Karel Kramár (1860–1937): Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers [Reprint 2014 ed.] 9783486595284, 9783486566208

In den letzten Jahren hat, bedingt durch aktuelle politische Entwicklungen ebenso wie wissenschaftliche Debatten, das In

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Karel Kramár (1860–1937): Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers [Reprint 2014 ed.]
 9783486595284, 9783486566208

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Winkler Karel Kramáf (1860-1937) •

Ordnungssysteme Studien zur

Ideengeschichte der Neuzeit

Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 10

R.

Oldenbourg Verlag München 2002

Martina Winkler

Karel Kramár

(1860-1937)

Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers

R. Oldenbourg Verlag München 2002

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen

Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek CIP Einheitsaufnahme -

Winkler, Martina: Karel Kramáf : (1860 1937) ; Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers / Martina Winkler. -

München

Oldenbourg, 2002 (Ordnungssysteme ; Bd. 10) Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 1996 :

ISBN 3-486-56620-2

© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-56620-2

Danksagung Dieses Buch wurde als Dissertation im Fach Geschichte an der Universität Leipzig verfasst. Den anregenden und herausfordernden Rahmen für die Arbeit bildete das Promotionskolleg „Ambivalenzen der Okzidentalisierung" mit Seminaren, Tagungen und Doktorandentreffen. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Wolfgang Höpken, der stets mit klarem Blick Probleme erkannte und mir Lösungen aufwies, mich aber dennoch meinen eigenen Weg gehen ließ, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Einen engagierteren Doktorvater kann man sich kaum wünschen. Weiterhin zu Dank verpflichtet bin ich Dr. Frank Hadler, der die Dissertation von Anfang an mit reichem Fachwissen und großem Engagement begleitete. Von den vielen anderen, die Teile des Manuskriptes lasen und Fragen mit mir diskutierten, seien hier nur Prof. Hans Lemberg, Prof. Winfried Eberhard, Dr. Matthias Middell, Dr. Eva Hahn und Christiane Brenner genannt. Letztlich ermöglicht wurde die Arbeit nur durch ein Stipendium der HansBöckler-Stiftung. Hier danke ich vor allem Werner Fiedler fur unbürokratische Entscheidungen über die Finanzierung von Auslandsreisen. In Prager Archiven und Bibliotheken kam man mir sehr hilfreich entgegen. Insbesondere den Mitarbeitern des Archivs des Nationalmuseums muss ich danken: unkomplizierter Zugang zu den Dokumenten ebenso wie viele Tassen Kaffee machten die Arbeit zu einem Vergnügen.

Schließlich, keinesfalls zu vergessen, bin ich meinem Mann, meiner Familie und meinen Freunden für ihr Verständnis und ihr Interesse am doch sehr speziellen Thema „Karel Kramáf" dankbar. Dorothea Uhle danke ich ganz besonders für ihre Freundschaft und das immer freundliche Asyl in Leipzig.

Inhalt Danksagung

7

Einleitung Gegenstand und Fragestellung Biographie Karel Kramárs

9 12

Methoden und Ansätze

16

Forschungsstand und Quellenlage

21

II. Der Blick auf das

25

I.

Eigene

9

Kramár und die Nation -

Der tschechische Diskurs des Nationalen

29

Kramárs Nationsverständnis Begriffe und Bedeutung Von der Nation zum Nationalismus Geschichtskultur Tschechische Geschichtskultur Kramárs Geschichtsbewusstsein Vom Wert der Geschichte Vom Sinn der Geschichte

40 40 43 53 55 58 67 73

Kramaf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft Kramáf als Vertreter des Bürgertums Die tschechische „kleine Nation" Soziale Nation Nationaler Sozialismus

78 79 84 90

-

Nation und Staat Kramáfs Staatskonzept Historisches Staatsrecht und nationales Der Staat und sein Umfeld

Selbstbestimmungsrecht

102 102 105 120

III. Generationserlebnisse I: Das fin-de-siècle

125

IV. Der Blick auf das Andere

143

Kramáf und die Welt -

Ein, zwei, drei Europas? Stereotype in der Entwicklung

Russische Seele und westliche Vernunft Die neunziger Jahre: Kulturpessimismus Jahrhundertbeginn: Politik und Kompromisse Neoslavismus Zwei Russlands

146 167 167 167 177 180 182

„Die russische Krisis"

Verfassungen für Russland Die zwanziger Jahre: Radikalisierung gegen den Westen Süßes Frankreich, gesichtsloses England, amerikanischer Traum:

Der Westen Nachbar und Dämon: Deutschland Zwischen Ost und West: Mitteleuropa? Säulen eines Weltbildes

184 209 214 230 245 253 267

V. Generationserlebnisse II: Der Erste

Weltkrieg

Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit Demokratiekonzepte Demokratische Nation, nationale Demokratie VI.

271

287

-

289

Elemente der Demokratie Monarchie Parlament Wahlrecht Volonté générale Eliten 306

295 295 300 302 304

Realismus und Rationalismus Die Demokratie in der Tschechoslowakei Kramáfs pessimistischer Realismus Faschismus

313 314 320 327

Befreiung und stählerne Gehäuse Kramáf und die Moderne Die Moderne ein folgenreiches Konzept

341

VII.

-

341

-

Kramáfs Konservativismus

348

Kramáf zwischen Tradition und Wandel

355

Kramáfs

Fortschrittsbegriff

366

VIII. Schluss: Karel Kramáf

ein Fremdling im 20. Jahrhundert?

379

-

Literaturverzeichnis

387

Abkürzungsverzeichnis

410

Personenregister

412

I.

Einleitung

Ich wurde in einer Gesellschaft gefragt, was wohl die Haupteigenschaft eines Biographen sein müsse [...]. Ich antwortete: ,Die Liebe zum Helden'.

So Karl Lamprecht im Jahre 1906.' Doch der Leser sei gewarnt: Es liegt weder im Bereich des Möglichen dieser Arbeit, noch in der Absicht der Autorin, eine solche Forderung zu erfüllen. Karel Kramáf war kein Held. Die Gründe, diese Arbeit zu schreiben, liegen nicht in einer besonderen Sympathie für Kramáf und auch nicht in dem Wunsch, seine Ideen als heute noch oder wieder gültige Parolen dem Vergessen zu entreißen. Vielmehr sind es gerade die Widersprüche sowie die heute auf den ersten Blick unverständlichen und andererseits gerade die scheinbar völlig eindeutigen Aspekte seines Denkens, seines Handelns und seiner Persönlichkeit, die ihn interessant machen. „Eine der starken Persönlichkeiten des Landes"2; „ein typischer Reaktionär"3; „schroff, absolutistisch"4 und „sich selbst vergötternd"5; „a child of fortune"6; „Kämpfer und Märtyrer"7; „a great and fearless patriot"8 so unterschiedliche Wertungen beziehen sich alle auf die gleiche Person: auf Karel Kramáf, der zu den bekanntesten tschechischen Politikern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zählte und dessen Denken das Thema dieser Arbeit bildet. -

-

-

Gegenstand und Fragestellung Umgang mit einzelnen Personen in der Geschichtswissenschaft sind meist folgende Wege üblich: Es werden Biographien verfasst, in denen das Leben einer als wichtig erachteten Person sehr detailliert dargestellt wird. Hier werden häufig Geschichten, nicht aber Geschichte geschrieben; viele Einzelbiographien ergeben dann, so scheint man zu hoffen, das Gesamtmosaik „der Geschichte". Als Objekte solcher Untersuchungen werden meist Personen gewählt, welche „die Geschichte" offenbar beeinflusst haben; die Beschreibung ihres Lebens Im

' 2 3 4

5 6 1

8

Karl Lamprecht, S. IX. Deutsche Gesandtschaftsberichte, S. 401. Gajanová: Cesky faSismus, S. 67. Deutsche Gesandtschaftsberichte, S. 166f. Ebenda, S. 270-274. Winters: Karel Kramáf 's early career, S. 587. Soukenka: Odkaz, S. 8. Seton-Watson: Karel Kramáf, S. 189.

Chickering:

Einleitung

10

dient als Erklärung für historisches Geschehen.9 Individuen sind häufig auch Objekt einer eher philosophisch ausgerichteten Geschichtsschreibung mit oft deutlich, zuweilen explizit identitätsbildender Absicht.10 Diese Ansätze würden keine Beschäftigung mit Kramáf legitimieren: Vordergründig mag zwar seine Stellung als Vorsitzender der Ende des 19. Jahrhunderts in der tschechischen Politik führenden „Jungtschechischen Partei" eine klassische Biographie genügend rechtfertigen. Auch seine Position als zentrale Identifikationsfigur ebenso wie als Projektionsfläche des rechten Spektrums der Zwischenkriegszeit lässt ihn, trotz verlorener formal definierbarer politischer Macht, als herausragende Figur des tschechischen politischen Lebens erscheinen. Doch waren weder seine Ideen besonders originell oder gar von Vorbildcharakter für heutige Verhältnisse, noch hat seine politische Tätigkeit die Geschichte von heute aus gesehen langfristig gelenkt. Kramáf konnte, so maßgeblich er für die tschechische Politik des späten 19. Jahrhunderts auch war, seine Ideen letztlich nicht durchsetzen. Interessant ist er nicht als herausragender, sondern als in vieler Hinsicht typischer nicht repräsentativer Vertreter seiner Zeit. Es war eine schillernde Ära, in die Kramáf hineingeboren wurde. Der letzte europäische Krieg lag nur wenige Jahre zurück, kleinere bewaffnete Konflikte folgten. In Italien kämpften die Mazzinisten auf revolutionäre und Cavour auf evolutionäre Weise entschlossen für die nationale Einigung; ihrem Erfolg sollte bald die Bildung des Deutschen Reiches folgen. In Wissenschaft, Technik und Philosophie wurden wichtige Veränderungen erzielt, ebenso in Politik und Wirtschaft. Im Jahre von Kramáfs Geburt gab es in Russland noch die Leibeigenschaft und in den Vereinigten Staaten die Sklaverei. Weder Tuberkel- noch Diphteriebazillus waren bekannt, Wunden keimfrei zu behandeln lernten Ärzte erst im folgenden Jahrzehnt. Es gab weder Telefon noch drahtlose Télégraphie, vom Automobil mit Benzinmotor ganz zu schweigen. Als Erwachsener aber benutzte Kramáf diese Errungenschaften im täglichen Leben, das System der freien Ökonomie in Landwirtschaft und Industrie war ebenso wie die persönliche Freiheit aller Menschen für ihn ein nicht unproblematischer, aber kaum wegzudenkender Aspekt geworden. Als er 1937 starb, hatte die Welt sich verändert: Alte Staaten waren untergegangen, neue waren gegründet worden, ein Weltkrieg und eine Revolution hatten das Denken und Leben der Menschen von Grund auf umgestaltet. Kramáf erlebte viele dieser Veränderungen intensiver und unmittelbarer als andere Menschen. In eher traditionalem kleinstädtischem Milieu aufgewachsen, konnte er als Jugendlicher Modernisierungsschübe ebenso wie Machtkämpfe in einer sich konstituierenden politischen Landschaft beobachten. Als -

-

9

Im Rahmen der tschechischen Historiographie erlebt diese Form der Biographie zur Zeit eine besondeRenaissance. Dazu zählen beispielsweise: Setfilová: Alois RaSín. Kosatík: Bankéf prvni republiky. Geradezu detailverliebt: Sobková: Tajemství. 10 Im tschechischen Kontext ist hier in erster Linie Masaryk zu nennen, dessen Ideen als vorbildlich für die Gegenwart betrachtet werden. Vgl. z.B. einige Beispiele des Sammelbandes von 1980: Machovec: Masarykûv sbornik. Ebenso: Sto let Masarykovy otázky. re

-

-

-

Einleitung

11

Erwachsener lebte er in Städten wie Prag und Straßburg sowie in Metropolen wie Berlin, Wien und Paris und reiste zudem länger durch Großbritannien und Russland. Seine politische Tätigkeit konfrontierte ihn direkt mit vielen neuen Ereignissen, Ideen und Diskursen. Er erlebte das Age of Empire und einen Teil des Age of Extremes, wie Eric Hobsbawm diese Epochen pointiert genannt hat," nicht nur in ihrer zeitlichen Ausdehnung, sondern auch in ihren räumlichen Differenzierungen. Es gehört zu den Reizen der böhmischen bzw. tschechischen Geschichte, dass sich viele europäische Entwicklungen in ihr gebrochen widerspiegeln die klassische Betrachtungsweise der osteuropäischen Geschichte, die von einer Andersartigkeit des Ostens ausgeht, erhält hier eine ergänzende und gleichzeitig relativierende Bereicherung: Die Gegensätze zwischen den als Extremen gedachten Ländern Frankreich und Russland werden zusätzlich illustriert oder auch in Frage gestellt durch eine Betrachtung der Lage des „mitteleuropäischen" Böhmen, in dem sich verschiedene Entwicklungen brachen, relativierten oder auch häuften. Die Figur Kramáfs, von tschechischen ebenso wie von westeuropäischen, deutschen und osteuropäischen Einflüssen bestimmt, repräsentiert diese Situation auf besonders aufschlussreiche, wenn auch oft nicht ganz unproblematische Weise. Eine Geschichtsauffassung, die sich weniger für die Besonderheiten als für die Normalität der Vergangenheit interessiert, die nicht nur nach kausalen Zusammenhängen des Geschehens fragt und eine klare Linie der Entwicklung zeichnen will, sondern den Focus auf die Frage richtet, wie Menschen in der Vergangenheit gedacht haben, weshalb so und warum nicht anders, findet in Karel Kramáf ein lohnendes Untersuchungsobjekt. Denn Kramáf hat sich mit zentralen Fragen seiner Zeit intensiv beschäftigt, ohne dabei ein herausragender Denker zu sein; in seinen Ideen werden die Einflüsse der unterschiedlichsten Diskurse und verschiedener Entwicklungsphasen erkennbar. Ein mikrohistorischer Blick, die Beschäftigung mit einem eng begrenzten Gebiet bzw. nur einer Person erlaubt Detailtreue und zwingt nicht zu Verallgemeinerungen. Ein zentrales Ergebnis der Arbeit ist das unmittelbare Resultat dieser glücklichen Lage: Die Untersuchung wird zeigen, dass Kramáf sich sehr häufig in einer unentschiedenen Zwischenposition befand, dass er sich nur selten in abgeschlossene Schubladen und klar definierte Schulen einordnen lässt. So wird deutlich, wie oberflächlich und schematisierend die Beschreibung vor allem geistesgeschichtlicher Kategorien häufig ist. Es geht in der vorliegenden Arbeit nur in zweiter Reihe um die politische Arbeit Kramáfs. Im Vordergrund steht sein Denken, die Orientierung in der sich schnell verändernden Welt, das Ordnungssystem, das er aufbaute, um eine Basis für die politische Arbeit zu erhalten. Dieser Ansatz hat eine Gliederung nach thematischen Schwerpunkten herausgefordert. Eine chronologische Ordnung steht eher im Hintergrund und dringt nur dann nach vorn, wenn es um das -

''

Hobsbawm: The Age of Empire.

Ders. : The -

Age of Extremes.

Einleitung

12

Nachzeichnen konkreter Entwicklungen Kramáfs geht. Stattdessen orientiert sich die Arbeit an Themenbereichen, deren Auswahl sich aus den auf Kramáf direkt bezogenen Quellen ebenso wie aus den für die untersuchte Zeitspanne zentral erscheinenden Fragestellungen und Problemen ergeben hat. So ergab sich eine Konzentration auf zunächst drei verschiedene Bereiche. Nationalismus bzw. der Diskurs des Nationalen als wichtigster Aspekt in Kramáfs Denken und als entscheidendes Ordnungsmuster des 19. wie des 20. Jahrhunderts bestimmt das erste Kapitel. Die Ausweitung dieses Ordnungsdenkens fuhrt zum Thema und Kapitel „Weltbild", in dem Kramáfs Umgang mit nationalen Klischees und Stereotypen analysiert wird. Danach soll in Kapitel VI Kramáfs Demokratiekonzept beschrieben und problematisiert werden, ein Thema von besonderer Bedeutung vor allem für die Zwischenkriegszeit. Zusätzlich zu dieser thematischen Ordnung wird der Leser als Kapitel III und V Abschnitte finden, in denen zwei Perioden beschrieben werden, die mehr bedeuten als nur Episoden: Es geht dabei um Situationen, um Zeitpunkte und Erlebnisse, die Lebensläufe und Denkstrukturen ganzer Generationen prägten, konkret um das fin-de-siècle und das Weltkriegserlebnis. Die Arbeit schließt mit einem Kapitel zur Problematik von Moderne und Modernisierung. Hier werden verschiedene zuvor angesprochene Aspekte nochmals aufgerollt und in den Problemzusammenhang der Moderne eingeordnet.

Biographie Karel Kramáfs Karel Kramáf wurde

27. Dezember 1860 in der nordböhmischen Kleinstadt VysokeTHochstadt geboren als der einzige Sohn einer politisch engagierten und ökonomisch erfolgreichen Familie. Sein Vater, ursprünglich Maurer, sollte in den folgenden Jahren zunächst eine Ziegelei aufbauen und später eine Weberei kaufen und so nicht nur die Ausbildung, sondern auch die politische Karriere seines Sohnes finanziell absichern. Kramáf besuchte die Grundschule in Vysoké und Liberec/Reichenberg, dann, mit elf Jahren, schickten ihn seine Eltern auf das als besonders national geprägt bekannte Kleinseiter Gymnasium in Prag. Nachdem er 1879 die Schule abgeschlossen hatte, reiste Kramáf nach Berlin und immatrikulierte sich dort an der Juristischen Fakultät. Er besuchte dort unter anderem die Vorlesungen des „katheder-" bzw. „staatssozialistischen" Nationalökonomen Adolph Wagner, der ihn dazu veranlasste, sich intensiv mit ökonomischen und finanzwissenschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Von Berlin aus fuhr Kramáf im Sommersemester 1880 nach Straßburg, wo er theoretische Nationalökonomie bei Gustav Schmoller hörte. Dann setzte er seine Studien in Prag fort und wurde 1884 zum am

12 Die Daten der Biographie Karel Kramáfs sind bereits ausführlich dokumentiert worden, so bei Lemberg und Winters. In dieser Arbeit bilden sie nur einen Hintergrund für die Analyse und werden aus diesem Grunde hier nur als Überblick zusammengefasst.

Einleitung

13

Dr. jur. promoviert. Anschließend verbrachte er noch zwei Jahre in Berlin, wo sowie in Paris an der École libre er wieder an Seminaren Wagners teilnahm des Sciences politiques. Darüber hinaus reiste er nach England und Irland und arbeitete in Wiener Archiven an einem niemals fertig gestellten Buch über die Geschichte der österreichischen Finanzen. Schon während seiner Studienzeit in Prag hatte er den Ökonomieprofessor, Reichsratsabgeordneten und Finanzminister Josef Kaizl (1854-1901) kennen gelernt, der ihm nun eine politische und publizistische Zusammenarbeit vorschlug. Gemeinsam mit dem Soziologie- und Philosophieprofessor und späteren Staatspräsidenten der Tschechoslowakei Tomás G. Masaryk (1850-1937) etablierten sie sich in der tschechischen politischen Landschaft als die Gruppe der „Realisten", welche den nationalen Romantismus der Zeit von einem explizit wissenschaftlich-positivistischen Standpunkt aus kritisierte. Das besondere Verhältnis der beiden Politiker Kramáf und Masaryk zueinander ist von Bedeutung: Kramáf hat seine politische Laufbahn in Zusammenarbeit mit Masaryk begonnen, und er scheint sein Leben lang in einem besonderen, von Neid und Missgunst, aber auch von großer geprägten, in jedem Falle engen und besonderen Verhältnis zu Masaryk gestanden zu haben. Wenn die Wege der beiden sich schon früh trennten, so haben sie später, mit dem Ersten Weltkrieg und den Jahren 1918/19 eine besondere, für viele unerwartete Wendung genommen: Masaryks Aktivitäten im Exil haben ungeheure Erfolge für ihn persönlich und die tschechische Nation nach sich gezogen, er wurde zum zwar nicht unangefochtenen, aber von vielen geliebten, bis heute idealisierten Staatspräsidenten. Kramáf war nach 1918 auch nicht unbedeutend; formal aber war seine Stellung in keiner Weise mit der Masaryks zu vergleichen. Immer wieder kam es zu politischen und auch deutlich persönlich motivierten Konflikten zwischen Kramáf bzw. seiner Partei und Masaryk bzw. der „Burg" oder dem vorgeschobenen Edvard BeneS. ,

-

-

Zuneigung14

13

Aus dieser Arbeit in Berlin ging die Schrift Kramáf: Das Papiergeld in Österreich hervor. Vgl. die frühen Briefe Kramáfs an Masaryk, die trotz aller Kritik von Bewunderung und Respekt geprägt waren (AÚTGM MA Kor I), und spätere Korrespondenz, so z.B. „Herr Präsident [...], auch ich erinnere mich nun häufiger [...] an unsere jungen Jahre und an unsere gemeinsame Arbeit. Ich sammle nämlich Material für meine Memoiren, und so erlebe ich alles noch einmal und fühle, wie gern ich Sie hatte....] In diesen Erinnerungen bin ich Ihre ergebener Kramáf." „Pane Presidente, [...] Vzpomínám i já nyní íasteji [...] na naäe miada léta i na naäi spolecnou práci. Sbírám totiz material pro své pamëti, a tu zas znovu cítím, jak jsem Vas mël rád. [...] V tëchto vzpomínkách jsem Vám oddany Kramáf." AÚTGM MA Kor II. Brief an Masaryk 31.12.1930. 15 In dieser Arbeit steht der Vergleich zwischen Kramáf und Masaryk oder auch nur die Beschreibung ihres Verhältnisses nicht im Vordergrund. Wenn beide Aspekte dennoch immer wieder auftauchen, so liegt das in erster Linie an der tatsächlichen Bedeutung, die Masaryk politisch und persönlich für Kramáf offensichtlich hatte, nicht zuletzt aber auch und dieser Punkt ist nicht unproblematisch an der Forschungslage. Denn eine Einordnung Kramáfs in tschechische Diskurse, wie sie hier unter anderem angestrebt wird, muss sich auch intensiv auf Sekundärliteratur stützen, auf Sekundärliteratur, in der Masaryk häufig eindeutig im Vordergrund steht. Im Rückblick erscheint es häufig, als sei Masaryk die maßgebliche Person in tschechischen Diskursen gewesen, und dies schon in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Doch sind Zweifel an diesem Bild durchaus angebracht im Kontext der vorliegenden Arbeit können sie jedoch kaum geklärt werden. 14

-

-

-

-

Einleitung

14

Zurück zu den Anfängen: Kramáf, Kaizl und Masaryk gaben die Zeitschrift Cas heraus, die auch Kramáf zeitweise als Redakteur und Herausgeber leitete. Damit war eine neue Basis für die Kooperation der Realisten geschaffen, die sich ursprünglich über das von 1883 bis 1889 von Masaryk herausgegebene, stärker aka-demisch orientierte und sehr kritische Organ Athenaeum gefunden hatten. Doch diese neue Basis sollte nicht lange halten. Der politische Weg der Gruppe war umstritten; obwohl man zunächst die Kooperation mit einer der beiden großen Parteien, „Alttschechen" oder „Jungtschechen"16, sowie die Arbeit im Wiener Reichsrat ablehnte, kam es doch bald zu Verhandlungen mit beiden Parteien. Die langwierigen und dabei recht pragmatisch geführten Gespräche endeten damit, dass Kaizl, Masaryk und Kramáf im Jahre 1891 als jungtschechische Abgeordnete für den Reichsrat kandidierten und erfolgreich ins Parlament einzogen, als die jungtschechische Partei die bisher in der tschechischen Politik führenden „Alttschechen" ablöste. Kramáf, der bei seiner Wahl gerade das notwendige Alter von 30 Jahren erreicht hatte, entwickelte sich schnell zu einem bekannten und respektierten Politiker. Nachdem Josef Kaizl im Jahre 1901 gestorben war, wurde Kramáf zu einer der führenden Persönlichkeiten der jungtschechischen Partei. 1897 zum Parlamentsvorsitzenden gewählt, saß er auch im Führungsgremium der jungtschechischen Fraktion im Reichsrat. Im Jahre 1890 hatte nicht nur Kramáfs politische Karriere begonnen; noch ein weiteres Ereignis sollte sein Leben ändern. Er fuhr ein halbes Jahr durch Russland, lernte dort die Familie des Moskauer Großbürgers Abrikosov kennen und verliebte sich in dessen Frau. Es brauchte ein Jahrzehnt, viele Briefe sowie unzählige Anfragen bei Behörden, bis die Ehe der Abrikosovs geschieden und aus Nadëzda Abrikosova Nadëzda Kramáfová werden konnte. Die Jahre zwischen 1900 und dem Beginn des Weltkrieges waren für Kramáf von intensiver politischer Arbeit geprägt, die sich mit Schlagworten wie Positive Politik17 und Neoslavismus1 zusammenfassen lassen. Er war Abgeordneter im Wiener Reichstag sowie seit 1894 im Böhmischen Landtag. Im Juli 1913 wurde mit den St.Anna-Patenten der böhmische Landtag aufgelöst auf unbestimmte Zeit und damit, wie sich herausstellen sollte, endgültig. 1914 brach der Erste Weltkrieg aus, und Kramáf stand ebenso wie andere tschechische Politiker vor der Frage, ob und wie die Loyalitäten sich nun verändern sollten. Der -

