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German Pages 224 [225] Year 2003
ANNEGRET HAVES
Kollektive Vereinbarungen auf Unternehmens- und Betriebsebene im englischen Arbeitsrecht
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 217
Kollektive Vereinbarungen auf Unternehmens- und Betriebsebene im englischen Arbeitsrecht
Von
Annegret Haves
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Trier hat diese Arbeit im Jahre 2001/2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-10843-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2001/2002 von der Juristischen Fakultät der Universität Trier als Dissertation angenommen. Ihre Entstehung hat der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) dankenswerterweise durch ein Stipendium gefördert. Die Idee zu dieser Untersuchung entstand während meines Studiums an der University of Wales im Jahre 1997. Die Arbeit erstellte ich während meines anschließenden Rechercheaufenthaltes an der University of London. Mein verehrter Lehrer, Herr Prof. Dr. Horst Ehmann, hat den Entstehungsprozeß mit Rat und Tat und vielen hilfreichen Gesprächen begleitet. Ihm möchte ich hierfür herzlich danken. Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Rolf Birk für die sehr zügige Zweitberichterstattung und Herrn Rechtsanwalt Dr. Günther Grün, dem Stifter des Förderpreises des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität Trier. Für seine tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung und Korrektur der Arbeit danke ich Herrn Rechtsanwalt Frank Menken. Duisburg, den 11. April 2003
Annegret Haves
Inhaltsverzeichnis L Teil Einführung
19
2. Teil Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
26
A. Einführung
26
B. Inhalt der collective agreements
27
I. Substantive clauses II. Procedural clauses
28 29
1. Rechte und Pflichten der Verhandlungsparteien
29
2. Dispute procedures
31
C. Rechtliche Wirkungen der collective agreements I. Hintergrund des Fehlens einer rechtlichen Qualifikation II. Rechtliche Qualifikation auf kollektiver Ebene III. Rechtliche Auswirkungen auf den Individualarbeitsvertrag
34 35 37 41
1. Verbindlichkeit der Tarifabschlüsse kraft staatlicher Verfügung
42
2. Drittwirkung der vertraglichen Vereinbarung
42
3. Stellvertretung der Gewerkschaft/Gewerkschaftsvertreter
43
4. Eingliederung in den Individualarbeitsvertrag
44
a) Wille der Vertragsparteien zur Eingliederung in den Arbeitsvertrag
45
(1) Ausdrückliche Eingliederung in den Arbeitsvertrag
45
(2) Konkludente Eingliederung in den Arbeitsvertrag
46
b) Eingliederung in den Arbeitsvertrag durch »custom and practice'
47
nsverzeichnis c) Eignung der kollektiven Bestimmungen zur Eingliederung in den Arbeitsvertrag d) Eingliederung von no-strike clauses e) Einfluß von Änderung oder Kündigung der inkorporierten Vereinbarungen auf das Individualarbeitsverhältnis IV. Zwischenergebnis zur rechtlichen Wirkung der collective agreements
47 49
49 51
D. Form der kollektiven Vereinbarungen
52
E. Konkurrenz zwischen kollektiven Vereinbarungen
53
F. Einordnung in das System der sonstigen arbeitsrechtlichen Rechts- und Regelungsquellen
58
I. Fehlende Normenhierarchie II. Rechts- und Regelungsquellen des Individualarbeitsverhältnisses
58 59
1. Statute law
59
2. Common law
61
3. Work rules
62
4. Custom and Practice
63
III. Rechts- und Regelungsquellen des kollektiven Verhältnisses 1. Statute law
65 65
a) Gesetzliche Sicherung des betrieblichen Friedens
66
b) Gesetzliche Regelungen der betrieblichen Mitbestimmung
67
c) Gesetzliche Regelung des kollektiven Verhandlungsprozesses
74
(1) Offenlegung von Informationen zum Zwecke des collective bargaining
74
(2) Arbeitsfreistellungen der Gewerkschaftsvertreter
75
(3) Anerkennung der Gewerkschaft als Voraussetzung gesetzlicher Mitbestimmungsrechte
77
2. Common law
80
3. Gewerkschaftssatzungen
81
nsverzeichnis 4. Custom and Practice
11 82
IV. Zwischenbilanz: Einordnung der kollektiven Vereinbarungen in das System der arbeitsrechtlichen Rechts- und Regelungsquellen
83
G. Zwischenergebnis: Kollektive Vereinbarungen im System der englischen Arbeitsbeziehungen
84
3. Teil Kollektive Vereinbarungen auf Unternehmens- und Betriebsebene
A. Gegenwärtige Struktur kollektiver Verhandlungen I. Dokumentation der Tarifentwicklung II. Ausmaß kollektiver Festsetzung von Arbeitsbedingungen
86
86 86 87
III. Mögliche Verhandlungsebenen
89
IV. Öffentlicher Sektor
90
V. Privater Sektor VI. Zusammenspiel der unterschiedlichen Verhandlungsebenen VII. Zwischenergebnis B. Darstellung der Entwicklung hin zur Dezentralisierung der englischen Verhandlungsstrukturen I. Einführung II. Anfänge kollektiver Verhandlungen
91 94 97
99 99 99
III. Erster Weltkrieg und Folgezeit
101
IV. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit
102
V. 60er Jahre - Shop steward Verhandlungen
104
1. Productivity bargaining
105
2. Feststellungen der Donovan-Kommission
106
VI. 70er Jahre: Formalisierung der Verhandlungsstrukturen? VII. 80er Jahre: Weitere Zunahme der Dezentralisierung VIII. Zwischenergebnis
107 109 109
nsverzeichnis 4. Teil Ursachen der Dezentralisierung der kollektiven Verhandlungsstrukturen
111
A. Einführung
111
B. Inhaltliche Ausgestaltung der kollektiven Vereinbarungen
111
I. Spärlichkeit der materiellen Regelungen II. Auswirkung auf die Dezentralisierung der kollektiven Verhandlungen C. Institutionelle Voraussetzungen I. Organisation der Gewerkschaften II. Organisation der Arbeitgeberverbände
111 113 114 115 118
III. Organisation der betrieblichen Mitbestimmung
119
IV. Zwischenbilanz
120
D. Rechtlicher Rahmen des Kollektivverhandlungssystems I. Tradition des „voluntarism"
123 123
1. „Voluntarism" und Motive der Vertragspartner
123
2. „Voluntarism" und common law Rechtsfindung
124
3. „Voluntarism" und die Dezentralisierung der kollektiven Verhandlungen ... 127 II. Legislative Eingriffe seit 1979
129
1. Wirtschaftspolitischer Hintergrund
129
2. Arbeitskampfrecht
132
a) Streik als Vertragsbruch
133
b) Deliktsrecht
136
c) Haftungsbegründende Tatbestände
137
(1) Haftungsausschluß
138
(2) Golden formula
138
(3) Secondary action
140
(4) Urabstimmung und Unterrichtungspflicht
141
(5) Sonstige unzulässige Streikinhalte
143
(6) Haftungsumfang
143
d) Organisationsrechtliche Regelungen
145
nsverzeichnis 3. Weitere legislative Beiträge zur Dezentralisierung
13 150
III. Zwischenergebnis: Der rechtliche Rahmen als Ursache der Dezentralisierung kollektiver Verhandlungen 153 E. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
157
I. Industrielle Strukturen
157
II. Arbeits-und betriebsorganisatorische Strukturen
159
1. Wandel der Wettbewerbsbedingungen
160
2. Umstrukturierungsmaßnahmen
161
a) Umstrukturierung der Betriebsorganisation
161
b) Umstrukturierung der Arbeitsorganisation
162
c) Auswirkung auf die Dezentralisierung kollektiver Verhandlungen
163
III. Zwischenbilanz
166
F. Zwischenergebnis: Die Ursachen der Dezentralisierung englischer Kollektivverhandlungen 167
5. Teil Auswirkungen der Dezentralisierung kollektiver Verhandlungen A. Auswirkungen auf die Akteure kollektiver Verhandlungen
170 170
I. Verhandlungsakteure auf Arbeitnehmerseite
172
1. Personelle und institutionelle Vorgaben
172
2. Veränderungen durch die Dezentralisierung
174
a) Geänderte Rolle der shop stewards
174
b) Single union deals
176
c) Single table bargaining
178
II. Verhandlungsakteure auf Arbeitgeberseite III. Zwischenbilanz Β. Auswirkungen auf die Verhandlungsergebnisse I. Substantive clauses 1. Entlohnung a) Regelungen vor Abkehr von den branchenweiten Verhandlungen
180 182 184 184 184 184
14
nsverzeichnis b) Regelungen nach der Abkehr von den Branchen Verhandlungen
185
c) Leapfrog bargaining
191
2. Arbeitszeit
192
a) Regelungen vor der Abkehr von den branchenweiten Verhandlungen
192
b) Regelungen nach der Abkehr von den branchenweiten Verhandlungen .. 193 II. Procedural clauses
198
1. Rechte und Pflichten der Verhandlungsparteien
198
2. Dispute procedures
200
C. Zwischenergebnis
202
6. Teil Zusammenfassung
204
Literaturverzeichnis
211
Sachwortverzeichnis
222
Abkürzungsverzeichnis a. Α.
anderer Ansicht
a. a. Ο.
am angegebenen Ort
ablehn.
ablehnend
Abs.
Absatz
ACAS
Advisory, Conciliation and Arbitration Service
AFG
Arbeitsförderungsgesetz
AG
Aktiengesellschaft, Amtsgericht
ähnl.
ähnlich
allg.
allgemein
allg. A.
allgemeine Ansicht
Alt.
Alternative
Anm.
Anmerkung
AP
Arbeitsrechtliche Praxis (Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts)
ArbG
Arbeitsgericht
ArbGeb
Arbeitgeber
ArbGG
Arbeitsgerichtsgesetz
ArbuR
Arbeit und Recht
ArbZG
Arbeitszeitgesetz
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
ausdrückl.
ausdrücklich
ausf.
ausführlich
AZO
Arbeitszeitordnung
BAG
Bundesarbeitsgericht
BAGE
Amtliche Entscheidungssammlung des BAG
BB
Der Betriebs-Berater
Bd.
Band
BDA
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
BDI
Bundesverband der Deutschen Industrie
BetrVG
Betriebsverfassungsgesetz
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BIJR
British Journal of Industrial Relations
Bspl(e).
Beispiel(e)
16
Abkürzungsverzeichnis
BT-Drucks.
Drucksache des Deutschen Bundestages
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Amtliche Entscheidungssammlung des BVerfG
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
CA
Court of Appeal
ca.
circa
CBI
Confederation of British Industry
d. h.
das heißt
DAG
Deutsche Angestellten Gewerkschaft
DB
Der Betrieb
Def.
Definition
DGB
Deutscher Gewerkschaftsbund
diff.
differenzierend
DM
Deutsche Mark
DWiR
Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EAT
Employment Appeal Tribunal
ebd.
ebenda
EG
Europäische Gemeinschaft
Einl.
Einleitung
EIRR
European Industrial Relations Review
ERA
Employment Relations Act
etc.
et cetera
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EzA
Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht
f., ff.
folgend(e) Seite(n)
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Fn.
Fußnote(n)
FS
Festschrift
gem.
gemeinsame
GewO
Gewerbeordnung
GG
Grundgesetz
GMH
Gewerkschaftliche Monatshefte
GMWU
General, Municipial, Boilermakers and Allied Trade Union
GWB
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
h. M.
herrschende Meinung
hinsichtl.
hinsichtlich
Hrsg.
Herausgeber
HSAWA
Health and Safety at Work Act
i. d. R.
in der Regel
i. E.
im Ergebnis
i. S. d.
im Sinne des/der
Abkürzungsverzeichnis i. V. m.
in Verbindung mit
IDS
Incomes Data Service
IG
Industriegewerkschaft
ILO
International Labour Organization
inkl.
inklusive
insbes.
insbesondere
IRA
Industrial Relations Act 1971
IRJ
Industrial Relations Journal
IRLR
Industrial Relations Law Report
1RS
Industrial Relations Service
JR
Juristische Rundschau
JZ
Juristen Zeitung
krit.
kritisch
KSchG
Kündigungsschutzgesetz
LAG
Landesarbeitsgericht
Lit.
