großer Bedeutung, weil hier eine Komplementärtugend beschrieben wird. Daneben erfordert auch der Umgang mit den herangezogenen Quellen besondere Beachtung. Um verständlich zu machen, in welchem Bereich die freiwillige Niedrigkeit ein Korrektiv benötigt, führt der Autor nämlich statt Definitionen und systematischen Bestimmungen eine Episode aus den Vitae patrum an, in der ein ansonsten nicht weiter bekannter Vater Simon (‚abbas Symon‘) die Hauptrolle spielt.216 Dieser Einsiedler wird zunächst scheinbar als ein Vorbild für die Ablehnung von weltlichen ‚dignitates‘ präsentiert, da er einen Richter, der ihm die Ehre erweisen und von ihm gesegnet werden will, mehrfach abweist. Dabei greift er allerdings auch zu durchaus rabiaten Methoden, um seine wahre Identität zu verschleiern und den ‚honores seculares‘ zu entgehen: So kleidet er sich bspw. in Lumpen und isst auf dem Boden, als er vom Herannahen
215 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 131vb): „Sed et si quando uult aliis forte preponi, non facit hoc propter temporalem honorem, sed propter communem omnium utilitatem.“ 216 Die Textgrundlage der folgenden Wiedergabe findet sich in Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 131vbf.): „Legimus quoque quod quidam iudex uenit uidere abbatem Symeonem. Quod ille audiens ascendit in arborem palme et cepit purgare eam. Iudici autem uenienti et anachoretam querenti dixit: Non est hic, sed discessit. Et ita recessit iudex. – Item alia uice uolebat eum uidere quidam ex iudicibus et precesserunt clerici dicentes ei: Abba, para te, quoniam iudex uenit a te benedici. Qui dixit: Ita faciam. Parabo me. Vestiunt ergo centonem suum et tollens panem et caseum in manibus suis et in porta sedens diuaricatis pedibus cepit comedere. Veniens autem iudex cum officio et uidens eum dixit: Iste est anachoreta de quo talia audiebamus?“ Diese Episode findet sich weitgehend identisch in VITAE PATR. 5, 8, 17 f. (PL 73; col. 908Cf.).
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des besagten Richters erfährt. Dieser wendet sich schockiert ab und kehrt nach Hause zurück, womit Simon sein Ziel erreicht hat. Die Radikalität, mit der Simon jede Form von weltlicher Ehre ablehnt, wird von Radulfus Ardens jedoch keineswegs nur positiv gewertet. Bereits im Vorfeld hatte er sich dahingehend geäußert, dass aufrichtigen und tugendhaften kirchlichen Funktionsträgern durchaus gewisse Ehren zustehen, nämlich Gehorsam (‚obedientia‘) und Achtung (‚reuerentia‘) ihnen gegenüber.217 Nichts anderes hatte der Richter in der angeführten Episode im Sinn: Er wollte Simon diese Ehren erweisen und wurde durch dessen schroffes Verhalten letztlich zu Unrecht brüskiert und abgewiesen. Eine solch radikale Abwendung von der Welt, die sich unter allen Umständen vor der Übernahme von Verantwortung gegenüber den Mitmenschen verschließt und schließlich sogar die völlige Verwahrlosung der eigenen Sitten und Umgangsformen in Kauf nimmt, wertet er daher als Übertreibung ins andere Extrem (‚in alteram partem excedere‘). Im Zuge dieser Überlegungen macht unmissverständlich deutlich, dass ein solches Verhalten nicht als tugendhaft gelten kann.218 Die eigenständige Bewertung dieser Passage ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Erstens wird erneut deutlich, dass sich Radulfus Ardens mit den von ihm herangezogenen Quellen kritisch auseinandersetzt und nicht davor zurückschreckt, ihnen unter Umständen direkt zu widersprechen. Diese denkerische Eigenständigkeit ist keineswegs selbstverständlich, jedoch lässt sie sich im Speculum universale immer wieder beobachten und ist daher nichts völlig Neues. Die eigentliche Besonderheit ist an dieser Stelle, dass der Autor nicht wie in anderen Fällen die Aussagen paganer Philosophen oder Dichter kritisiert, sondern einen in der monastischen Tradition höchst bedeutsamen Text, der zudem in erster Linie das vorbildliche Verhalten bekannter Heiliger thematisiert. Dass eine solche Wertung gerade im Kontext der Beschreibung einer Komplementärtugend ausgesprochen wird, ist möglicherweise kein Zufall. Radulfus Ardens baut bei seiner Darstellung offensichtlich nicht in erster Linie auf traditionelle Argumente oder Autoritäten, sondern folgt eher einer davon unabhängigen Gedankenstruktur, die mit der Komplementarität mehr oder weniger identisch ist. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass er sich im Traktat über die Armut ebenso eigenständig und unerwartet auf die Seite der Stoa und der ‚philosophi‘ stellt, wie er hier kurzerhand ein christliches ‚exemplum‘ kritisiert bzw. ablehnt. Auch standen die Aussagen im Kontext komplementärer Gedankengänge. Es lohnt sich, diese These im Hinterkopf zu behalten, da sie im weiteren Verlauf der Arbeit noch mehrmals aufgegriffen und auf ihre Belastbarkeit hin geprüft wird.
217 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 131va): „Iuxta igitur Domini exemplum prelatus magis subesse debet quam preesse, nisi ad quandam dignitatem obedientie et reuerentiam ei exibendam.“ 218 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 131va): „Ceterum uidentur isti in alteram partem nimis excedere.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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Wie muss also die Tugend verfasst sein, die die freiwillige Niedrigkeit davon abhält, zu einer lasterhaften Übertreibung zu werden? Bevor er diese Frage ausführlich beantwortet, beschreibt Radulfus Ardens die beiden Laster: So ist auf der einen Seite der ‚amor honorum secularum‘ zu vermeiden, da er sich letztlich auf bedeutungslose Äußerlichkeiten fixiert und die ‚honores spirituales‘ aus dem Blick verliert. Damit ist das ‚uitium contrarium‘ des ‚contemptus honorum‘ klar bestimmt, das er bereits zu Beginn des Traktats als ‚ambitio‘ bezeichnet hat. Auf der anderen Seite darf man sich aber auch nicht so weit von der Welt und den aktiv lebenden Menschen distanzieren, dass man sich würdelos benimmt und dadurch Abscheu hervorruft (‚in se uilitatem morum demonstrare‘); denn die geistigen Ehren können auch dadurch verloren gehen, dass man trotz der entsprechenden Fähigkeiten aus extremer Weltverachtung nicht bereit ist, auf die Mitmenschen zuzugehen und ihnen eine sittlich-spirituelle Orientierung zu geben. Von daher ergeben sich auch die ‚termini‘ des gemeinten Komplementärtugendpaars: Man darf die weltlichen Ehren nur in dem Maß geringschätzen, dass man die geistigen Ehren nicht verliert. Auf der anderen Seite darf man die geistigen Ehren bzw. die Tugenden – Radulfus Ardens spricht hier explizit von ‚honores morales‘ – nur so weit erstreben, dass die weltliche Ehre nicht verloren geht. Deshalb weist er der Liebe zur weltlichen Niedrigkeit (‚amor uilitatis secularis‘) auch die Liebe zur geistigen Ehre (‚amor honoris spiritualis‘) als Komplementärtugend zu.219
‚uilitatem morum in se ostendere‘ / ‚amittere honorem secularem‘
‚contemptus ↔ honoris secularis‘ / ‚amor uilitatis et inferitatis secularis‘
‚amor honoris spiritualis et moralis‘
‚amor honoris secularis‘ / ‚ambitio‘ / ‚amittere honorem spiritualem‘
Die daraus entstehende Verschmelzungstugend wird nicht benannt. Einen Hinweis darauf, wie sie heißen könnte, zeichnet sich jedoch dadurch ab, dass hier auf beiden Seiten die Begriffe ‚contemptus‘ und ‚amor‘ durch entsprechende Beifügungen gegenseitig ersetzt werden können. Dies hängt damit zusammen, dass das erstrebende und das ablehnende Moment im ‚contemptus‘ mehr oder weniger zusammenfallen. So könnte man den ‚amor honoris spiritualis‘ ebenso als ‚contemptus uilitatis spiritualis‘ bezeichnen wie den ‚contemptus honoris secularis‘ als ‚amor uilitatis secularis‘. Eine Verschmelzungstugend ließe sich demnach aus diesen beiden Bestandteilen zusammensetzen. In jedem Fall wird deutlich, dass geistige und weltliche Ehren in einem
219 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 132ra): „Quoniam utrumque uitium est et honorem secularem amare et morum in se uilitatem demonstrare. Sic quippe debemus amare uilitatem et inferioritatem secularem quod non amittamus honorem spiritualem. Et sic debemus amare honorem spiritualem et moralem quod non amemus secularem. Sunt enim uirtutes collaterales amor uilitatis secularis et amor honoris spiritualis. Et ambe coniuncte sunt uirtutes, separate uero uitia.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
gewissen Maße miteinander zusammenhängen, da der totale Verlust der ‚honores seculares‘ immer auch mit einer Beschädigung der ‚honores spirituales‘ verbunden ist. Diese Bewertung trägt sicherlich der Tatsache Rechnung, dass der Mensch im Diesseits immer auch ein materielles und damit ‚äußeres‘ Wesen ist, weshalb er diesen Aspekt seiner Existenz nicht völlig vernachlässigen darf. Dennoch ist die Hierarchie der beiden Komponenten klar bestimmt: Die weltliche Ehre kann sich mitunter in Verbindung mit geistigen Ehren einstellen, darf aber niemals als solche erstrebt werden.220 Um keine Missverständnisse zuzulassen, thematisiert Radulfus Ardens in Kapitel 89 ausführliche die Bedingungen, die die Übernahme von ‚honores seculares‘ erlauben. Diese Ausführungen sind damit als eine genauere Erläuterung zur soeben beschriebenen Komplementärtugend zu betrachten. Anfangs betont er nochmals, dass es sich dabei ausdrücklich um Ausnahmefälle in besonderen Situationen handelt und nennt sogleich die zwei entscheidenden Kriterien: Erstens muss die jeweilige Person über Eigenschaften verfügen, die es ihm ermöglichen, seinen Mitmenschen durch ein Leitungsamt zu helfen.221 Diesbezüglich sieht er vier Punkte als obligatorisch an, nämlich eine gute Lebensführung (‚uita recta‘), ein für die Aufgabe ausreichender Bildungsstand (‚scientia sufficiens‘), eine überzeugende Beredsamkeit (‚facundia persuadens‘) und gerechte Leidenschaft (‚animositas iusta‘).222 An der Zusammensetzung der Begriffe lassen sich ohne große Mühe einige zentrale Aspekte des tugendethischen Entwurfs des Speculum universale erkennen: So bildet bspw. die ‚animositas‘ die Affektivität des Menschen ab, die sich bereits – wie an dem Adjektiv ‚iusta‘ erkennbar ist – mit der ‚ratio‘ in einem komplementären Gleichgewicht befindet. Die Voraussetzung der ‚facundia persuadens‘ lässt erkennen, dass auch die Fähigkeiten des Äußeren Menschen eine wichtige Rolle spielen. Dass diese Fähigkeiten bloß unbewusst vorhanden sind, genügt übrigens nicht; ihr Träger muss sie mit der Vernunft erkannt haben und seine Charakterentwicklung kritisch reflektieren. Doch selbst wenn all diese Voraussetzungen vorhanden und bewusst sind, muss noch eine zweite wichtige Bedingung erfüllt sein, nämlich die Berufung durch Gott; nur dann ist es nämlich erlaubt und letztlich
220 Spec. uniu. 12, 88 (P, fol. 132ra): „Qui enim tam secularem honorem quam spiritualem amittit, tam Deo quam hominibus uilescit. Et qui tam secularem quam spiritualem honorem appetit et si exterius honorabilis, tamen interius inhonorabilis existit.“ 221 Spec. uniu. 12, 89 (P, fol. 132ra): „Cum autem secularis honor semper contempnendus sit et fugiendus, tamen eius ministerium non semper est fugiendum. Quando enim quis intelligit se habere unde possit alii proficere et uidet se a Deo ad regimen uocatum esse, non debet penitus resistere, sed cum timore suscipere.“ 222 Spec. uniu. 12, 89 (P, fol. 132ra): „Porro ‘per que possit proficereʼ habet qui uitam, scientiam, facundiam, animositatem habet, uitam uidelicet rectam, scientiam sufficientem, facundiam persuadentem, animositatem iustam.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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sogar geboten, die entsprechenden ‚honores‘ mit Furcht bzw. Respekt ihnen gegenüber (‚cum timore‘) anzunehmen.223 Um abschließend nochmals deutlich zu machen, dass die Übernahme einer Aufgabe aus diesem Bereich eine enorme Last darstellt, benennt er ganz konkret sieben Gefahren, die damit verbunden sind: Die Beunruhigung durch viele kleine weltliche Probleme, die von Gott ablenken (‚sollicitudo multorum‘), die Selbstvergessenheit (‚obliuio sui‘), die Sucht nach immer neuen Ehrenbekundungen (‚cenodoxia‘), die Überheblichkeit (‚elatio‘), die Verachtung der Untergebenen (‚despectio subditorum‘), Vernachlässigung der Schutzbefohlenen (‚circa eos negligentia‘) und schließlich der unvermeidliche Fall mit ihnen zusammen (‚cum eis ruina‘).224 Radulfus Ardens setzt sich damit also so ausführlich auseinander, weil die negativen Folgen bei einer Fehleinschätzung der eigenen Kräfte hier besonders drastisch ausfallen: Übernimmt man nämlich auf der einen Seite ein Leitungsamt, trägt man nicht nur für die eigenen Fehler die Verantwortung, sondern auch für die Sünden seiner Untergebenen bzw. Schutzbefohlenen. Versucht man auf der anderen Seite, sich trotz einer Berufung dieser schweren Aufgabe zu entziehen, verliert man letztendlich auch seinen eigenen Anteil am Heil, da man das anvertraute ‚talentum‘ nicht gerecht verteilt, sondern für sich behalten will – die Anklänge an den Traktat über das Almosen sind unübersehbar.225 In jedem Fall ist die Erlangung einer komplementären Balance im Bereich der ‚honores et dignitates‘ offensichtlich äußerst schwierig. Die differenzierte Analyse dieses komplexen Themas folgt einem weitgehend luziden Gedankengang und liefert auch die erwartete Komplementärtugend. Deshalb wirkt der Traktat über die Geringschätzung der Ehren auch wesentlich abgeschlossener als der über den ‚contemptus diuitiarum‘, bei dem, wie bereits gezeigt wurde, auf ähnlichem Wege eine Komplementärtugend hätte benannt werden können.
2.1.4 Die ‚uoluntaria subiectio‘ und ihre Komplementärtugend Radulfus Ardens folgt bei der Behandlung des ‚contemptus potestatum‘ dem gleichen Schema wie im Traktat über die Geringschätzung der Ehre. Dies zeigt sich zu-
223 Spec. uniu. 12, 89 (P, fol. 132raf.): „Si uero supradicta quatuor se habere et a Deo se uocatum esse intelligat, coactus et cum timore suscipiat.“ 224 Spec. uniu. 12, 89 (P, fol. 132rb): „Quare etiam talis ministerium regiminis debeat timere septem sunt cause, uidelicet septem uitia que dignitatem regiminis solent comitare, scilicet multorum sollicitudo, sui ipsius obliuio, cenodoxia, elatio, subditorum despectio, circa eos negligentia et cum eis ruina.“ 225 Spec. uniu. 12, 89 (P, fol. 132vb): „Qui uero uita et doctrina pollent, si uocati regimen renuunt, ipsa pluriumque dona sibi adimunt que non pro se tantummodo, sed etiam pro aliis acceperunt. Cumque sua et non aliena lucra cogitant, ipsis se bonis que priuata habere appetunt, priuant.“
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nächst daran, dass er die gleichen Leitfragen verwendet, um den Abschnitt zu strukturieren:226 . . . . .
‚quot sint species potestatum?‘ ‚que potestas sit apptetenda et que non?‘ ‚quare potestas sit appetenda?‘ ‚que uirtus sit ei collateralis?‘ ‚quod uitium ei contrarium sit?‘
) (c. 91-94) (c. 94) (c. 94)
Auch in diesem Fall werden die Fragen nach den verschiedenen Arten von Machtpositionen und welche davon erstrebenswert sind in einem zusammenhängenden Block und nicht in einem eigenen Kapiteln behandelt. Der Gedankengang erstreckt sich aber nicht wie im vorherigen Traktat über ein einziges Kapitel, sondern über vier (c. 91–94), in denen die vier ‚species potestatum‘ der Reihe nach beschrieben und bewertet werden. Die beiden Fragen nach der Komplementärtugend und dem entgegengesetzten Laster werden am Ende von Kapitel 94 beantwortet. Auffällig ist, dass es sich dabei lediglich um zwei einzelne Sätze handelt. Die ‚collateralis‘ wird in diesem Zusammenhang wieder einmal nicht klar benannt, sondern lediglich beschrieben. Auch das ‚uitium contrarium‘, das schon in vorhergehenden Erwähnungen mit dem Ehrgeiz (‚ambitus‘ bzw. ‚ambitio‘) identifiziert wurde, kommt hier namentlich überhaupt nicht vor. In einer knappen Bemerkung stellt der Autor zudem klar, dass er auf die Übel, die mit dem ‚amor potestatum‘ verbunden sind, nicht näher eingeht, da sie mit denen identisch sind, die aus dem ‚amor honestatis secularis‘ hervorgehen.227 Ähnlich wie im vorherigen Traktat, stellt er auch hier Überlegungen an, die über den Rahmen der genannten fünf Leitfragen hinausgehen. So warnt er abschließend in Kapitel 95 eindringlich davor, nach Vertrautheit bzw. Nähe zu Machthabern und Fürsten (‚familiaritas principum‘) zu streben. Dabei zählt er die Gefahren auf, die damit verbunden sind und lässt auch Erfahrungen aus seinem eigenen Leben einfließen. Generell ist dieser Passus davon gekennzeichnet, dass Macht, ihre Strukturen und die daran beteiligten Personengruppen (z. B. Herrscher, ihre Berater und ihr Gefolge) äußerst kritisch gesehen werden. Trotzdem lehnt der Autor die Übernahme von Macht nicht völlig ab, wodurch sich ein Raum für die Bestimmung einer Komplementärtugend eröffnet.
226 Spec. uniu. 12, 91 (P, fol. 133va): „De contemptu potestatum loquituri quinque debemus considerare, uidelicet quot sint species potestatis, que sit appetenda et que non et quare, que uirtus sit ei collateralis et quod uitium sit ei contrarium.“ 227 Spec. uniu. 12, 94 (P, fol. 135rb): „Quod quantum malum sit et quot et quanta mala procedant ex ea, superius demonstrauimus, quoniam eadem mala que nascuntur ex ambitione honorum, nascuntur ex ambitione potestatum.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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2.1.4.1 Die ‚species‘ der Macht und ihre ethische Bewertung Unmittelbar nach der Formulierung der Leitfragen zählt Radulfus Ardens in Kapitel 91 die vier unterschiedlichen ‚species potestatis‘ auf: die Macht über die Sitten (‚potestas morum‘), die Macht über die Wunder (‚potestas miraculorum‘), die Macht über die Seelen (‚potestas animarum‘) und die Macht über die Körper (‚potestas corporum‘).228 Diese Aufgliederung spielt für den Gedankengang, der zur Komplementärtugend des ‚contemptus potestatum‘ führt, eine wichtige Rolle. Da diese vier Begriffe aber in hohem Maße erklärungsbedürftig sind und sie im Zuge der Beantwortung der zweiten und dritten Leitfrage ethisch eingeordnet werden, sind hier genauere Textanalysen notwendig. (1) Die Macht über die Sitten ist die einzige der vier ‚species‘, die grundsätzlich immer als gut zu werten ist. Die anderen drei sind indifferent (‚indifferentes‘) und können daher je nach Situation gut oder schlecht sein.229 Der Begriff ‚potestas morum‘ beschreibt den Zustand, in dem die verschiedenen Verhaltensweisen innerhalb eines Charakters vollkommen miteinander im Einklang stehen. Damit ist konkret gemeint, dass die gegensätzlichen Momente in Form von Komplementärtugenden in einem positiven Spannungsverhältnis aufeinander bezogen sind. Von daher nimmt der Autor explizit Bezug auf die Tugend der Selbstbeherrschung (‚dominatio sui‘), die bereits mehrfach erwähnt wurde.230 Sie gewährleistet, dass in den unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Natur die jeweils dafür vorgesehenen Kräfte die oberste Stelle innehaben: Im Inneren Menschen muss der obere Teil der Vernunft herrschen und im Äußeren der untere Teil, während der Äußere Mensch seinerseits die äußeren Vollzüge (‚extranee‘) kontrolliert.231 Diese Form der Macht lässt sich nicht aus eigenen Kräften, sondern nur mithilfe der Gnade erlagen. Ohne sie führt jede der anderen drei ‚species potestatum‘ unvermeidlich ins Verderben. Der Mensch ist nämlich unabhängig von seinen äußeren Machtbefugnissen immer ohnmächtig, wenn er die Regungen (‚motus‘) in seinem Inneren nicht unter Kontrolle
228 Spec. uniu. 12, 91 (P, fol. 133va): „Sunt autem quatuor species potestatis. Nam potestas alia est morum, alia miraculorum, alia animarum, alia corporum.“ 229 Spec. uniu. 12, 91 (P, fol. 133vaf.): „Sane potestas morum semper bona et appetenda est. Alie uero potestates sunt indifferentes, quia et bene et male uti possunt et ideo nec appetende sunt. Porro potestas bene regendi mores suos optima est et ualde semper appetenda. 230 Vgl. dazu den Punkt 1.1.2 (über die Seelenkräfte) im ersten Teil und den Punkt 2.1.6.6 (über die ‚uoluntaria subiectio‘) im zweiten Teil der Arbeit. 231 Spec. uniu. 12, 91 (P, fol. 133vb): „Nimirum hanc potestatem uocauimus superius sui dominationem.“ Radulfus Ardens hat hier offensichtlich ebd. 10, 81 (CCM 241A, p. 672) im Hinterkopf: „Sane dominationis sunt tres species, sicilicet dominatio interioris hominis, dominatio exterioris, dominatio extranee subiectionis. Porro in interiori homine dominatur pars superior rationis. Super uero exteriorem hominem dominatur inferior pars rationis. Super uero extraneorum subiectionem dominatur exterior homo.“
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hat.232 Hier wird erneut deutlich, dass der Besitz von Tugenden und die Harmonie der eigenen Seelenkräfte unerlässliche Bedingungen dafür sind, um überhaupt für andere Menschen Verantwortung zu übernehmen, sie zu unterrichten oder ihnen vorgesetzt zu sein. (2) Die ‚potestas miraculorum‘ wird nicht eigens definiert, jedoch geht aus dem Text hervor, dass damit eine Verfügungsgewalt über Wunder gemeint ist, wie sie von Christus selbst und vielen Heiligen überliefert ist. Obwohl Radulfus Ardens die Bedeutung von Wundern nirgends in Zweifel zieht, betont er, dass diese Macht eher gemieden als erstrebt werden muss. Dafür werden vier Gründe genannt: Erstens sagt sie nichts darüber aus, ob ihr Träger Tugenden besitzt oder nicht. Sie ist nämlich bei guten und schlechten Menschen gleichermaßen zu finden und ihr Vorhandensein hängt nicht mit den Eigenschaften ihres Trägers, sondern mit anderen Gründen zusammen, die in Kapitel 92 noch genannt werden. Zweitens ist die Quelle der Wunder nur selten ein ‚meritum‘ des Wirkenden, sondern eher der Glaube der Beobachter. Dennoch erwecken sie oft irrtümlicherweise den Eindruck, dass der Wundertäter ein besonders begnadeter Mensch ist. Drittens ist die Macht über die Wunder oft ein Anlass für Überheblichkeit, die zum Fall führt und viertens ist die Forderung nach einem Wunder gerade dann als Versuchung Gottes zu werten, wenn es keinen vernünftigen Grund (‚rationabilis causa‘) für diese Bitte gibt.233 Auch diese Aussage erläutert er genauer und nennt fünf Gründe, aus den man vernünftigerweise ein Wunder fordern kann: Um den Glauben der Beobachter zu begründen oder zu bestärken, um den Glauben des Fordernden zu zeigen, um die Unschuld eines zu Unrecht Angeklagten zu zeigen, um eine Gefahr abzuwenden oder um auf die Tugenden des Wirkenden hinzuweisen.234 Damit ist einerseits nicht ausgeschlossen, dass ein Mensch, der über die ‚potestas miraculorum‘ verfügt, charakterliche Qualitäten besitzt; jedoch lässt die Macht über die Wunder andererseits
232 Spec. uniu. 12, 91 (P, fol. 133vbf.): „Illi quippe soli qui Christum fide et caritate recipiunt, filii Dei fiunt et omnes motus suos bene regere possunt. Sane qui hanc potestatem habet, uere potens est. Qui uero hanc non habet, si uideatur exterius multa posse, tamen impotens est. Et qui hanc potestatem habet, ceteris potestatibus bene uti potest. Et qui hanc non habet, ceteras potestates in sui perniciem habet. […] Quomodo enim potest alios regere qui seipsum regere nequit?“ 233 Spec. uniu. 12, 92 (P, fol. 134ra): „Potestas uero miraculorum non est appetenda, sed potius fugienda, maxime infirmis propter quatuor causas: quoniam est communis tam bonorum quam malorum; quoniam magis facit apparere quam esse; quoniam occasio sit cenodoxie, iactantie et ruine; quoniam, quando postulatio miraculorum rationabilem non habet causam, uidetur esse Dei temptatio.“ 234 Spec. uniu. 12, 92 (P, fol. 134rb): „Sunt autem quinque rationabiles cause propter quas miracula fieri solent: Aut enim fiunt propter generandam uel confirmandam in circumstantibus fidem christianam. […] Aut propter demonstrandam postulantium fidem. Aut propter calumpniati innocentiam demonstrandam […]. Aut propter instans periculum deuitandum […]. Aut propter demonstrandam uirtutem illius qui miraculam facit uel quo orante fit […].“
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keinen Rückschluss auf das tatsächliche Vorhandensein von Tugenden zu. Von daher wird sie auch als indifferent bestimmt. (3) Die ‚potestas animarum‘ meint Seelsorge im weitesten Sinne. Dahinter steht die Vorstellung, dass die zentrale Aufgabe des Seelsorgers darin besteht, die ihm anvertrauten Menschen auf dem Pfad der Tugenden zu begleiten und zu unterstützen. Auch vor dieser Macht warnt Radulfus Ardens eindringlich, da sie eine große Last ist und ihrem Träger viel abverlangt. Erstens gestaltet sich nämlich die Anleitung der Seelen als sehr schwierig, was v. a. an der Beschaffenheit der menschlichen Seele liegt, die bereits in der allgemeinen Tugendethik beschrieben wurde: So sind die Seelen nicht nur körperlich unsichtbar, sondern auch hinsichtlich ihrer inneren Gedanken und Beweggründe bleibt immer eine gewisse Unsicherheit bestehen. Ebenso wenig können Seelen mit der Vernunft erfasst werden, weshalb der Seelsorger sein Gegenüber nie völlig verstehen kann und ihm sein Willen bzw. seine Gelüste immer ein Stück weit verborgen bleiben. Zudem verändern sie sich aufgrund ihrer flüchtigen Natur schnell tendieren dabei eher zum Bösen als zum Guten. Schließlich können sie zu nichts gezwungen werden. Dies liegt v. a. daran, dass die Affekte – er bezieht sich hier in erster Linie auf Liebe und Hass – von außen nicht unmittelbar beeinflusst oder umgelenkt werden können.235 Zweitens birgt die Vorbildfunktion, die mit der ‚potestas animarum‘ verbunden ist, große Gefahren. So kann einem selbst dann, wenn man ein reines Leben führt, gut unterscheiden kann und viel Einsatzbereitschaft zeigt, jederzeit ein Fehler unterlaufen, der u. U. viel Arbeit und Mühe zunichtemacht.236 Von daher führt die Macht über die Seelen oftmals zur Verdammnis, da jede noch so kleine Unachtsamkeit einen dauerhaften und irreversiblen Schaden nicht nur an der eigenen Seele, sondern auch an den Seelen der Untergebenen anrichtet.237 Trotz dieser ausführlichen Problematisierung stellt Radulfus Ardens am Ende des Kapitels klar, dass die Übernahme einer seelsorger-
235 Spec. uniu. 12, 93 (P, fol. 134va): „Potestas quoque animarum non est appetenda, sed potius horrenda et fugienda, quoniam est difficilis, quoniam periculosa, quoniam dampnosa. Et difficilis quidem est, immo pene impossibilis, quoniam anime sunt inuisibiles, uix intelligibiles, leues et incogibiles. Porro inuisibiles sunt, quoniam nec oculo carnis nec oculo mentis interiores earum motus, cogitationes et delectationes uidere ualemus. Vix intelligibiles quoque sunt, quoniam earum uoluntates et uoluptates uix per confessionem uel aliqua exteriora signa ueraciter aduertere quimus. Leues sunt, quoniam cum sint spirituales et agiles, citius et inuisibiliter mutantur et citius de bono in malum quam de malo in bonum. Incogibiles enim sunt, quoniam affectiones earum cogi non possunt, ut quod diligunt, odiant uel quod odiunt, diligant.“ 236 Spec. uniu. 12, 93 (P, fol. 134va): „Periculosa quoque est potestas animarum, quoniam in multis in ea erratur, quoniam, cum ei qui potestatem habet super animas, necessaria sit et uite puritas et discretio et usus strenuitas, periclitetur, si in aliquo sit inpurus, si in aliquo indiscretus, si in aliquo piger et sompnolentus.“ 237 Spec. uniu. 12, 93 (P, fol. 134va): „Dampnosa quoque est potestas animarum, quoniam cum incurrit dampnum, non incurrit dampnum corporale, temporale, restaurabile alienum, sed potius dampnum spirituale, dampnum eternum, dampnum inrestaurabile, dampnum proprium. Neque enim periclitan-
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lichen Tätigkeit nicht mit allen Mitteln und um jeden Preis gemieden werden darf. Wie im Bereich der ‚honores seculares‘ muss man die ‚potestas animarum‘ mit entsprechendem Respekt ergreifen, wenn man die entsprechenden Fähigkeiten hat und von Gott dazu berufen ist.238 Diese Aussage weist bereits auf die Komplementärtugend des ‚contemptus honorum‘ voraus. (4) Die ‚potestas corporum‘ meint alle möglichen Formen von weltlicher Macht, wie sie zur Zeit des Autors bspw. von Fürsten und Königen ausgeübt wurde; heute würde man in diesem Zusammenhang wohl eher von staatlicher bzw. politischer Macht sprechen. Diese Form der Macht sieht Radulfus Ardens noch kritischer als die übrigen. Denn aufgrund der Tatsache, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind, sieht er es als Anmaßung an, Macht im Sinne von körperlicher Verfügungsgewalt über andere Menschen innezuhaben.239 In eine ähnliche Richtung hatte er sich bereits im Traktat über das Almosen geäußert.240 Sie ist mit ständiger Sorge (‚sollicitudo‘) verbunden, da die Herrschaft über viele Menschen automatisch eine Vielzahl von Angelegenheiten mit sich bringt, die erledigt werden müssen. Der Herrscher muss ständig um seine Machposition fürchten und verliert dadurch letztendlich jegliches Vertrauen zu den Mitmenschen. Zudem gewinnt er mit der Zeit durch die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und Befehle zu geben, den Eindruck, dass er zurecht über den anderen Menschen steht. Dies kann schließlich dazu führen, dass er aus Überschätzung seiner Fähigkeiten und Überschreiten seiner Vollmachten (‚transgressio‘) seiner eigenen Willkür folgt und nicht mehr vernünftig entscheidet. Hier wird wieder deutlich: nur wer sich selbst vollkommen beherrscht, ist zur Herrschaft über andere fähig.241 In ähnlicher Weise
tur anime sine eius periculo qui eas habet in potestate, sed sicut lucrum siue pastoris siue animarum utrorumque commune est, sic et periculum et dampnum alterutrorum utrorumque commune est.“ 238 Spec. uniu. 12, 93 (P, fol. 134vaf.): „Verumtamen si intellexeris te habere unde animabus possis prodesse et te ad potestatem animarum a Deo uocatum, suscipe, licet inuitus et timens, sed etiam uigila, ut traditam tibi potestatem et tibi et subditis utiliter queas ministrare.“ 239 Spec. uniu. 12, 94 (P, fol. 134vb): „Potestas quoque corporum appetenda non est, sed potius fugienda, tum quoniam eam appetere arrogantia est, tum quia potestatem comitatur sollicitudo, timor, transgressio, cenodoxia et superbia. Porro potestatem super homines appetere arrogantia est. Cum enim omnes homines naturaliter sint equales, uitium est arrogantie super coequales suos sibi dominium usurpare.“ 240 Vgl. dazu Spec. uniu. 11, 71 (P, fol. 80va): „Octaua species corporalis helemosine est seruos manumittere. Porro hec helemosia non tam uidetur esse helemosina quam iustitia. Cum enim omnes homines natura sint equales, superbie et iniustitie uidetur esse, si homo hominem suum scilicet equalem teneat seruum. Si quoque sint equales in fide, superbia et iniustitia est duplex. Si uero sint equales et in uirtute uel forte seruus sit melior domino, superbia et iniustitia est triplex.“ In diesem Kapitel geht es um die Tugend der Befreiung Unterdrückter (‚seruos manumittere‘), welche die achte Art des körperlichen Almosen ist. 241 Spec. uniu. 12, 94 (P, fol. 135ra): „Transgressio quoque comitatur potestatem, quoniam potens est, cum nullus sit ausus ei obloqui, putat quod omne libitum ei licitum sit. […] Non ponit frenum ire aut ingluuiei, non libidini, non cupiditati, non ceteris perturbationibus sue mentis. Et quomodo
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gewöhnt er sich an die Schmeicheleien seines Gefolges und verfällt der Ruhmsucht und dem Stolz. Überhaupt betrachtet Radulfus Ardens den Verlust des richtigen Urteilsvermögens als eine der schlimmsten Folgen von Ehrenstellungen und Machtpositionen. Diese allgemeine Kritik an weltlicher Macht wird in Kapitel 95 weitergeführt und weiter konkretisiert. Hier findet ein Perspektivwechsel statt: Nicht mehr die herrschenden Personen selbst stehen im Mittelpunkt, sondern diejenigen Menschen, die sich um Nähe und Vertrautheit mit ihnen (‚familiaritas principum‘) bemühen. Da es solchen Leuten in den meisten Fällen darum geht, auf diesem Weg selbst zu weltlichen Gütern zu gelangen, handelt es sich dabei um ein Laster, das mit einer ganzen Reihe negativer Folgen verbunden ist:242 So ist die ‚familiaritas principum‘ erstens gefährlich, da man nur solange in Gnade der Fürsten steht, als man ihnen – notfalls auch unter Preisgabe der eigenen ethischen Werte – zustimmt. Zweitens ist sie mit Neid verbunden (‚inuidiosa‘), da eine hohe Stellung in der Nähe der Mächtigen bei vielen Missgunst hervorruft. Drittens ist sie flüchtig, da Herrscher schnell ihr Interesse an einem verlieren und zwar gerade dann, wenn man ihnen widerspricht. Von daher werden die meisten Menschen im Gefolge eines Machthabers Schmeichler (‚adulatores‘). Radulfus Ardens flechtet hier offenbar auch eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet mit ein. So beklagt er in diesem Zusammenhang, dass er es selbst häufig erlebt hat, wie aus Vertrauten Fremde und aus engen Freunden erbitterte Feinde wurden.243 Möglicherweise kann diese Aussage als Beleg für die in der Forschung immer wieder diskutierte Annahme gelten, dass der Autor tatsächlich längere Zeit am Hof bzw. im Gefolge eines Herrschers zugebracht und dort (überwiegend negative) Erfahrungen gesammelt hat. Ob es sich bei dieser Person allerdings – wie von manchen Wissenschaftlern angenommen – um Richard Löwenherz oder um einen Territorialfürsten handelt, kann auf der Grundlage dieser Äußerung nicht beantwortet werden. Viertens führt die ‚familiaritas principum‘ zu Vorwegnahme (‚presumptio‘), da auf einmal unerlaubte Dinge begehrt werden, auf die man zuvor gar nicht aus war und fünftens macht sie stolz und überheblich.
potens est qui sue mentis impotens est? Enimuero qui seipsum regere impotens est, non potens, sed potius impotens dicendus est.“ 242 Spec. uniu. 12, 95 (P, fol. 135va): „Multi familiaritatem appetunt principum et magnatum, ut per eam diuitias, honores, potestates, gloriam et uoluptatem acquirant. Ceterum ea prudentibus appetenda non est, quoniam est periculosa, inuidiosa, mutabilis et presumptuosa et superba.“ 243 Spec. uniu. 12, 95 (P, fol. 136ra): „O quot et quantos frequenter uidemus de familiarissimis fieri alienissimos, et de amicissimis fieri inimicos!“
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2.1.4.2 Die Ambivalenz der ‚uoluntaria subiectio‘ als Ausgangspunkt für die Bestimmung ihrer Komplementärtugend Die scheinbar durchweg negative Wertung der weltlichen Herrschaft täuscht über die Tatsache hinweg, dass sie nicht schlecht, sondern indifferent ist und von daher gut oder schlecht sein kann. Folgerichtig finden sich sowohl in Kapitel 94 (über weltliche Herrschaft allgemein) als auch in Kapitel 95 (über die Vertrautheit mit Fürsten) Hinweise darauf, dass es bestimmte Fälle gibt, in denen beides als positiv zu werten ist. Erneut ist dabei die jeweilige Absicht entscheidend: Wenn man die ‚propinquitas principum‘ deshalb sucht, um den Herrscher gut zu beraten und ihm trotz aller Gefahren beizustehen, ist dies nicht nur ein großer Dienst gegenüber dem Fürsten, sondern auch an all den Menschen, denen man in dieser Funktion helfen kann. So kann ein Berater für das gerechte Anliegen eines Untergebenen, der diese Möglichkeit selbst nicht hat, beim Herrscher vorsprechen; ebenso kann er auf Ungerechtigkeiten hinweisen oder dafür sorgen, dass Bedürftige Hilfe und Unterstützung erhalten.244 Dies fällt umso leichter, wenn auch der Machthaber selbst darum bemüht ist, tugendhaft und gut zu herrschen. Jedoch kann ein guter Berater sogar bei einem schlechten Herrscher etwas bewirken und ihn vom Guten überzeugen.245 Dieser Gedankengang führt unmittelbar zur Komplementärtugend, zu der sich Radulfus Ardens in Kapitel 94 knapp äußert. Hier ermuntert er dazu, die Herrschaft zu übernehmen und ein guter Herrscher zu sein – allerdings nur unter den Bedingungen, dass man sich selbst beherrschen kann, die Fähigkeiten zum Herrschen hat und von Gott dazu berufen ist.246 Auch hier verbietet er also – ganz ähnlich wie im Traktat über den ‚contemptus honorum‘ –, sich um jeden Preis und unter Missachtung des göttlichen Auftrags von weltlicher Macht fernzuhalten. Von daher bestimmt er die Grenzen des ‚contemptus potestatum‘ so, dass der Weise sie so ablehnen muss, dass er sie trotzdem im eben genannten Fall mit Furcht annimmt (‚cum timore suscipere‘) und dass er sie so mit Furcht annehmen muss, dass er sie niemals erstrebt.247 Wie bereits erwähnt, wird die damit angedeutete Komplemen-
244 Spec. uniu. 12, 95 (P, fol. 136rb): „Ceterum si appetatur ab aliquo familiaritas principis, hac sola intentione appetatur, ut prosit illi uel per eum ceteris: Ei bene consulendo, a malo eum retrahendo et ad bonum exortando. Aliis pro eis apud principem supplicando, ius suum singulis exhibendo, iustos protegendo, miserabiles personas refouendo.“ 245 Spec. uniu. 12, 95 (P, fol. 136rb): „Itaque bona et utilis est familiaritas boni clientis ad bonum principem. Boni quoque clientis ad malum principem potest esse utilis, si eum corrigere, si aliquid bonum ei persuadere uel eius auctoritate bonis et miserabilibus personis prodesse potuerit. Alioquin recedat, ne cum peruerso peruersus fiat.“ 246 Spec. uniu. 12, 94 (P, fol. 135rb): „Verumtamen si quis potens est proprios cordis corporisque sui motus refrenare et regere sentit quod se populum Dei iuste posse gubernare, si a Deo uocatur ad potestatem, non debet penitus respuere, sed suscipere cum timore.“ 247 Spec. uniu. 12, 94 (P, fol. 135rb): „Sic igitur sapiens fugiat potestatem quod, si fuerit necessarium, eam cum timore suscipiat et sic eam cum timore suscipiat quod nunquam appetat. Est autem huic uirtuti, id est contemptui potestatis, ambitio potestatis opposita.“
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tärtugend nicht klar benannt, lediglich die ‚ambitio potestatis‘ wird als entgegengesetztes Laster angeführt. Damit ergibt sich folgendes Schema: ‚penitus respuere potentiam‘
‚contemptus potestatum‘
↔ ‚potentiam suscipere cum timore‘
‚ambitio potestatis‘ / ‚amor potestatis‘
Es ist nicht ganz einfach, einen Begriff zu finden, der die fehlende Komplementärtugend treffend beschreibt. Bereits im Bereich der ‚honores‘ hat sich Radulfus Ardens schwergetan und die Komplementärtugend dort schließlich mit dem Streben nach ‚honores spirituales‘ in Verbindung gebracht. Die gliederungstechnischen und inhaltlichen Überschneidungen der beiden Traktate lassen darauf schließen, dass hier ein ähnlicher Zusammenhang vorliegt: Man muss nur dann die Macht meiden, wenn man erkannt hat, dass man den damit verbundenen Lasten nicht gewachsen ist. Weiß man sich stark genug, hat den nötigen Respekt vor der Aufgabe, hofft fest auf Gottes Hilfe und will den Mitmenschen helfen, ist es gut und nützlich, eine Machtstellung zu übernehmen. Darauf lassen auch die Ausführungen zur Vertrautheit mit den Fürsten schließen, da sich auch hier eine komplementäre Struktur ablesen lässt:
‚familiaritatem principum penitus respuere‘
‚familiaritatem principum fugere‘
↔
‚familiaritatem appetere et prodesse illi et per eum ceteris‘
‚familiaritatem appetere et diuitias, honores, potestates, gloriam et uoluptatem acquirere‘
So kann man aus dem Textbefund schließen, dass hier definitiv die Struktur eines Komplementärtugendpaares im Hintergrund steht. Jedoch ist es dem Autor möglicherweise aufgrund der genannten Schwierigkeiten nicht gelungen, klare Begrifflichkeiten dafür zu finden oder er sah es nicht als notwendig an, sich genauer dazu zu äußern. Leider gibt es auch ansonsten keine weiteren Erläuterungen dazu, sodass diese inhaltliche Lücke bestehen bleiben muss.
2.1.5 Das Komplementärtugendpaar ‚uoluntarius suidespectus‘ – ‚fuga infamie‘ Der Traktat über die Geringschätzung des Ruhmes oder Lobes umfasst 20 Kapitel (c. 96–115). Wie sich an den Leitfragen erkennen lässt, folgt die Gliederung einem ähnlichen Schema wie in den beiden vorhergehenden Traktaten. Radulfus Ardens führt zu Beginn insgesamt sieben Fragen an:248
248 Spec. uniu. 12, 96 (P, fol. 136va): „De contemptu glorie uel laudis mundane disputaturi consideremus quid sit gloria, que eius species, que appetenda et que non et quare, quantum malum sit humane laudis appetitus quantumque bonum eius contemptus et qui termini eius.“
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. . . . . . .
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‚quid sit gloria?‘ ‚que sint eius species?‘ ‚que sit appetenda et que non?‘ ‚quare appetenda sit uel non?‘ ‚quantum malum sit appetitus uane glorie?‘ ‚quantum bonum sit contemptus uane glorie?‘ ‚qui sint termini eius?‘
)(c. ) (c. 97-104) (c. -) (?) (c. )
Dabei fällt zum einen auf, dass die drei Fragen nach den unterschiedlichen Arten des Lobes, ihrer ethischen Bewertung und nach der Art und Weise, wie man sie erstreben soll, wieder ohne erkennbare Abgrenzung voneinander beantwortet werden. Zum anderen wird zwar gefragt, was für ein großes Gut die Geringschätzung des Lobes ist, jedoch wird keine direkte Antwort darauf gegeben. Es ist davon auszugehen, dass diese Frage bei der Bestimmung der Komplementärtugend mitbeantwortet wird. Zudem ist hervorzuheben, dass Radulfus Ardens hier zum ersten Mal in Buch 12 einer Komplementärtugend – in diesem Fall der Vermeidung der Schande (‚fuga infamie‘) – ein eigenes Kapitel (c. 115) widmet. Wie bereits erwähnt, ist dies der Grund dafür, dass die ‚fuga infamie‘ in der Forschungsliteratur oft als erste Komplementärtugend des Buches angeführt wird.249 Und tatsächlich sind die Bestimmungen diesbezüglich weitaus klarer und leichter verständlich als in den vorherigen drei Abschnitten. Von daher gilt es erneut, die Überlegungen zu den ‚species‘ genauer in den Blick zu nehmen und den Gedankengang des Verfassers nachzuzeichnen, der schließlich zum Komplementärtugendpaar ‚contemptus laudis‘ – ‚fuga infamie‘ führt. Die Größe des Abschnitts erklärt sich dadurch, dass der Autor ähnlich wie im Traktat über die freiwillige Armut einzelne Themen, die ihn besonders interessieren, herausgreift. Im Zuge dessen (c. 107–114) werden auch hier einzelne Übel und Laster, die aus der Liebe zum wertlosen Ruhm (‚amor uane glorie‘) hervorgehen, ausführlicher betrachtet, wobei v. a. die detaillierte Beschreibung der Heuchelei (‚ypocrisis‘) hervorsticht. Ebenso wie der Traktat über Geiz und Habgier hat dieser Passus in erster Linie einen praktisch-paränetischen Charakter. Daher genügt es, den Aufbau kurz zu erläutern und auf systematisch relevante Aussagen einzugehen. 2.1.5.1 Die Definition des Lobes, seine ‚species‘ und deren ethische Bewertung Unmittelbar nach der Formulierung der Leitfragen definiert Radulfus Ardens den Ruhm (‚gloria‘) als Lob, das durch die Stimmen vieler Menschen gefeiert bzw. geäußert wird. Dabei stellt er fest, dass es für dieses Phänomen auch noch die Alternativbegriffe Lob (‚laus‘), guter Ruf (‚bona fama‘), gute Meinung (‚bona opinio‘)