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16 Alttschechen: eigentlich Nationalpartei (Národní strana), gemäßigt liberal, seit Beginn der 1860er Jahre formiert. Bis 1890 führende tschechische Partei, dann von den Jungtschechen eigentlich Nationale Freisinnige Partei (Národní strana svobodomyslná) in dieser Funktion abgelöst. Die jungtschechische Partei ist 1874 als Abspaltung der Alttschechen entstanden, hatte aber faktisch schon früher als deren radikaler Flügel existiert. Sie wandte sich vor allem gegen die Zusammenarbeit der Alttschechen mit dem Adel und lehnte die Obstruktion des Reichsrates ab. " Mit diesem Schlagwort ist ein politisches Konzept gemeint, das Kramáf 1906 zum Programm der jungtschechischen Partei erklärte. Dazu gehörte die Ablehnung radikaler Forderungen und „leerer Staatsrechtspolitik". Stattdessen sollten die tschechischen Parteien kooperieren und gemeinsam für eine schrittweise Verbesserung der Situation arbeiten. Diese Politik wurde von der jungtschechischen Partei ohne größere Erfolge bis 1914 verfolgt. Vgl. Kramáf: Kdo jest zodpovëden. 18 Vgl. das Kapitel zum Neoslavismus, S. 178-180. -

-

-

-

Einleitung

15

österreichischen Justiz schien Kramáfs Entscheidung klar zu sein: Im Mai 1915 wurde er gemeinsam mit anderen Mitgliedern der so genannten Maffie19 verhaftet und 1916 zum Tode verurteilt. Der Tod Franz Josephs und der Regierungsantritt Karls brachten die Begnadigung zu Kerkerhaft, die Kramáf im berüchtigten Gefängnis in Möllersdorf bei Wien verbringen musste. Er wurde im Sommer 1917 amne-stiert und führte nach einer kurzen Erholungspause seine

politische Tätigkeit

fort. Dazu gehörte die Umstrukturierung der jungtschechischen Partei und ihr Zusammenschluss mit anderen, kleineren Parteien zur Státoprávní demokracie (Staatsrechtlich-demokratische Partei) im Februar 1918. Am 13. Juli wurde der Nationalausschuss gebildet als repräsentatives Organ, in dessen Namen am 28. Oktober in Prag die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wurde. Während dieses symbolisch so wichtigen Ereignisses war Kramáf nicht anwesend. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Ausschusses war er am 25. Oktober zu Verhandlungen mit Edvard Benes nach Genf gereist, von den Prager Geschehnissen erfuhr er erst mit zweitägiger Verspätung. Im November erfolgte seine Ernennung zum Regierungsvorsitzenden des neuen Staates. Sein Ehrgeiz beschränkte sich jedoch in keiner Weise auf innenpolitische Fragen; im Januar führ er nach Paris zu den Friedensverhandlungen. Er befand sich noch dort, als er im Juli ein Telegramm mit der Nachricht erhielt, die Regierung sei zurückgetreten und er habe somit seine Position als Ministerpräsident verloren. Den Anlass hatten innenpolitische und gravierende wirtschaftliche Probleme und letztlich Kommunalwahlen gegeben, die einen deutlichen Linksruck in der Bevölkerung gezeigt hatten. Die Regierung, die nicht aus einem gewählten Parlament, sondern aus der „Revolutionären Nationalversammlung" hervorgegangen war, sah keine Basis mehr für ihre Arbeit. Kramáf kehrte erst im Spätsommer nach Prag zurück und fuhr gleich anschließend für mehrere Wochen nach Odessa, wo er mit dem General Denikin, Befehlshaber der weißen Truppen, über seine eigenen Vorstellungen von einem demokratischen Russland verhandeln wollte erfolglos. Kramáfs politisches Engagement blieb, seine formale Position jedoch verfiel. Er war Parlamentsabgeordneter und Vorsitzender einer nunmehr oppositionellen Partei (seit März 1919 Národni demokracie [Nationaldemokratische Partei]). Schuld war nicht zuletzt seine stolze, ja anmaßende Haltung: Mehrfach lehnte er die Möglichkeit eines Ministerpostens mit dem Hinweis ab, eine andere Stellung als die des Ministerpräsidenten oder des Staatspräsidenten käme für ihn nicht in Frage. Sein Einfluss in Staat und Gesellschaft war indes um vieles -

19

Mit diesem

Begriff wird seit Kriegsende die im Dezember

1914 entstandene

Widerstandsorganisation

bezeichnet, in der Kramáf gemeinsam mit Edvard Beneä (der später ins Exil ging und mit Masaryk zusammenarbeitete), Alois Raäin, Jaroslav Scheiner, Pfemysl Sámal und anderen zusammen arbeitete. Insbesondere seit dem Frühjahr 1917 hatte die Maffie ein übergreifendes Netz geschaffen und konnte so die organisatorischen Grundlagen für Politik und Administration seit dem Oktober 1918 schaffen. Vgl. Paulová: Dèjiny Maffie. Dies. : Tajny vybor „Maffie". -

Einleitung

16

größer als die formale Stellung vermuten ließe: für viele war er noch immer der Führer der tschechischen Nation, seine Vergangenheit als maßgebliche Persönlichkeit der so wichtigen jungtschechischen Partei und seine zum Martyrium hochstilisierte Haftzeit im Weltkrieg ließen ihn noch lange im Zentrum des po-

litischen und gesellschaftlichen Lebens stehen. Ebenso repräsentierte er für seiGegner die jungtschechische Tradition, die Nationaldemokratische Partei und mehr und mehr das rechte Spektrum. Eine Folge dieses Daseins als Identifikationsfigur war die Funktion als Legitimationsmittel, als Marionette in politischen Kämpfen. Besonders in den dreißiger Jahren verlor er offenbar zunehmend den Überblick über die politische Situation; die Enttäuschung über die europäische Entwicklung, insbesondere über die wachsende Macht Deutschlands und die Etablierung der Sowjetunion, wirkte hier zusammen mit persönlichen Differenzen im politischen Feld, schwerer Krankheit und einer offensichtlich schon früher sehr stark emotional geprägten, temperamentvollen und oft unkontrollierten Persönlichkeit. Die Nationaldemokratische Partei ging 1935 in einer neuen Partei unter dem Namen Národní sjednocení (Nationale Einigung) auf, in die auch die Národní liga (Nationale Liga) und die Národní fronta (Nationale Front), beides Gruppen des radikal rechten Spektrums, gehörten. Kramáf blieb bis zu seinem Tode Parteivorsitzender, ebenso wie bereits in der Nationaldemokratie aber war er von sich bekämpfenden Fraktionen umgeben, die ihn jeweils auf ihre Seite zu ziehen versuchten. Weder die Nationaldemokratie noch die Nationale Einigung konnte trotz aggressiv geführter Wahlkämpfe größere Erfolge verbuchen. Kramáf verstarb siebenundsiebzigjährig am 26. Mai 1937. Seit dem Jahr 1919 hatte er keine nennenswerten politischen Erfolge mehr feiern können, doch ein großer Anhängerkreis im rechten politischen Spektrum der Tschechoslowakei betrauerte ihn sehr, gab fast hagiographisch anmutende Lebensbeschreibungen heraus und gründete eine Gesellschaft zur Verwaltung seines Nachlasses. ne

Methoden und Ansätze Wenn es in der vorliegenden Arbeit um das Denken einer einzelnen Person geht, so sind damit gleich zwei problematische Aspekte berührt: Die Beschäfti-

gung mit einem Individuum im weiteren Sinne das Problem der Biographie also einerseits, die Frage nach der Stellung der Geistesgeschichte andererseits. Die Biographie ist spätestens mit der Durchsetzung von Sozial- und Strukturgeschichte in eine Krise geraten. Zu Recht: Theoretisch ist ein Geschichtskonzept, in dem Individuen, „große Männer" die entscheidende Rolle spielen, unhaltbar. Praktisch allerdings gestaltet die Lage sich weniger eindeutig. Biographien verkaufen sich gut, und so problematisch das Konzept der individuellen Lebensbeschreibung auch sein mag, so selbstbewusst behauptet diese Praxis -

-

Einleitung

17

sich doch, insbesondere im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Publizi-

stik.20 Die „Krise der politischen Biographie"21, von der während des Siegeszuges der Sozialgeschichte gesprochen wurde, hat sich auf die historische Publizistik

nur

bescheiden

wichtiger.22

ausgewirkt, ist jedoch in der theoretischen Reflexion um so

In ähnlicher Weise hat auch die Geistesgeschichte als traditionelles Konzept eine Krise erlebt.23 Die Beschäftigung mit den Gedanken Einzelner fand im Programm der Sozialgeschichte keinen Platz, die Vorstellung von Ideen als treibende Kraft der Geschichte24 schien überholt. Bald aber wurden neue Konzepte entwickelt, die oft gern alten Wein in neue Schläuche füllten und selbstverständliche Regeln der Quellenkritik als innovative Hermeneutik verkauften.25 Berge von Büchern und Aufsätzen konnten die Situation kaum klären: Ist die Geistesgeschichte nun als Disziplin überholt, ist sie eine reine Kunst, unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit völlig willkürlich Fiktion zu Papier bringend26, oder ist sie vielmehr als Wissenschaft gesund und munter, „alive and kicking"27, wie Dominick LaCapra so beschwörend optimistisch schrieb? Strukturgeschichte und Biographie sowie Geistesgeschichte standen lange scheinbar in klarem Gegensatz zueinander, bis versucht wurde, beide miteinander zu versöhnen: Neue Kulturgeschichte heißt das Zauberwort, mit dem Historiker den „halbierten Weber"28, den die deutsche Sozialgeschichte der letzten Jahrzehnte propagiert und praktiziert hat, hinter sich lassen wollten und eine neue Geschichte zu schreiben versuchten. Dass die Begriffe häufig so neu nicht sind, dass es sich oft um die Einbettung älterer Termini in ein von den Thesen des linguistic turn beeinflusstes und gern modisch aufgebauschtes Konzept handelt, sollte nicht den Blick auf die Chancen und Errungenschaften der Neuen Kulturgeschichte verstellen: auf Möglichkeiten der Synthese, die lange durch einseitiges Denken auf beiden Seiten sowohl in der Geistes- als auch in der Sozialgeschichte verbaut waren. Auch diese Arbeit versteht sich als ein Versuch in diesem Rahmen. Herangezogen wurden ältere wie neuere Konzepte, die genauer strukturieren, was -

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20

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hängt natürlich mit der jeweiligen Zielgruppe zusammen. Je breiter das Publikum, desto „intermuss die Vergangenheit dargestellt werden. In Deutschland zeigt sich dies insbesondere an Darstellungen des Nationalsozialismus. Im tschechischen Diskurs wiederum ist die Trennung zwischen wissenschaftlicher und populärer Geschichtsschreibung weniger ausgeprägt, der „lesbaren" Biographie kommt hier auch aus diesem Grunde ein bedeutender Platz zu. 21 Hobsbawm: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, S. 10. 22 Vgl. u.a.: Gestrich u.a.: Biographie sozialgeschichtlich. Bertaux: Biography and Society. Rökkelein: Biographie als Geschichte. 23 Krieger: The Autonomy of Intellectual History. 24 Vgl. Lovejoy: Reflections on the History of Ideas, S. 4. 25 z.B. LaCapra: Geistesgeschichte und Interpretation. 26 Dies

essanter", bunter und individueller

-

27

-

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White: Auch Klio dichtet.

LaCapra: Intellectual History, S. 436. Vgl.: Jacoby: A New Intellectual History? 28 Hardtwig/Wehler: Einleitung, S. 12. Eher kritisch: Wehler: Die Herausforderung -

schichte. 29

z.B.

der

Kulturge-

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Iggers: Zur „Linguistischen Wende". -Appleby: One Good Turn.

Harlan: Intellectual -

History.

Einleitung

IX

seit der Romantik etwas schwammig als „Zeitgeist" bezeichnet wird, und was die Verbindung ideengeschichtlicher und strukturalistisch geprägter Ansätze ermöglichen soll. „Climate of Opinion" nennt Harry Ritter die „idea that thought in a given historical period may be understood in terms of an underlying identity [...]. Zeitgeist means the psychic reality characteristic of an historical epoch."30 Im 20. Jahrhundert wurden verschiedene Versuche unternommen, diese Vorstellung von der Einheit einer Epoche begrifflich präziser zu fassen. Karl Mannheim sprach von Generationen und konnte sich dabei auf Vorgänger wie Hume und Comte berufen. Mit genauer Begriffsdefinition und -Unterscheidung von Generationslagerung, -Zusammenhang und -einheit versuchte er, die Rede vom „historisch-sozial wirksamen Miteinander von Individuen, in dem man durch etwas verbunden ist"31, aufzuschlüsseln. Erlebnisse können eine Generation prägen; einen Pulsschlag der Geschichte aber zeigen sie nicht an.32 Mannheims Konzept soll nur als Erklärung für das Verhalten von Akteuren hinsichtlich bestimmter Aspekte verwandt werden. Als das Ereignis schlechthin wird häufig der Erste Weltkrieg dargestellt, der „die Erlebnisse des einzelnen einband in die Kategorien und Wertemuster einer 'politischen Generation'".33 Im Folgenden sollen Weltkrieg und als zweites Beispiel das fin-de-siècle als Generationserlebnisse betrachtet werden. Inwiefern auch Kramáf von diesen Geschehnissen beeinflusst wurde, die doch hauptsächlich im deutschen, französischen und britischen Kontext als entscheidend beschrieben werden, gehört zu den zentralen Fragen dieser Arbeit. Die Entstehung oder auch Verhinderung von Ideen durch die Anbindung von Akteuren an bestimmte Strukturen hat auch der Mediziner Ludwik Fleck untersucht. Er prägte den Begriff des „Denkkollektivs", mit dem er die häufig unbewussten und alles andere als rationalen Voraussetzungen von scheinbar auf objektive Weise zustande gekommenen Konzepten und „Tatsachen" beschrieb. Die Folgen: „Die Tatsache muss im Stil des Denkkollektivs ausgedrückt werden" und „ganze Epochen leben dann unter dem bestimmten Denkzwange, verbrennen Andersdenkende, die an der kollektiven Stimmung nicht teilnehmen und den Kollektiv-Wert eines Verbrechers haben, solange als nicht andere Stimmung anderen Denkstil und andere Wertung schafft."34 Ähnlich wie im Falle des Kuhnschen Paradigmenbegriffes35 wurde hier ein Terminus geschaffen, der vor allem auf Wissenschaftsgeschichte zielt, dessen Grundidee jedoch die Verwurzelung menschlichen Geistes in Strukturen und Traditionen zentral für die moderne Kulturgeschichte ist. Flecks Konzept des Denkkollektivs bietet sich besonders für die Bezeichnung -

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-

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30

Ritter: Dictionary, S. 457. Mannheim: Wissenssoziologie, S. 525. Über die Problematik des Generationsbegriffs und die Gegenüberstellung von und „Pulsschlag-Hypothese": Jaeger: Generationen in der Geschichte, S. 438. 33 Herbert: Best, S. 42f. 34 Fleck: Entstehung und Entwicklung, S. 130-133. 35 Kuhn: Die Struktur. Ders. : Die Entstehung. 31

32

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„Prägungs-Hypothese"

Einleitung

19

konkreter, relativ gut festlegbarer Gruppen an, wie sie auch Kramáf beeinflusst haben: Seminargruppen, Parteien, Salons. Die Vorstellung von einem originell denkenden und handelnden Individuum verliert an Kraft, Strukturen gewinnen an Bedeutung. Umfassender strukturorientiert ist der in der französischen Geschichtswissenschaft schon früh entwickelte Begriff der mentalité, mit dessen Hilfe man versuchte, Geschichte unter anderen Gesichtspunkten als nur denen des bewussten Handelns und Denkens zu betrachten.36 Ursprünglich in direktem Zusammenhang mit dem Konzept einer Sozialgeschichte, wird der Terminus heute vor allem in der Alltagsgeschichte und im weiteren Bereich anthropologischer Forschung verwandt. Mentalität meint vorbewusste Denkstrukturen und bezieht sich dabei vor allem auf Kollektive. Untersucht werden „le non-conscient collectif, unbewusste Denkmuster, die eine Gesellschaft prägen.37 Ebenfalls auf die Subjektivität von Wirklichkeitserfahrung bezieht sich das Konzept der Lebenswelt. Alfred Schütz schrieb zur Problematik der „Wissenschaften, die menschliches Handeln und Denken deuten und erklären wollen", man müsse „mit einer Beschreibung der Grundstruktur von der vorwissenschaftlichen, für den in der natürlichen Einstellung verharrenden Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt." 3 „Das Konzept bezeichnet die Modi, in denen historische Prozesse von Menschen 'gemacht' werden."39 Die Begriffe Mentalität und Lebenswelt sollen in dieser Arbeit nicht formal im Vordergrund stehen; die theoretischen Erkenntnisse jedoch, die mit diesen Termini verbunden sind, haben einen wichtigen Ansatzpunkt der Arbeit geprägt. Die Untersuchung privater und persönlicher Komponenten spielt eine wichtige Rolle nicht nur als illustrierende Anekdote, sondern als zentrales -

-

Erklärungsmuster. -

Neben diesen klar bestimmbaren Begriffen steht ein problematischer, weil vielfältig benutzter Terminus: derjenige des Diskurses. Er wird in der vorliegenden Arbeit in erster Linie im Sinne von intellektueller Strömung, Ideenkomplex, Debatte gebraucht, als offenes, sich ständig änderndes Gespräch.40 Diese Offenheit erscheint für die historiographische Arbeit von entscheidender Bedeutung, insofern sie Determinierungen problematisiert und den eigenen Blickwinkel aus der „klügeren" Zukunft zumindest bewusst macht.41 So wird beispielsweise die Rede sein vom „Diskurs des Nationalen", vom völkischen oder auch rassistischen Diskurs oder

vom

Diskurs der Konservativen Revolution.

36

Vgl. Schattier: Mentalitäten. Ariès: L'histoire des mentalités. 38 Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 25ff. 39 Raphael: Diskurse, S. 175. 40 Kritisch zu diesem Verständnis: Schattier: Sozialgeschichtliches Paradigma, S. 176f 41 Habermas hat den Diskurs unter modernen Kommunikationsverhältnissen, die ihm zufolge ein „Miteinander" statt „Gegeneinander" sowie einer Diskursrationalität bestimmt werden, eingehend analysiert. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Mikl-Horke: Soziologie, S. 297ff. 37

-

Einleitung

20

Die Diskurse überschneiden sich, Zugehörigkeiten sind häufig nicht eindeutig bestimmbar. Der Terminus ermöglicht, so ist zu hoffen, die notwendige Vorsicht und das Vermeiden von Stereotypen: so kann beispielsweise mit dem Begriff „Diskurs des Nationalen" eine Formulierung wie „der tschechische Nationalismus" oder gar das pauschale „die Tschechen" vermieden werden. Diskurse sind in ihrem Ergebnis zwar offen, jedoch keineswegs frei: sie sind bestimmt von sozialökonomischen Verhältnissen, intellektuellen Traditionen, sprachlichen Strukturen und Machtverhältnissen eine Liste, die keineswegs abgeschlossen ist. Diskurse sind bestimmt von Voraussetzungen, die man als Denkstrukturen, Paradigmen, Lebenswelten oder auch einfach Denkmuster bezeichnen könnte. Sie selbst bestimmen neue Voraussetzungen, definieren Codes. -

„Wenn [...] die reale Welt sprachlich festgestellt wird, wenn die Dinge einen Namen bekommen, dann setzt dies einen 'Code' voraus, dessen Raster erst die Unterschiede im Fluss und Chaos der Welt sichtbar macht und die Dinge mit Konturen versieht. Codes können mit Landkarten verglichen werden, die den Akteur bei seiner Reise mit Instruktionen über das versehen, was er noch zu erwarten

hat."42

Durch Codes werden kollektive Identitäten bestimmt und soziale Hierarchien definiert. Sie legen sprachliche Regeln fest und prägen neue Begriffe. So wirken die Codes zurück auf die Denkmuster, die hier als Voraussetzungen von Diskursen definiert wurden. Diskurse verändern sich ständig, jeder neue Teilnehmer, jedes neue Argument, jeder neue Topos gibt ihnen eine neue Form. Dieselbe Vorstellung von Offenheit und Veränderlichkeit bestimmt auch einen zusätzlichen, umfassenderen Diskursbegriff, der eine grundlegende Idee dieser Arbeit formt: Die Annahme, auch eine Person könne als Diskurs betrachtet werden. Denn strukturorientiertes Denken und biographischer Ansatz müssen keinesfalls als Gegensätze betrachtet werden. Foucault begann seine Antrittsvorlesung am Collège de France mit den Worten „In den Diskurs, den ich heute zu halten habe, [...], hätte ich mich gern verstohlen und endete mit einer Danksagung an seinen Lehrer Jean Hippolyte. Personen wurden hier offensichtlich nicht ignoriert, sondern ernst genommen. Foucaults Schriften sind von einem ausgesprochen persönlichen Stil geprägt, das in der Wissenschaft oft so geschmähte „ich" ist keine Ausnahme, sondern allgegenwärtiges, sehr persönliches Pronomen. Personen werden jedoch als Teil eines Textgewebes begriffen. Es wird ihnen keine originelle, unabhängige, in sich geschlossene Individualität unterstellt, sondern sie werden als Text im Rahmen eines weiteren Textes angesehen, selbst wiederum von vielen anderen Texten bestimmt. Dieser Idee folgend soll

eingeschlichen."43

42

43

Giesen: Die Intellektuellen, S. 30. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 9.

(Herv. M.W.)

Einleitung

21

hier Karel Kramáf betrachtet werden als ein Diskurs, geprägt von unzähligen weiteren Diskursen, ein Text, erzeugt von vielen anderen.44 Will man ein Bild verwenden und die allzu große Nähe zur literaturwissenschaftlichen Methode und Begrifflichkeit vermeiden, so kann man auch von einer Textur, einem Gewebe sprechen, das aus vielen einzelnen Strängen besteht. Wie Roland Barthes schrieb, „le texte est un tissu de citations"4 Diese Aussage entstammt dem Aufsatz La mort de l'auteur: Der Autor, das historische Individuum, ist tot in seiner Intentionalität. Er ist kein selbstbestimmtes Individuum, das ein Werk, einen Text selbständig verfassen kann; er ist Teil eines umfassenden Textes, ein Strang im Gewebe. Kramáf also nicht als Individuum im traditionellen Sinne, nur wissendes, bewusstes, intentional agierendes Subjekt, sondern Text, der aus einem Gesamttext herausgegriffen wurde und dessen einzelne Stränge wiederum analysiert werden sollen. Das Problem der Legitimation einer Biographie und die Frage nach den Möglichkeiten von Geistesgeschichte verbinden sich hier: Der Diskurs Karel Kramáf soll untersucht werden unter Einbeziehung der Stränge von politischen Machtverhältnissen und sozialen Aspekten gleichermaßen, von intellektuellen Traditionen und geistigen Wurzeln. Auch die Persönlichkeit Kramáfs und private Erlebnisse sollen eine Rolle spielen. Dabei kann und soll nicht das Instrumentarium der Psychoanalyse angewandt werden; beachtet werden jedoch Emotionen, sehr persönlicher Erlebnisse und auch Zufalle. Die Aussage Milan Kunderas Jch denke also bin ich ist ein Satz eines Intellektuellen, der Zahnschmerzen unterschätzt"46 ist so zutreffend wie flapsig. Mit diesem Ansatz wird die Rolle von Individuen in der Geschichte einer Kritik unterzogen; Intentionalität und Originalität werden relativiert. In dieser Arbeit wird versucht, möglichst viele Stränge zu berücksichtigen und das Gewebe in seiner Gesamtheit darzustellen. Dass trotz all dieser Bemühungen ein unverstandener Rest zurückbleiben würde, war von Anfang an klar und muss akzeptiert werden. Im Falle der Auseinandersetzung mit einer Person kann man sich so vielleicht zumindest die Illusion bewahren, dieser Rest sei das, was man früher, in den glücklichen Zeiten vor dem linguistic turn, unter Individualität, unter der Originalität und Unverwechselbarkeit der Person verstand. .

Forschungsstand und Quellenlage Kramáf gehört nicht zu den am besten dokumentierten Personen der tschechischen Geschichte. Dennoch sind umfangreiche Grundlagen gegeben: Noch zu 44

45 46

Ein Vorbild bietet Moi: Simone de Beauvoir. Barthes: La mort de l'auteur, S. 493. Kundera: Die Unsterblichkeit, S. 249. (Herv.i.O.)