Literatur
m.
mit
m. a. W.
mit anderen Worten
m. w. Nachw.
mit weiteren Nachweisen
M.L.R.
Monthly Law Report
MünchArbR
Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht
MünchKomm
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
Nachw.
Nachweis(e)
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr. / Nrn.
Nummer(n)
NRW
Nordrhein-Westfalen
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht
NZfA
Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht
OECD
Organisation for Economic Development within Europe
PM
Personnel Management
Q.B.
Queens Bench
RdA
Recht der Arbeit
Rdnr. / Rdnrn.
Randnummer(n)
RGZ
Amtliche Sammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen
Rspr.
Rechtsprechung
RT
Reichstag
S.
Seite(n)
SGB
Sozialgesetzbuch
sog.
sogenannte
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SprAuG
Sprecherausschußgesetz
st.
ständig
2 Haves
17
Abkürzungsverzeichnis
18 stellvertr.
stellvertretend
TGWU
Transport and General Workers Union
TUPE
Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulation
TURL(C)A
Trade Union and Labour Relations Consolidations Act
TVG
Tarifvertragsgesetz
TWO
Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und
u. a.
und andere; unter anderem
UK
United Kingdom
undiff.
undifferenziert
unzutreff.
unzutreffend
Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten
vgl.
vergleiche
WIRS WSI
Workplace Industrial Relations Survey Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung zum Beispiel
ζ. B. ζ. T.
zum Teil
ZfA
Zeitschrift für Arbeitsrecht
ZfaiA
Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeitsrecht
ZHR
Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht
Ziff.
Ziffer
zit.
zitiert
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZTR
Zeitschrift für Tarifrecht
1. Teil
Einführung Regulierungen des Arbeitsmarktes sind inzwischen ein wichtiges Kriterium der Standortwahl. 1 In- und ausländische Unternehmen richten ihr Augenmerk zunehmend auf die Flexibilität des Faktors Arbeit, d. h. auf seine Anpassungsfähigkeit an die Dynamik des Wettbewerbs. Tarifabschlüsse gelten als Hindernis für eine schnelle Reaktion auf geänderte technologische und ökonomische Rahmenbedingungen. Insbesondere der deutsche Flächentarifvertrag mit seinem hohen Zentralisationsniveau und seiner Regelungsdichte ist schon lang in Verruf geraten, notwendige betriebliche Anpassungsvorgänge zu erschweren und daher ein wesentlicher Standortnachteil der deutschen Wirtschaft zu sein. Seit den 80er Jahren 2 ist der Flächentarifvertrag Zielscheibe einer ausgiebigen rechtspolitischen, arbeitsrechtlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion. Die öffentliche - sogar tagespolitische Debatte - wurde durch die Tarifabschlüsse Anfang der 90er Jahre 3 sowie durch die Zuspitzung der Beschäftigungskrise in den Jahren 96 / 97 weiter verschärft. I m Mittelpunkt stand hierbei zunächst die Frage, „ o b " der Flächentarifvertrag überhaupt eine Zukunft habe und „ o b " Offnungen un1 Hierbei handelt sich bekanntlich nur um einen Faktor einer Standortentscheidung. Im Einzelfall können die Höhe der Steuerlast, die Infrastruktur für die Produktion, Verkehrsbedingungen, Energieversorgung, Umweltrecht, Grundstückskosten, Produktionsfreiheit, Arbeitskräftepotential, Kreditwesen, Wahrungssystem, Sprache oder die politische Stabilität des Landes ausschlaggebender sein (vgl. Ehmann, Die Neue Ordnung, Sondernummer 1996, S. 11). 2
Ihren Anfang fand die Diskussion im Lambsdorff-Papier vom September 1982 sowie dem George-Papier vom Juli 1983, der Albrecht-Thesen vom August 1983 (vgl. Keller/Seifert, WSI-Mitteilungen 8/97, S. 523) und der Stellungnahme des Kronberger Kreises (vgl. Engels et. al. (Kronberger Kreis), Mehr Markt im Arbeitsrecht, S. 16 ff.). Dem folgte die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen (sogenannte Deregulierungskommission), welche 1990 und 1991 berichtete und deregulatorische Vorschläge im Bereich Entlohnung, Arbeitszeit, Bestandsschutz, und staatlichem Arbeitsvermittlungsmonopol unterbreitete (vgl. Unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen, Marktöffnung und Wettbewerb, Berichte 1990 und 1991). 3 Fristlose Aufkündigung des Stufenvertrages für die ostdeutsche Metall- und Elektroindustrie durch die Arbeitgeber im Frühjahr 1993 und die Durchsetzung einer tariflichen Härteklausel; Entwicklung des sogenannten „reduzierenden Tarifvertrages" durch die Vereinbarung für VW, welche Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich vorsah; drastisches Ansteigen der Verbandsfluchtfälle nach dem Tarifabschlüssen 94/95; Drohung Gesamtmetalls mit der Selbstauflösung im Juli 1995 falls keine Bereitschaft der IG Metall die Reform des Tarifsystems anzugehen.
2*
20
1. Teil: Einführung
ternommen werden sollten. Seit Mitte der 90er Jahre wird die Notwendigkeit von Reformen auch von den Tarifvertragsparteien und koalitionsnahen Autoren nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht nunmehr das „wie" einer Öffnung der Tarifverträge sowie die Frage „wer" an einer solchen zu beteiligen ist. Das rechtliche Rahmenwerk der deutschen Tarifverfassung ist trotz erheblicher Angriffe bislang intakt geblieben. Die bescheidenen gesetzlichen Veränderungen 4 der 80er und 90er Jahre im Bereich des Arbeitsrechts ließen den tarifrechtlichen Rahmen unberührt. Erste Reformschritte wurden auf der tarifpolitischen Ebene unternommen, teils im Einklang mit den rechtlichen Vorgaben, teils unter Mißachtung derselben. Die Bereitschaft der Koalitionen, den Tarifvorbehalt durch die Zulassung von tariflichen Öffnungsklauseln zu entkräften, wuchs beständig. Es kam vermehrt zum Abschluß von „Härte- und Notfallklauseln" sowie „Korridorlösungen". Daneben wurde jedoch der gänzliche Austritt aus dem Verband (die sogenannte „Verbandsflucht") zum vielerprobten Mittel der Unternehmen, den Zwängen des Flächentarifvertrages zu entkommen. Die Arbeitgeberverbände riefen Tarifverbände ohne Tarifbindung, sogenannte „OT-Verbände", ins Leben, um diejenigen Unternehmen zu binden, die nicht mehr am Flächentarifvertrag und nur noch an den Serviceleistungen des Verbandes interessiert waren.5 In der betrieblichen Praxis kam es oftmals zum Abschluß von Betriebsvereinbarungen, die, bewußt oder unbewußt, die Regelungen des an sich anwendbaren Tarifvertrages unterlaufen. Trotz eines evidenten Verstoßes gegen § 77 III BetrVG blieben diese „Rechtsbrüche" seitens der betroffenen Verbände ungestraft. Wenngleich die Praxis in den Betrieben und Unternehmen die Unzulänglichkeiten der tarifrechtlichen Vorgaben folglich längst veranschaulich hat, ist eine Anpassung der einschlägigen Vorschriften bis heute ausgeblieben. In Zeiten unternehmerischer Mobilität richtet sich der Blick zwangsläufig auf die Wirtschaftsverfassungen anderer Länder, insbesondere auf diejenigen der europäischen Nachbarn, welche einerseits wirtschaftliche Bündnispartner und andererseits Konkurrenten um Auslandsinvestitionen sind.6 Es gilt hier Großbritannien ein
4
Vgl. das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 (Erweiterung der Möglichkeit des Abschlusses befristeter Arbeitsverträge); Novellierung des § 116 AFG in 1986 (Streichung der Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt für Arbeit für mittelbar von einem Arbeitskampf Betroffene); Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 1988 (Einführung von Sprecherausschüssen für leitende Angestellte, Verstärkung von Minderheitenrechten); Ablösung der Arbeitszeitordnung durch das Arbeitszeitgesetz 1994; Zulassung der gewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung durch das Beschäftigungsförderungsgesetz 1994; Änderung des Ladenschlußgesetzes 1994; das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 (vor allem Heraufsetzung des Schwellenwertes des KSchG, Verlängerung der Höchstbefristungsdauer von Arbeitsverträgen, Änderung der Kriterien der Sozialauswahl gemäß KSchG, Herabsetzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall). 5 Vgl. Stumpfe, Sonderbeilage NZA 24/2000, S. 1 f. OT-Verbände existieren inzwischen in allen Gesamtmetall- Mitglieds verbänden mit Ausnahme Niedersachsens.
1. Teil: Einführung besonderes Interesse. Die britische Wirtschaft kann als einzige der bedeutenden europäischen Wirtschaftsräume einen kontinuierlichen Rückgang der Arbeitslosenquote 7 verzeichnen, bis hin zu einem Wert, welcher die Arbeitslosigkeit als Inflationsbremse ausscheiden läßt. 8 Das britische Bruttoinlandsprodukt wuchs in den vergangenen Jahren beträchtlicher als das anderer europäischer Staaten vergleichbarer Größe. 9 Offiziellen Angaben zufolge fließen bis zu 40 Prozent der Auslandsinvestitionen in die europäische Union nach Großbritannien und schaffen dort Arbeitsplätze. 10 Hintergrund dieser Entwicklung sind die grundlegenden Reformen des britischen Steuer- 11 und Sozialsystems 12 in den 80er Jahren. Nachhaltigen Einfluß übte auch 6 Großbritannien gewinnt als Ziel deutscher Auslandsinvestitionen zunehmend an Bedeutung. Die Zahl der deutschen Niederlassungen nahm seit 1993 von rund 1000 auf etwa 1500 zu, wobei besonders Investitionen in der Fahrzeugindustrie und Elektrobranche eine bedeutende Rolle spielen (FAZ vom 31. 07. 1997). 7 Im April 1999 etwa ist die Arbeitslosigkeit auf den tiefsten Stand seit 19 Jahren zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote von 4,5 Prozent nahm einen seit April 1980 nicht mehr erreichten Tiefstand ein (vgl. FAZ vom 22. 05. 1999). Auch die berechtigte Kritik an den Bemessungsgrundsätzen der Arbeitslosenquote (siehe dazu Adams, Shake-up for unemployment figures, FT vom 15. 05. 1997, Gatermann, Geschönte britische Arbeitslosenzahlen, Die Welt vom 03. 03. 1997), die nur diejenigen Arbeitslosen in die Kalkulation miteinbezieht, welche die im Oktober 1996 eingeführte, sogenannte Job Seeker's Allowance beziehen, kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sich die Anzahl der Arbeitslosen in den vergangenen Jahren signifikant verringert hat (vgl. Chote, A touch on the brakes, FT y om 26. 03. 1997). Die von der OECD und Eurostart berechneten, standardisierten Arbeitslosenquoten sind ebenso wie die Angaben des Office for National Statistics seit Februar 1993 rückläufig (vgl. Sachverständigenrat Jahresgutachten 1997/98, Nr. 67). 8
The Times vom 10. 06. 1997, „Brown has his work cut out". Der niedrigste Wert der Arbeitslosenquote, welche mit voller Preisstabilität einhergeht, ist jedoch umstritten und scheint durch die Reformen auf dem Arbeitsmarkt nach unten korrigiert worden zu sein (Financial Times vom 17. 07. 1997, „Job market tightens"). 9
Für 1996 wurde ein Anwachsen von 2,2 Prozent, für 1997 eine Steigerung von 2,6 Prozent angenommen (Quelle: Economist Intelligence Unit, The World in 1997, S. 94). Dagegen wurde für 1999 nur noch ein Wert von 1,1 Prozent vorausgesagt, der auf einen leichten Konjunkturabschwung in den letzten 2 Jahren zurückgeht, jedoch eine „weiche Landung" nach mehreren Jahren starken Wachstums darstellt (vgl. FAZ vom 22. 10. 1998 und 27. 04. 1999). 10
Invest in Britain Bureau (IBB) in: Economist Intelligence Unit, The World in 1997, S. 112). Hiernach wurden etwa im Zeitraum April 1993-April 1994 477 neue ausländische Wirtschaftsprojekte verzeichnet, die insgesamt 50.000 Arbeitsplätze im Inland schufen. Einer von drei der 100 größten britischen Hersteller ist im ausländischen Besitz. Auf nicht-britische Betriebe entfielen im Jahre 1997 etwa 25 Prozent der Produktion in der herstellenden Industrie. 11 Zwischen 1979 und 1996 wurde der Spitzensteuersatz in mehreren Stufen von 83 auf 40 Prozent und der Eingangssteuersatz von 33 auf 20 Prozent abgesenkt (vgl. Sachverständigenrat Jahresgutachten 1997/98, Nr. 69). 12 Der Regelsatz der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung blieb aufgrund von Reformen im Bereich des Gesundheitswesens und der Altersversicherung seit Mitte der 80er Jahre bei etwa 10 Prozent des versicherungspflichtigen Einkommens. Der einheitliche Arbeitnehmerbeitrag wurde indes 1993 von 9 auf 10 Prozent angehoben (vgl. Sachverständigenrat Jahresgutachten 1997/98, Wachstum, Beschäftigung und Währungsunion, Nr. 69).