249 Vgl. dazu ERNST, Passiones anime 162 f.; Schlangen 53–55.
DERS.,
Estote prudetes 565–568;
DERS.,
Klug wie die
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und guter Name (‚bonum nomen‘) gibt, die alle nahezu dasselbe bedeuten.250 Von daher ist mit der Verwendung des Wortes ‚laus‘ in den folgenden Ausfrührungen keinerlei inhaltliche Differenz verbunden; letztlich spielt auch die Anzahl der ‚laudatores‘ – wie man möglicherweise auf der Grundlage der Definition meinen könnte – für die ethische Bewertung eine untergeordnete Rolle. In Kapitel 97 werden Ruhm und Lob in fünf ‚species‘ untergliedert, nämlich den schlechten, den falschen, den wertlosen, den wahren und den glückseligen Ruhm.251 Diese fünf Arten werden anschließend in je einem eigenen Abschnitt behandelt und ethisch bewertet. Besonders ausführlich fällt der Passus über die ‚uana gloria‘ aus (c. 99–102); dies liegt nicht nur daran, dass sie nochmals in drei Unterarten unterteilt wird, sondern dort finden sich auch bedeutsame Überlegungen zum Begriff ‚uanitas‘, wobei dieser erstmals im Speculum universale überhaupt klar definiert wird. (1) Von schlechtem Lob (‚laus mala‘) ist dann die Rede, wenn ein böser Mensch von anderen bösen Menschen für eine böse Tat gelobt wird.252 Obwohl diese Bestimmung recht theoretisch und allgemein ist, ist ohne weitere Erklärungen klar, was damit gemeint ist. (2) Beim falschen Lob (‚laus falsa‘) handelt es sich stets um eine mehr oder weniger bewusste Täuschung, da ein Mensch gelobt wird, ohne dass er von seinem Charakter oder seinen Taten her auch tatsächlich lobenswert ist.253 Daraus ergibt sich, dass die ‚laus falsa‘ immer schlecht ist, jedoch mit Abstufungen: Besonders schlecht ist sie dann, wenn sowohl der Gelobte als auch der Lobende genau wissen, dass es keinen Grund für das Lob gibt. Falls dies nur einem von beiden bewusst ist, verringert dieser Umstand zwar das Maß an Schuld, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es sich um ein schwerwiegendes Übel handelt. Selbst dann, wenn beide nichts davon wissen – d. h. der Gelobte meint fälschlicherweise, er werde zurecht gelobt und auch der Lobende ist sich seines Irrtums nicht bewusst – wird diese Art des Ruhms als schlecht gewertet.254
250 Spec. uniu. 12, 96 (P, fol. 136va): „Gloria igitur est ore multorum celebrata laudatio. Porro gloria, laus, bona fama, bona opinio et bonum nomen idem significant. Ceterum hoc nomen ‘gloriaʼ in sacra scriptura tripliciter accipitur.“ 251 Spec. uniu. 12, 97 (P, fol. 136va): „Itaque gloria siue laus quinque partita est: alia est mala, alia est falsa, alia uana, alia uera, alia beata. Et laus quidem mala est que a malo est.“ 252 Spec. uniu. 12, 97 (P, fol. 136va): „Et laus quidem mala est que a malo est. […] Que laus execrabilis est et omnino mala, quoniam malus de malo et male laudatur.“ 253 Spec. uniu. 12, 98 (P, fol. 136vb): „Falsa uero laus est, quando non est in laudato illud de quo laudatur, ut in ypocritis.“ 254 Spec. uniu. 12, 98 (P, fol. 136vb): „Sed hec triplex est. Nam quando non est materia laudis in laudato et tamen ipse putat se eam habere et laudans similiter. Et hec quidem laus falsa et mala est. Quandoque uero nec materia subest laudis et ipse laudatus scit ea se uacuum esse, laudans
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(3) Bevor er sich genauer zum wertlosen Ruhm (‚uana gloria‘) und seinen Unterarten äußert, definiert Radulfus Ardens den Begriff ‚uanitas‘. Dabei unterscheidet er zunächst, dass es eine ‚uanitas‘ der Sache (‚rei‘), des Gebrauchs (‚usus‘) und des Missbrauchs (‚abusus‘) gibt. Die ersten beiden sind gut, da die Wertlosigkeit einer Sache von Gott in der Schöpfungsordnung angelegt ist und sie daher auch als etwas Wertloses gebraucht werden muss. Der Missbrauch ist jedoch besonders schlecht (‚pessimus‘), da in diesem Fall eine an sich wertlose Sache so gebraucht wird, als ob sie einen Wert hat, womit die Handlung im Widerspruch zur göttlichen Ordnung steht. Interessant ist, dass er hier auch das affektive Geschehen genauer beschreibt: Es handelt sich nämlich um einen Affekt, der sich um die Freuden (‚delectationes‘) der erschlafften bzw. kranken Seele (‚animi languentis‘) aufbläht (‚inflat‘). Infolgedessen ist er begierig nach Ruhm, hochfahrend, flüchtig und anfällig für das Böse in Gestalt der Sünden und Laster. Radulfus Ardens beschreibt die ‚uana gloria‘ also als eine Krankheit der Seele, durch die diese die Fähigkeit verliert, die tatsächliche Beschaffenheit bzw. Wertigkeit der Gegenstände zu erkennen. Diese Wertlosigkeit des Gegenstandes und der Handlung überträgt sich auch auf das Lob.255 Mit dem Ausdruck ‚laus‘ bzw. ‚gloria uana‘ ist dementsprechend im weiteren Sinne das schlechte oder falsche Lob gemeint; im engeren Sinne meint es jedoch eigentlich jedes Lob eines Gutes, das entweder wertlos erstrebt (‚uane queritur‘), wertlos angenommen (‚uane recipitur‘) oder wertlos angeboten (‚uane offertur‘) wurde.256 Mit dieser Unterscheidung sind die drei Unterarten des wertlosen Ruhmes benannt; sie nehmen das Phänomen von der Motivation der daran beteiligten Personen in den Blick, woraus sich wieder unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten und unterschiedliche Grade von Schuld ergeben. Da sich Radulfus Ardens v. a. für die Liebe zum wertlosen Ruhm (also die erste Unterart) interessiert, beleuchtet er in den fol-
uero laudatum putat dignum esse. Que laus falsior et peior est. Quandoque uero nec materia laudis subest et tam laudatus quam laudans scit eam non subesse. Que laus falsissima et pessima est. Et prima quidem laus uno modo, secunda uero dupliciter, tertia tripliciter mala est.“ 255 Spec. uniu. 12, 99 (P, fol. 137ra): „De uana gloria subdendum est hoc preconsiderato quod uanitas alia est rei, alia usus, alia abusus. Prior est nature, secunda necessitatis, tertia uitii. Et tam prima quam secunda est bona, tertia pessima. Bona siquidem est mutabilitas rei, quoniam a Deo creata est. Bona quoque est uanitas usus mutabilis rei, quoniam et a Deo ordinata est. Pessima uero est abusus mutabilis rei, quoniam a diabolo uel ab homine inuenta est. Hec autem sic describi potest: Vanitas est inflata quedam circa uanas delectationes animi languentis affectio, honoris auida, uituperata se deiciens, falso laudat sese glorificans, ad promittendum uelox, ad exhibendum mendax, gaudens ad prospera, fragilis ad aduersa.“ 256 Spec. uniu. 12, 99 (P, fol. 137ra): „Cum autem hec uanitas sit in abusu quorumlibet bonorum temporalium, tum magis est uana uanitas que est in laude sola. Hec autem quandoque large sumitur, ut comprehendat et malam laudem et falsam. Quandoque uero strictius, ut dicatur tantum laus de bono habito mundana. Que sic describi potest: Vana gloria est laus de bono habito uane quesita uel recepta uel oblata.“
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genden drei Kapiteln genauer, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln sich Menschen die ‚uana gloria‘ aneignen. Erstens suchen die Menschen den wertlosen Ruhm durch lobenswerte Dinge. Diese Aussage erscheint auf den ersten Blick vage und der Terminus ‚res laudabiles‘ ist inhaltlich offen. Dafür gibt es einen systematischen Grund: Letztlich können nämlich alle Gegenstände ein Vehikel dafür sein, um damit ‚uana gloria‘ zu erstreben.257 So können erstens ‚res uane‘ Anlass zum Lob sein; damit ist die bereits bekannte Fünfergruppe aus Reichtümern, Ehren, Macht, Lob und Lüsten gemeint, die hier auch als Güter des Glücks oder des Zufalls (‚bona fortune‘) bezeichnet werden.258 Ebenso kann es sich bei den ‚res laudabiles‘ um Güter der Natur (‚bona nature‘) handeln; diese lassen sich wiederum in die des Körpers (wie z. B. Stärke, Schönheit, Gewandtheit und Redegabe) und die der Seele (wie z. B. Wissen, Studium oder Talent zum Unterrichten) aufteilen.259 Radulfus Ardens macht im Hinblick auf die Güter der Seele deutlich, dass sich gerade unter Klerikern viele Beispiele dafür finden lassen, dass die eigene Gelehrsamkeit und die geistigen Bemühungen lediglich dem Erwerb von persönlichem Ruhm und nicht mehr der Sache selbst dient.260 Ein solches Streben ist eine Zweckentfremdung und entwertet auch solche Gegenstände, die bei richtiger Benutzung wertvolle Güter sind. So können selbst die Tugenden und ihre Werke – die hier ‚res non uane‘ genannt werden – dazu benutzt werden, um ‚uana gloria‘ anzuhäufen.261 Zweitens versuchen gerade solche Leute, die nicht tugendhaft leben, sich mithilfe von Geschenken Lob anzueignen.262 Drittens ist die eigene Stimme ein Hilfsmittel, mit dem man wertlosen Ruhm suchen kann. Hier hat er erneut Prediger und Lehrer im Blick, denen es bei ihren Vorträgen nicht um den Nutzen der Zuhörer, sondern nur um Selbstdarstellung geht. Er führt dabei eine ganze Reihe von Negativbeispielen an, die sich auch
257 Spec. uniu. 12, 100 (P, fol. 137ra): „Queritur autem uana gloria aut per res laudabiles aut per munera aut per propriam uocem. Porro res laudabiles aut sunt uane aut bona fortune et bona nature aut non uane, ut uirtutes et opera uirtutum.“ 258 Spec. uniu. 12, 100 (P, fol. 137ra): „Itaque alii querunt uanam gloriam per bona fortune, ut diuitias, per honores, per potentias, per uoluptates […].“ 259 Spec. uniu. 12, 100 (P, fol. 137rb): „Alii uero querunt gloriam et laudem per bona nature corporalis ut per fortitudinem et strenuitatem, per pulcritudinem, per agilitatem, per uocem, per eloquentiam et huiusmodi. […] Alii per anime bona naturalia uanam gloriam et laudem querunt ut per scientiam, per studium, per magisterium et huiusmodi.“ 260 Spec. uniu. 12, 100 (P, fol. 137rb): „Tales sunt clerici qui ad gloriam addiscunt, ad gloriam legunt, ad gloriam disputant, ad gloriam predicant. Quicquid enim in scolis student, quicquid disputant, quicquid sese argumentando lacerant, uana gloria est.“ 261 Spec. uniu. 12, 100 (P, fol. 137rb): „Alii etiam per spiritualia studia et uirtutum opera uanam gloriam querunt, ut quidam ficti religiosi qui non Deo, sed hominibus ieiunant, psalmodizant, lacrimas offerunt, orationes longius protendunt, helemosinas distribuunt.“ 262 Spec. uniu. 12, 101 (P, fol. 137va): „Per munera quoque queritur laus a quibusdam. Qui cum laudabiles non sint, prodigis largitatibus nutriunt adulatores, mimos et istriones, ut per eos laudentur, ut ubique largi, liberales probique predicentur […].“
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heute noch etwa im universitären Betrieb beobachten lassen: So geht es oft nur darum, viele Zuhörer anzuziehen, um durch sie bekannt zu werden oder Altbekanntes wird so vorgetragen, als ob es sich dabei um eigene Erkenntnisse handelt. Dabei identifiziert er auch kleine Details als Streben nach ‚uana gloria‘, wie bspw. das Beantworten selbstgestellter Fragen oder Selbstlob durch Kritik an anderen Menschen.263 Diese Darlegungen lassen trotz der Fülle an Details einen zentralen Gedanken erkennen: Das entscheidende Kriterium für die ethische Bewertung ist die jeweilige Absicht, während die äußeren Gegebenheiten der Handlung kaum eine Rolle spielen. In Verbindung mit der Tatsache, dass Radulfus Ardens hier an mehreren Stellen innerkirchliche Verhältnisse kritisiert und dabei offensichtlich besonders das Klosterleben und den Schulbetrieb im Auge hat, entsteht der Eindruck, dass hier in Kurzform eine praktische Anleitung zur Erforschung der eigenen Intention dargeboten wird, die das Ziel verfolgt, jeden noch so kleinen Anteil von Streben nach ‚uana gloria‘ aufzudecken und auszutilgen. Hierbei dürften die geistigen Umwälzungsprozesse des 12. Jahrhunderts im Hintergrund stehen, die zu vielen Diskussionen und persönlichen Auseinandersetzungen geführt haben. Radulfus Ardens nennt jedoch keine Namen und seine Ausführungen bleiben allgemein, richten sich aber klar gegen eine Gelehrsamkeit, der es nur noch um Selbstdarstellung und damit um wertlosen Ruhm geht. (4) Das wahre Lob (‚laus uera‘) ist dadurch gekennzeichnet, dass ein guter Mensch wegen Gott gelobt wird. Dabei ist entscheidend, dass er bei seinem Tun nicht seinen eigenen Ruhm, sondern das Lob Gottes (‚gloria dei‘) im Blick hat.264 Obgleich die ‚laus uera‘ grundsätzlich etwas Positives ist, betont Radulfus Ardens – ähnlich wie bei den äußeren Ehren –, dass kein lobenswerter Mensch durch das Lob besser wird, aber schon viele dadurch dem Stolz verfallen sind.265 Im weiteren Verlauf des Kapitels bewertet er das Lob anhand von verschiedenen Szenarien differenzierter, wodurch die bisher eher theoretischen Bestimmungen verständlicher werden: Erstens betrachtet er den Fall, dass ein lobenswerter
263 Spec. uniu. 12, 102 (P, fol. 137vaf.): „Per uocem quidem propriam querunt laudem sibi quidam. Qui talis est, sitit auditores quibus suas iactitet uanitates, quibus quantus qualisue sit, innotescat. Si sermo de litteris oritur, uetera et noua uerbis ampullosis proferuntur. Preuenit interrogantes, respondet non querenti. Ipse querit, ipse soluit. Et uerba loquutoris inperfecta relinquit. Nec curat docere uel doceri, sed ut scire sciatur quod scit. Et quia uidetur ei turpe se laudari aperte, per circumloquutionem et obliquationem se laudat. Ex aliorum reprehensione semet intendit commendare. Aliorum culpam suam putat esse uirtutem.“ 264 Spec. uniu. 12, 103 (P, fol. 137vb): „Laus autem siue gloria uera est, quando laudabilis laudatur in Deo et propter Deum. Porro laudabilis est qui bona et bene agit in omnibus, non suam, sed Dei gloriam querens. Hic bene laudatur, quando in Deo et propter Deum laudatur, id est in bonis et intentione bona.“ 265 Spec. uniu. 12, 103 (P, fol. 137vb): „Est enim laudabilem esse materiam laudis habere. Laudabilis uero si non laudetur, non ideo deterior, sed potius integrior et securior habetur uel efficitur.“
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Mensch selbst dabei anwesend ist, wenn er gelobt wird. Eine solche Situation sieht er als sehr gefährlich an, da auch demütige Menschen leicht dem Reiz der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit erliegen. Dadurch würde sich die ‚laus uera‘ in eine ‚laus uana‘ verwandeln. Er räumt ein, dass wohl die meisten Menschen von diesem Laster versucht werden und ruft dazu auf, öffentliches Lob zu vermeiden, da man der entsprechenden Person damit mehr schadet als nützt.266 Zweitens beschäftigt er sich nochmals mit dem Lob um seiner selbst willen (‚propter se‘). Mehrfach hatte er bereits hervorgehoben, dass das Streben nach Lob um seiner selbst willen grundsätzlich als Übel zu werten ist; daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass das Lob nur dann ein Gut sein kann, wenn man bei seinen Werken ausschließlich den Nutzen für die Mitmenschen (‚propter utilitatem proximi‘) oder die Ehre Gottes (‚propter honorem dei‘) im Blick hatte. Diese an sich unmissverständliche Bestimmung wird nun jedoch in einem bestimmten Bereich relativiert: Der Autor unterscheidet nämlich unter Berücksichtigung des jeweiligen charakterlichen Entwicklungsstadiums drei unterschiedliche Fälle: Hat ein Mensch gerade erst begonnen, sich die Tugenden anzueignen (‚incipiens‘), kann man ihm den Wunsch nach Lob zugestehen. Denn ohne Lob verzweifelt er an der Größe der Aufgabe und kommt nicht voran. Diejenigen, die schon auf dem Weg sind (‚proficientes‘), aber noch schwach (‚infirmi‘) sind, darf man nicht loben, da sie sonst meinen, schon vollkommen zu sein und dadurch ihre noch vorhandenen Fehler aus dem Blick verlieren. Die Vollendeten (‚perfecti‘) benötigen schließlich überhaupt kein Lob mehr und dürfen es auch nicht erstreben.267 Drittens beschäftigt sich Radulfus Ardens mit der bereits biblisch fundierten Vorschrift, gute Taten nicht ‚vor den Menschen‘ (‚coram hominibus‘), also in aller Öffentlichkeit, sondern im Verborgenen zu tun.268 Dieses Verbot scheint jedoch damit im Wider-
266 Spec. uniu. 12, 103 (P, fol. 137vb): „Laudari uero precipue coram se est periculosum. Enimuero plurimum contingit quod et si de bono opere nostro laudem non querimus, laudati tamen intus gloriamur. Et gloria et si non fuit quesita, delectat tamen oblata. […] Quam rari sunt qui hoc uitio non temptentur! Magnum quippe certamen est bonis, aduersus gloriam uanam quod nescit, nisi qui ei bellum indicit. Propterea neminem in sua presentia laudare debemus, ne ei noceamus aut ipsi adulatores esse uideamur.“ 267 Spec. uniu. 12, 103 (P, fol. 138ra): „Laudari uero uelle propter se malum est. ‘Propter seʼ uero ideo dico, quoniam propter honorem Dei et utilitatem proximi uelle laudari, bonum est. Sunt autem tres hominum species: Nam alii sunt incipientes, alii proficientes, sed adhuc infirmi, alii perfecti. Incipientes quidem laudem querere sustinemus aut etiam ipsi eos laudamus propter eorum profectum, ut scilicet inde letantes, excitentur ad maiora. […] Infirmis uero laus humana penitus est euitanda, ne de bono suo laudati semet extollant et aliis de se plusquam sibi credant et si qua mala in eis sunt, corrigere desistant.“ 268 Radulfus Ardens verweist hier auf Mt 6, 1: „adtendite ne iustitiam vestram faciatis coram hominibus ut videamini ab eis alioquin mercedem non habebitis apud Patrem vestrum qui in caelis est.“
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spruch zu stehen, dass an anderen Stellen explizit dazu aufgefordert wird, die eigenen guten Werke sichtbar zu machen, um Gott zu verherrlichen.269 Dieses Problem löst er, indem er wiederum nur die Intention als Kriterium für die Bewertung einer Handlung und des damit verbundenen Lobes gelten lässt. Damit wird die sittliche Qualität des Werkes von den äußeren Umständen entkoppelt: So kann man einerseits mit der richtigen Absicht auch vor den Mitmenschen gut handeln und ihnen damit ein gutes Vorbild bieten; andererseits kann man auch gerade deshalb sein Werk im Verborgenen tun, um dabei bemerkt und dadurch umso mehr bewundert zu werden.270 Schließlich legt er sogar – wieder unter Bezugnahme auf die Bibel – Ausnahmen fest, in denen es erlaubt ist, seine eigenen Verdienste aufzuzählen. Dabei führt er Fälle an, in denen dadurch größere Übel verhindert werden, wie z. B. in Notlagen (hier verweist er auf Iob 29, 15), unter Drohungen (2 Reg 20, 3) oder um falsche Prediger zu entlarven (2 Cor 11, 23).271 (5) Das glückselige Lob (‚laus beata‘) ist das eschatologische Lob Gottes, durch das Gott seine Erwählten am Ende der Zeiten zu sich ruft und in die ‚communio sanctorum‘ aufnimmt. Es ist das höchste Ziel allen weltlichen Lobes; damit wird nochmals betont, dass man im Diesseits stets nach dem Ruhm Gottes und nicht nach seinem eigenen streben soll.272 Zum Abschluss dieses Teilkapitels ist es notwendig, die teilweise undurchsichtigen Gedankengänge, die zu den zahlreichen Arten und Unterarten des Lobes führen, mithilfe einer grafischen Darstellung zu veranschaulichen:
269 Vgl. Mt 5, 16: „sic luceat lux vestra coram hominibus ut videant vestra bona opera et glorificent Patrem vestrum qui in caelis est.“ 270 Spec. uniu. 12, 103 (P, fol. 138va): „Vnde contingit quod bonum opus et in occulto sit publice, ut in ypocrita et in publico occulte, ut in iusto. Qui enim in occulto bono deprehendi et laudari concupiscit, coram hominibus facit. Et qui in publico bona propter solum Deum facit, in occulto facit. Sic ergo bonum nostrum fiat in publico, ut intentio maneat in occulto.“ 271 Spec. uniu. 12, 103 (P, fol. 138vaf.): „Porro sese laudare est fedissimum. Ceterum hoc recipit exceptionem. Quoniam tres casus inueniuntur in sacris scripturis in quibus est utile bona nostra humiliter enumerare, ut in aduersitatibus et temptationibus, ne desperemus sicut Iob. Qui inter magnas tribulationes positus dixit: Oculus fui ceco et pes claudo. Vt in comminationibus, quatinus iram iudicis ad misericordiam inflectamus, sicut Ezechias. Qui postquam audiuit quia morieris tu et non uiues plorans dixit: Memento, Domine, quomodo ambulauerim coram te in ueritate et quod bonum est in oculis tuis fecerim. Vt quando postponuntur boni predicatores falsis, sicut Paulus. Qui propter utilitatem auditorum se prefert pseudoapostolis dicens: Ministri Christi sunt et ego, ut minus sapiens dico, plus ego, id est ut minus sapienter dicere uidear. “ 272 Spec. uniu. 12, 104 (P, fol. 138vb): „Gloria uero siue laus beata est laus diuina. Qua scilicet Deus laudabit, in iudicio electos suos, uocans eos benedictos, fratres suos, amicos suos, deos et Dei filios […]. Erit autem laus illa substantialis, inuariabilis, perpetualis; substantialis sine mutabilitate, inuariabilis sine obfuscatione, perpetualis sine fine.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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per res uanas / bona fortune
mala
laus / gloria
per res laudabiles
per bona nature per res non uanas (uirtutes)
falsa
uane queritur
per munera
uana
uane recipitur
per uocem propriam
bona
uane offertur
beata Abb. 62: Die Arten des Lobes bzw. des Ruhmes.
Die Ausführungen in den Kapiteln 97–104 sind ein gutes Beispiel dafür, wie genau Radulfus Ardens unterscheidet. Mit eben dieser exakten Abwägung von Einzelfällen bzw. der jeweils vorliegenden Absicht führt er vor Augen, dass menschliches Handeln komplex und immer wieder von Widersprüchen geprägt ist. Damit bereiten diese Überlegungen die Bestimmung derjenigen Komplementärtugend vor, mit deren Hilfe er versucht, die Komplexität des jeweiligen Handlungsfeldes abzubilden und seine Grundstruktur verständlich zu machen. 2.1.5.2 Die Ausführungen zu den Übeln, die aus der ‚uana gloria‘ entstehen und ihre Relevanz für die Komplementarität im Traktat über die Armut Bevor in Kapitel 115 die Komplementärtugend des ‚contemptus uane glorie‘ benannt wird, beschäftigt sich der Autor ausführlich mit der Frage, was für ein großes Übel der wertlose Ruhm ist. Dabei hebt er zunächst noch einmal hervor, dass der ‚appetitus uane glorie‘ im fundamentalen Gegensatz zum Streben nach der Liebe Gottes steht, weshalb dadurch auch sämtliche Tugenden und Güter entweder ganz entwertet oder teilweise beschädigt werden.273 In ähnlicher Weise hatte er sich bereits in Kapitel 100 geäußert und dort sogar ein Einteilungsschema entwickelt, das den Schaden nach dem quantitativen Vorhandensein von Streben nach wertlosem Ruhm bemisst: Wird ausschließlich ‚uana gloria‘ gesucht, ist die gesamte Tat als Sünde zu werten. Erstrebt man zugleich ‚uana gloria‘ und ‚amor dei‘, geht der Verdienst verloren und selbst dann, wenn nur eine minimale Beimischung von ‚amor uane glorie‘ vor-
273 Spec. uniu. 12, 105 (P, fol. 138vb): „Enimuero gloria uana uirtutes uertit in uitia, gloriam eternam in temporalem, amorem Dei in amorem mundi, eterna premia in temporalia. Plerumque de ipsis uirtutibus solet triumphare.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
handen ist, wird der Verdienst dadurch zumindest geschmälert.274 Hier zeigt sich erneut, dass der Autor darum bemüht ist, eine praktische Anleitung zu präsentieren, um die eigenen Beweggründe möglichst genau zu erforschen und zu korrigieren. Um konkret aufzuzeigen, welche negativen Folgen der wertlose Ruhm nach sich zieht, zählt er insgesamt 13 Übel auf, nämlich Verheimlichung (‚dissimulatio‘), Vortäuschung (‚simulatio‘), Heuchelei (‚ypocrisis‘), Drang nach Einzigartigkeit (‚singularitas‘), Aberglaube (‚superstitio‘), Häresie (‚heresis‘), Neid (‚inuidia‘), Wettstreit (‚contentio‘), Geringschätzung Gottes und der Mitmenschen (‚contemptus dei et proximi‘), Übermut (‚audacia‘), Unüberlegtheit (‚temptationes temeritatis‘), offene Gefahren (‚aperta pericula‘) und Schaden (‚dampna‘).275 Wie bereits erwähnt werden diese ‚mala‘ in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit besprochen: Neben der Heuchelei, der er nicht weniger als sechs Kapitel (c. 107–112) widmet, behandelt er noch die Einzigartigkeit in Kapitel 113 sowie Verheimlichung und Vortäuschung in Kapitel 106 genauer. Während er Aberglaube, Häresie, Streit und Neid in Kapitel 114 zumindest noch summarisch darstellt, äußert er sich zu den übrigen gar nicht mehr, da sie sich seiner Meinung nach von selbst verstehen.276 Aus diesem umfangreichen Passus sind besonders zwei Gedankengänge für die vorliegende Untersuchung interessant. (1) Erstens verdient Kapitel 106 über ‚simulatio‘ und ‚dissimulatio‘ eine genauere Betrachtung. Obgleich Radulfus Ardens beide Verhaltensweisen zunächst als Übel bzw. Laster beschrieben hat, räumt er später ein, dass sie unter bestimmten Bedingungen auch positiv bzw. tugendhaft sein können: So ist es bspw. dann gut, etwas Gutes zu verbergen, wenn man übermäßige Aufmerksamkeit oder wertloses Lob vermeiden will. Dies legt sich gerade für solche Menschen nahe, die noch am Anfang ihrer geistigen Bemühungen stehen (‚incipientes‘) und ihre ersten Erfolge nicht gefährden wollen. Ebenso kann es gut sein, etwas Schlechtes zu verbergen, um anderen kein schlechtes Vorbild zu sein. Diesbezüglich spricht er von ‚dissimulatio bona‘ und geht ebenso von der Existenz einer ‚simulatio bona‘ aus: Denn auch das Vortäuschen einer guten Tat oder einer guten Charaktereigenschaft kann sinnvoll sein, etwa wenn ein Sünder keinen Anstoß erregen will. Sogar sich selbst als
274 Spec. uniu. 12, 100 (P, fol. 137va): „Hoc autem animaduertendum quod quandoque per bonum opus queritur principaliter uana gloria, quandoque tam amor Dei quam gloria mundi, quandoque principaliter amor Dei, sed ex latere se adiungit gloria mundi, quandoque nec principaliter nec ex latere, se adiungit gloria uana, sed delectat oblata. Itaque per primum uertitur totum opus in peccatum. Per secundum perdit meritum suum. Per tertium in parte leditur, secundum quod gloria plusue minusue queritur. Per quartum similiter.“ 275 Spec. uniu. 12, 106 (P, fol. 139ra): „Parit autem inanis gloria dissimulationem, simulationem, ypocrisim, singularitatem, superstitionem, hereses, inuidias, contentiones, contemptum Dei et proximi, audacias, temeritatis temptationes, decendit in aperta pericula et dampna.“ 276 Spec. uniu. 12, 114 (P, fol. 140vb): „Ceteris uero qui sequuntur, supersedemus eo quod sint manifesta.“
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schlecht darzustellen kann unter gewissen Bedingungen einem guten Ziel dienen, z. B. wenn man dadurch als grausam erscheint und schlechte Menschen dadurch von bösen Taten abhält. Da die Intention entscheidend ist, kann beides natürlich auch negativ sein: Wenn der Sünder seine schlechten Eigenschaften verbirgt, um gut zu erscheinen, handelt es sich um ‚dissimulatio mala‘. Auch die ‚simulatio‘ kann ein auf schlechtes Ziel ausgerichtet sein, wie wenn ein tugendhafter Mensch (ähnlich wie im oben erwähnten ‚exemplum‘ mit Vater Simon) ein Gut verbirgt, um sich einer göttlichen Berufung zu entziehen oder wenn ein schlechter Mensch ein Gut vortäuscht, das er nicht hat.277 Obwohl Radulfus Ardens mit keinem Wort andeutet, dass es sich hier um ein Komplementärtugendpaar handelt, spricht einiges dafür, dass ‚dissimulatio bona‘ und ‚simulatio bona‘ in einem positiven Wechselverhältnis stehen. So legen die hier verwendeten Begriffe die folgenden ‚termini‘ nahe: Kein Sünder kann das Böse auf gute Weise verbergen, wenn er nicht auch das Gute richtig vorzugeben weiß. Ebenso wenig kann ein tugendhafter Mensch seine Güter verbergen, ohne dass er in gewisse Maß Übel vortäuscht. Dieses Komplementärtugendpaar könnte möglicherweise so aussehen:
‚simulatio mala‘
‚simulatio bona‘
↔ ‚dissimulatio bona‘
‚dissimulatio mala‘
Problematisch ist dabei, dass sich Radulfus Ardens bereits im darauf folgenden Kapitel selbst zu widersprechen scheint, wenn er in Zusammenhang mit der Heuchelei feststellt, dass es immer sehr schlecht (‚pessimum‘) ist, ein Gut, das es nicht gibt, vorzutäuschen.278 Dies muss jedoch nicht heißen, dass hier nicht doch ein komplementärer Zusammenhang im Hintergrund steht, da der Gedankengang offensichtlich nicht konsequent zu Ende geführt wurde. Damit wird einmal mehr deutlich, dass bei genauerem Hinsehen immer wieder argumentative Brüche und Unklarheiten sichtbar
277 Spec. uniu. 12, 106 (P, fol. 139raf.): „Porro dissimulatio est, quando quis defingit malum quod est. Quod uero appetitus uane glorie pariat dissimulationem et simulationem, inde constans est, quoniam, cum appetitor glorie non habeat in se unde laudari debeat, unde possit laudari, similat uel dissimilat. Simulatio est, quando quis fingit bonum quod non est. Est autem dissimulatio bona, est et dissimulatio mala. Similiter et simulatio. Dissimulare quippe bonum bonum est inperfecto, ne inde laudatus intumescat. Dissimulare malum bonum est malo, ne malo exemplo alios corrumpat. Et tamen eidem dissimulare malum malum est, si hoc ideo faciat, ut bonus appareat. Simulare bonum bonum est peccatori, ne inde alios offendat. Et tamen eidem simulare bonum malum est, si ob uanam gloriam hoc faciat. Simulare quippe malum bonum est, si bona intentione hoc fiat, ut quando quis fingit se crudelem, ut malos deterreat. Simulare quoque malum malum est, si mala intentione hoc fiat, ut quando aliquis se fingit malum, ut alios decipiat.“ 278 Spec. uniu. 12, 107 (P, fol. 139rb): „Bonum quippe est malum suum dissimulare et tegere, si tamen hac causa hoc faciat, non ut bonus appareat, sed ne alios malo exemplo suo corrumpat. Simulare quippe bonum quod non est, semper pessimum est.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
werden, die insgesamt den Eindruck eines unvollendeten bzw. unkorrigierten Werkes vermitteln. (2) Zweitens stellt das Laster der ‚singularitas‘ einen lohnenden Untersuchungsgegenstand dar. Dabei muss zunächst einmal geklärt werden, was eigentlich gemeint ist und wie sich der Begriff übersetzen lässt. Hier bringt die Definition Licht ins Dunkel, der zufolge die ‚singularitas‘ eine bemerkenswerte Eigenschaft (‚notabilis res‘) meint, durch die ein Mensch alle anderen übertrifft.279 Aus einem neutralen bzw. positiven Verständnis heraus ließe sich der Terminus mit ‚Alleinstellungsmerkmal‘ übersetzen; allerdings wird im weiteren Verlauf von Kapitel 113 klar, dass es sich dabei um einen Drang nach Einzigartigkeit handelt, der weniger auf das Gute ausgerichtet ist als darauf, die Mitmenschen um jeden Preis zu übertreffen. Ein solcher Mensch fokussiert sich auf Kleinigkeiten, die er anderen voraus hat und blendet viele andere Qualitäten aus, die er mit ihnen teilt.280 Als Beispiel aus dem Bereich des Klosterlebens führt Radulfus Ardens den Fall an, dass ein bestimmter Mönch unbedingt strenger fasten will als seine Mitbrüder und sich dabei ausschließlich an den wenigen Stunden erfreut, die er länger als die anderen gefastet hat, als über die vielen Tage Freude zu empfinden, an denen alle gemeinsam enthaltsam waren.281 Ein solches Verhalten ist nicht nur deshalb lasterhaft, weil die Einzigartigkeit der eigenen Leistung zum Selbstzweck und zum Maß aller Dinge wird, sondern auch, weil die Gemeinschaft dadurch Schaden nimmt. Aufgrund dieser durchweg negativen Bewertung könnte der Eindruck entstehen, dass Radulfus Ardens nur vollkommene Gleichheit als Ideal gemeinschaftlichen Lebens gelten lässt. Jedoch wurde bereits bei der Aufzählung der Arten der ‚singularitas‘ deutlich, dass es auch eine ‚singularitas bona‘ gibt, die durch besondere Tugendhaftigkeit gekennzeichnet ist; sie ergibt sich jedoch von selbst und darf nicht aktiv erstrebt werden.282 Von daher ist klar, dass es individuelle Unterschiede gibt und manche Menschen besondere Eigenschaften haben. Der entscheidende Hinweis auf ein Komplementärtugendpaar findet sich wenig später bei der weiteren Entfaltung dieses Gedankens: Die Individualität jeder einzelnen Persönlichkeit (‚unitas‘) verbietet es auf der einen Seite, eine unterschiedslose Gleichmacherei zu betreiben
279 Spec. uniu. 12, 113 (P, fol. 140va): „Singularitas est in aliqua notabili re ceteros superare.“ 280 Spec. uniu. 12, 113 (P, fol. 140vaf.): „Presumptuosum quoque est appetere se esse singulariter bonum. Quoniam qui hoc desiderat, non appetit tam esse bonus quam singularis, non tam bonus esse quam alios minus se et mauult minus bonus esse, ut sit singularis quam melior esse, si non sit singularis.“ 281 Spec. uniu. 12, 113 (P, fol. 140vb): „Non sufficit ei quod communis habet regula monasterii. Plus blanditur sibi de ieiunio quod solus facit quam non cum ceteris, septem dies ieiunaret, et de una oratiuncula peculiari quam de tota psalmodia unius noctis.“ 282 Spec. uniu. 12, 113 (P, fol. 140va): „Porro singularitas alia est mala, alia uana, alia bona. Alius enim extollit in malo, alius in uana, alius in bona. […] Prima singularitas est detestanda, secunda contempnenda, tertia est amanda, sed non appetenda.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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(‚equalitatem excedere‘). Auf der anderen Seite sorgen die Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen bzw. das Leben in der Gemeinschaft (‚communitas‘) dafür, dass sich kein übersteigerter Drang nach Einzigartigkeit (‚singularitas‘) entwickelt.283 Aus dieser Bemerkung lässt sich problemlos ein Komplementärtugendpaar ableiten:
‚singularitas mala / uana‘
‚unitas‘ / ‚singularitas bona‘
↔
‚communitas‘ / ‚equalitas‘
‚equalitatem excedere‘
Damit wäre der lasterhafte Drang nach Einzigartigkeit und Selbstdarstellung das ‚uitium contrarium‘ der Bereitschaft zum gemeinschaftlichen Leben. Ebenso würde die Individualität, die auch eine ‚singularitas bona‘ enthalten kann, einer völlig profillosen Angleichung vorbeugen. 2.1.5.3 Die ‚fuga infamie‘ als Korrektiv des ‚contemptus uane glorie‘ Viele Aspekte, die im Traktat zur Sprache kamen, werden im Schlusskapitel wieder aufgegriffen. So ist bereits klar geworden, dass eine einseitige und übertriebene Geringschätzung des Lobes in letzter Konsequenz Schande (und damit Schuld) nach sich zieht, da man damit entweder den Mitmenschen die Unterstützung durch die eigenen Fähigkeiten (‚talentum‘) vorenthält oder sich einer göttlichen Berufung widersetzt. Von daher bestimmt Radulfus Ardens die Vermeidung der Schande (‚fuga infamie‘) als Komplementärtugend des ‚contemptus laudis‘. Dass dieses Korrektiv notwendig ist, begründet er damit, dass eine Lebensweise, die krankhaft jede gesellschaftliche Aufmerksamkeit meidet, Anstoß erregt und wenig vorbildlich für die Mitmenschen ist.284 Auf der anderen Seite wird aber jedes noch so wertvolle Gut dadurch zerstört, dass es nur als Werkzeug für die eigene Egozentrik dient.285
‚infamia‘
‚contemptus laudis‘ / ‚contemptus uane glorie‘
↔
‚fuga infamie‘
‚amor laudis‘ / ‚amor uane glorie‘
283 Spec. uniu. 12, 113 (P, fol. 140va): „Vnitatis est equalitatem non excedere. Communitatis est nichil singularitatis habere.“ 284 Spec. uniu. 12, 115 (P, fol. 141ra): „Habet autem contemptus laudis uirtutem sibi collateralem infamie fugem. Enimuero utraque temperat alteram et altera sine altera uitiosa est. Enimuero si quis sic contempnat laudem quod incurrat infamiam, dupliciter peccat. Et quia materiam maledicendi de se ceteris tribuit et quia eos malo exemplo corrumpit.“ 285 Spec. uniu. 12, 115 (P, fol. 141ra): „Et econtra: Si quis tantisper infamiam fugiat quod uanam gloriam queat, totum bonum suum, ut supradictum est, flaccefacit. Sunt itaque termini harum uirtutum sic fugere uanam gloriam quod infamiam non incurramus et sic fugere infamiam quod in uanam gloriam non incidamus.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
In diesen Ausführungen wird nochmals die zentrale Bedeutung der Intention hervorgehoben. Dabei steht der Mensch letztlich immer vor der gleichen Grundentscheidung: Will er sich an der Liebe Gottes orientieren, oder löst er sein Handeln aus dieser Beziehung und richtet es rein nach weltlichen Gesichtspunkten aus? Dass es vor dem Hintergrund einer so tiefgehenden Grunddisposition kein Patentrezept für Richtig und Falsch gibt, wurde im Verlauf des Traktats durch zahlreiche Einzelfallentscheidungen deutlich. Abschließend gibt Radulfus Ardens zumindest eine grobe Orientierung vor: Alle Menschen müssen v. a. die Schande meiden; darüber hinaus sind die Schlechten besonders dazu angehalten, keinen oberflächlich guten Ruf zu suchen, ohne tatsächlich an sich zu arbeiten und die ‚perfecti‘ müssen mit ihrem tadellosen Lebenswandel ein Vorbild bieten und daher auch eine ‚bona fama‘ erstreben.286 In diesem Zusammenhang kommt er nochmals auf seine Kritik an den innerkirchlichen Verhältnissen und den Auswüchsen im Schulbetrieb zurück und ruft gerade die Kleriker und Oberen der Kirche dazu auf, sich nach den Bedürfnissen der Gläubigen zu richten und stetig die Verbesserung des eigenen Charakters im Blick zu haben.287 Am Ende des Traktats gelingt es Radulfus Ardens – anders als in den drei vorherigen – die zahlreichen vorherigen Gedanken in einer Synthese zu verbinden. Dass dies im Zuge der Bestimmung des Komplementärtugendpaars geschieht, macht auf die systematische Bedeutung der Komplementarität aufmerksam und lässt darauf schließen, dass der Autor in diesem Fall seine eigene Methodik konsequent durchgeführt hat. Somit kann der Traktat über den ‚contemptus laudis‘ als ein mustergültiges Beispiel für die Umsetzung der tugendethischen Konzeption des Speculum universale gelten.
2.1.6 Das Komplementärtugendpaar ‚uoluntarius labor siue afflictio‘ – ‚naturalis refectio corporis‘ Die Behandlung der Geringschätzung der Lust stellt mit 21 Kapiteln (c. 123–143) nach dem Traktat über den ‚contemptus diuitiarum‘ den größten zusammenhängenden Abschnitt im Bereich des ersten Gliedes der Geringschätzung dar. Auch hier folgt
286 Spec. uniu. 12, 115 (P, fol. 141ra): „Est igitur infamia cunctis euitanda, bona fama malis non presumenda, inperfectis fugienda, perfectis appetenda.“ 287 Spec. uniu. 12, 115 (P, fol. 141ra): „Vnde et doctores ecclesie exemplo Christi debent a familiaribus suis inquirere cuius opinionis habeantur in plebe et si senserint se bone opinionis esse, totum Deo attribuere et se tales fieri, quales se audiunt predicari. Si uero nouerint se male opinionis esse, sic bene et discrete uiuere studeant, ut malam opinionem possint in bonam commutare. Ceterum nonnulli antiquorum patrum leguntur hanc regulam non obseruasse qui tantisper fugiebant cenodoxiam. Quod non solum male opinari de se permittebant, immo etiam appetebant.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
. . . . . .
‚quid sit uoluptas?‘ ‚que sint eius species?‘ ‚que contempnenda sint et que non?‘ ‚quod uitium sit uoluptati contrarium?‘ ‚que uirtus sit collateralis contemptus uoluptatis?‘ ‚qui sint eius termini?‘
) (c.
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)
(c. –)
) (c. )
Radulfus Ardens bei der Gliederung dem bewährten Schema aus den Traktaten über die Liebe zur Ehre, zur Macht und zum Lob:288 Abgesehen davon, dass Radulfus Ardens die zweite und dritte Leitfrage, ebenso wie in den letzten drei Traktaten, gemeinsam behandelt, fallen noch zwei weitere Punkte besonders ins Auge: Erstens nimmt die Bestimmung der ‚species‘ und ihre ethische Bewertung mit fünf Kapiteln ungewöhnlich viel Raum ein. Dies liegt zum einen daran, dass hier tatsächlich sehr viele Untergliederungen aufgeführt und beschrieben werden; zum anderen lassen sich aber auch zwei inhaltliche Schwerpunkte ausmachen, die nicht nur als solche detailliert beschrieben werden, sondern in die auch Exkurse eingeflochten sind, die für das Verständnis des Werkes insgesamt einige Bedeutung haben: Hier ist zunächst die ausführliche Behandlung der glückseligen Lust (‚uoluptas beata‘) zu nennen, die aus der ‚fruitio dei‘ entsteht. Die hier entfalteten Gedankengänge enthalten viele Informationen über die eschatologischen Vorstellungen des Radulfus Ardens und stecken damit auch den heilsgeschichtlichen Rahmen der Tugendlehre im Speculum universale genauer ab. Sodann äußert sich der Autor in Zusammenhang mit der fleischlichen Lust (‚uoluptas carnalis‘) grundlegend zu den fünf Sinnen und klärt dabei neben mehreren anthropologischen nochmals einige eschatologische Probleme. Zweitens werden gleich drei Fragen gestellt, die mit der Bestimmung des Komplementärtugendpaars zusammenhängen. Sie alle werden in Kapitel 121 beantwortet, das zugleich den Abschluss der ersten ‚distinctio contemptus‘ bildet. Somit besteht das Ziel des vorliegenden Unterkapitels zum einen darin, die in den beiden Exkursen enthaltenen systematischen Informationen herauszuarbeiten; zum anderen erfolgt eine genaue Analyse des Schlusskapitels, das das letzte Komplementärtugendpaar der ersten ‚distinctio‘ und ein kurzes Zwischenfazit enthält. 2.1.6.1 Die Definition der Lust, ihre ‚species‘ und deren ethische Bewertung Bevor Radulfus Ardens überhaupt auf die einzelnen ‚species uoluptatis‘ zu sprechen kommt, klärt er zunächst einmal, welches Verständnis von Lust seinen Ausführungen zugrunde liegt. Diesbezüglich stellt er fest, dass es ein weites Verständnis des Lustbe-
288 Spec. uniu. 12, 116 (P, fol. 142va): „De contemptu uoluptatis tractaturi considerare debemus quid sit uoluptas et que eius species et que contempnenda et que non, quod uitium sit uoluptati contrarium et que uirtus sit collateralis contemptui uoluptatis et qui eius termini.“
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griffs (‚large accipitur‘), ein enges (‚stricte accipitur‘) und ein noch engeres (‚strictius accipitur‘) gibt. Das weite Verständnis schließt jeden beliebigen Genuss (‚delectatio‘) beim Gebrauch (‚usus‘) einer Sache ein, die gefällt (‚delectat‘). Mit dieser Bestimmung grenzt er die Lust von der bloßen Erinnerung an oder die Hoffnung auf einen positiv konnotierten Gegenstand ab.289 Auch zum Verhältnis von ‚uoluntas‘ und ‚uoluptas‘ äußert er sich knapp: Der Wille ist grundlegende Bedingung für die Lust, jedoch kann es auch einen Willen ohne Lust geben, wenn es sich dabei nur um innere Regungen handelt, die sich nicht als praktische Handlung konkretisieren.290 Das enge Verständnis meint jedwede Form von körperlicher Freude (‚delectatio carnalis‘), unabhängig davon, ob sie maßvoll oder unmäßig ist. Im Gegensatz zu diesem ethisch neutralen Begriff meint das engere Verständnis schließlich nur die unmäßige (also lasterhafte) körperliche Lust.291 Bereits hier wird erkennbar, dass Radulfus Ardens die körperliche Lust nicht von vorneherein negativ bewertet, sondern genau unterscheidet. In den folgenden Ausführungen geht er vom weiten Verständnis der ‚uoluptas‘ aus und unternimmt den Versuch, alle möglichen Formen der Lust zu identifizieren und ein Raster zu entwickeln, um sie ethisch zu bewerten. Obgleich die Darlegungen z. T. sehr komplex sind und nicht immer auf den ersten Blick verständlich erscheinen, geht Radulfus Ardens letztlich in drei Schritten vor, die im Folgenden kurz nachgezeichnet und schematisch dargestellt werden. Erst auf dieser Grundlage kann eine genauere Textanalyse erfolgen. Da die Gedankengänge über fünf Kapitel hinweg entfaltet werden, sind immer wieder kleinere Vorgriffe notwendig, um das Verständnis zu erleichtern. In einem ersten Schritt unterscheidet er die geistige (‚uoluptas spiritualis‘) und die fleischliche Lust (‚uoluptas carnalis‘). Beide können gut oder schlecht sein.292 Diese Aussage lässt er ohne weitere Erläuterungen so stehen und wendet sich zunächst der geistigen Lust zu. Da die ‚uoluptas spiritualis mala‘ erwartungsgemäß die Freude über eigene oder fremde Sünden meint, erwähnt er sie nur kurz; die ‚uoluptas spiritualis bona‘ unterteilt er dagegen in einem zweiten Schritt nochmals in eine gute (‚bona‘), eine bessere (‚melior‘) und die beste Lust (‚uoluptas optima‘). Die erste ist
289 Spec. uniu. 12, 116 (P, fol. 142va): „Igitur uoluptas accipitur aliquando large, aliquando stricte, aliquando strictius. Large accipitur, quando quelibet in re delectatio uoluptas nuncupatur. Que sic describi potest: Voluptas est in usu rei placite delectatio. Et ‘in usuʼ ideo dico, quoniam est delectatio que non est in usu rei, sed tantum in memoria uel in spe rei placite que uoluptas proprie dici non potest.“ 290 Spec. uniu. 12, 116 (P, fol. 142va): „Sed quomodo se habent ad inuicem uoluptas et uoluntas? Quia uoluntas sine uoluptate habetur, ut in spontaneis afflictionibus, passionibus et laboribus. Voluptas uero que est in usu rei sine aliqua uoluntate non potest haberi.“ 291 Spec. uniu. 12, 116 (P, fol. 142va): „Stricte uero accipitur uoluptas, quando dicitur uoluptas sola delectatio corporalis siue sit intemperata siue temperata. […] Strictius uero et usitatius dicitur uoluptas delectatio carnis intemperata, scilicet tam in mensura quam in frequentia modum excedens.“ 292 Spec. uniu. 12, 117 (P, fol. 142va): „Itaque uoluptas large accepta sic diuidi potest: Voluptas alia est spiritualis, alia carnalis. Item spiritualis uoluptas alia est mala, alia est bona.“
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die Freude an einem eigenen oder fremden Gut oder einer Tugend293, die zweite ist die Freude über das eigene reine Gewissen und die dritte ist die an Gott. Die letztgenannte unterteilt sich nochmals in die anteilige im Diesseits und die vollendete im Jenseits. Diese insgesamt fünf Unterarten behandelt Radulfus Ardens in den Kapiteln 117–119. In einem dritten Schritt nimmt er die fleischliche bzw. körperliche Lust genauer in den Blick, die sich in eine gute (‚bona‘), wertlose (‚uana‘), überflüssige (‚superflua‘), schlechte (‚mala‘) und schließlich noch in eine glückselige (‚beata‘) Unterart aufgliedern lässt. Diese Unterteilungen lassen sich wie folgt darstellen: in uia optima = delectari fruitione dei
bona
melior = delectari puritate conscientie
mala
bona = delectari bono nostro uel alio uel communi
spiritualis
uoluptas large accepta
in patria
9, c. 23-28 c. 119 c. 118
c. 117
mala = uoluptas strictius accepta carnalis = uoluptas stricte accepta
uana superflua
c. 120
bona beata
Abb. 63: Die Arten der Lust.