Einleitung

22

seinen Lebzeiten wurden Aufsätze und Werke über ihn veröffentlicht, vorzugsweise aus Anlass runder Geburtstage.47 Es handelt sich in erster Linie um Feierschriften, in denen Kramáf von Verehrern idealisiert wurde. Nützlich sind diese Bücher

vor

allem als

Quellen, die Kramáfs Rolle im politisch eher rechts ange-

siedelten Milieu belegen. In einigen Bänden sind auch Aufsätze von Kramáf selbst oder Quellen, beispielsweise Auszüge aus frühen Tagebüchern, abgedruckt.48 Nicht so stark idealisierend, aber deutlich wohlwollend ist auch eine

Studie von Jan Soukenka.49 Aus Kontexten anderer politischer Lager stammen die Arbeiten des der „Burg" nahestehenden Jaroslav Werstadt50 sowie des linksstehenden Historikers Zdenëk Nejedly Ein Werk ist zu nennen, das aus den frühen Schriften über Kramáf heraussticht: Die differenzierte Arbeit des Historikers und Politikers Kamil Krofta von 1930.52 Die von Krofta begonnene Tradition einer wissenschaftlichen anstatt in erster Linie politischen Auseinandersetzung mit der Figur Kramáfs wurde erst in den sechziger und siebziger Jahren wieder aufgenommen, als Stanley B. Winters und Hans Lemberg sich mit Leben und politischer Arbeit Kramáfs beschäftigten und, über eine rein biographische Arbeit hinausgehend, ihn in allgemeinere Zusammenhänge der tschechischen und europäischen Geschichte einordneten.53 Ebenfalls in den frühen siebziger Jahren sind Arbeiten des tschechischen Historikers Zdenëk Sládek erschienen, einige davon in Zusammenarbeit mit Karel Herman. Kramáf ist also nach langer Zeit des Desinteresses parallel von Historikern des westlichen wie des tschechischen Kontextes untersucht worden. Besonderes Interesse kam dabei regelmäßig der russlandorientierten Politik Kramáfs zu. Obwohl es dabei natürlich konzeptionelle Unterschiede gab, sind von beiden Seiten Grundlagen für die historiographische Auseinandersetzung mit dieser Person gelegt worden. Neben diesen Historikern, die sich besonders auf Kramáf konzentriert haben, sind noch weitere einschlägige Arbeiten zu nennen, die sich mit benachbarten Themen befasst haben, vor allem mit der Jungtschechischen Partei55 oder dem so genannten Neoslavismus.56 Die For.

47

Dr. Karel Kramáf. K Sedesátym narozeninám. Cervinka: Kramáf. Sis: Dr. Karel Kramáf. Dr. Karel Kramáf: Hlas. 49 Soukenka: Karel Kramáf. 50 Werstadt: Politické plány. -Ders.: Tfi doby dra Karel Kramáfe. 51 Nejedly: Dr. Kramáf. 52 Krofta: Politická postava. 53 Winters: Karel Kramáf 's early political career. Ders.: Kramáf, Kaizl. Ders.: The Young Czech Party. Ders.: T.G. Masaryk and Karel Kramáf. Lemberg: Studien zur Geschichte. Ders.: Karel Kramáfs Russische Aktion. Ders.: Karel Kramáfs Reise zu Denikin. Ders.: Das Erbe des Liberalismus. Ders.: Die Rolle der Konservativen. Ders.: Die tschechischen Konservativen. 54 Herman/Sládet Slovanská politika. Dies.: Karel Kramáf. -Sládek: Karel Kramáf. 55 Garver: The Young Czech Party. 56 Vysny: Neo-Slavism. Jaworski: Die polnische und die tschechische Variante. Nenaseva: Idejnopolitííeskaja bor'ba. Dies. : Slovensky burioazny politicky tabor. Herman: Novoslovanstvi. 48

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Einleitung

23

schung

zur Nationaldemokratischen Partei allerdings ist spärlich was unter anderem an der Quellenlage liegen dürfte: Das Parteiarchiv gilt als verschollen. Mit dieser Arbeit soll nun versucht werden, über solche Grundlagen hinaus und mit der Möglichkeit intensiver Quellen- und Archivarbeit, wie sie einigen Vorgängern noch verwehrt geblieben ist, eine umfassende Analyse des Denkens Kramáfs zu liefern. Während bisher stets der Politiker Kramáf im Vordergrund von biographischen und politikhistorischen Studien stand, soll nun ein eher kulturhistorisch orientierter Zugang erprobt werden. Dieser Ansatz verlangt und ermöglicht zugleich eine zeitlich umfassendere Untersuchung. Die Beschränkung auf eine eingegrenzte Zeitspanne wie sie bei Winters und Lemberg aus konzeptionellen wie aus praktischen Gründen der Archivarbeit gegeben war hätte den Anspruch der Arbeit desavouiert. Seit 1989 ist eine vorsichtige Kramáf-Renaissance zu verzeichnen, zu der neben der Umbenennung des Marktplatzes in Kramáfs Geburtsstadt in KarelKramáf-Platz auch das Erscheinen einer schmalen Broschüre über Leben und Werk5* zu zählen ist. Bereits in den achtziger Jahren begann Josef Kalvoda mit der Publikation einiger Artikel, in denen er sich äußerst wohlwollend, teilweise einseitig, mit Kramáf beschäftigt hat.59 Nicht zuletzt diese Renaissance die auch viele andere Persönlichkeiten der Ersten Tschechoslowakischen Republik betrifft, deren Werke heute unkritisch ediert werden60 schafft das Desiderat einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kramáf. Die aktuelle Methoden-diskussion bietet das Instrumentarium, mit dem dieser Herausforderung begegnet werden kann; umgekehrt bildet die Person Kramáf so die Arbeitshypothese -ein besonders geeignetes Objekt, an dem neue Konzepte erprobt und entwickelt werden können. Der Quellenkorpus, der dieser Arbeit zugrunde lag, ist recht umfangreich und dabei relativ geschlossen. Zunächst ist der Nachlass Kramáfs im Prager Archiv des Nationalmuseums zu nennen, sehr gut erhalten, wenn auch nur teilweise geordnet. Das Prager Literaturarchiv des nationalen Schrifttums besitzt auch noch einige wenige Dokumente aus Kramáfs Nachlass, die jedoch in dieser Arbeit keine unmittelbare Verwertung fanden. Im Rahmen des Nachlasses ist die umfangreiche Korrespondenz Kramáfs von besonderem Wert, in erster Linie die Briefe an seine Ehefrau. Darüber hinaus gibt es zwei hochinteressante Notizbücher mit Exzerpten und eigenen Überlegungen, die Kramáf während seiner Haftzeit im Möllersdorfer Gefängnis angelegt hat. Für diese Dokumente wurde die von Hans Lemberg eingeführte Bezeichnung Möllersdorfer Hefte übernommen. Wichtig waren auch die Reden Kramáfs im Wiener Reichsrat sowie in der Prager Nationalversammlung. Wei,

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57

Sládek: Czechostowacka partia.- Zur Nachfolgepartei: Fie: Národni sjednocení. Konzentration auf die Nationaldemokratie: Cechurová: Ceská politická pravice. Vencovsky: Karel Kramáf. 59 Kalvoda: Dr. Karel Kramáf. Ders. : Kramáf kontra Masaryk. 60 So z.B.: Mares: Otázky. 58

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Mit -

großer

24

Einleitung

terhin wurden die Bestände des Archivs des T.G.Masaryk-Instituts verwendet sowie Nachlässe von Mitarbeitern Kramáfs: Antonin Hajn, Alois Rasín, Frantisek Hlavácek. Die zweite Quellengattung besteht aus publizierten Schriften Kramáfs. In erster Linie wurden hier die Národní listy] benutzt, weiter einige andere Zeitungen sowie Artikelsammlungen und Bücher Kramáfs. Das Prager Zentralarchiv besitzt eine Zeitungsausschnittssammlung, die ebenfalls Material von und über Kramáf bietet. Abschließend sei auf eine Besonderheit der Zitierweise hingewiesen: Alle tschechischen Zitate werden im Text in deutscher Übersetzung wiedergegeben.3 Die Aussagen Kramáfs erscheinen zusätzlich in den Fußnoten im Original. Dabei wurde die teilweise etwas eigenwillige Grammatik ebenso wie die Orthographie unverändert belassen. -

-

Národní listy (Nationale Blätter): Erschien von 1861 bis 1941, seit 1874 Sprachrohr der jungtschechischen Partei, bis 1918 wichtigste tschechische Tageszeitung. Nach 1918 Zeitung der Nationaldemokratischen Partei. In den Fußnoten zitiert als NL. 2 MZZVA SÚA, Stichwort Karel Kramáf. 3 Ist nichts anderes angegeben, so handelt es sich um Übersetzungen der Autorin.

II. Der Blick auf das Eigene Kramár und die Nation

-

Die Nation spielte in Kramáfs Denken eine wie zu zeigen sein wird, die zentrale Rolle. Als tschechischer Politiker des Jahrgangs 1860 erfüllte er damit nur die Erwartungen, die im Allgemeinen an einen Akteur des späten 19. Jahrhunderts geknüpft werden. Wo aber diese fast selbstverständliche Assoziation, die Bedeutung des nationalen Denkens in dieser Zeit also, herrührt, dafür haben die historische und die sozialwissenschaftliche Forschung viele unterschiedliche und dabei nur recht wenige befriedigende Antworten gefunden. Die traditionsreiche Vorstellung von geschichtlichen Nationen und geschichtslosen Völkern sowie von Kultur- und Staatsnation1 wurde von Einordnungen des Nationalen in die Modernisierungsproblematik weitergeführt.2 In den achtziger Jahren dann setzte sich der vom Konzept der Konstruktion bestimmte Ansatz durch, den insbesondere Benedict Anderson, Eric Hobsbawm und Ernest Gellner vertraten.3 Die Buchtitel Invention of Tradition und Imagined Communities wurden zu Schlagworten und standen für eine Erkenntnis, die so neu gar nicht war: Ernest Renan hatte bereits ein Jahrhundert zuvor geschrieben: „L'oubli, et je dirai même l'erreur historique, sont un facteur essentiel de la création d'une nation." Hobsbawm hat diese Aussage etwas verkürzt übersetzt als „Getting history wrong is part of being a nation"5 und nochmals die Konstruktion und vor allem das Falsche, den Irrtum am Nationalismus hervorgehoben. Doch die These von der konstruierten Nation schoss übers Ziel hinaus, wenn sie die Entwicklungen und die Prozesse des Aushandelns von Grenzen und Identitäten sowie die reale Bedeutung dieser imagined communities vernachlässigte. Die Schlagworte der Konstruktion wie der Modernisierung sind bis heute entscheidend, Konstruktion aber ist so wenig ein intendierter Vorgang wie Modernisierung linear verläuft; es handelt sich um Prozesse der Entwicklung und des Aushandelns, die mit dem die Komplexität betonenden Begriff des Diskurses greifbar werden. Methodisch scheint sich eine Chance in der Definition neuer Untersuchungsgegenstände zu ergeben. Hatte man sich bisher intensiv auf Träger, Strategien und Symbole der nationalen Ideen und -

1

2

Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. z.B. Deutsch: On Nationalism. Ders.: Nationalism and Social Communication.

on. 3

Anderson: Die

ne. 4

5

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Erfindung. Hobsbawm/Ranger:

The Invention.

-

Renan: Qu'est-ce qu'une nation ? S. 891 (Herv. Hobsbawm: Nations and Nationalism, S. 12.

Eisenstadt: Traditi-

Gellner: Nationalismus und Moder-

M.W.)

Der Blick auf das

26

Diskurse konzentriert,

so

soll

geschenkt werden.6

nun

den

Eigene

„Empfängern" größere Aufmerksamkeit

Karel Kramáf stand gewissermaßen in der Mitte zwischen Entstehung und Wirkung, zwischen „konstruierenden" Intellektuellen und „konstruiertem" Volk. Als Politiker mit hohem Bildungsgrad, aber eher schwach ausgeprägten kreativen und theoretischen Fähigkeiten war er ein Mittler, der Ideen aus Philosophie und Wissenschaft aufnahm und sie in politischen Reden „unters Volk brachte". Dieses „Volk" erscheint, wird es mit den Intellektuellen kontrastiert, schnell passiv, die auf hoher Ebene ersonnenen Werte willig übernehmend. Es geht hier jedoch nicht um abstrakte Ideen, sondern um Ordnungsschemata, die zur Orientierung in der Welt dienen sollten. Diese wurden weder von Intellektuellen rational konstruiert noch von Bürgern, Bauern, Arbeitern unbesehen aufgesogen. Vielmehr handelt es sich bei der Konstruktion nationaler Identitäten ebenso wie anderer Organisationsschemata um hochkomplexe, von den Akteuren nur teilweise zu überschauende Vorgänge. Zwar war es „der Intellektualismus [...], welcher [...] den nationalen Gedanken weitergehegt und gepflegt, in kalten Zeiten warmgehalten und über alle Hindernisse hinweg zum Siege gefuhrt hat"7, doch ohne eine begeisterte Masse bleibt Nationalismus hilfund wirkungslos. Akteure sind also alle; der Wissenschaftler, der aus literarischen Texten bestimmte Traditionen herausfiltert und dabei jeweils Mustern folgt, die ihm oft nur sehr bedingt klar vor Augen stehen. Der Politiker, der, geprägt von sozialen und ideologischen Werten und Zielsetzungen, aus solchen Traditionen bestimmte Elemente übernimmt und sie durch die Proklamation als nationale, einzig gültige und von ihm selbst vertretene Werte instrumentalisiert. Schließlich der sagen wir Bauer8, der sich in veränderten sozialen Milieus um Orientierung bemüht und dabei die Werte und Traditionen aufgreift, von denen er sich den meisten Nutzen, d.h. die stärkste Integrationskraft verspricht ein Prozess, der zum größten Teil unbewusst abläuft. Als Leitfaden für die folgende Untersuchung des Umgangs Kramáfs mit dem Kollektiv „Nation" dient zunächst der Begriff des „Diskurses des Nationalen". Peter Niedermüller führte diesen Begriff ein als Instrument, mit dem der Umgang mit und die Konstruktion der Nation wertneutraler und genauer beschrieben werden kann als mit der Rede vom „Nationalismus". „Ein Diskurs ist ein -

-

-

6

Vgl.: Haupt/Tacke:

Die Kultur des Nationalen, S. 268. Michels: Masse, Führer, Intellektuelle, S. 192. Wenn hier die Rede vom Wissenschaftler, Politiker, Bauern ist, so ist die männliche Form nicht einfach nur den Gegebenheiten der deutschen Sprache geschuldet. Neuere Forschungen weisen daraufhin, dass die hier beschriebenen Prozesse tatsächlich vor allem von Männern gelebt wurden. Die Nation ist demnach vorrangig eine reine Männerveranstaltung, während gleichzeitig eine „Feminisierung" der Religion beobachtet werden kann. Vgl.: Haupt/Tacke: Die Kultur des Nationalen, S. 273f. Es werden gerade für den tschechischen Kontext -jedoch auch Gegenbeispiele geschildert, wenn Pynsent sagt: „It goes more or less without saying that any nineteenth-century Czech woman writer will be something of a patriot." Pynsent: The Liberation. Thomas: Forms, Gender and Ethnicity. 7 8

-

-

-

Der Blick auf das

Eigene

27

soziokulturelles Phänomen", das „umfassende soziokulturelle Vokabulare produziert" und mit Hilfe bestimmter kultureller Formen Strategien zur Organisation sozialen Denkens und Handelns entwickelt.9 Anders als der Begriff des Nationalismus erscheint der „Diskurs des Nationalen" somit nicht unbedingt negativ, die von ihm erzeugten Werte werden nicht als Hirngespinste, sondern als zwar der Reflexion bedürftige, letztlich aber sinnvolle Orientierungspunkte in der Welt verstanden. Insbesondere bei der Beschäftigung mit einem Thema aus der ostmitteleuropäischen Geschichte bietet sich dieser Begriff an, bedenkt man die eher negativen Implikationen, die der Terminus des Nationalismus im Tschechischen und Polnischen stärker noch als in westeuropäischen Sprachen -

-transportiert.10

Ein Modell zur genaueren Beschreibung und Analyse eines solchen Diskurses des Nationalen bietet Bernhard Giesen mit seinem Konzept von der Codierung der Nation an, wobei er sich vor allem auf Intellektuelle als Akteure konzentriert. Giesen geht von der These aus, dass „kollektive Identität selbst in sozialen Prozessen konstruiert" wird." Er bezieht dabei die Notwendigkeit solcher Konstruktion direkt auf die Entwicklungen der Moderne. Das Individuum, von der klassischen Soziologie in fruchtbare Spannung zur Gesellschaft gestellt als Verteidiger der Freiheit gegen die Enge des Sozialen, hat in der Moderne sein Ziel erreicht. Es ist sogar darüber hinausgewachsen, indem es so viel Freiheit erhalten hat, dass es sich nun nach dem „stählernen Gehäuse" zurücksehnt. In diese Situation bettet Giesen die Entwicklung eines Diskurses des Nationalen: Die Nation als integrierende Kraft, als Sicherheit verheißendes neues stählernes Gehäuse. So findet sich das Individuum der Moderne als Akteur im Prozess der Konstruktion und Codierung kollektiver Identität wieder. Dieses Modell bezieht die Konstruktion einer In-Out-Struktur, die Bestimmung von Abgrenzung und Identifikation, ebenso ein wie die unterschiedlichen Strategien von Konstruktionsverhalten. Im Alltag werden Codes ständig abgerufen, auf konkrete Situationen angewandt und so bestätigt oder modifiziert. Neben diesem alltäglichen Verhalten bestimmt Giesen aber „Achsenzeiten", in denen über diese rein reaktive, anwendungsorientierte Ebene hinausgegangen wird, und die so eine Konstruktion allgemeinerer neuer Codes ermöglichen. Einer der wichtigsten Aspekte sowohl der Anwendung wie der Konstruktion von Codes ist die Unterdrückung der Reflexion. Codes funktionieren, weil sie für selbstverständlich und absolut gehalten werden. Sobald die Ebene der rein reaktiven Anwendung verlassen wird und die Reflexion oder die bewusste Konstruktion von Codes einsetzt, kommt es zum von Giesen so genannten „Latenzproblem": Die Codes müssen dann durch bestimmte Strategien natürlich nicht -

9

Niedermüller: Zeit, Geschichte, Vergangenheit. 10 Wandycz: Stfedni Evropa, S. 129. 11 Giesen: Die Intellektuellen, S. 28. 12 Ebenda, S. 20-28. Siehe auch: Giesen: Die Entdinglichung des Sozialen, S. 201.

28

Der Blick auf das

Eigene

als solche bewusst gemacht „latent", d.h. auf einer nicht hinterfragbaren Ebegehalten werden. Das Modell von Giesen ermöglicht, anders als die sehr kritisch dekonstruierenden Schriften Andersons, Hobsbawms und Gellners, eine detaillierte Analyse von Diskursen des Nationalen. Auch Giesen geht davon aus, dass die Nation ein Konstrukt ist, er bezieht jedoch die soziale Notwendigkeit solcher Konstrukte und deren Wirksamkeit in seine Überlegungen mit ein. Auf diese Weise ist eine differenziertere und komplexere Untersuchung von nationalen Identitäten, von Mythen, Topoi, Symbolen möglich. -

ne

Der tschechische Diskurs des Nationalen

29

Der tschechische Diskurs des Nationalen Das Jahr 1918 erscheint oft als die entscheidende Zäsur der tschechischen Geschichte, mehr noch: als Höhepunkt und Vollendung eines langen Kampfes. Eine solche Darstellung der Entwicklung der tschechischen Nation als eine fast zielstrebige Linie von Neuformungen des nationalen Codes, die dann konsequent in die Staatsideologie der CSR mündet, lässt außer Acht, dass es sich keinesfalls um einen zwangsläufigen, sondern um einen von sozialen Strukturen und inneren politischen Verhältnissen ebenso wie von äußeren, von tschechischer Seite nicht zu beeinflussenden Bedingungen bestimmten Weg gehandelt hat. Es war keine fertige Straße, die zurückgelegt werden musste, sondern ein erst zu bahnender Weg, der über viele Kreuzwege führte und neben dem parallele Pfade liefen, die sich später häufig verloren. Die Konstruktion einer tschechischen Nation musste sich durchsetzen gegen die Tradition des böhmischen Landespatriotismus, gegen den seit dem späten 18. Jahrhundert unternommenen Versuch, eine österreichische Nation zu etablieren, gegen den Code einer slavischen Nation sowie gegen den Anspruch, Böhmen als Teil der großdeutschen Lösung zu sehen. Einige solcher „Nebencodes", die sich nicht durchsetzten, sollen am Rande der Darstellung erwähnt werden. Und es ist ein solcher Nebencode, auf den sich die ganze vorliegende Arbeit konzentriert: Karel Kramáf, der seinen Weg zur Hauptstraße machen wollte, sich jedoch in Richtungen, die heute als Sackgassen betrachtet werden, verlor. Der Beginn der Konstruktion einer tschechischen Nation, oder, etwas weniger nüchtern ausgedrückt, der Anfang der tschechischen „nationalen Wiedergeburt", wird am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts angesetzt. Josef Dobrovsky (1753-1829), Aufklärer, Geistlicher, Sprachwissenschaftler, grenzte die Tschechen als Slaven zunächst gegen die deutsche Nation ab. Er beschäftigte sich mit der tschechischen Sprache; es war jedoch keine tschechische Nation, die hier beschrieben wurde, sondern eine slavische Einheit. Dobrovskys aufklärerischer Impetus verband sich bereits mit den Ideen Herders, und obwohl die Slaven in erster Linie das Objekt linguistischer Studien waren, tauchten zu dieser Zeit doch schon romantische Topoi, so das Bild einer friedlichen, zukunftstragenden slavischen Nation auf. Es war dies, folgt man der Periodisierung Miroslav Hrochs,14 die Phase A. 13

Zu diesen „verschiedenen, meistens aufeinanderprallenden nationalpolitischen Tendenzen": Kofalka: S. 26-75. Tschechen, 14 Hroch hat die Entwicklung der „nationalen Bewegungen" verschiedener „kleiner Nationen" vor allem

in Ostmittel- und Nordeuropa betrachtet und dabei drei Phasen unterschieden. Dabei interessierte ihn allem die quantitativ messbare Ausbreitung der Bewegungen. Hroch: Evropská hnutí. Ders.: Die Vorkämpfer. Ders.: Social Preconditions. Ders.: Die nationalen Formierungsprozesse. Ders.: Das Erwachen. Die Bezeichnung der Ideen Hrochs gemeinsam mit denen Andersons und Hobsbawms als „abgestandene Modernisierungstheorien und Phasenmodelle" mag insbesondere hinsichtlich einer zu vor

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Der Blick auf das

30

Eigene

„Am Anfang jeder nationalen Wiedergeburt stand das Interesse einiger, meist gebildeter, Individuen, an der Erforschung der Sprache, Kultur und Geschichte der unterdrückten Nationalität. Diese Individuen blieben ohne breiteren gesellschaftlichen Einfluss und bemühten sich meist nicht einmal um eine patriotische Agi-

tati-on."ls

Für diese Zeit kann man die Nation, die tatsächlich noch keine war, nicht einmal mit dem Begriff der Kulturnation beschreiben. Ein Objekt kultureller Tätigkeit, wurde sie erst im nächsten Schritt wirklich zum Subjekt erklärt, das selbst eine Kultur repräsentierte und schuf. Es war die Generation Josef Jungmanns (1773-1847), die eine solche Kulturnation konstruierte. Entscheidend von der deutschen Romantik beeinflusst, konzentrierte man sich auf Sprache und Literatur und idealisierte die slavische „Volkskultur", in der man ganz im Sinne Herders den „Volksgeist" verkörpert glaubte. Darüber hinaus aber begann man, die tschechische Sprache zu einem für alle gesellschaftlichen Sphären geeigneten Medium zu machen. Vor allem Jungmanns Übersetzungen besonders hervorzuheben: Miltons Paradise Lost sowie Grammatiken und Wörterbücher sind hier zu nennen. Aufschlussreich ist die Gruppenstruktur der tschechischen „Erwecker": Der von Giesen beschriebene soziale Charakter der Trägergruppe eines „kulturellen Codes" trifft genau auf die „Patriotische Gesellschaft"16 zu. Giesen nennt als Bezugspunkt einer solchen Vereinigung den Bezug zum „Heiligen" hier eindeutig zur Nation -, der in besonderen Zusammenkünften gefeiert wird, sowie als einendes Merkmal das Tragen von Emblemen. In der Literatur wird wiederholt auf den sektenartiDas Sprechen des Tschegen Charakter der frühen „Erwecker" chischen, das vielen der national Begeisterten, die höhere Bildung nur in deutscher Sprache hatten erhalten können, schwer fiel, erhielt Symbolcharakter, fungierte als Erkennungszeichen. Tscheche zu sein war nicht vom Zufall abhängig, sondern eine Auszeichnung, eine Charaktereigenschaft, eine Frage von Bekehrung oder Verweigerung. Eine Kulturnation wurde konstruiert die Grenzen waren jedoch noch immer verschwommen. Man zweifelte an den Zukunftschancen einer tschechischen -

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hingewiesen.17

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pauschalen Anwendung des stark auf Ostmitteleuropa bezogenen 3-Phasen-Modells nicht ganz unberechtigt sein. Doch gerade die tschechische Entwicklung, auf die Hroch sich ja vor allem bezogen hat, lässt sich auf diese Weise gut erfassen und beschreiben. Zur Kritik

an

Hroch: Baberowski: Das Ende der

Osteuropäischen Geschichte, S. 795. Hroch selbst greift im Vorwort eines neueren Buches die Problematik monographischer, kulturhistorisch vorgehender Arbeiten auf und konfrontiert sie mit dem seiner Ansicht nach sinnvolleren komparativen und sozialhistorischen Ansatz, den er auch hier wieder verfolgt. Hroch: V národním zájmu, S. 5f. Doch scheint eine Kooperation der Konfrontation beider Ansätze überlegen. Hrochs neues Buch ist denn auch stärker monographisch angelegt: Hroch: Na prahu. 15 Hroch: Evropská národní hnutí, S. 64. 16 Der Begriff Vlastenecká spolecnost bei Macura: Znameni zrodu, S. 138f. Jifi Rak spricht von vlastenecká skupina (Patriotische Gruppe). Rak: Byvali Cechové, S. 15. 17 Lemberg: Volksbegriff, S. 164. Macura: Znameni zrodu, S. 138f. -

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Der tschechische Diskurs des Nationalen

31

Nation und suchte deshalb Zuflucht im größeren Kollektiv der Slaven.18 Die Identifikation mit Russland als im 19. Jahrhundert einzigem mächtigen slavischen Staat war dabei nicht konfliktfrei, blieb aber lange bedeutsam. Das Herdersche Konzept von einem slavischen nationalen Charakter wurde in dieser Zeit mit vielen Symbolen illustriert und ausgebaut, die dauerhaft als Chiffren im nationalen Code wirkten: Vor allem in den Schriften des Dichters Jan Kollár (1793-1852) sind Symbole wie die friedliche Taube und die slavische Linde im Gegensatz zur deutschen Eiche zu finden, die Opposition zu den Deutschen wurde in der Literatur mit einer Struktur der Gegensätze verankert.19 Wie wichtig diese Zeit für das nationale Selbstverständnis gewesen ist, zeigte später unter anderem die immer wieder aufflammende Debatte um die Echtheit der Handschriften, welche von Zeitgenossen Jungmanns „gefunden" worden waren.20 Dies ist keine tschechische Besonderheit; in ganz Europa kam den Romantikern eine besondere Definitionsmacht hinsichtlich der Nation, ihrer jeweiligen Eigenschaften und ihrer Gegner zu. Diese Zeit wird von Hroch als Phase B bezeichnet, „die Zeit, welche wir als entscheidend für die eigentliche Formung der kleinen Nation bezeichnen können", geprägt durch „die patriotische Agitation, den Reifüngsprozess der nationalen Bewusstwerdung."21 Der Missionsgedanke einer noch recht kleinen und exklusiven Gruppe von der nationalen Idee Begeisterter rückt die mögliche Wandlung der Nation von einem Forschungsobjekt zu einem weithin gültigen Muster der Identifikation ins Blickfeld. Der nächste Schritt wurde in den 1840er Jahren vollzogen: Die Akteure des tschechischen Diskurses des Nationalen wurden selbstbewusster und sahen ihr Überleben als Volk nicht mehr als von den Slaven, konkret den Russen, abhängig. Der Artikel des Journalisten Karel Havlicek (1821-1856) Slovan a Cech im Jahre 1846 machte diese Neucodierung, die neue Grenzziehung manifest22 und wies auf den Gegensatz hin zwischen der romantischen Russlandwahrnehmung einerseits und dem Bild vom autokratischen, „rückständigen" Land andererseits. -

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18 Kofalka bezeichnet den Slavismus bei den Tschechen sogar als Kofalka: Tschechen, S. 46.