22
1. Teil: Einführung
die steuerungsskeptische Wirtschaftspolitik der konservativen Regierung ab 1979 aus. Sie trat mit dem Ziel auf beschäftigungshemmende Elemente des Arbeitsmarktes mittels Deregulierung auszuschließen, um die internationale Wettbewerbsposition der britischen Wirtschaft zu stärken. Mittel dieser Politik im Bereich des Individualarbeitsrechts war die legislative Förderung flexibler, individualvertraglicher Vereinbarungen. 13 Im Bereich der Lohnkosten und des kollektiven Arbeitsrechts verabschiedete man sich von einkommenspolitischer Einflußnahme. Daneben änderte man durch eine restriktive Gewerkschaftsgesetzgebung das Machtverhältnis zwischen den Tarifvertragsparteien und unterstütze durch steuerrechtliche Maßnahmen die Einführung von individuellen Entlohnungsmethoden. Die Gesamtheit dieser Maßnahmen beschleunigten den seit den 60er Jahren stattfindenden Wandel der industriellen Beziehungen Großbritanniens. Die britische Tariflandschaft ist heute geprägt durch dezentralisierte Tarifverhandlungen auf Unternehmens- und Betriebsebene mit erheblichen regionalen Unterschieden in bezug auf Art und Höhe der jeweils erzielten Tarifabschlüsse. Gleichzeitig ist ein Trend festzustellen an die Stelle kollektiv vereinbarter Entlohnung performance pay oder incentive pay Methoden treten zu lassen.14 Insgesamt repräsentiert Großbritannien im europäischen Kontext den Prototypen eines deregulierten Arbeitsmarktes 15 und ein Tarifmodell, welches einen extrem hohen Dezentralisationsgrad aufweist. Schon anhand einer nur oberflächlichen Betrachtung des rechtlichen und institutionellen Rahmens des englischen Tarifsystems ist unschwer festzustellen, daß sich dieser in entscheidenden Punkten von dem deutschen unterscheidet. Die rechtliche Unverbindlichkeit der Tarifverträge, die mangelnde Zweiteilung kollektiver Regelungssysteme in Betriebsverfassung und Tarifordnung, das gänzliche Fehlen einer positiven Streikgarantie, um nur die auffälligsten Unterschiede zu nennen, lassen das englische Tarifsystem für den deutschen Juristen als Teil einer verwirrend andersartigen Ordnung 16 erscheinen. 17 Die Gemeinsamkeiten zwischen dem insularen und dem kontinentalen Regelungsmuster scheinen sich in den zugrundeliegenden industrial relations zu erschöpfen 18, so daß die Grundverschiedenheit der Modelle einen Vergleich von arbeitsrechtlichen Rechtsfiguren und -Instrumenten als unfruchtbar erscheinen läßt. Die Andersartigkeit des englischen Tarifsystems 13
Die sogenannte „permissive Tendenz" (Müller-Jentsch, Strukturwandel, S. 88) der konservativen Wirtschaftspolitik in bezug auf Abweichungen vom NormalarbeitsVerhältnis: Zulassung atypischer oder befristeter Arbeitsverhältnisse, flexible Arbeitszeiten, Einführung von Vorruhestand, Teilzeitarbeit, Hausarbeitsplätzen, Anstellung selbständig Beschäftigter. 14 Vgl. 1RS Employment Trends 601, S. 4. 15 „The UK is now one of the least regulated amongst the OECD countries in regard to restrictions on terms and conditions of employment, working time and hiring and firing rules" (Organisation of Economic Cooperation and Development, OECD Economic Surveys: United Kingdom, S. 89). 16 Waas, ZfaiA 1991, S. 317, 334.
17 Vgl. auch Deinert, ZfA 1999, S. 365 („ein unüberbrückbarer Graben zwischen Insel und Kontinent"). is Birk, RdA 95, S. 71,76.
1. Teil: Einführung
setzt einer Gegenüberstellung mit den deutschen Strukturen jedoch nicht nur Grenzen, sondern verleiht ihr gleichzeitig einen Sinn: Ein Verständnis der Wirkungsweise eines ausländischen Tarifverhandlungssystems erweitert den Blickwinkel für die Strukturen im eigenen Land. Dies gilt besonders für Deutschland, wo es zur Zeit nicht an Forderungen und tatsächlichen Versuchen19 fehlt, die institutionelle Ausgestaltung des Lohnbildungsprozesses zu reformieren, um den Betrieben die nötige Anpassung an die Veränderungen des wirtschaftlichen Umfelds zu ermöglichen. Hierbei wird vielfach auf die Fähigkeit zur Selbstkorrektur innerhalb der gewachsenen Strukturen vertraut. 20 Eine Verabschiedung vom Flächentarifvertrag sei kontraproduktiv. Vorrangig müßten die geänderten Produktions- und Arbeitstechniken tarifpolitisch umgesetzt sowie die bestehenden Flexibilitätspotentiale ausgeschöpft werden. 21 Von anderer Seite werden demgegenüber weitreichende Änderungen des Tarifsystems gefordert. Hierbei zeigt man sich überzeugt, daß eine Korrektur der Tarifinhalte 22 seitens der Tarifpartner der Krise nicht mehr gewachsen sei. Eine flexible betriebliche Regelung der Arbeitsbedingungen stoße wegen der geltenden Regelungen des Tarif- und Betriebsverfassungsrechts an ihre Grenzen. Gefordert werden daher auch Änderungen des gesetzlichen Rahmens des Tarifsystems, wie eine Reform des § 77 III BetrVG 23 , eine Änderung der Regelungen über die Weitergeltung und Nachwirkung des Tarifvertrages, die Einführung gesetzlich normierter Öffnungsklauseln für betriebliche Vereinbarungen über Lohn und Arbeitszeit oder etwa die Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträ-
19 Statt vieler tariflicher Flexibilisierungsversuche (siehe die Auflistung bei Bispinck WSI-Mitteilungen 97, S. 551 (555 f.) vergleiche etwa § 10 des Bundesentgelttarifvertrages für die chemische Industrie vom 04. 06. 1997, welcher es den Unternehmen und Betrieben ermöglicht mit der Zustimmung des Betriebsrats aus Wettbewerbsgründen oder bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Löhne und Gehälter befristet um bis zu 10 Prozent gegenüber den tariflich vereinbarten Sätzen zu öffnen (Siehe zur sogenannten Korridorlösung: FAZ vom 05. 06. 1997, „Die chemische Industrie öffnet ihren Tarifvertrag"; Die Zeit vom 13. 06. 1997, „Geordneter Rückzug"). 20 Franz, ZfA 1994, S. 439 ff, Zachert, ZTR 96, 289 (290); ders. RdA 1996, 140 (153). 21 Vgl. DGB Thesen zum 61. Deutschen Juristentag, ArbuR 96, 368 Nr. 5; Engelen-Kefer, ArbuR 96, 329 (330); Pfarr, ZTR 97, 1 (2). 22 In Erwägung gezogen werden die Vereinbarung von Spezialtarifen für Problemgruppen, Öffnungsklauseln für die Festlegung der Lohnhöhe auf betrieblicher Ebene bzw. für die Verrechnung der Tariflohnerhöhungen mit Gewinnbeteiligungen, ferner Arbeitszeitflexibilisierung durch tarifliche Festlegung von Arbeitszeitkonten, Mobilzeit. 2 3 Vgl. Ehmann/Lambrich, NZA 96, 346 ff.; Ehmann/Schmidt, NZA 95, 193 ff.; Adomeit, Regelung von Arbeitsbedingungen, S. 57 ff. 24 Statt vieler: Sachverständigenrat rat Jahresgutachten 95 / 96, Nr. 380 ff.
Jahresgutachten 1996/97, Nr. 27; Sachverständigen-
24
1. Teil: Einführung
Sowohl Befürworter wie auch Gegner der Reform bringen Vorbehalte gegen die dezentralisierte Festlegung von Lohn- und Arbeitsbedingungen vor: So befürchtet man formal-juristisch eine Aushebelung der Ordnungs- und Friedensfunktion des Tarifvertrages. 25 In gesamtwirtschaftlicher Hinsicht wird vorgebracht, daß mit einer Segmentierung des Arbeitsmarktes zu rechnen sei, die den Abbau der Arbeitslosigkeit nicht unterstütze. 26 In bezug auf die wirtschaftliche Situation des einzelnen Betriebes wird eine Verlagerung von Arbeitskonflikten 27 sowie die unmittelbare Abschöpfung von Gewinnen befürchtet, welche Wettbewerbsvorsprünge auf den Gütermärkten egalisieren und gleichzeitig die finanzielle Situation des Betriebes der Konkurrenz offenbaren würde. 28 Der Vergleich mit dem völlig unterschiedlichen britischen Tarifsystem soll dazu beitragen, ein Bewußtsein für die ideologischen, institutionellen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser, hier zunächst nur sehr generell vorgetragenen, Bedenken gegen die Dezentralisierung kollektiver Verhandlungen zu schaffen. Anhand der Gegenüberstellung kann der Blick erweitert werden für die Perspektiven der Reform der bestehenden Tarifstrukturen und eine kritische Auseinandersetzung mit der These erfolgen, wonach die ordnungspolitische Ausgestaltung und die historischen Wurzeln des Tarifsystems die Möglichkeiten dezentralisierter Verhandlungen beschränken.29 Die Erörterung wird sich zunächst der abstrakten Erfassung des Inhalts und der rechtlichen Wirkungen kollektiver Vereinbarungen in England widmen. Hieran anknüpfend erfolgt eine Darstellung der konkreten Tarifwirklichkeit sowie der Entwicklung hin zu den dezentralisierten Verhandlungsstrukturen. Im Anschluß sollen die vielfältigen Gründe für die Abkehr von überbetrieblichen Verhandlungen Erörterung finden, wobei insbesondere der Einfluß des Rechts auf die Verbetrieblichung berücksichtigt wird. Die Erörterung schließt ab mit einer Diskussion der Auswirkungen dezentralisierter Kollektivvereinbarungen auf die Verhandlungsakteure und Verhandlungsergebnisse. Im Rahmen der Darstellung wird vielerorts eine Gegenüberstellung mit den deutschen Tarifstrukturen stattfinden. Hierbei sollen jedoch die grundlegenden Unterschiede zwischen dem englischen und dem deutschen Verhandlungssystem im Auge behalten werden: Als Industriestaaten des 19. Jahrhunderts blicken England und Deutschland zwar auf gemeinsame wirtschaftliche Wurzeln zurück; beide Tarifsysteme prägt jedoch eine vollkommen unterschiedliche Rechtstradition. Im 25 Vgl. Hensche, ArbuR 96, 331 (335); Revel, Tarifverhandlungen in Deutschland, S. 145. 26
Revel, Tarifverhandlungen in Deutschland , S. 143. Die Ansicht, die in der Tatsache, daß ein Arbeitskampf nicht mehr die gesamte Branche betreffen könnte, einen Wettbewerbsnachteil erkennen will, übersieht, daß der nationalstaatliche Hintergrund dieses Arguments in Zeiten der internationalen Vernetzung der Wirtschaft nicht mehr ohne weiteres einschlägig ist. 28 „Tarif der gläsernen Taschen", Sachverständigenrat Jahresgutachten 95/96, Nr. 381. 2 9 Revel, Tarifverhandlungen in Deutschland, S. 144. 27
1. Teil: Einführung
Rahmen der Gegenüberstellung wird daher auf pauschalierte Verweise und verallgemeinernde Empfehlungen, die der Komplexität der Verhandlungsstrukturen nicht entsprechen, verzichtet. Dies gebietet schon die Thematik der Arbeit. Schließlich kommt der Dezentralisierung von Tarifverhandlungen in einem System, welches keine Zweiteilung zwischen Tarif- und Betriebsverfassung kennt, naturgemäß ein anderer Stellenwert zu, als die Übertragung von Tarifkompetenzen auf die Betriebspartner im deutschen Modell. 30 Richtschnur der Gegenüberstellung des englischen und des deutschen Systems ist daher der Satz Lord Wedderburn of Charltons, welcher feststellt, daß die Kenntnis unterschiedlicher Arbeitsrechtsmodelle „helps us to know what we are doing rather than what to do". 31
30 Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich jedoch auch in Großbritannien nicht schlicht um eine Verbetrieblichung der Aktivitäten ehemals zentral agierender Tarifparteien, sondern auch hier kam es zu einigen grundlegenden Veränderungen institutioneller Art. Siehe auch die Ansicht Riebles, daß das Tarifsystem als Ausdruck freier Gruppenautonomie und die Betriebsverfassung als Staatsveranstaltung inkompatibel sein sollen (vgl. Rieble, RdA 96, S. 151 (152)). 31 Wedderburn, Employment Rights in Britain and Europe, 1991, S. 327.