Anhand dieses Schemas wird ersichtlich, dass auch die beiden engeren Verständnisse des Lustbegriffes integriert wurden. Zudem hat Radulfus Ardens die geistige Lust offensichtlich feiner untergliedert als die fleischliche und legt hier in Buch 12 bei der ‚uoluptas optima‘ den Schwerpunkt auf die vollendete Form ‚in patria‘, da er die anteilige ‚in uia‘ bereits ausführlich in Buch 9 (c. 23–28) sowie kurz in Buch 11 (c. 23 und 24) beschrieben hatte. Daher erklärt sich auch, dass in Kapitel 119 vornehmlich eschatologische Themen zur Sprache kommen. Nachdem die Gliederungsstruktur nachvollzogen wurde, die dem Traktat über den ‚contemptus uoluptatis‘ seine Gestalt
293 Spec. uniu. 12, 117 (P, fol. 142va): „Et mala quidem est, ut eorum de quibus dicitur esse sub sentibus diuitias computabant. Et: Qui letantur cum male fecerint etc. Et hec quidem uoluptas non solum fugienda, sed etiam contempnenda et detestanda est. Spiritualis uero uoluptas alia est bona, alia melior, alia optima. Et bona siquidem spiritualis uoluptas est, quoniam bene delectamur de aliquo bono nostro uel communi uel alieno.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
verleiht, können jetzt die inhaltlichen Aspekte der zahlreichen ‚species‘ genauer in den Blick genommen werden. (1) Die ‚uoluptas spiritualis bona‘ ist der Genuss (‚delectatio‘) beim Gebrauch eines geistigen Gutes und von daher eine Tugend. Diese Definition findet sich so zwar nicht wörtlich im Text, sie ergibt sich aber aus den Bestimmungen der drei bereits genannten Unterarten. Hier stellt sich unwillkürlich die Frage: In welchem Verhältnis stehen die beiden Begriffe ‚uoluptas‘ und ‚delectatio‘ und worin unterscheiden sie sich? Um diese Frage zu beantworten, muss der Begriff der Lust systematisch von mehreren ähnlich klingenden amativen Affekten abgegrenzt werden, die schwerpunktmäßig in Buch 11 behandelt werden, aber auch sonst im Speculum universale immer wieder vorkommen. Erstens ist hier die eben erwähnte ‚delectatio‘ zu nennen. Wie aus der Definition im 24. Kapitel von Buch 11 hervorgeht, meint sie den Genuss einer geliebten Sache oder der Hoffnung darauf.294 Damit ist der Unterschied klar: Der Begriff ‚Lust‘ beschreibt ausschließlich die positive Emotion beim tatsächlichen Gebrauch (‚usus‘) einer begehrten Sache, während der Genuss (als übergeordneter Begriff) auch positive Gefühle miteinschließt, die aus der Hoffnung auf noch nicht vorhandene Dinge entstehen. Zweitens gilt es, das Verlangen (‚desiderium‘), das auch in den folgenden Kapiteln noch häufiger vorkommt, von der Lust abzugrenzen: Er ist ein Affekt, der darauf aus ist, sich einen begehrten Gegenstand anzueignen295 und sich dadurch von der Lust unterscheidet, dass es sich nur auf noch nicht (bzw. nicht mehr) vorhandene Dinge beziehen kann und damit nicht auf den Gebrauch, sondern den Erwerb ausgerichtet ist. Außerdem gibt es noch die drei Affekte Freude (‚gaudium‘), Fröhlichkeit (‚letitia‘) und Heiterkeit (‚serenatio‘). Sie werden in drei aufeinander folgenden Traktaten in Buch 11 behandelt und folgen – wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ausführlich gezeigt wurde296 – einer chronologischen Abfolge: Die Freude entsteht bei der Erlangung des ersehnten Gegenstandes,297 die Fröhlichkeit ist eine positive Emotion, die über vergangene Freuden im Geist zurückbleibt298 und die Heiterkeit entsteht aus einem guten Gewissen299. Obgleich zumindest die Freude große Ähnlichkeiten zur Lust aufweist, da sie sich auf einen tatsächlich vorhandenen Gegenstand bezieht, liegt bei der ‚uoluptas‘ dennoch der Gebrauch bzw. die Benutzung im Vordergrund, während sich das ‚gaudium‘ lediglich durch das Vorhandensein der Sache ergibt. So lässt sich schlussfolgern, dass die Lust eine Art von Genuss ist, die sich beim unmittelbaren ‚usus‘ einstellt. Ra294 Spec. uniu. 11, 24 (P, fol. 69va): „Delectatio uero est in fruitione in re uel spe rei dilecte iocundatio.“ 295 Spec. uniu. 11, 26 (P, fol. 70ra): „Desiderium est feruor animi rem desideratam adipiscendi.“ 296 Vgl. dazu die Punkte 2.4, 2.5 und 2.6 im zweiten Teil der Arbeit. 297 Spec. uniu. 11, 144 (P, fol. 99va): „Emulationem boni iusto consecuto consequitur et gaudium.“ 298 Spec. uniu. 11, 156 (P, fol. 104rb): „Letitia est hilaritas remanens in mente ex gaudio precedente.“ 299 Spec. uniu. 11, 163 (P, fol. 107ra): „Serenatio de letitia nascitur. Est autem serenatio claredo conscientie sicut a mente sic et a facie nubilum fugans.“
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dulfus Ardens geht nun der Reihe nach durch, welche Gegenstände tugendhafte Lust hervorrufen können. Dabei bemisst sich die ethische Qualität der Lust jeweils an der Natur des jeweiligen Gegenstandes, der sie hervorruft, sodass er die gute (‚bona‘), die bessere (‚melior‘) und die beste (‚optima‘) Lust unterscheidet:300 – Die gute geistige Lust entsteht durch den Genuss eines eigenen, fremden oder gemeinschaftlichen Gutes. Eine Besonderheit der Lust am eigenen Gut ist, dass sie sowohl heilsnotwendig (‚necessarium‘), als auch gefährlich (‚periculosum‘) ist. Notwendig ist sie deshalb, weil keine gute Handlung verdienstlich ist, wenn sie nicht gefällt; gefährlich ist sie, weil man dabei leicht übersieht, dass der Mensch kein Gut aus sich heraus erwerben kann, sondern sie alle Geschenke der göttlichen Gnade sind.301 Die Freude über gemeinschaftliche oder fremde Güter ist dagegen immer unbedenklich. Hinsichtlich der letztgenannten weist der Autor darauf hin, dass wir durch das Mitfreuen dazu in der Lage sind, uns das Gut des anderen teilweise mitanzueignen.302 Diese Besonderheit hatte er auch schon in Buch 11 in Zusammenhang mit der ‚congratulatio‘ hervorgehoben und ausführlich beschrieben.303 – Als bessere oder größere Lust bezeichnet Radulfus Ardens den Genuss, der daraus entsteht, dass man ein reines Gewissen hat.304 Es wurde bereits gezeigt, dass im Speculum universale kein detailliert herausgearbeiteter Gewissenbegriff zu finden ist.305 In jedem Fall aber ist ohne ein reines Gewissen kein glückliches Leben möglich, weshalb diesem auch in Zusammenhang mit der ‚uoluptas‘ ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Mit der Aussage, dass Ehrenhaftigkeit, Sorglosigkeit und Fröhlichkeit als Folgen der ‚conscientia pura‘ im Diesseits nicht in vollem Umfang erlangt werden können, sondern der jenseitigen Vollendung bedürfen, leitet er bereits zu den eschatologischen Gedankengängen in den nächsten Kapiteln über.306
300 Spec. uniu. 12, 117 (P, fol. 142va): „Spiritualis uero uoluptas alia est bona, alia melior, alia optima.“ 301 Spec. uniu. 12, 117 (P, fol. 142vaf.): „Et bona siquidem spiritualis uoluptas est, quoniam bene delectamur de aliquo bono nostro uel communi uel alieno. Porro delectari in bono opere nostro necessarium est et periculosum. Necessarium est, quoniam nisi placeat nobis bonum nostrum, non est nobis meritorium. […] Periculosum uero est, quoniam delectari et placere nobis in bono nostro uel ex toto uel ex parte, destruit meritum nostrum.“ 302 Spec. uniu. 12, 117 (P, fol. 142vbf.): „Delectari uero in generali bono bonum est sine suspitione. […] Delectari quoque in usu alieni boni indubie bonum est. […] Per dilectionem quippe in beata uita bona singulorum omnibus fient communia. Enimuero sine dilectione non possumus bonis aliorum communicare.“ 303 Vgl. dazu Punkt 2.1.6.3 im zweiten Teil. 304 Spec. uniu. 12, 118 (P, fol. 143 ra): „Melior uero maiorque uoluptas habetur in puritate conscientie.“ 305 Vgl. dazu den Exkurs in Punkt 2.6.2 im zweiten Teil der Arbeit. 306 Spec. uniu. 12, 118 (P, fol. 143ra): „Porro quatuor sunt que in conscientia cumulant delectationem: munditia, honestas, securitas et letitia. […] Verumtamen quoniam hec hac in uita nequeunt perfecte possideri nec plena perfecta quod uoluptas potest hic haberi.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
– Die beste und größte Lust entsteht beim Genuss Gottes (‚fruitio dei‘). Wie bereits erwähnt, unterscheidet Radulfus Ardens zwischen einer anteiligen Form im Diesseits (‚in uia‘), durch die Gott nur bruchstückhaft, kurz und undeutlich erkannt wird und einer vollendeten Gottesschau um Jenseits (‚in patria‘). Dabei ist zu beachten, dass er in Buch 12 (genauer gesagt in Kapitel 119) lediglich die jenseitige Lust behandelt und bezüglich der diesseitigen darauf verweist, dass er sie bereits im Buch ‚de prudentia‘ ausführlich behandelt hat.307 Und tatsächlich findet sich in Buch 9 in den Kapiteln 23–28 ein längerer Abschnitt über den Genuss Gottes (‚delectari in deo‘); von daher wird im Folgenden zunächst ein kurzer Blick auf Buch 9 geworfen, bevor der Gedankengang in Kapitel 119 nachgezeichnet wird. Die Ausführungen über die diesseitige Freude an Gott sind in den Traktat über die Weisheit (‚sapientia‘) in den Kapiteln 14–28 eingebettet. Die ‚sapientia‘ ist neben Einsicht (‚intelligentia‘) und Wissen (‚scientia‘) eine Art der Klugheit und richtet sich im Gegensatz zu den anderen beiden nicht auf geistige oder irdische Gegenstände, sondern allein auf himmlische.308 In den anschließenden Erläuterungen definiert Radulfus Ardens die Weisheit als Erkenntnis der göttlichen Dinge (‚cognitio diuinorum‘). Dabei stellt er auch die Frage, wie man sich überhaupt an Gott erfreuen kann309 und versucht in den Kapiteln 23–28 eine Antwort darauf zu geben. Da es sich bei der ‚cognitio diuinorum‘ in erster Linie um einen rationalen und nicht um einen affektiven Vorgang handelt, äußert er sich jedoch kaum zu den konkreten affektiven Auswirkungen, sondern untersucht v. a., welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um Gott im Diesseits betrachten zu können: Erstens darf man Gott nicht mehr als Richter fürchten, sondern muss ihn als Vater lieben; zweitens ist es nicht möglich, Gott zu erkennen, wenn man durch ein schlechtes Gewissen abgelenkt wird; drittens müssen die Sünden vollständig verbüßt sein und viertens verhindert der innere Kampf gegen die Laster und verdorbenen Regungen (‚praui motus‘) den Aufstieg zu Gott.310 Gerade der letzte Punkt ist aus tugendethischer Per-
307 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143rb): „Maxima uero et summa uoluptas habetur in Dei fruitione. Verum hec duplex est. Nam prima est in uia, secunda in patria; prima est semiplena, secunda plenaria; prima est breuis et enigmatica, secunda perhennis et aperta. Et de prima quidem superius in libro de prudentia aliquid loquuti sumus. De secunda uero hic aliquid modicum balbutire temptamus.“ 308 Spec. uniu. 9, 13 (CCM 241A, p. 372): „Tres quoque sunt species prudentie: Sapientia, intelligentia, scientia. […] Est igitur sapientia de diuinis, intelligentia de spiritualibus, scientia de terrenis.“ 309 Spec. uniu. 9, 14 (CCM 241A, p. 373): „Sane de sapientia quinque sunt consideranda: quid ipsa sit, quot modis Deus cognoscatur, quomodo facies Dei queratur, quomodo debeamus in eius contemplatione delectari, quomodo redeuntes ad nos humiliari. Est igitur sapientia diuinorum non otiosa cognitio.“ 310 Spec. uniu. 9, 23 (CCM 241A, p. 392): „Delectari in contemplatione Dei non omnes homines possunt. Qui enim eum iudicem timentes uel reatu conscientie torquentur uel dolore penitentie cruciantur uel qui contra uitia motusque prauos suos adhuc rixantur, nondum habent delectari in Dei contemplatione, sed tantum homines quiete mundeque conscientie et qui ab obstaculo tam mundane quam carnalis habitationis semet exerunt, ad celum quantum possunt.“
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spektive besonders interessant: Denn dass der Kampf gegen die Laster gewonnen ist, bedeutet nichts anderes, als dass die Gegensätze im Wesen des Menschen so austariert wurden, dass es eben keine Laster mehr, sondern nur noch Komplementärtugenden gibt. Im weiteren Verlauf des Kapitels geht der Autor genauer auf zwei Hindernisse ein, die auf dem Weg zu Gott überwunden werden müssen. Hier nennt er zuerst die fleischlichen Affekte (‚affectus carnales‘).311 Wie im ersten Teil der Arbeit beschrieben, handelt es sich dabei um natürliche Bedürfnisse des Körpers, die nicht per se schlecht sind, aber von heilsrelevanten Dingen ablenken, wenn ihnen zu viel Raum gegeben wird.312 Ein zweites Hindernis ist die in Buch 12 schon mehrfach genannte Unruhe (‚sollicitudo‘). Diese Aussage bezieht sich gleichermaßen auf geistige und körperliche ‚sollicitudines‘ und lässt erkennen, dass die Gotteserkenntnis keine rein geistige Angelegenheit ist, sondern auch die körperliche Befindlichkeit dabei eine wichtige Rolle spielt.313 Dass im weiteren Verlauf des Kapitels noch mehrfach der Gegensatz zwischen den Augen des Geistes (‚oculi mentis‘) und den Sinnen des Körpers (‚sensus corporis‘) hervorgehoben wird,314 ist also nicht so zu verstehen, dass der Körper abgelehnt werden muss oder seine natürlichen Bedürfnisse übergangen werden dürfen. Vielmehr ermöglicht nur eine ganzheitliche, harmonische Ordnung von Leib und Seele (bzw. ihren Kräften) die Erkenntnis Gottes. Dass der Mensch Gott im Diesseits zumindest anteilig genießen kann, obwohl er erst im Jenseits unverhüllt (‚aperte‘) sichtbar wird,315 erklärt sich dadurch, dass es fünf erkennbare Hinweise auf Gottes Wesen gibt, die Grund zur Freude sind: Erstens lässt sich an den Tugenden ableiten, wie gut Gott selbst ist; zweitens zeigt sich dies am Umgang mit seinen Geschöpfen; drittens daran, dass er stets das Heil der Menschen im Blick hat und viertens daran, dass er jedem einzelnen gegenüber barmherzig ist. Fünftens wird die Güte Gottes an den Belohnungen für seine Erwählten sichtbar.316 In Zusammenhang mit dem ersten Punkt lässt Radulfus Ardens 311 Radulfus Ardens äußert sich dazu im Zuge einer Exegese von Gen 28, 7–12 in Spec. uniu. 9, 23 (CCM 241A, p. 393): „Qui enim carnales affectus deserens et in cursu huius uite a secularibus actibus oculos claudens quiescit, si caput in lapidem posuit, id est animum in Christum, delectatur in contemplatione supernorum.“ 312 Vgl. dazu Punkt 2.2.2 im ersten Teil der Arbeit. 313 Spec. uniu. 9, 23 (CCM 241A, p. 393): „Itaque si contemplari celestia querimus, omnis tumultus et strepitus non solum mente, sed etiam corpore est uitandus.“ 314 Spec. uniu. 9, 23 (CCM 241A, p. 393 f.): „Ad uocem quippe tumultus et strepitus sensus corporis euigilantur. Sensibus autem corporis euigilantibus oculi mentis sopiuntur. […] Sicut autem euigilantibus corporis sensibus oculi mentis sopiuntur, sic econtra euigilantibus mentis oculis sensus corporis sopiuntur.“ 315 Darauf kommt er bei der bereits erwähnten Definition der Weisheit in Spec. uniu. 9, 14 (CCM 241A, p. 373) zu sprechen: „Est igitur sapientia diuinorum non otiosa cognitio. Conuenit autem hec diffinitio sapientie tam illi que est in uia, quam illi que erit in patria. Ceterum in hoc differt, quoniam cognitio uie est enigmatica, cognitio patrie erit aperta […].“ 316 Spec. uniu. 9, 24 (CCM 241A, p. 395): „Et nos quidem inferiores delectamur in diuina contemplatione, precipue in quinque, uidelicet considerantes quam bonus in semetipso sit, quam bonus in
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eine Bemerkung zur Komplementarität der Tugenden fallen: Er führt die Tatsache, dass die Tugenden im Gegensatz zueinander stehen (‚adinuicem repugnare uidentur‘) auf das scheinbar gegensätzliche Wesen Gottes zurück. Als Beispiele für solche Gegensätze nennt er Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, machtvolles Handeln und passives Erleiden, Größe und Niedrigkeit sowie Weisheit und Aufrichtigkeit (im Sinne von ‚simplicitas‘).317 Damit wäre die komplementäre Bezogenheit der Tugenden ein Abbild der göttlichen Natur, in der alle Gegensätze in vollendeter Form miteinander verbunden sind und eine Einheit bilden. An diese Gedanken knüpft der Autor auch in seinen eschatologischen Ausführungen an. Radulfus Ardens betont vor dem Hintergrund des eben Dargestellten, dass sich über die Vollendung aller irdischen Lust im Jenseits ebenso wenig sicher sagen lässt, wie über die ‚aperta cognitio dei‘ selbst.318 Er bedient sich aber zweier Hilfsmittel, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie er sich die ‚fruitio dei in patria‘ vorstellt. Zum einen schließt er aus der Tatsache, dass jede irdische Lust klein, wenig ehrenhaft, kurz, kühl und anteilig ist, dass die himmlische die allergrößte, heiligste, ewige, heiße und umfassend Lust sein muss.319 Dieses gegensätzliche Denken kommt im Speculum universale immer wieder zur Anwendung und ist eine der methodischen Eigenheiten des Radulfus Ardens, die meist in einem gewissen Zusammenhang mit der Komplementarität der Tugenden stehen.320 Zum anderen benennt er vier Lüste, die den Menschen im irdischen Leben ganz besonders erfreuen – nämlich Speise nach dem Hunger, ein Getränk nach dem Durst, Ruhe nach der Arbeit und Abkühlung nach der Hitze321 – und versucht im Rückschluss
ceteris creaturis sit, quantum pro salute humani generis ab initio sollicitus sit, quantum erga unumquemque singulariter beneficus sit, quanta bona suis electis preparauerit.“ 317 Spec. uniu. 9, 24 (CCM 241A, p. 396): „Collatiue uero eius bonitatem consideramus, quando cogitamus quam superexcellentissimus sit etiam in uirtutibus que adinuicem repugnare uidentur, ut quod tam superexcellenter iustissimus sit, tam superexcellenter misericordissimus, ut quod tam superexcellenter potentissimus sit, tam superexcellenter patientissimus, ut quod tam superexcellenter maximus sit, tam superexcellenter amator paruulorum, quod tam superexcellenter sapientissimus sit, tam superexcellenter amator simplicium, quod tam superexcellenter altissimus sit, tam superexcellenter humilis et amator humilium.“ 318 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143rb): „Et indicibilis quidem est uoluptas in diuine bonitatis fruitione, quoniam nec ore enarrari potest nec corde comprehendi.“ 319 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143rb): „Cum autem quelibet temporalis uoluptas sit uilis, parua, minus honesta, breuis, tepescibilis et particularis, in fruitione diuina est uoluptas siue delectatio indicibilis, summa, sanctissima, perhennis, intepescibilis et uniuersalis […].“ 320 Vgl. dazu den Abschnitt über die ‚komplementäre Sprache‘ im ersten Teil der Arbeit (Punkt 1.2.4). 321 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143rb): „Verumtamen quoniam oportuit illam inenarrabilem delectationem nobis utrumque significari, cum careat nominibus propriis, significatur nobis alienis et temporalem significantibus uoluptatem. Enimuero hee sunt uoluptates que in hac uita precipue delectant homines, uidelicet post esuriem epulatio, post sitim potatio, post laborem quies, post ardorem refrigeratio.“
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daraus den Zustand im Paradies zu beschreiben. Dabei kommt er zu der Annahme, dass im Jenseits Reichtum, Ehre, Macht, Ruhm stets im Überfluss vorhanden sein müssen und von daher auch die daraus entstehende Lust vollendet ist. Dass er diese Lust als natürlich (‚naturaliter‘) bezeichnet, lässt erkennen, dass Überfluss hier natürlich nicht im Sinne von (lasterhafter) Übertreibung oder Übermaß zu verstehen ist, sondern, dass in diesem Zustand alle natürlichen Bedürfnisse des Menschen vollkommen befriedigt sind.322 (2) Radulfus Ardens beginnt seine Ausführungen über die fleischliche Lust mit einem Verweis: Aus dem Laster der ‚uoluptas carnalis mala‘ entsteht eine ganze Reihe von Sünden, die sich anhand der fünf Sinne (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen) aufgliedern lässt. Er kündigt an, diese an späterer Stelle zu behandeln, womit Buch 14 gemeint ist, das auch tatsächlich alle fünf hier genannten Aspekte enthält und mit der ‚luxuria‘ in Kapitel 82 abbricht.323 An diesem Einstieg in die Thematik wird deutlich, dass der Begriff ‚uoluptas carnalis‘ in der Alltagssprache weitgehend mit einer lasterhaften Verhaltensweise gleichgesetzt wird und damit dem oben genannten engeren Verständnis von Lust entspricht. Dass hier genauer unterschieden werden muss, zeigt der Autor, indem er neben der schlechten körperlichen Lust mit der wertlosen (‚uana‘), überflüssigen (‚superflua‘), guten (‚bona‘) und glückseligen (‚beata‘) noch vier weitere Arten anführt:324 – Die wertlose Lust entsteht durch den Genuss wertloser Dinge, die nicht heilsrelevant sind.325 Da sich diese Bestimmung ebenso wie bei der ‚uoluptas carnalis mala‘ selbst erklärt, wird sie nicht ausführlich dargestellt. – Das Laster der überflüssigen Lust erwächst aus dem übermäßigen Gebrauch von Dingen, die eigentlich Güter sind, solange sie im rechten Maß verwendet werden; so führt ein Übermaß beim Essen zur Schlemmerei (‚comessatio‘), zu häufiger Alkoholgenuss zur Trunksucht (‚ebrietas‘) und zu viel Schlaf zur Schläfrigkeit (‚sompnolentia‘). Wie bereits erwähnt, können diese materiellen Güter nicht dauerhaft zufriedenstellen, da sie vergänglich sind und ab einem gewissen Maß auch
322 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143va): „Summa quoque uoluptas est in diuina fruitione. Quoniam ubi est summum bonum, ibi est summa uoluptas, summa gloria, summa potentia, summa honor, summa diuitiarum habundantia. Aliter enim summum bonum non esset, nisi uniuersorum bonorum copiam in semetipso contineret. Et uoluptas quidem in summo bono semper et naturaliter est.“ 323 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 143vbf.): „Voluptas uero carnalis quinque peccata est. Nam alia uisus, alia auditus, alia gustus, alia odoratus, alia contactus. […] Ceterum quoniam hec ad exteriorem hominem pertinent, quando de homine exteriori Deo largiente loquituri sumus et de istis pariter exponemus, nunc uero reticemus.“ 324 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 144ra): „Iterum uoluptas alia est mala, alia uana, alia superflua, alia bona, alia beata. Et mala quidem uoluptas est que est in malis, ut in adulteriis, in rapinis, in furtis et huiusmodi.“ 325 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 144ra): „Vana quoque est que est in uanis, ut in ludis, in timpanis, in scurrilibus et huiusmodi.“
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nicht mehr positive, sondern nur noch negative Emotionen wie bspw. Ekel und Überdruss (‚fastidium‘) oder Übersättigung (‚nausea‘) hervorrufen.326 – Von daher ist die ‚uoluptas carnalis bona‘ nichts anderes, als der maßvolle Gebrauch der körperlichen Güter, von denen gerade eben einige Beispiele genannt wurden. Radulfus Ardens nennt sie deshalb auch maßvolle Lust (‚temperata uoluptas‘). Sie ist nicht nur für das Wohlergehen des Körpers wichtig, sondern auch heilsrelevant; denn ohne einen gesunden und zufriedenen Körper kann der Mensch auf dem Weg zu Gott nicht vorankommen.327 Hier werden Anklänge an die Ausführungen zur ganzheitlichen Gottesschau in Buch 9 und im vorhergehenden Kapitel sichtbar. – Als ‚uoluptas carnalis beata‘ bezeichnet Radulfus Ardens die vollkommene Lust der vollkommenen Körper (‚corpora glorificata‘) im Jenseits. Sie ist damit die körperliche Entsprechung der ‚uoluptas spiritualis beata‘ und kann ebenso wie sie nicht mit dem menschlichen Verstand erfasst oder mit Worten beschrieben wird. Beide bilden eine untrennbare Einheit und werden daher auch mit denselben Adjektiven umschrieben.328 2.1.6.2 Die eschatologischen Exkurse in den Kapiteln 119 und 120 und ihre Relevanz für die Komplementarität der Tugenden und die Anthropologie Dass die Rede auf die jenseitigen Formen der geistigen und körperlichen Lust kommt, nimmt Radulfus Ardens zum Anlass, um einige zentrale Facetten seiner eschatologischen Vorstellungen darzulegen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist dabei die dogmengeschichtliche Bedeutung dieser Aussagen nur von untergeordnetem Interesse; vielmehr wird das Augenmerk darauf gelegt, inwieweit sich hier Informationen über seine Anthropologie und die Komplementarität der Tugenden finden lassen. Da sich schon gezeigt hat, dass er eschatologische Aussagen fast ausschließlich in Analogie zu diesseitigen Verhältnissen trifft und generell an theoretisierend-spekulativer Dogmatik interessiert ist, lassen sich auch aus Gedankengängen zu dogmatischen Themen oft mehr Informationen über sein Menschenbild und seine tugendethische Konzeption als Antworten auf dogmatische
326 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 144raf.): „Superflua est que quidem est in licitis, sed superflue usis, ut in commessationibus, ebrietatibus, sompnolentiis et huiusmodi. […] Fastidiosa quoque est omnis corporalis uoluptas, quoniam quantomagis frequentatur, tantomagis in fastidium nauseamque demutatur.“ 327 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 144ra-144va): „Bona uero est que est in licitis et temperanter usis. […] Temperata uero uoluptas siue delectatio bona est utenda, quoniam non est magni laboris indigna, quoniam non est fastidiosa, quoniam non est sumptuosa, non grauat mentem, non nutrit uitia, corpus iuuat et tam animam quam corpus conseruat.“ 328 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 144ra-144vb): „Beata quoque est que est in celestibus et beatis premiis. […] Beata quoque uoluptas que erit corporum glorificatorum in celesti uita est omnibus modis desideranda et appetenda. Erit enim sicut et spiritualis suo modo indicibilis, summa, sanctissima, perhennis, intepescibilis et uniuersalis […].“
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Fragen gewinnen. Im Folgenden werden drei Textstellen herausgegriffen und genauer untersucht. Dabei lassen sich erstens wichtige Hinweise auf die Gründe finden, warum die Tugenden und das menschliche Wesen überhaupt komplementär verfasst sind. Zweitens führt Radulfus Ardens aus, welche Aufgaben die Seelenkräfte des Inneren Menschen im Jenseits übernehmen und drittens äußert er sich zur Beschaffenheit der Sinne im Eschaton. (1) Wie bereits weiter oben beschrieben, geht Radulfus Ardens davon aus, dass die Lust im Eschaton die natürlichen Bedürfnisse des Menschen vollkommen befriedigt. Hierbei spielt zuvorderst die ‚sufficientia‘ eine wichtige Rolle. Dieser Begriff ist schon als Komplementärtugend der ‚temperantia‘ bekannt und meint ein ausreichendes oder hinlängliches bzw. zufriedenstellendes Maß. Dass sie sich im Zusammenspiel mit der Liebe ohne Neid (‚amor sine inuidia‘) einstellt, weist zunächst einmal darauf hin, dass die oditiven Affekte im Jenseits nicht mehr benötigt werden und daher auch dort nicht mehr vorhanden sind.329 Darüber hinaus spiegelt die Aussage, dass die Liebe im Jenseits in ausreichender Menge verfügbar sein wird, in erster Linie die Hoffnung auf Erlösung wieder und leitet sich damit aus der Tatsache ab, dass ‚sufficientia‘ und ‚amor‘ im Diesseits unvereinbare Gegensätze darstellen. Dass das menschliche Leben aus der Sicht des Radulfus Ardens von Gegensätzen geprägt ist, wurde im Speculum universale bereits mehrfach deutlich. Offenbar können aber einige davon (mithilfe der Tugenden) schon im Diesseits überwunden werden, während andere erst im Eschaton aufgelöst werden. Neben dem eben beschriebenen Beispiel nennt Radulfus Ardens noch zwei weitere Paare, nämlich Heiligkeit (‚sanctitas‘) und Genuss (‚delectatio‘) sowie Ewigkeit (‚perpetuitas‘) und Frische (‚recentia‘). Das Interessante dabei ist, dass die Überwindung dieser Gegensätze teilweise in ‚komplementärer Sprache‘ beschrieben wird und die komplementären Strukturen auch mithilfe des folgenden Schemas dargestellt werden können: Diesseitiger Gegensatz ‚amor cum inuidia‘
‚amor sine inuidia‘
Jenseitige Ergänzung
Diesseitiger Gegensatz
↔
‚sufficientia‘
‚sufficientia‘
– Auf ähnliche Weise verbinden sich auch Heiligkeit und Genuss ‚in patria‘ miteinander. Dies ist ‚in uia‘ nicht möglich, da mit einem heiligen und gottgefälligen Lebenswandel immer ein gewisses Maß an Bitterkeit (‚austeritas‘) und Mühsal (‚labor‘) verbunden ist, das den Genuss unmöglich macht. Ebenso sind mit dem Genuss stets die Übel der Nachlässigkeit (‚laxitas‘) und Weichlichkeit (‚mollities‘) verbunden, die einer ‚uita sancta‘ im Wege stehen. Wie sich die beiden Ge329 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143va): „Verumtamen sufficientia et amor sine inuidia uoluptatem efficit in eis consummatam.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
gensätze im Himmel miteinander verbinden, beschreibt Radulfus Ardens so: Im Himmel wird es keinen Genuss ohne Heiligkeit und keine Heiligkeit ohne Genuss geben. Dies ist offenkundig eine Wiederholung der beiden Elemente in umgekehrter Reihenfolge – eine stilistische Besonderheit, die er sonst nur bei Komplementärtugenden verwendet. Zudem weist er darauf hin, dass man in gleicher Weise von heiligem Genuss (‚sancta delectatio‘) und erfreulicher Heiligkeit (‚delectabilis sanctitas‘) sprechen kann. Heiligkeit und Genuss bedingen sich also gegenseitig und drücken sich gegenseitig aus. Obgleich es hier nicht direkt um Tugenden geht, erinnern diese Bestimmungen stark an die Formulierungen, mit denen er ansonsten Verschmelzungstugenden benennt.330 Aus dieser Ansammlung an Markern für Komplementarität lässt sich schließen, dass hier ein komplementäres Verhältnis vorliegt, dass im Eschaton in Form einer Verschmelzung von zuvor unüberwindlichen Gegensätzen vollendet wird: Diesseitiger Gegensatz
Jenseitige Ergänzung
Diesseitiger Gegensatz
‚sancta delectatio‘ / ‚delectabilis sanctitas‘ ‚sanctitats cum austeritate et labore‘
‚sanctitas‘
↔
‚delectatio‘
‚delectatio cum mollitie et laxitate‘
– Ebenso verschmelzen Frische (‚recentia‘) und Ewigkeit (‚perpetuitas‘) miteinander. Damit ist gemeint, dass die himmlische Lust zwar ewig ist, aber man ihrer dennoch nicht überdrüssig wird, sondern sie sich stets wie etwas Neues bzw. Frisches anfühlt. Auch diese beiden Aspekte bilden im Diesseits unvereinbare Gegensätze, wie Radulfus Ardens bspw. in Zusammenhang mit der ‚accidia‘ bereits herausgearbeitet hat. Zu diesem Gegensatzpaar äußert er sich nicht so ausführlich wie zu dem vorherigen, betont aber – wieder mithilfe einer Wiederholung in umgekehrter Reihenfolge –, dass im Eschaton weder die Frische die Ewigkeit noch die Ewigkeit die Frische aufhebt.331 Diesseitiger Gegensatz ‚recentia‘
‚recentia‘
Jenseitige Ergänzung
Diesseitiger Gegensatz
↔
‚perpetuitas‘
‚perpetuitas‘
330 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143va): „Quoniam ubi summum bonum est, ibi et summa sanctitas est. Voluptas quoque et sanctitas in summo bono sunt coniuncte que in temporalibus bonis uidentur repugnantes esse. Enimuero hac in uita uidetur et uoluptas aliquid laxitatis et molliciei continere, sanctitas aliquid austeritatis et laboris habere. In diuina uero fruitione nec delectatio potest esse sine sanctitate nec sanctitas sine delectatione, sed ibi erit et delectatio sancta et sanctitas delectuosa. Quantoque bonitas erit sanctior, tanto erit delectabilior et quanto erit delectabilior, tanto erit sanctior.“ 331 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143vaf.): „In fruitione uero summi boni est uoluptas et semper recens et semper manens nec perpetuitas aufert recentia nec recentia perpetuitatem. Vniuersalis uero est uoluptas in diuina fruitione.“
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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(2) Schon mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass die ‚odibilitas‘ und die ‚contemptibilitas‘ ebenso wie alle dazugehörigen Emotionen im Jenseits nicht mehr vorhanden sind. Diese Annahme bestätigt sich in Kapitel 119 erneut: Dort nennt Radulfus Ardens die Seelenkräfte des Inneren Menschen, die im Eschaton am Genuss der höchsten Lust beteiligt sind und erwähnt nur rationale und amative: Die Vernunft (‚ratio‘) wird durch das Denken an das höchste Gut erfreut, das Gedächtnis (‚memoria‘) durch die Erinnerung an die Wohltaten Gottes, die Einsicht (‚intellectus‘) durch die Betrachtung der Güte Gottes, die begehrende Seelenkraft (‚concupiscibilitas‘) durch den Erwerb des von ihr Ersehnten, die auf den Genuss ausgerichtete (‚delectabilitas‘) durch den Genuss dabei, die auf die Freude ausgerichtete (‚iocundabilitas‘) durch die Freude darüber und die auf die Ehre ausgerichtete (‚gloriabilitas‘) auf göttlichen Ehren.332 (3) Wie sich allein aus der Existenz einer ‚uoluptas carnalis beata‘ erschließen lässt, geht Radulfus Ardens davon aus, dass die Seelenkräfte des Äußeren Menschen im Eschaton erhalten bleiben.333 Ein wichtiger Unterschied ist allerdings, dass der Mensch statt des irdischen Körpers einen neuen, verherrlichten Körper (‚corpus glorificatum‘) erhält. Dies tut seiner ganzheitlichen Verfasstheit jedoch keinen Abbruch, da nicht der Körper selbst, sondern die Seelenkräfte des Äußeren Menschen den körperlichen Aspekt der menschlichen Existenz bedingen. Das Sehen (‚aspectus‘) der Heiligen wird dabei im Himmel durch vollendete Schönheit erfreut, ihr Hören (‚auditus‘) durch vollendeten Wohlklang, ihr Schmecken (‚gustus‘) durch vollendeten Wohlgeschmack, ihr Riechen (‚odoratus‘) durch vollendeten Wohlgeruch und ihr Fühlen (‚attactus‘) durch vollendete Lieblichkeit. Die Verdammten erleiden dagegen in allen fünf Bereichen entsprechende Qualen.334
332 Spec. uniu. 12, 119 (P, fol. 143vb): „In fruente uero sunt uires et affectiones animi, ut ratio, memoria, intellectus, concupiscibilitas, delectabilitas que succedit spei que in illa uita beata non erit, iocundabilitas, gloriabilitas que omnia illud summum bonum ineffabiliter delectabit. Et rationem quidem delectabit per summi boni cognitionem. […] Memoriam uero delectabit per recordationem diuinorum operum et miserationum. […] Intellectum uero delectabit per diuine bonitatis et sanctitatis contemplationem in qua angeli cupiunt conspicere. Concupiscibilitatem uero, delectabilitatem, iocundabilitatem et gloriabilitatem delectabit per desiderii sui adeptionem, fruitionem, gaudium et gloriationem.“ 333 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 144vb): „Cum autem delectatio corporalis fiat secundum quinque sensus corporis, cum natura corporum non sit paritura in alia uita, constat quod et quinque sensuum natura tunc erit permansura.“ 334 Spec. uniu. 12, 120 (P, fol. 144vb): „Hoc autem nobis constat quoniam indicibili pulcritudine delectabitur sanctorum aspectus, indicibili armonia delectabitur eorum auditus, indicibili sapore delectabitur eorum gustus, indicibili odore delectabitur eorum odoratus, indicibili suauitate delectabitur eorum attactus. Sicut ex regione cruciabitur indicibili horrore reproborum uisus, indicibili terrore cruciabitur eorum auditus, indicibili fame et siti cruciabitur eorum gustus, indicibili ferore cruciabitur eorum odoratus, indicibili cruciatu torquebitur eorum attactus.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
Zum Abschluss der Untersuchung der eschatologischen Exkurse stellt sich die Frage, welche neuen Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Hinsichtlich der Anthropologie war v. a. die Untersuchung der in den Punkten (2) und (3) behandelten Textpassagen ertragreich. An der Zusammenstellung der Seelenkräfte, die im Eschaton noch vorhanden sind, wurde deutlich, dass die Gottessschau und die damit verbundene Erlösung ebenso wie die Verdammnis keineswegs rein intellektuelle, sondern ganzheitliche Vorgänge sind, bei denen die Affekte und die Sinne des Menschen eine zentrale Rolle spielen. Dieser Befund ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Seelenlehre des Radulfus Ardens als ein ganzheitliches Menschenbild gelten kann, welches in Verbindung mit vielen verschiedenen Themen und bei ganz unterschiedlichen Fragestellungen immer wieder sichtbar wird. Noch bedeutsamer sind die unter Punkt (1) behandelten Aussagen. Dass Radulfus Ardens von einer gegensätzlichen Verfasstheit des menschlichen Lebens ausgeht, wurde bereits mehrfach aufgezeigt und ist an sich nichts Neues. Darüber hinaus wird hier aber ein bisher unbekanntes Detail erkennbar: Offensichtlich geht er davon aus, dass manche Gegensätze schon im diesseitigen Leben überwunden werden können, während dies bei anderen erst im jenseitigen Leben möglich ist. Diese Vorstellung erklärt sich keineswegs von selbst; so ließe sich nämlich fragen: Warum hebt der Autor einerseits in Zusammenhang mit den Komplementärtugenden immer wieder hervor, dass sich die Gegensätze im menschlichen Wesen schon im Hier und Jetzt miteinander verbinden lassen, wenn er andererseits davon ausgeht, dass dies bei manchen nicht möglich ist? Diese Frage lässt sich durch die Vergegenwärtigung der heilsgeschichtlichen Rahmenbedingungen für die Genese der Tugenden beantworten: Denn die Möglichkeit, bereits im Hier und Jetzt Gegensätze in Form von Komplementärtugenden in Einklang miteinander zu bringen, ist letztlich auf die Heilstat Christi zurückzuführen und damit ein unverkennbares Zeichen der anfanghaften Erlösung im Diesseits. Da die Vollendung des Erlösungsgeschehens aber erst im Eschaton stattfindet, ergibt sich daraus gewissermaßen zwangsläufig, dass auch einige Gegensätze bis dahin bestehen bleiben müssen. Daraus folgt: Die Gegensätzlichkeit der menschlichen Natur ist nicht nur in der Schöpfungsordnung angelegt und von daher nichts grundsätzlich Negatives; sie ist vielmehr das eigentliche Wesensmerkmal, an dem die Gottebenbildlichkeit des Menschen erkennbar wird. Die komplementäre Harmonie aller denkbaren Gegensätze ist in Gott und war auch in der ersten Schöpfung vorhanden, bis durch die Ursünde Chaos entstanden ist. Damit ist – dogmatisch betrachtet – die diesseitige Existenz der Komplementärtugenden unmittelbare Auswirkung des Kreuzesgeschehens und zugleich ein sichtbares Zeichen für die göttliche Herkunft der menschlichen Seele. 2.1.6.3 Die ‚naturalis refectio corporis‘ als Korrektiv des ‚contemptus uoluptatis‘ Mit Kapitel 121 endet nicht nur der Traktat über den ‚contemptus uoluptatis‘, sondern auch das erste Glied der Geringschätzung insgesamt. Im ersten Teil dieses Ka-
2.1 ‚Mundum contempnere‘
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pitels bestimmt Radulfus Ardens die naturgemäße Wiederherstellung des Körpers (‚naturalis refectio corporis‘) als die Komplementärtugend der Geringschätzung der Lust. Dies begründet er damit, dass jedem Menschen die Liebe zum eigenen Körper angeboren ist und man ihn daher auch nicht von Grund auf verschmähen und zugrunderichten (‚penitus abicere‘) darf. Nur wenn die körperlichen Bedürfnisse zu viel Aufmerksamkeit an sich ziehen, müssen sie maßvoll gehemmt werden (‚temperate resecare‘). Als Grundregel dafür legt er fest, dass man dem Körper nicht all das geben soll, was möglicherweise verfügbar ist, sondern nur das, was er auch wirklich braucht. Damit wird verhindert, dass Bedürfnisse nach eigentlich überflüssigen Dingen entstehen, die ohne den Kontakt damit überhaupt nicht aufkommen würden.335 Sie sind ein Einfallstor für zahlreiche Übel und Laster und stellen damit die eigentliche Gefahr dar. Unschwer lässt sich erkennen, dass diese Grundregel das stoische Ideal vom naturgemäßen Leben widerspiegelt. Wenn sich die beiden Tugenden harmonisch ergänzen, verhindert dies auf der einen Seite das Laster des Überflusses (‚superfluitas‘) und auf der anderen das der Grausamkeit gegenüber der eigenen Natur (‚crudelitas‘). Die ‚termini‘ des Komplementärtugendpaares legt er so fest, dass man einerseits den Körper wiederherstellen bzw. unterhalten muss, ohne dass überflüssige Lüste entstehen (‚superfluitas uoluptatum‘) und dass man andererseits diesen Überfluss so begrenzen muss, dass man dem Körper nicht seine Lebensgrundlage entzieht und damit auch die Seele schädigt.336
‚corpus penitus abicere‘ / ‚crudelitas‘
‚contemptus uoluptatis‘
↔
‚naturalis refectio corporis‘ / ‚dare quod debemus‘
‚superfluitas uoluptatum‘ / ‚dare quod possumus‘
Im zweiten Teil des Kapitels äußert sich Radulfus abschließend zur Beschaffenheit der ‚res mundane‘ und zum richtigen Umgang mit ihnen. So betont er, dass es ihm nicht darum geht, die weltlichen Güter von Grund auf abzulehnen oder zu entwerten. Die zentrale Botschaft seiner Darlegungen lässt sich vielmehr so formulieren: 335 Spec. uniu. 12, 121 (P, fol. 145ra): „Habet autem contemptus uoluptatis collateralem sibi uirtutem naturalem corporis refectionem. Vnde Apostolus: Nemo carnem suam odio habet, id est habere debet, sed nutrit et fouit eam, id est nutrire et fouere debet eam. Insitus enim est nobis naturaliter amor proprium corporis qui sicut non est penitus abiciendus, sic est temperate resecandus. Hinc philosophus: Fateor insitam nobis nostri corporis caritatem. Que facile soluitur, si damus corpori non quantum possumus, sed quantum debemus.“ 336 Spec. uniu. 12, 121 (P, fol. 145raf.): „Itaque naturalis refectio corporis temperat contemptum uoluptatis et contemptus uoluptatis refectionem corporis. Enimuero contemptus uoluptatis sine refectione corporis est uitium crudelitatis et refectio corporis sine contemptu uoluptatis est uitium superfluitatis. Sed contemptus uoluptatis cum refectione corporis uirtus est. Termini uero harum uirtutum sunt sic refouere corporis naturam quod non ueniamus usque ad uoluptatis superfluitatem et sic resecare uoluptatis superfluitatem quod non subtrahamus corpori naturalem refectionem.“
512
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
Nur derjenige, der die vergänglichen Güter geringschätzt, kann sie gefahrlos benutzen und sich an ihnen wahrhaft freuen.337 Dieses scheinbare Paradoxon ergibt sich aus der gegensätzlichen Verfasstheit des irdischen Lebens selbst und ist letztlich dadurch begründet, dass die irdischen Güter vergänglich sind. Sie können die Seele als unendliche Entität niemals vollkommen zufriedenstellen und ihr Genuss bleibt mit dem Makel der Vorläufigkeit verbunden. Zudem stellt sich der Genuss auch nur als Kontrasteffekt ein, sodass selbst die positiven Effekte der ‚bona mundi‘ lediglich eine weitere Manifestation der unüberwindlichen Gegensätze im Diesseits sind. Radulfus nennt hierfür gleich mehrere leicht verständliche Beispiele: Das Essen ist nur nach dem Hunger, der Trank nur nach dem Durst, die Ruhe nur nach der Arbeit und der Schlaf nur nach der Wache angenehm. Würde man diese Güter verabsolutieren, wäre dies ein unsachgemäßer Umgang, der nur zu Überdruss und Abscheu führt.338 Insgesamt lässt sich festhalten, dass es Radulfus Ardens in der ersten ‚distinctio‘ der Geringschätzung gelingt, eine äußerst detaillierte Darstellung zum Umgang mit den weltlichen Gütern zu erarbeiten und diese fest in seinem christlich-heilsgeschichtlichen Rahmen und seinem Menschenbild zu verankern.
2.2 ‚Neminem contempnere‘ – Komplementäre Denkstrukturen im Bereich des zweiten Gliedes der Geringschätzung Die Aufforderung, keinen Menschen geringzuschätzen, stellt die ‚secunda distinctio‘ des dritten Affekts dar. Schon im inhaltlichen Überblick wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit das zweite und das vierte Glied der Geringschätzung überhaupt als Tugenden verstanden werden können, da beide auf den ersten Blick eher Verhaltensvorschriften oder Einzelnormen zu sein scheinen. Um darauf eine Antwort zu geben, ist es hilfreich, die Bereiche zu bestimmen, auf die sich die unterschiedlichen Momente der Geringschätzung auswirken. An den Erläuterungen zur ersten ‚distinctio‘ wurde deutlich, dass hier der Umgang mit den weltlichen Gütern im Fokus steht. Auch das Wirkungsfeld des dritten Gliedes kann zweifelsfrei identifiziert werden, obwohl der Text noch nicht im Detail besprochen wurde: Denn indem Radulfus Ardens die Tugend der Demut und das Laster des Stolzes beschreibt, erarbeitet er letztlich nichts anderes, als einen Leitfaden zum richtigen Umgang mit der eigenen Person. Wie ist es bei der zweiten und vierten ‚distinctio‘? Offensichtlich beziehen sich beide auf den Umgang mit den Mitmenschen, jedoch spielt die Geringschätzung dabei jeweils eine völlig andere Rolle: Die zweite ‚distinctio‘ 337 Spec. uniu. 12, 121 (P, fol. 145rb): „Hoc autem generaliter attendendum est in hiis temporalibus bonis, quoniam melius, dulcius et securius utitur eis qui ea contempnit. Qui enim temporales diuitias contempnunt, melius, dulcius et securius eis utitur et magis diuites sunt.“ 338 Spec. uniu. 12, 121 (P, fol. 145rb): „Gratior enim est post famem commestio, post sitim potatio, post laborem requiescio, post uigilias dormitio.“
2.2 ‚Neminem contempnere‘
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benennt nämlich diejenigen Aspekte des menschlichen Miteinanders, die nicht von Geringschätzung bestimmt sein dürfen, während die vierte ‚distinctio‘ aufzeigt, welche von Geringschätzung bestimmt sein müssen. Diese zunächst sehr abstrakte Formulierung wird sofort verständlich, wenn man sich vor Augen führt, worum es in den Kapiteln 122 und 144 geht: Das zweite Glied legt fest, dass der Andere als Person unter keinen Umständen geringgeschätzt werden darf und das vierte ruft dazu auf, die negativen Reaktionen der Mitmenschen gegenüber der eigenen Person geringzuschätzen. Somit handelt es sich bei der zweiten und vierten ‚distinctio‘ eindeutig nicht nur um bloße Vorschriften oder Einzelnormen; vielmehr lassen sich zwei Grundhaltungen bzw. Tugenden erkennen: Die eine könnte man als unbeirrbare Nächstenliebe bezeichnen, die die Mitmenschen unabhängig davon, wie sie sich einem gegenüber verhalten, als gute Geschöpfe betrachtet; die andere könnte man Resistenz gegen unberechtigte Anfeindungen nennen oder als eine bestimmte Form von Souveränität ansehen. Die Trennlinie zwischen der ethischen Bewertung der Person des Nächsten einerseits und seinen konkreten Taten andererseits ist bereits aus Buch 11 bekannt: Dort betont Radulfus Ardens immer wieder, dass man zwar die Sünden und Laster seiner Mitmenschen hassen darf, jedoch niemals sie selbst. Diese systematische Parallele lässt vermuten, dass sich auch in den beiden kurzen ‚distinctiones‘ entgegen dem Ersteindruck komplementäre Denkstrukturen finden lassen. Die genaue Untersuchung von Kapitel 122 wird zeigen, dass diese Vermutungen nicht unberechtigt sind. Gleich zu Beginn identifiziert Radulfus Ardens das zweite Glied der Geringschätzung mit einer Haltung, die niemanden verachtet.339 Um zu zeigen, dass diese Tugend für den Umgang mit den Mitmenschen eine zentrale Bedeutung hat, führt er vier Gründe an: Erstens darf man kein Geschöpf Gottes hassen, da es alleine durch die göttliche Urheberschaft auch selbst ein Gut ist. Daher darf grundsätzlich keine Schöpfung Gottes verachtet werden. Auch dieses ontologische Argument ist bereits aus Buch 11 bekannt: Alles, was von Gott geschaffen und von daher gut ist, gehört affektiv gesehen in den Bereich der Liebe und nicht zum ‚contemptus‘.340 Zweitens haben oft gerade die Menschen, die rein äußerlich ärmlich und verachtenswert wirken, innerlich meist schon die richtige Einstellung zu Gott und den weltlichen Gütern gewonnen. Deshalb müssen sie eher bewundert und als gute Vorbilder angesehen werden. Drittens verweist Radulfus Ardens auf das Verbesserungspotential jedes Menschen: Denn ebenso wie ein tugendhafter Mensch seine guten Vorsätze über Bord werfen kann und dadurch zum Sünder wird, kann auch ein schlechter Mensch umkehren und dem Pfad der Tugenden folgen. Viertens macht er darauf aufmerksam, dass oft selbst in den schlimmsten Sündern ein Gut verborgen ist, das zwar von den Mitmenschen nicht wahrgenommen wird, aber
339 Spec. uniu. 12, 122 (P, fol. 146ra): „Secunda distinctio est nullum spernere.“ 340 Spec. uniu. 12, 122 (P, fol. 146ra): „Nullus autem homo, dum in hac uita uiuit, spernendus est et hoc propter quatuor causas. Prima est quod factura Dei nulla est spernenda, sed potius diligenda.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
Gott dazu bewegt, ihm gegenüber barmherzig zu sein.341 Mit diesen vier Gründen führt Radulfus Ardens vor Augen, dass aufgrund der begrenzten Reichweite der eigenen Erkenntnis eine objektive ethische Bewertung der Mitmenschen nicht möglich ist. Obgleich die ‚secunda distinctio‘ damit an sich verständlich erklärt und systematisch gut begründet ist, sieht sich der Autor am Ende des Kapitels dazu veranlasst, nochmals genauer zu unterscheiden und die Vorschrift, niemanden geringzuschätzen, in einer bestimmten Hinsicht (‚ad quid‘) zu relativieren. Ausgangspunkt bilden dabei zwei Psalmenzitate (Ps 117, 6 und 53, 9), die dazu aufrufen, den Feind zu verachten (‚despicere‘). Diese unnachgiebige Haltung wird dabei in beiden Fällen in den Kontext des göttlichen Beistands gestellt und dadurch eindeutig legitimiert.342 Um zu zeigen, dass diese Aussagen jedoch nur scheinbar im Widerspruch zum Vorherigen stehen, behilft sich Radulfus Ardens mit einer Unterscheidung, die aus Buch 11 bekannt ist und ihr stark ähnelt: So müssen wir den Feind nur in der Hinsicht geringschätzen, dass einige seiner Taten darauf ausgerichtet sind, uns vom Pfad Gottes (‚uia dei‘) abzubringen; dagegen darf der Feind in der Hinsicht nicht geringgeschätzt werden, dass wir dazu aufgerufen sind, auf seine Erlösung und sein Heil hinzuarbeiten.343 Damit ermutigt er auf der einen Seite dazu, auch diejenigen Menschen, die einem selbst nicht wohlgesonnen sind, nicht zum Objekt des Hasses oder der Geringschätzung zu machen. Jedoch muss man gerade aus einer Haltung der bedingungslosen Nächstenliebe heraus die bösen Absichten und Taten der Mitmenschen klar ausmachen und ihnen entgegentreten. Die beiden hier gemeinten Haltungen sind eng miteinander verbunden und auch wenn der Autor selbst an dieser Stelle keinerlei Hinweise darauf gibt, können sie durchaus als ein Komplementärtugendpaar angesehen werden, das erwartungsgemäß große Ähnlichkeit mit den Komplementärtugenden guter Hass und gute Liebe aufweist. Es könnte folgendermaßen aussehen:
341 Spec. uniu. 12, 122 (P, fol. 146ra): „Secunda causa est quod homines qui uidentur in corpore uiles et despicabiles, in anima plerumque solent maiores habere uirtutes. Quod ideo diuina prouidentia facit, ut uilitatem exteriorem redimat et consoletur in eis per uirtutem interiorem. […] Tertia causa est quare nullus homo hac in uita sit despiciendus, quoniam qui hodie est malus, cras uel post cras poterit esse bonus. […] Quarta causa est quod fere nullus sic est peccator qui non contineat in se latenter aliquod bonum Deo gratum et acceptum, propter quod multotiens diuina illi aperitur misericordia.“ 342 Spec. uniu. 12, 122 (P, fol. 146vb): „Videtur autem huic quo diximus neminem debere despici esse contrarium illud psalmiste: Dominus michi adiutor et ego despiciam inimicos meos. Et illud: Super inimicos meos despexit oculus meus.“ 343 Spec. uniu. 12, 122 (P, fol. 146vb): „Sed sciendum est quod inimici et persequtores nostri ad aliquid sunt despiciendi et ad aliquid non sunt despiciendi. Si enim nos uellent retrahere a uia Dei, in hoc despiciendi sunt, ad salutem uero eorum querendam despiciendi non sunt.“
2.3 ‚Se contempnere‘
‚inimicos in hoc despicere, ut salutem eorum non queramus‘
‚inimicos in hoc despicere, si nos a uia dei retrahere uellent‘
↔
‚inimicos in hoc amare, ut salutem eorum queramus‘
515
‚inimicos in hoc amare, si nos a uia dei retrahere uellent‘
2.3 ‚Se contempnere‘ – Die Komplementärtugenden aus dem Bereich des dritten Gliedes der Geringschätzung Die Geringschätzung gegenüber sich selbst ist das dritte Glied des ‚contemptus‘.344 Damit rückt Radulfus Ardens den Umgang mit der eigenen Person in Gestalt der Tugend Demut (‚humilitas‘) ins Zentrum seines Gedankengangs. Wie aus dem Schlusskapitel der Ethik des Inneren Menschen hervorgeht, handelt es sich dabei um eine der bedeutsamsten Tugenden in der Konzeption des Werkes. Daher erstreckt sich der Traktat über die Demut auch insgesamt über 21 Kapitel (c. 123–143). Wie sich an den zehn Leitfragen zu Beginn des Traktats ablesen lässt345, folgt der Autor dabei seiner bewährten Gliederungsmethode, die er auch bei der Darstellung von vielen anderen Tugenden im Speculum universale verwendet und die in der Einleitung der Arbeit ausführlich beschrieben wurde:346 . . . . . . . . . .
‚quot sint species humilitatis?‘ ‚que sit uirtus humlitatis?‘ ‚unde oriatur humilitas?‘ ‚quomodo nutriatur humilitas?‘ ‚quanta sit uirtus humilitatis?‘ ‚qui sint eius modi?‘ ‚que uirtus sit ei collateralis?‘ ‚qui sint earum termini?‘ ‚que sint filie humilitatis?‘ ‚quod uitium sit eius contrarium?‘
)
(c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. ) (c. –) (c. ) (c. –) (c. –)
Diese Zusammenstellung erfordert an zwei Stellen Erläuterungen: Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Radulfus Ardens in seinem Exposé zu Beginn des Traktats in Kapitel 123 die erste und sechste Frage jeweils identisch formuliert und nach den
344 Spec. uniu. 12, 123 (P, fol. 146vb): „Tertia distinctio est semet contempnere. Semet autem contempnere nichil aliud quam humilitas est.“ 345 Spec. uniu. 12, 123 (P, fol. 146vb): „Itaque considerandum est primo quot sint species humilitatis, secundo que sit uirtus humilitatis, tertio unde oriatur, quarto quomodo nutriatur, quinto quanta sit uirtus humilitatis, sexto que sint eius species, septimo que uirtus sit ei collateralis, octauo que sint earum termini, nono que sint earum filie humilitatis et quod uitium sit eius contrarium.“ 346 Vgl. dazu Punkt 2.1.1.5 in der Einleitung.
516
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
‚species humilitatis‘ fragt. Dabei kann es sich nur um einen Irrtum handeln, da er in den Quästionen 128–131 nicht weitere Arten der Demut, sondern ihre Modi (‚modi‘) behandelt, sodass die Formulierung der sechsten Leitfrage in der obigen Übersicht angepasst werden muss. Zudem enthält die neunte Leitfrage eigentlich zwei Punkte, nämlich die Frage nach den Tochtertugenden der Demut und ihrem entgegengesetzten Laster. Beide Aspekten behandelt der Autor ausführlich: Die ‚filie humilitatis‘ werden in den vier Kapiteln 133–136 besprochen, wobei v. a. die Tugend des Gehorsams (‚obedientia‘) Gegenstand des Interesses ist. Das Laster des Stolzes wird in den sieben Kapiteln 137–143 behandelt. Kapitel 132 über die Komplementärtugend der Demut kann dabei ähnlich wie im Abschnitt über den ‚contemptus diuitie‘ und die ‚auaritia‘ als Überleitungs- und Synthesekapitel betrachtet werden. Vor dem Hintergrund dieses Programms legt es sich nahe, in drei Schritten vorzugehen: Erstens wird der Gedankengang nachgezeichnet, der zur Komplementärtugend der Demut führt. Dabei ist zu klären, wie Radulfus Ardens die Demut definiert, in welche Arten er sie untergliedert und welche davon für eine tugendethische Betrachtung des Phänomens überhaupt relevant sind. Zweitens wird der Abschnitt über die ‚filie humilitatis‘ dahingehend untersucht, ob sich dort Hinweise auf weitere Komplementärtugenden finden lassen. Schließlich werden aus den Kapiteln über die ‚superbia‘ diejenigen Textstellen beleuchtet, die ergänzende Informationen zu den komplementären Strukturen im Bereich der ‚tertia distinctio‘ enthalten.
2.3.1 Das Komplementärtugenpaar ‚humilitas‘ – ‚honorantia sui‘ 2.3.1.1 Die Definition der Demut, ihre Arten und deren ethische Bewertung In den ersten beiden Kapiteln stößt der Leser auf verschiedene Definitionen der Demut. Dies liegt daran, dass Radulfus Ardens von einem allgemeinen Demutsbegriff ausgeht, ihn immer weiter ausdifferenziert und dabei die ethisch relevanten von den ethisch nicht relevanten Bestandteilen unterscheidet. Daraus folgt, dass die Bestimmung der ‚humilitas‘ nicht ohne vorherige Erläuterungen zu ihren ‚species‘ möglich ist. Der Gedankengang, der letztendlich zur Tugend der Demut führt, wird im Folgenden in zwei Schritten nachgezeichnet. Im Zuge dessen kommen insgesamt drei unterschiedliche Definitionen zur Sprache, die jeweils verschiedene Aspekte des Phänomens herausstellen. (1) Die erste, ganz allgemeine und ethisch neutrale Definition ist bereits in der oben erwähnten Bestimmung des dritten Gliedes der Geringschätzung als ‚contemptus sui ipsius‘ enthalten. Diesen noch wenig konkreten Begriff teilt der Autor zunächst in sieben Aspekte auf und definiert sie nacheinander: In fürchtender Demut (‚humilitas timoris‘) erniedrigt man sich vor jemandem, obwohl man eigentlich gern über ihm stehen würde. Die Demut der Heuchelei (‚humilitas ypocrisis‘) ist auf den Erwerb von wertlosem Ruhm und nicht auf tugendhaftes Handeln ausgerichtet. Sie ist
2.3 ‚Se contempnere‘
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eigentlich gar keine Demut, sondern eine Form des Stolzes. Die Demut der Schuld (‚humulitas culpe‘) setzt er mit der Unterordnung unter den Teufel beim Sündigen gleich. Die Demut der Strafe oder des Verderbens (‚humilitas pene siue ruine‘) ist die Demut, die sich nach vorheriger Erhebung erst unter Strafe und in der Verdammnis einstellt und damit viel zu spät kommt. Die Demut des Ranges (‚humilitas gradus‘) entsteht aus den Standesunterschieden innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Die Demut der Natur (‚humilitas nature‘) meint eine naturgegebene Unterordnung wie z. B. das Verhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern. Die Demut der Gnade (‚humiltas gratie‘) beschreibt der Autor nur durch zwei Zitate aus dem Neuen Testament (Mt 11, 25 und 18, 3).347 Offensichtlich ist hier eine durch die Gnade geschenkte und durch die Liebe motivierte Demut vor Gott gemeint. Erwartungsgemäß wertet Radulfus Ardens die ersten vier Formen als schlecht und die letzten beiden als gut. Die Demut des Ranges, die sich letztlich nur auf den Bereich des Äußeren Menschen erstreckt und nichts über die innere Einstellung aussagt, wertet er als indifferent.348 Dieser ersten Aufteilung der Demut lässt Radulfus Ardens sogleich eine zweite folgen. Dabei führt er den Gedankengang, den er in Zusammenhang mit der ‚humilitas gradus‘ erwähnt hatte, fort und unterscheidet zwischen einer rein äußerlichen, auf den Körper bezogenen Art der Demut (‚humilitas tantum corporis‘) und einer rein innerlichen, geistigen Demut (‚humilitas tantum mentis‘). Wenn die erste für sich alleine steht und nicht von einer wahrhaftigen, inneren Motivation getragen ist, ist sie schlecht. Demzufolge ist die innere Demut grundsätzlich etwas Gutes, wobei im Idealfall innere Einstellung und äußerer Ausdruck übereinstimmen sollten (‚humilitas et mentis et corporis‘).349 Diese beiden Aufteilungen bilden das Fundament der weiteren Gedankengänge und werden daher auch schematisch dargestellt:
347 Spec. uniu. 12, 123 (P, fol. 146vbf.): „Sunt autem septem species humilitatis. Nam humilitas alia est timoris, alia ypocrisis, alia culpe, alia pene siue ruine, alia gradus, alia nature, alia uirtutis siue gratie. Sane humilitas timoris est, quando quis propter timorem se humiliat qui, si haberet posse, libenter superbiret. […] Humilitas ypocrisis est que propter uanam gloriam simulatur. […] Ceterum simulata humilitas non est humilitas, sed duplex superbia. […] Humilitas quippe culpe est, quando quis consentiendo diabolo peccat. […] Humilitas uero pene siue ruine est de qua dicitur: Qui se exaltat, humiliabitur, scilicet confusione, abiectione et dampnatione. […] Humilitas uero gradus est, ut plebis condicio inferioris. […] Humilitas uero nature est, ut puerilis etatis. […] De humilitate uero gratie dicitur: Sinite paruulos uenire ad me etc. Confitebor tibi, Domine, Pater celi et terre qui abscondisti hec etc.“ 348 Spec. uniu. 12, 123 (P, fol. 147ra): „Itaque prima species humilitatis et secunda et tertia et quarta mala, quinta uero indifferens, sexta bona, septima optima.“ 349 Spec. uniu. 12, 123 (P, fol. 147ra): „Item humilitas alia tantum corporis, alia tantum mentis, alia et mentis et corporis. Prima est pessima, secunda bona, tertia optima.“
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(1)
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
bona
indifferens
mala timens ypocrisis culpe pene siue ruine
humilitas gradus nature gratie
(2)
mala
bona
optima
tantum corporis humilitas
tantum mentis et corporis et mentis
Abb. 64: Die beiden Aufteilungen der Demut.