„ausgesprochene Zweckideologie".

19

Macura: Znameni zrodu, S. 90-117. In den Jahren 1817/18 wartete der Dichter, Philologe und Museumsbibliothekar Vaclav Hanka mit zwei angeblich mittelalterlichen Handschriften auf, die er bei Archivstudien entdeckt haben wollte. Bereits der Zeitgenosse Dobrovsky zweifelte an der Echtheit, und in mehreren Wellen wurden hitzige Debatten über die Schriften geführt. 1886 begann wieder eine Debatte, die mit dem Sieg der Kritiker endete. Doch noch im 20. Jahrhundert wurde das Thema von Vertretern des rechten Spektrums mehrfach aufgegriffen. Mittelbar und unmittelbar über die Schriften Palackys und Masaryks bestimmten die Handschriften das historische Bewusstsein für lange Zeit, möglicherweise bis heute. Vgl. u.a. Otáhal: Vyznam. Borovà: Vztah Cechû, S. 30. 21 Hroch: Evropská národní hnutí, S. 64. 22 Havlicek: Slovan a Cech. 20

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Der Blick auf das

32

Hier

Eigene

allerdings ist ein schwieriger Punkt solcher Codierungen durch

Intellekdie Punkt zu allerdiesem Literatur, oft wohl auch wird tscheangeführt, „das dings uneinig, voreingenommen ist, chische Volk in seiner Gesamtheit" habe diese Neucodierung nicht übernommen und sei der Idee des Slaventums Die Vorstellung vom „tschechischen Volk in seiner Gesamtheit" ist heikel, entscheidend ist hier nur, dass, obwohl die Vorstellung von einer engen, fast natürlichen Verbindung zum Slaventum bis 1968 nicht völlig abriss und auch immer wieder politisch genutzt wurde, die tschechische Nation als eigenständiges Kollektiv und nicht mehr nur als Teil der slavischen Einheit definiert wurde. Von nun an konnte man von einer tschechischen Nation sprechen. Eine weitere wichtige Grenzziehung folgte bald: Die Abtrennung (odluka) der slowakischen Nation, die mit der Normierung einer slowakischen Sprache, der stürovcina, in den Jahren von 1843 bis 1846 neu codiert wurde und die bisherige, „formlose"25 Nationsidee hinter sich ließ. Vertreter des tschechischen Diskurses des Nationalen reagierten auf diesen Schritt mit Ablehnung und Misstrauen und formulierten aus der bisher als selbstverständlich betrachteten Zusammengehörigkeit ein explizites Programm, einen Gegencode, der die nationale Einheit von Tschechen und Slowaken Dieser Gegencode setzte sich jedoch nicht durch, und auch der Versuch des Jahres 1918, diese Entwicklung rückgängig zu machen, brachte erhebliche Probleme mit sich, die 1939 in der Gründung eines slowakischen Staates gipfelten. Er scheiterte schließlich im Jahre 1993 wahrscheinlich endgültig. Die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts bildeten noch in anderer Hinsicht die Zeit einer Neucodierung: Der Diskurs des Nationalen war nicht mehr ausschließlich kulturell geprägt, sondern erhielt einen explizit politischen Charakter. Der Begriff der Kulturnation scheint hier nicht mehr treffend, der Terminus der Staatsnation allerdings ebenso wenig. Um die Situation nicht nur der Tschechen in dieser Zeit zu beschreiben, bietet sich die Formulierung von einer Politischen Nation an oder, wie bei Kofalka, der etwas weitere Begriff der Sozial differenziert, politisch ambitioniert, statt

tuelle, durch Eliten, erkennbar23:

In der

treugeblieben.24

postulierte.26

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„Nationalgesellschaft"27:

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23

Bradley spricht von einer Unwirksamkeit der Debatten der tschechischen Eliten: „This ideological struggle [gemeint ist hier konkret der Neoslavismus] had a stimulating effect on cultural and intellectual life, but in political life it failed. This debates did not attract masses and had negative effects on the organisational stability." Wie ausgeprägt das allgemeine Vermittlungsproblem von Eliten und Massen speziell in der tschechischen Gesellschaft war, kann hier nicht entschieden werden. Die Behauptung allerdings, Debatten dieser Art hätten sich nicht auf die Politik ausgewirkt, erscheint schon angesichts der engen Vernetzung von geistiger und politischer Elite in der tschechischen Gesellschaft (diese erwähnt übrigens auch Bradley selbst) fragwürdig. Bradley: Czech nationalism, S. 102. 24 z.B. Lemberg: Voraussetzungen und Probleme, S. 99. 2 von Gogolák: Die historische Entwicklung, S. 73. 26 Podiven: Ceäi, S. 340ff. Kucera: Kapitoly z dëjin, S. 72. Immer: Struggle for Slovakia, S. 22fT. Bakke: Doomed to Failure, S. 31 If. 27 Kofalka: Tschechen, S. 75 und 111-125. -

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Der tschechische Diskurs des Nationalen

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rein kultureller Interessen auch politische, soziale und administrative Probleme in den Diskurs des Nationalen einbringend, aber dennoch keine Staatsnation. Karel Havlicek hatte nicht nur die ihm naiv erscheinende Orientierung am autokratischen Russland kritisiert, sondern sich auch für eine über das Absingen von Volksliedern hinausgehende, konkret politische Tätigkeit eingesetzt. Frantisek Palacky machte dann 1848 in seiner Absage an das Frankfurter Parlament klar, dass eine Einbeziehung der Tschechen in die deutsche Nation nicht mehr in Frage kam. Deutsche und Tschechen in Böhmen bildeten mehr und mehr abgeschlossene und in sich strukturierte Nationalgesellschaften, deren Grenzen durchaus noch häufig überschritten wurden, die sich jedoch immer deutlicher voneinander distanzierten, bis schließlich in der Tschechoslowakei zwei „Teilgesellschaften nebeneinander existierten, die zwar miteinander in gewissen Beziehungen standen, sich aber meist gegeneinander abschotteten oder gar bekämpften."28 War es in früheren Phasen um die eher theoretische Abgrenzung und Definition der Nation gegangen, so sollte der damit erhobene Anspruch nun auch nach innen und in die täglich gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden. Dies war nur möglich über die Mobilisierung von Massen ein neues Phänomen, das seine Grundlagen in dem Erlebnis der Barrikadenkämpfe und den politischen und sozialen Folgen der Revolution von 1848 gefunden hatte. Das Jahr 1848 hatte einen ersten Höhepunkt gebildet, einen Höhepunkt freilich, nach dem die politische Begeisterung und Aktivität schnell wieder abflaute. Mit dem Neoabsolutismus der 1850er Jahre verlor die politische Codierung der Na-tion, das Verständnis des Nationsbegriffs als Gemeinschaft mit politisch relevantem Charakter, wieder an Bedeutung. Der Faktor der Kultur wurde wieder entscheidend, selbst die politischen Argumentationen der konservativliberalen Nationalpartei wiesen einen vorwiegend kulturellen Charakter auf.29 Dennoch: Die soziale Basis des Diskurses des Nationalen hatte sich radikal verbreitert, ein politischer Code war etabliert worden. Phase C (Hroch) setzte ein: die Zeit, in der „die Angelegenheiten der breiten Massen (wenn auch noch nicht aller Angehörigen der Nation) und die nationale Bewegung eine feste Kommunikationsstruktur auf dem gesamten Gebiet der kleinen Nation erhalten ha-

ben."30

Besonders in Folge des Oktoberdiploms von 1860 entwickelte sich ein durch Medien und Parteienbildung gestütztes politisches Leben, in dem der Diskurs des Nationalen eine wichtige, häufig die entscheidende Rolle spielte. Mit der Begründung des österreichisch-ungarischen Dualismus im Jahre 1867 kamen neue politische Ambitionen und damit neue Versuche einer inhaltlichen Umcodierung der Nation auf. Die Gruppe der Jungtschechen formierte sich gegen die Alexander: Aspekte der politischen Kultur, S. 341. Bradley: Czech nationalism, S. 17. Hroch: Evropská národní hnutí, S. 64.

Der Blick auf das

34

Eigene

als „Alttschechen" bezeichnete Nationalpartei, und die sich radikal gebärdende tóeory-Bewegung31 griff die Chiffre des Hussitismus wieder auf, welche vom Historiker Palacky in den Diskurs des Nationalen eingeführt worden war. Dieser Topos wurde zum zentralen politischen Argument im nationalen Kampf umfunktioniert32 und gleichzeitig zu einer wichtigen, bald fest etablierten Chiffre des nationalen Codes. Vor allem auf die Initiative der Alttschechen ist die Wiederbelebung eines weiteren Arguments und Symbols zurückzuführen: der historischen Staatsrechtsidee, die ihrerseits eine eigene Geschichte von Neuund Umformulierungen aufzuweisen hat. Denn was zunächst ein politisches Mittel des konservativen böhmischen Adels und seiner Verbündeten gewesen war, wurde später von den Jungtschechen als fortschrittliches Argument verkauft. Seit 1880 entwickelte sich neues politisches Leben mit bedeutsamen Veränderungen fur den Diskurs des Nationalen. Dem Auftreten Masaryks, damals und bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Außenseiter im politischen Leben, in Diskussionen um verschiedene nationale Vorurteile und Heiligtümer wird oft ein geradezu revolutionärer Charakter in einem bis dahin von Stagnation bestimmten Kontext zugeschrieben. Intellektuelle Debatten, soziale Differenzierungen und politische Entwicklungen wie die Entstehung einer Parteienlandschaft spielten hier zusammen. Das lange 19. Jahrhundert des tschechischen Diskurses des Nationalen lässt sich also sehr schematisch in folgende Phasen einteilen: Die Phase A nach Hroch, die weitgehend von der Aufklärung bestimmt war, und in der die ersten Schritte zur Codierung einer slavischen oder auch einer tschechischen, von Elementen aus dem Bereich der Kultur geprägten Nation getan wurden. Weiterhin die Phase B, in der sich eine patriotische Gesellschaft konstituierte, die mit den Chiffren der Romantik eine tschechische Kulturnation im slavischen Verbund codierte. Und schließlich die Phase C, in der diese Konzepte ein Massenpublikum erreichten, in der die Abgrenzung zum Slaventum als Gesamtkonzept vollzogen wurde und die auch die Abtrennung der Slowaken sah. Die tschechische Nation in den Grenzen, die bis heute bestehen, war damit als Einheit codiert. Sie erhielt viele politische Impulse, so dass sie aus der Situation einer Kulturnation heraustrat und zu einer Politischen Nation wurde. Inhaltlich wirkten die romantischen Chiffren noch lange nach, wurden jedoch durch liberale und revolutionäre Elemente ergänzt oder sogar ersetzt, was ermöglicht wurde durch die Entwicklung eines immer stärkeren tschechischen Bürgertums.33 nun

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31

Es handelt sich dabei um eine Massenbewegung in Hochzeiten handelt es sich um 1,5 Millionen Menschen -, die hauptsächlich auf Initiative der Jungtschechen entstanden war. In den Jahren 1868-71 wurden Veranstaltungen unter freiem Himmel durchgeführt, auf denen eine politische Gleichberechtider tschechischen Nation im nun dualistischen Österreich gefordert wurde. gung 32 Rak: Byvali Cechové, S. 30. 33 Urban: Ceská spoleënost, S. 473. -

Der tschechische Diskurs des Nationalen

35

Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war von Konflikten um die Funktion der Nation als Kulturnation, Politische Nation oder ansatzweise, im Kontext der Staatsrechtsdebatte, als Staatsnation sowie um Codierungen, mit denen der Charakter der Nation festgelegt werden sollte, und der Entwicklung einer differenzierten Nationalgesellschaft geprägt. 1918 wurde die Tschechoslowakei gegründet, und verschiedene Neucodierungen standen auf der Tagesordnung. Zunächst musste der Code der Politischen Nation in denjenigen der Staatsnation überführt werden: Loyalität und konstruktives Verantwortungsbewusstsein waren nun deutlicher gefragt als zuvor. Wohl am schwierigsten gestaltete sich der Versuch, die Codierung der Grenzen zu verändern. Die „tschechoslowakische" Nation blieb eine Fiktion, offensichtlich war die kritische Zeit, in der die äußeren Grenzen sowohl der tschechischen als auch der slowakischen Nation zur Disposition standen, bereits vergangen. Auch die Abgrenzung gegen die Deutschen, so lange Zeit ein entscheidender Aspekt des tschechischen Diskurses des Nationalen, wurde nun zur Grundlage vieler Konflikte. An Masaryks bemühter, doch vor verschiedenen faux-pas nicht gefeiter Position ist die Problematik der Konstruktion von Codes zu beobachten: Masaryk war die Bedeutung des nationalen Problems klar, und er war durchaus um Abhilfe bemüht, doch konnte er die Zwänge des Codes den er eben nicht als solchen erkennen konnte, sondern als in Geschichte und Mentalitäten verwurzelte Realität sah nicht durchbrechen. Die Codierung der tschechischen Nation war in ihrer Entwicklung abhängig von sozialen Strukturen, politischen Ereignissen und einzelnen Akteuren. Große Bedeutung kam der Trägergruppe des nationalen Bewusstseins in ihren Veränderungen zu. Diese Elite formulierte Codes für die Nation, definierte codierte sich aber damit gleichzeitig selbst. Die soziale Zusammensetzung veränderte sich; wo zunächst Geistliche und Sprachwissenschaftler entscheidend waren, kamen später andere Mitglieder der Intelligenz dazu, Studenten, Beamte, Angehörige der freien Berufe, Schriftsteller und Historiker. Schließlich konnte sich der Diskurs des Nationalen auf eine Massenbewegung stützen. Die Elite, welche sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie eine Sekte isoliert und klar zwischen Eingeweihten und Ungläubigen unterschieden hatte, brauchte spätestens jetzt ein neues Selbstverständnis.34 Als die Grenze sich verschoben hatte, beispielsweise weil die Verwendung der tschechischen Sprache kein Privileg weniger Eingeweihter mehr war, gefährdete der Erfolg der nationalen Idee seine Väter und Mütter. Die Idee der Nation hatte sich durchgesetzt; die Elite musste sich nun auf neue Weise von der Masse abgrenzen, ihren intellektuellen Deutungsvorsprung erhalten. Es ging nicht mehr allein um die Idee der Nation, sondern um deren richtige Interpretation in Konkurrenz zu anderen Auslegungen durch Stereotype, Geschichtsbilder und politische Ideale. -

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Zu dieser Problematik: Giesen: Die

Intellektuellen, S. 60f.

Der Blick auf das Eigene

36

Mit der Gründung eines als tschechoslowakisch definierten, dabei jedoch dem nationalen Diskurs der Tschechen verpflichteten Staates schließlich schien das Ziel der Träume erreicht. Inzwischen allerdings hatten sich verschiedene Traditionen, getragen von unterschiedlichen Gruppen, herausgebildet. Ein Kampf um die Definitionsmacht, um die Interpretation des Heiligen, der Nation, war längst entbrannt und setzte sich nach der Staatsgründung unter veränderten Verhältnissen fort. Mit einem solchen Kampf war es möglich, den Sektencharakter mit der Abgrenzung gegenüber den anderen, den nicht eingeweihten, halbwegs stabil zu halten und gleichzeitig einen Missionsauftrag wahrzunehmen. Diese Problematik des Sektencharakters von nationalen Eliten zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der „Burg", der um Masaryk geschalten Gesellschaft, die als Netzwerk fungierte, Informationen austauschte und Propaganda betrieb.35 Das hier verbreitete Selbstverständnis als Politiker und Intellektuelle, die Verbindung von Definitionsmacht und Machtausübung, zeugte von einer absoluten Sicherheit hinsichtlich der eigenen Meinung. Ein Beispiel aus der publizistischen Tätigkeit der „Burg" illustriert die Beschreibung des Sektencharakters durch Giesen Außenstehende würden als fehlgeleitet und irrend' betrachtet, „als leere [...] Objekte, die erst durch kulturelle Bildung Identität und Subjektfähigkeit erlangen können"36 besonders deutlich: Masaryk bezeichnete im Jahre 1926 die tschechischen faschistischen Bewegungen weniger als eine Gefahr denn als einen Irrtum, entstanden aus mangelnder Bildung und Unzufriedenheit. Der eigentliche Grund für das Entstehen eines tschechischen Faschismus sei eine Identitätskrise des nationaldemokratischen Liberalismus.37 Sowohl die Faschisten als auch die Nationaldemokraten, die Masaryk hier gleichzeitig angriff, wurden nicht als Konkurrenz oder gar Gefahr betrachtet, sondern als Fehlgeleitete, Irrende, die wieder auf den rechten Weg gebracht werden mussten. Masaryk äußerte sich in einem mitleidig-verachtenden Ton und machte so seine eigene überlegene, einmalige und unangreifbare Position deutlich. Diese Position wurde systematisch gesichert, regelmäßige Zusammenkünfte eingeschworener Gemeinschaften einerseits und intensive Öffentlichkeitsarbeit mit vorbereiteten Masaryk-Interviews und der vom Präsidenten geforderten Zeitschrift Pfitomnost andererseits machten beides möglich: Missionierung und Abgeschlossenheit, Erfüllung der Aufgabe einer Elite bei gleichzeitiger Sicherung der eigenen Position. Diesem Überblick soll im Folgenden kurz die Beschreibung und Analyse einiger Details gegenübergestellt werden; gewissermaßen als Brechung der tendenziell stets eine klare Struktur von Ursache und Wirkung implizierenden chronologischen Form. Eine Chiffre, die quer zu solchem linear angelegten hi-

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Vgl. Bosl:

Die Burg. Giesen: Die Intellektuellen, S. 62 (Herv. M.W.) Rozhovor s redaktorem Prager Tagblattu. Masaryk: Cesta demokracie, S. 159-162.

Der tschechische Diskurs des Nationalen

37

storischen Verständnis steht, ist die tschechische Selbstproblematisierung und Idealisierung der „kleinen Nation". Hier wurde im romantischen Kontext aus der Not eine Tugend gemacht, die geringe Bevölkerungszahl und die politische

Machtlosigkeit wurden in ein positives Bild der „kleinen", unterdrückten, kulturell aber hochstehenden Nation gewendet.38 Der darin enthaltene soziale Anspruch fand Unterstützung in der Idealisierung der Hussitenbewegung. Palacky machte den Hussitismus zum moralischen Höhepunkt der tschechischen Geschichte und betonte wiederum den antideutschen, nationalen Charakter dieser Bewegung besonders. Diese Verbindung verschiedener Werte Bildungsidealismus, antideutsche Wendung, sozialer Aspekt, die in den Hussitismus hineininterpretiert wurde, ließ ihn in der Konkurrenz zur traditionellen Verehrung des Heiligen Wenzel überlegen erscheinen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass verschiedene Chiffren aus dem Diskurs des Nationalen miteinander kombiniert wurden, und auf welche Art und Weise dieses Konglomerat sich schließlich weitgehend durchsetzte. Denn die Konkurrenz zweier Mythen wie Hus und Wenzel, noch herausgefordert durch die am slavischen Ideal orientierte Verehrung der Missionare Cyrill und Method, gehörte in den Kontext der verbreiteten antikatholischen Haltung. Hier fand auch die Germanisierungspolitik Josephs II. ihren Platz, die den ersten Impuls für die Versuche tschechischer Gebildeter und Adliger gegeben hatte, sich sprachlich zu behaupten. Der Josephinismus wurde später mit der Gegenreformation nach 1620 in Verbindung gebracht. Absolutismus, Germanisierung und Katholisierung, wirksam kombiniert mit dem Topos des Traumas, das die Schlacht am Weißen Berg im Jahre 1620 hinterlassen hatte, vermischten sich hier. Der Anteil an Geistlichen in der nationalen Bewegung, anfangs vorherrschend, ging bald zurück. Der Klerus wurde noch als Helfer der nationalen Sache akzeptiert, idealerweise als gehorsamer Dorfpfarrer, der die Gedanken der nationalen Elite ins Volk weitertragen sollte; als gleichberechtigte Partner in der kulturellen und politischen Entwicklung aber wollte Die sich radikal gebenden Jungman Geistliche schon bald nicht mehr sehen. tschechen schließlich entwickelten einen noch stärkeren Antiklerikalismus.40 Diese Entwicklung wurde von den Zeitgenossen nicht reflektiert und erscheint im Rückblick vollkommen logisch, weil sie im Rahmen einer nationalen Codierung verlief. Ein nationaler Code des Antikatholizismus entwickelte sich und konnte sich durchsetzen, indem er die Vertreter eines Gegencodes die katholischen Geistlichen verdrängte. Die Verdrängung der Geistlichen wurde mit dem Konzept der tschechischen Geschichte als emanzipatorischer Kampf gegen -

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Rak: Byvali Cechové, S. 85. Hauner nennt den Mythos vom Aufstieg der „kleinen Nation" die des tschechischen Nationalismus". Hauner: Von der Verteidigung, S. 296. „Quintessenz 39 Bradley: Czech nationalism, S. 74f. Rak beschreibt das Idealbild des Pfarrers, der selbstlos die Matice und die Bildung seiner Pfarrkinder unterstützen soll, sonst aber nur „Tabak schnupfen, Bienchen züchten und im Gärtchen arbeiten" darf. Rak: Byvali Cechové, S. 42. 40 Bradley: Czech nationalism, S. 79. —

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Der Blick auf das

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Eigene

Katholizismus und Gegenreformation erklärt und legitimiert. Umgekehrt wirkte die geringe Beteiligung des Klerus an der nationalen Bewegung die damit grundsätzlich anders strukturiert war als beispielsweise die slowakische wie ein Beweis für das säkulare, antikatholische Wesen der tschechischen Nation. So entwickelte sich, paradoxerweise und doch scheinbar ganz selbstverständlich, in einer Bevölkerung, die überwiegend dem katholischen Glauben angehörte41, das Selbstbild einer Nation mit reformatorisch geprägtem Charakter.42 Eine bestimmte Konstellation von Feindschaften und Sympathien traf auf ein Potential von Geschichten, die zu Traditionen und Chiffren werden konnten. Self-fulfilling prophecy: Man hielt sich für antiklerikal und eher protestantisch geprägt und wurde es als nationales Kollektiv auch, trotz individuell erlebter katholischer Taufe und Erstkommunion. Soziale Struktur und politischer Ehrgeiz der Elite bedingten sich hier wechselseitig mit Geschichtsbildern und nationalen Mythen. Ähnlich gestaltete sich das Verhältnis zum Adel: Die Idee der „kleinen Nation", nicht weit entfernt vom Konzept der „geschichtslosen Völker" Friedrich Engels' und der Skepsis Karl Kautskys bezüglich der Zukunft sich entwickelnder Nationen, hing weniger mit der tatsächlichen Größe des Volkes als vielmehr mit der sozialen Struktur, genauer: dem Fehlen eines starken und national denkenden Adels, zusammen. Aus der sprachlichen Assimilierung des Adels nach 1620 wurde in enger Anlehnung an Herder das Ideal einer Landbevölkerung konstruiert, in der die Sprache und damit die wahre Nation erhalten geblieben war. Diese romantische Vorstellung wurde verstärkt, als der böhmische Adel den Anschluss an den tschechischen Diskurs des Nationalen verweigerte. Auch hier verbanden sich soziale Struktur, romantischer Mythos und politische Ambition so eng und wechselseitig, dass ein Aufschlüsseln der jeweiligen Wirkungen kaum möglich sein dürfte. Es ist dieser enge Zusammenhang unterschiedlichster Chiffren, die jeweils wieder mit anderen Chiffren verknüpft sind, der den Reiz und die Schwierigkeit der Betrachtung eines Diskurses des Nationalen ausmacht. Hier wird die Bedeutung des oben eingeführten Diskursbegriffes konkret deutlich: Ein Diskurs ist komplex und in sich nicht abgegrenzt. Abgrenzungen muss der Betrachter von außen vornehmen, und selbst dann sind die Möglichkeiten einer klaren, deutlich strukturierten Darstellung begrenzt. Grenzziehungen können auf Kosten der Komplexität gehen und ein zu glattes Bild produzieren. Deshalb wird eine Motivgeschichte mit genauer Bestimmung von Ursache und Wirkung, die sich auf Diskurse des Nationalen bezieht, nur ausnahmsweise möglich sein. Meist treffen verschiedene Vorurteile und Bilder -

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1900 waren 96,6 Prozent der Tschechen in Böhmen und 96,2 Prozent der Tschechen in Mähren katholisch. Kofalka: Tschechen, S. 80. 42 Dass der Katholizismus sowohl im Volksglauben als auch in verschiedenen intellektuellen Diskursen eine wichtige Rolle spielte, soll selbstverständlich nicht bestritten werden, hier geht es nur um die Darstellung eines sehr erfolgreichen Diskurses, der solchen Traditionen entgegenstand. -

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Der tschechische Diskurs des Nationalen

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in entscheidenden Konstellationen und in einer bestimmten Atmosphäre aufeinander und lassen eine neue Codierung entstehen. Diese lässt sich feststellen und untersuchen, aber in ihrer Entstehung nur selten genau herleiten.