2. Teil
Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen A. Einführung „A collective agreement is a treaty between the social powers. It is a peace treaty and at the same time a source of rules for terms and conditions of employment, for the distribution of work and for the stability of jobs". 1 Die klassische Umschreibung des collective agreements durch Kahn-Freund illustriert ein gleichartiges Verständnis der Aufgaben kollektiver Vereinbarungen in England2 und Deutschland. Hier wie dort kommt ihnen eine zweifache Funktion zu: Zum einen die Regelung des Verhältnisses der Tarifparteien, zum anderen die Gestaltung des Individualarbeitsvertrages, wobei die Wahrnehmung dieser Aufgaben letztlich zu einer Aussöhnung der Interessen von Arbeitgebern und Beschäftigten führen soll.3 Dieses duale Verständnis führte in Deutschland zur bekannten Zweiteilung zwischen dem schuldrechtlichen und dem normativen Teil des Tarifvertrages. 4 Im englischen Tarifsystem finden sich keine, die zweifache Funktion kollektiver Vereinbarungen anerkennende, rechtlichen Wirkungen. 5 Im Verhältnis der Tarifpartner untereinander entfalten Tarifabschlüsse vielmehr keine schuldrechtlichen Bindung6, und im Hinblick auf das Individualarbeitsverhältnis treten rechtliche Wirkungen nur durch eine Inkorporation in den Arbeitsvertrag ein.
1
Kahn-Freund, Labour and the Law, S. 122. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf das Arbeitsrecht Englands und Wales und schließt daher die Rechtslage in Schottland und Nordirland aus. Diese sind zwar Teile des Vereinigten Königreichs (vgl. Union with Scotland Act 1706; Wales and Berwick Act 1746; Interpretation Act 1978, Schedule 1), jedoch in anderen Rechtssystemen eingebettet (siehe zu dem historischen Hintergrund der mangelnden Rechtseinheit und der Einflüsse des kontinentaleuropäischen Rechts insbesondere auf das schottische Recht: Zweigert, Rechtsvergleichung, S. 198 ff.). 3 Kahn-Freund, Labour and the law, S. 122. 4 Vgl. § 1 Abs. 1 TVG. 2
5
Hepple /Fredman, Labour Law, S. 252. Zur Ausnahme von diesem Grundsatz gemäß s. 179 sub-s. 1 Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 (TURL(C)A 1992) siehe unten unter 2. Teil, C. II. 6
Β. Inhalt der collective agreements
27
Der außerrechtliche Charakter der kollektiven Vereinbarungen findet ferner seinen Ausdruck in dem Fehlen einer formalen gesetzlichen Grundlage des Tarifverhandlungssystems, wie sie in Deutschland etwa in Gestalt des Tarifvertragsgesetzes vorhanden ist. Die knappen gesetzlichen Vorschriften, welche das collective bargaining 7 betreffen 8 , spiegeln ein lang gehegtes Verständnis des kollektiven Arbeitsrechts wider: Englische Juristen begreifen die kollektiven Arbeitsbeziehungen als Summe von Einzelarbeitsverträgen, die dem Vertragsrecht zu unterstellen sind und keine eigene Rechtssparte bilden. 9 Ein Verständnis der gegenwärtigen, dezentralisierten Tarifstrukturen in England setzt eine Kenntnis ihrer rechtlichen Wirkung, ihrer möglichen Inhalte und ihrer Form voraus. Wichtig sind daneben die Lösung von Konkurrenzproblemen zwischen einzelnen Tarifabschlüssen und ihre Einordnung in das System der sonstigen Rechtsquellen des englischen Arbeitsrechts. Vor der Darstellung der dezentralen Abschlüsse sollen daher diese Gesichtspunkte erörtert werden.
B. Inhalt der collective agreements Eine Umschreibung des möglichen Inhalts kollektiver Vereinbarungen unternahm der englische Gesetzgeber in s. 178 T U R L ( C ) A 1992. 1 0 Aufgezählte Rege7 Der Terminus geht auf Beatrice und Sidney Webb zurück, welche als erste den Prozeß des collective bargaining beschrieben und die Unterscheidung zum individual bargaining in den Vordergrund rückten: „.. .instead of the employer making a series of separate contracts with isolated individuals, he meets with a collective will, and settles, in a single agreement, the principles upon which, for the time being, all workmen of a particular group or class or grade will be engaged." (Industrial Democracy, S. 173). Brown (BJIR 1993, S. 189 (190)) will den Terminus collective bargaining demgegenüber umfassender verstanden wissen als „embracing all activity whereby employers deliberately permit representatives of employee collectivities to be involved in the management of the employee relationship". 8
Die Vorschriften des Trade Union and Labour Relations ( Consolidation ) Act 1992, die sich auf das „collective bargaining " beziehen, beinhalten Legaldefinitionen, die gesetzliche Vermutung der fehlenden Bindungswirkung, Vorschriften über die Weitergabe von Informationen an die Gewerkschaften zum Zwecke des collectiv bargainings sowie die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmervertreter in spezifischen Fällen. Siehe dazu unten unter 2. Teil, F. 9 Vgl. Waschke, Großbritanniens Arbeitsbeziehungen, S. 10. Erst mit der seit 1965 zunehmenden Gesetzgebung über Beschäftigung und Gewerkschaften wurde das Arbeitsrecht als eigene Sparte des Rechts erkannt. 10 Hiernach kann Gegenstand des collective agreements sein: (a) terms and conditions of employment, or the physical conditions in which any workers are required to work; (b) engagement or non-engagement, or termination or suspension of employment or the duties of employment, of one or more workers; (c) allocation of work or the duties of employment between workers or groups of workers; (d) matters of discipline;
28
2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
lungsgegenstände sind unter anderem Arbeitsbedingungen ((a) terms and conditions of work), Regelungen über Abschluß und Beendigung von Arbeitsverhältnissen (b), Zuweisung von Arbeit (c), Disziplinarfragen (d), Fragen der Gewerkschaftszugehörigkeit einzelner Arbeitnehmer (e), Einrichtungen für die Gewerkschaftsvertreter (f) und Verfahren der Verhandlung und Beratung über die in (a) bis (f) genannten Materien. Trotz des ausführlichen Wortlauts der Vorschrift, handelt es sich um keine abschließende Aufzählung möglicher Verhandlungsgegenstände. Allerdings finden die gesetzlichen Vorschriften des T U R L ( C ) A 1992 über Informationsrechte, rechtliche Durchsetzbarkeit kollektiver Abschlüsse und Streikimmunitäten nur dann Anwendung, wenn es sich um ein collective agreement i m Sinne des s. 178 T U R L ( C ) A 1992 handelt. Die exemplarische Auflistung der möglichen Verhandlungsgegenstände spiegelt die in der Tarifpraxis gängige Trennung zwischen substantive und procedural clauses nicht wider. Diese Unterscheidung zwischen materiell- und verfahrensrechtlichen Regelungen 11 ist für die theoretische Erfassung des Inhalts kollektiver Vereinbarungen jedoch hilfreich und soll im folgenden zugrundegelegt werden.
I. Substantive clauses Substantive clauses betreffen im wesentlichen den Bereich Entlohnung, die Dauer und Lage der Arbeit sowie Urlaubs- und Uberstundenregelungen. Innerhalb der inhaltlichen Bandbreite der substantive clauses sind ferner Arbeitsbewertungungsmaßstäbe, Kündigungsverfahren, Lohnfortzahlungen und Ruhestandsregelungen zu finden. 1 2 Es handelt sich daher grundsätzlich um Regelungsgegenstände, die in Deutschland (falls kollektiv vereinbart) entweder i m normativen Teil des Tarifvertrages in Gestalt von Inhalts-, Abschluß- und Beendigungsnormen, oder in nach § 87 I BetrVG abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen wiederzufinden sind. Wegen ihres Charakters als Regelungsquelle des Arbeitsvertrages wurden die substan(e) a worker's membership or non-membership of a trade-union; (f) facilities for officials of trade unions; and (g) machinery for negotiations or consultation, and other procedures, relating any of the above matters, including the recognition by employers or employers' associations of the right of trade union to represent workers in such negotiations or consultation or in the carrying out of those procedures. 11 Diese Unterscheidung erinnert zwar an die Einteilung des Tarifvertrages in einen normativen und einen obligatorischen Teil (§ 1 Abs. 1 TVG). Wie noch zu zeigen sein wird, bestehen jedoch nicht nur große Unterschiede hinsichtlich der rechtlichen Qualifikation. Auch in funktionaler Hinsicht unterscheiden sich die beiden Konzepte. 12 Vgl. auch Auflistung in ss. 92-93 Industrial Relations Code of Practice 1972, welcher zwar durch die Employment Codes of Practice ( Revocation ) Order 1991, SI 1991/1264 mit Wirkung vom Ol. 06. 1991 aufgehoben wurde, aber hinsichtlich der möglichen Inhalte der collective agreements noch immer instruktiv ist.
Β. Inhalt der collective agreements
29
tive clauses auch als normativer Aspekt 13 oder Verkörperung der legislativen Funktion 14 des collective agreements bezeichnet.