(2) Da nun ein Vorverständnis dafür vorhanden ist, welche Aspekte der Demut zu ihrer tugendhaften Art gehören und welche nicht, bestimmt sie Radulfus Ardens in Kapitel 124 als diejenige Tugend, durch die sich der Mensch aus der wahrhaftigsten Erkenntnis seiner eigenen Schwäche (‚infirmitas‘) auf nützliche, gute und maßvolle Weise (‚utile, bene et modeste‘) selbst erniedrigt. Die einzelnen Bestandteile dieser Definition bilden nun den Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen, durch die die gemeinte Verhaltensweise eine schärfere Kontur erhält:350 – Zunächst wird anhand der Tatsache, dass sie als Tugend bestimmt wird, deutlich, dass es sich hierbei nicht mehr um eine neutrale, sondern um eine ethisch gewertete Definition handelt.351
350 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147ra): „Est autem humilitas uirtus per quam homo ex uerissima sue infirmitatis cognitione sibi uilescit utiliter, bene et modeste. Porro hac in distinctione demonstratur quid sit humilitas et unde oriatur et quod eius officium et quale.“ 351 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147ra): „Sane quid sit humilitas demonstratur, cum dicitur ‘uirtusʼ. Est enim humilitas, si ad Deum referatur, uirtus maxima cunctarumque custos uirtutum.“
2.3 ‚Se contempnere‘
519
– Die Aussage, dass die Erkenntnis der eigenen Schwäche die Quelle der Demut ist, beantwortet die dritte Leitfrage.352 Damit beschäftigt sich der Autor im Folgekapitel noch detaillierter und führt im Zuge dessen fünf Wesensmerkmale der menschlichen Existenz an, die zu eben jener Erkenntnis führen: Erstens befindet sich der Mensch in einer schlechten Ausgangssituation und ist einer ganzen Reihe von existentiellen Nöten (‚necessitates‘) ausgesetzt; zweitens mangelt es ihm an vielen Gütern; drittens hat er die Güter, die er besitzt, nicht aus eigener Kraft erworben; viertens kann er auch noch diese leicht verlieren und fünftens ist er im Vergleich mit Gott ein Nichts.353 Dabei tritt die heilsgeschichtliche Bedeutung der Demut deutlich hervor, die Radulfus Ardens v. a. in Zusammenhang mit der fünften Leitfrage thematisiert.354 Denn wie der erste Mensch durch einen Mangel an Demut dem Stolz verfallen ist, so hat sich Christus in übergroßer Demut dem Menschen zugewandt und ist zu ihm herabgestiegen, um ihn zu erlösen.355 Aus diesem Kontext versteht sich auch die Etymologie des Wortes ‚humilitas‘, das Radulfus Ardens vom Erdboden (‚humus‘) herleitet: Um dem Laster der Selbsterhebung zu entkommen, muss der Mensch erkennen, dass er aus wertloser Erde geschaffen und damit auf das Niedrige hingeordnet ist.356 – Auch die Auswirkung bzw. der Dienst (‚officium‘) der Demut wird aus der Definition ersichtlich: Durch die ‚humilitas‘ erniedrigt der Mensch sich selbst und schätzt sich gering.357 Damit beschreibt das dritte Glied der Geringschätzung im strengen Wortsinn nur die Auswirkungen der Demut und nicht die Tugend selbst. Radulfus Ardens ist sich bewusst, dass die Aufforderung zum ‚contemp-
352 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147raf.): „Vnde oriatur, demonstratur, cum subditur ‘ex uerissima sue infirmitatis recognitioneʼ de qua in sequentibus proloquimur.“ 353 Spec. uniu. 12, 125 (P, fol. 147va): „Oritur autem humilitas ex uera proprie infirmitatis recognitione et ita ex sapientia. Vt enim de stercore gemmam legamus, scriptum erat in tripode Apollinis: Tuetolicon, id est: cognosce te ipsum. Itaque ex proprie infirmitatis cognitione discimus nos humiliare. Cognoscimus autem infirmitatem nostram precipue ex quinque: ex malo in quo sumus; ex bono quod non habemus; ex hoc quod bonum, quod habemus, ex nobis non habemus; ex hoc quod bonum habitum amittere ualemus; ex hoc quod in respectu diuine puritatis nichil sumus. Ex primo intelligimus miseriam nostram, ex secundo indigentiam nostram, ex tertio impotentiam nostram, ex quarto insecuritatem nostram, ex quinto nullitatem nostram.“ 354 Diese wurde bereits in einem eigenen Beitrag ausführlich beschrieben, sodass an dieser Stelle die Wiedergabe der zentralen Aussage genügt (vgl. dazu JANOTTA, Soteriologie 297–299). 355 Spec. uniu. 12, 127 (P, fol. 148rb): „Humilitas quoque est uirtus per quam redemptor noster humanam ruinam restaurauit. Enimuero per superbiam priorum parentum se posse fieri sicut deos iuxta consilium diaboli sperantium totum genus humanum corruerat et per solam humilitatem superbie contrariam subleuandum erat.“ 356 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147rbf.): „Dicitur autem ‘humilitasʼ ab ‘humoʼ, quoniam qui uere humiles sunt, se ex humo creatos, se humum esse, se in humum reuersuros, in iugi memoria tenent, et non in alto, sed humi sedere, humi iacere, humi recumbere et habitare semper amant.“ 357 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147rb): „Quod uero sit humilitatis officium, designatur cum dicitur ‘sibimet uilescatʼ. Est enim humane humilitatis officium sibimet uilescere et seipsum contempnere.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
tus sui ipsius‘ keineswegs von selbst verständlich ist. Es ließe sich nämlich fragen, ob es nicht ein Widerspruch ist, dass der Mensch auf der einen Seite durch Christus dazu aufgefordert wird, sich selbst zu lieben und dass er sich auf der anderen Seite infolge der Selbsterkenntnis geringschätzen soll? Es lohnt sich, die Antwort auf diese Frage genauer zu betrachten. Der Autor löst den scheinbaren Widerspruch nämlich damit auf, dass man sich auf gute und schlechte Weise lieben und auf gute und schlechte Weise geringschätzen kann. Nur wer sich selbst gut geringschätzt, liebt sich auch gut. Dieses Entsprechungsverhältnis gilt ebenso für die beiden lasterhaften Formen.358 Dass hier komplementäre Denkstrukturen im Hintergrund stehen ist offensichtlich: Die Selbstliebe ist nämlich nur dann tugendhaft (‚amor sui bonus‘), wenn sie durch die gute Geringschätzung gegenüber sich selbst (‚contemptus sui bonus‘) im rechten Maß gehalten wird. Wenn einer von beiden Aspekten fehlt oder zu gering ausgeprägt ist, wird der Mensch entweder stolz und stellt sich selbst über alles andere (‚amor sui malus‘) oder er verzweifelt völlig, empfindet tiefe Abscheu vor sich und der Welt und verweigert sich damit der Erlösung durch Gott. Daraus ergibt sich das folgende Komplementärtugendpaar:
‚contemptus sui malus‘
‚contemptus sui bonus‘
↔
‚amor sui bonus‘
‚amor sui malus‘
Mit diesen Überlegungen liefert Radulfus Ardens an einer unerwarteten Stelle Ansatzpunkte, um eine wichtige systematische Lücke zu schließen, auf die weiter oben in Zusammenhang mit der Suche nach einer möglichen Komplementärtugend für die ‚uoluntaria paupertas‘ aufmerksam gemacht wurde.359 Das zentrale Problem war dort, dass der ‚amor sui‘ im Speculum universale nur am Rande erwähnt und kaum inhaltlich konkretisiert wird, sodass es ohne Spekulationen nicht möglich war, eine positive Form der Liebe zum Reichtum in die Trias von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe zu integrieren. Damit fehlte die systematische Grundlage, aus der sich eine Komplementärtugend zum ‚contemptus diuitiarum‘ ableiten lässt. Hier in Kapitel 124 wird in dieser Hinsicht deutlich: Die Geringschätzung gegenüber sich selbst kann ohne das Korrektiv der Selbstliebe keine Tugend sein. Zwar wird hier wieder nur die geistige Seite der Selbstliebe
358 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147rb): „Sed dices: Nonne homo post Deum se pre ceteris debet diligere? Quomodo ergo seipsum debet contempnere? Ad quod respondemus: Quod est amor bonus est et amor malus; est et contemptus malus, est et contemptus bonus. Si bene nos contempnimus, bene nos amamus. Si male nos contempnimus, male nos amamus. Porro bene nos contempnimus, si uoluptatibus et uoluntatibus nostris carnalibus obsequi contempnimus. Male nos contempnimus, si salutem anime nostre perpetuam querere contempnimus.“ 359 Vgl. dazu die Ausführungen in Punkt 2.1.2.6.
2.3 ‚Se contempnere‘
521
bzw. die Liebe zur eigenen Seele und dem Seelenheil thematisiert, während die körperliche Komponente ausgespart wird; jedoch lässt sich unter Berücksichtigung der von Radulfus Ardens mehrfach betonten Tatsache, dass ohne körperliche Gesundheit auch kein Seelenheil möglich ist, durchaus die Position vertreten, dass im Speculum universale eine tugendhafte Form der Liebe zum eigenen Körper und damit auch eine tugendhafte Form des Strebens nach weltlichen Gütern angelegt ist. – Schließlich lassen sich an dieser Definition bereits Hinweise auf die Komplementärtugend der Demut ablesen. Radulfus Ardens präzisiert das ‚officium‘ der Demut nämlich dadurch, dass die Geringschätzung gegenüber sich selbst nützlich, gut und maßvoll sein muss. Die Beifügung dieser Adjektive weist darauf hin, dass es auch eine schlechte, nutzlose und übertriebene Demut gibt. Die nutzlose Demut bezeichnet er als sträflich (‚dampnabilis‘), da sie ins Verderben und in die Verdammnis führt; denn falls der Mensch durch die Erkenntnis seiner Schwächen jede Hoffnung auf das Seelenheil verliert und daran verzweifelt, hat er keine Motivation mehr, den Lastern Widerstand zu leisten und lässt sich gehen. Auch Begriff ‚humilitas mala‘ meint genau dieses Verhalten. Ein anderer Fall liegt bei der guten Demut vor, die über das rechte Maß hinausgeht: Solche Menschen haben zwar die richtige Absicht und erniedrigen sich im Wissen um ihre Lage vor Gott und den Mitmenschen, jedoch gehen sie dabei allzu hart mit sich ins Gericht und halten sich selbst für die einfachsten und lebensnotwendigen Güter unwürdig. Radulfus Ardens bezeichnet sie als kleingeistig (‚pusillanimes‘).360 Da diese Ausführungen einen Vorgriff auf die Bestimmung der ‚termini‘ und des Komplementärtugendpaares in Kapitel 132 darstellen, bricht der Autor an dieser Stelle ab und klärt die Frage nach der Definition der Demut abschließend. Von der oben beschriebenen zweiten Aufteilung der ‚humilitas‘ kommt er zu dem Schluss, dass die soeben erläuterte Definition lediglich die innere Demut (‚humilitas tantum mentis‘ bzw. ‚humilitas interior‘) bestimmt, aber die äußere (‚humilitas tantum corporis‘ bzw. ‚humilitas exterior‘) außen vor lässt. Da die beste Art der Demut jedoch diejenige ist, die beide Aspekte miteinander verbindet, muss die Definition um einen weiteren Bestandteil erweitert werden: Die Demut ist deshalb die Geringschätzung seiner selbst, die durch äußere Zeichen untermauert wird. Als Beispiele für solche Zeichen der Unterordnung (‚indicia extremitatis‘) führt er einfache Kleidung, eine einfache Lebensweise, Verzicht auf Rangzeichen und den Dienst am
360 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147rb): „Quale uero sit humilitatis uirtutis officium, determinatur cum subiungitur ‘utiliter et modesteʼ. Quoniam enim quidam non uilescunt sibi utiliter, sed potius dampnabiliter, ut illi qui desperant de salute anime sue et qui per omnia uitia semet inuolutant, ideo adiunctum est ‘beneʼ. Rursus quia quidam se bene, sed nimis humiliant, ut pusillanimes et qui ad nullum bonum se utiles esse reputant, ideo additur ‘et modesteʼ. In quo etiam termini humilitatis designantur de quibus in sequentibus dicturi sumus.“
522
2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
Nächsten an.361 Auch hier wird wieder an einem kleinen Detail deutlich, wie sich das ganzheitliche Menschenbild des Radulfus Ardens auch auf einzelne Vorgaben zur Lebensführung auswirkt. 2.3.1.2 Die ‚modi humilitatis‘ und ihre Bedeutung für das Verständnis der Demut Obgleich Radulfus Ardens bis dahin bereits viele Aspekte der Demut beleuchtet hat, geht er noch genauer ins Detail und beschreibt in den Kapiteln 128–131 insgesamt drei ‚modi‘, in denen man sich selbst geringschätzen kann. Dabei stellt sich zunächst einmal die Frage, was dieser Terminus meint und wie er zu übersetzen ist. Um eine Antwort darauf geben zu können, ist ein genauerer Blick in den Text nötig: Gleich zu Beginn von Kapitel 128 führt der Autor die drei ‚modi humilitatis‘ wie folgt ein: Entweder erniedrigt (‚humiliatur‘) man sich im Hinblick (‚ex respectu‘) auf die göttliche Erhabenheit, im Hinblick auf die höhere Stellung des Nächsten oder ohne Bezug zu etwas anderem allein in sich selbst.362 Demnach sind die ‚modi‘ offensichtlich keine weiteren Arten oder Unterarten der Demut.363 Sie bilden vielmehr Relationen ab, in denen sich der Mensch in einer bestimmten Weise selbst erniedrigt. Man könnte auch sagen, dass hier die Gegenstände bestimmt werden, die den Affekt des ‚contemptus sui ipsius‘ im Menschen hervorrufen, wenn er mit ihnen konfrontiert wird. Dies sind – wie der Autor unmittelbar im Anschluss erläutert – Gott, der Nächste und unser eigener Mangel bzw. der Fall durch die Sünde. Von daher kann der Begriff ‚modus‘ entweder als ‚Relation‘ oder einfach als ‚Modus‘ übersetzt werden. Im weiteren Verlauf der Darstellung beschreibt er die drei Modi der Demut genauer. Da diese Ausführungen in erster Linie spirituell-paränetischen Charakter haben, wurden lediglich einige Zusatzinformationen herausgelöst, die für das Verständnis der Demut relevant sind. – Nicht nur die Menschen, sondern auch die Himmelsbewohner und die Engel müssen sich vor Gott erniedrigen. Dieser Umstand ergibt sich daraus, dass alle Geschöpfe (also auch die Engel) ontologisch von Gott abhängig sind. Jedoch gibt es einen wichtigen heilsgeschichtlichen Unterschied: Die Engel haben ihre
361 Spec. uniu. 12, 124 (P, fol. 147rb): „Est autem hec diffinitio tantum interioris humilitatis. De interiori uero simul et exteriori humilitate talem possumus dare descriptionem: Humilitas est contemptus sui cum indiciis extremitatis. Sunt autem indicia extremitatis esse postremum in tempore, in loco, in gradu, in officio, in uictu, in uestitu qui, si fuit libere uoluntatis, procul dubio signa sunt interioris et uere humilitatis.“ 362 Spec. uniu. 12, 128 (P, fol. 149va): „Sunt autem tres modi humilitatis. Aut enim humiliamur ex respectu diuine celsitudinis aut ex respectu maioritatis proximi aut sine respectu ad aliud humiliamur in nobismet ipsis. Per primum humiliamur Deo, per secundum proximo, per tertium humiliamur absolute in defectu lapsuque proprio.“ 363 Zu diesem Missverständnis könnte auch das dazugehörige Baumdiagramm in der Handschrift P (fol. 151) führen, dass neben den beiden Aufteilungen der Demut in ‚species‘ auch die ‚modi‘ mit abbildet.
2.3 ‚Se contempnere‘
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eigene Natur nicht durch den Sündenfall verdorben, sondern wurden von Gott bereits verherrlicht. Dadurch sind sie sich selbst wertlos geworden und richten sich ganz auf Gott aus. Trotzdem bleibt eine unüberbrückbare Distanz bestehen, die automatisch Demut auslöst. Diese Aussage ist von daher überraschend, da Radulfus Ardens zuvor mehrfach angedeutet hatte, dass die kontemptiven Affekte im Himmel eigentlich nicht mehr notwendig sind.364 Die Menschen haben hingegen durch die Ursünde ihre eigene Handlungsfähigkeit eingebüßt und können sich nicht mehr von sich aus Gott annähern. Jedoch sind sie dazu im Stande, eben diese negative Ausgangslage zu erkennen und sich bewusst zu machen, dass sie durch eigene Kraft nichts erreichen können und gänzlich auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind.365 – Dass sich der Christ nicht nur Gott, sondern auch dem Nächsten gegenüber demütig verhalten muss, hat Radulfus Ardens bereits öfter betont. Hier differenziert er diese Aufforderung genauer aus: Man muss sich nämlich sowohl vor der höheren Stellung im Bereich der weltlichen Ehren (‚in gradu dignitatis secularis‘) als auch vor seinen Tugenden und Verdiensten (‚in gradu uirtutis et meriti‘) erniedrigen.366 Diese Aufteilung ist nicht mit innerer und äußerer Armut zu verwechseln: Hier geht es nämlich nicht darum, ob man nur durch äußere Zeichen oder auch von der inneren Einstellung her demütig ist, sondern um den Gegenstand, der die Demut auslöst. Der Autor sieht es als unerlässliche Pflicht an, sich einem Höherstehenden gegenüber demütig zu verhalten und sich einem Ebenbürtigen nicht überzuordnen. Im besten Fall sollte man aber auch den Menschen den Vorzug geben, die neben einem oder sogar unter einem stehen.367 Auch hier
364 Spec. uniu. 12, 128 (P, fol. 149va): „Et Deo quoque humiliantur non solum homines, sed etiam superni ciues. Superni autem ciues ex respectu diuine magestatis humiliantur propter quatuor causas: quoniam eius creatura sunt; quoniam, quod boni sunt, quod perseuerantes, quod confirmati, quod glorificati ab eo consequuti sunt; quoniam gustantes et ardentes eius dulcedinem sibimet uilescunt; quoniam eius altitudinem nullatenus inuestigare querunt.“ 365 Spec. uniu. 12, 128 (P, fol. 149vb): „Homines uero causas habent quare humilientur diuine maiestati non solum ex predictis, sed etiam ex hoc quod naturam suam a Deo bonam factam corruperunt. Debet ergo homo se humiliare in conspectu diuine maiestatis. Primum considerando quam bonum eum Deus fecit et in quantum malum ipse semet precipitauit. Secundo considerando quod ex se nequit resurgere, nisi eo sibi manum porrigente. Tertio considerando quod bonum quod habet, a Deo habet, malum uero quod habet, a se solo habet. Quarto considerando quod bonum quod a Deo habet, non ex meritis accepit, sed gratis, malum quod patitur non a Deo habet, sed ex meritis suis. Quinto considerando quod si Deus districte uelit nos iudicare, nullus poterit iustificari uel saluari.“ 366 Spec. uniu. 12, 129 (P, fol. 149vb): „Ex respectu uero maioritatis proximi debemus nos humiliare. Ceterum maioritas proximi aut est in gradu dignitatis secularis aut in gradu uirtutis et meriti. Sane in utriusque maioritatis respectu debemus nos humiliare. Itaque bene agit qui se humiliat tantum in respectu maioritatis gradus secularis. Melius uero agit qui se humiliat in respectu maioritatis uirtutis. Maxime uero bene agit qui se humiliat in respectu utriusque.“ 367 Spec. uniu. 12, 129 (P, fol. 149vb): „Item tres sunt species se humiliandi in respectu proximi: Prima species est humiliare se suo maiori et non preferre se pari, secunda species est humiliare se
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warnt er davor, dass man gerade durch die überhebliche Behandlung eines niedriger Stehenden selbst sündigt, während der andere jederzeit das Potential hat, von einem Sünder zu einem guten Menschen zu werden.368 Dieses Ideal leitet er unmittelbar vom Vorbild Christ ab. Damit klassifiziert er die Demut als eine typisch christliche Tugend, die aus der ‚imitatio Christi‘ entsteht. – In Kapitel 131 bespricht Radulfus Ardens die Geringschätzung seiner selbst ohne Bezug zu einem Gegenüber. Sie resultiert aus dem Bewusstsein der eigenen Schuld, der eigenen Wertlosigkeit und der Strafe dafür.369 Die Strafe hat dabei zwei Komponenten: eine körperliche und eine geistige. Als körperliche Strafen führt er z. B. Arbeit, Mangel, Not, Krankheit und Alter an. Die geistigen Strafen sind dagegen die oditiven Affekte Angst, Zorn, Trauer, Scham und Reue.370 Dies ist kein Zufall: Bereits am Ende von Buch 11 hatte er darauf hingewiesen, dass die (lasterhaften) Affekte des Hasses nicht nur im Diesseits eine Manifestation des irdischen Unheilszustandes darstellen, sondern dass sie darüber hinaus im Eschaton die eigentliche Strafe für die Verdammten sind.371
2.3.1.3 Die ‚honorantia sui‘ als Korrektiv der ‚humilitas‘ Nachdem Radulfus mehrfach – einmal in Kapitel 124 und ein weiteres Mal in Kapitel 131372 – darauf hingewiesen hat, dass man sich auf gute und schlechte Weise demütigen kann, beschäftigt er sich in Kapitel 132 ausführlich mit der Ambivalenz der Demut und bestimmt schließlich auch die Selbstwertschätzung (‚honorantia sui‘) als ihre Komplementärtugend.373 Er definiert sie als die Tugend, durch die sich der Mensch aus der wahrhaftigsten Erkenntnis seiner hohen Abkunft (‚nobilitas‘) maßvoll selbst liebgewinnt. Diese Definition erklärt sich weitestgehend von selbst, da sie offensichtlich so formuliert wurde, dass man ihre einzelnen Bestandteile
suo pari, tertia humiliare se etiam suo minori. Porro prima species est parua, secunda maior, tertia maxima.“ 368 Spec. uniu. 12, 130 (P, fol. 150vaf.): „Cum autem sit consilium et a paucis impletum omni homine se inferiorem credere, tamen omnibus est necessarium nulli homini, quantumcumque sit peccator, se preferre quantum ad uite, dico, meritum, non quantum ad dignitatis secularis gradum. Quare? Quia superbia est quod ei te preferas, qui te melior est uel esse potest.“ 369 Spec. uniu. 12, 131 (P, fol. 150vb): „Sine etiam respectu ad aliud nos humiliare ualemus, si semper miseriam in qua sumus, cogitemus. Est autem humana miseria triplex: una est culpe, altera uilitatis, altera pene.“ 370 Spec. uniu. 12, 131 (P, fol. 151ra): „Miseria quoque pene duplex est: altera enim est spiritualis, altera corporalis; spiritualis ut timor, ira, tristitia, pudor, penitentia; corporalis labor, aduersitas, indigentia, infirmitas, senectus, mors.“ 371 Vgl. dazu Punkt 2.8.2 im zweiten Teil der Arbeit. 372 Spec. uniu. 12, 131 (P, fol. 151ra): „Ceterum quosdam humiliant utiliter, ut eos qui propter huiusmodi corriguntur; quosdam uero inutiliter, immo dampnabiliter, ut eos, qui propter hec non corriguntur, immo deteriorantur, desperant et dampnantur.“ 373 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152ra): „Est autem uirtus collateralis humilitatis honorantia sui.“
2.3 ‚Se contempnere‘
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denen der Demutsdefinition gegenüberstellen kann.374 Um die Bedeutung der ‚honorantia sui‘ hervorzuheben, setzt Radulfus Ardens hier zu einem Exkurs an, in dem er erläutert, dass die hohe Abkunft des Menschen durch seine Gottebenbildlichkeit begründet ist und dass der Gegensatz zwischen ‚nobilitas‘ und ‚infirmitas‘ von Gott gewollt ist und für die Erlösung des Menschen eine zentrale Rolle spielt.375 Neben der Gottebenbildlichkeit zeigt sich die ‚nobilitas‘ des Menschen trotz all seiner Makel daran, dass ihm eine Vorrangstellung vor der Welt und den weltlichen Dingen zukommt, dass Gott selbst für ihn Mensch wurde und dass er dazu ausersehen ist, erlöst und mit Gott vereint zu werden. Nur durch die Hoffnung, die aus der Vergegenwärtigung dieser Dinge erwächst, kann der Mensch der Versuchung widerstehen, sich und die Welt aufzugeben und gänzlich der Sünde und dem Laster zu verfallen.376 Von daher benötigt die Demut das Korrektiv der Selbstwertschätzung, um sich nicht in die Laster der Kleingeistigkeit (‚pusillanimitas‘), der schlechten Selbstaufgabe (‚mala abiectio‘) und der Verzweiflung (‚desperatio‘) zu verwandeln. Auf der anderen Seite wird die ‚honorantia sui‘ ohne ‚humilitas‘ zum wertlosen Ruhm (‚uana gloria‘), zur Anmaßung (‚arrogantia‘) und zum Stolz (‚superbia‘). Nur gemeinsam bilden sie eine Tugend und verschmelzen schließlich miteinander. Diesen Zustand bezeichnet er als Demut, die sich auf gute Weise selbst wertschätzt (‚humilitas se bene honorans‘) bzw. als Selbstwertschätzung, die sich auf gute Weise demütigt (‚honorantia sui se bene humilians‘). Die ‚termini‘ dieser Verschmelzungstugend legt er fest, indem er auf der einen Seite davor warnt, sich zu sehr geringzuschätzen und dadurch selbst aufzugeben und auf der anderen dazu aufruft, sich nicht zu sehr zu erheben und dadurch hochmütig zu werden.377 Das hier beschriebene Verhältnis zwischen Demut und Selbstwertschätzung lässt sich wie folgt darstellen:
374 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152ra): „Est autem honorantia sui uirtus per quam homo ex uerissima sue nobilitatis cognitione sibimet bene modesteque carescit. Sane hac in descriptione demonstratur unde hec uirtus horitur. Oritur enim ex uerissima sue nobilitatis cognitione, sicut humilitas econtrario nascitur ex sue infirmitatis recognitione.“ 375 Da dieser Exkurs für die Anthropologie des Radulfus Ardens höchst bedeutsam ist, wurde er im ersten Teil der Arbeit unter Punkt 1.3.1 bereits ausführlich besprochen. 376 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152ra): „Attenditur autem nobilitas hominis precipue in quatuor: in hoc quod ad ymaginem et similitudinem Dei creatus est, in hoc quod mundo et mundanis rebus prelatus est, in hoc quod propter hominem Filius Dei factus est homo et mortuus est, in hoc quod ad hereditandum regnum celorum et adfruendum Dei uisione plasmatus est. Itaque summopere cauendum est, ne nobilitatem nature nostre per peccata et uitia inhonoremus, sed potius in ea puritate in qua creata est, quantum possumus conseruemus, rationis rectitudinem et uirtutum honestatem teneamus.“ 377 Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152raf.): „Itaque honorantia sui temperat humilitatem, ne in pusillanimitatem malam abiectionem et desperationem ruat. Humilitas quoque temperat sui honorantiam, ne in uanam gloriam, arrogantiam et superbiam erumpat. Humilitas ergo sine sui honorantia uitium est. Honorantia quoque sine sui humilitate uitium est, sed altera cum altera uirtus est, uidelicet humilitas se bene honorans et honorantia sui se bene humilians. Termini sunt istius uirtutis nec nimis se contempnere et deicere nec nimis se sublimare et magnificare.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
‚humilitas se bene honorans‘ / ‚honorantia sui se bene humilians‘ ‚pusillanimitas‘ / ‚mala abiectio‘ / ‚desperatio‘
‚humilitas‘
↔
‚honorantia sui‘
‚uana gloria‘ / ‚arrogantia‘ / ‚superbia‘
Insgesamt wurde bei der Darstellung der Demut deutlich, dass der ‚contemptus sui ipsius‘ und der ‚amor sui‘ in einem engen Verhältnis stehen und nicht voneinander zu trennen sind. Dies ist vor dem Hintergrund der Aussagen des Radulfus Ardens in Buch 1 wenig verwunderlich: Da der ‚contemptus‘ eher eine Tendenz zum Hass, als zu Liebe hat, muss die Liebe zwangsläufig das Korrektiv der Geringschätzung bilden.
2.3.2 Die ‚filie‘ der Demut und der Traktat über den Gehorsam Der Passus über die ‚filie humilitatis‘ (c. 133–136) stellt aus zwei Gründen eine Besonderheit in Buch 12 dar. Zum einen ist die Demut die einzige Tugend im gesamten Buch, der Radulfus Ardens Tochtertugenden zuweist. Der Begriff ‚filia‘ im Sinne von Tochtertugend kommt im Speculum universale – wie bereits beschrieben – ansonsten nur noch in Buch 11 bei der Liebe und der Hoffnung vor. Diese Parallele ist jedoch nur eine zufällige bzw. äußerliche Ähnlichkeit ohne tiefere Bedeutung, da im gesamten Werk kein Hinweis darauf zu finden ist, dass mit dem Terminus ‚filia‘ irgendein spezifischer systematischer Bedeutungsgehalt verbunden wäre. Offensichtlich handelt es sich dabei um einen mehr oder weniger austauschbaren Ordnungsbegriff, was sich auch daraus erschließen lässt, dass bspw. Klugheit und Gerechtigkeit, die von ihrer Stellung her der Demut ebenbürtig sind, gerade nicht in Tochtertugenden, sondern in ‚officia‘ bzw. ‚usus‘ unterteilt werden. Zum anderen ist die Gliederung des Abschnitts nicht auf den ersten Blick klar, da die Kapitelüberschriften irreführend sind: Denn in Kapitel 133 (‚quot sint filie humilitatis‘) zählt Radulfus Ardens die acht Tochtertugenden der Demut nicht nur auf, sondern beginnt auch direkt, sie genauer zu beschreiben. Mit den Erläuterungen zur dritten ‚filia‘ (der ‚uoluntaria subiectio‘) endet das Kapitel jedoch abrupt und es beginnt ein scheinbar geschlossener Passus über den Gehorsam (c. 134–136). Doch auch hier stimmen Titel und Inhalt nicht überein: Während es in den Kapiteln 134 und 135 tatsächlich nur um den Gehorsam geht, ist in der zweiten Hälfte von Kapitel 136 (‚quantum bonum sit obedientia quantumque malum sit inobedientia‘) von den vier bisher noch ausstehenden ‚filie‘ die Rede. Ein nachvollziehbarer Grund für die diese missverständliche Anordnung der Tochtertugenden lässt sich nicht erkennen. In jedem Fall wird deutlich, dass die ‚obedientia‘ für Radulfus Ardens an dieser Stelle von besonderem Interesse ist.
2.3 ‚Se contempnere‘
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Die acht Tochtertugenden der Demut sind das Erkennen der eigenen Sünde (‚recognitio proprii peccati‘), die Selbstbeschuldigung bezüglich der hereinbrechenden Dinge (‚inculpatio sui solius in ingruentibus‘), die freiwillige Unterordnung (‚uoluntaria subiectio‘), der freiwillige Gehorsam (‚uoluntaria obedientia‘), die freiwillige Armut (‚uoluntaria paupertas‘), die freiwillige Niedrigkeit (‚uoluntaria uilitas‘), die freiwillige Einnahme der letzten Stelle (‚uoluntaria postremitas‘) und der freiwillige Friede (‚pax‘).378 Drei der hier genannten Tugenden wurden in Buch 12 bereits behandelt: Die freiwillige Unterordnung entspricht dem ‚contemptus potestatum‘, die freiwillige Armut dem ‚contemptus diuitiarum‘ und die freiwillige Niedrigkeit dem ‚contemptus honorum‘. In diesem Abschnitt finden sich aber nicht nur Bezüge zu anderen Kapiteln von Buch 12, sondern auch zahlreiche Verweise auf Themengebiete aus anderen Büchern. Um verständlich zu machen, welche Verhaltensweisen der Autor mit den z. T. umständlichen Begrifflichkeiten konkret meint, werden zunächst ihre Definitionen aus dem Text herausgelöst und an einigen Stellen auch Informationen aus den Büchern 10 und 11 ergänzt. 2.3.2.1 ‚recognitio peccati proprii‘ Die Tugend der Erkenntnis der eigenen Sünde definiert Radulfus Ardens so: Durch sie erkennt man seine eigenen Fehler, hat sie klar vor Augen und gesteht sie folglich sich selbst, aber auch vor den Mitmenschen und vor Gott ein. Dass diese Tugend aus der Demut hervorgeht, wird daran deutlich, dass ein stolzer Mensch unter keinen Umständen dazu bereit ist, einen Fehler zuzugeben. Er wird ihn entweder verleugnen, verteidigen oder anderen die Schuld dafür zuschieben. Dafür führt der Autor mehrere biblische Beispiele an und betont, dass schon Adam so gehandelt hat, indem er die Schuld für die Ursünde bei der Frau oder Gott, nicht aber bei sich selbst suchte.379 Eine Komplementärtugend wird nicht erwähnt. Jedoch folgt daraus nicht, dass die ‚recognitio peccati proprii‘ kein Korrektiv benötigt, da eine reine Fixierung auf die eigenen Sünden – wie mehrfach betont wurde – zur Selbstaufgabe und Verzweiflung führt. Wahrscheinlicher ist, dass sie ebenso wie die Demut selbst durch die Selbstwertschätzung ins rechte Maß gebracht wird.
378 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152rb): „Sunt autem octo filie humilitatis: proprii peccati recognitio, in ingruentibus sui solius inculpatio, uoluntaria subiectio, uoluntaria obedientia, uoluntaria paupertas, uoluntaria uilitas, uoluntaria postremitas, uoluntaria pax.“ 379 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152rbf.): „Porro proprii peccati recognitio ex humilitate nascitur, quoniam proprium est uere humilis peccatum suum recognoscere sicut proprium est superbi numquam peccatum suum recognoscere, sed illud uel negare uel defendere uel excusare […]. Excusare sicut Adam qui, cum accusaretur a Domino, quare contra uetitum comedisset pomum, excusauit se retorquens culpam in uxorem suam uel potius in ipsum Deum uxoris donatorem. Qui uero uere humilis est, peccatum suum recognoscit sine negatione, sine defensione, sine excusatione […].“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
2.3.2.2 ‚inculpatio sui solius in ingruentibus‘ Diese sperrige Formulierung beschreibt eine Tugend, die es ermöglicht, alle widrigen äußeren Ereignisse und alle Anfeindungen von Menschen, die über einen hereinbrechen (‚ingruere‘), als gerechte Konsequenzen der eigenen Sünden und nicht als ungerechte Benachteiligung anzusehen.380 Sie ist eng mit der ersten ‚filia‘ verwandt. Radulfus Ardens stellt zum einen heraus, dass jede Schande (‚contumelia‘), jeder Schaden (‚dampnum‘) und jede scheinbare Ungerechtigkeit (‚iniuria‘) eine gerechte Zurechtweisung (‚correctio‘) Gottes darstellt, richtet den Blick aber zum anderen darauf, dass sich Gott auch der Mitmenschen bedient, um einen zu tadeln und zu prüfen.381 Mit dieser Erkenntnis ist ein Perspektivwechsel verbunden: Anfeindungen oder Kritik von Mitmenschen werden nicht mehr als Beleidigungen sondern als (zumindest im Kern) berechtigte Kritik betrachtet. Auch die Kritiker erscheinen nicht mehr als persönliche Feinde, sondern als Diener Gottes (‚ministri‘), denen man statt Hass Mitleid und Nächstenliebe entgegenbringen muss.382 Damit trägt diese Tugend zur Konfliktlösung im zwischenmenschlichen Bereich und zur eigenen Charakterbildung bei. Ein großes Hindernis stellt hierbei die Selbstrechtfertigung im Vorfeld der Auseinandersetzung dar: Sie verhindert, dass man sich gänzlich dem Urteil Gottes anvertraut und dadurch Vergebung erlangt.383 Auch hier wird keine Komplementärtugend erwähnt. Jedoch scheint es wenig hilfreich, auch völlig haltlose Kritik und jeden feindlichen Angriff undifferenziert hinzunehmen. Hier wäre ein Korrektiv in der Art des guten Hasses denkbar, mit dem man sich vor existenzgefährdenden und lasterhaften Feindseligkeiten schützen kann.
380 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152va): „Sui quoque solius in ingruentibus inculpatio nascitur ex humilitate, quoniam qui uere humilis est, uniuersa que sibi irrogantur, aduersa peccatis suis ascribit.“ 381 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152va): „Scit enim uniuersa que sibi contingunt mala, iusto Dei iudicio sibi irrogari. Qui proculdubio iuste nos flagellat uel per seipsum uel per ministerium creaturarum. Vnde non contra eum, sed contra prauitatem nostram debemus irasci que sic meruit flagellari. Deum uero pie nos corripientem tanquam benignissimum patrem debemus inde magis diligere et prosequi cum gratiarum actione. Contra quoque hominem per cuius ministerium Deus nos flagellat et contumelias, dampna et iniurias irrogat, non debemus irasci, sed potius esse beniuoli tanquam ministro a Deo misso ad correptionem et salutem nostram.“ 382 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vaf.): „Licet autem homo non inferat nobis huiusmodi mala bono animo, tamen ei compatientes et propitii esse debemus tanquam ei qui per dampnum suum operatur lucrum nostrum. Vnde et ei priores nos humiliare debemus et ab eo ueniam postulare et sic eum ad nostram dilectionem prouocare. Que humilitas et patientia triplicem parit nobis utilitatem. Meretur quippe nobis et peccatorum ueniam et flagellorum amotionem et proximi nostri lucrifactionem.“ 383 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Hoc autem penitus cauendum est, cum nos humiliamus et a proximo ueniam postulamus, ne nos in corde nostro preiustificemus, sed potius corpore, uoluntate et estimatione nos ei humiliemus et eum nobis preferamus.“
2.3 ‚Se contempnere‘
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2.3.2.3 ‚uoluntaria subiectio‘ Die freiwillige Unterordnung wurde im Speculum universale bereits an zwei Stellen ausführlich behandelt: Erstens in Buch 10; dort wird sie zum einen in Kapitel 12 als fünftes ‚officium‘ der Gerechtigkeit des Evangeliums (‚iustitia euangelica‘) angeführt und zum anderen in Kapitel 81 als Komplementärtugend der rechtmäßigen Herrschaft (‚dominatio debita‘), die zum Bereich der Tapferkeit gehört. Zweitens in Buch 11; dort wird sie in den Kapiteln 44 und 45 als sechste ‚species‘ der Güte (‚benignitas‘) porträtiert, die zur Nächstenliebe gehört. Da diese Stellen im zweiten Teil der Arbeit bereits ausführlich erläutert wurden, werden hier nur die zentralen Ergebnisse dieser Analyse wiederholt.384 Auch Radulfus Ardens geht in Buch 12 nicht mehr ausführlich auf die ‚uoluntaria subiectio‘ ein, sondern verweist lediglich auf ihre Definition sowie ihre drei Abstufungen385, die auch in Buch 11 genannt sind386: Die erste und am wenigsten vollendete Art zeigt sich daran, dass man sich höher stehenden Personen unterordnet (‚subdere se maiori‘). Sie ist heilsnotwendig und häufig anzutreffen. Die Ausführungen im 10. Buch beziehen sich ausschließlich auf diese ‚species‘.387 Hier macht der Autor deutlich, dass sie sich aus der göttlichen Schöpfungsordnung bzw. aus der Natur der Sache selbst ergibt und gewissermaßen selbstverständlich ist. Konkret ist damit eine Akzeptanz gerechter weltlicher Autoritäten gemeint, die sich in liebender Furcht (‚timor filialis‘), dem Erweisen von Ehren (‚honor‘), der Dienstfertigkeit (‚seruitium‘) und Bereitschaft zu materiellen Abgaben (‚tributum‘) konkretisiert.388 Die zweite Art ordnet sich hingegen auch gleichgestellten Menschen (‚subdere se pari‘) und die dritte sogar niedriger stehenden Menschen unter (‚subdere se minori‘). Beide sind sehr seltene, jedoch spezifisch christliche Tugenden, die zwar nicht heilsnotwendig sind, aber als evangelische Räte (‚consilia‘) auf das Ideal der ‚imitatio Christi‘ verweisen.389 384 Vgl. dazu Punkt 2.1.6.6. 385 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Subiectio quoque uoluntaria nascitur ex humilitate. Nam sicut proprium est superbi contendere de prelatione, sic proprium est uere humilis contendere de subiectione. Sunt autem uoluntarie subiectionis tres species: prima est subdere se maiori, secunda subdere se pari, tertia subdere se minori. Et prima quidem magna est, secunda maior, tertia maxima.“ 386 Spec. uniu. 11, 44 (P, fol. 75ra): „Sexta species benignitatis est uoluntaria subiectio, quando scilicet ex dilectione non solum maioribus, sed etiam aliis subiecti, sumus eis seruientes et diligentes et pro eis intercedentes.“ 387 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Et prima quidem est necessaria. Tenentur enim omnes illam ex precepto obseruare et idcirco de ea in tractatu de iustitia superius loquuti sumus.“ 388 Spec. uniu. 10, 12 (CCM 241A, p. 528 f.): „Subiectionem quoque debemus principibus propter quinque causas: propter mandatum, propter ordinationem, propter penam, propter utilitatem, propter conscientiam; propter mandatum Dei et apostoli, propter ordinationem Dei sic ordinantis, propter penam euitandam, propter utilitatem inde prouenientem, propter conscientiam nostram emundandam. […] Sed quam subiectionem debemus principibus? Subiectionem timoris, honoris, seruitii, tributi.“ 389 Spec. uniu. 12, 133 (P, fol. 152vb): „Secunda uero tantum consilii et ideo paucorum. Tertia uero est maioris perfectionis et ideo paucissimorum. Hanc consecrauit nobis Dominus exemplo suo qui, cum esset rex regum et dominus dominantium, subdidit se seruis suis […].“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
Eine Komplementärtugend wird in Buch 12 nicht erwähnt. Dennoch lassen sich aus den verschiedenen Stellen, an denen die freiwillige Unterordnung behandelt wird, Hinweise auf eine komplementäre Struktur finden: Erstens bezeichnet der Autor die freiwillige Herrschaft (‚uoluntaria dominatio‘) – womit eine Art Willkürherrschaft gemeint ist – in Buch 11 als entgegengesetztes Laster der ‚uoluntaria subiectio‘.390 Zweitens weist er in Buch 10 der ‚dominatio debita‘ die ‚subiectio debita‘ als Komplementärtugend zu.391 Wie bereits im zweiten Teil der Arbeit gezeigt wurde, handelt es sich dabei um nichts anderes, als die erste Art der ‚uoluntaria subiectio‘. Die geschuldete bzw. notwendige Herrschaft ist hingegen die Tugend eines gerechten Vorgesetzten, der sie aus Pflichtgefühl bzw. als ‚ministerium‘ und nicht aus Herrschsucht übernommen hat. Diese Bereitschaft zur gerechten Herrschaft lässt sich gut mit den Komplementärtugenden des ‚contemptus honoris‘ und des ‚contemptus potestatum‘ vergleichen: Auch dort wird die Übernahme einer Vorrangstellung unter den Bedingungen positiv bewertet, dass die jeweilige Person von Gott dazu berufen ist und die Sache mit Respekt und Ehrfurcht angeht. Eine Lücke bleibt jedoch bestehen, da sich keinerlei Hinweise auf eine lasterhafte Form der ‚uoluntaria subiectio‘ entdecken lassen. Zwar legt Radulfus Ardens in Buch 11 ihre ‚termini‘ so fest, dass man sich niemals so unterordnen darf, dass man sich an fremden Sünden mitschuldig macht,392 jedoch weisen diese Aussagen eher in den Bereich des Gehorsams als der ‚debita dominatio‘. Aus diesen bruchstückhaften Informationen lassen sich jedenfalls Andeutungen eines Komplementärtugendpaares gewinnen, das so aussehen könnte:
‚subdere se hominibus et non resistere criminibus eorum‘
‚uoluntaria subiectio‘ / ‚debita subiectio‘
↔
‚debita dominatio‘
‚uoluntaria dominatio‘
2.3.2.4 ‚uoluntaria obedientia‘ Während die übrigen Töchter der Demut summarisch in Kapitel 133 und der zweiten Hälfte von Kapitel 136 behandelt werden, gesteht Radulfus Ardens dem freiwilligen Gehorsam mit den Kapiteln 134 und 135 sowie der ersten Hälfte von Kapitel 136 auf den ersten Blick deutlich mehr Raum zu. Dieser Eindruck täuscht, da die übrigen fünf ‚filie‘ in Buch 12 nur deshalb so kurz abgehandelt werden, weil sie im Speculum
390 Spec. uniu. 11, 45 (P, fol. 75raf.): „Huius uirtutis contraria est uoluntaria dominatio eorum scilicet, qui querunt ab omni subiectione emancipari et omnibus dominari, qui coacte seruiunt mutationes dominorum querunt, presentes dominos odiunt, preteritos laudant, futuros uel nullos amant […].“ 391 Spec. uniu. 10, 81 (CCM 241A, p. 673): „Est autem uirtus collateralis debite dominationis debita subiectio.“ 392 Spec. uniu. 11, 45 (P, fol. 75rb): „Termini uero uoluntarie subiectionis, sunt ut sic subdamur hominibus, quod resistamus criminibus et sic resistamus criminibus quod subdamur hominibus […].“
2.3 ‚Se contempnere‘
531
universale bereits früher beschrieben wurden und diese Texte – wie am Beispiel der ‚uoluntaria subiectio‘ gezeigt wurde – hinzugerechnet werden müssen. Angesichts dessen fällt auf, dass sich der Autor mit der ‚obedientia‘ besonders ausführlich beschäftigt, zumal auch diese Tugend hier nicht zum ersten Mal vorkommt, sondern schon in Buch 10 (c. 14) als siebtes ‚officium‘ der Gerechtigkeit des Evangeliums eingehend beschrieben wurde. In Buch 10 nimmt er dabei eher ihren Pflichtcharakter in den Blick, während in Buch 12 (wie sich an der Beifügung des Adjektivs ‚uoluntarius‘ auch unschwer erkennen lässt) die Freiwilligkeit des Gehorsams im Fokus steht. Es gibt jedoch auch eine wichtige Gemeinsamkeit: An beiden Stellen betont Radulfus Ardens die Ambivalenz einer solchen Haltung und macht deutlich, dass die ethische Bewertung des Gehorsams nicht nur vom Charakter des Untergebenen, sondern auch von der jeweiligen Vorschrift und damit vom Vorgesetzten selbst abhängig ist. Durch diese Betrachtungsweise kommt er zu Ergebnissen, die deutlich in Richtung einer Komplementärtugend weisen, ohne dass er sie jedoch explizit benennen würde. Dieser Gedankengang wird nun im Detail nachgezeichnet. Zunächst definiert Radulfus Ardens den Gehorsam nicht, sondern teilt ihn in drei Arten auf: Um ‚obedientia mala‘ handelt es sich, wenn man schlechten Vorschriften (‚precepta‘) gehorcht, um ‚obedienia uana‘, wenn man wertlosen Vorschriften Folge leistet und um ‚obedientia bona‘, wenn man gute Vorschriften einhält. In ähnlicher Weise hatte sich der Autor bereits in Buch 10 geäußert und dort sogar noch mehr Unterteilungen vorgenommen.393 Dieses Bewertungsschema lässt sich dabei nicht nur auf die Vorschriften selbst, sondern auch auf die Gegenstände anwenden, auf die die Vorschrift abzielt. Erwartungsgemäß ist nur die dritte ‚species‘ eine Tugend. Sie besteht darin, den Vorschriften seines Vorgesetzten ergeben (‚deuote‘) und demütig (‚humiliter‘) zu gehorchen.394 Aus dieser Definition geht hervor, dass der Gehorsam nur dann eine Tugend sein kann, wenn er aus einer aufrichtigen und hingebungsvollen Geisteshaltung heraus erfolgt. Die Motivation des Untergebenen beim Gehorchen ist demnach das erste entscheidende Kriterium für die Bewertung einer gehorsamen Handlung. Wie sich an der Zusammensetzung der ‚species‘ zeigt, ist jedoch nicht nur der Empfänger einer Vorschrift in die Pflicht genommen. Auch der Vorgesetzte muss darauf achten, dass er nichts Sinnloses (‚uana‘) oder gar Böses (‚mala‘) vorschreibt, weshalb seine innere Einstellung beim Vorschreiben bzw. seine Qualitä-
393 Spec. uniu. 10, 14 (CCM 241A, p. 533): „Nam eorum que precipiuntur, quedam sunt mala, quedam otiosa, quedam indifferentia, quedam bona, quedam meliora, quedam optima; similiter et precepta quedam mala, quedam otiosa, quedam indifferentia, quedam bona, quedam meliora, quedam optima.“ 394 Spec. uniu. 12, 134 (P, fol. 153ra): „Ex humilitate nascitur obedientia uoluntaria sicut ex superbia inobedientia. Obedientia uero alia est mala, alia uana, alia bona. Porro mala obedientia est obedire preceptis malis, uana est uanis obedire, bona est bonis obedire. Quod si obediat et bonis et bene, uirtus est. Que sic describi potest: Obedientia est uirtus humiliter et deuote obtemperandi preceptis prelati sui.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
ten als Führungspersönlichkeit das zweite zentrale Kriterium für die ethische Qualität der jeweiligen Handlung sind. Bereits an diesen einleitenden Bestimmungen wird deutlich, dass Radulfus Ardens den Gehorsam als eine sehr ambivalente Verhaltensweise ansieht, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen positiv zu werten ist. Die Differenzierungen, die er dabei vornimmt, wurden vor dem Hintergrund der eben beschrieben Perspektive anhand von zwei Leitfragen geordnet. Erstens: Welche Rolle spielt die innere Haltung des Gehorchenden? Und zweitens: Welche Rolle spielt der Charakter des Vorschreibenden und die Beschaffenheit der Vorschrift? (1) Aus welcher inneren Haltung heraus man gehorchen muss, lässt sich aus den Erläuterungen zu den einzelnen Bestandteilen der Definition ableiten. Die Beifügung des Adverbs ‚humiliter‘ dient v. a. einem pädagogischen Zweck: Es soll verdeutlichen, dass der Mensch nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Gottes Hilfe gehorchen kann und der Gehorsam von daher kein Grund zur Selbstrechtfertigung ist.395 Systematisch ergiebiger ist das Adverbs ‚deuote‘, da sich daran der affektive Charakter des Gehorsams zeigt. Ergeben zu gehorchen bedeutet nämlich, dass man einem Auftrag möglichst schnell (‚celeriter‘) und eifrig (‚diligenter‘) Folge leistet. Nur an diesem Maßstab lässt sich erkennen, ob jemand unwillig und unmotiviert (‚tepide‘) gehorcht, oder mit Leidenschaft bei der Sache ist.396 Die Ausführung muss insgesamt in vier Punkten auf die Vorschrift abgestimmt werden: Sie muss die rechte Absicht (‚intentio‘) und das rechte Maß (‚modus‘) bewahren, sie muss sich auf die rechte Art und Weise (‚modus‘) vollziehen und mit dem richtigen Affekt (‚animus‘) verbunden sein.397 Dies setzt allerdings voraus, dass auch die Vorschrift selbst diesen Ansprüchen genügt. (2) Ob das ‚preceptum‘ selbst gut ist, bemisst sich daran, inwieweit es nützlich (‚utile‘), gerecht (‚iuste‘) und geeignet (‚conueniens‘) ist. Der Begriff ‚conueniens‘ bezieht sich hier auf äußere Gegebenheiten wie Eigenheiten der Person, Ort oder Zeitpunkt.398 So ist es bspw. Aufgabe eines guten Vorgesetzten, seine Untergebenen
395 Spec. uniu. 12, 134 (P, fol. 153rb): „Porro ‘humiliterʼ dictum est, quoniam qui sine humilitate se posse per se obedire putat, numquam poterit obediens esse. […] Itaque discipulus semper de se humiliter sentiat, ut se semper insufficientem estimet ad obediendum sine diuina supportatione preceptorisque sui deprecatione.“ 396 Spec. uniu. 12, 135 (P, fol. 153va): „Deuote quoque obediendum est et diligenter et celeriter; diligenter, quoniam qui inuite uel tepide obsequitur uel nil uel parum meretur. Et quanto obedientia sit cum maiori feruore, tanto dignior est maiori remuneratione. Celeriter quoque obediendum est, quoniam qui cito obedit, haud dubium est quin libenter obediat. Obedire quoque lente et segniter uolentis est.“ 397 Spec. uniu. 12, 135 (P, fol. 153va): „Itaque humiliter, diligenter et celeriter est obtemperandum mandato prelati sui: obtemperandum, id est temperanter obediendum, id est ea intentione, ea mensura, eo modo, eo animo quo preceptum est uel precipi debuit, faciendum est.“ 398 Spec. uniu. 12, 135 (P, fol. 153va): „Nam si precepto obtemperandum est et temperanter precipiendum est, ut uidelicet preceptum sit utile, iustum et conueniens. Conueniens dico persone,
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nicht zu überfordern, sondern ihren spezifischen Fähigkeiten gerecht zu werden. Deshalb ist in vielen Fällen auch nicht der Untergebene schuld, wenn ein Auftrag nicht korrekt erfüllt wurde, sondern vielmehr der Vorgesetzte, der schlecht vorgeschrieben hat.399 Dass Radulfus Ardens hier das Wort ‚Schüler‘ (‚discipulus‘) verwendet, lässt sich eindeutig als Hinweis auf den Traktat über den guten Lehrer in Buch 9 verstehen und führt vor Augen, dass auch hier der Kontext des Lehrbetriebs und möglicherweise auch der des klösterlichen Lebens im Hintergrund stehen. An der Aussage, dass viele Vorgesetzte schlecht vorschreiben, zeigt sich, dass die ethische Qualität der Vorschrift und damit auch des Gehorsams nicht allein davon abhängt, dass sie rein äußerlich auf ein Gut abzielt oder tatsächlich ein Gut verwirklicht. Es kann nämlich sein, dass jemand aus Zorn oder Stolz etwas befiehlt, das zwar per se durchaus als Gut gelten kann, aber durch die Absicht entwertet wird. In einem solchen Fall ist der Untergebene dazu berechtigt, den Gehorsam zu verweigern. Ob etwas Gutes (‚bonum‘) auch auf gute Weise (‚bene‘) vorgeschrieben wird, lässt sich letztlich daran erkennen, ob die Vorschrift auf Gott ausgerichtet ist, oder nicht. Da Gott demnach die letzte Autorität beim Vorschreiben und Gehorchen sein muss, ist der Mensch ausschließlich ihm uneingeschränkten Gehorsam schuldig. Diesen Punkt hatte der Autor auch schon in Buch 10 hervorgehoben: So muss man bspw. den Eltern von Natur aus (‚propter naturam‘) gehorchen, einem Abt wegen des Gelübdes (‚propter uotum‘) und wieder anderen wegen der Unterordnung (‚propter subiectionem‘), wegen ihrer Autorität (‚propter auctoritatem‘), wegen der Würde der vorgeschriebenen Sache (‚propter dignitatem rei‘) oder wegen eines Gebots (‚propter preceptum‘). Gott gegenüber muss man jedoch aus all diesen Gründen gehorsam sein und auch jedem einzelnen göttlichen Befehl Folge leisten.400 Gott ist damit der ganzheitliche Fixpunkt des Gehorsams (‚obedientia uniuersalis‘), während Menschen nur in bestimmten Bereichen und in Einzelfällen Autorität zukommt (‚obedientia particularis‘).
loco, tempori et eis inter quod uiuitur ceterisque circumstantiis. Porro persone conueniens erit, si eius possibilitati, si etati, si sexui, si ordini, si uoto, si eius conplexioni et uoluntati conueniens fuerit. Contra enim ista non est aliquid precipiendum. Et si nouerit prelatus discipulum suum aliquid nolle, non debet illud ei precipere, nisi forte fuerit ei necessarium ad salutem.“ 399 Spec. uniu. 12, 135 (P, fol. 153vb): „Indiscretio quoque precipientium facit inobedientes multos discipulorum. Non enim, nisi raro et discrete, iniungendum est preceptum obedientie, quoniam iussiones preceptorum indiscrete et precipites discipulos plerumque faciunt obedientie contemptores.“ 400 Spec. uniu. 10, 14 (CCM 241A, p. 532 f.): „Obedientiam uero debemus prelatis nostris aut propter naturam aut propter subiectionem aut propter uotum aut propter preceptum aut propter precipientis auctoritatem aut propter rei precepte dignitatem. Porro tam propter naturam quam propter preceptum debemus obedire parentibus nostris […]. Tam propter uotum quam propter preceptum debemus obedire abbatibus nostris […]. Porro soli Deo propter omnes predictas causas obedientiam debemus, cuius filii spirituales sumus, cuius subiecti sumus, cui uotum in baptismo fecimus, cuius preceptis nos obedire promisimus, cuius auctoritatem credimus, cuius mandatorum dignitatem suscepimus. Soli quoque Deo obedientiam debemus universalem, ceteris uero tantum particularem.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
An diesen Überlegungen wird deutlich, dass es in jedem Fall eine tugendhafte (‚obedientia bona‘) und eine lasterhafte Form des Gehorsams (‚obedientia mala‘) gibt: Die Tugend des guten Gehorsams ist dadurch gekennzeichnet, dass gute Vorschriften aus der richtigen Motivation heraus erfüllt werden. Schlechter Gehorsam lässt sich dagegen entweder daran erkennen, dass gute Vorschriften lau und unmotiviert umgesetzt oder schlechte Befehle ohne kritische Hinterfragung befolgt werden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass es auch einen tugendhaften und lasterhaften Ungehorsam geben muss: Die ‚inobedientia bona‘ verweigert sich schlechten Befehlen, wobei wiederum zwei Fälle zu unterscheiden sind: Erstens kann der Befehl selbst auf etwas Böses abzielen, sodass man sündigen würde, wenn man ihm Folge leistet. Zweitens kann aber auch die falsche Absicht des Vorgesetzten einen an sich guten Befehl entwerten; auch dann darf man ihn nicht befolgen. Die ‚inobedientia mala‘ widersetzt sich dagegen auch guten Befehlen, die aus der richtigen Motivation gegeben werden und ist von daher ein Laster. Daraus würde sich ohne größere Schwierigkeiten das folgende Komplementärtugendpaar ergeben: ‚obedientia mala‘ / ‚obedientia uana‘
‚obedientia bona‘
↔
‚inobedientia bona‘
‚inobedientia mala‘
Umso erstaunlicher ist es, dass sich Radulfus Ardens nirgends konkret in diese Richtung äußert. Zwar können die beiden Komplementärtugenden indirekt aus den Überlegungen der Kapitel 134–136 erschlossen werden, jedoch wird an keiner Stelle eine ‚inobedientia bona‘ genannt, was möglicherweise dem Umstand geschuldet ist, dass der Autor v. a. vor den negativen Auswirkungen des Ungehorsams warnen möchte und dabei den Verlauf der Heilsgeschichte und den Sündenfall Adams im Blick hat.401 Hinweise auf die Existenz einer ‚obedientia mala‘ finden sich immerhin, wenn auch nicht im Traktat selbst sondern überraschenderweise am Ende von Kapitel 133. Dort wird der schlechte Gehorsam zu den Lastern gezählt, vor denen die freiwillige Unterordnung schützt, ohne dass genauer erklärt wird, welches Verhalten damit gemeint ist.402 Somit lässt sich schließen, dass auch hier wieder der Gedanke eines Komplementärtugendpaars im Hintergrund steht, aber nicht explizit formuliert wird.