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Der Blick auf das

Eigene

Kramárs Nationsverständnis Begriffe und Bedeutung Wenn man die Entwicklung der tschechischen Nation als einen Diskurs betrachtet und nicht als Linie mit weitgehend vorhersehbarer Logik, so wird ein neuer Blick auf „Verlierer der Geschichte", zu denen wohl auch Kramáf gezählt werden muss, möglich. Hier soll versucht werden, Kramáf einen Platz in diesem Diskurs zuzuweisen. In seinem Denken fanden sich verschiedene Elemente des Diskurses zu einem manchmal widersprüchlichen, letztlich aber doch recht konsequent gehaltenen Bild zusammen. Kramáf hat sich mit verschiedenen Aspekten der tschechischen nationalen Codes auseinander gesetzt, Stereotype aufgenommen, ignoriert oder verworfen. Diese seine Entwicklung im Rahmen tschechischer nationaler und europäischer Diskurse soll im Folgenden beschrieben werden. Dabei stehen eine bemerkenswerte Beständigkeit und ein erstaunlicher Wandel nebeneinander: Die Nation war und blieb der zentrale Identifikationspunkt für Kramáf, die Legitimation dieser Bedeutung und ihre Verwendung im politischen Kontext aber änderte sich je nach Situation und machte besonders in den frühen zwanziger Jahren einen deutlichen Wandel durch. Sowohl der explizite Begriff als auch die strukturierende Idee der Nation sind entscheidende Elemente im Denken Kramáfs. Aufschlussreich ist vor allem die absolute Selbstverständlichkeit, mit der diese doch noch sehr junge Kategorie über lange Zeit verwandt wurde. Kramáf hat den Begriff der Nation nur sehr selten explizit definiert und offensichtlich auch kaum reflektiert. Er verwandte die Wörter národ (Nation),43 lid (Volk), rasa (Rasse), kmen (Stamm) oberflächlich betrachtet synonym. Dennoch lassen sich auch Unterschiede feststellen: Národ war für Kramáf eine Einheit von übergeordnetem Wert, ein Kollektivsingular von historischer Bedeutung. Diese Einheit wurde personifiziert und objektiviert: „Die Nation wollte, hoffte und brauchte"44, und die so entstandene Verpflichtung fur Jeden, der seine Aufmerksamkeit nur auf den Erfolg der Nation richtet, ist selbstverständlich gegeben"45. Die Nation hatte ein Schicksal und eine historische Mission einen Charakter und bestimmte Ziele, die objektiv feststellbar schienen. Zugleich bezeichnete derselbe Terminus eine politi-

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,

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Kofalka definiert den Begriff národ als zwischen „Nation" und „Volk" stehend. Kofalka: Tschechen, S. 24. Die eindeutige Übersetzung als „Nation" ist nicht unproblematisch, erscheint im Kontrast von národ und lid aber gerechtfertigt. 44 z.B. Kramáf: Poznámky, S. lOf. 45 „Povinnost kazdého, kdo jedinë prospèch národa má na zfeteli, je dána sama sebou." Kramáf: Na novych dráhách. 46 Kramáf: Miada generace, S. 1. ANM Fond Kramáf, K 50, S. 3. (Ein Hinweis: Es ist nur ein kleiner Teil der Dokumente des Kramáf-Nachlasses nummeriert, so dass die Verweise sich im Folgenden häufig auf eine Beschreibung und die Nummer des Kartons beschränken müssen). Kramáf hielt diese Rede übrigens für „eine seiner besten".

Kramafs Nationsverständnis

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sehe und soziologische Kategorie, die Zusammenfassung von lid dem Volk und der politischen und kulturellen Elite. Es war das Volk, das als „lebendiger, junger Geist"47 Veränderungen bewirkte und ein Vertrauen in die Politiker setzte, das keinesfalls enttäuscht werden durfte, das aber auch leicht in die Irre geleitet werden konnte. Volk und Elite fanden sich in der Nation auf einträchtige Weise vereint und bildeten die Grundlage für ein harmonieorientiertes Sozialmodell. Die Begriffe Rasse und Stamm kamen seltener vor,48 sie übernahmen ungefähr die Funktion des Begriffes der Abstammung als ein die Nation als Ganzes konstituierender Aspekt. Interessant ist hinsichtlich des Terminus der Rasse, dass er nur selten in tschechischen Texten, dafür aber in zwei an das französische bzw. das englische Publikum gerichteten Artikeln vorkam.49 Im Artikel Europe and the Bohemian Question, der die als verzweifelt und ungerecht empfundene Position der Tschechen innerhalb Österreichs verständlich machen wollte, war gar ausdrücklich von der „inborn strength of its race" die Rede.50 Dieser explizite Rückgriff auf Ursprünglichkeit und den Bereich der Natur war eine Ausnahme in Kramáfs Schriften, möglicherweise durch das Empfinden motiviert, man müsse Außenstehenden die Berechtigung und die Logik des tschechischen nationalen Kampfes mit einem unangreifbaren Argument dem verständlich machen. Kramáf Angeborensein nationaler Eigenschaften hier dem Leser die nationalen Denkens besonders deutglaubte offenbar, Logik lich machen zu müssen: „It is an easy thing, and easy to understand, that the Czech remains a Czech and will have Czechish schools for his children."51 Äußerungen in dieser Deutlichkeit waren selten; es wird zu zeigen sein, dass der Nationsbegriff Kramáfs eine Selbstverständlichkeit, Unreflektiertheit aufwies, welche häufig herausgefordert und damit gebrochen wurde, und dass die Idee der Natur, der primordiale Code, in Kramáfs Nationskonzept eine wichtige, aber zwiespältige Rolle spielte. Kramáf lebte bis 1918 in einem multinationalen Staat, der sich auf inzwischen schwierig gewordene Weise über eine Dynastie legitimierte. Kramáf identifizierte sich auf zweifache Weise, und wenn dies auch häufig schwierige Entscheidungen oder aber eine enorme Kompromissbereitschaft in der politischen Arbeit erforderte, so hat er diese Doppelung doch nie als einen prinzipiellen Konflikt thematisiert. Die Loyalität zum Staat Österreich und zur Dynastie Habsburg stand meist problemlos neben der nationalen Identität. Daneben existierten noch weitere Loyalitäten, so ein ausgeprägter böhmischer Landespa-

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48

„svezí, zdravy duch". Kramáf: Na novych dráhách, S. 1. Kramáf: Na rozeesti. ANM Fond Kramáf, K 50, S. 6.

Sovëtù.NL 31.1.1926. 49 Kramáf: Europe. Ders.: L'Avenir de l'Autriche. 50 Ebenda, S. 184. (Herv. M.W.) 51 Ebenda, S. 193. -

Ders.: Budoucnost Slovanstva -

a

uznání

Der Blick auf das

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Eigene

triotismus und die sehr starke Identifikation mit dem Slaventum. Die Bereitschaft zum Kampf gegen Wien als Verkörperung der zentralen Macht52 stand neben dem Wunsch nach einem friedlichen, kompromissorientierten Zusammenleben mit anderen Nationalitäten. Unter diesen verschiedenen Identifikationsmustern gab es auch solche, die heute als widersprüchlich, ja unvereinbar erscheinen können. Das waren sie für Kramáf offenbar nicht, sie vertrugen sich vielmehr sehr gut sie standen jedoch keineswegs gleichberechtigt nebeneinander. Die nationale Identität war die selbstverständlichste und gleichzeitig die wichtigste für ihn. Der Diskurs des Nationalen war vorherrschend, und das bedeutete auch eine Einbeziehung aller anderen Elemente in diesen Diskurs. Der Umgang mit den Forderungen der anderen Identitäten richtete sich sehr stark nach den Interessen, die der Diskurs des Nationalen vorgab. So war eine Kombination von verschiedenen Identifikationsmustern nur denkbar, so lange sie in diesen Diskurs hineinpassten. Anderenfalls so geschehen mit der österreichischen Identität Kramáfs im Jahre 1918 wurden sie dem vorherrschenden, dem nationalen Diskurs in seiner jeweils vorherrschenden Form geopfert. Die Nation bildete stets einen Lebensmittelpunkt für Kramáf. Schon in den frühen Briefen an seine Eltern schrieb er, die tschechische Nation brauche jeden Einzelnen, um in ihrem Kampf zu bestehen.53 Wie groß die Bedeutung war, die er der Nation beimaß, lässt sich vor allem an den religiösen Metaphern ablesen, mit denen er das Verhältnis zur Nation beschrieb; er hielt die Liebe zum eigenen Volk für die größte Tugend und „das Heiligste".54 Der Dienst an der Nation sei genauso wertvoll und idealistisch wie der Dienst an der Kirche55, und schon früh absolutisierte Kramáf die Nation zum höchsten Wert, für den man alle nur denkbaren Opfer bringen müsse. Bereits in seiner Kindheit dürfte Kramáf „die Nation" als etwas Wertvolles, den Kampf Lohnendes kennen gelernt haben. Die Gegend, in der er aufwuchs, hatte auf dramatische Weise unter den sozialen und ökonomischen Folgen der Industrialisierung zu leiden.56 Besonders die Gewerbetreibenden in städtischem Milieu, die sich in einem neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System zurechtfinden mussten, reagierten auf solche Veränderungen häufig mit einer -

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-

Kramáf: Na rozcestí, S. 6. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 862. Brief an die Eltern 17.11.1884. „Ona [národnost] je nám nejsvëtëjai." AÚTGM MA, Politické stati, Sloïka 141. Kramáf: Ceskému lidu!, S. 4. Darauf folgt übrigens noch der Satz „Wir sind vor allem Tschechen im nationalen Sinne, danach erst alles andere." (Jsme pfedevsím Cechy ve smyslu národním, potom teprve väe ostatni.) Dieser Satz wurde von Masaryk als zu polemisch gestrichen. Das Blatt, Konzept für ein politisches Programm, wahrscheinlich auf 1890 zu datieren, ist im Masaryk-Archiv unter dem Namen Kaizls eingeordnet, die Schrift und der Stil sind jedoch eindeutig Kramáf zuzuordnen. Schon in einem Brief an die Eltern 1884 schrieb Kramáf von „unserer heiligen tschechischen Sache" (naäi svatou ieskou vêc). ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 862. 17.11.1884. 55 Kramáf: Svobodomyslné mládezi. 56 Lemberg: Studien, S. 109. 53

54

-

Kramáfs Nationsverständnis

43

Politisierung, die sich in verstärktem nationalem Empfinden ausdrückte. Die politische Szene erfuhr so starke und aufwühlende Veränderungen, dass selbst in national eher indifferenten Gegenden ein Echo darauf erklang. Besonders aber das tschechische „Gemeinderealgymnasium" in Prag, das den Ruf einer besonders stark national

geprägten Institution

hatte58, kann als eine Wurzel der

politischen Sozialisierung Kramáfs angesehen werden, die ihn schon recht früh in die Richtung der jungtschechischen Partei führte.59 Die tóeory-Bewegung seit 1867 als Massenbewegung, die Konsolidierung europäischer „verspäteter" Nationen zu Staatsnationen, die Anfange der jungtschechischen Bewegung, die sich selbstbewusst in Gegensatz zu den konservativeren Alttschechen stellte: Kramáfs Jugend fiel in eine politisch bewegte Zeit, und wenn auch seine Selbstdarstellung als engagierter Pennäler60 etwas übertrieben ausgefallen sein mag, so dürfte die Schilderung der frühen Konfrontation des Jungen mit politischen, sozialen und nationalen Konflikten doch einen wahren Kern aufweisen.

Kramáf war in einer Situation aufgewachsen, in welcher die Existenz einer tschechischen Nation schon definiert und die Grenzen gezogen waren und die nationale Bewegung die Phase C Nationalismus als Massenbewegung bereits erreicht hatte. Der Kampf um eine Verfassung war neu entflammt, die alttschechische Partei musste sich gegen die Herausforderung durch die Jungtschechen behaupten, die Erfolge Ungarns, die sich besonders an dem Ausgleich von 1867 festmachten, zogen Verbitterung im tschechischen Lager nach sich. Die Situation erschien also dramatisch genug, um große Kreise der Bevölkerung und damit auch einen jungen Fabrikantensohn mit guter Schulbildung zu faszinieren. -

-

Von der Nation zum Nationalismus Im tschechischen Diskurs des Nationalen sind romantische Einflüsse deutlich was nicht zuletzt mit der Idealisierung der Slaven durch Herder zusammenhängt. Die tschechische Intelligenz des 19. Jahrhunderts hatte, eben-

auszumachen61,

wie die schmale Bildungselite der Slowaken und viele Gelehrte aus südslavischen Nationen, an den deutschen Universitäten die Atmosphäre der Romantik geatmet. Es ist eine Tradition der Nationalismusforschung, diese enge Verbindung zu problematisieren und daraus einen Sonderweg der Südost- und ostmittel-europäischen Nationalismen zu konstruieren62 in seiner deutlichsten Ausso

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57 58

59 60

61 62

Evropská národní hnutí, S. 245. Lemberg: Studien, S. 114ff. Hroch:

Ebenda, S. 117f. Kramáf: Pamëti, S. 27-58.

Vgl. Sundhaussen: Der Einfluß. Gern und häufig vereinfacht zitiert

Dichotomie.

Vgl.

wird: Kohn: Nationalismus. -

auch Kofalka: Hans Kohns

44

Der Blick auf das

Eigene

prägung als klare Linie von Herder über Arndt und Fichte, weiter zu den Radikalismen und Mystizismen des späten 19. Jahrhunderts und schließlich bis zum

Nationalsozialismus.63 Diese Linie ist in ihrer Klarheit mangelnder Differenzierung geschuldet; nimmt man aber, diese Einschränkung bedenkend, eine gedachte Zeitachse als Modell, so lassen sich Positionen und Perspektiven erkennen. Kramáf befand sich auf einer solchen Achse, die vereinfachend von Herders Grundlegung eines objektivistischen Nationsbegriffes bis zu den mystischen und rassistischen Konzepten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts angelegt wird, offenbar an jener Stelle, an der Herders Ideen bereits vollkommen akzeptiert und weit verbreitet waren, an der sie sich aber auch noch als ausreichend erwiesen. Auf dieser Achse nachfolgende Ideenkomplexe waren der Irrationalismus und Mystizismus des späten 19. Jahrhunderts, Blut-und-Boden-Ideologien sowie pseudowissenschaftliche biologistische Vorstellungen, häufig in direktem Zusammenhang mit Rassismen. Konkret haben diese Tendenzen sich in Diskursen wie der Action française oder dem völkischen Code manifestiert. In Kramáfs Schriften sind einige Äußerungen zu finden, die beim heutigen Leser alle Alarmglocken schrillen lassen: Totalitär anmutende Forderungen nach absoluter nationaler Treue, Schlüsselworte wie Blut und Rasse. Auch stand er Denkkollektiven des radikalen Nationalismus persönlich wie politisch nahe.64 Eine genauere Untersuchung jedoch zeigt, dass diese Diskurse Kramáfs Denken nur sehr partiell beeinflusst haben. Diese Abgrenzung verdient eine nähere Betrachtung, da sie auf Grundsätzliches hinweist: Auf das Problem einander nahe stehender, sich an bestimmten Punkten aber dennoch klar unterscheidender Diskurse und Denkkollektive. Was im Rückblick schnell in eine Schublade zu gehören scheint, erweist sich bei genauer

Betrachtung häufig doch als different. Definiert man beispielsweise „völkischen Nationalismus" allein über seinen Kontrast zum westlichen, am Staat orientierten Konzept, so ist unter einen so weiten Begriff wohl jeder am Herderschen Denken orientierte Nationalismus und so auch Kramáfs Denken zu fassen. Eine genauere Beschreibung aber ergibt sich im Zusammenhang mit radikal nationalistischen Strömungen in Deutschland, z.B. im Kontext der „Konservativen Revolution", und ermöglicht Differenzierungen. So betrachtet, zeichnete sich völkischer Nationalismus, obwohl eher an einem Profilmangel leidend,66 vor allem durch eine rassistisch-antisemitische Haltung aus und durch eine Nei-

63

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z.B. Samalik: Nëmecko humanista, S. 224ff. Im tschechischen Kontext gehörten vor allem der Kreis um Lev Borsky, Frantiäek Mareä und Viktor Dyk sowie später die faschistischen Bewegungen dazu. Beispielsweise mit der radikalnationalistischen und antisemitischen Schriftstellerin Bozena Viková-Kunetická pflegte Kramáf ein recht enges, freundschaftliches Verhältnis. ANM Fond Kramáf, K 18. Den Vertreter der deutschen „Konservativen Revolution" Wemer Sombart kannte er aus seiner Studienzeit in Berlin, auch später blieb der Kontakt zwischen den beiden erhalten. 65 Arendt: Elemente und Ursprünge, S. 366-373. 66 Sontheimer: Antidemokratisches Denken, S. 36f. 64

Kramáfs Nationsverständnis

45

gung zu Mystik mit heidnischen Elementen. Diese Aspekte sind bei Kramáf nur in schwacher Ausprägung zu finden. Auch der Mystizismus des späten 19. Jahrhunderts, in dem Vorstellungen von organischer Gemeinschaft mit der pseudowissenschaftlichen Kategorie des Blutes vermischt wurden, hinterließ nur wenige Spuren in Kramáfs Denken; so sind kaum Ansätze fur eine Blut-und-Boden-Ideologie zu finden68, der Begriff des Blutes spielt kaum eine Rolle. Ob Kramáf den Topos „Blut" in vormoderBlut als Körpersaft, der über das Wesen des Menschen, über nem Verständnis Krankheiten und Stimmungen Auskunft geben kann oder mit moderner pseudowissenschaftlicher, mystifizierender Konnotation nutzte, kann kaum entschieden werden. Wahrscheinlich spielten beide Ideenkreise eine Rolle, ohne dass Kramáf sich bewusst damit auseinander gesetzt hätte. Kramáf stand den Ideen, die den romantischen Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts prägten und veränderten, in einigen Aspekten nahe, übernahm sie aber letztlich nicht. Erklärbar wird dies durch seinen Konservativismus, der ihm eine vollständige Akzeptanz solcher modischer Ideen nicht erlaubte. Die frühe Prägung durch Denkkollektive, in welchen Biologismen kaum Einfluss auf das soziale und politische Denken hatten, ist hier von Bedeutung: Die altund später die jungtschechische Publizistik, die Zusammenarbeit mit Kaizl und Masaryk und die Kathedersozialisten hielten Kramáf auf Distanz zum modischen Irrationalismus mit häufig pseudowissenschaftlicher Prägung. All diese Strömungen waren tief im 19. Jahrhundert verwurzelt und wiesen starke konservative Elemente auf Elemente, die sich mit den radikalen Ambitionen von Biologismus und nationaler Mystik nicht vertrugen.69 Die Zeitachse, die hier als Linie von Herder zum Mystizismus gezeichnet wurde, bildet auch eine Verbindung zwischen zwei zentralen Elementen philosophischen und politischen Denkens: War Herder explizit von kulturellen Erklärungsmustern ausgegangen, so wurde im späten 19. Jahrhundert der Begriff der Natur immer deutlicher betont. Ein Schlüsselbegriff, der bei Herder von Bedeutung war, in den Diskursen von Vitalismus und Mystizismus eine zentrale Rolle spielte und sich auch bei Kramáf als entscheidend erwies, ermöglichte die Verknüpfung dieser beiden Punkte: Der Begriff des Organismus, der Topos vom Werden im Gegensatz zum starren Sein, der eine große Zusammenhang, der alles Leben umfasst. Die-

-

-

67

Mohler: Die Konservative Revolution, S. 29 und 131-137. Eine Ausnahme bildet die Aussage Kramáfs von 1933: „Unser Land war die ewig lebendige Quelle, aus der unsere Nation stets neue Kraft und neues Vertrauen geschöpft hat." (nás venkov byl vëënë zivym pramenem, z nëhoz naä národ ëerpal vzdy nové síly i novou dûvëru.) Kramáf: NaSi mladé generad, NL 26.3.1933. 69 Dabei sind im tschechischen Diskurs des Nationalen durchaus Einflüsse dieser neuen Strömungen auszumachen und dies nicht nur in den bereits erwähnten, sehr radikalen Kreisen: So war beispielsweise Edvard Beneä vom Sozialdarwinismus nicht unbeeinflusst geblieben, und auch der Vitalismus hatte seine Spuren hinterlassen, so in den Werken Emanuel Radis und F.X. Saldas. 68

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46

Der Blick auf das

Eigene

Begriff, der im politischen Streit gegen den rationalistischen Absolutismus Hochkonjunktur gehabt hatte, war im deutschen Kontext zum Schlagwort des Konservativismus bei Adam Müller, dem Freiherrn von Stein und Joseph Görres geworden. Ebenso hatten Romantiker wie Friedrich von Schlegel mit diesem Terminus operiert. Später war er von der frühen Lebensphilosophie aufgenommen worden und schließlich in die Nähe von rassistischen und biologistischen Weltbildern gerückt. In diesen Diskursen um einen Begriff bewegte sich Kramáfs Denken. Der Organismusbe-griff fungierte für ihn einmal als Terminus, mit dem er glaubte, das Wesen der Welt angemessen beschreiben zu können. Das Individuum war demzufolge ein untrennbarer Bestandteil einer Geser

meinschaft mit einem bestimmten, sich evolutionär entwickelnden Charakter. Aus diesem eher deskriptiven Begriff wurde jedoch in einem zweiten Schritt eine Norm, an der Kramáf jegliche Politik maß: Gleichmäßig fortschreitende Entwicklung erschien wünschenswert, Revolutionen dagegen waren „unorganisch" und damit falsch; Politik sollte sich am „Leben", nicht an Schemata orientieren. Die Gemeinschaft war Tatsache und Norm, die Forderung nach nationaler Einheit durchgängig Bestandteil fast jeder politischen Rede. Dem organischen Weltbild entsprechend waren Rationalismus, individualistischer Liberalismus und revolutionäre Ambitionen schädlich, weil unorganisch und unnatürlich. Denn hinter all diesen Forderungen und Maßstäben stand unausgesprochen ein Ideal: Die Natur. Auch Herders „Volksgeist", obwohl so explizit an kulturelle Momente wie Sprache und Folklore geknüpft, war letztlich an die Vorstellung von „Natürlichem" gebunden. Was die Zeitachse und damit den Diskurs des romantischen Nationalismus zusammenhielt, war die Anbindung an primordiale, die Idee von Ursprünglichkeit, Natürlichkeit beinhaltende Codes. Was sich im Laufe der Zeit veränderte, war die Betonung dieser Primordialität und damit die Radikalität und Intoleranz. Dabei war Kramáfs nationale Codierung noch zu eng an die Tradition Herders und der Romantik gebunden, als dass er sich ein explizit an der Natur orientiertes, biologistisches, mechanistisches Weltbild wirklich zu eigen hätte machen können. Wenn er den Begriff der Rasse vereinzelt benutzte, so lässt dies die Wirkung geistiger Strömungen seiner Zeit erkennen, rückt die „Natur" in den Bereich des Expliziten und lässt Kramáfs Denken als dem Irrationalismus, dem pseudowissenschaftlichen Rassismus und den völkischen Codes verwandt erscheinen. Der Begriff der Rasse wurde jedoch vollständig in das bestehende Nationskonzept eingebaut; Abstammung bildete einen Aspekt im Organismus der Nation, die Rasse erhielt keine herausgehobene Funktion. Festzuhalten bleiben an dieser Stelle einige Aspekte, auf die später noch häufiger zurückzukommen sein wird: Zunächst die zentrale Bedeutung des Organismusbegriffs als grundlegendes Element für Kramáfs Blick auf die Welt. Dieser Begriff wird immer wieder auftauchen, da er Kramáfs gesamtes Denken -