IL Procedural clauses Procedural clauses beziehen sich demgegenüber auf diejenigen Institutionen und Methoden, die bestimmt sind, Auseinandersetzungen unterschiedlichster Art zu verhindern oder zu lösen sowie neue substantielle Regelungen zu entwickeln.15 Hierbei kann es sich sowohl um individual- wie auch um kollektivrechtliche Konflikte handeln.16
1. Rechte und Pflichten der Verhandlungsparteien Die procedural clauses sind zunächst bestimmend für das Verhältnis der kollektiven Verhandlungsparteien. Sie regeln die Modalitäten der kollektiven Verhandlungen, das Verhandlungsverfahren und legen oftmals die Anerkennung einer bestimmten Gewerkschaft durch den Arbeitgeber zum Zwecke des collective bargaining fest. 17 Die bedeutsamste in den procedural clauses enthaltene Verpflichtung der Tarifparteien ist die sogenannte peace obligation. Die Friedenspflicht ist jedoch nicht notwendiger Bestandteil des Tarifabschlusses 18. Im Unterschied zum deutschen Tarifvertrags wird sie im Falle ihres Fehlens nicht in die Vereinbarung impliziert. 19 13
Kahn-Freund, Labour and the law, S. 154. Bowers, Employment Law, S. 29. is Flanders, BJIR, S. 1 (11). 14
16 Teilweise formen die procedural clauses eigene Regelungskomplexe der kollektiven Vereinbarungen (ζ. B. British Steel pic-Steel Committee, Memorandum of Agreement vom 15. 08. 1980; Midland Bankplc.-Banking, Insurance and Finance Union, Diciplinary Procedure Agreement vom 01. 01. 1984), teilweise formen sie einen separaten Teil des Tarifabschlusses, ζ. T. sind sie auch integrierter Teil der Vereinbarung, (ζ. B. British Printing Industries Federation- Society of Graphical and Allied Trades, Manufactured Stationary Agreement 1948 i.d.F. vom 24. 04. 1987 clause 39). 11 Die „ recognition " einer Gewerkschaft seitens der Betriebsleitung, welche wegen der typischen Anwesenheit mehrerer Gewerkschaften im Betrieb (multi-unionism ) üblicherweise durchgeführt wird, ist von rechtlicher Relevanz für die gewerkschaftlichen Rechte im Betrieb (Konsultationsrechte hinsichtlich bevorstehender Entlassungen, Vorschlagsrechte hinsichtlich der Ernennung der Health and Safety Representatives, Informations- und Konsultationsrechte im Falle des Betriebsüberganges, Weitergabe von Informationen zum Zwecke des collective bargaining, Rechte der bezahlten Freistellung für gewerkschaftliche Aktivitäten, schließlich Information bezüglich betrieblicher Altersversorgung (siehe unten unter 2. Teil, F. VII. 1. (3)). is Statt aller: Wiedemann /Stumpf, Tarifvertragsgesetz, § 1 TVG, Rdnr. 323 ff. 19 Lewis, Strike-free procedures?, S. 3.
30
2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
Die peace obligation kann entweder die Pflicht umfassen, während der Laufzeit des Vertrages alle Streikhandlungen zu unterlassen oder aber Streikhandlungen nicht ohne Erschöpfung der durch die dispute procedures vorgegebenen Schlichtungsverfahren vorzunehmen. 20 In der Praxis wird dem Interesse an der Störungsfreiheit des Betriebes regelmäßig durch die Einfügung von ,ηο-strike clauses' 21 oder ähnlichen Vereinbarungen in den procedural clauses Rechnung getragen. Auch ohne automatische rechtliche Bindung gewinnen die ,no strike clauses' Bedeutung als Gegenleistung22 der Gewerkschaft für die Vereinbarung von status quo clauses. Hierbei handelt es sich um Klauseln, die eine einseitige Entscheidung über die Änderung von Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber verhindern sollen und eine Veränderung bis zur Schaffung einer zweiseitigen Vereinbarung untersagten.23 ,Νο-strike clauses' können ferner Gegenleistung der Gewerkschaft sein für die Einräumung von Informations- und Konsultationspflichten seitens des Arbeitgebers. Diese Informationsrechte können sich auf verschiedenste Inhalte beziehen. Sie werden oft vereinbart bei der Einführung neuer Technologien, neuer Altersregelungen, Arbeitsplatzgarantien oder Beschäftigungssicherungsmaßnahmen.24 Die kollektiven Vereinbarungen regeln üblicherweise auch die Einrichtungen der shop stewards oder anderer Gewerkschaftsvertreter. Sie schaffen das Rahmenwerk für die Beratungs- und Informationsrechte der betrieblichen Interessenvertreter. Hierin spiegelt sich letztlich das Fehlen umfassender betriebsverfassungs- und mitbestimmungsrechtlicher Kodifikationen wider: Abgesehen von den Rechten der safety representatives 25 und der neuen Regelungen über die Europäischen Betriebsräte 26, gibt es de lege lata weder mitbestimmungsrechtliche Vertretungsstrukturen noch Beteiligungsmechanismen zugunsten von Arbeitnehmerrepräsentanten. 27 Kollektivrechtliche Übereinkommen sowie custom and practice sind daher an Stelle eines Betriebsverfassungs- oder Mitbestimmungsgesetzes maßgeblich für den Umfang und die Form der betrieblichen Mitbestimmung.28
20
Hepple /Fredmann, Labour Law, S. 74. * Siehe unten unter 2. Teil, C. III. 4. d). 22 Wegen dieser quasi-synallagmatischen Beziehung zwischen den Parteien wurde die Regelung ihres Verhältnisses als „vertragliche Funktion" der Vereinbarungen bezeichnet, ohne hierbei jedoch irgendwie geartete, schuldrechtliche Wirkungen zu unterstellen (vgl. Andermann, Labour Law, S. 76, Kahn-Freund, Labour and the law, S. 154). 2
23 Als Beispiel kann das Engineering 1976 Agreement dienen: „It is agreed that in the event of any difference arising, which cannot immediately be disposed of, then whatever practice or agreement existed prior to the difference shall continue to operate pending a settlement or until the agreed procedure has been exhausted". 2
* Vgl. Lee ν Gee Plessey Telecommunications (1993) IRLR 383, HL.
25
s. 2 sub-s. 4, 6 Health and Safety at Work Act 1974 siehe dazu ausführlich unten unter 2. Teil, F. VII. 1. b). 2 6 Siehe hierzu unter 2. Teil, F. VII. 1. b). 27
Vgl. Lange, Betriebliche Arbeitsbeziehungen, S. 37.
Β. Inhalt der collective agreements
31
Weitergehende Pflichten aus dem Tarifabkommen, wie sie aus dem deutschen Tarifrecht bekannt sind, etwa hinsichtlich der Sicherstellung der Tarifdurchführung (Einwirkungspflichten), bestehen für die Parteien nicht automatisch, können jedoch Gegenstand spezieller Vereinbarung sein. Praktisch wird die Durchführungspflicht aber von der allgemeinen (sozialen) Bindungswirkung der kollektiven Vereinbarungen umfaßt und weder gesondert aufgeführt noch impliziert.
2. Dispute procedures Eng verbunden mit den Rechten und Pflichten der Verhandlungsparteien sind die praktisch bedeutsamen29 dispute procedures. Sofern sie kollektiv ausgehandelt und nicht durch custom and practice oder einseitige Entscheidung des Managements festgelegt werden 30, sind sie ebenfalls Bestandteil der procedural clauses. Dispute procedures sind Konfliktlösungsverfahren für kollektiv- und individualrechtliche Streitigkeiten. Ihre Gestaltung und Anwendung erfolgt weitgehend Unternehmens- bzw. betriebsspezifisch und ist abhängig von dem jeweiligen Industriezweig, der Betriebsgröße, gewerkschaftlicher Repräsentanz und dem Herkunftsland des Arbeitgebers. 31 Idealtypisch befassen sie sich mit individuellen Beschwerden, Kündigungen, Arbeitsdisziplin oder aber mit Streitigkeiten über Lohnund Arbeitsbedingungen, wobei oftmals nur einzelne der angesprochenen Verfahren in den Betrieben vorzufinden sind. 32 Die dispute procedures umfassen bis zu fünf Schlichtungsebenen, die sich teilweise nur auf den betrieblichen Bereich beziehen, teilweise jedoch die Streitigkeit auf die Unternehmensebene übertragen oder die Konfliktlösung einer betriebsbzw. unternehmensexternen Partei zuweisen. Hierbei kann es sich um die Einschaltung von senior management bzw. von Institutionen der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften oder aber um die Einbringung des Streitgegenstandes in ein Ver28 Im Unterschied hierzu beinhalten die deutschen Tarifverträge üblicherweise im Bereich der betrieblichen Arbeitnehmerinteressenvertretung lediglich Regelungen für die gewerkschaftlichen Vertrauensleute. 29 Im 1990er ED/ESRC/PSI/ACAS Survey gaben 94 Prozent der befragten Betriebe an, daß sie zumindest für einzelne Konfliktgegenstände dispute procedures anwenden. Diese werden jedoch nicht ausschließlich im Rahmen kollektiver Verhandlungen festgelegt. 30 Dies trifft für etwa 1 / 3 der dispute procedures zu (Millward et.al., WIRS 1990, S. 189).
31 Obwohl seit den 80er Jahren, beeinflußt durch eine vermehrte individualarbeitsrechtliche Gesetzgebung und verstärkte Kontrolle der Arbeitgeberpraktiken durch die Arbeitsgerichte, eine zunehmende Standardisierung der Verfahren auf Unternehmens- und Industrieebene eingetreten ist. 32 Verfahren über Lohn- und Arbeitsbedingungen bestanden 1990 in 65 Prozent aller Betriebe. Hiervon waren ebenfalls 65 Prozent durch kollektive Vereinbarungen festgelegt worden. Disziplinar- und Kündigungsverfahren waren demgegenüber in 90 Prozent aller Betriebe vorhanden, wobei 65 Prozent dieser Verfahren kollektiv vereinbart wurden. (Millward et.al., WIRS 1990, S. 189 und S. 193).
32
2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
fahren des Advisory , Conciliation and Arbitration Service (ACAS), handeln.33 Die Verweisung auf die überbetriebliche Ebene erfolgt entsprechend der jeweiligen Vereinbarung und zwar entweder anhand eines gemeinsamen Beschlusses der Parteien oder durch einseitige Entscheidung der Gewerkschaft oder der Geschäftsführung. 34 Das Schiedsverfahren des ACAS ist gemäß s. 212 sub-s.3 TURL(C)A 1992 subsidiär gegenüber betrieblichen Konfliktlösungsverfahren, d. h. diese müssen zunächst ausgeschöpft werden, bevor der ACAS auf Verlangen einer Partei 35 als Schiedsstelle tätig werden kann. 36 Zu einer schiedsgerichtlichen Entscheidung kommt es nicht automatisch, sondern nur wenn beide Parteien einer solchen zustimmen. Der anschließende Schiedsspruch ist grundsätzlich nicht einklagbar. 37 Diese Kennzeichen des ACAS-Schlichtungsverfahrens illustrieren den vielfach betonten freiwilligen („voluntaristischen") Charakter des Systems englischer Arbeitsbeziehungen, d. h. die traditionelle Tendenz, eine staatliche und gerichtliche Einflußnahme auf die betrieblichen Arbeitsbeziehungen zu vermeiden. 38 Angesichts der freiwilligen Tradition verwundert es nicht, daß es zur Lösung betrieblicher Konflikte keinerlei gesetzliche Verfahrensvorschriften gibt. Während man sich bei der Gestaltung der deutschen Betriebsverfassung hinsichtlich der Lösung betrieblicher Regelungsstreitigkeiten bewußt für eine gesetzlich geregelte Zwangsschlichtung durch die Einigungsstelle entschied, ist in England die Einsetzung derartiger Institutionen dem Ermessen der Tarifparteien überlassen worden.
33
Die Vermittlungs-, Schlichtungs- und Schiedsstelle A CA C wurde 1974 gemäß s. 1 sch. 1 EPA 1975 (heute s. 247 TURL(C)A 1992) eingesetzt und mit der Aufgabe der Förderung und Verbesserung der Arbeitsbeziehungen beauftragt, insbesondere durch die Ausübung von Schieds- und Schlichtungsfunktionen im Rahmen von individual- und kollektivrechtlichen Konflikten (s. 209 TURL(C)A 1992). Die Leitung des ACAS obliegt einem Verwaltungsrat, welcher sich paritätisch aus einem Vorsitzenden, jeweils drei Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie drei unabhängigen (gewöhnlich akademischen) Mitgliedern zusammensetzt (s. 248 TURL(C)A 1992). Eine Einbringung der Konflikte in ein ACAS- Verfahren bestimmten gemäß dem 1990er Workplace survey 31 Prozent aller kollektiven Vereinbarungen (Mi 11ward et.al., WIRS 1990, S. 1). 34 Vgl. NEK Cables-GMBATU, Procedure agreement, IR-RR 335, S. 6. 55 Vgl. s. 210 sub-s. 1, s. 212 sub-s. 1 TURL(C)A 1992. Das Recht gemäß s. 214 TURL(C)A von Amts wegen tätig zu werden, bezieht sich nur auf Untersuchungsverfahren im Bereich industrieller Beziehungen, von welchem die ACAS bisher nur in seltenen Fällen Gebrauch gemacht hat (vgl. Lange, Betriebliche Arbeitsbeziehungen, S. 224). 36 Von diesem Grundsatz kann gemäß s. 212 sub-s. 3 b ausnahmsweise abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der ACAS spezielle Gründe vorliegen, die ein Schiedsverfahren ohne vorheriges Konfliktlösungsverfahren nahe legen. Beim Schlichtungsverfahren gem. S.210 TURL(C)A 1992 sollen die Parteien durch die ACAS bestärkt werden, die freiwillig festgelegten Verhandlungs- und Konfliktlösungsverfahren anzuwenden. 37 Vgl. s. 212 sub-s.4 TURL(C)A 1992. 3 8 Siehe dazu unten unter 2. Teil, C.