401 Dies wird v. a. zu Beginn von Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 153vb) deutlich: „Quanta autem uirtus sit obedientia et quantum malum sit inobedientia, demonstratur per prothoplausti inobedientiam per quam mundus dampnatus est, et per noui hominis Ihesu Christi obedientiam per quam mundus redemptus est.“ 402 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 153ra): „Est autem subiectio uoluntaria uirtus magna extinguens in nobis uitia, ut superbiam, malam libertatem, curiositatem, otiositatem nutriensque uirtutes, ut ipsam humilitatem, Dei timorem, bonam sollicitudinem et operationem.“ Eine ausführliche Erläuterung zur heilgeschichtlichen Bedeutung des Gehorsams im Speculum universale findet sich bei JANOTTA, Soteriologie 301 f.
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2.3.2.5 ‚uoluntaria paupertas‘ Da die ‚uoluntaria paupertas‘ in den Kapiteln 21–90 als Gegenpol des ‚amor diuitiarum‘ ausführlich behandelt wurde,403 geht Radulfus Ardens nicht mehr darauf ein. Er begnügt sich damit, auf diesen Textabschnitt zu verweisen und betont, dass sie nicht nur aus dem ‚contemptus diuitiarum‘, sondern in gleicher Weise auch aus der Demut hervorgeht.404 Bereits mehrfach hat er ja schon darauf hingewiesen, dass dieselbe Tugend aus unterschiedlichen Quellen stammen kann. 2.3.2.6 ‚uoluntaria uilitas‘ Bei der ‚uoluntaria uilitas‘ ist es ähnlich. Auch sie wurde detailliert in Zusammenhang mit dem ‚contemptus honorum‘ dargestellt (c. 87–90).405 Radulfus Ardens ordnet sie hier der Demut zu und leitet im Umkehrschluss daraus ab, dass ihr Gegensatz, die Liebe zur weltlichen Ehre ein Zeichen des Stolzes ist. Ebenso verweist er auf ihre Komplementärtugend (den ‚amor honoris spiritualis‘) und die wichtige Unterscheidung, dass der ‚contemptus‘ gegenüber weltlichen Ehren und schlechten Menschen gut, die Geringschätzung guter Menschen und Gott gegenüber aber sehr schlecht ist.406 Schließlich geht er noch darauf ein, wie man die Tugend der freiwilligen Niedrigkeit erkennen kann und legt in diesem Zusammenhang einen einfachen und bescheidenen Lebensstil sowie den Umgang mit einfachen und unkomplizierten Menschen nahe.407 2.3.2.7 ‚uoluntaria postremitas‘ Inwieweit die freiwillige Einnahme der letzten Stelle, die Radulfus Ardens auch ‚uoluntaria extremitas‘ nennt, als Tugend gelten kann, wird nicht gleich auf den ersten Blick klar. Bei genauerem Hinsehen jedoch kommt hinter dem etwas umständlichen Begriff eine Haltung zum Vorschein, die sich selbst aktiv zurücknimmt und sich nicht in die erste Reihe drängt. Zurecht bemerkt der Autor, dass ein übersteigertes Geltungsbedürfnis (‚uoluntaria prioritas‘) aus dem Stolz erwächst und ein weit ver-
403 Vgl. dazu Punkt 2.1.2. 404 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154rb): „Voluntaria quoque paupertas oritur ex humilitate, quoniam qui nature humilis est, modico contentus est et ita uoluntarie pauper est. Sed de uoluntaria paupertate nunc reticemus, quoniam de ea sufficienter explanauimus. 405 Vgl. dazu Punkt 2.1.3. 406 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154rb): „Voluntaria uero uilitas nascitur ex humilitate. Quoniam sicut superbus est amator mundani honoris, sic qui uere est humilis, est amator mundane uilitatis. Et ‘mundane‘ ideo dico, quia est et uilitas bona, est et uilitas mala. Bona quippe est uilitas uilescere mundanis et malis hominibus propter Deum. Mala uero uilitas est uilescere Deo sanctisque hominibus.“ 407 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154va): „Sunt autem uoluntarie uilitatis partes iste: uilis uictus, uilis uestitus, uilis lectus, uilis domus, uilis supellex, uilis operatio, uilis familia, uilia iumenta.“
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breitetes Laster darstellt.408 Diese Tugend wirkt sich zum einen äußerlich aus und sorgt dafür, dass sich ihr Träger an die letzte Stelle stellt, dass er den Mitmenschen den Vortritt lässt und zuletzt an der Reihe ist, dass er als Letzter isst, trinkt, spricht und sitzt und keinen Wert auf einen hohen Rang legt.409 Auf der anderen Seite schützt sie aber auch innerlich davor, sich selbst für etwas Besseres zu halten und sich den Anderen gewissermaßen ‚geistig‘ vorzuziehen.410 Obwohl er auch hier keine Komplementärtugend benennt, lässt sich ganz am Schluss der Darstellung der ‚uoluntaria postremitas‘ ein Hinweis ausmachen, der in diese Richtung geht. Dort betont er nämlich, dass man sich zwar in den eben genannten Bereichen, die letztlich alle zum Komplex der weltlichen Güter gehören, an die letzte Stelle stellen muss; beim Arbeiten, Gehorchen, Dienen und bei der Selbstanklage muss man jedoch danach streben, die erste Stellung einzunehmen. Daran schließt sich die Aussage an, dass aufgrund dieser Ambivalenz von ‚postremitas‘ und ‚prioritas‘ bei manchen Menschen die letzte Stellung im Bereich der weltlichen Ehre (‚extremitas honoris‘) eine Vorrangstellung im Bereich der Niedrigkeit (‚prioritas uilitatis‘) bewirkt, während bei anderen der Vorrang im Bereich Ehre gerade die letzte Stellung im Bereich der Niedrigkeit (‚extremitas uilitatis‘) nach sich zieht.411 Ähnliche paradoxe Formulierungen sind bspw. aus dem Traktat über die freiwillige Armut bekannt. Dort verändert der Autor mehrfach die Bezugspunkte bzw. den Bedeutungskontext, sodass die an sich gegensätzlichen Begriffe Reichtum und Armut dasselbe bedeuten können. Hier wie dort enthalten die hier verwendeten, paradoxen Begriffe im Kern ein Komplementärtugendpaar, das sich etwa so darstellen ließe:
‚extremitas uilitatis‘
‚extremitas honoris‘
↔ ‚prioritas uilitatis‘
‚prioritas honoris‘
408 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154va): „Extremitas quoque uoluntaria nascitur ex humilitate, quoniam sicut arrogantis est appetere prioritatem, sic uere humilis est diligere postremitatem.“ 409 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154vaf.): „Sunt autem uoluntarie extremitatis partes iste: extremitas loci, extremitas temporis, extremitas ordinis, extremitas loquendi, extremitas sedendi, extremitas comedendi, extremitas bibendi. Extremitas loci est, ut sit quis inferior; extremitas temporis, ut sit posterior; extremitas ordinis, ut sit subiectior; extremitas loquendi, ut extremus et non nisi iussus loquatur; extremitas sedendi, ut extremus loco et tempore sedeat; extremitas comedendi et bibendi, ut extremus comedat et bibat.“ 410 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154va): „Licet autem hoc iuxta litteram fieri conueniat, tamen hoc in exemplo spiritualiter ammonemur, ne nos in mente nostra alii per estimationem preponamus, sed potius cuilibet nos postponamus, quoniam Deus qui nos inuitat ad cenam sempiternam, et sese preponentes postponit et sese postponentes preponit.“ 411 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154vb): „Qui tamen prior sit ad operandum, prior ad obediendum, prior ad ministrandum, prior ad se accusandum. Quoniam in quibusdam prioritas est uilitatis et extremitas honoris, sicut econtra in quibusdam est prioritas honoris et extremitas uilitatis.“
2.3 ‚Se contempnere‘
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Diese Formulierungen sind keineswegs ein überflüssiges Wortspiel, sondern bringen zum Ausdruck, dass es eben nicht darum geht, sich in jeder Hinsicht und wahllos zurückzunehmen, sondern genau zu unterscheiden. Anders formuliert: Nur wer seine Kräfte nicht beim Erwerb von unwichtigen Dingen verbraucht, ist in der Lage, sich mit den wirklich bedeutsamen zu beschäftigen und dort Erfolge zu erzielen. Es geht Radulfus Ardens also nicht darum, den Menschen kleinzumachen und ihn dazu aufzufordern, seine Bedürfnisse zu unterdrücken. Vielmehr wird er dazu motiviert, seine Kräfte einzuteilen und sich mit den Dingen zu beschäftigen, die wirklich zu seinem Glück beitragen. 2.3.2.8 ‚uoluntaria pax‘ Schließlich entsteht auch die Tugend des freiwilligen Friedens aus der Demut. Radulfus Ardens erwähnt in Buch 12 lediglich, dass es für demütige Menschen typisch ist, friedlich miteinander zu leben, während Stolze stets miteinander wetteifern und kämpfen. Ansonsten sagt er nichts dazu, sondern verweist darauf, dass er sich bereits in Buch 10 detailliert mit der ‚pax‘ beschäftigt hat.412 Der Traktat über den Frieden umfasst dort die Kapitel 100–104 und steht damit im Kontext der Maßhaltung (‚temperantia‘). Da man aus den kargen Informationen in Buch 12 wenig entnehmen kann und sich der Begriff ‚pax‘ nicht sofort mit einer bestimmten Verhaltensweise identifizieren lässt bzw. großen Raum für Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, stellen sich im Hinblick auf den Passus in Buch 10 zwei fundamentale Fragen. Erstens: Ist das Wort ‚pax‘ überhaupt als Bezeichnung für eine Tugend geeignet? Und zweitens: Wenn ja, welche Verhaltensweise ist damit gemeint? Um diese Fragen zu beantworten, wird in einem ersten Schritt erläutert, wie die ‚pax‘ aus der ‚temperantia‘ hervorgeht. In einem zweiten wird rekonstruiert, wie der Friede definiert wird und wie ihn der Autor unterteilt. In einem dritten Schritt wird schließlich untersucht, ob sich in irgendeiner Weise komplementäre Strukturen abzeichnen und wie sich die ‚pax‘ in die tugendethische Konzeption des Werkes insgesamt einfügen lässt. (1) Wie aus Kapitel 97 hervorgeht, gehört der Friede zu den ‚species‘ der Maßhaltung. Die ‚temperantia‘ lässt sich zunächst einmal in zwei Bestandteile (‚partes‘) untergliedern: Die Maßhaltung im Bereich des Inneren Menschen (‚temperantia interioris hominis‘), die auch als Selbstbeherrschung (‚modestia‘) bezeichnet werden kann und die Maßhaltung im Bereich des Äußeren Menschen (‚temperantia exterioris hominis‘), die als Enthaltsamkeit (‚continentia‘) zu verstehen ist. Die ‚temperantia interior‘ stellt dabei Harmonie im Inneren Menschen her. Das bedeutet nichts anderes, als dass sie die unterschiedlichen Seelenkräfte in rechter Weise aufeinander bezieht und ins
412 Spec. uniu. 12, 136 (P, fol. 154vb): „Pax uero uoluntaria nascitur ex humilitate. Nam sicut superborum est contendere ad inuicem, sic humilium est adinuicem pacem habere. Ceterum de pace nunc silemus, quoniam de ea superius loquuti sumus.“
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Gleichgewicht bringt. Damit bildet sie die eigentliche Grundlage für die ‚temperantia exterior‘, da ein einfacher und enthaltsamer Lebensstil lediglich ein äußeres Zeichen des inneren Gleichgewichts ist.413 Diese Aussagen erinnern nicht ganz zufällig an die Beschreibung von Sanftmut (‚mansuetuodo‘) und Strenge (‚rigor‘) am Ende von Buch 11. Die Frage, wie ‚pax‘ und ‚mansuetudo‘ zusammenhängen, wird zunächst aber noch aufgeschoben und später genauer behandelt. Aus der Vorrangstellung der ‚temperantia interior‘ erklärt sich jedenfalls, warum sich Radulfus Ardens im weiteren Verlauf des Traktats hauptsächlich mit ihr beschäftigt und sie in vier Arten unterteilt, nämlich Ordnung (‚ordinatio‘), Richtigkeit (‚rectitudo‘), Gemütsruhe oder Frieden (‚tranquillitas siue pax‘) und Umsicht (‚sobrietas‘).414 Die ‚ordinatio‘ meint dabei die naturgemäße Ordnung des Inneren Menschen als Ganzes; die ‚rectitudo‘ hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Vernunft ihre Aufgaben erfüllt, während die ‚pax‘ dies im Bereich der Affekte sicherstellt; die Umsicht wiederum sorgt dafür, dass der Mensch nicht nachlässig wird. Dass die ‚pax‘ hier mit der Gemütsruhe gleichgesetzt wird, zeigt bereits deutlich, dass der Begriff ‚Frieden‘ einen Zustand der inneren (und damit auch äußeren) Ausgeglichenheit bezeichnet, der durch keine ‚perturbationes‘ gestört wird. Wodurch diese Harmonie gestört werden kann, ergibt sich aus den vier genannten ‚species‘ im Umkehrschluss: Unordnung (‚inordinatio‘), Irrtum (‚error‘), Aufruhr (‚rebellio‘) und Nachlässigkeit (‚negligentia‘) bringen die innere Ordnung durcheinander.415 Die ‚rebellio‘ ist also der Gegenbegriff zur ‚pax‘ und meint einen Zustand, der durch inneres Chaos und Unordnung bestimmt ist, in der die einzelnen Seelenkräfte einander widerstreiten und ihre jeweiligen Aufgaben nicht erfüllen. (2) In Kapitel 100 definiert Radulfus Ardens dann die ‚pax‘ genauer und scheint dabei auf den ersten Blick einen Schritt hinter die eben dargestellten Bestimmungen zurück zu gehen; denn als ‚Frieden‘ bezeichnet er einen Ruhezustand (‚tranquillus status‘), in dem alle miteinander in Eintracht sind oder in dem alle von guten Bedingungen zu noch besseren voranschreiten.416 Diese Definition lässt sich 413 Spec. uniu. 10, 97 (CCM 241A, p. 693): „Diuiditur autem temperantia in temperantiam hominis interioris et in temperantiam exterioris. Porro temperantiam interioris hominis possumus uocare modestiam eo scilicet quod ea moderante tam interior quam exterior homo temperans est. Temperantiam uero exterioris hominis possumus dicere continentiam eo uidelicet quod secundum exteriora que uidemus, hominis continentiam uel incontinentiam iudicare ualemus.“ 414 Spec. uniu. 10, 97 (CCM 241A, p. 693): „Modestia uero interior diuiditur in quattuor species, uidelicet in ordinationem, in rectitudinem, in tranquilitatem siue pacem, in sobrietatem.“ 415 Spec. uniu. 10, 97 (CCM 241A, p. 693 f.): „Quattuor quippe sunt, que perturbant hominis temperantiam interioris, uidelicet inordinatio, error, rebellio, negligentia. Inordinatio enim totum perturbat hominem interiorem. Error uero perturbat rationem, rebellio affectuositatem, negligentia uigilantiam rationis et feruorem affectuositatis. Propterea opponenda est ordinatio contra inordinationem, rectitudo contra errorem, pax contra rebellionem, sobrietas contra negligentiam.“ 416 Spec. uniu. 10, 100 (CCM 241A, p. 696): „Pax uero est tranquillus omnium status cunctis ad inuicem concordantibus uel cedentibus minus bonis melioribus.“
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keineswegs nur auf einen inneren Ruhezustand beziehen, sondern kann auch einen politischen bzw. gesellschaftlichen Frieden meinen. Jedoch steht sie deshalb nicht im Widerspruch zum vorher Gesagten, da sie den Frieden nur allgemein definiert und hauptsächlich dazu dient, um diese Tugend in den Kontext der christlichen Heilsgeschichte einzubetten: Denn der Zustand, dass alle in vollkommener Eintracht miteinander leben, lässt sich innerweltlich nicht verwirklichen und bleibt dem Eschaton vorbehalten. Eine Bewegung in die richtige Richtung – also vom weniger Guten zum Besseren – ist dagegen durchaus möglich. Dadurch erklären sich auch die beiden letzten Beifügungen der Definition.417 Radulfus Ardens bezeichnet die ‚pax‘ zudem als höchste aller Tugenden, die sogar zu Erlangung des Heils ausreicht.418 Diese Wertung ergibt sich dadurch, dass sich hinter seinem Friedensbegriff die Vorstellung eines möglichst weit perfektionierten, ganzheitlichen Harmoniezustandes verbirgt, was sie wiederum in die Nähe der bereits erwähnten ‚mansuetudo‘ stellt. Ausgehend von dieser allgemeinen Definition spezifiziert er, auf welche Aspekte des menschlichen Lebens sich der Friede auswirken kann und unterteilt ihn in drei Arten: den Frieden der Welt, den Frieden des Herzens und den Frieden des Himmels.419 – Die ‚pax mundi‘ beschreibt einen Zustand des Wohlergehens in der diesseitigen Welt (‚prosperitas in presenti‘). Da sie schlechte Menschen ebenso besitzen können wie gute, ist sie indifferent bzw. davon abhängig, ob sie ihr Besitzer gut oder schlecht gebraucht. Denn ein Leben ohne Unruhe (‚uita sine perturbatione‘) kann bei einem lasterhaften Menschen zu Lähmung (‚resolutio‘), Faulheit (‚ignauia‘), Geringschätzung heilsrelevanter Dinge (‚contemptus‘), übertriebenem Prunk (‚luxus‘) und Ausschweifung (‚luxuria‘) führen.420 Daran wird ersichtlich, dass der Friede der Welt nochmals unterteilt werden muss, nämlich in den künstlichen, den erzwungenen, den verdorbenen und den guten weltlichen Frieden.421 Die ‚pax ficta‘ meint das Vorspielen oder Heucheln von Frieden. Sie findet sich z. B. bei Schmeichlern und Verrätern und ist daher in jedem Fall ein Laster. Die ‚pax coacta‘ ist dadurch gekennzeichnet, dass zwar tatsächlich Frieden herrscht, dieser allerdings mit Gewalt erzwungen wurde und daher unfreiwillig ist.
417 Spec. uniu. 10, 100 (CCM 241A, p. 696): „Porro quod dictum est ‘omnibus ad inuicem concordantibus’, non potest perfecte impleri hac in uita, sed in futura. Quod uero subiunctum est ‘uel cedentibus minus bonis melioribus’ ad presentem pertinet pacem.“ 418 Spec. uniu. 10, 100 (CCM 241A, p. 696): „Porro pax cum sit omnium consummatio uirtutum, merito in cathologo beatitudinum septima et ultima ponitur.“ 419 Spec. uniu. 10, 100 (CCM 241A, p. 696): „Ceterum pax alia est mundi, alia pectoris, alia celi. Prima est tam bonorum quam malorum, secunda tantum bonorum, tertia tantum glorificatorum. Prima est indifferens, secunda est sancta, tertia gloriosa.“ 420 Spec. uniu. 10, 100 (CCM 241A, p. 696 f.): „Pax autem mundi est prosperitas in presenti sine perturbatione. Et hec quidem a Deo est et bene utentibus utilis est. Male uero utentibus resolutionis, iganuie, contemptus, luxus et luxurie occasio est.“ 421 Spec. uniu. 10, 101 (CCM 241A, p. 697): „Pax autem mundi quadruplex est. Nam alia est ficta, alia coacta, alia peruersa, alia bona.“
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Sie kann gut sein, wenn bspw. ein gerechter Herrscher seine bösen Untertanen unter Kontrolle hält oder schlecht, wenn ein Tyrann sein Volk grausam unterdrückt. Die ‚pax peruersa‘ findet sich bei bösen Menschen, die einträchtig in der Sünde vereint sind und Böses tun. Die ‚pax bona‘ herrscht demgegenüber unter guten und gerechten Menschen, die tugendhaft leben.422 – Die ‚pax pectoris‘ bezeichnet nun im eigentlichen Sinne die oben beschriebene innere Harmonie, in der die Affekte und die Sinne von der Vernunft auf die richtigen Gegenstände ausgerichtet und so naturgemäß geordnet sind.423 Nochmals wiederholt Radulfus Ardens, dass sie die ‚uirtus uirtutum‘ ist. Sie wirkt sich auf alle Bereiche und Interaktionen des Lebens positiv aus: So ermöglicht sie ihrem Träger, Gott zu gehorchen, auf die guten Einflüsterungen (‚suggestiones‘) der Engel zu hören, die eigene Seele zu retten, den Nächsten zu lieben und sogar dem Feind Frieden anzubieten. Eine solche Haltung kann sich der Mensch jedoch nicht von selbst, sondern nur mit der Hilfe Christi aneignen.424 Diesem Frieden stehen im Diesseits jedoch vier Faktoren im Weg, die den Menschen bedrängen und dadurch verhindern, dass er mit sich und seiner Umgebung im Einklang lebt. Hier ist erstens das Fleisch zu nennen. Wie bereits mehrfach erwähnt sind seine Bedürfnisse zwar nicht per se etwas Schlechtes, jedoch nehmen sie oft zu viel Raum ein, lenken von den heilsrelevanten Dingen ab und sorgen so für innere Unruhe. Zweitens verhindert der Teufel durch seine Versuchungen und bösen Einflüsterungen innere Stabilität. Drittens wird der Mensch durch die Beschäftigung mit weltlichen Aufgaben (‚secularia negotia‘) davon abgehalten, zur Ruhe zu kommen. Die negativen Auswirkungen der ‚uita actiua‘ wurden bereits umfassend in den beiden Traktaten über den ‚contemptus honorum‘ und den ‚contemptus potestatum‘ beschrieben. Schließlich verhindert die Feindschaft zu anderen Menschen den Frieden, wenn man sich dazu hinreißen
422 Spec. uniu. 10, 101 (CCM 241A, p. 697 f.): „Porro ficta pax adulatorum et proditorum est. […] De pace uero coacta legitur quod principes timentes seuitiam Holofernis eum pacifice recipiebant […]. Hec autem pax duplex est: Nam quandoque bonus princeps cogit peruersos pacem tenere et hec bona est; quandoque malus princeps cogit bonos, ut malitie non audeant obuiare et hec mala est. […] Pax uero peruersa est, quando peruersi prosperantur in unanimi persequutione bonorum. […] Quorum unanimitatem dissoluere bonis est perutile. […] Pax uero mundi bona est, quando iusti prosperantur in unanimitate ad inuicem et uirtute.“ 423 Spec. uniu. 10, 102 (CCM 241A, p. 698): „Pax uero pectoris est, quando interiores affectus et sensualitas obediunt rationi. Hec uirtus maxima est, immo uirtus uirtutum.“ 424 Spec. uniu. 10, 102 (CCM 241A, p. 699 f.): „Hec est uirtus que sola excellit in collegio sanctorum faciens pacificos, amabiles, sociales et tractabiles. Adeo, ut propter eam magis quam propter ceteras uirtutes qui pacificus est, omnibus aliis preponatur et preficiatur. Debemus autem habere pacem cum Deo, cum angelo, cum nobis, cum proximo, etiam cum inimico: Cum Deo ei obediendo, cum angelo eius bonis suggestionibus acquiescendo, nobiscum anime nostre prouidendo, cum proximo eum sicut nos diligendo, cum inimico ei pacem offerendo et nos ei humiliando. […] Hanc autem pacem habere non ualemus, nisi per Christum.“
2.3 ‚Se contempnere‘
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lässt, Böses mit Bösem zu vergelten. Dadurch verschärft sich nämlich nicht nur der äußere Konflikt immer weiter, sondern die damit verbundenen negativen Gefühle zerstören auch den inneren Frieden in der Seele der Streitenden.425 Die Menschen, denen es mit der Hilfe der göttlichen Gnade gelungen ist, sich diesen Gefahren zu entziehen, nennt Radulfus Ardens friedfertig (‚pacifici‘).426 – Die ‚pax celi‘ meint einen vollkommenen inneren und äußeren Frieden und damit einen Idealzustand, der nur im Jenseits möglich ist. Ebenso wie Gott selbst kann er mit dem menschlichen Geist nicht erfasst und daher mit Worten nicht beschrieben werden. Allerdings führt die Hoffnung auf eine ‚pax eterna‘, in der die Seelenkräfte vollkommen und dauerhaft miteinander im Einklang sind, die Defizite geistigen Friedens im Diesseits (‚imperfecta pax mentis‘) eindringlich vor Augen.427 Dieser bleibt durch widrige äußere Lebensbedingungen, die ständigen Versuchungen des Teufels und die körperliche Schwäche des Menschen immer nur bruchstückhaft und zeitlich begrenzt und ist überhaupt nur durch die Tugenden zu erreichen, die gewissermaßen zwar eine Linderung des Leidens bewirken, es aber nicht gänzlich heilen können.428 ficta ordinatio
bona
coacta temperantia interioris hominis (= modestia) temperantia
rectitudo
pax mundi
pax
pax pectoris
sobrietas
pax celi
peruersa
mala
bona
temperantia exterioris hominis (= continetia)
Abb. 65: Die Tugend des Friedens im Kontext der Maßhaltung.
425 Spec. uniu. 10, 103 (CCM 241A, p. 701): „A quattuor quoque debemus pacem habere: a carne, a diabolo, a mundo, ab aduersario. […] A diabolo, ut eius temptationibus uiriliter resistamus. A mundo, ne secularibus negotiis nimis dediti simus. […] Ab aduersario pacem habebis, si non uincaris ab eo reddere malum pro malo, sed potius bonum.“ 426 Spec. uniu. 10, 103 (CCM 241A, p. 702): „Si ergo a predictis pacem habes, pacificus es.“ 427 Spec. uniu. 10, 104 (CCM 241A, p. 702): „Pax uero celi iuxta Apostolum exuperat omnem sensum. Quis enim attingat pacem Patris et Filii et Spiritus sancti pacem sanctorum ad inuicem et pacem Dei ad sanctos et sanctorum ad Deum. […] De hac pace ait Dominus: Pacem relinquo uobis, pacem meam do uobis. Quasi diceret: Pacem inperfectam, pacem scilicet mentis tamquam arram eterne pacis, hic relinquo uobis. Postea pacem meam scilicet eternam ‘do uobis’.“ 428 Spec. uniu. 10, 104 (CCM 241A, p. 702 f.): „Pax enim mentis hic sepe turbatur. Fremit enim mundus, premit corpus, insidiatur diabolus. […] Quia contra hoc diluuium Dominus uirtutem dabit in presenti. Et in eternum benedicet populo suo in pace.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
(3) Die bisherigen Textuntersuchungen haben zutage gefördert, dass die Tugend der ‚pax‘ im Kern eine innere Ausgeglichenheit und Harmonie der Seelenkräfte bezeichnet, die es ihrem Träger ermöglicht, mit den Mitmenschen friedvoll umzugehen und dadurch auch äußerlich Frieden zu stiften. Damit können die beiden anfangs formulierten Fragen als beantwortet gelten: Erstens konnte nämlich gezeigt werden, dass der Begriff ‚pax‘ definitiv eine Tugend beschreibt und zweitens wurde herausgearbeitet, welche Aufgaben diese Tugend übernimmt und wie sie sich auf die Lebensführung des Menschen auswirkt. Jedoch bleibt noch eine dritte wichtige Frage offen, die bereits mehrfach angeklungen ist: Wie lässt sich diese Tugend in das Gesamtgefüge des Speculum universale eingliedern? Hier ist zunächst einmal festzuhalten, dass sich in den besprochenen Kapiteln keinerlei Hinweise auf eine Komplementärtugend entdecken lassen. Immerhin wäre im Hinblick auf den weltlichen und begrenzten Frieden ein Korrektiv vorstellbar, dessen Aufgabe darin besteht, willkürliche und bösartige Bedrohungen dieses brüchigen Ruhezustands von Seiten lasterhafter Menschen nicht hinzunehmen und sich dagegen zu wehren. Eine solche Tugend zu benennen ist schwierig – in Anlehnung an die Wortwahl des Autors selbst könnte man von einer ‚rebellio bona‘ sprechen, die dazu dient, die ‚pax mundi‘ zu schützen. In diesen Kontext wäre dann auch Vorstellung eines gerechten Krieges anzusiedeln. Radulfus Ardens selbst äußert sich nicht in diese Richtung, sondern hebt hervor, dass sich Konflikte nur dadurch lösen lassen, dass beide Seiten Kompromisse schließen und von ihren Maximalforderungen abrücken. Deutlich betont er, wie sehr Gott den Krieg verabscheut und ablehnt.429 Zudem findet sich kaum ein Anhaltspunkt für eine lasterhafte Form des Friedens; hier könnte man höchstens auf die Aussage zurückgreifen, dass man den weltlichen Frieden gut und schlecht nutzen kann und eben diese schlechte Nutzung, die zu Desinteresse und Ausschweifung führt, das gesuchte Laster darstellt. Dieses in der Theorie denkbare Komplementärtugendpaar könnte dann so aussehen:
‚pace mundi male uel uane uti‘
‚pace mundi bene uti‘
↔
‚rebellio bona‘ / ‚bellum iustum‘
‚rebellio mala‘
Während ein solches Gedankenspiel bei der ‚pax mundi‘ zumindest noch prinzipiell möglich ist, schließt die Bestimmung der ‚pax eterna‘ solche Spekulationen aus. Sie bezeichnet nämlich einen vollkommenen, dauerhaften und ganzheitlichen Zustand der inneren Ausgeglichenheit und Harmonie, bei dem es tatsächlich kein Zuviel geben kann. Der Wesenskern der ‚pax‘ ähnelt damit (wie bereits gesagt) der Sanftmut, die ihrerseits die vollkommene Balance der beiden affektiven Seelenkräfte beschreibt. Damit drängen sich jedoch gleich zwei weitere Frage auf: Warum hat die
429 Spec. uniu. 10, 103 (CCM 241A, p. 702): „Ecce quam abhominabile est Deo bellum, maxime cum domesticis fidei.“
2.3 ‚Se contempnere‘
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Sanftmut die Strenge als Komplementärtugend, obwohl es bei genauerer Betrachtung auch dort kein Übermaß geben kann? Oder anders gefragt: Wozu braucht es die ‚pax‘ überhaupt, wenn doch eigentlich schon die Sanftmut den Zustand beschreibt, in dem die in der Schöpfungsordnung angelegte innere Ordnung wiederhergestellt ist? Denn eine Balance zwischen Liebe und Hass ist wegen der komplementären Bezogenheit von ‚affectiones‘ und ‚ratio‘ nur unter Mitwirkung der vernünftigen Seelenkraft möglich, sodass die Gesamtheit der diskretiven Tugenden systematisch gesehen im Komplementärtugendpaar Sanftmut und Strenge schon mitenthalten ist.430 Um hier etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen, erscheint es sinnvoll, die Unterschiede zwischen ‚pax‘ und ‚mansuetudo‘ möglichst klar herauszuarbeiten. Hierbei lohnt sich zunächst ein kurzer Blick auf die Definitionen der beiden Tugenden: ‚pax‘
‚mansuetudo‘
„Pax uero pectoris est, quando interiores affectus et sensualitas obediunt rationi. Hec uirtus maxima est, immo uirtus uirtutum.“
„Ex predictis affectionibus si fuerint bene culte, moderate et composite, sicut premonstrauimus, nascitur quedam uirtus que mansuetudo nuncupatur.“
Spec. uniu. , (CCM A, p. )
Spec. uniu. , (P, fol. ra)
Sofort fällt ins Auge, dass zwar in beiden Fällen ein Harmoniezustand der Seelenkräfte beschrieben wird, dabei allerdings eine völlig andere Perspektive eingenommen wird. Die ‚mansuetudo‘ beschreibt nämlich streng genommen nur die Balance zwischen den affektiven und oditiven Tugenden, während die Definition des Friedens das Verhältnis zwischen der Vernunft einerseits und den Gefühlen und Sinnen andererseits ins Blickfeld rückt. Beide – so legt es die Wortwahl nahe – müssen der Vernunft gehorchen und sich ihr unterordnen. So könnte man auf den ersten Blick schließen: Der Begriff ‚Sanftmut‘ bildet nur die Balance zwischen Liebe und Hass ab, während der Frieden auf einer höheren Ebene anzusiedeln ist und den Zustand beschreibt, in dem alle anderen Seelenkräfte ausschließlich der Vernunft gehorchen. Eine solche Interpretation wäre jedoch ein Missverständnis, da in Buch 11 deutlich wurde, dass nicht die Vernunft die Affekte ausbalanciert, sondern diese sich vielmehr selbst ins Gleichweicht bringen. Zudem stehen sie mit der ‚ratio‘ auf einer Ebene, da sich der Mensch durch die reine Erkenntnis einer Sache noch nicht dafür oder dagegen motivieren lässt. Von daher muss systematisch präzisiert werden, was das Wort ‚obedire‘ hier eigentlich meint. Vor dem Hintergrund aller bisherigen Untersuchungen kann damit nur gemeint sein, dass die Vernunft in Gestalt der ‚discretio‘ die Gegenstände richtig erfasst bzw. in die richtigen Kategorien einteilt und dadurch den Affekten einen Raum öffnet, um sich auf rechte Weise zu betätigen. Daraus ergibt sich wiederum, 430 Dies wurde ausführlich am Ende des zweiten Teils unter Punkt 2.8 herausgearbeitet.
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
dass es keine Sanftmut ohne Frieden aber auch keinen Frieden ohne Sanftmut gibt. Denn auf der einen Seite kann die Vernunft Liebe und Hass nicht in die richtigen Bahnen lenken, solange sie nicht in rechter Weise aufeinander bezogen sind und auf der anderen Seite gelingt dieser Ausgleichsprozess auch nicht völlig unabhängig von der Vernunft. Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass die Tugend ‚pax‘ und das Komplementärtugendpaar ‚mansuetudo‘ – ‚rigor‘ systematisch betrachtet genau dasselbe beschreiben: den Zustand, in dem alle Seelenkräfte ihre spezifischen Aufgaben in rechter Weise erfüllen. Dieser Schluss legt sich auch durch die Wortwahl bei der Etymologie der Sanftmut im eben bereits zitierten 167. Kapitel von Buch 11 nahe: Dort leitet der Autor das Wort ‚mansuetodo‘ davon ab, dass sich auch ein ursprünglich wildes Tier durch Zähmung daran gewöhnt, der Hand seines Herren zu gehorchen.431 Dies ist eine unmissverständliche Bezugnahme auf die ordnende Tätigkeit der Vernunft. Der entscheidende Unterschied zwischen ‚pax‘ und ‚mansuetudo‘ liegt daher nicht ist der Sache selbst, sondern in der Perspektive darauf. So stellt der Frieden gewissermaßen den diskretiven Kondensationspunkt der seelischen Harmonie dar und das Komplementärtugendpaar Sanftmut – Strenge den affektiven. Daher erklärt sich auch, warum die ‚mansuetudo‘ eine Komplementärtugend hat, die ‚pax‘ aber nicht. Denn die diskretiven Tugenden erwachsen nur aus einer Seelenkraft, während sich die affektiven Komplementärtugendpaare aus zwei unterschiedlichen Seelenkräften speisen. Diese bis zu einem gewissen Maß spekulativen Überlegungen ließen sich in Anlehnung an die eben beschriebenen komplementären Bezüge zwischen den Seelenkräften so abbilden:
discretio
pax
collateralis ↕ (2)
amor
collateralis ↔ (1)
collateralis ↕ (2)
odium
collateralis ↔ (1) mansuetudo
rigor
Abb. 66: Überlegungen zur Stellung des Friedens innerhalb der Tugendlehre.
Damit dient die Unterscheidung von ‚pax‘ und ‚mansuetudo‘ in erster Linie dazu, um den Prozess, der zur vollkommenen Harmonie führt, verständlich und didaktisch zugänglich zu machen. Beide Begriffe sind demnach hoch spezialisierte Fachtermini, die sich ohne tiefergehende Kenntnis der tugendethischen Konzeption des Radulfus Ardens überhaupt nicht verstehen lassen und zudem mit dem allgemein geläufigen Ver-
431 Spec. uniu. 11, 167 (P, fol. 109raf.): „Dicitur autem metaphorice mansuetudo, quoniam sicut animal bene domitum et eruditum fit mansuetum, id est obedire manui suetum, ita si animus prius agrestis et ferus fuerit bene domitus et compositus fit mansuetus et bene obedire paratus.“
2.3 ‚Se contempnere‘
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ständnis von Frieden und Sanftmut kaum noch etwas zu tun haben. Trotz aller soeben unternommenen Klärungsversuche bleibt aber eine gravierende Verständnislücke bestehen: Denn während sich die ‚pax‘ als diskretive Tugend trotz aller Schwierigkeiten in die Tugendlehre des Radulfus Ardens integrieren lässt, fällt dies sehr viel schwerer, wenn sie als kontemptive Tugend bestimmt wird, zumal sich im Text keinerlei Hinweise darauf finden. Der Grund für diese Schwierigkeit ist letztlich, dass der Autor nirgends systematisch zufriedenstellend erklärt, in welchem Verhältnis die Geringschätzung zu den beiden Grund-Leidenschaften und zur Vernunft steht. Wie sich diese Problematik auf die Kohärenz in der Darstellung der kontemptiven Tugenden auswirkt, wird übrigens im Zwischenfazit am Ende dieses Kapitels noch genauer beschrieben.
2.3.3 Die Kapitel über die ‚superbia‘ und ihre Relevanz für die Komplementarität im Traktat über die Demut Wie weiter oben bereits erwähnt, beschließt Radulfus Ardens seine Überlegungen zur dritten ‚distinctio‘ der Geringschätzung mit einer detaillierten Beschreibung des Stolzes, die sich über sieben z. T. sehr lange Kapitel (c. 137–143) erstreckt. Zu Beginn führt er sechs Leitfragen an, die er im Untertraktat über den Stolz beantwortet.432 . . . . . .
‚quid superbia sit?‘ ‚quantum uitium superbia sit?‘ ‚que sint eius species?‘ ‚quibus signis exterius se manifestet?‘ ‚que sint filie superbie?‘ ‚quomodo ei resistatur?‘
(c. ) (c. ) (c. .) (c. ) (c. ) (c. )
Dass sich der Autor so ausführlich mit der ‚superbia‘ beschäftigt, liegt daran, dass er dieses Laster als Quelle nahezu aller anderen ‚uitia‘ und als Keimzelle für Streit, Krieg und menschliche Not ansieht.433 Zudem wird deutlich, dass er sich offensichtlich auch aus zeitgeschichtlich bedingten Gründen damit befasst. So übt er an meh432 Spec. uniu. 12, 137 (P, fol. 155va): „Est autem superbia contraria humilitati. De qua considerandum est quid ipsa sit, quantum uitium sit, que sint eius species, quibus signis exterius se manifestet, que sint eius filie, quomodo ei resistatur.“ 433 Dies geht besonders deutlich aus Spec. uniu. 12, 142 (P, fol. 158raf.) hervor: „Oriuntur autem ex superbia uitia ferme uniuersa, ut peccatum suum nolle confiteri uel cognoscere; peccatum suum non sibi, sed Deo uel nature uel alicui rei ascribere, nolle penitere, nolle dimittere; bonum quod non habet, sibi attribuere. Si qua parua bona habet, illa magnificare, peccata uero nullificare, et econtra bona aliorum nullificare, peccata uero grandificare, maiores despicere, super pares se superponere, maioribus inuidere et eos peruerse emulando imitari satagere, amare dominationem, honorem, potentiam, gloriam et in omnibus prioritatem. Item ex superbia nascitur heresis, dissensio, contentio, rixa, discordia, guerra, homicidia, uastationes terrarum, strages hominum et huiusmodi.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
reren Stellen scharfe Kritik an den innerkirchlichen Zuständen seiner Zeit und führt die Verfallserscheinungen im Bereich der Seelsorge auf den Stolz der Amtsträger zurück. Daran wird erneut deutlich, dass er für die Missstände in der Kirche weniger die mangelnde Hingabe der Gläubigen oder die Verbreitung von Häresien verantwortlich macht, sondern die mangelnde Tugend des Leitungspersonals. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass in erster Linie pastoral-paränetische Fragen im Vordergrund stehen, etwa nach den negativen Auswirkungen des Stolzes (c. 138), nach den Zeichen, an denen er sich erkennen lässt (c. 141) und wie man ihm widersteht (c. 143). Da es jedoch nicht Ziel der vorliegenden Arbeit ist, diese zeitgeschichtlichen Gegebenheiten genauer zu untersuchen, werden diese Gedankengänge nicht genauer nachgezeichnet. Da sich zudem kaum ergänzende Hinweise zum komplementären Verhältnis von Demut und Selbstwertschätzung finden, wird nur knapp wiedergegeben, wie die ‚superbia‘ definiert und in welche Arten sie unterteilt werden. (1) Radulfus Ardens definiert den Stolz zunächst als das Laster, durch das sich der Mensch in Unkenntnis seiner selbst über sich selbst erhöht. Damit sind Quelle und Auswirkung (‚officium‘) der ‚superbia‘ klar benannt.434 Die ‚ignorantia sui‘ bildet damit den Gegenbegriff zur ‚cognitio sui‘, aus der die Demut entsteht.435 Um verständlich zu machen, was es bedeutet, dass der Mensch sich selbst bzw. seine Lage nicht kennt, zählt er sechs Gründe auf, die dieses Verhalten auslösen: Erstens entsteht der Stolz dadurch, dass man zwar persönlich der Ansicht ist, ein Gut zu besitzen, das man aber tatsächlich gar nicht hat. Diesen Fall könnte man auch als falsche Selbsteinschätzung bezeichnen; zweitens dadurch, dass man ein Gut, das man tatsächlich besitzt, überschätzt. Dabei handelt es sich offensichtlich um Selbstüberschätzung. Drittens erwächst er durch die Überzeugung, dass man seine Güter aus eigener Kraft erworben hat oder sie aufgrund seiner Verdienste von Gott erhalten hat. In diesen beiden Fällen rechtfertigt der Mensch sich selbst; viertens dadurch, dass man zwar erkennt, dass jedes Gut von Gott kommt, aber damit hadert und Gott gegenüber undankbar ist. Doch selbst dann, wenn man die Güter Gott zuschreibt und ihm dafür dankbar ist, kann sich noch das Laster des Stolzes einschleichen, z. B. dadurch, dass man sich fünftens für einen besonders begnadeten Menschen ansieht und sich dadurch über andere erhebt. Dieses Verhalten erinnert an die weiter oben beschriebene ‚singularitas‘. Diese Schuld wird schließlich sechstens noch dadurch vergrößert, dass man nicht daran denkt, dass man durch diese Selbstüberhöhung auch Gott selbst beleidigt.436 434 Spec. uniu. 12, 137 (P, fol. 155va): „Igitur superbia est uitium per quod quis ex ignorantia sui grandescit sibi. Sane hac in descriptione demonstratur, unde superbia nascatur uel quod sit officium eius, immo officii abusus.“ 435 Spec. uniu. 12, 137 (P, fol. 155va): „Itaque sicut humilitas nascitur in homine ex uera sui ipsius cognitione, sic superbia ex sui ipsius ignorantia.“ 436 Spec. uniu. 12, 137 (P, fol. 155va): „Oritur autem superbia ex sui ipsius ignorantia. Hinc quippe superbit quis, quod putat se habere bonum quod non habet; uel quia putat esse bonum quod habet,
2.3 ‚Se contempnere‘
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Allein die schiere Anzahl der Gründe erweckt beim Leser den Eindruck, dass der Stolz im diesseitigen Leben nahezu überall ‚lauert‘. Zudem werden sie in einer bestimmten Abfolge präsentiert, die verdeutlicht, dass die ‚superbia‘ sehr anpassungsfähig ist und sogar gerade dann besonders leicht entstehen kann, wenn gerade ein Grund für die Entstehung des Stolzes eliminiert wurde und sich darüber Bequemlichkeit oder Selbstzufriedenheit einstellt. Von daher führt Radulfus Ardens auch noch eine zweite Definition des Stolzes an, die ihn als ein Laster bestimmt, das von allen Seiten Strafen anhäuft.437 Diese ist nur vor dem Hintergrund der eben beschriebenen Anpassungsfähigkeit der ‚superbia‘ verständlich. Um Stolz möglichst präzise zu bestimmen, grenzt er ihn noch von einigen nahe verwandten Begriffen ab, die im Alltag jedoch oft als Synonyme behandelt werden. Denn ‚superbia‘ meint im eigentlichen Sinne nur die Selbsterhebung über eigene, tatsächlich vorhandene Güter, während sich das Wort Anmaßung (‚arrogantia‘) darauf bezieht, dass sich jemand aufgrund der bloßen Meinung, ein Gut zu besitzen, über andere erhebt. Die Vermessenheit (‚presumptio‘) zeigt sich dagegen daran, dass man nach einem Gut strebt, das weit über die eigenen Möglichkeiten hinausgeht. Die Überheblichkeit (‚elatio‘) bezeichnet eine innere Haltung, durch die man sich den anderen Menschen geistig überlegen fühlt. Die Großsprecherei (‚iactantia‘) meint ein Verhalten, das mit Worten um Aufmerksamkeit buhlt und die Prahlerei (‚extollentia‘) zeigt sich v. a. am äußerlichen Auftreten wie bspw. an übertriebenem Prunk oder Statussymbolen, die zur ‚pompa diaboli‘ gehören.438 Was Radulfus Ardens mit dem Wort ‚tumor‘ meint, erklärt er nicht genauer, jedoch ist damit wohl die auch im Deutschen sprichwörtliche Aufgeblasenheit gemeint.439 Somit zeigt sich auch daran, dass es im alltäglichen Sprachgebrauch so viele Wörter für Verhaltens-
cum bonum non sit; uel quia putat bonum quod habet esse maius quam sit; uel quia putat illud habere a se ipso uel a Deo, sed pro meritis suis; uel a Deo et ex sola gratia se habere credit, sed inde ei ingratus existit; uel ei gratus existit, sed inde se singulariter extollens ceteros despicit; uel se Deum offendere in hoc quod se extollit, non intelligit. Enimuero ex omnium horum ignorantia nascitur in homine uitium superbie.“ 437 Spec. uniu. 12, 137 (P, fol. 155va): „Officium uel potius abusus est superbie sibimet grandescere. Vnde et sic iterum potest superbia describi: Superbia est uitium per quod quis penes sese sublimat super se.“ 438 Spec. uniu. 12, 141 (P, fol. 158ra): „Exerit autem se per superfluitatem et pretiositatem cultus et apparatus exterioris, per sellas, per calcaria, per frena deaurata, per scutellas deauratas et ciphos aureos, per pluralitatem equorum, clientum et seruorum et superfluitatem pretiosorum uestimentorum. Que omnia dicuntur pompe diabolice quibus in baptismate iubemur abrenuntiare. Promittimus enim abrenuntiare diabolo, operibus et pompis eius. Opera diaboli sunt aperta mala. Pompe uero eius est licitorum usus, ambitiosus et intemperatus.“ 439 Spec. uniu. 12, 137 (P, fol. 155vaf.): „Possumus autem diuidere inter hec nomina superbia, arrogantia, presumptio, elatio, extollantia siue iactantia, tumor. Nam superbia proprie est, quando quis de bono quod habet, se extollit et ceteros despicit, ut phariseus. Arrogantia est, quando quis arrogat sibi bonum quod non habet. Presumptio, quando quis aggreditur aliquid quod supra se est. Elatio est proprie mentis, iactantia oris, extollentia oculorum. Verum aliud pro alio indifferenter sepius ponitur.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
weisen gibt, die mit Stolz in Verbindung stehen, wie weit verbreitet dieses Laster ist. Zudem weist er deutlich auf einen wichtigen Punkt hin, der den Stolz und die ‚uana gloria‘, die eng mit ihm verbunden ist,440 von allen übrigen Lastern unterscheidet: Während letztere aus einer Schwäche (‚infirmitas‘), d. h. aus einem Mangel an Gütern entstehen, erwachsen Stolz und wertloser Ruhm eben gerade aus vorhandenen Gütern oder der fälschlichen Meinung, Güter zu besitzen.441 (2) Diese grundlegenden Bestimmungen der ‚superbia‘ werden dadurch präzisiert, dass diese in mehrere Arten eingeteilt wird. In den Kapiteln 139 und 140 finden sich gleich zwei verschiedene Aufteilungen des Stolzes, wobei ins Auge fällt, dass sie alle negativ bewertet werden. In der ersten ‚diuisio‘ teilt der Autor die ‚superbia‘ anhand der Güter, aus denen sie entstehen kann, in vier Arten auf: Erstens nennt er den weltlichen Stolz (‚superbia mundana‘), der aus den ‚bona fortune‘ – den weltlichen Gütern Reichtum, Ehre, Macht, Lob und Lust – entsteht. Dieses Laster ist im Diesseits so präsent und versucht den Menschen aus so vielen verschiedenen Richtungen, dass sich ihm letztlich niemand völlig entziehen kann.442 Der fleischliche Stolz (‚superbia carnalis‘) ist die zweite ‚species‘, die aus den fleischlichen Gütern, allen voran der körperlichen Schönheit, erwächst. Als dritte Art führt er den sinnlichen Stolz (‚superbia sensualis‘) an, der aus sinnlichen Gütern (‚bona sensualitas‘) entsteht. Damit sind offensichtlich besondere, sinnlich wahrnehmbare Leistungen gemeint, die der Mensch bspw. durch ein feines Empfindungsvermögen (‚sensus‘), eine schöne Stimme (‚uox‘), eine besondere Begabung (‚ingenium‘), ein breit gefächertes Sachwissen (‚scientia‘), Redetalent (‚eloquentia‘) oder eine mechanische bzw. freie Kunst hervorbringt. Schließlich können die Tugenden selbst bzw. die göttliche Gnade, durch die sie entstehen, ein Grund für die Selbsterhebung und die Verachtung der Mitmenschen sein (‚superbia spiritualis‘). Diese vierte und letzte Art ist deshalb besonders schlecht, da sie die Geschenke Gottes völlig entwertet.443
440 Spec. uniu. 12, 139 (P, fol. 156va): „Ex gloria quoque uana superbia nascitur. Sunt enim duo uitia coniuncta. Nequit enim aliquis esse gloriosus quin sit superbus, nec superbus quin sit gloriosus.“ 441 Spec. uniu. 12, 139 (P, fol. 156vb): „In hoc siquidem differunt superbia uanaque gloria a ceteris uitiis, quoniam cetera uitia ex infirmitate nascuntur, ut castrimargia, ebrietas, luxuria, philargiria et cetera huiusmodi. Superbia uero et inanis gloria tantum de bonis uel de eis que uidentur esse bona.“ 442 Spec. uniu. 12, 142 (P, fol. 158rbf.): „Nam quam rarus hodie inuenitur, qui non laboret uitio ambitionis, dominationum, honorum, potestatum, gloriarum et prioritatum, ut superius demonstratum est. Que omnia ex mentis elatione proficisci manifestum est.“ 443 Spec. uniu. 12, 139 (P, fol. 156rb-157ra): „Superbia alia est mundana, alia carnalis, alia sensualis, alia spiritualis. Fit autem hec diuisio secundum causas. Nam prior habet causam a bonis fortune siue mundi, secunda a bonis carnis, tertia a bonis sensualitatis, quarta a bonis gratuitis. Porro a bonis fortune nascitur superbia que causam habet diuitias, honores, potestates, glorias, uoluptates. […] Ex bonis quoque carnis oritur superbia, ut ex pulcritudine. […] Ex bonis quoque sensualitatis oritur superbia, ut ex sensu, ex uoce, ex ingenio, ex scientia, ex eloquentia, ex arte siue liberali siue mechanica. Quoniam enim in hiis excellunt eos qui hec non habent uel parum habent aspernantur. […] De dono quoque spiritualis gratie nonnumquam oritur superbia, ut de uirtutibus earum-
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In der zweiten ‚diuisio‘ bemisst Radulfus Ardens die Schuldhaftigkeit des Stolzes danach, ob man sich über sich selbst (‚extollere se supra se‘), über andere Menschen (‚extollere se supra proximum‘) oder über Gott (‚extollere se super deum‘) erhebt. Da es selbst für kluge und reflektiere Menschen sehr schwierig ist, sich selbst immer genau einzuschätzen und naturgemäß zu leben, kommt die erste Art sehr häufig vor und ist – gerade dann, wenn sie zeitlich begrenzt bleibt – noch am wenigsten schlecht. Die anderen beiden ‚species‘ sind jedoch schwerwiegende Laster und ein Zeichen von Verblendung und großer Dummheit (‚stultitia‘).444 Die zweite Art stuft der Autor nochmals ab, je nachdem, ob man sich über einen niedriger stehenden, einen ebenbürtigen oder einen höherstehenden Menschen erhebt. Die erste ‚species‘ entsteht besonders leicht, da es auf den ersten Blick ja nur den natürlichen Standesunterschieden entspricht, wenn man sich aufgrund seiner höheren Machtposition oder seiner überlegenen Fähigkeiten für etwas Besseres hält.445 Dieses Laster ist laut Radulfus Ardens v. a. unter kirchlichen Würdenträgern und Ordensleuten weit verbreitet, da sie sich aufgrund ihrer scheinbar größeren Tugend oder ihrer höheren Ehrenstellung gerade über diejenigen Menschen stellen, für die sie Sorge tragen müssten und die ihre Hilfe eigentlich besonders nötig hätten.446 Dieser Missstand wirkt sich deshalb besonders negativ aus, weil sie dabei nicht nur selbst sündigen, sondern auch noch ihre Schutzbefohlenen dem Laster und der Verdammnis ausliefern. Die soeben beschriebene Untergliederung lässt sich so darstellen:
que operibus. […] Est autem hec species superbie peior ceteris, quoniam superbia tanto maior esse probatur, quanto magis est Dei donum, quod superbiendo deprauamur.“ 444 Spec. uniu. 12, 140 (P, fol. 157ra): „Rursus superbia sic diuiditur: alia enim extollit se supra se, alia supra proximum, alia contra Deum. Et prima quidem est magna, secunda maior, tertia maxima. Prima est stulta, secunda stultior, tertia stultissima. Et prima quidem est etiam quorundam prudentium, secunda quorumlibet secularium, tertia tantum infidelium et insanorum. Enimuero per primam nonnulli prudentes decipiuntur et hoc inde contingit, quoniam nimis nos nostraque diligimus.“ 445 Spec. uniu. 12, 140 (P, fol. 157raf.): „Per secundam uero omnes fere se extollunt seculares et etiam religiosi plures. Ceterum hec triplex est. Nam quidam se extollunt tantum supra minores, quidam uero super equales, quidam etiam super maiores. Et quidem prima superbia est mala, secunda peior, tertia pessima. […] Secunda uero superbia est peior, quando quis super quoequales suos se extollit. Qui enim superbit super inferiores, uidetur aliquam habere superbiendi occasionem ex eo quod temporaliter eis prelatus est. Qui uero super coequales suos superbit, nullam habet superbiendi occasionem nisi falsam quam se habere putat maioritatem. […] Tertia uero superbia est pessima. Triplici quoque fastu superextollit, nec solum super seipsum nec super quoequales, sed etiam super suos maiores. Vnde et grauius ceteris ruit.“ 446 Spec. uniu. 12, 140 (P, fol. 157raf.): „Ceterum hoc econtrario frequenter contingit. Nam peccatis hominum exigentibus plures prelatorum hodie a Deo dantur in iram quam in salutem, ut malis subditis mali dominentur prelati.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
(1)
(2) extollere se supra se
mundana carnalis superbia
superbia
extollere se supra proximum
supra minores supra equales
sensualis spiritualis
extollere se supra deum
supra maiores
Abb. 67: Die beiden Aufteilungen des Stolzes.