Kramáfs Nationsverständnis

47

ihm auch häufig explizit verwendet wurde. Ebenso Kramáfs Orientierung am neuzeitlichen Ideal der Natur in der stärker von der Romantik als von der Aufklärung geprägten Form und damit die Einbindung in romantische bzw. neoromantische Diskurse sowie die auf diese Weise bedingte potenzielle Nähe zu den mystifizierenden Ideologien der Jahrhundertwende. Und schließlich auf einer eher theoretischen Ebene das Problem der Nähe, Überschneidung und gleichzeitig Abgrenzbarkeit von Diskursen. Die Komplexität des Begriffes des Natürlichen weist auf ein weiteres Problem hin: Auf den Wandel von Kramáfs Umgang mit dem Konzept der Nation und, konkreter, auf den Wechsel zwischen kulturellen, konventionellen und primordialen Codes. Wie bereits erwähnt, definierte Kramáf den Begriff der Nation nicht, er benutzte ihn. Entsprechend finden sich Widersprüche besonders in denjenigen Quellen, die eine Änderung der Umstände dokumentieren, Anpassung und Reflexion zeigen. Solche Reflexion bedeutete häufig auch die Anwendung primordialer Codes, die Betonung der Natur. Ein interessantes Beispiel findet sich in Kramáfs Verhältnis zu den Slowaken: Zu den Debatten über die Fiktion einer tschechoslowakischen Nation, die schon bald nach der Staatsgründung von vielen slowakischen Politikern in Frage gestellt wurde, äußerte er sich folgendermaßen: „Ob wir eine oder ob wir zwei Nationen sind, das ist keine philologische Frage!" und „Ihr seid gemeinsam mit uns eine Nation, dagegen könnt ihr nichts tun. Aber ihr wart tausend Jahre lang unter fremdem Einfluss".70 Während Kramáf sonst die Nation vor allem in kulturellen Elementen begründet sah, war er hier gezwungen, mit der „Natürlichkeit" der Nation zu argumentieren. Sowohl die Sprache als auch die Geschichte und aus diesem Grunde die Kultur der Tschechen und der Slowaken unterschieden sich, dies akzeptierte auch Kramáf; um die Fiktion der Gemeinsamkeit zu erhalten, musste er auf ein anderes Argument zurückgreifen. Er sprach jedoch nicht aus, was dann noch als Verbindendes blieb: Es konnte nur etwas Mystisches sein die Seele, die auch ohne gemeinsam erlebte Geschichte weiter bestand. Wo Geschichte, Sprache und Kultur als Argumente nicht weiterhalfen, griff Kramáf implizit Motive auf, die in seinem Nationskonzept sonst keine Rolle spielten, die jedoch in einem benachbarten Denkmuster zentral waren: auf Abstammung, Rasse, Blut. Das Verhältnis von Konstanz und Veränderung in Kramáfs Nationsbegriff lässt sich mit der von Giesen entwickelten Begrifflichkeit fassen71. Es wurde bereits festgestellt, dass die Nation als Kollektiv für Kramáf eine selbstverständliche Basis war, die zunächst nicht definiert oder problematisiert werden musste. Gie-

strukturierte und

von

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-

-

70

„otázka, jsme-li jedním nebo dvëma národy, to není otázka filologícká." „Není to proto, ze jste zvlástní národ, vy jste s námi jeden národ, to dëlejte, co chcete. Ale vy jste byli po tisíc let pod jinym vlivem." TZNS Bd XI, S. 184. 71 Giesen: Die Intellektuellen, S. 48-65. Ähnlich, mit anderer Begrifflichkeit: Ders.: Kollektive Identität. -

Der Blick auf das

4S

Eigene

sen nennt solche Regeln „konventionelle Codes". Sie sind durch sozialen Zusammenhalt vor Angriffen geschützt und können so als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Ein Bruch solcher Konventionalität zeigt sich deutlich in den Briefen an Kramáfs spätere Ehefrau: Die Nation als absoluter Wert stand stets im Hintergrund, wurde aber nur selten ausdrücklich genannt. Anders ist es in den frühen Passagen, in denen Kramáf sich bemühte, Nadëzda Abrikosova zu einem Engagement für die tschechische Nation zu überreden, in denen er ihr seinen Wunsch, sie möge die tschechische Sprache erlernen, zu erklären versuchte.72 Hier zeigte sich im Detail ein Aspekt, der in Kramáfs politischer Entwicklung besonders nach 1918 entscheidende Bedeutung erhielt. Die Intensität seines nationalen Empfindens veränderte sich nicht, doch die Art und Weise, es nach außen zu vertreten, orientierte sich an der Stärke des Widerstandes, der ihm jeweils entgegengesetzt wurde. Die Auseinandersetzung mit Abrikosova stellte die bisherige Selbstverständlichkeit in Frage: Kramáf musste nicht nur sein sehr starkes nationales Empfinden erklären und rechtfertigen, zusätzlich strebte er auch noch eine Integration seiner Partnerin in die eigene Nation, eine Mission also, an. Es waren Rituale,7 die er in dieser Situation aufgriff: Das mühsame Erlernen der Sprache, ähnlich wie es die frühen tschechischen „Erwecker" auf sich genommen hatten, um dazuzugehören, am Geheimnis teilhaben zu können, war ein Teil davon. Auch wünschte er sich, Abrikosova könnte einen am französischen Vorbild orientierten Salon etablieren74, in dem die tschechische Kultur gepflegt und diskutiert würde. Hier griff er die Praktiken der tschechischen Nationalisten der ersten Generation auf und funktionalisierte sie zu regelrechten rites de passage um. Der Nationscode war in dieser Situation nicht mehr konventionell, also selbstverständlich, sondern kulturell, also ausdrücklich formuliert und an sakrale Momente gebunden. Eine durch kulturelle Codes bestimmte Gesellschaft lässt nur Mitglieder zu, welche eine bestimmte Bildung vorweisen können, eine besondere Fähigkeit haben oder eine bestimmte Sprache sprechen, sich also als würdig erweisen, einem als heilig definierten Moment nahe zu sein. Sobald auch die Ritualisierung nicht mehr funktioniert und die Ordnung prinzipiell in Frage gestellt wird, kann es zur Naturalisierung kommen, zur Überführung von konventionellen Codes in primordiale. Eine solche Entwicklung ist in Kramáfs Fall deutlich in den frühen Jahren der Tschechoslowakischen Republik zu beobachten. Auffällig ist zunächst eine Änderung des Vokabulars. Während Kramáf vor dem Weltkrieg stets von Vaterlandsliebe (láska k vlasti, vla-

-

72

ANM Fond Kramáf K 2,2 2 1329 und 2 2 1950. Briefe an Abrikosova 27.12.1890 und 18.1.1893. Zur Bedeutung von Ritualen für konventionelle Codes: Giesen: Die Intellektuellen, S. 56ff. Salons im tschechischen Kontext fehlte regelmäßig die besonders im Frankreich der Aufklärung so bedeutsame Muse. Tschechische Salons waren sowohl in Bezug auf die soziale als auch auf die Geschlechterkategorie enger abgeschlossen. Organisiert wurden sie von Männern. Vgl. Lenderová: K hfichu, S. 168. Lorenzová/Petrasová: Salony v ëeské kultufe. Frauen trafen sich offenbar eher unter sich. Moravcová: Spoleíenská setkání zen. 7'

74

-

-

Kramárs Nationsverständnis

49

stenectví

etc.) gesprochen und diese Loyalität als positive Einstellung einem negativen, dem deutschen Pangermanismus zugeordneten, chauvinistischen Nationalismus gegenübergestellt hatte, tauchte ungefähr seit dem Jahre 1922 in seinen Schriften und Reden häufig der Begriff des nacionalismus auf. Kramáf hat damit die im tschechischen Diskurs, aber auch in anderen ostmitteleuropäischen Kontexten fast schon klassische Trennung von „gutem" Patriotisoffenbar bewusst und willkürmus und „schlechtem" Nationalismus negiert lich. Die Ideologisierung dieses neu eingeführten Begriffes im Gegensatz zum früheren Nationalbewusstsein wird in einem Zitat aus dem Jahre 1923 besonders deutlich: „Für mich ist der Nationalismus die Weihe allen nationalen Lebens, des wirtschaftlichen und des sozialen."76 Kramáf trennte hier Nation von Nationalismus: Nationales Empfinden war für ihn nicht mehr die einfach aus der Zugehörigkeit entstandene Liebe zur Nation, ein selbstverständlicher Standpunkt, sondern eine spezielle Idee, welche dem nationalen Leben besonderen Wert verlieh Nationalismus. Inhaltlich veränderte sich wenig: Noch immer wurde dieser positive, als rein idealistisch beschriebene Gedanke der befürchteten pangermanischen Aggressinoch immer wurde von gleicher Freiheit fiir alle Nationen on und vom notwendigen Respekt gegenüber anderen Nationalitäten noch immer kamen mystische und rassistische Ideen nicht über Ansätze hinaus. Doch die Rhetorik veränderte, radikalisierte sich, ein Zeichen dafür, dass die Idee der Nation eine neue Bedeutung erhielt, ausdrücklich zum Parteiprogramm und zur Ideologie gemacht wurde. Dies war eine Reaktion auf veränderte Umstände: Was im 19. Jahrhundert selbstverständlich gewesen war, sah sich nun herausgefordert durch neue Ideen und Ideologien. Und, möglicherweise noch wichtiger: Nicht nur die Führungsmacht der nationalen Idee wurde angezweifelt, auch die Stellung Kramáfs selbst hatte bedeutend gelitten. Die Jungtschechische Partei, Vorgängerin der Nationaldemokraten, hatte schon lange vor Ausbruch des Krieges mit der gesellschaftlichen und damit auch politischen Differenzierung ihre Vorreiterposition in der tschechischen Politik eingebüßt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verlangten Agrarier und Sozialisten verschiedener Couleur nach einem neuen Blick, der die Ansprüche ihrer jeweiligen Klientel berücksichtigte, und stellten das Selbstbild der Jungtschechen als eine die ganze Nation vertretende Partei in Frage. Kramáf reagierte bereits hier mit dem deutlichen Versuch, den nationalen Code für sich zu beanspruchen und kritisierte beispielsweise die sozialdemokratische Opposition unter anderem mit -

-

entgegengesetzt,77

Erstmals allerdings schon in TZNS Bd I, S. 166. Pro mne je nacionalism posvëcenim veSkerého národného zivota, josl. Dra Kramáfe na Smíchove. NL 10.4.1923 (Herv. M.W.) '7 Kramáf: Pët pfednáSek, S. 7. '8 z.B. Reí posl. Dra K. Kramáfe v Turnovë. NL 12.9.1922. 6

gesprochen,78

hospodáfského

i sociálního." Reí

Der Blick auf das

50

Eigene

dem

Argument, diese sei „nicht tschechisch". Spätestens 1907, mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer ab 24 Jahren, wurde der Imageverlust der Jungtschechen manifest: Die Zeit ihres Machtmonopols war endgültig vorbei. Ein knappes Jahrzehnt später jedoch ließen der Weltkrieg und die Inhaftierung des Parteiführers die Illusion entstehen, die Nation stehe wieder einig hinter Kramáf und seiner Partei. Im Jahre 1918 dann, spätestens 1919 aber zeigte sich, dass auch die Stilisierung des „Märtyrers" Kramáf zum nationalen Helden und Führer im Weltkrieg, mit der die Partei sich neue Erfolge erhofft hatte, deren Position nicht auf Dauer stärken konnte. Als die

nun

„Nationalde-

mokratie" genannte Partei diese Erkenntnis nicht mehr verdrängen konnte, wurde der bereits früher formulierte Anspruch, „allnationale" Volkspartei zu sein, mit dem Begriff des Nationalismus und mit radikal nationalistischer Rhetorik neu

illustriert.80

Darüber hinaus müssen Veränderungen in der personalen Zusammensetzung der Nationaldemokratischen Partei beachtet werden: gemäßigte Gruppen distanzierten sich, und der Zulauf aus dem rechten Lager trug seinen Teil zur Radikalisierung der Partei bei, völkische Nationalisten wie Viktor Dyk und Bozena Viková-Kunétická gewannen in der Partei an Macht. Den wichtigsten Punkt für die Radikalisierung der Partei dürfte jedoch die Suche nach einem neuen Profil, einer Ideologie und entsprechend auch einer starken Wählerschaft bilden. Nach den Kommunalwahlen von 1919, die zum Rücktritt des Kabinetts Kramáf führten und den Sozialdemokraten, den Agrariern und den Nationalen Sozialisten die meisten Ministerposten bescherten, war die Enttäuschung groß, nicht nur bei Kramáf: Sein Parteigenosse Alois Rasín, bis dahin Finanzminister, konnte nur Verachtung für die fehlgeleiteten „Massen" empfinden81 und propagierte einen veränderten Kurs. Das Bürgertum, die klassische Klientel von Jungtschechen und Nationaldemokraten, sollte direkt angesprochen werden,82 der Nationalismus wurde zur „bürgerlichen Mobilisierungsideologie".83 In ganz Europa hatte sich in dieser Zeit die Bedeutung des nationalen Denkens verändert, die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Nation war trotz internationalistischer Gegendiskurse selbstverständlich und notwendig.84 Nur noch wenige Gruppen konnten sich eine national indifferente Haltung leisten, und spätestens mit dem Weltkrieg und den darauf folgenden national legitimierten Staatsgründungen hatte sich die Ordnung Europas entlang nationaler Grenzen vollends etabliert. -

-

79

Karel Kramáf o ceskoslovenské sociální demokracii II. NL 23.5.1911. Ähnlich: Kramáf: Ceská otázka a Rakousko. Manuskript ANM Fond Kramáf, K50, S. 3. 80 Kramáf: Poznámky, S. 82. TZNS, Bd II., S. 89. TZNS, Bd VIII, S. 100. 8i Setfilová: Alois Rasín, S. 86. -

-

-

82

Ebenda, S. 95. 83 84

Zu diesem Begriff Loewenstein: Problemfelder der Moderne, S. 111. Nur auf Osteuropa bezogen und damit wohl etwas zu eng: Sugar: Continuity and

Change, S. 308.

Kramáfs Nationsverständnis

51

Die Gründung eines tschechoslowakischen „Nationalstaates" hatte die Situatinoch in anderer Hinsicht grundlegend verändert. Der Konflikt um die Definitions- und damit die politische Macht hatte ein neues Argument gefunden: Wer mehr für die Entstehung des „eigenen" Staates getan hatte, der war der bessere vlastenec, Patriot, und diesem stand die Entscheidung über die politische Richtung zu. Die Nationaldemokratische Partei allgemein und Kramáf im Besonderen glaubten es ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft schuldig zu sein, diesen Konflikt um die nationale Codierung für sich zu entscheiden. Mit der Metapher des Erwachens machten sie ihren Anspruch deutlich, allein in der Tradition Dobrovskys und Jungmanns zu stehen: „Der tschechische Nationalismus erwacht aus dem Schlaf, in den er gewiegt wurde von der Agitation, die im Namen der allmenschlichen Solidarität (Humanität), der Klasseninternationale (Sozialismus) geführt wird." Dieser Aussage eines Redaktionsmitglieds der Národní listy folgte ein Zitat Kramáfs: „Das Aufraffen des tschechischen Nationalismus ist die erfrischende Reaktion gegen den groben Materialismus, in dem alles Edle und Reine ertränkt wurde." 5 Die Partei machte den Kampf explizit, schrieb den Nationalismus auf ihre Fahnen, wandte sich aggressiv gegen die deutsche Minderheit und begegnete allen sozialen und politischen Konflikten mit dem Ruf nach nationaler Einheit. Der Nationalismus wurde zum wichtigsten Instrument der neuen Politik. Diese politische Instrumentalisierung des Nationalismus konnte jedoch den Abstieg der Partei nicht aufhalten: Ihr Wähleranteil erreichte nie mehr als etwa sechs Prozent. Darüber hinaus traf der neue Kurs der Partei auch auf starken Protest: Verschiedene Intellektuelle, die für die traditionsreiche Zeitung Národní listy geschrieben hatten, verließen die Redaktion und wechselten zu den die „Burg" vertretenden Lidové noviny. Auch innerhalb der Partei gab es gravierende Konflikte, die schließlich zu individuellen oder auch gruppenweisen Austritten führten und die Nationaldemokraten so immer stärker in ein nationalistisches, rechtes Milieu schoben. Anfang der zwanziger Jahre versuchte die Nationaldemokratische Partei also, ein Problem zu lösen, das von mehreren Aspekten geprägt war: Zunächst erfüllte der ältere nationale Code aufgrund gesellschaftlicher Differenzierungen nicht mehr seine Aufgabe. Außerdem erforderte die Gründung eines Nationalstaates eine Neudefinition der tschechischen, nun „tschechoslowakischen" Nation. Und schließlich sah die Partei sich in ihrem Machtanspruch an den Rand gedrängt, suchte ihre Pfründe zu verteidigen und rettete sich in eine immer raon

85

„Cesky nacionalismus povstává ze spánku, do nëhoz byl ukolébán agitad, vedenou ve jménu väelidssolidarity (humanita), tfídní internacionály (socialism)" „Vzchopení Ceského nacionalismu je osvezující reakcí proti hrubému materialismu, v nëmz se utápelo väechno uslechtilé a Cisté...". Zdravá ké

reakce.NL 15.12.1922. 86 Setfilová: Alois Raäin, S. 97. Offensichtlich spielten hier aber nicht nur politische, sondern auch ganz profane, nämlich finanzielle Motive ein Rolle. Vgl. Perms: Svët Lidovych novin, S. 65f. -

52

Der Blick auf das

Eigene

dikaler formulierte nationalistische Ideologie. Kollektive Identität wurde hier bewusst neu konstruiert, eine doppelte Gefährdung machte die Reflexion und Umwandlung des bisherigen Codes notwendig. Ein solcher Prozess wird von Ladislav Holy als tschechische Besonderheit dargestellt: „Awareness of being Czech is tacit. It is grounded in an implicit awareness of the common historical fate of the collectivity spoken of as 'we', but it is seldom the

subject of an explicit discourse. It becomes such either in situations which are perceived as national crisis or when what is tacitly taken as the Czech way of doing things is threatened by those perceived as the Other".87 Es handelt sich hier jedoch weniger um eine typisch tschechische Reaktion als vielmehr um einen häufig zu beobachtenden Prozess der Identitätskonstruktion. Bedenkenswert wäre allerdings die These, dass dieser Prozess im tschechischen Diskurs, der so stark geprägt war von Krisen und Traumata, besonders deutlich zu beobachten ist. Reflexion blieb bei Kramáf sehr begrenzt: Er formulierte keine allgemein gültigen Definitionen der Nation, sondern bemühte sich, die Selbstverständlichkeit dieses Begriffes beizubehalten. Nur in bestimmten heiklen Situationen, wie z.B. angesichts der Weigerung der slowakisch-nationalen Hlinka-Partei, die Slowaken als Teil einer „tschechoslowakischen" Nation zu betrachten, schien eine Definition als Argument notwendig zu sein. Dann musste konkret vollzogen werden, was Giesen „Naturalisierung" nennt, die Entwicklung primordialer Codes: Nation wurde bewusst konstruiert, was zu einem akuten „Latenzproblem" führte, zu der Gefahr, die Konstruktion könne als solche erkannt werden. Deshalb wurde auf primordiale Codes zurückgegriffen, d.h. die Nation wurde als „natürlich" deklariert und damit unangreifbar gemacht. Einer der sehr seltenen ausdrücklich formulierten Versuche Kramáfs, den Begriff der Nation zu definieren, fiel dementsprechend auch in diese Phase in den frühen zwanziger Jahren. Die Nation wurde hier als natürliche, historische und kulturelle Einheit definiert, als „ein Zusammenspiel von Menschen, die sich durch das Blut, die Mentalität, die Erziehung und die historischen Traditionen [...] nahe stehen."88 Dieser Definition schloss sich ein Aufruf an, der gleichzeitig weltanschauliche Parole, Codierungsversuch mit fast totalitärem Anspruch und Parteiprogramm war: „Wir müssen alle diesen höchsten Organismus, also das höchste, was wir haben, unsere Nation, mehr lieben als alle unsere, auch die wichtigsten Interessen. Dies ist unsere Pflicht."89 Kramáf forderte „bedingungslose Liebe und Er-

87 88

Holy:

The little Czech, S. 9. „Národ je souhra lidí, ktefí si jsou blízcí krví, povahou, vychováním, tradicemi historickymy." Post

Dr. Kramáf pro silny národní stát. NL 11.4.1923. 8 „Musíme vSichni tentó nejvySst Organismus, to tedy nejvyssí, co mame, svùj národ, milovati vice, väecky své i nejvaznëjsï interesy. To je naSÍ povinností." Ebenda. (Herv. M.W.)

nez

Kramáfs Nationsverständnis

gebenheit" und machte den

Slogan.90

Satz

„Alles für die Nation"

53

zum

gern wiederholten

Will man Kramáfs Nationsbegriff also im Nachhinein definieren, so ist die kulturelle Begründung, entsprechend dem vorwiegend kulturell bestimmten tschechischen Diskurs des Nationalen, an erster Stelle zu nennen: Hier ist vor allem die Sprache entscheidend, deren Erhaltung und Fortentwicklung Kramáf zufolge von existentieller Bedeutung war. Kramáf betonte seine Liebe zum Tschechischen91; auf die Debatten um die Sprachengesetze Badenis, Gautschs und Thuns zurückblickend nannte er die Erhaltung der Sprache das wichtigste, geradezu existentiell bedeutsame Ziel der Nation: „Wofür soll eine Nation kämpfen, leiden, aushalten, wenn nicht für die Ehre und Würde ihrer Sprache?"92. Solange die tschechische Sprache eine Sprache der Diener sei, so Kramáf, könne auch die tschechische Nation nicht über den Status von Dienern hinausgelangen. Kramáfs Bezug zur Sprache konzentrierte sich jedoch nicht nur auf Literatur, Kultur, „Volksgeist", sondern stand in einem politischen Kontext: Er „wollte nur eines: für unsere Nation wieder jenes Sprachenrecht in den Ämtern gewinnen, ohne dass eine Nation erniedrigt ist, nicht gleichwertig, eine Nation zweiten Ranges neben der bevorrechteten deutschen Nation." Die kulturelle Basis der Herderschen Tradition spielte eine Rolle, die politische Anwendung dieses Nationsverständnisses aber hatte Kramáf grundlegend geprägt. Auch die Naturalisierung der Nation und der Mechanismus der primordialen Codes, die in den Diskursen des 20. Jahrhunderts zunehmend eine Rolle spielten, hatten sein Denken nicht unbeeinflusst gelassen. In verschiedenen Äußerungen, teilweise bereits vor dem Weltkrieg, häufiger jedoch erst nach 1918, tauchte die Natur als letzte, unangreifbare Begründung auf. So sprach Kramáf von den „ewigen" Nationen sowie von deren „angeborener Eigenart" und entwickelte immer deutlicher einen primordial codierten Nationalismus. 4 Es war die Verunsicherung bezüglich tradierter Codes, die zu dieser Naturalisierung, der Formulierung primordialer Codes führte. Geschichtskultur Die Beschäftigung mit dem, was als Geschichtskultur, Geschichtsbewusstsein oder auch historisches Denken und historisches Bewusstsein bezeichnet wird, hat in den letzten Jahren an Intensität und Bedeutung entscheidend zugenom90

Sis: Dr. Karel Kramáf II, S. 10. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1329. Brief an Abrikosova 27.12.1890. „Za£ má národ bojovat, trpët, vytrvat, kdyi ne za ëest a dûstojnost svého jazyka?" Kramáf: S. 27. Poznámky, 93 „Jedno jen chtël: dobyti zase národu naäemu ono pravo jazykové v úfadech, bez kterého je národ ponízeny, nerovnocenny, národ druhého fádu vedle nadprávného národa nëmeckého." Ebenda, S. 26. ™ Kramár: Pët pfednáSek, S. 111. -Ders.: Polské vítezství. NL 18.3.1923. 91

92

Der Blick auf das

54

Eigene

nicht zuletzt infolge der politischen Ereignisse des Jahres 1989 und der Bemühungen osteuropäischer Nationen um eine Klärung ihrer neuen politischen, nationalen und kulturellen Situation.95 Auch die theoretische Diskussion men