Β. Inhalt der collective agreements
33
Im Ergebnis sind die tariflichen dispute procedures letztlich der Primärregulator betrieblicher Konflikte in England.39 Ihrer Vereinbarung, Gestaltung und Formalisierung wird traditionell große Bedeutung für die störungsfreie Beziehung zwischen den Arbeitsvertragsparteien und ihren Vertretern zugemessen. Daher waren die dispute procedures in den zurückliegenden Jahrzehnten vielfach Gegenstand von Reformvorschlägen 40 sowie legislativer Initiativen. 41 Die Bedeutung der dispute procedures ergibt sich aus den Charakteristika des Verhandlungsprozesses und der kollektiven Abschlüsse: Durch das Fehlen einer rechtlich verbindlichen Friedenspflicht werden effiziente Konfliktlösungs- oder Konfliktvermeidungsverfahren erforderlich, die den Bestand der Vereinbarungen sichern. Ferner ergibt sich der hohe Stellenwert der dispute procedures aus dem Umstand, daß im Gegensatz zum deutschen Betriebsverfassungsrecht bei der Einbringung von Konflikten in das Verfahren keine Trennung zwischen Rechts- und Interessenkonflikten vorgenommen wird. Zwar existiert ein funktional äquivalentes Regelungskonzept 'dispute of rights' und 'dispute of interests A1, jedoch wirkt sich dieses praktisch kaum aus. Konflikte über die Auslegung, Anwendung und Durchsetzung von Vereinbarungen werden in kein separates Verfahren eingebracht. Sie werden durch die Beteiligten lediglich als Streitgegenstand mit rechtlichem Einschlag erkannt und im Rahmen des herkömmlichen Verfahrens tendenziell anders gehandhabt als die Konflikte über die Verhandlung neuer oder verbesserter Vereinbarungen. 43 Darüber hinaus befaßt sich der Konfliktlösungsprozeß über Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht nur mit der Auslegung der einschlägigen substantive rules. Die Suche nach einer angemessenen Lösung des Konflikts kann vielmehr auch in der Anpassung oder Veränderung der Vereinbarung bestehen. Eine formale und inhaltliche Trennung zwischen Verhandlung eines Abschlusses und Lösung eines Konfliktes über eine bestehende Vereinbarung ist demnach nicht möglich. 44 Aufgrund des Stellenwertes der verfahrensrechtlichen Regelungen für den kollektiven Ver39
„Dispute procedures play a key role in bringing fairness und consistency to employment relationships" (Millward et.al.,WIRS 1990, S. 185). 40 Royal Commission on Trade Unions and Employers ' Association, Donovan Report, S. 45; IRA 1971 (siehe Millward et. al, WIRS 1990). 41 ss. 37-43 Industrial Relations Act 1971 (IRA 71) legten etwa fest, daß im Falle des Fehlens oder unzureichenden Vorliegens von dispute procedures diese zwingend auferlegt werden. 42
Vgl. Smith and Woods, Industrial Law, S. 28; Kahn-Freund, Labour and the law, S. 73. „The distinction between disputes over existing agreements and disputes over the application of these provisions may in practice not be reflected so much in the existence of separate procedures as in the clear recognition by representatives of both sides as to the different approach in the two cases" (TUC, Evidence to the Royal Commission, para. 317-319). 43
44 Kahn-Freund (Labour and the law, S. 71 / 72) stellte angesichts fehlender formaler und inhaltlicher Trennung zwischen Verhandlungen und Konfliktlösung fest, daß „rule-making and the decision-making process, the, as it were, legislative and judicial functions, are indistinguishable as they were in the constitution of medieval England".
3 Haves
34
2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
handlungsprozeß wurde in den 60er Jahren schließlich das Konzept der Subsidiarität der collective bargaining gegenüber den procedural clauses entwickelt, welches jedoch eher geringe praktische Bedeutung hat. 45 Die Erörterung der Konfliktlösungsverfahren verdeutlicht die fundamentalen Unterschiede des deutschen und des englischen Systems industrieller Beziehungen: Hier das duale System der Interessenvertretung auf betrieblicher und tariflicher Ebene mit einer klaren Trennung nach Streitgegenständen auf beiden Ebenen und der Verweisung betrieblicher Rechtskonflikte zu den Arbeitsgerichten. Dort der !single channel ' Ansatz mit dem gänzlichen Fehlen einer gesetzlich normierten Betriebsverfassung, in welchem bezüglich der Lösung von Konflikten nicht nach Rechts- oder Regelungsstreitigkeiten unterschieden und eine externe Einflußnahme vermieden wird. Schiedsgerichtliche Streitbeilegung ist in Deutschland im Gegensatz zu England nur auf tariflicher Ebene möglich und bedarf ausdrücklicher Vereinbarung. 46
C. Rechtliche Wirkungen der collective agreements Die collective agreements entfalten weder schuldrechtliche Wirkung für die Verhandlungsparteien noch normative Wirkungen für die betroffenen Arbeitsvertragsparteien. Aus dem Blickwinkel eines deutschen Betrachters, für den sich die wirtschaftliche Bedeutung kollektiver Regelungen in rechtlichen Wirkungen und Bestandsgarantien widerspiegelt 47, steht das Fehlen einer rechtlichen Bindungswirkung der collective agreements im Widerspruch zu der Vielfalt ihrer Regelungsgegenstände und Funktionen. Die Frage der rechtlichen Bindung der Tarifparteien ist eine der bedeutendsten Fragen des englischen Kollektivarbeitsrechts. Sie berührt den Nerv des 'voluntarism', der freiwilligen Tradition der Arbeitsbeziehungen, da sie auf das notwendige bzw. für die Tarifparteien akzeptable Maß rechtlicher Einflußnahme und nach dem Umfang staatlicher und gerichtlicher Intervention gerichtet ist. Während für die 45
Marsh, Disputes procedures, S. 14. Vgl. §§ 101 ff. ArbGG: Für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten aus Tarifverträgen und Arbeitsverhältnissen, die sich nach einem Tarifvertrag bestimmen, kann durch die Tarifpartner ein Schiedsvertrag geschlossen werden. Falls dies erfolgt ist und nach Verfahren vor dem Schiedsgericht ein Schiedsspruch ergangen ist, so hat dieser (im Gegensatz zum Spruch des ACAS) dieselbe bindende Wirkung wie ein rechtskräftiges Urteil des Arbeitsgerichts (vgl. § 108 Abs. 4 ArbGG). Von den auf Rechtskonflikte bezogenen Schiedsverträgen zu unterscheiden sind die tariflichen Schlichtungsvereinbarungen, die für den Fall des Scheiterns oder der Ergebnislosigkeit der Verhandlungen in vielen Tarifbereichen vorgesehen sind (vgl. zu den unterschiedlichen Varianten WSI, Tarifhandbuch, S. 239). 47 Vgl. für den Tarifvertrag § 4 Abs. 1 TVG und die Betriebsvereinbarung § 77 Abs. 4 BetrVG. 46
C. Rechtliche Wirkungen der collective agreements
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deutsche Tarifwirklichkeit die schuldrechtliche und normative Wirkung der Abschlüsse ein etablierter Grundsatz ist, ist sie in England seit jeher Gegenstand ausgiebiger Kontroversen, die sich in ausgiebigen akademischen Debatten und gesetzlichen Reformversuchen niederschlug.
I. Hintergrund des Fehlens einer rechtlichen Qualifikation Während in Deutschland die rechtliche Wirkung kollektiver Vereinbarungen als Funktionsgarantie von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen gilt, erklärt sich in England die fehlende Verbindlichkeit der Regelungen aus einem traditionellen Mißtrauen der Tarifpartner gegenüber dem Recht als Mittel der Durchsetzung und Sicherung erzielter Vereinbarungen. Diese Haltung läßt sich auf Seiten der Gewerkschaften auf die historische Tatsache zurückführen, daß die Entwicklung der politischen, d. h. parlamentarisch vertretenen, Arbeiterbewegung derjenigen der Gewerkschaftsbewegung um ein halbes Jahrhundert nachfolgte. Die Labour Party entstand 1906 durch die Initiative des Trade Union Congress (TUC). 4S Zur Zeit der industriellen Revolution 49 bestand noch kein Wahlrecht der Arbeiter. Erst durch die suffrage laws von 1867 und 1884 wurde ihnen dieses Recht schließlich zuteil. Während die Mitglieder somit lange Zeit ohne politischen Einfluß verblieben, hatten die Gewerkschaften in weiten Teilen der Industrie bereits eine erhebliche Machtstellung inne. Im Gegensatz hierzu wurde auf dem Kontinent die Gründung der Gewerkschaften ideologisch und personell von der politischen Arbeiterbewegung getragen. 50 Die industrielle Revolution erreichte Deutschland erst zu einem Zeitpunkt, als sozialistisches Gedankengut bereits vorhanden war. 51 Die tiefverwurzelte Abneigung gegen die unkontrollierte Marktwirtschaft, welche sowohl die englische52 als auch die deutsche Arbeiterbewegung prägte, führte in Deutschland zu einer Wen48 Der Dachverband englischer Gewerkschaften wurde 1868 durch den Zusammenschluß von 14 Einzelgewerkschaften gegründet (vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 100). Der TUC beauftragte 1899 das Parliamentary Committee eine gemeinsame Konferenz der Gewerkschaften, Genossenschaften und den sozialistisch beeinflußten politischen Gruppierungen einzuberufen, um die parlamentarisch-politische Repräsentation der arbeitenden Klasse zu diskutieren. Das Labour Representation Committee , welches sich 1906 zur Labour Party konstituierte, war das Ergebnis dieser Beratungen (vgl. Kernig, Sowjetsystem, Bd. II, S. 1037). 49 Etwa 1770 bis 1850. 50
Pelling, British Trade Unionism; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 100. Lichtheim, Geschichte des Sozialismus, S. 92. Die deutschen Gewerkschaften bezogen daher relativ früh eine sozialistische Position, während eine ganze Generation der englischen Gewerkschaftsbewegung (bis etwa 1875) dem politischen Liberalismus verpflichtet war. 52 Zumindest in und nach der wirtschaftlichen Depression zwischen 1875 und 1885, die zur Bewegung des New Unionism und zur Politisierung der Gewerkschaftsbewegung führte (vgl. Kernig, Sowjetsystem, S. 1041). 51
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2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
de zum Staat, während man in England in der kollektiven Selbsthilfe eine Lösung suchte.53 Die fehlende Bereitschaft des englischen Staates, Sozialgesetze zu erlassen, welche die Folgen der Marktwirtschaft etwas abmildern sollten, bestärkte die Gewerkschaften in ihrer Haltung. Einen weiteren Beitrag zur Unterstützung der Haltung, daß das Recht ungeeignet sei, die Interessen der Arbeiter zu wahren, leistete die wenig gewerkschaftsfreundliche Rechtsprechung54 gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Auf Arbeitgeberseite wurde eine schuldrechtliche oder gar normative Wirkung der Vereinbarungen weitgehend als unerwünschte Einschränkung der Vorrechte des Managements interpretiert und abgelehnt. Einer Ordnung des Arbeitsmarktes durch rechtliche anstelle von sozialen Bindungen, einer einklagbaren Friedenspflicht der Gewerkschaften und einer Gleichschaltung der Arbeitsbedingungen wollten nur wenige die bisherige Flexibilität opfern. 55 Vielfach wurde auch schlicht eine rechtliche Bindung über die soziale Sanktionierung eines Bruchs der Vereinbarungen hinaus für überflüssig gehalten. Nach der Abkehr von der repressiven Gewerkschaftsgesetzgebung Anfang des 18. Jahrhunderts begann der englische Gesetzgeber, den Willen der Tarifpartner nach Nichteinmischung zu respektieren und nahm eine „abstentionistische" Haltung ein 56 . Die Aufhebung der Legalverbote der Gewerkschaften und der gleichzeitige Beginn parlamentarischer „non-intervention" in die industial relations 57 erfolgte durch den Combination Law Repeal Act 1824, welcher die Combination Acts 1799/180ö 58 außer Kraft setzte. Im Gegensatz hierzu setzten die Gerichte jedoch ihre restriktive Judikatur im Bereich des Arbeitskampfes fort, so daß der parlamentarische Gesetzgeber in Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Normsetzungsprärogative 59 vielfach interve53
Lichtheim, Geschichte des Sozialismus, S. 92. Vgl. Temperton ν Russell [1893] 1. Q.B. 715 zur Schadensersatzpflicht der Gewerkschaft wegen Verleitung zum Bruch eines kommerziellen Vertrages; Taff Vale Railway Company ν Amalgated Society of Railway Servants [1901] A.C. 426 zur Haftung der Gewerkschaft für Streikschäden und wegen der Aufforderung zum Bruch des Arbeitsvertrages durch Aufruf zur Arbeitsniederlegung; Quinn ν Leatham [1901] A.C. 495 zum Schadensersatz wegen Verschwörung. Die gewerkschaftsfeindliche Haltung der Gerichte erklärt sich zum einen aus ihrer Zusammensetzung, zum anderen jedoch aus dem individualistischen Ansatz des common law, für welches genossenschaftliche Erwägungen systemfremd sind. In den Worten Lord Dennings (in Cheall ν APEX [1982] ICR 543 (557)) steht der Arbeitnehmer als Individuum hilflos im Konfliktfeld zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft, er ist „treated as a pawn on the chessboard" in ständiger Gefahr „to be crushed between the upper and nether millstone". 55 Vgl. Farnham/Pimlott, Understanding Industrial Relations, S. 277. 56 Hepple / Freedman, Labour Law, S. 46. 57 Kahn-Freund, M.L.R. 1944, S. 193. 54
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Dieser hatte es für unzulässig erklärt, daß ein Arbeitnehmer einen höheren als den vom Friedensrichter festgesetzten Lohn fordert und damit gleichzeitig auch die kollektive Beanspruchung einer Lohnerhöhung untersagt.