Es lässt sich also festhalten, dass Radulfus Ardens schlüssig erläutert, wie der Stolz einerseits aus den natürlichen Bestrebungen des Menschen hervorgeht und andererseits aus den bruchstückhaften Gütern entsteht, die der Mensch nicht von sich aus erlangen, sondern nur von Gott geschenkt bekommen kann. Von daher leuchtet systematisch völlig ein, warum die ‚superbia‘ in den Bereich der Geringschätzung gehört: Denn dieses Laster bildet letztlich den allzu menschlichen Versuch ab, sich angesichts der Ungewissheit des Lebens selbst abzusichern oder zumindest in Sicherheit zu wiegen. Dabei ist noch das geringere Problem, dass der Mensch ausblendet, wie vielen Gefahren er ausgesetzt ist und wie zerbrechlich seine Existenz ist. Viel schlimmer wirkt sich der Stolz dahingehend aus, dass der Mensch sich auf weitestgehend wertlose Dinge verlässt und Gott dabei aus dem Blick verliert. Dadurch verschließt sich ihm letztlich der Weg zum Lebensglück, das er ja gerade durch die ‚uana‘, die seinen Stolz hervorrufen, absichern will. Das einzig wirksame Heilmittel hierfür ist eine Haltung der Demut, wie Radulfus Ardens im letzten Kapitel des Traktats eindringlich vor Augen führt. Diese erlangt man v. a. dadurch, dass man sich der ‚aduersitates‘ des diesseitigen Lebens bewusst wird. Interessant ist, dass eben diese Widrigkeiten selbst eine heilende Funktion einnehmen: So wird auch der reichste und mächtigste Mensch durch eine schwere Krankheit auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und auch der eifrigste Ordensmann lernt seine Schwäche kennen, wenn er trotz all seiner Bemühungen immer wieder sündigt.447
447 Spec. uniu. 12, 143 (P, fol. 158vb): „Quis enim sic est superbus, quem infirmitas corporalis uel detrimentum rei temporalis uel casus honoris non humiliet? Et quis religiosus sic est exaltatus in spiritualibus uirtutibus qui non humilietur, si in aliquod forte peccatum elabatur? Curatur quippe superbie uitium per alicuius uitii uel peccati emplastrum uile.“
2.4 ‚Contempnere se contempni‘
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2.4 ‚Contempnere se contempni‘ – Komplementäre Denkstrukturen im Bereich des vierten Gliedes der Geringschätzung Wie bereits in der Einleitung erklärt, endet die Darstellung der kontemptiven Tugenden mit Kapitel 144, in dem es um die ‚quarta distinctio‘ der Geringschätzung geht. Damit ähnelt das vierte Glied dem zweiten zum einen dadurch, dass es nur in einem einzigen Kapitel behandelt wird; zum anderen ist auch hier nicht sofort erkennbar, ob sich hinter der Aufforderung dazu, geringzuschätzen, dass man geringgeschätzt wird, tatsächlich eine Tugend verbirgt, oder es sich dabei nicht eher um Einzelnorm handelt. Bei genauerer Betrachtung enthält der Textabschnitt jedoch alle wichtigen Bestandteile eines Tugendtraktats und – soweit kann vorgegriffen werden – auch einige Hinweise auf mindestens ein Komplementärtugendpaar, weshalb die detaillierte Analyse des Textes für die Vervollständigung des Bildes von der Bedeutung der Komplementarität in Buch 12 durchaus lohnt. (1) Zunächst einmal muss jedoch geklärt werden, welche Verhaltensweise damit gemeint sein könnte, wenn Radulfus Ardens dazu aufruft, dass man es geringschätzen soll, geringgeschätzt zu werden. Die Klärung dieser Frage ist insofern nicht ganz einfach, da der Autor abgesehen davon, dass er die ‚quarta distinctio‘ mit der eben erwähnten Aufforderung identifiziert, zunächst nichts weiter dazu sagt.448 Aus den verschiedenen ‚species‘, die er im Anschluss daran anführt, geht jedoch hervor, dass er dabei eine bestimmte Form von Charakterfestigkeit vor Augen hat, die es ihrem Besitzer erlaubt, den eigenen Lebensstil zu bewahren und auch bei Widerständen von außen beizubehalten. Durch diese Tugend bringt der Mensch seine ethischen Werte und Grundüberzeugungen durch sein Handeln zum Ausdruck, ohne dass er sich durch Gruppenzwang oder andere Manipulationen davon abbringen lässt. Die Aufforderung, diesen äußeren Zwängen und Widerständen keinen Wert beizumessen, beschreibt im Kern einen selbstbestimmten bzw. authentischen Lebensstil, weshalb die entsprechende Tugend auch als Authentizität bezeichnet werden. Im vierten Glied der Geringschätzung lenkt der Autor also den Blick darauf, dass das eigene Verhalten und Handeln immer von den Mitmenschen beobachtet und von der Gesellschaft bewertet wird. Auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen kann, dass es hier darum geht, sich gegen die Reaktionen der Mitmenschen zu immunisieren, wird im weiteren Verlauf des Kapitels sehr schnell deutlich, wie ambivalent ein solches Verhalten sein kann und dass man ganz genau unterscheiden muss, wer von welchen Personen und wegen welchen Verhaltens geringgeschätzt wird. (2) So räumt der Autor gleich im Anschluss an die Definition der ‚quarta distinctio‘ ein, dass es gut oder schlecht sein kann, die kritischen Reaktionen der Mitmenschen 448 Spec. uniu. 12, 144 (P, fol. 159ra): „Quarta distinctio est contempnere nos contempni.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
nicht zu beachten: So ist es zwar gut, wenn man von lasterhaften Menschen deswegen verachtet wird, weil man sich anders verhält als sie und sich an ihren Schandtaten nicht beteiligt; schlecht ist es jedoch, wenn man selbst sündigt und der berechtigten Kritik tugendhafter Menschen keine Bedeutung beimisst.449 Diese grundlegende Unterscheidung in eine gute und eine schlechte Art rückt demnach zwei Aspekte des Phänomens in den Mittelpunkt, nämlich die ethische Qualität des eigenen Verhaltens und seine Bewertung durch verschiedene Menschen, die aufgrund ihres jeweiligen Charakters bzw. ihrer jeweiligen Lebensführung ganz unterschiedlich darauf reagieren. Eine weitere differenziert die Tugend der Authentizität noch genauer aus und beleuchtet die Beweggründe der beurteilten Person für ihre jeweilige Haltung zu den Reaktionen der Mitmenschen. Hier lassen sich drei Fälle unterscheiden: Manche Menschen wollen nicht geringgeschätzt werden (‚contempni nolle‘), anderen ist es egal (‚contempni contempnere‘) und einige wenige wollen sogar geringgeschätzt und verachtet werden (‚contempni uelle‘).450 – In der ersten Gruppe lassen sich drei unterschiedliche Motive ausmachen: Die einen fürchten sich vor gesellschaftlicher Ablehnung, da sie weltlichen Ruhm und Ehrenstellungen anstreben. Damit geben sie sich als ‚amatores mundi‘ zu erkennen, die rein aus egoistischen Motiven handeln. Andere bemühen sich zwar um ein tugendhaftes Leben, fürchten sich aber vor einer Stigmatisierung. Da sie wissen, dass sie als ‚boni infirmi‘ noch nicht die Kraft besitzen, um Anfeindungen und dauernde Kritik zu ertragen, ist ihre Haltung das Ergebnis einer ehrlichen Selbstreflexion und kann von daher als Tugend gelten. Im Idealfall bemühen sich tugendhafte Leute jedoch um die Liebe ihrer Mitmenschen, damit sie sie durch ihr gutes Vorbild und ihre Beliebtheit leichter in den Tugenden unterweisen können. Diese Personen bezeichnet Radulfus Ardens als ‚optimi doctores plebis‘. Ihre wichtigsten Aufgaben sind, ein gutes Vorbild zu sein und bspw. durch die Predigt zu unterweisen. Die Ausübung beider Dienste wäre durch die Geringschätzung oder gar Ablehnung vonseiten der Mitmenschen stark erschwert bzw. unmöglich.451
449 Spec. uniu. 12, 144 (P, fol. 159ra): „Quod etiam admittit exceptionem. Enimuero quandoque est bonum contempnere se contempni, quandoque uero malum est. Considerandum enim est a quibus contempnamur et qua de causa. Si enim contempnimur a stultis, a turpibus, ab infamibus personis et propter hoc quod eis dissimilem agamus uitam, bonum est a talibus talique de causa contempni. Si uero a sapientibus iustisque personis uita nostra contempnatur, malum est a talibus talique de causa contempni.“ 450 Spec. uniu. 12, 144 (P, fol. 159ra): „Itaque quidam se contempni nolunt, quidam se contempni contempnunt, quidam se contempni uolunt et appetunt.“ 451 Spec. uniu. 12, 144 (P, fol. 159raf.): „Illorum autem qui nolunt se contempni tres sunt species: Quidam namque nolunt se contempni, quoniam amatores sunt honoris et glorie secularis. Quidam uero nolunt se contempni, quoniam adhuc infirmi sunt et inbecilles contemptum sui pati. Quidam autem nolunt se contempni, sed magis diligi, ut magis possint proficere proximis suis. Primi igitur sunt peruersi amatores mundi, secundi boni, sed rudes et infirmi, tertii optimi et doctores plebis. […] Tertii uero nullatenus uolunt contempni a subditis suis, sed potius amari et honorari ab eis, ut eis sicut
2.4 ‚Contempnere se contempni‘
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– Auch für die Haltung der zweiten Gruppe gibt es gute und schlechte Beweggründe. So kümmern sich manche Menschen deshalb nicht um Ablehnung von außen, da sie ein reines Gewissen haben (‚propter sanam conscientiam‘) und wissen, dass es sich dabei um unberechtigte und böswillige Anfeindungen handelt. Andere hingegen interessieren sich nicht dafür, weil sie schamlos sind (‚propter impudentiam‘). Solche Leute grenzen sich gewissermaßen selbst aus und messen den Reaktionen der Mitmenschen keinerlei Bedeutung zu, egal, ob es sich dabei um berechtige Kritik oder unberechtigte Ressentiments handelt. Während die erste Unterart als Tugend betrachtet werden kann, ist die zweite eine übertriebene und damit lasterhafte Form.452 – Nur sehr selten kommt es vor, dass ein Mensch danach strebt, geringgeschätzt und verachtet zu werden. Diese Haltung widerspricht zwar auf den ersten Blick dem Gebot der Selbstliebe, jedoch handelt es dabei um eine besondere Tugend, die sich ausschließlich bei den ‚perfecti‘ findet. Sie speist sich aus der bereits bei der Demut erwähnten ‚uerissima cognitio sui‘ und dem Bewusstsein, dass durch Verehrung und Lob keine geistige Güter hinzugewonnen werden, sondern damit vielmehr die Gefahr verbunden ist, stolz darauf zu sein und sie dadurch zu verlieren.453 Diese Unterart stellt somit die vollkommene Form der in der ‚quarta distinctio‘ behandelten Tugend dar; sie ist eng mit dem Besitz der Demut verknüpft.454 Die eben beschriebenen Differenzierungen, die auf der grundlegenden Unterteilung in eine gute und schlechte Art der Geringschätzung der Geringschätzung gegenüber einem selbst aufbauen, werden der besseren Übersichtlichkeit halber noch schematisch dargestellt:
uerbo sic proficere possint et exemplo scientes, quoniam cuius uita contempnitur, restat, ut eius predicatio contempnatur.“ 452 Spec. uniu. 12, 144 (P, fol. 159rb): „Illorum uero qui contempnunt se contempni, due species sunt. Nam alii contempnunt se contempni propter impudentiam, alii propter sanam conscientiam. Istis quoque sic placent uitia turpitudinesque sue, quod contempnunt, si contempnantur siue a bonis siue a malis. […] Illi uero quorum munda est conscientia, contempnunt, si a stultis et ab infamibus personis contempnantur. […] A probis uero et a prudentibus uiris non debemus contempnere nos contempni. Qui non solent despicere homines, nisi uitiosi despectabilesque fuerint eorum mores. Sed ne ab eis contempnamur, iuxta eorum mores et doctrinas nos corripiamus.“ 453 Spec. uniu. 12, 144 (P, fol. 159rb): „Illi uero qui uolunt se contempni, rarissimi sunt et perfecti. Hoc enim uelle non possunt, nisi uere humiles et sese despicientes. Qui idcirco magis uolunt contempni quam honorari, ne siquid boni spiritualis habeant, propter honorem secularem illud amittant. Et ideo non possunt pati se laudari uel honorari libenterque ferunt sperni et uituperari.“ 454 Spec. uniu. 12, 144 (P, fol. 159va): „Nam sicut superbi honoribus, sic plerumque de sua despectione humiles gratulantur. Cumque se et in alienis oculis uiles aspiciunt, idcirco gaudent, quoniam hoc iudicium confirmari intelligunt, quod de se et ipsi apud semetipsos habent.“
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
bonus
malus
optimi doctores plebis, qui diligi uolunt, ut magis possint proficere proximis suis
quidam se contempni nolunt
boni sed rudes et infirmi, qui non patiuntur contemptum amatores honoris secularis propter sanam conscientiam
quidam se contempni contempnunt quidam se contempni uolunt
propter impudentiam perfecti, ne honore seculari amittant bonum spirituale
Abb. 68: Die Aufteilung des vierten Gliedes der Geringschätzung.
(3) Ein Komplementärtugendpaar wird in diesem Kapitel zwar nicht klar benannt, jedoch finden sich – wie bereits zu Beginn erwähnt – mehrere Ansatzpunkte, die sich in diese Richtung weiterdenken lassen. Am offensichtlichsten zeigt sich dieses Potential bei der grundlegenden Unterscheidung einer guten und schlechten Art. Hier wird nämlich deutlich, dass es nicht darum geht, sich völlig gegen Reaktionen von Seiten der Mitmenschen und damit auch gegen jegliche Kritik zu immunisieren. Die beschriebene Tugend dient vielmehr dazu, um berechtigte von unberechtigter Kritik zu unterscheiden und infolgedessen die erstere zu berücksichtigen und die zweitere von sich zu weisen. Mit anderen Worten: Nur wer dazu bereit ist, sich der ‚correctio fraterna‘ zu stellen und dadurch auf dem Pfad der Tugenden weiter voranzukommen, kann willkürliche Anfeindungen identifizieren und abwehren. Wer sich dagegen jede Resonanz zu Herzen nimmt, ohne einen Unterschied zu machen, verliert seine Authentizität und unterwirft sich gesellschaftlichen Zwängen, die ihn möglicherweise gerade auf den falschen Weg führen. Diese Konstellation ließe sich problemlos als Komplementärtugendpaar beschreiben:
‚se contempni uelle a probis et prudentibus personis‘
‚se contempni uelle a stultis et turpibus personis‘
↔
‚se contempni nolle a probis et prudentibus personis‘
‚se contempni nolle a stultis et turpibus personis‘
Während dabei die ethische Qualität derjenigen Personen in den Blick genommen wird, die über einen urteilen, lassen sich auch hinsichtlich der Motive der beurteilten Person Anklänge an eine komplementäre Struktur ausmachen. Denn auch wenn das Streben nach einem guten Ruf bei den ‚doctores optimi‘ dazu dient, die Men-
2.5 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 12
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schen beim Erwerb der Tugenden zu unterstützen, besteht dabei immer die Gefahr, um jeden Preis beliebt zu sein und ‚glatt‘ zu erscheinen oder dass das Bemühen um Beliebtheit irgendwann zum Selbstzweck wird. Dies lässt sich nur dadurch vermeiden, dass man auch Konflikte zulässt und es im Zweifel auch im Dienst der eigenen Überzeugungen erträgt, dass einen manche Menschen unsympathisch finden und ablehnen. Daraus ließe sich folgendes Komplementärtugendpaar ableiten:
‚se contempni contempnere propter impudentiam‘
‚se contempni contempnere propter sanam conscientiam‘
↔
‚quidam se contempni nolunt, ut magis proximis proficere possint‘
‚se contempni nolle propter amorem honoris secularis‘
Wie sich an den umständlichen Formulierungen zeigt, gestaltet es sich alles andere als einfach, die in Zusammenhang mit der ‚quarta disctinctio‘ der Geringschätzung angestellten Überlegungen in ein Komplementärtugendschema zu übertragen. Dennoch ist deutlich geworden, dass der Autor die gemeinte Verhaltensweise sehr ambivalent sieht und dabei auch deutlich darauf aufmerksam macht, dass jede Form der Charakterfestigkeit oder Authentizität ein Korrektiv in Gestalt von Kritikfähigkeit oder Zugänglichkeit braucht, um nicht zur Unzugänglichkeit oder Schamlosigkeit zu werden. Auf der anderen Seite benötigt jede Offenheit für Kritik auch eine gewisse Standfestigkeit, um nicht zur Schwäche oder Selbstaufgabe zu werden. Obwohl es die zunächst nahezu unverständliche und völlig unbekannte Wortwahl des Radulfus Ardens nicht vermuten lässt, kann man also schließen: Die hier zueinander in Bezug gesetzten Verhaltensweisen thematisieren ein sehr aktuelles, gesellschaftlich relevantes und häufig thematisiertes Problemfeld. Diese Tatsache wird sehr viel besser verständlich, wenn man sich von den sperrigen Begrifflichkeiten des lateinischen Textes löst und das angedeutete Komplementärtugendpaar etwas freier mit modernen deutschen Begriffen wiedergibt: Unauthentizität / Vermeidung von Auseinandersetzungen unter Preisgabe eigener Überzeugungen
Kritikfähigkeit / Zugänglichkeit
↔
Authentizität / Charakterstärke
Unzugänglichkeit / Lust an gesellschaftlicher Provokation / Kritikunfähigkeit
2.5 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 12 für die Frage nach der Bedeutung des komplementären Denkens für die Anlage des Werkes Ähnlich wie im zweiten Teil über die amativen und oditiven Tugenden, gilt es zum Abschluss der Textanalyse von Buch 12, die gewonnenen Ergebnisse noch einmal
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
pointiert zusammenzufassen. Wieder lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse in acht Punkten verdichten: (1) Zunächst einmal konnten mehrere neue Komplementärtugenden entdeckt werden. Hier ist zuerst das Komplementärtugendpaar ‚contemptus honorum‘ – ‚amor honoris spiritualis‘ zu nennen, das Radulfus Ardens in Kapitel 88 konkret benennt und darstellt. Der Begriff ‚collateralis‘ findet sich dort jedoch nicht, weshalb es bisher wohl auch in der Forschung noch nicht erwähnt wurde. Unklarer ist die Lage bezüglich der Korrektive des ‚contemptus diuitiarum‘ und des ‚contemptus potestatum‘. In beiden Fällen wird keine eindeutige Komplementärtugend benannt, aber der freiwilligen Armut werden in Kapitel 47 zumindest ‚termini‘ zugewiesen, die ihre Komplementärtugend unmittelbar greifbar machen (‚non nature sue necessaria denegare‘). Die Geringschätzung der Macht wird in Kapitel 94 immerhin dahingehend relativiert, dass man unter bestimmten Umständen Führungspositionen übernehmen muss (‚potestatem cum timore suscipere‘). Insgesamt lässt sich daran jedoch ablesen, dass der ersten ‚distinctio‘ der Geringschätzung definitiv eine komplementäre Struktur zugrunde liegt. Zudem konnten mehr oder weniger deutliche Ansatzpunkte für weitere Komplementärtugendpaare gefunden werden. Gute Beispiele dafür ist etwa Kapitel 106, in dem das Verhältnis von ‚simulatio‘ und ‚dissimulatio‘ besprochen wird oder Kapitel 113, in dem es um die ‚singularitas‘ und die ‚equalitas‘ geht. (2) Die übrigen ‚distinctiones‘ vermitteln in dieser Hinsicht ein unklareres Bild. Obwohl bspw. das dritte Glied den geradezu mustergültig aufgebauten Traktat über die Demut enthält, und der ‚humilitas‘ die ‚honrantia sui‘ in Kapitel 132 als Gegenpol zugewiesen wird, stellt sich hier doch die Frage, warum Radulfus Ardens keiner einzigen ihrer acht Tochtertugenden eine Komplementärtugend zuordnet oder zumindest ihre ‚termini‘ bestimmt, obgleich immerhin bei manchen ‚filie‘ die Aussagen in anderen Büchern wichtige Hinweise dazu liefern. Dieser Befund verwundert umso mehr, da die Ausführungen in den entsprechenden Kapiteln mögliche Komplementärtugenden andeuten, ohne dass der Autor diese Gedankengänge konsequent zu Ende führt. Ganz ähnlich ist die Lage in der zweiten und vierten ‚distinctio‘: Auch hier klingen Ambivalenzen und komplementäre Strukturen an, werden aber nicht ausformuliert. (3) Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass allen fünf Tugenden im Bereich des ersten Gliedes eine Komplementärtugend zur Seite gestellt oder eine solche zumindest angedacht wird, ist es auffällig, dass sich der Autor nirgends zu einem komplementären Gegenstück des ‚contemptus mundi‘ äußert, der die übergeordnete Tugend der fünf Einzelaspekte darstellt. Diese Aussparung wirft v. a. die Frage auf, aus welcher Quelle die Komplementärtugenden in diesem Bereich hervorgehen. Sie lässt sich nur durch Spekulationen klären, die über den Text hinausgehen: Da die Komplementärtugenden des ‚contemptus potentiarum‘ und des ‚contemptus honoris‘ offenbar im
2.5 Der Ertrag der Untersuchung von Buch 12
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Kontext der Nächstenliebe stehen, während die Korrektive des ‚contemptus diuitiarum‘, des ‚contemptus glorie‘ und des ‚contemptus uoluptatis‘ eher mit einer geordneten Selbstliebe zusammenhängen, kommt auf jeden Fall eine Form der Liebe als Ursprung dafür in Frage. Ähnlich wie in Buch 11 macht sich hier erneut bemerkbar, dass sich Radulfus Ardens mit der Selbstliebe nicht eingehender beschäftigt und diesbezüglich auch keinen kohärenten Begriff entwickelt hat. (4) Diese Problematik weist auf eine noch grundlegende Schwierigkeit hin: Obgleich Radulfus Ardens den ‚contemptus‘ als dritten, eigenständige Grund-Affekt ansieht, und ihn als affektiv neutralen Nullpunkt zwischen Liebe und Hass bestimmt, lassen sich die Aussagen zu den kontemptiven Tugenden in Buch 12 nur schwerlich mit dieser Vorstellung verbinden: Denn letztlich eröffnet sich der Raum für die kontemptiven Komplementärtugendpaare nicht aus der Geringschätzung selbst, sondern den Entwicklungsstufen hin zum ‚contemptus‘, die im Kern nichts anderes darstellen als graduelle Abstufungen von Liebe und Hass. Mit anderen Worten erwachsen die Komplementärtugenden in Buch 12 ebenfalls aus dem komplementären Verhältnis von Liebe und Hass und es ist weiterhin fraglich, ob die Zurücknahme (‚redemptio‘) aller Affekte selbst als Affekt gelten kann. (5) Vermutlich sind diese Überlegungen für das Anliegen des Autors jedoch zu abstrakt und theoretisch: Ihm ging es wohl darum, diejenigen Bereiche des Lebens aus der Perspektive des Tugendethikers zu beschreiben, die nicht im eigentlichen Sinne für das Glück des Menschen relevant sind, sondern nur in einem bestimmten Maß und nur auf ein bestimmtes Ziel hin benutzt werden dürfen. Dabei macht er immer wieder deutlich, dass die ‚res mundane‘, also Dinge wie soziale Anerkennung, Wohlstand und Vergnügungen, die auch heute noch auf der Werteskala ganz weit oben stehen, nicht per se schlecht sind; siegehören einerseits natürlicherweise zum menschlichen Leben dazu, andererseits dürfen sie aber nicht den Blick darauf verstellen, was wirklich wichtig ist: Die Liebe zu Gott und den Mitmenschen sowie die entschiedene Abwendung vom Bösen. (6) Obwohl die Lehre vom ‚contemptus‘ also hochgradig erklärungsbedürftig ist und immer wieder die Gefahr für Missverständnisse birgt, kann sie als eigenständige und innovative Idee gewertet werden, mit deren Hilfe Radulfus Ardens Phänomene aus einem Bereich der menschlichen Emotionalität in den Blick nehmen konnte, der in anderen tugendethischen Konzeptionen kaum berücksichtigt wurde. Wie tiefgehend er die menschliche Psyche in diesem Zusammenhang durchleuchtet, wird gerade aus an seinen Darstellungen über das zweite (‚neminem contempnere‘) und das vierte Glied (‚contempnere se contempni‘) deutlich, hinter denen sich bei genauerem Hinsehen geradezu modern anmutende Tugenden wie Souveränität und Authentizität verbergen. (7) Erneut wurde deutlich, dass der Gedanke der Komplementarität der Tugenden aus der gegensätzlichen Verfasstheit des Menschen sowie der Paradoxie der diessei-
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2 Die weitere Entfaltung der kontemptiven Tugenden
tigen Lebensbedingungen hervorgeht und damit heilgeschichtlich grundgelegt ist. Von daher finden sich im eschatologischen Exkurs in den Kapiteln 119 und 120 auch Hinweise auf die Aufhebung von Gegensätzen wie ‚recentia‘ und ‚perpetuitas‘ oder ‚sanctitas und ‚delectatio‘ im Eschaton. In diesem Kontext zeigt sich auch, dass Radulfus Ardens die Verbindung von eigentlich unvereinbaren Gegensätzen auf das Wirken Gottes zurückführt, da auch im Wesen Gottes scheinbare Widersprüche wie z. B. Allmacht und passives Erleiden miteinander verbunden sind. (8) Obwohl der Leser in Buch 12 also immer wieder auf inhaltliche Lücken bzw. Unklarheiten und gleich mehrere systematische Probleme stößt, tritt dennoch klar zutage, dass Radulfus Ardens einer in sich stimmigen und kohärenten Programmatik folgt und dabei den Versuch unternimmt, die von ihm dargestellten Verhaltensweisen genau zu analysieren und ethisch differenziert zu bewerten. Dabei bedient er sich konsequent einer Methodik, die die jeweilige Eigenschaft in ihre unterschiedlichen Aspekte aufgliedert, diese anschließend ethisch bewertet und ihr systematisches Verhältnis zueinander klärt. Da er auf diesem Wege immer wieder auf Charaktereigenschaften stößt, die zu den beschriebenen Verhaltensweisen scheinbar im Gegensatz stehen, spielen komplementäre Denkstrukturen auch dann eine bedeutende Rolle, wenn der Autor nicht direkt darauf hinweist oder sich der entsprechenden Fachterminologie bedient; schließlich bildet die Komplementarität ja überhaupt erst die systematische und heuristische Grundlage dafür, dass Radulfus Ardens die Ambivalenzen der jeweiligen Charaktereigenschaften herausarbeiten und erläutern kann. Von daher lässt sich schließen, dass die Komplementarität in Buch 12 eine weit größere Rolle spielt, als bisher angenommen wurde. Jedoch zeigte sich auch, dass die Gedankengänge an mehreren Stellen lückenhaft und schwer verständlich sind. Ob die heutige Gestalt von Buch 12 als eine unabgeschlossene Arbeit zu werten ist, die zu einem späteren Zeitpunkt noch vervollständigt werden sollte oder ob der Autor selbst an manchen Problemen gescheitert ist bzw. mehr oder weniger bewusst Fragen offengelassen hat, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden. In jedem Fall können durch die Untersuchungen der letzten Kapitel die dritte, die vierte und die fünfte in der Einleitung formulierte Frage bezüglich Buch 12 als beantwortet gelten.
3 Die Lehre von der Geringschätzung im Speculum universale im Kontext der zeitgenössischen ‚contemptus mundi‘-Literatur Wie bereits zu Beginn der Darstellung von Buch 12 erwähnt, hat Radulfus Ardens gerade im Bereich des ersten und dritten Gliedes der Geringschätzung Themen behandelt, die typischerweise in der zeitgenössischen ‚contemptus mundi‘-Literatur dargestellt wurden. Zunächst meint dieser Begriff jede literarische Verarbeitung der Vorstellung, dass die Welt im Vergleich zu Gott als nichtig betrachtet werden muss.455 Da das spirituell-asketische Leitbild der ‚vanitas mundi‘ aber bereits im Urchristentum weit verbreitet war und seinerseits auf Vorgängerkonzepten fußt, muss der Begriff noch weiter präzisiert werden: Zur ‚contemptus mundi‘-Literatur im engeren Sinne werden v. a. diejenigen Schriften gezählt, die sich ausschließlich oder zumindest ausführlich mit dieser Thematik beschäftigen. Obgleich sich dafür bereits einzelne Beispiele in der patristischen Literatur finden lassen,456 entstanden die meisten derartigen Werke im Mittelalter.457 Dieser Befund macht deutlich, dass das Streben nach Distanz zu allem Diesseitigen, das sich im ethisch-asketischen Bereich in Form einer Weltverachtung (‚contemptus mundi‘) oder einer Weltflucht (‚fuga mundi‘ bzw. ‚fuga saeculi‘) niederschlägt, im Mittelalter eine zentrale Bedeutung innerhalb der christlichen Spiritualität einnahm.458 Damit ist die ‚contemptus mundi‘-Literatur bzw. die geistige Strömung, die in ihr verarbeitet wird, der Kontext für die ausführliche Behandlung des ‚contemptus‘ als Affekt im 12. Buch des Speculum universale. Dieser naheliegende Zusammenhang, der in der Forschung bisher noch nicht genauer beleuchtet wurde, wirft mehrere Fragen auf. Erstens: Auf welchen Grundgedanken baut die mittelalterliche ‚contemptus mundi‘-Lehre auf? Zweitens: In welcher Form behandeln mittelalterliche Autoren dieses Thema und welche konkreten Inhalte kommen dabei zur Sprache? Drittens: Welche Parallelen und Besonderheiten fallen – im Vergleich dazu – bei der Behandlung des Themas durch Radulfus Ardens auf? Um diese drei Fragen zu beantworten, wird in einem ersten Schritt skizziert, wie die Rezeption bestimmter pagan-philosophischer bzw. biblischer Konzepte zur Ausprägung einer spezi-
455 Vgl. SIEBEN, Vanitas mundi 542. 456 Die erste Schrift mit dem Titel De contemptu mundi et saecularis philosophiae stammt wohl von Eucherius von Lyon († um 540); vgl. dazu z. B. HÜHN, Weltverachtung 523. 457 HÜHN, Weltverachtung 523 schreibt dazu: „Es bildet sich im MA […] eine eigene contemptusmundi-Literatur heraus.“ Ähnlich äußern sich auch SIEBEN, Vanitas mundi 543 f. sowie MAYER, Contemptor 1267. 458 Vgl. SILAGI, Contemptus mundi. Ähnlich heißt es bei OTT, Vanitas: „Die Vorstellung von der Vergänglichkeit, Nichtigkeit, Eitelkeit alles Irdischen […] wird als Topos der ma. Religiösität durch die hochma. Reforberwegungen […] verstärkt […].“ https://doi.org/10.1515/9783110758924-015
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3 Die Lehre von der Geringschätzung im Speculum universale
fisch christlichen Weltdistanz führten und auf welchen Wegen dieses spirituelle Ideal über die Patristik ins Hochmittelalter gelangte. In einem zweiten Schritt wird an zwei Beispielen gezeigt, wie die Thematik von Zeitgenossen des Radulfus Ardens verarbeitet wurde und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich dabei erkennen lassen. In einem dritten Schritt wird resümiert, in welcher Weise sich der ‚contemptus‘-Begriff im Speculum universale von den beschriebenen Beispielen abhebt. Das vorrangige Ziel der folgenden Überlegungen ist also, die Gedankengänge des Radulfus Ardens in den Kontext ihrer Zeit einzuordnen. Da es sich bei der Vorstellung der ‚vanitas mundi‘ um ein hochkomplexes und zudem in der gesamten Kirchengeschichte bis heute vielfach variiertes und aufgegriffenes Motiv handelt, ist es im Rahmen dieser Arbeit von vorne herein unmöglich und auch nicht zielführend, eine vollständige oder tiefergehende Analyse vorzunehmen. Vielmehr geht es darum, eine Verständnisgrundlage dafür zu schaffen, warum Radulfus Ardens im 12. Buch seines Werkes die bereits ausführlich besprochenen Themen behandelt hat, von welchen Grundideen er sich dabei leiten ließ und wo der besondere Akzent seines Beitrags liegt.
3.1 Die ‚vanitas mundi‘ als zentraler Aspekt christlicher Spiritualität Dass der Mensch nicht in der Welt bzw. durch die weltlichen Güter glücklich wird, sondern erst durch Gott im Eschaton seine Vollendung erfährt, folgt letztlich unmittelbar daraus, dass mit der Erschaffung der Welt zugleich ihre Geschichtlichkeit und Vorläufigkeit gesetzt ist.459 Diese Vergänglichkeit haftet dem Menschen als körperlich-materiellem Wesen einerseits selbst an, andererseits übersteigt er sie durch seine Gottebenbildlichkeit aber auch. Die daraus resultierende Vorstellung, dass der Mensch Zeit seines irdischen Lebens in einem Spannungsverhältnis zur Welt und damit auch zu jeder weltlichen Aktivität steht,460 wurde in der christlichen Tradition sehr früh formuliert, wobei auch soziokulturelle Faktoren eine Rolle spielten.461 So findet sich bspw. schon im Diognetbrief die geradezu klassische Bestimmung, dass für den Christen im Diesseits jede Heimat Fremde und jede Fremde Heimat ist, da er sich äußerlich zwar nicht von den anderen Menschen unterscheidet, aber innerlich ganz auf Gott ausgerichtet ist.462 Dabei ist dieser Grundgedanke keineswegs genuin christlich, sondern baut auf einer ganzen Reihe von Vorgängerkonzepten auf, von denen im Folgenden diejenigen in aller gebotenen Kürze angesprochen werden, die 459 Vgl. METZ, Welt 1021. 460 Vgl. GNÄDINGER, Contemptus mundi. 461 Einen guten Überblick dazu liefert DÜNZL, Fremd in dieser Welt 13–106. 462 Diesbezüglich ist v. a. auf die Kapitel 5 und 6 zu verweisen (vgl. VOLLENWEIDER, Weltdistanz 127 f.).
3.1 Die ‚vanitas mundi‘ als zentraler Aspekt christlicher Spiritualität
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für die mittelalterliche Ausprägung eine Rolle spielen und sich auch im Speculum universale niederschlagen: (1) Zunächst einmal finden sich entsprechende Überlegungen mitsamt der typischen Terminologie schon im Alten Testament und sind besonders in der Weisheitsliteratur verdichtet. Als Leitwort kann Kohelet (Ecclesiastes) 1, 2463 gelten, da hier die irdische Welt und alle darin enthalten Güter als ‚Windhauch‘ (‚vanitas vanitatum‘) gewertet werden. Trotz der allein schon stilistisch sehr drastisch erscheinenden Formulierung ist damit allerdings keine absolute Entwertung der Welt, sondern lediglich eine relative im Vergleich zu Gott gemeint;464 so finden sich bspw. im Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zahlreiche Aussagen, die davor warnen, das irdische Leben und die weltlichen Dinge per se als wertlos zu betrachten.465 Die grundlegende Bewertung der Welt als ‚vanitas‘, die auch Radulfus Ardens in Buch 12 u. a. in Kapitel 13 zitiert466, konkretisiert sich in der Weisheitsliteratur zum einen in Form von Klagen über die Wertlosigkeit, Sinnlosigkeit und Schlechtigkeit des Lebens467 oder über seine Hinfälligkeit468. Zum anderen werden die verschiedenen Arten von weltlichen Gütern bzw. materiellem Besitz klar als ‚vanitas‘ gewertet.469 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass gerade das Buch Ecclesiastes im Mittelalter häufig literarisch verarbeitet wurde470, weshalb die Weisheitsliteratur definitiv als einer der primären Ausgangspunkte für die ‚contemptus mundi‘-Litera-
463 Eccle 1, 2: „vanitas vanitatum dixit Ecclesiastes vanitas vanitatum omnia vanitas.“ 464 Vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Nichtigkeit; hier findet sich auch eine umfassende Sammlung einschlägiger Bibelstellen zum Thema. 465 So z. B. in Eccli 13, 10 f., zitiert in Spec. uniu. 12, 132 (P, fol. 152rb): „Ne nimis te deicias! Audi Ecclesiasticum: Attende, ne seductus in stultitia humilieris. Noli esse humilis in sapientia tua, ne humiliatus in stultitia seducaris.“ 466 Spec. uniu. 12, 13 (P, fol. 115rb): „Hinc Salomon: Vanitas uanitatum et omnia uanitas. Quid habet amplius homo de uniuerso labore quod laborat sub sole? Generatio preterit et generatio aduenit, terra uero in eternum stat. Hiis uerbis tres innuuntur nobis esse uanitates.“ 467 Radulfus Ardens zitiert hier in Zusammenhang mit der ‚accidia‘ in Spec. uniu. 12, 7 (P, fol. 113vb) bspw. Iob 10, 1: „Vnde et Iob presentem uitam propter adiunctam amaritudinem fastidit dicens: Tedet animam meam uite mee.“ 468 So z. B. Iob 14, 1, zitiert in Spec. uniu. 12, 125 (P, fol. 147va): „Hinc Iob: Homo natus de muliere, et ideo cum reatu, breui uiuens tempore, et ideo cum metu, repletur multis miseriis, et ideo cum fletu.“ 469 Vgl. das Urteil in Iob 31, 25 über den Wert des Geldes, das in Spec. uniu. 12, 34 (P, fol. 119rb) wörtlich angeführt wird: „Iob quoque se de diuitiis suis gauisum non fuisse sese obligando demonstrat dicens: Si letatus sum super aurum et quod plurima inuenisset manus mea.“ 470 Bekannt sind z. B. die Homiliae in Ecclesiasten des Hugo von Sankt Viktor. Gelegentlich wurde das Buch auch kommentiert (vgl. dazu allgemein SIEBEN, Vanitas mundi 543 f. sowie zum Bild im 12. Jahrhundert DAHAN, Les commentaires).
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3 Die Lehre von der Geringschätzung im Speculum universale
tur gelten kann. Im Vergleich dazu kommt ähnlichen Aussagen im Neuen Testament – bspw. in den paulinischen Briefen471 – eine geringere Bedeutung zu. (2) Ein ähnlicher Grundgedanke spielt auch in der stoischen Ethik eine zentrale Rolle. Bekannt ist die Ansicht der alten Stoiker, dass es nur drei Arten von Dingen gibt, nämlich gute, schlechte und solche, die dazwischenliegen. Gut ist allein die Tugend und schlecht allein die Untugend bzw. das Laster, während allen übrigen Dingen als ‚adiaphora‘, also als ‚nicht Unterschiedenes‘ gewertet werden. Dabei geht es nicht darum, die ‚adiaphora völlig auszublenden und ihnen jede Relevanz für das menschliche Leben abzusprechen, sondern sie richtig zu gebrauchen und dabei genau zwischen bevorzugten bzw. eher nützlichen (‚prohegmena‘), zurückgesetzten bzw. eher schädlichen Dingen (‚apoprohegmena‘) und völlig wertlosen Gegenständen zu unterscheiden.472 Hier lassen sich Parallelen zu der Terminologie des Radulfus Ardens erkennen, der ebenfalls zwischen gut (‚bonus‘), schlecht (‚malus‘) und wertlos (‚uanus‘) unterscheidet, dann aber auch noch von indifferenten Dingen (‚indifferentia‘) ausgeht, die je nach Fall schaden oder nutzen können. Im vorherigen Kapitel konnte bereits gezeigt werden, dass man in Buch 12 immer wieder auf die Verarbeitung stoischer Grundgedanken stößt, wobei Radulfus Ardens viele Details verändert und ausschließlich neuere Stoiker wie Seneca rezipiert hat. Ein Blick in die Werke Senecas, die v. a. auf eine anschauliche und alltagstaugliche Vermittlung der stoischen Philosophie abzielten473, zeigt, dass hier schon die spätere christliche Terminologie, aber auch konkrete Inhalte und Denkmodelle vorgebildet sind. So verwendet Seneca meist den Begriff ‚contemnere‘ und ruft immer wieder dazu auf, die ‚honores‘, ‚opes‘, ‚voluptates‘, die ‚fortuna‘ und auch die ‚mors‘ geringzuschätzen, da diesen Dingen im Vergleich zur Tugend, aber auch zum Wohl des Vaterlandes letztlich keine Bedeutung zukommt.474 Von der Vorstellung, dass in einem übergeordneten oder ideellen ‚summum bonum‘ der wahre Ruhm bzw. das wahre Glück zu finden ist, während materiellen und subjektiv erstrebenswerten Dingen kein wirklicher Wert zukommt, ist es nur noch ein kurzer gedanklicher Weg zu den Überlegungen derjenigen Kirchenväter, die die stoischen Ideen christlich umdeuteten.
471 Vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Nichtigkeit. 472 Vgl. dazu HOSSENFELDER, Philosophie 45–69 und besonders 58–63; ALSZEGHY, Fuite 1576 f.; FORSCHNER, Stoa 188. 473 Vgl. HOSSENFELDER, Philosophie 98. 474 All diese Themen behandelt auch – wie bereits gezeigt wurde – Radulfus Ardens im Kontext der ‚prima distinctio contemptus‘. An folgenden Textbeispielen wird deutlich, das hier durchaus ähnliche Grundgedanken zu finden sind: SEN., Epist. 104, 33 (p. 104): „Vides honorem et notam posse contemni […].“; ebd. 18, 12 f. (p. 49): „[…] incipe cum paupertate habere commercium: aude, hospes, contemnere opes et te quoque dignum finge deo.“; ebd. 70, 9 (p. 70 f.): Quid erat stultius quam mortem contemnere, uenenum timere?“ oder SEN., Dial. VII 7, 4 (p. 173): „summum bonum immortale est […]; at uoluptas tunc cum maxime delectat extinguitur.“
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(3) Hier ist neben nordafrikanischen Theologen wie Tertullian und Cyprian475 zunächst Ambrosius zu nennen, der sich mit dem Motiv der ‚fuga saeculi‘ in seiner gleichlautenden Schrift beschäftigt hat.476 Für die mittelalterliche Gedankenwelt sind die Überlegungen des Augustinus jedoch weitaus bedeutender.477 Obwohl sich nämlich in seinen Werken immer nur kurze Aussagen oder Einwürfe zu dieser Thematik finden, bringt er gerade im Bereich der Ethik neue Aspekte ins Spiel und verwendet dabei Begrifflichkeiten, die später in der mittelalterlichen Weiterführung der ‚contemptus mundi‘-Lehre selbst bei solchen Autoren präsent sind, die – wie Radulfus Ardens – sich in ihren Werken gar nicht unmittelbar mit der Theologie Augustins auseinandersetzen. So bestimmt er zum einen die irdisch-zeitliche Wirklichkeit durch das charakteristische Begriffspaar ‚uti‘ – ‚frui‘ als etwas Ambivalentes, das man gut bzw. auf Gott hin benutzen oder in schlechter Weise genießen kann.478 Damit begründet sich ihre sachgerechte Geringschätzung als ‚contemnenda terrena‘ durch ihren – im Vergleich zu höheren Gütern oder gar dem höchsten Gut – geringeren ontologischen Wert.479 Christus wird dabei als Vorbild charakterisiert480 und Augustinus setzt in prägnanter stilistischer Form die ‚contemptores dei‘ den ‚amatores mundi‘ bzw. die ‚contemptores mundi‘ den ‚amatores dei‘ gleich.481 Zum anderen identifiziert er die bereits biblische grundgelegte Verbindung von
475 Vgl. ALSZEGHY, Fuite 1589–1593 sowie MAYER, Contemptor 1267. 476 In De fuga saeculi greift er einerseits auf stoische Gedankenmodelle, andererseits aber auch auf jüdische Vorbilder zurück (vgl. VOLLENWEIDER, Weltdistanz 129 n. 11). 477 Vgl. MAYER, Contemptor 1267. Auch Augustinus – der die Schriften Senecas gut kannte – rezipierte stoisches Material. Maßgebend ist für ihn aber (neu)platonisches Gedankengut in Gestalt der Philosophie Plotins in Auseinandersetzung mit dem Manichäismus gewesen. Dass die Diskussion um Weltdistanz und Weltbejahung nicht nur im Christentum eine Rolle spielte, zeigt sich daran, dass sich in dieser Frage bspw. auch die Neuplatoniker von der Gnosis abgrenzten (vgl. ALT, Weltflucht 10–16.246–254). 478 Dieser Gedanke findet sich bei Radulfus Ardens bspw. in Spec. uniu. 12, 99 (P, fol. 137ra): „De uana gloria subdendum est hoc preconsiderato quod uanitas alia est rei, alia usus, alia abusus. Prior est nature, secunda necessitatis, tertia uitii. Et tam prima quam secunda est bona, tertia pessima. Bona siquidem est mutabilitas rei, quoniam a Deo creata est. Bona quoque est uanitas usus mutabilis rei, quoniam et a Deo ordinata est. Pessima uero est abusus mutabilis rei, quoniam a diabolo uel ab homine inuenta est.“ 479 Vgl. z. B. AUG., In Psalm. 72, 20 (CCL 39, p. 996): „agitatur anima, transit anima transitura ad contemnenda terrena et concupiscenda aeterna. transitus est ipsius animae in hac cogitatione: ubi fluctuat in quadam tempestate, peruentura est ad portum.“ 480 Vgl. z. B. AUG., Epist. 220, 1 (CSEL 57, p. 432): „[…] quam nobis promisit Christus, qui propterea hic exhonoratus atque crucifixus est, ut doceret nos bona saeculi huius magis contemnere quam diligere et hoc amare et sperare ab illo, quod in sua resurrectione monstrauit […].“ 481 Z. B. im Kontext seiner Lehre von der ‚ciuitas dei‘ und der ‚ciuitas diaboli‘ in AUG., In Psalm. 141, 15 (CCL 40, p. 2055 f.): „audi mundum et mundum aperte uno loco in scriptura sancta, in euangelio: mundum quem fecit deus; mundum quem regit diabolus, id est, dilectores mundi. homines enim ipsos fecit deus; dilectores mundi non eos fecit. mundum enim diligere peccatum est; peccatum autem non fecit deus.“ Vgl. dazu auch HÜHN, Weltverachtung.
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3 Die Lehre von der Geringschätzung im Speculum universale
der ‚uanitas‘ und einer Befangenheit in der Sünde oder im Irrtum mit dem Laster des Stolzes bzw. der Eitelkeit und ordnet in diesen Kontext auch den ‚amor laudis‘ ein.482 Diese auf engstem Raum angesprochenen Aspekte repräsentieren nur einen kleinen, lückenhaften Ausschnitt aus Augustins Überlegungen zu diesem Thema. Dass sie alle entweder in gleicher oder nur leicht abgewandelter Form auch im Speculum universale gefunden werden können, macht deutlich, wie groß der Einfluss des augustinischen Denkens im Mittelalter und damit auch auf Radulfus Ardens war.483 Im Prinzip ist z. B. in der soeben erwähnten, auf den ersten Blick paradox anmutenden Gegenüberstellung von ‚amatores‘ und ‚contemptores‘ allein schon terminologisch der Weg für eine komplementäre Betrachtungsweise des Phänomens geebnet, obgleich Augustinus selbst noch nicht in diese Richtung gedacht hat. (4) Eine weitere wichtige Quelle der mittelalterlichen ‚contemptus mundi‘-Lehre waren Vorstellungen über die asketische Bewegung im frühen Christentum. Im Zuge dessen trennten sich Asketen von ihren Gemeinden, um in größtmöglicher Distanz zur Welt in einer religiösen Sonderwelt zu leben.484 Die beiden gewissermaßen konkurrierenden Lebensmodelle der auf eremitische Einsamkeit ausgerichteten Anachorese und des gemeinschaftlichen, meist durch eine Regel bestimmten Koinobitentums waren dabei in Gestalt von Mönchsviten und Heiligenlegenden wie bspw. den Vitae patrum eine wichtige Inspiration für die mittelalterlichen Schriftsteller.485 Dieses lokal teilweise sehr unterschiedliche Textcorpus, dessen Kern Lebensberichte von Mönchsvätern bildeten, war als ‚Hausbuch fast jeden Klosters‘ im 12. Jahrhundert sehr weit verbreitet.486 Die darin enthaltenen Episoden, die meist die Lebenssituation ‚in eremo‘ thematisieren und dabei Lehrgespräche und Aussprüche der Eremiten wiedergeben, kreisen letztlich immer um das asketische Ideal, die Welt zurückzulassen, um nicht durch weltliche Betriebsamkeit und die damit verbundene Sündengefahr vom ei-
482 So schreibt er in AUG., Ciu. 5, 13 (CCL 47, p. 146 f.) über die Römer: „qui causa honoris laudis et gloriae consuluerunt patriae, in qua ipsam gloriam requirebant, salutemque eius saluti suae praeponere non dubitauerunt, pro isto uno uitio, id est amore laudis, pecuniae cupiditatem et multa alia uitia conprimentes.“ Vgl. auch REINER, Eitelkeit. MACQUEEN, Contemptus Dei arbeitet heraus, dass Augustinus die ‚superbia‘ als ‚initium omnis peccati‘ ansieht und ihr eine ganze Reihe von Laster zuorndet, wie z. B. die ‚auaritia‘, die ‚libido dominandi‘, den ‚amor sui‘, die ‚cupiditas‘ und den ‚contemptus dei‘. All diese Themen werden in auch im Speculum universale angesprochen. 483 Wohl aus diesem Grund wurde Augustinus auch die Autorschaft eines wohl im Mittelalter verfassten Sermo de contemptu mundi (PL 40, col. 1215–1218) zugeschrieben. In diesem kurzen Text (besoders in den Kapiteln 4–7) finden sich viele Topoi des Themas, wie ein Aufruf zur Armut und tätigen Barmherzigkeit oder die Ablehnung aller weltlichen Güter. 484 Vgl. z. B. FRANK, Anachoreten. 485 Vgl. ALSZEGHY, Weltverachtung 197. 486 SCHULZ-FLÜGEL, Vitae Patrum 289.