Geschichtskultur hat aus diesem aktuellen Interesse neuen Nutzen wenn auch aus alten Quellen gezogen. Die grundlegende Hypothese, mit der sich die Analyse ihrem Thema nähern kann, und die sich immer wieder bestätigt findet, lautet: Geschichte wird gemacht, und die Art und Weise, in der dies geschieht, ist abhängig von aktuellen Befindlichkeiten und Bedürfnissen. In der Tradition von Maurice Halbwachs96 gilt die These von der sozial strukturierten Erinnerung und die Annahme, dass Vergangenheit entsprechend den Bedürfnissen der Gegenwart und den Plänen für die Zukunft gesehen und beschrieben wird. Erinnern ist ein selektiver Prozess, und die Auswahl dessen, was bewusst erinnert wird, was vernachlässigt oder auch was absichtsvoll vergessen wird, ist ein hochkomplexer Teil dessen, was oben als Vorgang der Konstruktion kollektiver Identität beschrieben wurde.97 Dieser Umgang mit der Geschichte sollte nicht an einem Ideal wissenschaftlicher Objektivität gemessen werden. Loewenstein nannte zwar das selektive Gedächtnis, die Verdrängung und die Relativierungen nationalistischer Geschichtskonstruktionen „infantil", und ähnlich hat Eugen Lemberg betont, solche Konstruktionen seien für Völker im Kampf um ihr nationales Bewusstsein besonders wichtig nach dem Erreichen ihres Ziels gewinne das Geschichtsbild an Traditionen aber entstehen und werden übernommen, wenn sie nützlich sind, wenn sie der Identitätsfindung, der Codierung dienen. Dies gilt für jede Geschichte, ob „wahr" oder „erfunden". Aus der Masse wird das herausgefiltert, was den Bedürfnissen der Gegenwart entspricht. Geschichte kann nicht bewusst konstruiert, „erfunden" werden, auch wenn der Titel weniger der Inhalt des gern zitierten Buches von Eric Hobsbawm dies implizieren mag. Eine klare Unterscheidung von „echten" und „falschen" Traditionen mag der Forderung nach historischen Fakten entsprechen, kritisches Hinterfragen von Überlieferungen mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden ist notwendig. Doch letztlich sind auch hier Zweifel angebracht, und das nicht erst seit Hayden White. Bereits Lévi-Strauss hatte im Rahmen seiner Untersuchungen des „wilden Denkens" die moderne Geschichtswissenschaft und ihre narrative Methode mit dem Mythenschatz so genannter „wilder" Kulturen Wenn es also um die Analyse von Geschichtsbewusstsein geht, so müssen Konstruktion und Instrumentalisierung von Traditionen um

-

-

Objektivität.99

-

-

-

verglichen.100

95

Vgl. u.a.: Scherrer: Requiem. Hopken: Geschichte und Gewalt. Davies: Perestroika. Halbwachs: Les cadres sociaux. Ders.: Mémoires collective. 97 Vgl.: Assmann: Kollektives Gedächtnis. Ders.: Das kulturelle Gedächtnis. LeGoff: Geschichte und Gedächtnis. Müller/Rüsen: Historische Sinnbildung. 98 Loewenstein: Identitäten, S. 266. 99 Lemberg: Nationalismus, Bd II, S. 46. 100 Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 292ff. 96

-

-

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-

Kramáfs Nationsverständnis

grundsätzlich akzeptiert werden, greifbar zu machen.

um

die

eigentliche

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Problematik des Themas

Tschechische Geschichtskultur Die Konstruktionen nationaler Identitäten im 19. Jahrhundert waren stets eng mit dem Aufbau neuer Geschichtsbilder verbunden. Eine möglichst lang zurückreichende Vergangenheit schien die nationale Existenz zu legitimieren. Mit diesem Kunstgriff versuchte man, den Makel, der so genannten „unhistorischen" Völkern anhaftete, zu übertünchen und die Konstruiertheit der Nation durch eine angeblich lange Existenz auszugleichen. Diese Betonung der Vergangenheit stand paradoxerweise in keinem Widerspruch zu der häufigen Selbstdarstellung als besonders fortschrittliche Nation. Einerseits legitimierte man mit dem vermeintlichen Alter die eigene nationale Existenz, andererseits aber wurde die Neuheit, Fortschrittlichkeit dieser Argumentation betont. Die Nationen waren alt und gleichzeitig jung eine Jugend, die ihre Bedeutung für die Zukunft erahnen ließ. Geschichte verlieh Transzendenz und schien die Sterblichkeit die sich nicht nur im Tod, sondern auch in der Tatsache eines Beginns zeigt zu überwinden. Das Versprechen, das die Nation als moderner wurde noch überhöht durch die Mythos allein durch ihre Existenz schon Konstruktion nationaler Geschichte. Die sprachliche Assimilation der Eliten von „kleinen Nationen" so auch der tschechischen führte dazu, dass die Sprache, die von Herder so hervorgehoben worden war, im frühen 19. Jahrhundert häufig nicht als vorrangiges Kriterium für die Nationsbildung fungieren konnte. Eine gemeinsame Vergangenheit sollte Ersatz für diesen Mangel bieten, und auch nach erfolgreicher Entwicklung, Normierung und Verbreitung der Volkssprachen blieb die Geschichte als nationales Identifikationsmoment von entscheidender Josef Jungmann schrieb 1827: „Es gibt zwei unzweifelhafte Zeichen der Nationalität: Geschichte und Sprache, d.h. Historie und Literatur, die Früchte des nationalen Lebens."103 Plaschka hat im Zusammenhang mit der These, die tschechische Nationsbildung sei als modellhaft für die identitätsstiftende Funktion von Geschichte zu sehen, das „historische Bewusstsein" sogar als den „wichtigsten Motor der tschechischen Entwicklung zu Nation und Staat" bezeichnet.104 Ein entscheidender Schritt in der Geschichtsschreibung wurde von Frantisek Palacky vollzogen, der in seinem monumentalen Werk über die Geschichte von Böhmen, später ins Tschechische übersetzt als Die Geschichte der tschechischen Nation in Böhmen und Mähren, ein Vergangenheitsbild anbot, dessen Hauptaspekte noch heute das tschechische Geschichtsbewusstsein prägen. Pa-

-

-

gab,101

-

-

Bedeutung.102

""

Smith: The

myth of the Modern Nation. Lemberg: Voraussetzungen und Probleme, S. 94. zit.n.: Rak: Byvali Cechové, S. 16. 104 Plaschka: Von Palacky bis Pekaf, S. 1. 102 103

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Der Blick auf das

Eigene

konnte an eine ansehnliche historiographische Tradition anknüpfen, die sich seit dem Barock in Böhmen entwickelt hatte. Seine These vom Hussitismus als lichter Höhepunkt einer vom Gegensatz zwischen Deutschen und Tschechen gekennzeichneten Geschichte setzte sich langfristig durch. Es folgten andere Historiker, die mit neuen Methoden und anderen Theorien seine Darstellung kritisierten und überzeugende anderslautende Konzepte lieferten. Sie verändernicht jedoch das tschechische Geschichtsbeten die Geschichtswissenschaft wusstsein, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten Wissenschaft und Bewusstsein deutlich auseinander.105 Insbesondere die Historiker der „GollSchule"106 arbeiteten an der Entwicklung einer modernen Historiographie. Obwohl sie dabei das Ziel verfolgten, „unsere", die tschechische Geschichte zu schreiben und so auch einen Beitrag zum Diskurs des Nationalen zu leisten, entfernten sie sich immer weiter vom sich entwickelnden allgemeinen Geschichtsbewusstsein. Ihre intensive Beschäftigung mit wenigen Abschnitten der Vergangenheit, ihr penibler Anspruch, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen", und selbstverständlich auch ihre mangelnden Skrupel bei der Zerstörung von Mythen entsprachen den Bedürfnissen nach einer nationalen Tradition nicht. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erhoben sich Stimmen gegen einen als zu eng empfundenen Historismus, die einen kreativeren Umgang mit der Vergangenheit forderten.107 Der wissenschaftliche, politische und künstlerische Nachwuchs, der sich ausdrücklich als „modern" verstand und sich teilweise als pokrokárství (Fortschrittlertum)108 organisierte, wandte sich gegen den Historismus, der so an Wirksamkeit verlor.109 Dieser neue Diskurs nationaler Traditionsbildung mit philosophischem Anspruch stand auf der Ebene zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewusstsein. Ebenso wie sich die nationale Idee im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter ausbreitete und bald nicht mehr nur die gebildete Elite, sondern über das Kleinbürgertum und die mittlere Intelligenz breite Massen erfasste, wurde auch die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Laufe der Phase C der Nationsbildung immer populärer. Schulischer Geschichtsunterricht wurde eingeführt,110 Romane mit historischen Themen fanden reißenden Absatz. Was hier entstand, war eine Geschichtskultur als gesellschaftliche „Erinnerungsarbeit" und ein Geschichtsbewusstsein, in dem die Vergangenheit zentrale Bedeutung ftir indivi-

lacky

-

105

Rat Byvali Cechové, S. 30. Die Bezeichnung bezieht sich auf den Historiker Jaroslav Goll (1846-1929), Professor an der Prager Universität (seit 1882 am tschechischen Teil), der als Begründer der tschechischen positivistischen Geschichtswissenschaft gilt. 107 z.B. Masaryk: Nase nynëjsï krize, S. 241. 108 Es handelte sich hier in erster Linie um eine Bewegung junger Studenten und Arbeiter in den 1890er Jahren. Sie stand in scharfem Gegensatz zu den Alttschechen, war aber mit den radikaleren Flügeln der Jungtschechen verknüpft. Zu den Vertretern gehörten: Alois Raäin, Antonin Pravoslav Vesely und vor allem Antonin Hajn. 109 Cornej: Lipanské ozvëny, S. 105. 110 Hroch: Historická beletrie, S. 19. 106

Kramáfs Nationsverständnis

57

Sozialisationsprozesse gewann. Diese Aspekte sind nicht voneinander zu und darüber hinaus eng mit dem Bereich der „Geschichtspolitik" verknüpft, in dem Geschichte als Instrument im politischen Diskurs genutzt duelle

trennen

wird."1 Insbesondere Denkmäler spielen in solchen Prozessen eine herausragende und komplexe Rolle," so auch im tschechischen Diskurs. Im Jahre 1873 wurde ein Denkmal für Josef Jungmann errichtet, das erste Denkmal für eine Schlüsselfigur der tschechischen Nationsbildung."3 Es folgten Ehrungen in

Stein für Karel Havlicek und Alois Jirásek, natürlich für Jan Hus und bald auch für Frantisek Palacky. Diese Denkmäler waren Selbstvergewisserung ebenso wie Meilensteine, welche die tschechische Nationalbewegung als Zeichen ihrer zunehmenden Stärke setzte, und mit denen sie ihren Anspruch auf Raum insbesondere in der Hauptstadt Prag demonstrierte. Wie brisant Geschichte sein kann, wusste auch die Prager Polizeidirektion, die den 1872 gegründeten studentischen Historicky klub sorgfältig beobachtete."4 Noch 1920 berief sich die Bodenreform auf die als ungerecht empfundenen Landkäufe nach 1620 und behandelte mit Hilfe dieses Arguments verschiedene Familien unterschiedlich; und es ist bezeichnend, dass es der Historiker Josef Pekaf war, der gegen diese Praxis Auch innerhalb der tschechischen Diskurse wurde die Interpretation der Vergangenheit politisch genutzt; der Machtkampf zwischen Jung- und Alttschechen entzündete sich immer wieder an Detailfragen. Wer das Recht und die Macht hatte, beispielsweise an einem Denkmal zu sprechen, konnte die Geschichte für sich Schon im Jahre 1867 hatte die populäre tóeory-Bewegung die ihre Zusammenkünfte ursprünglich nach irischem Beispiel meetings genannt hatte das Geschichtsbild Palackys aufgegriffen und sich demonstrativ mit dem Hussitismus identifiziert. Auch der große Erfolg von Romanen mit historischen Sujets und ebenso die Begeisterung für einschlägige Opern oder so genannte „lebendige Bilder" sind Elemente, die in diesen Zusammenhang gehören. Letztlich bilden alle gemeinsam einen Vergangenheit konstruierenden und kollektive Identität stiftenden Diskurs. Die Differenzierung sollte sich denn auch weniger auf ein Kriterium wie „Wahr-heit der Aussage" als auf die Motivation, Methode und vor allem Selbstdarstellung und -rechtfertigung der jeweiligen Autoren beziehen.

argumentierte."5

beanspruchen."6

-

-

-

111

-

Zu Geschichtskultur, -bewusstsein und -politik: Wolfrum: Geschichtspolitik, S. 383f. Vgl. u.a. Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal. Tacke: Denkmal im sozialen Raum. 1.3 Hojda/Pokorny: Pomníky, S. 54f. 1.4 Vgl. Dolezel: Historicky spolek, S. 106. 1.5 Pekaf: Omyly a nebezpeëi. Neuere Forschungen haben das Gesamtbild der Bodenreform differenziert dargestellt: Balear: Instrument im Volkstumskampf? Hier allerdings geht es nur um ein Beispiel der öffentlichen Nutzung von Vergangenheit im politischen Kontext. Die Frage nach der Motivation der verantwortlichen Ausschüsse, wie Balear sie untersucht hat, steht damit nicht in direktem Zusammen112

-

-

hang. 116

Sehr deutlich haben diesen

Machtkampf gezeigt: Hojda/Pokorny: Pomníky.

Der Blick auf das

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Eigene

Kramáfs Geschichtsbewusstein Die Argumentation mit „der Geschichte" spielte in Kramáfs Schriften eine bedeutende Rolle. Geschichte, die einfache Dauer einer bestimmten Ordnung, bildete für ihn bereits ein überzeugendes Argument. Jörn Rüsen nennt einen solchen Umgang mit der Vergangenheit „traditionelle historische Sinnbildung".117 Geschichte schien gegeben, um bewahrt zu werden und um beispielhaft zu wirken. Das Alter eines Systems, eines Bauwerkes oder einer Institution war häufig Grund genug für dessen Weiterbestehen. So schrieb Kramáf in bezug auf Russland vom Zusammenbruch der „gesamten, gewaltigen, doch durch 300jährige, große Geschichte geweihte Institution."118 An anderer Stelle findet sich die Aussage „Die Geschichte ist doch dazu da, damit wir aus ihr lernen"."9 Mit dieser traditionalistischen Haltung eng verbunden war das Bemühen, von der „Weisheit der Alten" zu lernen und später natürlich der von Eitelkeit nicht freie Anspruch, die Jüngeren sollten nun von ihm, dem in der Politik so Erfahrenen, Ratschläge annehmen. Geschichte als magistra vitae Rüsen spricht von -

„exemplarischer Sinnbildung".120 Kramáf etablierte mit dieser Haltung für sich eine Ordnung, in der das historische Recht ausschlaggebend war. Langjährige Erfahrung des Einzelnen und historische Verwurzelung von Kollektiven und Prinzipien bildeten für ihn die beste Absicherung für Entscheidungen und Ordnungen. „Welch ein Fehler, die -

feste historische Basis zu verlassen und sie wie alten Trödelkram anzusehen. Auch dieser alte Kram kann manchmal sehr wichtig und ernst sein."121 Alter und langfristige Entwicklungen, die der „Kultur", d.h. den sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten entsprachen, sah Kramáf als gewissermaßen natürlich an. „Zur Logik der Ereignisse fuhren häufig sehr lange und beschwerliche Wege. Aber nisse

Schluss siegt doch das, was natürlich ist, gesund, und was die Verhältverlangen, wie sie sich aus der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ganzer Jahrhunderte zusammengesetzt haben."122 am

Dies weist darauf hin, dass die Geschichte, so häufig sie auch als Argument herhalten musste, für Kramáf doch nicht der allein entscheidende Wert war, sondern dass die Idee des Organismus und allgemeiner der Begriff der Natur auch hier wieder eine entscheidende Rolle spielten. So waren die Länder -

-

117

Rüsen: Historische Orientierung, S. 16f. Kramáf: Die russische Krisis, S. 257 (Herv. M.W.) „historie je snad pfece ktomu, abychom se zní uëili." Kramáf: Pët pfednásek, S. 8. 120 Rüsen: Historische Orientierung, S. 17. 118 119

121

„Jaká jest to chyba, opoustëti pevnou historickou basi a dívat se na ni jako na starou vetes. I ta stará byti nëkdy velmi dúlezitá. TZNS, Bd I, S. 156. 122 „K logice událostí vedou cesty íasto velmi dlouhé, tëzké a klopotné. Ale naposled zvítezí jen to, co je pfirozené, zdravé, a co chtëji pomëry, jak slozily se politickym, sociálním i hospodáfskym rozvojem celych staletí." Kramáf: Poznámky, S. 73. vetea mûze



Kramáfs Nationsverständnis

59

Österreichs für ihn

„von der Geschichte, Kultur und Wirtschaft geschaffene natürliche Grundlagen der organischen Entwicklung."123 Ebenso wie die Nation war auch die Geschichte im Grunde ein primordialer Code für Kramáf. Die Problematik der Dichotomie von „historischem" und „natürlichem" Recht wird hier deutlich; denn auch das „historische" Recht wirkt als primordialer Code, ist auf eine als absolut, „natürlich" verstandene Kategorie bezogen. Mehr noch: Kramáf forderte kein Bewahren des Gewesenen um jeden Preis; was er bewahren wollte, war auch hier das Natürliche, das Organische. Der Begriff des Organismus war es auch, der eine Verbindung von Traditionalismus und Veränderungswillen möglich machte: Entwicklung dessen, was als positiv, natürlich betrachtet wurde, und Ablehnung dessen, was eine solche „organische Evolution" hätte verhindern oder unterbrechen können. Kramáf folgte nicht der rousseauistischen, von Montaigne begründeten Tradition, welche „die Geschichte" prinzipiell als naturwidrige, den Menschen in seiner Freiheit beschränkende Fessel begriff. Wenn sich in den Quellen dennoch häufig Verweise auf die Natur und die Forderung nach einer Abkehr vom gegenwärtigen, „unnatürlichen" Zustand finden, so war dies keinesfalls antihistorisch gedacht. Kramáf stellte vielmehr implizit das Bild einer idealen Geschichte dem der konkreten Ereignisse entgegen. Diese beiden Kategorien konnten einander entsprechen, mussten dies jedoch nicht tun. Das entscheidende Unterscheidungskriterium war für Kramáf wieder einmal die Nation. Die Idealgeschichte erlaubte den Nationen besonders der tschechischen eine freie, „organische" Entwicklung in einem optimal verfassten, an der Nation orientierten Staat. Die reale Geschichte wich leider häufig von diesem Ideal ab, was vor allem falschen, schematisch begründeten Entscheidungen geschuldet schien. Kramáf forderte also keine Rückkehr zur Natur, sondern eine Rückkehr zur wahren Geschichte. Das historische Recht schien in den meisten Fällen den richtigen Weg zu weisen, doch war es kein Dogma: „Und jeder, der für das historische Recht kämpft, muss sich die Frage stellen, ob er damit, wofür er kämpft, etwas Höheres, Besseres anstrebt."1 In einigen Fällen, in denen die politische Notwendigkeit in eine andere Richtung zu deuten schien, konnte er sich auch explizit gegen das Konzept des historischen Rechts aussprechen. So beispielsweise, wenn dieses zugunsten der Polen und gegen das von ihm favorisierte Russische Reich sprach: „Das historische Recht", so argumentierte Kramáf dann, „kann nur dann ein Recht auf eine Erneuerung haben, wenn hier keine Macht ist, die nach Gründen fragt, ob es überhaupt möglich ist, organisch an den status quo anzuknüpfen und ob seine -

-

1 ,,To jsou déjinami, kulturou, hospodafskym zivotem utvofené pfirozené základny organického Kramáf: O národnostní autonomii, S. 7. (Herv. M.W.) rozvoje." 124 „A kazdy, kdo za historické pravo bojuje, musí poloziti sobe otázku, zdali to, zaë zápasí chce nëëemu vyssímu, lepSímu." Kramáf: Ceské státní pravo, S. 59.

Der Blick auf das

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Eigene

Erneuerung mit den kulturellen Bedürfnissen der Gegenwart übereinstimmt." Und weiter: „Und wie sollte man die Erneuerung des polnischen historischen Rechts [...] mit den heutigen Ansichten über die Aufgaben des Staates vereinbaren?"126 Scheinbar konsequent zog er den Schluss: „Auch das historische Recht berechtigt die Polen nicht zu ihrer unnachgiebigen Haltung gegen alles Russische [...]. [Es] ist nur eine äußere Begründung für ihren leidenschaftlichen Hass."127 Geschichte war für Kramáf Berufungsinstanz und Instrument gleichzeitig. Wenn Rüsen die ästhetische, politische und kognitive Dimension der Artikula-

tion von Geschichtsbewusstsein benennt,128 so war für Kramáf nicht besonders überraschend die politische vorherrschend. Ein in dieser Hinsicht ganz typischer und nicht nur für Kramáfs Umgang mit der Geschichte bezeichnender Punkt war der so genannte odboj-Streh, die Debatte um den tschechischen antiösterreichischen Widerstand im Ersten Weltkrieg. Zwei Legenden wurden gegeneinandergestellt, der „Heimatwiderstand" (domáci odboj) auf der einen Seite und die „Auslandsaktion" (zahranicni akce) auf der anderen, man stritt um das Verdienst an der Staatsgründung und warf der Gegenseite loyales „Österreichertum" vor.129 Vertreten wurden die Legenden durch unterschiedliche politische Lager: Der rechte Flügel der Nationaldemokratie bildete den Kern des einen Lagers, die „Burg" das Zentrum des anderen die Persönlichkeiten Kramáf und Masaryk waren als Identifikationsfiguren von großer Bedeutung. Beide Gruppen beanspruchten das Verdienst an der Gründung der Tschechoslowakei und damit die politische Macht für sich. Instrumente in diesem Kampf waren unter anderem die Legionäre,130 die jeder auf seine Seite zu ziehen versuchte, argumentiert wurde auf politischer, weltanschaulicher und auch persönlicher Ebene. Vor allem in diesem Streit erschienen Nationaldemokratie und „Burg" als absolute Gegensätze; eine Strategie, die der Polemik diente, deren -

-

-

125 „Historické pravo müze mit jen tehdy oprávnenost na obnovení, není-li tu moci, která se neptá po dúvodech, lze-li je vûbec organicky navázati na stav pfítomny a srovná-li se jeho obnovení 5 kulturnimi

pozadavky pfitomnosti." Kramáf: Dojmy z Ruska. Hier zitiert Kramáf, K 55, S. 8. (Herv. M.W.) „A jak srovnati obnovení historického prava polského [...]

nach dem

Manuskript

in ANM Fond

s dnesními názory o úkolech státu?" S. 9. Ebenda, 127 „Po skromném mém soude neopravñuje Poláky tudíz ani historické pravo [...] k nesmifitelnému jich stanovisku proti vsemu ruskému. [...] je jen vnëjSim odûvodnënim pro váSnivé jich zásti?" Ebenda,

S. 16f. 128 Rüsen: Historische Orientierung, S. 2If. Vgl. auch Jeismann: Verlust der Geschichte? S. 16f. 129 Nur wenige Beispiele von vielen, in denen Kramáf Vorwürfe gemacht werden: Jak dr. Kramáf potíral ideu. Rozpad kramáfovské legendy. O pokrokovou stranu. Filosofie humanity. Umgekehrt hielten sich vor allem die Národní listy mit ihren Angriffen auf Masaryk kaum zurück. 130 Während des Ersten Weltkriegs kämpften ca. 90 000 Tschechen und Slowaken in so genannten Legionen ein Begriff, der erst nach 1918 geprägt wurde im Rahmen der französischen, italienischen und russischen Armeen. Militärisch von eher marginaler Bedeutung, bildeten die Legionen ein wichtiges Element der Argumentation für einen tschechoslowakischen Staat und nach 1918 einen bedeutsamen Teil der neuen Eliten. Vgl. Pichlik/Kllpa/Zabloudilova: Ceskoslovenäti legionáfi. Kucera: Vyznamní legionáfi. Alexander: Die Rolle der Legionäre. -

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Kramáfs Nationsverständnis

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Behauptungen aber der Wirklichkeit nicht entsprachen.131 Die Anfange der Debatte um die Interpretation des Weltkriegsgeschehens sind schon 1919 in der Korrespondenz zwischen Masaryk und Kramáf und ebenso in den Medien zu

erkennen,132 auf der öffentlichen Ebene wurde der Konflikt besonders 1921 und wieder 1926 manifest, hier hauptsächlich zwischen Benes und Kramáf ausgetragen. Wie sehr diese Debatte von politischem Interesse getragen war, zeigte die Instrumentalisierung von ooy'-Argumenten im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1927. Als das Interesse der Nationaldemokratie an diesem Amt abflaute, gingen auch die Angriffe auf Masaryk zurück. Obwohl das umstrittene Ereignis, die Gründung der CSR, hier nur wenige Jahre zurücklag, handelte es sich eindeutig um einen Fall politischer Instrumentalisierung von historischem Geschehen, um einen fast klassischen Gründungs- oder auch Schöpfungsmythos1 3; in der Geschichte verankert, handlungsleitend und herrschaftsbegründend.134

Der ästhetische Aspekt als Teil des „traditionalen" Typus spielte ñir Kramáf ebenfalls eine große Rolle. So konnten alte Gebäude in ihm ein Gefühl der Ehrfurcht oder auch Geborgenheit wecken, er schrieb seiner Frau aus der Stadt Pardubice:

„Auf dem Platz gibt es noch eine ganze Reihe alter Häuser, von denen einige ge-

radezu entzückend sind. Wie beleidigend ist daneben die banale moderne Architektur! Geradezu widerlich! Und der Zauber der Geschichte ist so stark, dass man auch das manchmal überladene Barock als so poetisch empfindet!"135

Dieser Zauber der Geschichte ließ Kramáf zuweilen sogar das schlechte Ansehen vergessen, welches das Barock im tschechischen Diskurs des Nationalen hatte. Die Eigenständigkeit der ästhetischen Dimension war jedoch sehr begrenzt; sie war eng mit der politischen Dimension verknüpft. Eine Rede, die Kramáf im Jahr 1912 anlässlich der Enthüllung des Palacky-Denkmals hielt, war weniger eine Laudatio auf den Historiker als vielmehr eine politische Rede, in der die alttschechische Partei nachträglich angegriffen und die Jungtschechen gelobt wurden.