C. Rechtliche Wirkungen der collective agreements
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nierte, um die Rechtsprechung durch statute law zu korrigieren. 6 0 Das Parlament entsprach daher bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts sowohl den Wünschen der Tarifpartner als auch seiner Legislativ-Funktion i m common law System. Das statute law wurde nur eingesetzt, um besondere Mißständen zu beseitigen. Der Inhalt der Gesetze war auf die Beseitigung dieser Mißstände beschränkt. 61 Die fehlende rechtliche Bindung der Verhandlungsergebnisse blieb lange Zeit von rechtlichen Maßnahmen unberührt und unreglementiert. Zu Beginn der 70er Jahre schließlich führte eine neue wirtschaftspolitische Orientierung des parlamentarischen Gesetzgebers jedoch zu legislativen Maßnahmen 6 2 , die die Tarifabschlüsse verstärkt dem Recht unterstellen sollten. Diese Maßnahmen standen i m offensichtlichen Gegensatz zur „voluntaristischen" Tradition der Vergangenheit und waren aus diesem Grunde nicht konsensfähig. Nur drei Jahre nach Verabschiedung wurde die Unverbindlichkeit der kollektiven Vereinbarungen wieder hergestellt. Diese Rechtslage gilt bis heute fort.
IL Rechtliche Qualifikation auf kollektiver Ebene Die heute geltende Regelung des s. 179 sub-s.l T U R L ( C ) A 1992 statuiert eine gesetzliche Vermutung rechtlicher Unverbindlichkeit der collective agreements. Diese Vermutung kann nur wiederlegt werden, wenn das A b k o m m e n 6 3 schriftlich
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Vgl. Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 37, zur unbeschränkten Zuständigkeit des englischen Parlaments, welche nur in der Macht der öffentlichen Meinung, dem Ansehen der Gerichte und der legislativen Selbstbeschränkung ihre Grenzen findet. 60 „The law of industrial action until the 1970s consisted largely of legislative responses to judicial creativity" (Hepple/Freedman, Labour Law, S. 42). Ζ. B. der Trade Disputes Act 1906, welcher die Gewerkschaften von der Haftung für Streikschäden unter ihrem eigenen Namen freistellt und damit die TaffVale Entscheidung des House of Lords (TaffVale Railway Company ν Amalgated Society of Railway Servants [1901] A.C. 426) hinfällig machte. Weitere Beispiele sind zum einen der Trade Union Act 1913, welcher politische Ausgaben der Gewerkschaft legalisierte und damit das sogenannte Osborne Judgement von 1909, in dem die Finanzierung politischer Aktivitäten untersagt worden war, umkehrte. Zum anderen der Trade Disputes Act 1965, welcher die Haftung für das common law Delikt der intimidation (Nötigung) im Falle der Drohung mit einem Streik ausschloß und damit die Entscheidung Rookes ν Barnard ([1964] A.C. 1129) einschränkte. 61 Vgl. Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 38. 62
Insbesondere der Industrial Relations Act 1971. Siehe unten unter 2. Teil, C. I. Es muß sich hierbei um ein collective agreement i.S. von s. 178 TURL(C)A 1992 handeln. Falls der Gegenstand einer kollektiven Vereinbarung nicht von dieser Vorschrift umfaßt ist, findet common law Anwendung. Strittig ist der rechtliche Status dieser Vereinbarungen. Einer Ansicht nach fehlt ihnen, ebenso wie den übrigen collective agreements, zum Vertragsstatus der Bindungswille der Parteien (.Kahn-Freund, System of industrial relations, S. 56). Andere nehmen einen Vertrag an, sofern dessen Voraussetzungen nach common law gegeben sind und konzedieren einen quasi-legislativen Charakter, falls es an diesen Erfordernissen fehlt (vgl. O'Higgins, IRR Nr. 12 1971, S. 3). 63
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2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
fixiert wird und es eine ausdrückliche Klausel 64 dahingehend enthält, daß es als rechtlich verpflichtend intendiert ist. 65 Darüber hinaus müssen alle anderen common law Voraussetzungen eines Vertrages vorliegen, d. h. die Vereinbarung darf weder mit formalen Fehlern behaftet noch nichtig sein. 66 Die Regelung des s. 179 sub-s. 1 TURL(C)A 1992 steht im markanten Gegensatz zu der Regelung des Industrial Relations Act 1971 ( IRA 1971) und stellt die legislative Reaktion auf die (negativen) Erfahrungen dar, die unter der Geltung des IRA 1971 gemacht wurden: Der IRA 1971 sollte eine vollkommene Neuordnung der britischen industrial relations bewirken und legte, neben anderen einschneidenden Maßnahmen, eine gesetzliche Vermutung der rechtlichen Verbindlichkeit von Tarifabschlüssen fest. 67 Falls die Tarifparteien daher keine Klausel in die Vereinbarung aufnahmen, welche die rechtliche Verbindlichkeit ausdrücklich ausschloß68, konstituierte der Bruch ihrer Verpflichtungen einen „breach of contract", dessen Rechtsfolgen nach common law beurteilt wurden. Zusätzlich wurde nicht nur der Bruch der Vereinbarung selbst als unerlaubte Handlung („unfair industrial practice ") qualifiziert 69 , sondern auch das Unterlassen einer Partei, alle vernünftiger-
64 In Edwards ν Skyways Ltd ([1964] 1 WLR, S. 349 ) war entschieden worden, daß sogar eine Klausel, gemäß welcher die Tarifparteien durch die Vereinbarung gebunden sind, u.U. unzureichend sein kann um einen vertraglichen Bindungswillen nachzuweisen, der die gesetzliche Vermutung umkehrt. 65 s. 179 sub-s. 1 TURL(C)A 1992 (wiederholt den Wortlaut von s. 18 sub-s.l TURLA 1974):
„A collective agreement shall be conclusively presumed to have been intended by the parties to be a legally enforceable contract unless the agreement(a) is in writing, and (b) contains a provision which (however expressed) states that the parties intend that the agreement shall be a legally enforceable contract. (2) A collective agreement which does satisfy those conditions shall be conclusively presumed to have been intended by the parties to be a legally enforceable contract. 66 Hepple / Fredman, Labour Law, S. 253. 67 s. 34 sub-s. 1 IRA 1971: „Every collective agreement which(a) is made in writing after the commencement of this Act, and (b) does not contain a provision which (however expressed) states that the agreement or part of it is intended not to be legally enforceable, shall be conclusively presumed to be intended by the parties to it to be a legally enforceable contract." 68 Die Tarifparteien gingen unter der Geltung des IRA 1971 mehrheitlich dazu über in die Übereinkommen Klauseln aufzunehmen, die auf die rechtliche Unverbindlichkeit hinweisen (sogenannte T.I.N.L.E.A. clause: „This is not a legally binding agreement"). 69 s. 36 sub-s.l IRA 1971: „It shall be an unfair industrial practice for any party to a collective agreement(a) where the agreement is a legally enforceable contract, to break the agreement
C. Rechtliche Wirkungen der collective agreements
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weise praktikablen Maßnahmen zu ergreifen, um eine Zuwiderhandlung Dritter zu verhindern. 7 0 Die Vorschriften des IRA 1971 standen offensichtlich nicht in Einklang mit den freiwilligen Traditionen des britischen industrial relations System und stießen zwangsläufig auf heftige Ablehnung bei den Gewerkschaften. 71 Auch auf Arbeitgeberseite war die Akzeptanz gering 7 2 , so daß das Gesetz nur drei Jahre später von der neuen Labour-Regierung unverzüglich aufgehoben und die gesetzliche Vermutung einer Unverbindlichkeit der Tarifabschlüsse gesetzlich angeordnet wurde. 7 3 Hiermit wurde wieder der Zustand hergestellt, der vor dem IRA 1971 nach common law bestand. In Ford Motor Co. Ltd. V AUEEF 74 war entschieden worden, daß den Parteien einer kollektiven Vereinbarung ein rechtlicher Bindungswille fehle, so daß keine vertraglichen Pflichten zwischen ihnen entstünden. Dies folge nicht nur aus der traditionellen Zurückhaltung der Tarifparteien, ihre Belange dem Recht zu überantworten 75 , sondern auch aus der Art und Weise der Verhandlung. Die informelle und flexible Verhandlungsmethode, in welcher nicht zwischen der Durchsetzung bestehender Standards (Rechtskonflikte) und der Aushandlung neuer
70 s. 36 sub-s. 2 IRA 1971: „(...) it shall be an unfair industrial practice for any party to the agreement not to take all necessary steps as are reasonably practicable for the purpose(a) of preventing persons acting on behalf of that party from taking any action contrary to an undertaking given by that party and contained in the collective agreement (...) (b) where the party in question is an organisation, of preventing members of the combination from taking any action ( . . . )". 71 Zur Zeit der Verabschiedung hatten die englischen Gewerkschaften aufgrund von Vollbeschäftigungsbedingungen, die Möglichkeit einer Nicht-Kooperation (vgl. Dahin/Morris, Labour Law, S. 59). 72 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 495. 73 Durch den Trade Union and Labour Relations Act (TURLA) von 1974 wurde die gesetzliche Vermutung umgekehrt: s. 18 sub-s. 2 TURLA 1974: „Any such agreement which satisfies the conditions in subsection 1 (a) and (b) above shall be conclusively presumed to have been intended by the parties to be a legally enforceable contract". s. 18 sub-s. 3 TURLA 1974: „If any such agreement is in writing and contains a provision which (however expressed) states that that the parties intend that one or more parts of the agreement specified in that provision, but not the whole of the agreement shall be a legally enforceable contract, then(a) the specified part or parts shall be conclusively presumed to have been intended by the parties to be a legally enforceable contract; and (b) the remainder of the agreement shall be conclusively presumed to not to have been intended by the parties to be such a contract, but a part of an agreement which by virtue of this paragraph is not a legally enforceable contract may be referred to for the purpose of interpreting a part of that agreement which is such a contract. 74 [1969] 2 QB 303. 7 5 Vgl. oben unter 2. Teil, C. I.