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gentlich Wichtigen – nämlich der Hinwendung zu Gott – abgehalten zu werden.487 Damit kommt in dieser Strömung der ‚contemptus mundi‘-Gedanke in seiner radikalsten Form zum Ausdruck: Hier geht es nicht mehr um eine rein innerliche Distanz zur Welt, sondern das Ideal ist eine größtmögliche räumliche Trennung und eine Bedürfnislosigkeit an der Grenze des Ertragbaren. In der Zeit des Hochmittelalters, in der immer wieder die Verweltlichung der Kirche angeprangert wurde und im Zuge eines religiösen Aufbruchs viele Häresien, aber auch viele Reformorden entstanden, fielen derartige Forderungen naturgemäß auf einen fruchtbaren Boden.488 Radulfus Ardens war damit vertraut und zitiert auf der einen Seite – wie bereits mehrfach erwähnt wurde – die Vitae patrum häufig, um seine theoretischen Bestimmungen anschaulich zu machen. Dabei hebt er auch immer wieder die herausragende Tugendhaftigkeit einzelner Protagonisten hervor. Auf der anderen Seite übt er aber auch direkt und indirekt Kritik an der Radikalität und Kompromisslosigkeit der asketischen Forderungen: Indirekt, indem er bspw. in Buch 14 der Tugend der körperlichen Enthaltsamkeit (‚abstinentia‘) die natürliche Wiederherstellung des Körpers (‚naturalis refectio corporis‘) als Korrektiv zur Seite stellt,489 direkt, indem er das Verhalten einzelner Protagonisten, wie bspw. Abbas Simon, mit deutlichen Worten kritisiert.490 Durch die schlaglichtartige Beleuchtung dieser vier Aspekte – die wie gesagt v. a. deshalb aus der Fülle der Strömungen herausgegriffen wurden, da sie sich im Speculum universale wiederfinden – entsteht ein erster Eindruck, wie divers und vielgestaltig die Grundlagen der mittelalterlichen ‚contemptus mundi‘-Lehre waren. In jedem Fall konnte aber andeutungsweise umrissen werden, welche Ideale und welche Grundgedanken darin eine Rolle spielen.
3.2 Zwei typische Beispiele der zeitgenössischen ‚contemptus mundi‘-Literatur in Gegenüberstellung mit dem ‚contemptus‘-Begriff im Speculum universale 3.2.1 Allgemeine Informationen zur mittelalterlichen ‚contemptus-mundi‘-Literatur Die mittelalterliche ‚contemptus mundi‘-Literatur ist ebenso divers wie ihre Quellen selbst. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Verarbeitung der Thematik in keiner
487 Vgl. WILLIAMS, Vitas patrum 1765 f. 488 Vgl. zu diesen Entwicklungen z. B. BOSHOF, Europa 154–173 und zum Zusammenhang mit der Vorstellung der ‚vanitas mundi‘ vgl. ALSZEGHY, Fuite 1600 f. 489 Vgl. dazu im Detail JANOTTA, Soteriologie 302 f. 490 Beschrieben unter Punkt 2.1.3.2 des vorliegenden Teils.
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Weise an eine bestimmte literarische Form gebunden ist.491 So finden sich u. a. Gedichte, Briefe, Predigten, Bibelkommentare, Traktate und Dialoge, in denen die ‚vanitas mundi‘ und das damit verbundene Lebensideal beschrieben werden. Diese literarische Vielgestaltigkeit steigert sich noch dadurch, dass das Thema häufig gar nicht in einer eigenständigen Schrift, sondern in einzelnen Kapiteln, Traktaten oder Büchern behandelt wird492, wie es ja auch beim Speculum universale der Fall ist. Das genrebildende Kriterium ist demnach also nicht die äußere Form, sondern ein bestimmtes Arsenal von Kernthemen wie Reichtum, Macht- und Ehrenstellungen, Anerkennung, körperliches Wohlbefinden und Gesundheit, an deren Beispiel die negativ erfahrenen Gegebenheiten der faktischen menschlichen Existenz der Aussicht auf ewiges Glück und Vollendung durch Gott gegenübergestellt werden. Ein großer Teil dieser Schriften entstand im 11. und 12. Jahrhundert im näheren Umfeld von geistigen Zentren wie Cluny, Hirsau oder Sankt Viktor, die auf eine Erneuerung des monastischen und kirchlichen Lebens hinarbeiteten.493 Damit steht die ‚contemptus mundi‘-Literatur unmittelbar in Zusammenhang mit den religiösen Reformen und der spirituellen Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit. Gerade im monastischen Bereich ist daher der Aufruf zur ‚fuga mundi‘ oft gleichbedeutend mit einem Aufruf zum Eintritt in den jeweiligen Reformorden.494 Eine neuere zusammenhängende Darstellung über die ‚contemptus mundi‘-Literatur gibt es bislang nicht.495 In den 60erJahren des vergangenen Jahrhunderts wurden einige Bemühungen in diese Richtung unternommen, die jedoch nicht abgeschlossen oder weiterverfolgt wurden496, sodass man sich für einen Gesamtüberblick in erster Linie auf neuere Lexikonartikel497 stützen muss. Daneben sind in den letzten Jahren immer wieder Einzelbeiträge veröffentlicht worden.498 Um ein genaueres Bild davon zu bekommen, wie unterschiedlich diese geistigen Strömungen literarisch verarbeitet wurden, werden im Folgenden einige Beispiele genannt. Sie alle könnten zumindest rein theoretisch Radulfus Ardens
491 Vgl. GNÄDINGER, Contemptus mundi 187. 492 Vgl. SIEBEN, Vanitas mundi 543. 493 Vgl. GNÄDINGER, Contemptus mundi 187. 494 Vgl. ALSZEGHY, Fuite 1600; SIEBEN, Vanitas mundi 542. 495 So schreibt LEWIS, Introdoction 66 n. 5: „The history of the pervasive contemptus mundi tradition has yet to be written […].“ An diesem Zustand hat sich bis heute wenig verändert (vgl. GIRAUD, Tradition littéraire 67–69). 496 In den 60er Jahren hat z. B. der Belgier Robert Bultot den Versuch unternommen, die Thematik in einer groß angelegten, zwölfbändigen Reihe zu erschließen. Im Zuge dessen sind jedoch nur die zwei Teilbände zum 11. Jahrhundert (BULTOT, Mépris du monde 4,1 und 4,2) sowie zahlreiche Einzelbeiträge (wie z. B. BULTOT, La Chartula; DERS., Grammatica; DERS., Misère et dignité) entstanden. 497 Z. B. ALSZEGHY, Fuite; GNÄDINGER, Contemptus mundi; HÜHN, Weltverachtung; SIEBEN, Vanitas mundi; DERS., Vanité; SILAGI, Contemptus mundi. 498 Aktuell erscheinen gelegentlich kleinere Beiträge zu dem Thema, die einzelne Facetten beleuchten (z. B. GIRAUD, Tradition littéraire oder DAHAN, Les commentaires).
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bekannt gewesen sein, obgleich er in Buch 12 nur wenige zeitgenössische Werke zitiert. Im 11. Jahrhundert treten zunächst v. a. Mönche als Verfasser von ‚contemptus mundi‘-Schriften hervor.499 Hier ist z. B. das kurze, in Hexametern abgefasste Carmen de contemptu mundi500 des Roger von Caen († 1095) zu nennen. Ausführlich hat sich auch Petrus Damiani († um 1072) mit der ‚vanitas mundi‘ beschäftigt; dabei ist dieses Thema nicht nur in beiden Traktaten Apologeticum de contemptu saeculi und De fluxa mundi gloria et saeculi despectione präsent, sondern spielt in seinem gesamten literarischen Werk eine wichtige Rolle501. Auch im 12. Jahrhundert entstehen zahlreiche Werke in einem monastischen Kontext, wie bspw. die Mitte des Jahrhunderts entstandene und ebenfalls metrisch abgefasste Schrift De contemptu mundi des Bernhard von Cluny († um 1141), die durch beißende Satire gegen die weltliche Aktivität und die vergänglichen Güter geprägt ist oder der Konrad von Hirsau († um 1150) zugeschriebene Dialogus de mundi contemptu502. Jedoch beschäftigt die Thematik auch zahlreiche Theologen im Umfeld der neu entstehenden Kathedralschulen wie bspw. Alanus von Lille, der bspw. zu Beginn seiner Summa de arte praedicatoria den ‚contemptus mundi‘ als ein zentrales Thema der Predigt bezeichnet503. Auch sonst kommt er in seinen Werken öfter darauf zu sprechen, obwohl er anderseits in der Auseinandersetzung mit den Katharern auch immer wieder den Eigenwert der Schöpfung betont.504 Diesbezüglich ist auch das von Radulfus Ardens zitierte Carmen 124 ‚de IV bonis et IV malis‘505 des Hildebert von Lavardin zu nennen, das die Vorstellung des ‚contemptus mundi‘ und seine Kernthemen besonders prägnant enthält und daher sprichwörtlich verbreitet war.506 Auch dem englischen Kardinal Robert Pullus († um 1146) wird eine kurze Rede bzw. Predigt zu diesem Thema mit dem Titel De omnibus humanae vitae necessariis507 zugeschrieben. Die bis hierher genannten Schriften stellen nur einen kleinen Ausschnitt des vielfältigen und bisher nur wenig erschlossenen Gesamtbefundes dar508, zumal 499 Vgl. dazu z. B. die Überblicksdarstellungen in SIEBEN, Vanité 263; ALSZEGHY, Fuite 1600–1602; SILAGI, Contemptus mundi. 500 Vgl. dazu BULTOT, Mépris du monde 4,2. 501 So ruft er immer wieder dazu auf, sich von weltlichen Aktivitäten fernzuhalten, öffentliches Ansehen, das Leben in der Ehe, die Sexualität und die ‚natura exterior‘ des Menschen überhaupt geringzuachten und sich auf die Askese zu konzentrieren (vgl. dazu im Detail BULTOT, Mépris du monde 4,1). 502 Ediert von Robert Bultot in AMNam 19, p. 41–71. Zu ihrem Inhalt und der Frage nach der Autorschaft Konrads vgl. BULTOT, Introduction. 503 Vgl. SIEBEN, Vanitas mundi 543. 504 Detailliere Angaben zu den Ansichten des Alanus von Lille finden sich bei ALSZEGHY, Weltverachtung 199–207. 505 Ediert in PL 171, col. 137. 506 Vgl. ALSZEGHY, Fuite 1602; SILAGI, Contemptus mundi. 507 Vgl. dazu COURTNEY, Unpublished Treatise sowie ALSZEGHY, Weltverachtung 198 n. 1d. 508 Zahlreiche weitere Schriften finden sich z. B. in dem ausführlichen Überblick RUDOLF, Ars moriendi 25–39.
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viele Schriften anonym überliefert sind509 oder sich die Zuschreibung zu einem bestimmten Autor als schwierig gestaltet. Eine besondere Bedeutung für die weitere Rezeption der ‚contemptus mundi‘-Lehre in der Zeit der Hochscholastik und sogar darüber hinaus wird allerdings zwei bis jetzt noch nicht genannten Schriften zugewiesen: Erstens dem Dialog De vanitate rerum mundanarum des Hugo von Sankt Viktor. Er ist nicht nur deshalb bedeutend, weil er unmittelbar von Hugos Schülern wie bspw. Richard von Sankt Viktor († 1173) weiterverarbeitet wurde,510 sondern auch, weil er auf den Gedanken Augustins aufbaut und diese weiterführt.511 Zweitens der Abhandlung De miseria conditionis humanae, die Lothar von Segni († 1216), der spätere Papst Innozenz III., vor seinem Pontifikat verfasst hatte. Aufgrund ihrer erstaunlich breiten Rezeption bis in die Frühe Neuzeit hinein gilt sie als eine Summe der ‚contemptus mundi‘-Themen, die alle zentralen Aspekte des ‚vanitas mundi‘-Gedankens in einer leicht zugänglichen Form präsentiert.512 Diese beiden Schriften werden nun genauer in den Blick genommen und mit den Aussagen des Radulfus Ardens zum ‚contemptus‘ verglichen. Warum, so ließe sich fragen, wurden speziell diese beiden Werke für die Gegenüberstellung herausgegriffen? Bei genauerer Betrachtung lassen sich einige Kriterien nennen, die einen Vergleich zwischen De vanitate rerum mundanarum, De miseria conditionis humanae und dem 12. Buch des Speculum universale gerechtfertigt erscheinen lassen. Zunächst zu De vanitate rerum mundanarum: Ein genauerer Blick darauf legt sich v. a. deshalb nahe, weil Hugo von Sankt Viktor ein Theologe war, den Radulfus Ardens gut kannte. Zudem ist De vanitate rerum mundanarum eine Schrift, die nicht unmittelbar aus dem monastischen Kontext stammt, der für Radulfus Ardens, der ja selbst kein Mönch, sondern eher ein Stiftskanoniker war, allenfalls eine sekundäre Rolle spielte. Vielmehr war Hugo von Sankt Viktor – ähnlich wie Radulfus Ardens wohl auch – viele Jahre in der Lehre tätig und verfasste im Zuge dessen zahlreiche Schriften didaktischen Charakters.513 Von daher ist es keineswegs ausgeschlossen, dass Radulfus Ardens der Dialog Hugos bekannt war. Im Fall von De miseria conditionis humanae ist die Sachlage anders: Die Schrift ist in den 90er Jahren des 12. Jahrhunderts und damit in etwa zeitgleich mit dem
509 Vgl. ALSZEGHY, Weltverachtung 197 f. Das wichtigste anonyme Werk in dieser Hinsicht ist die dichterische Chartula, die viele Aspekte des Themenfeldes enthält und rege rezipiert wurde (vgl. dazu SILAGI, Contemptus mundi sowie im Detail BULTOT, La Chartula). 510 Vgl. dazu LAZZARI, Contemptus mundi 94–114. 511 De vanitate mundi wird daher in der Forschungsliteratur immer wieder als typisches Beispiel für die ‚contemptus mundi‘-Literatur angesehen (vgl. z. B. ALSZEGHY, Fuite 1602; SIEBEN, Vanité 262 f.; ALSZEGHY, Weltverachtung 198; OTT, Vanitas; HÜHN, Weltverachtung 524). 512 Vgl. GNÄDINGER, Contemptus mundi 187 oder EGGER, Some Remarks 26. Diese Bewertung findet sich in ähnlicher Form oft in der Forschungsliteratur: So weist bspw. FUHRMANN, Papsttum 118 darauf hin, dass Innozenz III. in dieser Schrift wohl den Nerv der Zeit getroffen hat und HOWARD, WoldAlienation 55 bezeichnet sie als „great classic of the genre.“ 513 Vgl. dazu z. B. BERNDT, Hugo von St. Victor 97 f.
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Speculum universale entstanden. Von daher ist wohl auszuschließen, dass einer von beiden Autoren die Arbeit des anderen kannte, jedoch bildet die Schrift von Lothar von Segni (Innozenz III.) aufgrund ihrer enormen Beliebtheit514 eine gute Kontrastfolie, auf der die Eigenheiten der ‚contemptus‘-Lehre des Radulfus Ardens im Vergleich mit dem Geschmack der damaligen Zeit klarer hervortreten können. In dem nun unternommenen Vergleich geht es darum, ausgehend vom Speculum universale in den beiden Werken erstens nach inhaltlichen Überschneidungen bzw. Unterschieden zu suchen und zweitens danach zu fragen, inwieweit die ‚contemptus mundi‘-Lehre mit einer Seelenlehre verknüpft ist und ob der ‚contemptus‘ dort in irgendeiner Weise als Affekt behandelt wird. Drittens ist von Interesse, ob und in welcher Form dort komplementäre Gedankengänge entdeckt werden können.
3.2.2 Beispiel 1: De vanitate rerum mundanarum von Hugo von Sankt Viktor Bei der wohl in den späten 20er Jahren entstandenen, sicher aber nach 1130/31 veröffentlichten515 Schrift De vanitate rerum mundanarum handelt es sich um einen Dialog, der sich insgesamt über vier Bücher erstreckt. Da sich lediglich die ersten beiden Bücher mit der im Titel angekündigten Thematik beschäftigen – in den Büchern 3 und 4 geht es um den Gang der Weltgeschichte auf Christus hin und die Ausbreitung des Christentums – wurde lange Zeit darüber spekuliert, ob es sich überhaupt um ein einheitliches Werk handelt.516 Diese und zahlreiche weitere Fragen konnten jedoch jüngst im Zuge der Editionsarbeiten von Cédric Giraud geklärt werden, sodass die Einheit des Werkes als bewiesen gelten kann und erstmals eine zuverlässige Textgrundlage verfügbar ist.517 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit sind demgemäß nur die Bücher 1 und 2 relevant, in denen Hugo die ‚vanitas mundi‘ anhand ihrer Erscheinungsformen in Gestalt eines Lehrer-Schüler-Gesprächs plastisch beschreibt, wobei die ‚Ratio‘ die Rolle des Lehrers und die ‚Anima‘ die Rolle des Schülers übernimmt.518
514 Vgl. z. B. BULTOT, Misère et dignité 441. 515 Vgl. GIRAUD, Introduction 60–65. 516 Vgl. z. B. SCHLETTE, Nichtigkeit 69–72. 517 Das Ergebnis dieser Forschungen ist der im Jahr 2015 erschienene Band 269 der Reihe CCM, der neben dem Text von De vanitate rerum mundanarum auch den Dialogus de creatione mundi enthält. Eine umfassende Beschreibung der handschriftlichen Überlieferung findet sich in der Einleitung der Edition (GIRAUD, Introduction), durch deren Erforschung auch zahlreiche literaturhistorische Fragen geklärt werden konnten (ebd. 47–65). 518 Vgl. z. B. SCHLETTE, Nichtigkeit 70; in der Literatur finden sich verschiedene Bezeichnungen der Dialogpartner, da in den Handschriften und auch in den älteren Editionen unterschiedliche Varianten vorkommen. Erst durch die Untersuchungen von Cédric Giraud wurde deutlich, dass es sich bei ‚Anima‘ und ‚Ratio‘ um die ursprünglichen bzw. richtigen Bezeichnungen handelt (vgl. GIRAUD, Introduction 50–54).
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Nach einer kurzen Vorrede, die bereits über die Hinfälligkeit und Unzulänglichkeit der Welt klagt,519 führt die ‚Ratio‘ (R.) die ‚Anima‘ (A.) in fünf Gedankengängen zu der Erkenntnis, dass tatsächlich alle weltlichen Dinge als ‚vanitas‘ zu bewerten sind. Im Zentrum dieser gedanklichen Schritte steht jeweils ein irdischer Gegenstand, der zunächst als erstrebenswertes Gut erscheint, dann aber Schritt für Schritt dekonstruiert und schließlich völlig entwertet wird. Dabei macht Hugo deutlich, dass er den ‚mundus‘ aus der Perspektive der menschlichen Betriebsamkeit (‚opus hominum‘) in den Blick nimmt und sein Wesen als Schöpfungswerk Gottes (‚opus dei‘) zunächst außenvorlässt.520 Das Gespräch ist stark formalisiert: Zu Beginn fordert die ‚Ratio‘ die ‚Anima‘ stets auf, das jeweilige Phänomen zu beschreiben (‚quid uides?‘) und zu bewerten (‚quid tibi uidetur?‘). Die Bewertung fällt dabei spontan stets positiv aus, jedoch wird der ‚Anima‘ durch die folgenden mäeutischen Fragen der ‚Ratio‘ letztendlich immer klar, dass es sich dabei in Wahrheit um wertlose Dinge handelt (‚R. Quid tibi uidetur? Quale est hoc opus hominum? A. Vanitas est et uanitas uanitatum‘). Diese phänomenologisch-pädagogische Methode mach den praktisch-ethischen Charakter der Schrift deutlich. Zudem wird klar, dass Hugo den Begriff ‚mundus‘ schlichtweg als das Lebensgefüge versteht, in dem sich der Mensch vorfindet.521 Da die inhaltlichen Aspekte innerhalb dieser fünf Gedankengänge den ersten Vergleichspunkt zum Speculum universale darstellen, werden sie im Folgenden kurz zusammengefasst:522 – Im ersten Gedankengang geht es um die Gefahren auf einer Seefahrt. Auf Nachfrage der ‚Ratio‘ schildert die ‚Anima‘ die friedliche Fahrt eines Schiffes über das ruhige Meer sowie die freudige Ausgelassenheit der Seeleute und wertet die Szene als ‚magnum gaudium‘ und sogar als ‚magna felicitas‘.523 Da kurz darauf jedoch ein Sturm aufzieht, das Schiff untergeht und die Seefahrer ertrinken, er-
519 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 137): „O munde immunde, quare dileximus te? Hic est ergo fructus tuus? Haec promissio tua? Haec spes nostra? Quare sperauimus? Quare credidimus? Quare cogitare noluimus? Ecce quomodo decepti sumus, nichil reliqui habemus, inanes remansimus. O munde immunde, quare dileximus te?“ 520 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 140): „R. Quid ergo tibi uidetur? Qualis est species eius? A. Pulchra ualde. Miror tale opus Dei. R. Deum in cunctis mirabilem inuenis, omnes iam hoc cognouerunt. Sed sileamus interim de operibus Dei. Opera haec hominum tanta ac talia quae uides nondum admirari cepisti?“ 521 Vgl. SCHLETTE, Nichtigkeit 71.17. 522 Eine ausführliche Beschreibung dieses Abschnitts findet sich bei SCHLETTE, Nichtigkeit 69–103. 523 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 141): „R. Quid uides? A. Nauigantes uideo in mari et magnam tranquillitatem maris magnamque serenitatem aeris, uentis quoque secundis leniter spirantibus, optato cursu nauigium ferri, uiros autem per nauem discumbentes ad epulas et canentes in lyris et tibiis et citharis et omni genere dulcis cantilenae auditum mulcentes, ipsis etiam aquis melodia resultantibus pisces maris greges circumducere, et exsultantibus alludendo laetitiam augere. R. Quid tibi uidetur? A. Quid, nisi magnum gaudium, magna iocunditas et, si esse posset diuturna magna felicitas?“
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kennt die ‚Anima‘, wie kurzlebig und trügerisch die Reisefreuden waren und bewertet das Gesehene dementsprechend.524 – Sodann wenden sich die beiden Dialogpartner einer Handelskarawane zu, die mit großen Reichtümern beladen ist. Die ‚Anima‘ sieht in den Waren und dem Gewinn, den sie wohl auf dem Markt einbringen werden, zunächst die gerechten Früchte harter Arbeit.525 Erneut ist das Glück jedoch nur von kurzer Dauer: Eine Räuberbande überfällt die Karawane, tötet oder vertreibt die Händler und raubt die Waren. Die ‚Anima‘ erkennt die ‚uanitas‘ des Reichtums und der ‚auaritia‘.526 – Der Überfluss im Haus eines Reichen bildet die Szenerie im dritten Gedankengang. Die ‚Anima‘ ist durch die beiden vorherigen Beispiele schon sensibilisiert und vermutet bereits, dass es glücklicher macht, wenig zu brauchen (‚paucis indigere‘) als viel zu besitzen (‚multa possidere‘). Die ‚Ratio‘ bestätigt dies und beschreibt in einem längeren Monolog die zahlreichen Sorgen (‚sollicitudines‘) des Reichen, der z. B. ständig um seinen Besitz fürchten muss und seinen Mitmenschen verhasst ist.527 – Im vierten Beispiel betrachten die beiden eine Hochzeitsszene. Wieder bewertet die ‚Anima‘ das Gesehene als ‚magna letitia‘ und zählt die Vorzüge der Ehe auf. Sie wird jedoch von der ‚Ratio‘ darauf hingewiesen, dass sie auch die negativen Auswirkungen betrachten muss: Denn selten gibt es eine vollkommene ‚con-
524 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 141 f.): „R. Quid igitur uides? A. Video undique nigrescere celum et acri uentorum concursu nubes agitari, conturbari mare, fluctus intumescere et quasi ab imo euersum fundo totum in cumulum ferri. Heu quid laudaui? R. Quid est? A. O miseri, quid uobis cum mari? […] Prius uobis inaniter exsultantibus pisces maris alluserunt, nunc uos naufragos et miserabiliter abiectos pisces maris in pastum accipiunt. R. Quid tibi uidetur? Quale est hoc opus hominum? A. Vanitas est et uanitas uanitatum.“ 525 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 142 f.): „R. Quid uides? A. Video homines pergentes uiam suam, multis et magnis mercibus onustos, camelos innumerabilies onera diuersa portantes, plaustra plurima et bigas non paucas in comitatu euntium […]. R. Quid tibi uidetur? A. Studium satis laboriosum ego uideo, sed rerum nouitas et lucri cupiditas dulcia laborantibus solatia praestant.“ 526 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 143 f.): „R. Quid uides? […] A. Vno pariter impetu descendunt, et quasi uiri latrones ad diripiendam praedam ueniunt. Iam uiatores nostros anxios et trementes circa sarcinas suas conglobari uideo […]. Hei michi, iam alios necari, alios spoliari conspicio, alios mortuos cadere, alios uix nudos effugere uideo. […] Quia et illos in mortem miseram duxit auaritia, et istos fugientes a morte excipit morte maior miseria. R. Quid tibi uidetur? Quale est hoc opus hominis? A. Vanitas est et uanitas uanitatum.“ 527 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 144 f.): „R. Quid uides? A. Video domum diuitis. R. Quid ibi uides? A. Rerum omnium affluentiam, natos proficientes, seruos alacres, fecundos greges, horrea plena, apothecas redundantes, in uita sanitatem, in abundantia pacem, in pace securitatem, in securitate felicitatem. R. Quid tibi uidetur? A. Nichil ego hic dolendum uel timendum uideo. Prioribus tamen exemplis edocta, temere deinceps quempiam beatificare non presumo. […] R. Quid ergo plus felicem facit: multa possidere an paucis indigere? A. Magis paucis indigere quam multa possidere. […] R. Si mala pauperis et diuitis comparare uolueris, diuitem magis quam pauperem miserum agnoscis. Diues enim quanto plura possidet, tanto maiorem sollicitudinem habet.“
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cordia animorum‘ zwischen den Ehegatten und falls man sich auseinanderlebt, kann man das Band der Ehe nicht wieder lösen.528 – Im fünften und letzten Gedankengang nehmen die beiden Dialogpartner die Wissenschaften der damaligen Zeit in den Blick. Die ‚Anima‘ bewertet das Streben nach Wissen als positiv und sieht es gar als gewinnbringendste Tätigkeit für den Menschen an. Die ‚Ratio‘ zeigt dagegen auf, dass der Mensch nur Scheinwissen ansammeln kann und nicht einmal in der Lage ist, das eigene Selbst zu erfassen, geschweige denn den Dingen auf den Grund zu gehen. Vielmehr führt die wissenschaftliche Tätigkeit oft auch noch zu moralischen Fehlhaltungen.529 An diesen Ausführungen wird deutlich, dass das Weltverständnis Hugos vornehmlich durch die Frage nach dem Heil des Menschen geprägt ist und die abstrakt-metaphysische Frage nach dem Wesen der Welt letztlich keine Rolle spielt.530 Von daher entwirft er im zweiten Buch auch ein Lebensmodell, das dieser Heilsvorstellung entspricht. Zu Beginn bekräftigt die ‚Anima‘, dass sie sich von der Liebe zur gegenwärtigen Welt (‚amor presentium‘) abgewandt hat und nun die zukünftigen Güter bzw. die eschatologische Vollendung (‚desiderium futurorum‘) begehrt.531 Auf dieser Grundlage empfiehlt ihr die ‚Ratio‘, sich gänzlich aus der Sphäre des äußeren Lebens in den geschützten Bereich (‚archa‘) des Herzens (‚cor humanum‘) zurückzuziehen und ein kontemplatives Leben zu führen.532 Hier tritt deutlich hervor,
528 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 146 f.): „R. Quid uides? A. Video nuptias celebrari. R. Quid tibi uidetur? A. Magna letitia ibi est, magnus ornatus et apparatus multus et, ut quod michi uidetur non taceam, hoc opus iccirco ceteris operibus hominum beatius iudico […]. R. Recte de bonis nuptiarum iudicare posses, si etiam mala earum attenderes. Nam quia solum bona et non mala nuptiarum consideras, iccirco in earum consideratione rectam iudicii censuram non conseruas.“ 529 HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 149 f.): „R. Quid uides? A. Scolam discentium uideo. Magna est multitudo, diuersas ibi etates hominum conspicio, pueros, adolescentes, iuuenes, senes, diuersa quoque studia. […] Hoc autem siue otium negotiosum, siue negotium otiosum appellandum sit, cunctis humanis actionibus, tuo quoque iudicio preferendum existimo, eo quod nichil transitorium, nichil caducum, sed quod eternum est, sapientie decus per id mentibus inseritur et radix eius amplius non eradicanda plantatur. R. Imago ueritatis fallit te. Nam et ista est consuetudo mundi huius ut id quod magis ad animos hominum illaqueandos praeparat, ne caueri aut uitari possit, quadam similitudine ueritatis intexat. Error enim, quanto manifestius agnoscitur, tanto citius reprobatur; occultus autem, dum foris speciem ueritatis exerit, intus uenenum falsitatis infundit.“ Vgl. auch SCHLETTE, Nichtigkeit 89. 530 Vgl. SCHLETTE, Nichtigkeit 88. 531 HUGO S. VICT., Vanit. 2 (CCM 169, p. 154 f.): „A. Sicut olim, cum mundum istum existimaui stabilem, species eius me accendebat ad amorem presentium, ita nunc mirum in modum eius mutabilitas me prouocat ad desiderium futurorum. Rapior affectu et trahor desiderio quo currunt omnia et iam nunc in rebus hoc ipsum quod transeunt diligo, quia ex ipsa imitatione et exemplo uniuersorum ad transeundum hinc amplius inardesco.“ 532 HUGO S. VICT., Vanit. 2 (CCM 169, p. 156–159): „R. Contemplare ergo Deum quasi sursum in summo, mundum autem hunc deorsum in imo. […] Deinde considera humanum animum quasi in quodam medio collocatum […]. A. Quia prius de diluuio mentionem feceras, uidetur michi quasi
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dass Hugos Theologie eine stark augustinische Prägung aufweist, denn bereits Augustinus ging auf dem philosophischen Fundament des Neuplatonismus davon aus, dass der Mensch im Inneren seiner Seele seinen Ursprung und damit Gott findet und betrachten kann.533 Dies zeigt sich auch an der Terminologie: Während der nach außen gerichtete ‚sensus carnis‘ die sichtbaren, aber vergänglichen und hinfälligen Dinge begehrt (‚concupiscere‘), findet die ‚mens‘ in ihrem Inneren das höchste bzw. ewige Gut. Dass diese Umlenkung der Liebe, der Affekte und der Gedanken auf die geistigen Güter gelingt, gewährleistet die Barmherzigkeit Gottes, auf die man hoffen und für die man beten muss.534 Diese überblicksartige Skizze der Gedankenführung in den ersten beiden Büchern genügt für die Zwecke der vorliegenden Arbeit, weil daran diejenigen Charakteristika der ‚contemptus mundi‘-Lehre Hugos hervortreten, die sich mit den Vorstellungen des Radulfus Ardens vergleichen lassen. Allgemein lässt sich in dieser Hinsicht zunächst einmal feststellen, dass beide Autoren ein ähnliches Weltverständnis haben: Es geht nicht um einen kosmisch-metaphysischen Weltbegriff, sondern um einen praktisch-ethischen, in dem ‚mundus‘ mit den vergänglichen Gegenständen der äußerlich wahrnehmbaren bzw. sichtbaren Sphäre im Gegensatz zu den ewigen Gütern Gottes, die der Mensch in seinem Inneren findet, gleichzusetzen ist. Damit handelt es sich letztlich trotz der teilweise drastisch-abwertenden (größtenteils augustinischen) Terminologie, auch nur um eine praktische bzw. relative und nicht um eine prinzipielle Abwertung der weltlichen Sphäre. Beiden Autoren geht es also v. a. darum, ernüchternde Lebenserfahrungen im Umgang mit den weltlichen Dingen zu präsentieren und dadurch zu einem Umdenken bzw. zu ethischasketischen Konsequenzen zu ermutigen. Die Herangehensweise unterscheidet sich in den beiden Werken dagegen stark: Während die meist nüchtern-definierenden Aussagen im Speculum universale allgemein fest in einem übergeordneten systematischen Rahmen verankert sind, handelt es sich bei De vanitate rerum mundanarum um ein insgesamt lockeres, durch Dichtersprache und zahlreiche Allegorien unterhaltsam
nunc consequenter quamdam specialis archae formam in corde humano effingas. […] R. […] Qui ergo seipsum, ut ita dicam, interius intrans et intrinsecus penetrans transcendit, ille ueraciter ad Deum ascendit. Quando autem homo per sensus carnis ad uisibilia ista quae transitoria sunt et caduca concupiscendo exit, tunc nimirum a dignitate conditionis suae quasi ad infima quaedam et abiecta descendit. Quod ergo intimum est, hoc est proximum et supremum et eternum; et quod extremum est, hoc est infimum et longinquum et transitorium.“ Vgl. auch GIRAUD, Introduction 49. 533 Vgl. z. B. SCHLETTE, Nichtigkeit 40. 534 HUGO S. VICT., Vanit. 2 (CCM 169, p. 164): „R. Quia multa est miseria nostra, iccirco multitudo misericordiae nobis est necessaria. Quoties enim mens ad semetipsam redire suosque affectus et cogitationes pariter ad secretum internae contemplationis retrahere nititur, tot obsistentes aditum ei ingredienti precludunt, quot uitae ueteris desideria ad priscae consuetudinis discursus erroresque ipsam retrahendo stabilem esse non sinunt. Sed expetenda est atque imploranda diuina misericordia quae nos promoueat quotiens ab ingressu quietis intimae nostra miseria nos retardat.“
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gestaltetes Lehrgespräch, in dem systematische Fragen eine untergeordnete Rolle spielen.535 (1) Inhaltlich finden sich mehrere Parallelen, aber auch Unterschiede. In beiden Werken werden die negativen Auswirkungen des Reichtums bzw. der ‚auariatia‘ / ‚cupiditas‘ ausführlich thematisiert. Hugo setzt sich in erster Linie in seinem dritten Beispiel (die Sorgen des Reichen), aber auch im zweiten Beispiel (Überfall auf die Karawane) damit auseinander, Radulfus Ardens behandelt diesen Themenkomplex im Traktat über den ‚contemptus diuitie‘ in den Kapiteln 12–90. Die beiden Autoren kommen zu weitgehend identischen Ergebnissen: Der Reiche hat durch seine Verlustängste deutlich mehr Sorgen als der Arme. Zudem – dies klingt in der Karawanenepisode ebenso wie bspw. in Kapitel 16 von Buch 12 an536 – führt das Streben nach Vergrößerung des Besitzes zu enormen Gefahren, die in keinem Verhältnis zum Ertrag stehen. In diesen Kontext ist wohl auch das Seefahrt-Beispiel einzuordnen, obwohl es hier offenbar eher um die (vermeintlichen) Vergnügungen des Reisens an sich, als um materiellen Reichtum geht. Das Ideal – daran lassen beide Autoren keinen Zweifel – ist ein ruhiges und möglichst bedürfnisloses Leben in innerer Distanz zum weltlichen Treiben. Während sich also im Bereich der ersten drei Beispiele Hugos und dem Traktat über die Geringschätzung des Reichtums im Speculum universale zahlreiche Überschneidungen feststellen lassen, weichen die beiden Werke ansonsten inhaltlich voneinander ab. So fällt zunächst auf, dass sich Hugo sehr viel stärker auf die ‚uisibilia‘, also die sichtbaren materiellen Dinge konzentriert, während Radulfus mit der ‚laus‘, ‚gloria‘, ‚potestas‘ und ‚uoluptas‘ auch die immateriellen, gewissermaßen ideellen Güter der Welt in den Blick nimmt. Dass er insgesamt gerade an den psychologischen Vorgängen interessiert ist, die im Menschen durch die Liebe zu den weltlichen Gütern ausgelöst werden, zeigt sich auch an den übrigen drei ‚distinctiones contemptus‘, in denen er die Demut, den Stolz sowie die Selbst- und Nächstenliebe thematisiert. Die Episode über die Ehe könnte am ehesten noch mit dem Traktat über den ‚contemptus uoluptatis‘ in Beziehung gesetzt werden; jedoch kritisiert Radulfus Ardens in Buch 12 zum einen die Ehe als solche überhaupt nicht – diese Thematik bleibt Buch 14 und damit dem Bereich des Äußeren Menschen vorbehalten –, zum anderen beinhaltet sein ‚uoluptas‘-Begriff neben der sexuellen Lust noch viele weitere Aspekte und ist per se erst einmal
535 Vgl. SCHLETTE, Nichtigkeit 99–103. 536 Vgl. dazu z. B. RADULF. ARD., Spec. uniu. 12, 16 (P, fol. 116ra): „Igitur cupiditas prius uexat amatorem huius mundi et eum ad laborem pene reddit insensibilem. Spe lucri peragrat mare, terras, litora, gentes. Non retinet turbo, flamma, pericula, niues, propter modicum lucrum etiam Deum contempnit. Leges transgreditur, proximos persequitur, etiam consanguineis, parentibus et amicis suis insidiatur. Secundo uexat eum sollicitudo. Et cum res eius pene sunt infinite, illarum quoque sollicitudo pene infinita est.“
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nicht negativ gewertet.537 Dagegen spielt die Wissenschaftskritik, der Hugo in seinem fünften Gedankengang immerhin den meisten Platz einräumt, bei Radulfus Ardens nur eine untergeordnete Rolle. Er trifft zwar im Zusammenhang mit dem ‚contemptus laudis‘ und dem ‚contemptus uane glorie‘ mehrere Aussagen in diese Richtung, stellt aber keine zusammenhängenden Überlegungen dazu an.538 Insgesamt lässt sich also sagen, dass sich das 12. Buch des Speculum universale zwar inhaltlich durch bestimmte Schwerpunktsetzungen äußerlich von De vanitate rerum mundanarum unterscheidet, der Grundgedanke aber weitgehend identisch ist und beide Autoren auch partiell zu gleichen Schlüssen kommen. (2) Weit größere Unterschiede gibt es im Hinblick auf die systematisch-anthropologischen Grundlagen. Bei Radulfus Ardens ist – wie bereits ausführlich beschrieben – der ‚contemptus‘ neben Liebe und Hass der dritte Grundaffekt. Bei Hugo zeigt sich ein gänzlich anderes Bild: Der ‚contemptus‘ als Affekt spielt bei ihm keine Rolle, obgleich er mehrfach auf den affektiven Zustand, in sich die Seele jeweils befindet, zu sprechen kommt. Dabei lässt sich erkennen, dass der Begriff ‚affectus‘ offensichtlich synonym zu ‚desiderium‘ verwendet wird. Damit ist der Affekt als Begehren entweder auf die äußerlichen Dinge ausgerichtet, oder strebt – durch die göttliche Barmherzigkeit umgelenkt – als Liebe (‚amor‘) nach den ewigen geistigen Gütern.539 Die ‚irascibilitas‘ bzw. ein in irgendeiner Weise abwehrender Affekt wird dagegen nicht erwähnt. Daran zeigt sich, dass Hugo die Affekte in Anlehnung an Augustinus hauptsächlich auf der Grundlage der (neu-)platonischen Seelenlehre betrachtet in sich in erster Linie mit der gnadenhaft geformten Liebe und dem ihr entgegengesetzten (fleischlichen) Begehren beschäftigt. (3) Auch hinsichtlich komplementärer Gedankengänge ist der Befund klar: Während Radulfus Ardens die Entwertung der weltlichen Dinge stets dadurch relativiert, dass er den entsprechenden Formen des ‚contemptus‘ entweder – wie bspw. im Fall der
537 Vgl. Punkt 2.1.6.1. 538 So z. B. in Spec. uniu. 12, 102 (P, fol. 137vaf.), wobei hier v. a. eine bestimmte Motivation, nicht aber das wissenschaftliche Arbeiten an sich kritisiert wird: „Per uocem quidem propriam querunt laudem sibi quidam. Qui talis est, sitit auditores quibus suas iactitet uanitates quibus quantus qualisne sit, innotescat. Si sermo de litteris oritur, uetera et noua uerbis amppullosis proferuntur. Preuenit interrogantes, respondet non querenti. Ipse querit, ipse soluit. Et uerba loquutoris inperfecta relinquit. Nec curat docere uel doceri, sed ut scire sciatur quod scit. Et quia uidetur ei turpe se laudari aperte, per circumloquutionem et obliquationem se laudat. Ex aliorum reprehensione semet intendit commendare. Aliorum culpam suam putat esse uirtutem.“ 539 Vgl. u. a. HUGO S. VICT., Vanit. 1 (CCM 169, p. 139): „A. […] Nam quanto magis quibusdam in hoc mundo rebus affectu et cogitatione succubui, tanto ad contemplandam uniuersitatem minus idonea et expedita fui.“ oder ebd. 2 (CCM 169, p. 154 f.): „Rapior affectu et trahor desiderio quo currunt omnia et iam nunc in rebus hoc ipsum quod transeunt diligo, quia ex ipsa imitatione et exemplo uniuersorum ad transeundum hinc amplius inardesco.“
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Demut – ein korrigierendes komplementäres Gegenstück zur Seite stellt oder zumindest – wie in der Frage nach der Übernahme von Leitungs- und Ehrenämtern – Ausnahmeregelungen für den Fall trifft, dass eine radikale Weltdistanz mehr schadet als nutzt, äußert sich Hugo von Sankt Viktor nicht in diese Richtung. Auch wenn er die Welt nicht per se, sondern nur aus einer praktischen Perspektive abwertet, entwirft er in Buch 2 eindeutig das Ideal eines weltabgewandten, ausschließlich auf das Innere bezogenen Lebens. Während sich Radulfus Ardens also mithilfe des komplementären Denkens darum bemüht, die Vorstellung der ‚vanitas mundi‘ mit der faktischen Notwendigkeit bestimmter weltlicher Tätigkeiten zu verbinden und konkrete Handlungsperspektiven in dieser Hinsicht zu entwerfen, beschränkt sich Hugo in seinem Werk auf den Apell zur Weltdistanz und Konzentration auf die Sphäre des Geistig-Innerlichen.
3.2.3 Beispiel 2: De miseria conditionis humanae von Innozenz III Lothar von Segni verfasste die Schrift ‚Über das Elend des menschlichen Daseins‘ in seiner Zeit als Kardinal unter Papst Coelestin III. in der ersten Hälfte der 90er Jahre des 12. Jahrhunderts und stellte sie wohl 1195 fertig.540 Das Werk war sehr beliebt und verbreitete sich schnell, wie die über 400 bekannten Handschriften bezeugen.541 Seine theologischen Werke fanden nur selten Beachtung in der Forschung.542 Im Allgemeinen gilt De miseria conditionis humanae als wenig originell, scheint aber den Geschmack der Zeit besonders gut getroffen zu haben.543 Die Schrift gliedert sich in drei Bücher, wobei das erste Buch die Notlagen am Lebensbeginn (,ingressus‘), das zweite Buch die in der Lebensmitte (‚progressus‘) und das dritte die am Lebensende (‚exgressus‘) in den Blick nimmt. Abgesehen von dieser recht losen äußeren Gliederungsstruktur, die häufig durchbrochen wird, lässt der Text weder eine innere Systematik noch die für die damalige Zeit typischen frühscholastischen Methoden erkennen; dies ist umso erstaunlicher, da Lothar längere Zeit in Paris u. a. bei Petrus Cantor studiert hat und daher bestens damit vertraut gewesen sein muss. In jedem Fall – und das ist der entscheidende Punkt für den hier unternommenen 540 Vgl. MACCARRONE, Praefatio XXXVII; MOORE, Speculum curiae 553–555; SCHWAIGER, Innozenz III. 176; EGGER, Some Remarks 26. 541 Seit Michele Maccarrone die handschriftliche Überlieferung eingehend untersuchte und auf dieser Grundlage 1955 eine kritische Edition des Werkes veröffentlichte, ist eine verlässliche Textgrundlage verfügbar (vgl. dazu GEYER, Einleitung 39 f.). 542 Vgl. EGGER, Some Remarks 27. Es existiert immerhin eine – wenn auch recht veraltete – längere Dissertation zu dem Werk in lateinischer Sprache, die in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden ist (vgl. NAGY, De tractatu). 543 Zu diesem Urteil vgl. z. B. BULTOT, Misère et dignité 441 f. oder EGGER, Some Remarks 26; GEYER, Einleitung 9 schreibt dazu: „Das Verdikt mangelnder Originalität scheint die Schrift vom Elend des menschlichen Daseins in ganz besonderer Weise zu treffen.“
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Vergleich – ist das Werk auf praktisch-moralische Fragestellungen ausgerichtet und versucht offensichtlich, die am Ende des 12. Jahrhunderts nahezu allgegenwärtige Grundstimmung des ‚contemptus mundi‘ möglichst bereit abzubilden und fassbar zu machen.544 Weit mehr als Hugo nimmt er die Thematik aus einer tugendethischen Perspektive in den Blick, was sich v. a. daran zeigt, dass er auf zahlreiche Laster zu sprechen kommt und viele von ihnen auch ausführlich porträtiert. Aufgrund der Vielzahl der Themen werden nur einige Facetten beleuchtet, die illustrieren, wie sich Lothar von Segni mit der Thematik auseinandersetzte. Da die Gedankenführung hier wesentlich weniger geordnet ist als in De vanitate rerum mundanarum, legt sich auch für die Gegenüberstellung ein anderes Vorgehen nahe: Die relevanten Passagen werden sogleich mit den entsprechenden Ansichten des Radulfus Ardens gegenübergestellt. Zusätzlich wird auf besonders auffällige Unterschiede hingewiesen. Der Vergleich beschränkt sich dabei auf die Bücher 1 und 2, da Buch 3 das Jüngste Gericht und die Höllenstrafen beschreibt. Diese Thematik gehört im eigentlichen Sinne nicht mehr zum ‚contemptus mundi‘, sondern illustriert eher die Folgen der menschlichen ‚vanitas‘ im Sine einer ausweglosen Sündenverfangenheit. Auffällig ist in jedem Fall, dass Lothar von Segni im Gegensatz zu Radulfus Ardens, der sich mit den Höllenstrafen in Buch 8 sowie am Ende von Buch 11 beschäftigt und sie weitestgehend mit negativen bzw. lasterhaften Emotionen gleichsetzt545, die ‚affectus‘ nicht einmal erwähnt. Bevor die ersten beiden Bücher überblicksartig betrachtet werden, verdient zunächst der Prolog Aufmerksamkeit. Dort betont der Autor, dass der Hauptzweck seines Werkes die Unterdrückung des Stolzes (‚ad deprimendam superbiam‘) sei, den er als ‚caput vitiorum‘ bezeichnet. Zudem kündigt er an, nach Möglichkeit auch noch ein Werk über die Würde des Menschen (‚de dignitate humane‘) zu verfassen – ein Plan, der offenbar nicht mehr in die Tat umgesetzt wurde.546 Diese Information ist insofern wichtig, da Lothar in De miseria conditionis humanae demnach niemals das Ziel verfolgte, ein vollständiges Menschenbild zu entwerfen, sondern nur einen Einzelaspekt darstellen wollte.547 In Buch 1 steigt er sodann – wie in der Überschrift angekündigt – mit den Nöten am Beginn des Lebens (‚de ingessu‘) ein und beschreibt in den Kapiteln 1–7 eingehend die ‚vilitas‘ des Stoffes, aus dem der Mensch gemacht ist, die Schmerzen
544 Vgl. SCHWAIGER, Innozenz III. 176; GEYER, Einleitung 3 f. 545 Vgl. Punkt 2.8.2 des zweiten Hauptteils. 546 INNOC. III, Miseria prol. 2 (p. 3): „[…] sed ad deprimendam superbiam, que caput est omnium vitiorum, vilitatem humane conditionis utcumque descripsi. […] Si vero paternitas vestra suggesserit, dignitatem humane nature Christo favente describam […].“ Zu der Debatte um das angekündigte Werk vgl. GEYER, Einleitung 31 f. sowie BULTOT, Miserè et dignité. 547 Vgl. MOORE, Speculum curiae 554–556. Der Beitrag geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, ob Lothars Werk in besonderer Weise durch das Anliegen bestimmt war, die Verhältnisse innerhalb der römischen Kurie anzuprangern.
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bei der Geburt und die Schwachheit des Neugeborenen. Dieser Abschnitt, in dem die Körperlichkeit des Menschen in einer teilweise schockierenden Drastik abgewertet wird, findet keinerlei Entsprechung bei Radulfus Ardens, der den Körper ja auch immer wieder positiv betrachtet und ihm wichtige Funktionen zuweist. Lediglich das dritte Kapitel ist für den Vergleich von Bedeutung, da sich Lothar hier im Kontext der Frage nach der Beschädigung der Seele durch den Geschlechtsakt zu den Seelenkräften äußert. Er erwähnt die Vernunft (‚potentia rationalis‘), die zwischen Gut und Böse unterscheiden soll, den Zorn (‚potentia irascibilis‘), der das Böse ablehnt und das Begehren (‚potentia concupiscibilis‘), das das Gute erstrebt. Damit gibt er die damals allgemein verbreitete augustinisch-neuplatonische Seelenlehre wieder, geht aber nicht genauer darauf ein. Er stellt fest, dass diese ‚potentie naturales‘ aufgrund der erbsündlichen Verfasstheit des Menschen von Anfang an durch drei entgegengesetzte Laster (‚opposita vitia‘) in Mitleidenschaft gezogen werden: Die Vernunft durch die Dummheit (‚stultitia‘), der Zorn durch den Jähzorn (‚iracundia‘) und das Begehren durch die böse Begehrlichkeit bzw. Konkupiszenz (‚concupiscentia‘). Als Quelle dieser Laster sieht er das Fleisch (‚carnis‘) an.548 In den Kapiteln 8–18 löst er sich zunehmend vom anfänglich festgelegten Thema des Lebensbeginns und versucht – u. a. mit zahlreichen Zitaten aus den Büchern Kohelet und Hiob – nachzuweisen, dass der Mensch von seiner verdorbenen Natur her als Ganzes ‚vanitas‘ ist.549 Dabei macht er deutlich, dass der Mensch ganz unabhängig von seinen aktuellen Lebensumständen und seinen ethisch-asketischen Bemühungen stets Not leidet. Besonders interessant ist hierbei zum einen die Wissenschaftskritik in Kapitel 12, die der Hugos vom Ergebnis her weitgehend entspricht. Zum anderen werden in Kapitel 13 die Gefahren beim Erwerb von Reichtümern in einer sehr ähnlichen Weise wie bei den beiden anderen Autoren in Szene gesetzt – ein Thema, auf das Lothar immer wieder und z. T. sehr ausführlich zu sprechen kommt. Bemerkenswert ist zudem das 19. Kapitel, in dem Lothar auf die Feinde des Menschen (‚hostes homini‘) eingeht und mit Dämon, Mensch, Welt und Fleisch550
548 INNOC. III, Miseria 1, 3, 2 f. (p. 10 f.): „Habet enim anima tres naturales potentias sive tres naturales vires. Rationalem ut discernat inter bonum et malum, irascibilem ut respuat malum, concupiscibilem ut appetat bonum. Iste tres vires tribus oppositis vitiis originaliter corrumpuntur. Vis rationalis per ignorantiam, ut non discernat inter bonum et malum, vis irascibilis per iracundiam, ut respuat bonum, vis concupiscibilis per concupiscentiam, ut appetat malum. […] Haec tria vitia contrahuntur ex carne corrupta […].“ 549 Vgl. z. B. INNOC. III, Miseria 1, 11, 1 f. (p. 17) in Anlehnung an Eccle 2, 23, ebd. 1, 2 und Iob 5, 7: „Avis nascitur ad volandum, et homo nascitur ad laborem. Cuncti dies eius laboribus et erumpnis pleni sunt, nec per noctem requiescit mens eius. Et hoc nonne vanitas? […] Vanitas vanitatum, inquit Ecclesiastes, et omnia vanitas.“ 550 Dabei geht er in INNOC. III, Miseria 1, 19, 1 (p. 27) von Iob 7,1 aus: „Militia ergo est vita hominis super terram. An non vera militia est, cum multiplices hostes semper undique insidientur ut capiant, persequantur ut perimant, demon et homo, mundus et caro? Demon cum vitiis, homo cum bestiis, mundus cum elementis, caro cum sensibus.“
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eine ganz ähnliche Auswahl wie Radulfus Ardens trifft, der in Buch 3 des Speculum universale diesbezüglich Welt, Dämon und Fleisch aufführt und unter dem Begriff der Welt auch den weltlich lebenden Menschen miteinschließt. Im übrigen Teil des Buches schildert er ganz unterschiedliche Gefahren und Schrecken für den Menschen, wie bspw. unerwartete Schmerzen (c. 22), Alpträume (c. 24), Krankheiten (c. 26) und Folter (c. 28). Insgesamt ist dieser Passus von einem extremen Pessimismus gekennzeichnet und bringt mehrmals zum Ausdruck, dass die Welt nicht nur so schlecht bleibt, wie sie gegenwärtig schon ist, sondern noch weiter verfällt.551 Dieser Topos der ‚Vergreisung der Welt‘ findet sich bei Radulfus Ardens überhaupt nicht. Im zweiten Buch, das der ‚vanitas‘ des menschlichen Tuns und Strebens gewidmet ist, charakterisiert Lothar zahlreiche Laster. Gleich zu Beginn benennt er mit Reichtümern (‚opes‘), Vergnügungen (‚voluptates‘) und Ehren (‚honores‘) die drei Dinge, die der Mensch am meisten erstrebt und verweist direkt im Anschluss auf ihre negativen Folgen: Bosheiten (‚prava‘), Schändlichkeiten (‚turpia‘) und Wertloses (‚vana‘).552 Wieder ähnelt diese Aufteilung äußerlich stark den Kernthemen im 12. Buch des Speculum universale, zudem werden ganz ähnliche Laster und Verfehlungen porträtiert: In den Kapiteln 2–16 geht es um die Begierde (‚cupiditas‘), womit in erster Linie verschiedene Formen der Geldgier und des Geizes gemeint sind. Die Vielgestaltigkeit dieses Lasters und seine Auswirkung nennt er überblicksartig bereits im zweiten Kapitel553 und nimmt sie dann anschließend genauer in den Blick. Dabei kommt er auf die Bestechlichkeit der Richter und die Bevorzugung angesehener Personen (c. 3–5), die sich immer weiter steigernde Gier nach Besitz und die Unsicherheit des Reichen (c. 6–13) sowie auf die Unterscheidung zwischen Geiz (‚avaritia‘) und Gier (‚cupiditas‘) zu sprechen. Neben der generellen Ähnlichkeit der Themen fallen besonders in den Kapiteln 6 (‚De insatiabili desiderio cupidorum‘) und 8 (‚De falso nomine divitiarum‘) gedankliche und argumentative Parallelen zwischen beiden Autoren auf. Auch der Aufruf zur Selbstbeschränkung, der bspw. in den Kapiteln 11 und 13 prägnant enthalten ist sowie die Zusammenstellung von Zeichen, an denen man den Geizigen erkennt (c. 16), finden sich ganz ähnlich bei Radulfus. In den Kapiteln 17–25 beschäftigt sich Lothar mit den ‚voluptates‘ in Ge551 Dies wird z. B. daran deutlich, dass Lothar davon ausgeht, dass die Medikamente immer weniger Wirkung zeigen und Krankheiten immer schlechter geheilt werden können; vgl. INNOC. III, Miseria 1, 26, 2 (p. 33): „De die in diem magis ac magis humana natura corrumpitur, ita quod multa fuerunt olim experimenta salubria, que propter defectum ipsius hodie sunt mortifera. Senuit iam mundus […].“ 552 INNOC. III, Miseria 2, 1, 1 (p. 39): „Tria maxime solent homines affectare: opes, voluptates, honores. De opibus prava, de voluptatibus turpia, de honoribus vana procedunt.“ 553 INNOC. III, Miseria 2, 2, 2 (p. 39): „Hec sacrilegia committit et furta, rapinas exercet et praedas, bella gerit et homicidia, symoniace vendit et emit, inique petit et recipit, iniuste negotiatur et feneratur, instat dolis et imminet fraudibus, dissolvit pactum et violat iuramentum, corrumpit testimonium et pervertit iudicium.“
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stalt der Trunksucht (‚ebrietas‘), der Fresssucht (‚gula‘) und der sexuellen Lust bzw. Unzucht (‚luxuria‘). Im letzten Abschnitt des Buches geht es um die ‚honores‘, wobei er zunächst den Ehrgeiz (‚ambitio‘) kritisiert und das Leben der Mächtigen in dunklen Farben darstellt (c. 29). Abschließend behandelt er das Laster des Stolzes ausführlich und beschließt das Buch mit einer Invektive gegen äußere Statussymbole wie Schmuck oder prachtvolle Kleidung. All diese Themen behandelt auch Radulfus Ardens in Buch 12, mit Ausnahme der ‚ebrietas‘ und der ‚gula‘, die in Buch 14 abgehandelt werden. Dabei zeigen sich wieder eine ganze Reihe eindeutiger Parallelen: So lässt sich beobachten, dass die beiden Autoren immer wieder identische Argumente anführen und auch ähnliche Quellen zitieren. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür findet sich in Kapitel 39 (‚Quod plus defertur vestibus quam virtutibus‘): Hier führt Lothar das Beispiel eines Philosophen an, der in ärmlicher Kleidung zuerst am Betreten eines Palastes gehindert wird und erst, nachdem er sein Purpurgewand angelegt hat, eintreten darf – ein ‚exemplum‘, das sich nahezu identisch im 46. Kapitel von Buch 12 des Speculum universale findet.554 (1) Auf der Grundlage dieser Gegenüberstellung lässt sich schlussfolgern, dass es große inhaltliche Überschneidungen zwischen den ersten beiden Büchern von De miseria conditionis humanae und dem 12. Buch des Speculum universale gibt. So thematisiert Lothar nicht nur alle fünf von Radulfus Ardens genannten Kategorien weltlicher Güter – nämlich Reichtum, Macht, Ehrenstellung, Ansehen und Lust –, sondern geht auch ausführlich auf den Stolz, also die ‚secunda distinctio contemptus‘ ein. Neben diesen gewissermaßen oberflächlichen Entsprechungen sind das Anliegen und die Perspektive der beiden Werke aber gänzlich andere: Lothars Schrift ist von einem geradezu ausweglosen Pessimismus gekennzeichnet, der an der körperlichen Verfasstheit des Menschen, seinen irdischen Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten nichts Gutes lässt und sie allesamt als ‚vanitas‘ abwertet. Radulfus Ardens dagegen macht gerade nach längeren Traktaten über die lasterhaften Manifestationen des Mensch-Welt-Verhältnisses immer wieder deutlich, dass die totale Entwertung der diesseitig-vergänglichen Aspekte des Menschen zu Verzweiflung, Selbstzerstörung und Lieblosigkeit führt. Von daher ist der große und entscheidende Unterschied zwischen Speculum universale und De miseria conditionis humanae nicht in den vom Umfang her textbestimmenden Passagen über die einzelnen Laster zu finden, sondern in den meist kurzen Kapiteln über die Komplementärtugenden. (2) Auf die Affekte geht Lothar – abgesehen von der erwähnten Stelle im ersten Buch – kaum ein. Ähnlich wie Hugo steht er auf der Grundlage der augustinischen 554 RADULF. ARD., Spec. uniu. 12, 46 (P, fol. 122rb): „Fertur quod quidam sapiens, cum uenisset ad hostium palatii, turpiter expulsus est. Qui mutato habitu cum purpuratus rediret, honorifice susceptus est. Qui mox in medio magnatum uestimenta sua deposuit et ea adorauit. Interrogatus uero cur hoc fecisset, respondit: Ad confusionem aulicorum qui in hominibus pensant fortunam, non naturam, exteriora, non interiora.“
3.3 Der Ertrag der Gegenüberstellung
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Seelenlehre und sieht keinen Grund dafür, diese umzustrukturieren oder zu verfeinern. Wenn überhaupt werden die Emotionen des Menschen nur unter der Perspektive betrachtet, dass sie ihn durch die erbsündliche Beschädigung ihrer Natur als fleischliche Lust auf das Böse und die ‚vanitas‘ ausrichten. Die ‚potentia irascibilis‘ wird zwar genannt, jedoch kommt ihr offenbar keinerlei Bedeutung zu. In die Richtung, dass der ‚contemptus‘ mit den Affekten zusammenhängt oder gar ein eigener Affekt ist, äußert er sich nirgends. (3) Auf der Grundlage dieses Befundes ist es wenig überraschend, dass sich in Lothars Werk keinerlei Spuren einer komplementären Betrachtungsweise finden lassen. Möglicherweise hätte in dieser Hinsicht die geplante Schrift über die Würde des Menschen interessante Ergänzungen geliefert, doch wurde sie nie geschrieben. Wie bereits erwähnt, lag eine mehrperspektivische Betrachtung des Themas aber auch nicht im Interesse des Autors, sodass er ausschließlich die negativen Aspekte der Welt darstellte. Ein erwähnenswertes Detail ist die Rede von den ‚vitia opposita‘ im 3. Kapitel von Buch 1. Diese Formulierung erinnert auf den ersten Blick stark an die ‚uitia contraria‘ des Radulfus Ardens; jedoch äußert sich Lothar nirgends systematisch dazu und erwähnt sie auch nicht mehr.