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2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
Regelungen (Interessenskonflikte) 76 unterschieden werde, mache es unmöglich, schuldrechtliche, einklagbare Pflichten der Tarifparteien festzustellen. Dies gelte auch für die Friedenspflicht, für welche wegen der Schwierigkeit der Identifizierung eines Vertrages faktisch der Bezugspunkt fehle. 77 Diese Rechtsprechung verwies nicht nur auf den akademischen Meinungstand78, sondern auch auf die Feststellungen der Donovan-Kommission, welche Ende der 60er Jahre mit der Reform des collective bargaining Systems befaßt war und welche ebenfalls eine schuldrechtliche Bindung ablehnte.79 Die Schlußfolgerungen der common law Rechtsprechung und der ihr zugrundeliegenden Quellen sind auch für die heutige Rechtslage noch gültig: Die kollektivrechtlichen Vereinbarungen sind im Verhältnis der Tarifparteien nur mittels sozialer und nicht mittels rechtlicher Sanktionen durchsetzbar. 80 Sie sind lediglich „binding in honour ". Die Erfüllung der Verpflichtungen, insbesondere die in Deutschland von der relativen Friedenspflicht umfaßte Pflicht zur Nichtvornahme von Streikhandlungen, ist lediglich als Erwartung geschützt, nicht jedoch unmittelbar rechtlich abgesichert. Gleiches gilt für die Verpflichtung einen kollektiven Konflikt in ein Verfahren der dispute procedures einzubringen. Der betriebliche Friede ist rechtlich nur mittelbar durch die deliktsrechtliche Streikhaftung geschützt. Eine deliktische Haftung besteht immer, wenn eine spezielle Haftungsfreistellung (die sogenannten immunities) nicht besteht.81 Die Anwendung der ausgehandelten Arbeitsbedingungen auf die individuellen Arbeitsverträge wird ebenfalls nicht durch eine rechtliche Verpflichtung der Verhandlungsparteien - einer Durchführungspflicht - flankiert. Ob die Tarifabschlüsse für den Individualarbeitsvertrag gelten oder nicht, ist den Vertragsparteien überlassen, d. h. letztlich dem Umsetzungswillen des Arbeitgebers. 82 Die rechtliche Unverbindlichkeit der kollektiven Vereinbarungen wird teilweise als kollektivarbeitsrechtliches Gemeingut Englands bezeichnet.83 Angesichts der Tatsache, daß die juristische Qualifikation der Tarifabschlüsse ständiger Gegenstand von Reforminitiativen hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen war 84 , kann die76 Vgl. oben unter 2. Teil, Β. II. 2. 77 Lane J in der Urteilsbegründung: „Agreements such as these, composed largely of optimistic aspirations, presenting grave practical problems of enforcement and reached against a background of opinion adverse to enforceability are, in my judgment, no contracts in the legal sense." 78 Hier insbesondere auf die Darstellungen Kahn-Freunds, Labour and the law, S. 23 ff. 79 Royal Commission on Trade Unions and Employers' Associations, Donovan Report, S. 265 f. 80
Doyle in: Lewis, Labour Law, S. 119. Siehe dazu unten 4. Teil, D. II. 2. 82 Siehe zur Inkorporation der collective agreements unten unter 2. Teil, C. III. 4. 83 Lange, Betriebliche Arbeitsbeziehungen, S. 70, u. a. unter Berufung auf die Ergebnisse der Donovan Kommission.
C. Rechtliche Wirkungen der collective agreements
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ser Aussage nicht zugestimmt werden. Im Jahre 1991 hat die konservative Regierung in einem Green Paper* 5nochmals eine Umkehrung der gesetzlichen Vermutung vorgeschlagen, um den britischen Arbeitsmarkt für ausländische Investoren transparenter zu machen und ihn an die Rahmenbedingungen der nordamerikanischen und europäischen Märkte anzupassen.86 Obwohl die Forderung letztlich nicht umgesetzt wurde, macht sie doch zweierlei deutlich: Die fehlende rechtliche Qualifikation der Kollektivvereinbarungen, welche ursprünglich als Verwirklichung des Glaubens in die pluralistische Gruppenautonomie bezeichnet wurde 87 , gerät heute als eines der spezifischsten Merkmale der englischen Arbeitsbeziehungen zunehmend unter den Anpassungsdruck des globalen Wettbewerbs. Ferner illustriert diese und vorherige Initiativen, wie stark die Frage der rechtlichen Wirkung kollektiver Übereinkommen von wirtschaftspolitischen Maßgaben beeinflußt ist. Ihre schon fast traditionelle Umstrittenheit verwundert daher nicht.
I I I . Rechtliche Auswirkungen auf den Individualarbeitsvertrag Das englische Arbeitsrecht kennt keine unmittelbare und zwingende Wirkung kollektiver Vereinbarungen, wie sie das deutsche Recht für den Tarifvertrag in § 4 I T V G und für die Betriebsvereinbarung in § 77 III 1 BetrVG vorsieht. Hintergrund dieses Unterschiedes ist der außerrechtliche Charakter der Tarifabschlüsse und der bewußte Verzicht auf rechtliche Garantien der Verhandlungsergebnisse. Angesichts des Fehlens einer normativen Wirkung muß die Wirkung auf den Individualarbeitsvertrag durch andere Mechanismen herbeigeführt werden. 84 Vgl. Donovan Report, Chapter Vili, Par. 483-518; Department of Employment, In place of strife, Cmnd. 3888, Par. 43-45, Conservative Political Centre, Fair deal at work, S. 32-35, welche alle von dem positiven Einfluß einer übersichtlichen Gestaltung der Vereinbarungen auf einen Rückgang der Streiktätigkeit ausgingen. Während die Wilson-Regierung sich jedoch gegen jegliche rechtliche Binding der collective agreements aussprach (§ 45) und der Donovan-Report eine schuldrechtliche Wirkung nur nach einer Reform der Arbeitsbeziehungen empfahl (para. 508-518), sah die Conservative Party die Einführung einer solchen Bindung als Bedingung dieser Reform (S. 32). Siehe für die Arbeitgeberseite auch die Engineerings Employers' Federation (EEF), die sich in ihrer Stellungnahme gegenüber der Donovan Commission für die rechtliche Verbindlichkeit der procedural clauses aussprach (vgl. EEF, Evidence to the Royal Commission, S. 26). Ebenso die Confederation of British Industry (CBI) (vgl. CBI, Evidence to the Royal Commission, S. 33). 85
Department of Employment, Industrial Relations in the 19905, Ch. 8. 86 Ebenda S. 33. 87
Kahn-Freund in: Flanders /Clegg, Industrial Relations in Great Britain, S. 55; Kulbe, Kollektivrechtliche Vereinbarungen, interpretiert Kahn-Freunds Feststellung als Übereinstimmung mit Sinzheimer und dessen Maxime einer Respektierung der Rechtschöpfungskapazität der Tarifparteien seitens des staatlichen Rechts. Dem muß entgegnet werden, daß Sinzheimer aus dieser Maxime gerade die schuldrechtliche und normative Wirkung der Kollektivverträge ableitete, während Kahn-Freund davon ausging, daß die autonome Regelung des Verhältnisses der Tarifparteien einen rechtlichen Einfluß entbehrlich machte. Demnach unterscheiden sich die beiden Ansätze hinsichtlich der Einflußnahme des Rechts grundlegend.
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2. Teil: Kollektive Vereinbarungen im System der Englischen Arbeitsbeziehungen
1. Verbindlichkeit der Tarifabschlüsse kraft staatlicher Verfügung Ein dem Verfahren der Allgemeinverbindlichkeitserklärung 88 von Tarifverträgen (§ 5 TVG) ähnlicher Mechanismus ist dem englischen Recht gänzlich unbekannt. Das Konzept einer staatlichen Einflußnahme, um die Gleichschaltung von Arbeitsbedingungen in einem Industriebereich sicherzustellen und die Tarifparteien gegen „Schmutzkonkurrenz" abzuschirmen, widerspricht dem freiwilligen Ansatz des englischen Systems der Arbeitsbeziehungen. Die wenigen Ausnahmen von diesem Grundsatzes, die eine Ausweitung von Tarifabschlüssen auf Betriebe ermöglichten, die nicht selbst (oder vertreten durch ihre Verbände) an den Verhandlungen teilnehmen, wurden in den 80er Jahren abgeschafft. 89 Es handelte sich hierbei um die Verpflichtung des Arbeitgebers unter dem Terms and Conditions of Employment Act 1959, Arbeitnehmer nicht unterhalb derjenigen Bedingungen zu beschäftigen, die für den jeweiligen Industriezweig durch collective bargaining festgelegt wurden. Ebenfalls widerrufen wurde die sogenannte Fair Wages Resolution, nach welcher im öffentlichen Auftrag handelnde Arbeitgeber verpflichtet wurden, allgemein übliche Arbeitsbedingungen zu beachten.90 In der heutigen Arbeitswirklichkeit Englands gibt es daher keine Rechtsfigur, die dem Verfahren der Allgemeinverbindlichkeitserklärung entsprechen würde.
2. Drittwirkung der vertraglichen Vereinbarung Die kollektiven Vereinbarungen in England haben, wie oben dargestellt, nur in seltenen Fällen Vertragscharakter. Falls ausnahmsweise die gesetzliche Vermutung aus s. 179 TURL(C)A 1992 widerlegt wurde, wäre eine vertragliche Drittwirkung der Vereinbarung im Hinblick auf die Arbeitnehmer denkbar. Ein solcher Geltungsanspruch gegenüber Dritten ist für den deutschen Tarifvertrag zumindest im Hinblick auf den schuldrechtlichen Teil geradezu charakteristisch. 91 88 Die praktische Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) von Tarifabschlüssen erschließt sich etwa daraus, daß 1995 rund 5,5 Mio. Beschäftigte in Branchen mit allgemeinverbindlichen Tarifverträgen arbeiteten, wobei für 1,2 Mio. eine Tarifbindung erst durch die AVE entstand (WS1Tarifhandbuch, S. 232). Siehe zur vielfach geäußerten Kritik an der AVE-Praxis in Deutschland etwa Sachverständigenrat, Jahresgutachten 96/97, Rz. 327 (Empfehlung einer engeren Auslegung des „öffentlichen Interesses" in § 5 Abs. 1 Nr. 2 TVG). 89 Siehe hierzu unten unter 4. Teil, D. 2. e).
90 Ebenfalls abgeschafft wurden die Regelungen der Schedule 11 des Employment Protection Acts 1975 durch den Employment Act 1980. Hiernach konnten Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften Beschwerde dagegen erheben, daß ein Arbeitgeber keine üblichen Arbeitsbedingungen gewährte. Der Anordnung ging die Beschwerde eines Arbeitgeberverbandes oder einer Gewerkschaft voraus, welcher nicht durch Schlichtung abgeholfen werden konnte (vgl. Sisson, Management of Collective bargaining, S. 130). Wie Kahn-Freund (Labour Relations and the Law: A Comparitive Study, S. 30) richtig herausstellt, handelt es sich jedoch nur um eine Möglichkeit der Ausweitung des Tarifeinflusses in Einzelfällen und nicht um die Etablierung eines allgemeinen Grundsatzes. 91 Zöllner, Arbeitsrecht, S. 328.
C. Rechtliche Wirkungen der collective agreements
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Nach englischem Recht entfalten Verträge jedoch nur Rechtswirkungen zwischen den Vertragsparteien. Dritte können grundsätzlich keine Rechte aus ihnen ableiten oder aus ihnen verpflichtet werden (