3.3 Der Ertrag der Gegenüberstellung Welche Erkenntnisse konnten durch diesen kurzen Vergleich zwischen dem 12. Buch des Speculum universale, De vanitate rerum mundanarum und De miseria conditionis humanae gewonnen werden und welche Rückschlüsse lassen sie im Hinblick auf die Eigenständigkeit des Radulfus Ardens zu? (1) Inhaltlich gibt es zwar unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, jedoch beschäftigen sich alle drei Autoren mit ähnlichen Themen. Besonders deutlich tritt hervor, dass die Kritik an der Habgier und an Macht- bzw. Ehrenstellungen immer einen großen Raum einnimmt, sodass diese Themen als Kernaspekte der ‚contemptus mundi‘Literatur gelten können. Zudem schöpfen alle drei Theologen offenkundig aus den gleichen Quellen. Allem Anschein nach war am Ende des 12. Jahrhundert eine große Menge Allgemeingut über die ‚vanitas mundi‘ verbreitet. Dieses Material bestand u. a. aus einem bestimmten Arsenal von Argumenten, Gemeinplätzen, Dichter-, Bibel- und Kirchenväterzitaten sowie Beispielerzählungen. Es entsprach dem damaligen Zeitgeist und regte zu verschiedenen literarischen Verarbeitungen an. Hinsichtlich der äußeren Gliederung ist auf den ersten Blick auffällig, dass Radulfus Ardens seine vier Glieder aus dem Carmen 124 Hildeberts ableitete, jedoch wählten auch Hugo mit seiner mehr oder weniger willkürlichen Auswahl der fünf Gedankenbeispiele und Lothar mit der Orientierung am Verlauf des menschlichen Lebens ebenfalls eigenwillige Gliederungsstrukturen. Hier zeigt sich, dass es im Bereich der ‚contemptus mundi‘-Literatur keinerlei formale Festlegungen gab. Trotz aller Unter-
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schiede im Einzelnen lässt sich daher schlussfolgern, dass bei der Auswahl der Inhalte und auch beim argumentativen Vorgehen keine fundamentalen Unterschiede zwischen Radulfus, Hugo und Lothar feststellbar sind. (2) Sie finden sich vielmehr auf der systematischen Ebene. Zunächst fällt nämlich auf, dass die Emotionen bei Radulfus der entscheidende Bezugspunkt des ‚contemptus mundi‘ sind, während sie bei den anderen beiden Autoren kaum eine Rolle spielen. Während Liebe und Zorn bei Hugo und Lothar im Kontext der augustinischen Seelenlehre zumindest erwähnt werden, findet sich nirgends auch nur der Hinweis auf den Gedanken, dass der ‚contemptus‘ ein eigenständiger, dritter Affekt sein könnte. Von daher ist diese Dreiteilung der Affekte offensichtlich Sondergut des Radulfus Ardens. Da diese Konzeption – wie oben dargelegt555 – in einigen Aspekten erklärungsbedürftig und missverständlich ist, verwundert es aber auch nicht, dass sie weder von den Zeitgenossen aufgegriffen wurde, noch Vorlagen auffindbar sind. Vermutlich lässt sich die Frage danach, warum Radulfus Ardens diese komplizierte und leicht missverständliche Lehre vom ‚contemptus‘ als dritten Affekt entworfen hat, so beantworten: Aufgrund der Omnipräsenz des ‚vanitas mundi‘-Gedankens beabsichtigte er, sich selbst auch dazu zu äußern und konstruierte einen systematischen Anknüpfungspunkt in seiner Seelenlehre. Dies würde auch erklären, warum er die Geringschätzung zunächst in die Nähe des Hasses stellt und im entsprechenden Kapitel im ersten Buch auch einige Unsicherheiten erkennen lässt.556 (3) Somit – und das ist das entscheidende Ergebnis des Vergleichs – ist die zugrundeliegende Systematik die Besonderheit des Ansatzes im Speculum universale. Radulfus Ardens war offensichtlich von dem Anliegen geleitet, ausgehend von seiner Komplementärtugendlehre der weit verbreiteten negativ-pessimistisch-weltabgewandten Ausprägung des ‚contemptus mundi‘-Ideals ein realistisches und zugleich differenziertes Modell entgegenzusetzen. Denn dadurch, dass er jeder tugendhaften Form des ‚contemptus‘ eine Form der Liebe zu Gott, zum Nächsten oder sich selbst zur Seite stellt, gelingt es ihm, die Kritik an übersteigerten bzw. lasterhaften Auswüchsen des weltlichen Lebens aufrecht zu erhalten und gleichzeitig die allein schon von der Schöpfung her angelegte, prinzipielle ‚bonitas‘ der menschlichen Natur hervorzuheben. Möglicherweise sollte eine solche Betrachtungsweisen auch Tendenzen entgegenwirken, die gerade unter den Mönchen zu eremitischen Absonderungsbewegungen führten, was wiederum einen Mangel im Bereich der caritativen Dienste wie Armen- und Krankenfürsorge auslöste.557 Dass tätige Nächstenliebe ein wichtiges An-
555 Vgl. Punkt 2.5 des vorliegenden Teils. 556 Vgl. Punkt 2.1.2 im ersten Teil der Arbeit. 557 Vgl. dazu SCHLEMMER, Frömmigkeitsformen 142–145.
3.3 Der Ertrag der Gegenüberstellung
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liegen des Radulfus Ardens ist, wird im ganzen Werk immer wieder deutlich und trat in Buch 11 am Beispiel des Traktats über das Almosen eindrücklich hervor. So lässt sich schließen, dass die Programmatik von Buch 12 von dem Anliegen geleitet ist, das Phänomen des ‚contemptus mundi‘ von seiner Ambivalenz her in den Blick zu nehmen und die Spannung zwischen dem Ideal der Weltflucht und der Zuwendung zum Menschen aufrecht zu erhalten. Obgleich Radulfus Ardens vergleichbare Themen bespricht wie seine Zeitgenossen und auch methodisch ähnlich dabei vorgeht, ist der Grundgedanke des Ansatzes seiner Zeit voraus. Denn eine komplementäre Betrachtungsweise wird dem in der Bibel grundgelegten Anspruch von Dienst und Distanz zugleich558 gerecht und schafft eine systematische Grundlage für die tugendethische Reflexion über dieses Verhältnis. Damit weist der Ansatz des Radulfus Ardens auf eine Debatte voraus, in der im Umfeld des II. Vatikanums vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet wurde, dass sich die christlich motivierten Formen von Weltverachtung und Weltflucht nur dialektisch verstehen lassen. Das heißt konkret, dass die Freiheit von der Welt letztlich eine neue Freiheit zur Welt bewirkt, die tätige Nächstenliebe im eigentlichen Sinne überhaupt erst ermöglicht.559 Die Lehre von den Komplementärtugenden hätte sicherlich großes Potential, um diese Haltung, die die moderne Theologie ‚Weltverantwortung‘ genannt hat,560 systematisch genauer zu fassen und konkrete Handlungsperspektiven zu entwerfen.
558 Vgl. METZ, Welt 1023. 559 Vgl. HÜHN, Weltverachtung 525. 560 Vgl. dazu ausführlich AUER, Weltverantwortung sowie HÜHN / SEILS, Weltverantwortung.
Schluss: Weiterführende Einzelaspekte In der vorliegenden Untersuchung wurde die Frage danach gestellt, inwieweit der tugendethische Ansatz des Radulfus Ardens im Allgemeinen und seine Lehre von den Affekten im Speziellen durch komplementäres Denken geprägt sind. Um eine Antwort darauf zu geben, wurden neben den beiden Büchern 11 und 12 auch zahlreiche Textstellen aus den anderen Büchern im Detail analysiert. Auf diese Weise konnte – ausgehend von den anthropologischen Vorstellungen des Autors – zum einen gezeigt werden, dass die Komplementarität der Tugenden auf die komplementären Verhältnisse zwischen den Seelenkräften zurückzuführen ist und dass ihr von daher eindeutig eine grundlegende und programmatische Bedeutung für die Entfaltung der Einzeltugenden in der speziellen Tugendlehre zukommt. Zum anderen wurde jedoch bei der genaueren Untersuchung der genannten Texte deutlich, dass zahlreiche Komplementärtugenden unkonkret bestimmt oder nur vage angedeutet sind und dass sich mehrere systematische Unklarheiten nicht abschließend bereinigen lassen. Somit lässt sich festhalten: Der Autor ging beim Abfassen seines Werkes grundsätzlich von dem Gedanken aus, dass jede Charaktereigenschaft ohne ein maßgebendes Korrektiv aus der Balance gerät. Diese kann nur dadurch hergestellt werden, dass zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Verhaltensweisen so aufeinander bezogen werden, dass sie sich gegenseitig ins rechte Maß bringen und dadurch zu Tugenden werden. Dass diese originelle Idee neue Perspektiven auf die komplexen Zusammenhänge innerhalb des menschlichen Verhaltens und seine Ambivalenzen eröffnet, zeigt Radulfus Ardens im Speculum universale an vielen Stellen und liefert in seiner Darstellung eine tiefgehende, geradezu psychologische Analyse. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Unklarheiten, auf die der Leser im Text stößt, kommt der in der Untersuchung schon mehrfach erwähnten Bemerkung im 74. Kapitel von Buch 14 eine große Bedeutung zu: Dort spricht er der anfangs aufgestellten Bestimmung, der zufolge jede Tugend eine Mittelposition zwischen zwei Lastern einnimmt, aufgrund der von ihm benannten Ausnahmen ihre Gültigkeit ab und verneint damit auch die Frage, ob jede Tugend eine Komplementärtugend benötigt.1 Daraus folgt, dass er seine Systematik bei bestimmten Themen nicht so konsequent anwenden konnte oder wollte, wie es eigentlich möglich gewesen wäre; dies trat im Zuge der vorliegenden Untersuchung klar hervor, die den Text an manchen Stellen ganz bewusst systematisierend interpretiert hat, um auf das Potential der Komplementarität aufmerksam zu machen. Somit kann das Speculum universale als ein höchst innovatives und gewinnbringendes denkerisches Experiment gelten, das jedoch allem Anschein nach im doppelten Sinne nicht abgeschlossen wurde: Erstens ist das literarische Werk selbst
1 Spec. uniu. 14, 74 (P, fol. 201ra): „Inde patet, quia non est proprium uirtutis esse medium uitiorum, quod querebamus, quando uirtutem diffiniebamus.“ https://doi.org/10.1515/9783110758924-016
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unvollendet, was sich am Fehlen der Bücher 6 und 15, aber auch an zahlreichen kleineren Auslassungen zeigt. Zweitens weist der Gedankengang selbst an mehreren Stellen Lücken und Ungereimtheiten auf, die nicht primär damit erklärt werden können, dass der Autor sein Werk nicht mehr vollenden konnte. Vielmehr rückte Radulfus Ardens während der Arbeiten am Speculum universale scheinbar selbst von seiner Grundidee ab und kam zu dem Ergebnis, dass nicht jede Verhaltensweise ein komplementäres Korrektiv benötigt – anders ließe sich die Bemerkung in Buch 14 wohl kaum erklären. Dass diese Schlussfolgerung im Grunde genommen falsch ist, zeigt sich bereits daran, dass er selbst bei den von ihm bezeichneten Ausnahmen Hinweise auf mögliche Komplementärtugenden formuliert. Da die im Zuge dieser Untersuchung gewonnen Ergebnisse in Form von zahlreichen Zwischenresümees bereits detailliert beschrieben und pointiert zusammengefasst wurden, wäre es wenig gewinnbringend, darauf noch einmal in Einzelnen einzugehen. Stattdessen soll der Blick auf Aussagen gelenkt werden, die einen Einblick in das Selbstverständnis des Radulfus Ardens als theologischen Schriftsteller, Lehrer und Seelsorger erlauben. Sie wurden bisher noch nicht eingehender beachtet und stoßen – gerade im Hinblick auf die kaum untersuchten Homiliae – weiterführende Forschungsfragen an, die sicherlich auch neue Erkenntnisse zur Komplementarität im Denken des Radulfus Ardens zutage fördern könnten. Sie finden sich an einer auf den ersten Blick unerwarteten Stelle im Werk, nämlich im Traktat über die Klugheit (‚prudentia‘) in Buch 9. Dort behandelt er in den Kapiteln 34–51 insgesamt fünf Möglichkeiten, wie man die Tugend der Klugheit gebrauchen kann (‚de usibus prudentie‘) und nennt als fünften2 ‚usus‘ das kluge Schreiben (‚prudenter scribere‘), womit nichts anderes als die Abfassung eines theologischen Werkes gemeint ist (‚prudentiam scripto commendare‘). Bereits im ersten Aufriss dieses Abschnitts in Kapitel 33 hebt er hervor, dass der hauptsächliche Nutzen dieses fünften ‚usus‘ darin besteht, nachfolgende Generationen zu bereichern (‚ditare‘) und ihnen den rechten Weg zu zeigen (‚uiam ostendere‘).3 Damit verfolgt theologische Schriftstellerei in seinem Verständnis immer in erster Linie einen didaktischen und auf der Grundlage des Glaubens auch einen seelsorgerlichen Zweck. Von daher verwundert es nicht, dass das Kapitel 50, in dem er sich genauer zur Motivation des Autors und zur idealen Gestalt einer ‚scriptura prudens‘ äußert, unmittelbar auf den Traktat über den
2 Später in Kapitel 50 führt er das ‚prudenter schribere‘ dagegen als vierten Gebrauch der Klugheit an. Dies ist darauf zurückzuführen, dass er die Bewachung der eigenen Güter in Kapitel 51 als fünften ‚usus‘ der Klugheit behandelt und wohl schlicht die Reihenfolge vertauscht hat. 3 Spec. uniu. 9, 33 (CCM 241A, p. 414): „Prudentie uero quinque sunt usus, uidelicet prudenter meditari, prudenter operari, prudenter docere, prudenter sua bona reseruare, prudentiam scripto commendare. Per primum prudentia germinat, per secundum fructificat, per tertium sese multiplicat, per quartum fructus suos conseruat, per quintum posteros ditat. Per primum in se habitatorem Deum recipit, per secundum radios suos foras exerit, per tertium multos secum trahit, per quartum cum multo lucro ad regnum celorum pertingit, per quintum posteris uiam ostendit.“
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guten Unterricht bzw. über den guten Lehrer (c. 36–49) folgt, in dem wiederum der vierte Gebrauch der Klugheit, nämlich das ‚prudenter docere‘, ausführlich dargestellt wird. Diese beiden Abschnitte werden nun einer genaueren Betrachtung unterzogen, wobei der Gedankengang in Kapitel 50 im Detail nachgezeichnet wird und aus den Kapiteln 36–49 einige Aussagen als Ergänzung herangezogen werden. Dabei ist zu erwähnen, dass auf den ersten Blick nicht der Eindruck entsteht, dass sich Radulfus Ardens hier in eigener Sache äußert, sondern dass es so erscheint, als ob er lediglich einen weiteren Gliederungspunkt seiner Programmatik bearbeitet. Die folgenden Ausführungen werden aber zeigen, dass er sich hier zwar indirekt, aber ganz bewusst zu seinen eigenen Vorstellungen geäußert hat und dabei offenkundig auch eigene Erfahrungen einfließen ließ. (1) Zuerst rechtfertigt er die Schriftstellerei, indem er aufzeigt, welchen Nutzen sie bringt. Erstens lernt man dadurch Gott und seine Weisungen besser kennen, zweitens setzt man sich mit den Einsichten und Irrtümern früherer Gelehrter (‚prudentias et errores antiquorum‘) auseinander, schützt drittens eigene Erkenntnisse davor, vergessen zu werden, setzt sich viertens mit seinem Gewissen auseinander und unterrichtet fünftens damit gerade nicht anwesende und sogar erst zukünftig geborene Menschen.4 Dass nur ein Mensch, der die Tugend der Klugheit besitzt, ein solches Unterfangen umsetzten kann, begründet er damit, dass jemand, der ‚prudentia‘ schreibt, auch selbst klug leben muss.5 An diesen Aussagen geht neben dem erneuten Hinweis auf die didaktisch-belehrende Zielrichtung der schriftstellerischen Tätigkeit erstens hervor, dass die Abfassung eines theologischen Werkes aus der Auseinandersetzungen mit ähnlichen Versuchen in der Vergangenheit erwächst. Zweitens zeigt sich, dass Radulfus Ardens diese Tätigkeit – ähnlich wie beim guten Lehrer – an einen tugendhaften Lebenswandel und die moralische Aufrichtigkeit des Autors knüpft. Darauf geht er noch genauer ein, indem er die Motivationen dafür in den Blick nimmt: Der Schriftsteller muss sich von den ‚exempla antiquorum patrum‘ leiten lassen. Radulfus Ardens versteht diese Aussage so, dass es bereits früher Versuche von klugen Männern gegeben hat, ihre Erkenntnisse zu verschriftlichen. Diese wer-
4 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 463): „Quartus usus prudentie est prudenter scribere. […] Sane scriptura quinariam confert nobis utilitatem: Per hanc enim Deum et eius mandata cognoscimus, per hanc antiquorum prudentias et errores addiscimus, per hanc memorie nostre insufficientiam adiuuamus, per hanc archana nostra remotis sine tertii conscientia sibilamus, per hanc tam absentes quam nascituros edocemus. Scriptura igitur est nobis lucerna fidei et iustitie, thesaurus ministrator antiquorum prudentie, armarium memorie, fidelis interpres conscientie, propagatrix perpetua in posteros eruditionis nostre.“ 5 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 463 f.): „Porro prudentis scribere est, quoniam ipse solus ad scribendum et idoneus et sufficiens est. Idoneus, quoniam ipse solus ad scribendum et prudenter docendum idoneus est qui prudenter uiuit. Et ille solus ad docendum et scribendum prudenter sufficiens est qui que scribenda sunt, nouit.“
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den nun durch die Tradition weitergereicht und Schritt für Schritt erweitert. Hier werden Anklänge an die in der Einleitung erwähnten Entwicklung erkennbar, in der es nicht nur um Tradition von Universalwissen, sondern um Erweiterung und Vervollständigung geht. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass er in Anlehnung an Mt 13, 52 hervorhebt, dass der Schriftsteller Altes und Neues behandeln muss; da er die ‚noua‘ auf die Erneuerung im Himmelreich, die ‚uetera‘ aber auf die Verdammnis in der Hölle bezieht, leitet er für den Bereich der Tugendethik daraus ab, dass sowohl die Tugenden als auch die Laster dargestellt werden müssen, da aufgrund ihrer komplementären Struktur das eine nicht ohne das andere im vollen Sinne verstanden werden kann.6 Zudem ist der Schriftsteller von Gott selbst dazu aufgerufen und zwar in dem Sinn, dass er von Gott seine Fähigkeiten als ‚talentum‘ erhalten hat, die er den anderen Menschen nicht vorenthalten darf, sondern mit ihnen teilen muss.7 Zusätzlich wird er durch die Aussicht auf Verdienste motiviert. Wie positiv Radulfus Ardens diese Tätigkeit bewertet, zeigt sich daran, dass er es für möglich hält, dass man sich mit einer klugen Schrift sogar noch nach dem Tod ‚merita‘ erwerben kann.8 Sodann geht er darauf ein, unter welchen Umständen man schriftstellerisch tätig sein soll und stellt dabei unter Verweis auf Eccli 38, 25 fest, dass man ‚in der Freizeit‘ (‚in tempore uacuitatis‘) schreiben muss. Diese zunächst einmal vieldeutige Aussage präzisiert er dadurch, dass er die Ruhe (‚otium‘) in mehrere verschiedene Arten unterteilt und schließlich einen Ruhezustand des Körpers und des Geistes, der bewusst zur Erfrischung der eigenen Kräfte herbeigeführt wird, als die Ruhe des Klugen identifiziert.9 Diese Bemerkung lässt sich durchaus so verstehen,
6 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 465): „Omnis scriba doctus similis est patri familias qui profert de thesauro suo noua et uetera: Noua laudando nouitatem uirtutum, uetera execrando uetustatem uitiorum, noua promittendo renouationem regni celorum, uetera comminando uetustatem infernalium suppliciorum. Sane cum prudentia et stultitia contraria sint, non potest prudentia plene cognosci, nisi per contrarii sui cognitionem.“ 7 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 464): „Animatur autem prudens ad scribendum tribus de causis: exemplo, mandato et merito; exemplo patrum antiquorum, mandato Dei, merito premiorum eternorum. Siquidem priores patres priorem prudentie uiam sequacibus suis scribendo transmiserunt, illi uero ab eis accipientes et alia etiam eis superaddentes sequacibus suis scribendo propinauerunt. Nos quoque ab eis accipientes non debemus ignauie sompnolentia pigrescere, sed exemplo eorum prudenter traditis prudenter superapponere et ad posteros nostros scribendo delegare. […] Dominus quoque in euangelio precepit illis quibus talenta prudentie doctrineque sue commisit, dicens: Negotiamini, dum uenio. Et bonum quidem dispensatorem pro multiplicato talento remunerat, occultatorem uero talenti tamquam inutilem seruum dampnat.“ 8 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 465): „Videtur autem meritum scribendi in hoc ceteris preiudicare quoniam, cum per cetera tantum uiuentes promereamur, per istud etiam defuncti uidemur promereri. Numquid non etiam defuncti promeremur, cum per scripta nostra etiam post mortem nostram legentes erudimus?“ 9 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 465 f.): „Quando scribenda est prudentia? ‘In tempore uacuitatis’. A ceteris usibus prudentie intelligendum est. Vel ideo ‘in tempore uacuitatis’ dicitur, quoniam in scri-
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dass Radulfus Ardens möglicherweise selbst über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder an seinen Schriften gearbeitet hat und diese Tätigkeit als eine produktive Rückzugsmöglichkeit ansah. Auch wenn diese Annahme spekulativ ist, würde sie sich zumindest mit der oben erwähnten Aussage im Vorwort der Predigten decken, in dem der Autor auf die zahlreichen Aufgaben hinweist, die ihn vom Schreiben abhalten. Schließlich legt er fest, wie man beim Verfassen einer Schrift vorgehen und welchen Ansprüchen sie genügen muss. Er nennt acht Kriterien: Sie muss schlüssig (‚consone‘), zusammenhängend bzw. systematisch (‚connexe‘), in einem zum Verständnis genügenden Maß (‚sufficienter‘), nicht weitschweifig (‚non superflue‘), fundiert (‚obnixe‘), leicht verständlich (‚aperte‘), kurz (‚breue‘) und Punkt für Punkt bzw. kapitelweise (‚capitulatim‘) abgefasst sein.10 Diese Zusammenstellung – das wird auf den ersten Blick klar – weist klare Bezüge zur Konzeption und Durchführung des Speculum universale auf, weshalb man davon ausgehen kann, dass Radulfus Ardens hier seine eigene schriftstellerische Tätigkeit kommentiert. Alle acht Eigenschaften dienen einem spezifischen Zweck: ‚consone‘ bedeutet logisch bzw. schlüssig, sodass die Schrift frei von Widersprüchen ist; ‚connexe‘ heißt, dass alle Themen durch einen übergeordneten Zusammenhang verbunden sind; ‚sufficienter‘ und ‚non superflue‘ ist die Schrift dann, wenn sie gerade so viel Inhalt präsentiert, dass sie noch verständlich ist; ‚obnixe‘ bedeutet, dass sie durch Autoritäten abgesichert ist; nur wenn sie ‚aperte‘ und ‚breuis‘ ist, ist sie leicht zugänglich und verständlich und das Vorgehen anhand einer Gliederung in Kapiteln (‚capitulatim‘) schafft schließlich einen übergeordneten Rahmen und hilft dabei, die Inhalte im Gedächtnis zu behalten.11 An
benda prudentia maior uacatio quam in exterioribus operibus est adhibenda. Prudens quippe non debet penitus esse uacuus uel otiosus. […] Aduertendum quippe est quod otium aliud est corporis et non mentis, aliud est mentis et non corporis, aliud nec mentis nec corporis, aliud et mentis et corporis. Primum est studiosorum, secundum operariorum, tertium inutiliter operantium siue cogitantium quorum opera non immerito dicuntur otiosa, quartum nichil agentium uel meditantium. Istud autem extremum diuiditur in tria. Nam aliud est necessitatis, aliud desidie, aliud consilii. Primum est uniuersorum secundum pigrorum, tertium prudentium. Et primum quidem ex necessitate sumitur ad repausationem, secundum ex desidia consumitur in inertiam, tertium ex discretione sumitur ad recreationem.“ 10 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 466 f.): „Quomodo est scribenda prudentia? Consone, connexe, sufficienter, non superflue, obnixe, aperte, breuiter, capitulatim.“ 11 Spec. uniu. 9, 50 (CCM 241A, p. 467): „Consone, ut nulla scribatur repugnantia […]. Connexe, ut scilicet non digrediatur ad aliena, sed cuncta sint coherentia et ad propositum pertinentia. Sufficienter, ut scilicet sufficientia ad demonstrationem propositi apponantur. Non superflue, ut scilicet superuacue nichil interferatur. Obnixe, ut scilicet quicquid scribatur rationibus, auctoritatibus et exemplis confirmetur. Aperte, ut scilicet nichil obscure, sed intelligibiliter conscribatur. Breuiter, ut scilicet breuibus uerbis sententia concludatur […]. Capitulatim, ut scilicet sub certo numero dicendorum pluralitas coarcetur. Porro primum facit ad ueritatem, secundum ad contumacionem, tertium ad persuasionem, quartum ad superfluitatis circumcisionem, quintum ad confirmationem, sextum ad intelligentiam, septimum ad capacitatem, octauum ad memoriam.“
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Schluss: Weiterführende Einzelaspekte
diesen Erläuterungen zeigt sich: Die Kriterien, die Radulfus Ardens hier nennt, enthalten eine ganze Reihe typisch scholastischer Methoden. Sie dienen im Speculum universale dazu, die Gedankengänge gegen mögliche Einwände zu immunisieren, systematische Kohärenz zu gewährleisten sowie das Lernen und Erinnern der behandelten Inhalte zu erleichtern. (2) Um an konkreten Aussagen noch deutlicher zu zeigen, wie eng die Tätigkeit als Schriftsteller und die Lehre bzw. die Seelsorge im Verständnis des Radulfus Ardens zusammenhängen, wird der Blick nun auf einige interessante Aussagen im Traktat über den guten Unterricht gelenkt. Unterricht bedeutet für ihn dabei nicht nur Unterweisung in einem bestimmten Fachgebiet, vielmehr schließt sein Verständnis des Wortes ‚docere‘ sieben Tätigkeiten mit ein, die z. T. eindeutig in den Bereich der Seelsorge gehören: Das Zurechtweisen von Sündern (‚prauos corrigere‘), das Unterrichten von Ungebildeten (‚rudes erudire‘), das Trösten von Traurigen (‚mestos consolari‘), das Ermutigen von Schwachen (‚infirmos confortare‘), das Motivieren von Guten (‚bonos exortari‘), das Beraten von Ratlosen (‚inconsultis consilium dare‘) und schließlich die Versöhnung von Streitenden (‚discordes pacificare‘).12 Bei den Erläuterungen zu diesen ‚partes doctrine‘ trifft er an mehreren Stellen Aussagen zur Konzeption und zum Hauptanliegen des Speculum universale. – In Kapitel 37 betont er, dass der Lehrer selbst – neben Fachkenntnis (‚doctrina‘) und Ansehen (‚auctoritas‘) – v. a. Tugenden besitzen muss. Wenn er nämlich selbst nicht tugendhaft lebt, nützt sein ganzer Unterricht nichts, weil die Schüler eher dem Vorbild der Taten als den Worten folgen.13 Wieder wird hier die Bedeutung der ‚exempla‘ deutlich. – Sind diese Voraussetzungen erfüllt, muss sich der Lehrer mit der Frage beschäftigen, wie er jeden einzelnen seiner Schüler unterrichten soll. Dabei wird er mit einer enormen Vielzahl von unterschiedlichen Persönlichkeiten und Einzelsituationen konfrontiert, die er immer miteinbeziehen muss, um den ihm anvertrauten Menschen gerecht zu werden.14 Bildung ist für ihn dabei in erster Linie sittliche
12 Spec. uniu. 9, 40 (CCM 241A, p. 424): „Quid uero cui debeat loqui, considerandum est prudenti. Debet siquidem prauos corrigere, rudes erudire, tristes consolari, infirmos confortare, bonos exortari, inconsultis consilium dare, discordes pacificare.“ 13 Spec. uniu. 9, 37 (CCM 241A, p. 418): „Itaque qui uult docere, primo consideret quid sit ipse, utrum uidelicet ipse sit magister et doctrina et auctoritate et uirtute. Si enim hec tria non habet, conuenienter docere non potest. […] Si uero magister uirtute caret, non idonee docere ualet. Nam pronior est subditus sequi doctoris uitam quam doctrinam. […] Bonus itaque doctor doceat exemplo, doceat et uerbo.“ 14 Spec. uniu. 9, 38 (CCM 241A, p. 422): „Quosdam uero docere possumus, audemus et debemus. At eorum multe sunt species. Nam eorum quidam sunt praui, quidam rudes, quidam tristes, quidam infirmi, quidam boni, quidam inconsulti, quidam discordes. Nichilominus unumquodque istorum membrorum subdiuiditur secundum sexus, secundum etates, secundum conditiones, secundum gradus, secundum ordinem, secundum scientiam, secundum mores et huiusmodi.“
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Bildung auf der Grundlage der Heiligen Schrift. Er geht dabei aber auch noch einen Schritt weiter, indem er auch allen anderen Texten, die im sittlichen Bereich nützlich sind, eine ähnliche Bedeutung bzw. Autorität wie der Bibel zumisst, da Gott überhaupt nur zu den Menschen gesprochen hat, um sie sittlich zu bilden.15 Bei dem Entwurf dieses ‚ethischen Lehrplans‘ spielt die Komplementarität der Tugenden eine wichtige Rolle, da man seine Unterweisung so strukturieren muss, dass sie nicht ‚uitia contraria‘, sondern nur Tugenden entstehen lässt.16 – Vor welche Aufgaben der gute Lehrer durch diese Situation gestellt ist, betrachtet im Kontext der ‚correctio fraterna‘ (c. 40–43) genauer: Jedem Sünder muss nämlich aufgezeigt werden, was die Konsequenzen seiner Laster sind und welche Tugenden Heilmittel dafür sein können.17 Dazu benötigt der Lehrer im Idealfall Wissen über jede denkbare pastorale Situation oder, anders gesprochen, über alle denkbaren Laster (und Tugenden), das er – laut Radulfus Ardens – im Speculum universale auch finden kann. So schreibt er: Quot enim sunt species uitiorum, tot et species uitiosorum. Quoniam uero in hoc opere fere de omnibus uitiorum generibus uel iam diximus uel dicturi sumus, prudens lector singula uitiorum genera in hoc uolumine disquirat, ut ex origine uitiorum qualiter unumquodque uitium corrigere possit, animaduertat.18
In ganz ähnlicher Weise äußert er sich nur ein paar Absätze später im Abschnitt über das Unterrichten von Ungebildeten, also die ‚secunda pars doctrine‘ in Kapitel 44. Hier führt er aus, dass man manche Inhalte – also bestimmte grundlegende Tugenden – mit allen Schülern behandeln kann. Jedoch gibt es viele Spezialfälle, in denen man individuell auf einzelne Personen eingehen und ihnen besondere Tugenden empfehlen muss. Auch hier ist wieder ein umfassendes Wissen über das menschliche Verhalten und seine komplementäre Struktur nötig, das der Leser, wie er hervorhebt, verstreut (‚sparsim‘) in seinem Werk finden könne:
15 Spec. uniu. 9, 39 (CCM 241A, p. 422 f.): „Hoc autem sciendum quod si quis predicat uerba que in diuinis libris non inueniuntur, sed tamen mores instruunt et ad debitum finem tendunt, uerba proculdubio Dei sunt. Quoniam propter hoc Deus tantum nobis in scripturis locutus est, ut nos in moribus instrueret et ad salutem eternam perduceret.“ 16 Vgl. dazu ausführlich das Kapitel zur ‚komplementären Didaktik‘ unter Punkt 1.2.6.1 im ersten Hauptteil der Arbeit. 17 Spec. uniu. 9, 43 (CCM 241A, p. 431): „Que correctio cui facienda est? Delinquentibus uniuersis uniuersaliter prius exaggeranda est peccati sui magnitudo et quantis bonis eum spoliet quantisque malis eum dampnet.“ Ähnlich äußert er sich z. B. auch in Spec. uniu. 9, 44 (CCM 241A, p. 431): „Quid quoque eos doceat, debet attendere, ut scilicet eos doceat que potius eis sunt utilia, potius conuenientia, potius eorum mores informantia.“ 18 Spec. uniu. 9, 43 (CCM 241A, p. 431).
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Schluss: Weiterführende Einzelaspekte
Debent siquidem generaliter rudes prius doceri de fide, spe et caritate ceterisque uirtutibus, de discretione uirtutum et uitiorum, de distinctione criminalium peccatorum et uenialium […]. Singulis uero singulorum ignorantiis longum esset in presentiarum satisfacere, sed quid unicuique respondere debeas, sparsim in hoc opere nostro poteris inuenire.19
Diese Aussagen sind einerseits – wie in der Einleitung angedeutet – für die Programmatik des Speculum universale höchst bedeutsam; andererseits stehen sie aber auch in einem engen Bezug zu seinem Predigtwerk. Dies wird deutlich, wenn Radulfus Ardens am Ende von Kapitel 44 auf die Frage zu sprechen kommt, wie ein guter Lehrer unterrichten muss (‚qualiter debet erudire?‘) und dabei vier Kriterien benennt, die seiner Meinung nach einen guten Lehrer bzw. guten Unterricht ausmachen: Qualiter debet erudire? Intelligibiliter, ignite, parabolice, exemplariter. […] Quem morem beatus Gregorius in omeliis suis frequenter secutus est.20
Sie muss verständlich (‚intelligibiliter‘) und leidenschaftlich (‚ignite‘) sein, durch Gleichnisse verständlich gemacht (‚parabolice‘) und mit Beispielen (‚exemplariter‘) angereichert werden.21 Die Bedeutung der ‚exempla‘ begründet er dabei damit, dass Taten grundsätzlich mehr zum Tun des Guten motivieren als Worte.22 Radulfus Ardens bezieht sich hier auf das Vorbild Gregors des Großen, der in seinen Predigten offenbar genauso vorgegangen ist. Unabhängig davon, dass es sich vor dem Hintergrund dieser Aussage wohl lohnen würde, die Predigten Gregors mit denen des Radulfus Ardens auf strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeiten zu untersuchen, lässt sich daran ablesen, dass im Verständnis des Radulfus Ardens schriftstellerische Tätigkeit, Unterricht und Seelsorge aufs Engste miteinander verbunden sind. Somit ist anzunehmen, dass es zahlreiche Querbezüge zwischen den Predigten und dem Speculum universale gibt, durch die sich unter Umständen vielleicht sogar einige der erwähnten Verständnisschwierigkeiten lösen ließen. Nach dem aktuellen Stand der Forschung lässt sich diesbezüglich jedoch kaum etwas Konkretes sagen. Weitere Erkenntnisse ließen sich sicherlich durch eine detaillierte Analyse der Homiliae und der Beleuchtung ihrer Rezeption gewinnen, wie auch schon Claudia Heimann hervorgehoben hat.23 Damit
19 Spec. uniu. 9, 44 (CCM 241A, p. 432 f.). 20 Spec. uniu. 9, 44 (CCM 241A, p. 433 f.). 21 Spec. uniu. 9, 44 (CCM 241A, p. 434): „Intelligibiliter, ut que docet uerborum obscuritate non tegat, sed potius planis et notis uerbis intelligi faciat. Intelligibiliter, ut que docet uerborum obscuritate non tegat, sed potius planis et notis uerbis intelligi faciat. […] Ignite, ut non ex solis labiis, sed ex fonte uere dilectionis eruditio procedat et auditores succendat, ut unusquisque inflammatus dicere queat: Ignitum eloquium tuum et seruus tuus dilexit illud. Parabolice, ut rudes per rerum notarum similitudinem trahantur ad rerum ignotarum ueritatem. Quod Dominus in euangelio frequenter fecisse renarratur. Exemplariter, ut de uirtutibus quas auditoribus predicat, exempla conuenientia supponat […].“ 22 Spec. uniu. 9, 44 (CCM 241A, p. 434): „Magis quippe mentes excitant facta quam uerba sola.“ 23 Vgl. HEIMANN, Beobachtungen 172.
Schluss: Weiterführende Einzelaspekte
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sind allerdings Forschungsfragen angesprochen, die weit über das Ziel der vorliegenden Untersuchung hinausgehen. Vielleicht regen die hier angestellten Nachforschungen zum Speculum universale und die weiter voranschreitende kritische Edition dieses Werkes ja sogar an, dass in naher Zukunft auch die Predigten des Radulfus Ardens in der Forschung mehr Beachtung finden.
Allgemeine Hinweise Lateinische Orthografie Die Orthografie der angeführten lateinischen Texte richtet sich grundsätzlich nach der jeweiligen Edition. Im Fließtext wurden ausgeschriebene Werktitel und Fachtermini ohne Bezug zu einem direkten Textzitat aus kosmetischen Gründen in klassischer Schreibweise angeführt. Die Orthografie in den Textzitaten aus dem Speculum universale, die den Handschriften entnommen wurden, entspricht weitestgehend der in den Manuskripten. Da sich in den Handschriften aber gelegentlich unterschiedliche und z. T. für den an klassisches Latein gewohnten Leser unästhetische Schreibweisen finden, wurde der Text orthografisch an einigen wenigen Stellen leicht verändert.
Bibelzitate Sämtliche Bibelzitate wurden aus der Vulgata entnommen und beziehen sich auf die Edition Biblia sacra. Iuxta Vulgatam versionem (ed. R. WEBER / R. GRYSON), Stuttgart 5 2007. Die Abkürzungen der biblischen Bücher richten sich nach S. M. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 32014 (IATG3).
Abkürzungen lateinischer und griechischer Werke Antike und spätantike Werke lateinischer Autoren wurden nach D. G. KRÖMER / C. G. VAN LEIJENHORST, Thesaurus Linguae Latinae. Index librorum, scriptorum, inscriptionum ex quibus exempla afferuntur, Leipzig 21990 abgekürzt, pagan-griechische Literatur nach H. G. LIDDELL / R. SCOTT / H. S. JONES / R. MCKENZIE, A Greek-English Lexicon. With a Revised Supplement, Oxford 1996 und christlich-griechische Literatur nach G. W. H. LAMPE, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961. Mittelalterliche lateinische Werke wurden nach dem Index scriptorum novus mediae latinitatis ab anno DCCC ad annum MCC, Kopenhagen 1973 sowie dem dazugehörigen Supplement aus dem Jahr 1989 abgekürzt. Zusätzliche bzw. abweichende Abkürzungen sind in der folgenden Übersicht enthalten: AVICENNA, De anima BERNARDUS CLAREVALLENSIS, Sermones de diversis BERNARDUS CLAREVALLENSIS, Sermones in festivitate omnium sanctorum BERNARDUS CLAREVALLENSIS, Sermones super canticos canticorum Florilegium morale oxoniense HILDEBERTUS CENOMANENSIS, Moralis philosophia de honesto et utili https://doi.org/10.1515/9783110758924-017
AVIC., An. Div. OS SC Flor. mor. ox. HILDEB., Moral.
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Allgemeine Hinweise
Werke des Radulfus Ardens Das Speculum universale wird mit Spec. uniu. abgekürzt. Bei den Stellenangaben bezeichnet die erste Zahl das Buch, die zweite Zahl das Kapitel. Untersuchungen zum Text der Bücher 1–10 beziehen sich auf die Edition von HEIMANN / ERNST (CCM 241). Der Text der übrigen, bisher noch nicht edierten Bücher, wurde aus der Handschrift P, also den beiden Codices Paris BN lat. 3229 und 3240, entnommen. Der erste Band enthält die Bücher 1–5 und 7–8, der zweite die Bücher 9–14. Diese beiden Codices wurden in den Stellenangaben der Übersichtlichkeit halber mit der Sigle ‚P‘ abgekürzt. Bei der Zitation der übrigen Handschriften wurde die vollständige Signatur angegeben. Dementsprechend wurde im Bereich der Bücher 1–10 zusätzlich in Klammern hinter der Stellenangabe die Seitenzahl der Edition von HEIMANN / ERNST angegeben (p.), im Bereich der Bücher 11–14 die Seitenzahl der Handschrift P (fol.). Der Verfasser der vorliegenden Arbeit hat die zitierten Texte in erster Linie eigenständig aus der Handschrift entnommen. Zusätzlich konnte er auf die laufenden Editionsarbeiten für den dritten Band der CCM-Edition am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Würzburg zurückgreifen. Dankenswerter Weise stellten Frau Dr. Claudia Heimann und Frau Dr. Anette Löffler eine Abschrift der ersten 119 Kapitel von Buch 11 und des gesamten 12. Buches zur Verfügung. Diese beiden Abschriften geben selbstverständlich noch nicht die endgültige Textgestalt wieder, waren aber bei der inhaltlichen Erschließung der beiden Bücher und bei der Abfassung der Arbeit eine außerordentlich große Hilfe, für die sich der Verfasser an dieser Stelle herzlich bedankt. Die Homiliae wurden mit Homil. abgekürzt. Gedruckt in Band 155 der Patrologia Latina (PL), gliedern sie sich in zwei Bücher und parallel dazu in drei Teile, in denen die Zählung jeweils von neuem beginnt (de tempore, de sanctis und in epistulas et evangelia dominicalia). Bei Stellenangaben wird dementsprechend der Teil (temp., sanct. und in epist.), die Zahl des Buches, die Nummer der Predigt und zusätzlich in Klammern dahinter die Spaltenzahl der PL angegeben.
Sekundärliteratur Wissenschaftliche Lexika, Zeitschriften und Reihen werden nach S. M. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 32014 (IATG3) abgekürzt. Eine Ausnahme bilden die beiden Reihen Corpus Christianorum Series Latina und Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis. Sie wurden abweichend davon ‚CCL‘ und ‚CCM‘ abgekürzt. Häufig in der Untersuchung genannte, aber in diesem Verzeichnis nicht enthaltene Reihen wurden wie folgt abgekürzt:
Sekundärliteratur
Avicenna Latinus (Leiden) Brill’s Companions to the Christian Tradition (Leiden) Corpus Victorinum. Textus historici (Münster) Sancti Bernardi opera (Rom) Züricher Hochschulforum (Zürich)
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Avic.Lat. BCCT CorpVict.TH SBO ZHF
Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Radulfus Ardens, Speculum universale HSS: Codices Paris BN lat. 3229 und 3240 Codex Paris BN lat. 3751 Codex Paris BN lat. 3242 Codex Besançon BM 218 Codex BAV Ottob. lat. 880 Codices Lissabon BN Fondo Iluminado 87 und 88 Codex Paris BM ms. 710 Codex Paris BM ms. 709 Codices BAV Vat. lat. 1175 I und II
Gedruckte Quellen Pseudo Ambrosius – Sermones Sancto Ambrosio hactenus ascripti (ed. J.-P. Migne) (PL 17), Paris 1845, col. 603–734. Aristoteles – De anima (ed. W. D. Ross) (OCT), Oxford 1956. – Ethica Eudemia (ed. R. R. Walzer / J. M. Mingay) (OCT), Oxford 1991. – Ethica Nicomachaea (ed. E. Bywater) (OCT), Oxford 1894. Augustinus – De civitate dei (ed. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 47 / 48), Turnhout 1955. – De doctrina christiana (ed. M. Simonetti), Mailand 32006. – De duabus animabus (ed. J. Zycha) (CSEL 25,1), Prag / Wien / Leipzig 1891, p. 51–80. – De libero arbitrio (ed. W. M. Green) (CSEL 74), Wien 1956. – Enarrationes in psalmos (ed. E. Dekkers / I. Fraipont) (CCL 38 / 39 / 40), Turnhout 1956. – Epistulae CLXXXV–CCLXX (ed. A. Goldbacher) (CSEL 57), Wien / Leipzig 1911. – Retractationes (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 57), Turnhout 1999. Pseudo Augustinus – De spiritu et anima (ed. J.-P. Migne) (PL 40), Paris 1865, col. 779–832. Avicenna – Liber de anima seu sextus de naturalibus (ed. S. van Riet / S. Verbeke) (Avic.Lat. 2), Leiden 1968. Bernardus Clarevallensis – De gratia et libero arbitrio (ed. J. Leclercq / H. Rochais) (SBO 3), Rom 1963, p. 165–203. – Sermones de diversis (ed. J. Leclercq / H. Rochais) (SBO 6,1), Rom 1970, p. 73–403. – Sermones in festivitate omnium sanctorum (ed. J. Leclercq / H. Rochais) (SBO 5), Rom 1968, p. 327–370.
https://doi.org/10.1515/9783110758924-018
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Register Acton, Ralph – Atton, Ralph 39 Adam 21, 130, 132–133, 527, 534 Aelred von Rievaulx 371 Alanus von Lille 18–19, 26, 34, 57–58, 371, 567 Alcher von Clairvaux 372 Alexander der Großen 283 Alexander III. 42 Anselm von Canterbury 363 Anselm von Laon 52–55 Aristoteles 54, 95, 352, 354–356, 380 Augustinus 18, 34, 52, 56, 96–97, 117, 135, 149, 159, 349–351, 358–365, 370, 372, 375, 378–379, 465, 563–564, 568, 573, 575, 578, 580, 582 Baldwin, John 11 Bernhard von Chartres 53 Bernhard von Clairvaux 20, 42, 60, 350–351, 364–371, 374, 376, 379, 389 Bernhard von Cluny 567 Boethius 19, 44, 51, 54, 56–57, 60, 93, 374 Casagrande, Carla 11 Cato der Jüngere 283 Cicero 18, 44, 54, 60, 95, 288, 349, 355, 357–359 Coelestin III. 576 Cyprian 153, 563 d’Alverny, Marie-Thérèse 10, 47 d’Alvernys, Marie-Thérèse 10
Grabmann, Martin 8–9, 42, 62 Gregor der Große 43, 89, 329, 592 Gründel, Johannes 3, 8, 10–11, 14–15, 24, 29, 35, 41, 62–66, 73, 93, 110, 142, 154, 213, 280–281, 343, 357, 397, 401 Heimann, Claudia 6–8, 10–11, 24, 41, 43, 64–66, 592 Hilarius von Poitiers 117 Hildebert von Lavardin 11, 389–390, 420–421, 567, 581 Hildegard von Bingen 65 Hiob 89 Honorius Augustoduniensis 36 Horaz 44, 54, 61, 95, 358, 433 Hugo von Sankt Viktor 18, 36, 269, 373, 378, 568–570, 572–577, 578, 580–582 Innozenz III. – Lothar von Segni 568–569, 576–582 Isaak von Stella 371–372, 377 Isidor von Sevilla 36 Jeremia 254 Jesus Christus 18, 56, 113, 130, 132–134, 136, 140, 183, 232, 234, 245, 252–253, 270, 283, 286, 290–291, 309, 365, 426, 436, 447, 450, 470, 478, 510, 519–520, 524, 529, 540, 563, 569 Jiftach 198 Juvenal 44, 433 Konrad von Hirsau 567
Eli 295, 341 Epikur 352, 358 Ernst, Stephan 6, 15, 65 Evans, Christopher 6, 45 Ezechiel 296 Fremy, Claude 38, 40–41, 43 Gaufried von Poitiers 59 Geyer, Bernhard 9, 42, 62 Gilbert von Poitiers 33, 44–45, 54–57, 59–60, 93, 98, 370 Giraud, Cédric 569 https://doi.org/10.1515/9783110758924-019
Landgraf, Artur 62 Lukan 433 Macrobius 18 Magister Martinus 59 Michaud-Quantin, Pierre 63, 142 Mose 296 Nebukadnezar 254 Nikolaus von Amiens 26 Ovid 44
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Register
Paulus 232, 282, 296 Petrarca 390 Petrus 232 Petrus Abaelardus 18, 33, 350–351, 362, 364 Petrus Cantor 11, 47, 390, 576 Petrus Damiani 567 Petrus Lombardus 17, 46, 55–60, 97–98, 329 Petrus von Poitiers 58, 60 Platon 51, 79, 129, 352–353, 355–356, 360–361, 376, 378–380, 575 Pseudo-Augustinus 75, 351 Richard Löwenherz 12, 48, 481 Richard von Sankt Viktor 568 Robert Pullus 567 Roger von Caen 567 Seneca 27, 44, 288, 306–307, 349, 357, 379, 433–434, 440, 442, 562
Simon Abbas 471–472, 493, 565 Simon von Tournai 18–19, 57, 59 Stephan Langton 59 Tertullian 563 Thierry von Chartres 371 Thomas von Aquin 64, 321, 380 Van den Eynde, Damien 10–11 Vecchio, Silvana 11 Vernet, André 8 Vinzenz von Beauvais 36 Wilhelm von Champeaux 389 Wilhelm von Conches 54 Wilhelm von Doncaster 54 Wilhelm von Saint Thierry 371 Wolf, George 38, 48