131 Auf die vielfaltigen Kontakte zwischen den beiden Gruppen hat hingewiesen: Setfilová: Most mezi Hradem. Vgl. auch Alexander: Die Rolle der Legionäre, S. 176: „War die Mitarbeit von hohem Beamten und Politikern der Nationaldemokratie an der 'Burg'-Gruppe und am Staat das Ergebnis einer subtilen politischen Korruption, der gegenüber der Politiker Kramáf machtlos war?" 132 z.B. Klima: Jak se to venku dëlalo. Werstadi: Pro vëënou pamëf. 133 Vgl. Dux: Die Zeit in der Geschichte, S. 178ff. 134 Verschiedene andere Gründungsmythen in der tschechischen Kultur bei Raßloff: Gründungsmythen. 135 „Na namësti je jeäte cela fada starych domkû, z nichz nëkteré jsou primo rozkosné. Jak urázlivá je vedle toho ta banální moderní architektura! Pfímo protivná! A to kouzlo historie je tak silné, ze i nëkdy pfecpany barok ëlovëk nachází tak poetickym!" ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 2141. Brief an Abrikosova, ohne Datum, wahrscheinlich 1899. (Herv. M.W.) -

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Der Blick auf das

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Eigene

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Kramáf: „A na konec zádám, pánové, aby se nikdo z vas nepozastavoval, ze Sucharda vytesal Palackého jen tak z hruba. On tu bude sedët jen provisomë, nez umru

já..."

63

Kramáfs Nationsverständnis

„Palacky war der führende Politiker der tschechischen Nation, der geistige Führer von allem, was in unserer Politik im kritischsten Moment unserer politischen Geschichte geschehen ist, im Jahre 1848 und auch in den sechziger Jahren, und seine politische Größe leidet auch nicht darunter, wenn wir hier, vor seinem Denkmal, zugeben, dass diese Politik in einem Desaster geendet hat."'36 Dass dieser unverhohlenen Kritik ein noch deutlicherer Lobgesang auf die „positive Politik" und den Staatsrechtsgedanken im Sinne der Jungtschechen folgte, wurde ihm übel genommen. Eine Karikatur mit den Kramáf in den Mund gelegten Worten „Und schließlich bitte ich Sie, meine Herren, dass sich niemand beschwere, dass Sucharda Palacky nur so grob gemeißelt hat. Er wird hier nur so lange sitzen, bis ich sterbe" folgte Diese Quelle führt weiter zur dritten, der kognitiven Dimension. Kramáf gehörte nicht zu den Schöpfern einer nationalen Geschichte: Er hatte vielmehr die Funktion eines Multiplikators, der die von Intellektuellen auf zwei Ebenen von Fachhistorikern wie Goll, die sich um wissenschaftliche Forschung bemühten und von eher philosophisch orientierten Denkern wie Masaryk, die der Nation eine Geschichte geben wollten geschaffenen Geschichtsbilder übernahm, für seine Politik verwandte und an ein breiteres Publikum weitergab. Hier verband er ein unkonkretes Geschichtsbild, wie es Hroch als historické povédomí (etwa: ahnendes historisches Bewusstsein) im Gegensatz zum historické védomí (etwa: wissendes historisches Bewusstsein) bezeichnet hat,1 mit dem fast täglichen, sehr konkreten Umgang mit Geschichte als Entscheidungsund Rechtfertigungsinstanz. Kramáfs Blick auf die Vergangenheit war wertend und von der Gegenwart beeinflusst, aber nicht bewusst und eigenständig selektiv, nicht kreativ. Er unterschied zwischen richtiger und falscher Geschichte, doch er blendete die unerwünschte Realität nicht einfach aus. Kramáf verschloss sich nicht den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft und akzeptierte Zweifel an Mythen und an herkömmlicher Darstellung. Doch auch wenn er neue Erkenntnisse nicht ablehnte, so hatten diese doch keine Bedeutung für seienthalten im povédomí und Realität ne Interpretation von Geschichte. Ideal im védomí- zeigten sich voneinander unabhängig:

prompt.137

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-

war ein großer Historiker [...]. Heute gibt es aber die Quellenkritik, entdeckt viele neue, bisher unbekannte und unerforschte [Quellen], und vieles, was Palacky behauptet hat, [...] erweist sich heute als unhaltbar. Und doch bleibt die Geschichte Palackys für ewig das heilige Buch für das tschechische Volk. Diese Geschichte war für die Nation nicht nur 'der Erfahrungsschatz, den die Nation auf ihrem Lebensweg angehäuft hat, der Spiegel ihrer Tugenden und

„Palacky man

136 „Palacky byl vedoucím politikem ceského národa, dusevním vûdcem vseho, co délo se u nás v politice v nejkritictëjst chvíli naSí politické historie, v. r. 1848 i v letech sedesáfych, a jeho politická velikost neztrpí tím, kdyz i zde, pfed jeho pomnikem se pfiznáme, ze politika ta konCila plnym nezdarem." Rede Kramáfs zur Enthüllung des Palacky-Denkmals, S. 298. 137 Hojda/Pokorny: Pomníky, S. 100. 138 Hroch: Historická beletrle, S. 12f.

Der Blick auf das

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Eigene

Untugenden, Lehrer und Warnung, was die Nation tun und lassen soll', wie [Palacky] selbst die Aufgabe der Geschichte definiert hat, sie war der Nation viel mehr. Sie

war

und ist ihr Quelle

neuen

Selbstbewusstseins,

neuer

Lust

zu

schwe-

ren

Kämpfen, ein Buch der Begeisterung, des Schmerzes und der Träume von ei-

ner

besseren Zukunft."

Kramáfs Nationskonzept verlangte nach einer nutzbaren Deutung der Vergangenheit als „tschechische Geschichte", als national wirksamer Code. Im Prozess der Konstruktion eines Geschichtsbewusstseins bemühte er sich jedoch nicht, seine Behauptungen als historiographische Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch zu verkaufen. Er hat nicht den Schritt Masaryks nachvollzogen, der konkrete historische Ereignisse benutzte, um ein politisch-philosophisches Konzept zu belegen und sich dabei gern den Anschein des wissenschaftlich Arbeitenden gab.140 Für eine Geschichtsinterpretation wie diejenige Masaryks wäre ein Ausblenden wissenschaftlicher Erkenntnisse notwendig gewesen, eine zielorientierte Konstruktion, für die Masaryk dann auch von seinen Kritikern, allen voran von Pekaf, wiederholt angegriffen wurde. Masaryk verband historische Fakten und historischen Sinn, so lange ihm dies nutzbringend erschien, so lange die Ereignisse den von ihm postulierten Sinn argumentativ untermauerten. Bei einem Widerspruch zwischen beiden Feldern jedoch zog er sich auf die Position des Philosophen zurück, argumentierte gegen den angeblich blind auf Fakten bezogenen Positivismus der Historiker. So war es ihm möglich, im Handschrif-

tenstreit auf der Seite der faktenorientierten Wissenschaft zu stehen und sich in den Debatten mit Pekaf gegen eine positivistische Historiographie zu wenden und in beiden Fällen mit der „Wahrheit" zu argumentieren. Wenn Kramáf das häufige Dilemma zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und erwünschtem Sinn sah, so argumentierte er nicht philosophisch mit dem Begriff der Wahrheit sondern politisch mit dem der Nützlichkeit. Die Autorität des Nutzens war jedoch geringer als diejenige der Wahrheit Kramáf konnte sich folglich oft nicht aus dem Dilemma lösen und musste den Debatten um den Sinn der tschechischen Geschichte und um historische Mythen aus dem Weg gehen. Kramáf hatte die gängigen Mythen und Topoi, die das tschechische Geschichtsbewusstsein prägten und teilweise noch heute prägen, weitgehend entsprechend dem allgemein verbreiteten Code verinnerlicht. Das wurde deutlich, sobald er -

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,

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139

„Palacky byl velkym historikem [...] Pfichází vsak kritika pramenû, objevují se nové, posud neznámé neprozkoumané a mnohé, co Palacky tvrdil, ba dokonce nëkteré fundamental™ jeho these ukazují se neudrzitelnymi. A Palackého dëjiny zùstanou pfece jen navzdy posvátnou knihou ëeskému národu. Nebylyf národu jenom 'pokladem zkuaeností, které nabyl na dráze zivota svého, zrcadlem ctností a nectností jeho a uëitelem i vystrahou, ëeho se chápati a íeho se nechat má', jak sám definoval úkol dëjin, byly mu daleko vice. Byly a jsou mu zdrojem nové sebedûvëry, chuti k tëzkym svízelnym zápaknihou nadSení, bolesti a snu o lepsí budoucnosti. [...]". Rede Kramáfs zur Enthüllung, S. 298. süm, 140 „Correct knowledge of the past and present was, in his mind, identical with the recognition of the eternal will of the providence and only this knowledge appeared to him as relevant to man." SchmidtHartmann: Thomas G. Masaryk 's Realism, S. 127f. Vgl. auch Machovec: Thomas G. Masaryk, a

S. 109ff.

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Kramáfs Nationsverständnis

einen solchen

Topos aufgriff- doch kam dies erstaunlich selten vor.

65

Historisch

verortete Symbole des Diskurses des Nationalen sind in den Reden und Schriften Kramáfs viel seltener zu finden als beispielsweise in den Werken Masaryks.

Mehr noch: Kramáf hielt sich häufig explizit aus den Debatten um die Interpretation der Vergangenheit heraus, bemühte sich vielmehr oft ausdrücklich um Integration gegensätzlicher Meinungen und Traditionen. In einigen Reden wurden Topoi als rhetorische Mittel verwandt, teilweise bemühte sich Kramáf auch um eine Vereinnahmung von Persönlichkeiten und Symbolen der tschechischen Geschichte für die Sache der Nationaldemokraten doch hier reagierte er meist nur auf Herausforderungen durch andere Redner: „Zur III. Internationale zu gehören und hier [...] die Namen der Helden unserer Geschichte, Hus und Komensky, unnütz zu fuhren, das ist eine Sache, die sicher nicht einmal unseren Kommunisten leicht fallen kann",141 ebenso war er, auch hier in der Defensive, „fest davon überzeugt, dass [Palacky und Havlicek] so sprechen würden wie wir".142 Kramáf zeigte kaum Interesse, die nationale Geschichte neu und anders zu interpretieren; er übernahm die verschiedenen Topoi, wie sie von Jungmann, Palacky, Masaryk und anderen zusammengestellt worden waren. Wie eine Phrase wirkt es, wenn er in einem Redekonzept flüchtig notierte: „Wir treu dem Erbe Koll, Saf, Pal. und der Riegers und derer, die für unsere Freiheit gekämpft haben und gestorben sind"143 Wichtig war hier die Aufzählung einer im Grunde vorgegebenen Reihe von historischen Figuren, vor allem aber das auf die Nationaldemokratische Partei bezogene Pronomen „wir", welches nicht, wie das Verb, der Geschwindigkeit des Schreibens geopfert wurde. Die prä-kognitive Ebene, in der beispielsweise Persönlichkeiten als „narrative Abbreviaturen" wirken, wurde hier direkt mit einem politischen Kontext verknüpft. Kramáf nahm das nationale Geschichtsbild, wie es in verschiedenen Diskursen konstruiert worden ist, weitgehend, dabei aber keinesfalls dogmatisch an. Kritik von seiner Seite war dabei durchgehend und häufig explizit politisch motiviert, der Blick auf die Nützlichkeit historischer Interpretationen für die nationale Identität entscheidend. Ein recht gutes Beispiel bildet Kramáfs Umgang mit dem Mythos des Weißen Berges: Er verlangte eine klare Unterscheidung zwischen der kulturellen Unterdrückung, die der „Katastrophe" von 1620 gefolgt war hier übernahm er den Topos vom dreihundertjährigen Leiden des -

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141 „Patfiti k III. internacionále a zde [...] dokonce bráti nadarmo héroe nasí historie, Husa a Komenského, to je véc, která ani naäim komunistûm dojista nemûze byti lehká." TZNS, Bd IX, S. 2401. Interessant ist hier auch die Wortwahl: „bráti nadarmo" deutet auf das Gebot „nevezmes jméno bozího nadarmo"-„Du sollst den Namen des Herrn nicht unnütz führen" und damit auf die sakrale Überhöhung

der historischen 142

Figuren hin.

„Pevnë jsem pfesvêdcen, ze by mluvili tak, jak mluvime my." TZNS, Bd IV, S. 3716. 143 „My verni odkazu Koll, Saf, Pal. a Riegru i tèch, ktefi za naäi svobodu bojovali a umírali." (Gemeint sind Jan Kollár, Pavol Safárik, Frantisek Palacky und Frantiäek Ladislav Rieger.) ANM Fond K 55. Handschriftliches Konzept „Nelze nezabyvat se..." Kramáf, 144 Zu diesem Begriff vgl.: Rüsen: Historische Orientierung, S. 11 und 217. -

Der Blick auf das Eigene

66

tschechischen Volkes und des staatsrechtlichen Aspekts dieser Frage, hinsichtlich dessen er jede entscheidende Bedeutung der Schlacht am Weißen Berg ablehnte.145 Ähnlich übernahm er das Idealbild der Erwecker-Generation, kriti-

sierte jedoch auch hier das mangelnde Selbstbewusstsein, den Komplex des kleinen Volkes.146 Diese Argumente waren politisch motiviert und wurden auch so vermittelt, Kramáf bemühte sich nicht, hier als Neuinterpret der tschechischen Geschichte zu erscheinen. Im Handschriftenstreit beispielsweise erkannte Kramáf die wissenschaftlichen Argumente der Kritiker an, konnte jedoch Masaryks kompromisslosen Kampf um „die Wahrheit" nicht akzeptieren und wollte diese Debatte in den akademischen Rahmen verbannen.147 Gleichgültig, ob die Handschriften nun von der Warte des Wissenschaftlers aus gesehen echt oder falsch waren, in jedem Fall hatten sie der tschechischen Nation ein stärkeres Selbstbewusstsein und mehr Ansehen in der Welt verliehen und somit eine positive Wirkung erzielt so die Argumentation Kramáfs.1 Ähnlich pragmatisch verhielt Kramáf sich im Hinblick auf die Konkurrenz, die zwischen der traditionellen Wenzel-Verehrung und der Idealisierung des Hussitismus im 19. Jahrhundert entstanden war und jeweils zu einschlägigen Gelegenheiten so z.B. die Debatte um das Hus-Denkmal in Prag oder die innenpolitisch und diplomatisch folgenreiche Feier zum Gedenken an die Verbrennung Hus'149 wieder aufflammte. Kramáf wünschte sich eine Verbindung beider Traditionen um des einen Zieles willen: der nationalen Einheit.150 Damit wurde wieder das Latenzproblem berührt: Wenn Kramáf die Debatte um die Echtheit der Handschriften als im Grunde nebensächlich abtat und nur die Wirksamkeit für die kollektive Identität betonte, so gestand er die Konstruiertheit nationaler Geschichte ein. Geschichtsschreibung musste nicht faktographisch „wahr" sein, sondern national und politisch wirksam. Dieses Latenzproblem wurde jedoch geheilt durch die axiomatische Stellung der Nation, mehr noch: Kramáf konnte beispielsweise den Handschriftenstreit nur deshalb so großzügig bewerten, weil die Nation für ihn eine unantastbare, primordiale Kategorie war, der Debatten um möglicherweise gefälschte historische Dokumente nicht wirklich etwas anhaben konnten. Die Konstruktion bildete also kein wirkliches Problem, denn hinter ihr stand die echte, unstrittige Wahrheit der Nation. Kramáfs Geschichtsbewusstsein basierte offensichtlich stark auf einer emotional und prä-kognitiv geprägten Bewusstseinsebene. Ästhetische Aspekte -

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145

Kramáf: Ceské státní pravo, S. 8. Kramáf: Miada generace, S. 3. 14' AÚTGM MA Kor I. Briefe an Masaryk 19.8. und 9.9.1889. 148 Ebenda. Vgl. auch: Kramáf: Pamëti, S. 80 und 152f. 149 Als im Jahre 1925 das Gedenken an die Verbrennung Hus' mit einem Staatsfeiertag begangen wurde, führte dies zu einem Konflikt mit dem Vatikan, für den Hus immer noch ein Ketzer war. Der päpstliche Nuncius verließ Prag, erst 1927 konnte der Konflikt mit einem modus vivendi beigelegt werden. 150 Kramáf: Nase tradice svatováclavská a husitská. NL 13.8.1929. Na den sv. Václava v Kijevë 28.9.1934. Kramáf: Hlas, S. 13-15. 146

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Kramáfs Nationsverständnis

67

spielten eine wichtige Rolle. Die politische, ideologische Dimension im Umgang mit der Geschichte aber war deutlich auf einer bewussten, oft geradezu rational und sehr pragmatisch erscheinenden Ebene präsent. Die prä-kognitive Ebene legitimierte den pragmatischen Aspekt; eine scheinbar höher angesiedelte, von Mythen und Topoi repräsentierte Wahrheit verlieh Selbstverständlichkeit und den Rahmen, innerhalb dessen Geschichte politisch genutzt werden konnte. Vom Wert der Geschichte Kramáfs Geschichtsbewusstsein bildete sich in einer Zeit aus, die geprägt war von Diskussionen um den Historismus und damit letztlich um den Wert, welcher der Vergangenheit beizumessen war. Kramáf war stark von historistischen Ideen geprägt, auch zum Kreis um Goll stand er lange in engen Seine Betonung des historischen Rechts im Gegensatz zum Naturrecht gibt einen Hinweis auf diese Verbindung, ebenso die Bedeutung des OrganismusBegriffes in seinem Denken. Ganz im Sinne der These ,jede Epoche ist unmittelbar zu Gott" betonte er immer wieder die Notwendigkeit, jede Entscheidung und Institution in ihrem zeitlichen Kontext zu betrachten und lehnte eine unverhüllte Beurteilung vom Standpunkt der Gegenwart aus ab. Der konservative Charakter des historistischen Denkens, das in der noch lange wirkenden Tradition Hegels am Staatsgedanken orientiert war und Revolutionen klar zugunsten von kontinuierlicher Evolution ablehnte, entsprach auch Kramáfs Vorstellungen. Kramáf bewegte sich weitgehend im Denkmuster, das als juristisches Argument von der „historischen Schule" entwickelt worden war und als Historismus „zur Bildungsmacht des Bürgertums im 19. Jahrhundert wurde".152 Diesen von der Romantik geprägten Historismus verband er jedoch mit gewissen Elementen aufklärerischer Geschichtsschreibung. Organismusbegriff, historisches Recht und die Betonung der Gleichwertigkeit historischer Epochen standen so neben einem missionarischen Anspruch, neben dem Bemühen, mit der Geschichte zu erziehen und zu verändern.

Beziehungen.151

„Besonders im Geschichtsunterricht ist

es möglich, Beispiele für Ehrlichkeit, Selbstaufopferung und Vaterlandsliebe zu zeigen und gleichzeitig das Moment der Unsterblichkeit, der großen Taten gerade so, wie manchmal auch das ewige Verdammen der dienstbaren Schlechten."153 -

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151

Kucera: Pekaf proti Masarykovi, S. 19. Goertz: Umgang mit der Geschichte, S. 39. „Zejména v déjepisu mozno ukázati pfíklady poctivosti, sebeobétavosti, lásky k vlasti a zároveñ zrovna tak, jako nékdy nekoniící zatracování servilnë moment nesmrtelnosti, velikych skutkû spatnych." ANM Fond Kramáf, K 64. Möllersdorfer Heft I, S. 23. Es handelt sich bei dieser Quelle um zwei Notizhefte, in denen Kramáf während der Haft im Möllersdorfer Gefängnis Exzerpte seiner Lektüre und Gedanken zu politischen Plänen niederschrieb. Die Notizen sind zu lesen als eine allgemein gehaltene Zusammenfassung von Kramáfs politischen Ideen. Die Untätigkeit im Gefängnis gab ihm die Gelegenheit zu einem solchen Rundumschlag. Außerdem forderte die Lage des Jahres 1917, in dem die 152 153

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Der Blick auf das

68

Eigene

Um den Charakter von Kramáfs Geschichtsbewusstsein in seinem Verhältnis zum Historismus zu beschreiben, bietet sich die Herstellung eines Kontrastes an, wie er scheinbar größer kaum sein könnte: Der Gegensatz zwischen Karel Kramáf und Friedrich Nietzsche. Für ein besseres Verständnis der Gedanken Kramáfs erscheint eine Kontrastierung mit Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben als Folie, nicht als prägendes Werk15 hilfreich. Ein Philosoph, enfant terrible und nach eigenem Bekunden seiner Zeit weit voraus, heute von der Postmoderne als Kritiker der Vernunft und Verkünder der Subjektivität wieder entdeckt, steht also im Folgenden gegen einen Politiker, in dessen Denken und Tun sich oft gebrochen, meist unreflektiert viele Trends des 19. Jahrhunderts spiegeln. Die Schrift Nietzsches beginnt mit den Sätzen: -

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„Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich

an

den Pflock des

Augenblicks,

und deshalb weder

schwermütig

noch

überdrüssig" und fährt fort: „so lebt das Tier unhistorisch: denn

es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrigbleibt [...]. Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die große und immer größere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde."I55

Nietzsche sprach vom Ziel des Glücks, der Freiheit und der inneren Ausgeglichenheit. „Unschuld ist das Kind und das Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen."156 Er Ereignisse sich überschlugen, die Situation aber gleichzeitig völlig offen erschien, ein solches Fazit, aus dem spätere Pläne erwachsen konnten, heraus. Es ist zu erkennen, dass Kramáf sich hier besonders auf Russland konzen-trierte, und tatsächlich bilden diese Notizen eine Grundlage für ein neues Russland. Dennoch sind es grundsätzliche und weitgehend allgemeingültige Ideen, die er hier zu Papier gebracht hat. Bei aller Konkretheit bezüglich der Vorstellungen beispielsweise zu Kommunalverwaltung und Schulwesen hielt Kramáf sich doch mit genauen Bestimmungen z.B. hinsichtlich des Herrschers oder der Kirche, die eine Zuordnung ermöglicht hätten, zurück. 154 Kramáf dürfte das Werk Nietzsches nicht gekannt haben. Der Philosoph wurde erst seit 1894 unter tschechischen Intellektuellen prominent, als die anarchistische Moderni revue den damals sehr gewagten Versuch unternahm, einen Text des Philosophen zu drucken. Tomek: Cesky anarchismus, S. 46. In den folgenden Jahren allerdings wurde Nietzsche in intellektuellen Kreisen intensiv rezipiert und diskutiert. Selbst wenn Kramáfs dann Arbeiten von oder über Nietzsche gelesen haben sollte was den Dokumenten zufolge eher unwahrscheinlich ist kann zumindest hinsichtlich des Geschichtsbildes ein direkter Einfluss abgelehnt werden. 155 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil, S. 12f. (Herv. i.O.) 156 Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 27. -

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Kramáfs Nationsverständnis

69

im Gegensatz zu Kramáf, der eben die gleichen an das Vergessen Ziele durch das Erinnern zu erreichen suchte. Vom Nutzen und Nachteil der Historie war eine Streitschrift gegen den Historismus. Nietzsche wandte sich gegen die Vorstellung, man könne das Wesen eines Menschen, einer Nation, einer Institution aus der Geschichte ablesen. Genau in diesem Diskurs aber befand sich Kramáf: Die Geschichte war für ihn Erklärung und Legitimation (traditionale historische Sinnbildung) ebenso wie Lehrmeisterin (exemplarische historische Sinnbildung). Die Wissenschaften des späten 19. Jahrhunderts arbeiteten vornehmlich historisch, ein Umstand, aus dem nicht nur methodische, sondern auch theoretische Konsequenzen folgten. Man glaubte nicht nur daran, die Geschichte als Erklärungsansatz nutzen zu müssen, sondern war auch davon überzeugt, mit dieser Methode alles erklären zu können. Gegen beide Folgerungen argumentierte Nietzsche. Er wandte sich gegen eine mit historischen Fakten arbeitende Wissenschaft, die mit ihrer Detailbesessenheit „das Leben" zu erdrücken schien und über der Vergangenheit Gegenwart und Zukunft vergaß, ebenso wie gegen den Anspruch, alles erklären und so letztlich die Welt beherrschen zu können. Ebenso wie Nietzsche lehnte auch Kramáf wissenschaftlichen Positivismus ab und setzte gern den Begriff des „Lebens" als Kontrast gegen eine detailbesessene und damit scheinbar am Leben vorbeiführende Wissenschaft. Ein interessanter Unterschied aber ergibt sich, wenn man diese Gemeinsamkeit weiter verfolgt. Kramáf orientierte sich, wenn er gegen den Historismus schrieb, zurück, verherrlichte „die Geschichte" und reagierte nur negativ, indem er bestimmte Dinge einfach nicht wissen wollte. Nietzsche dagegen blickte nach vorn, lehnte die Vergangenheit als Wissenspool und Argument ab und schlug eine positive Strategie vor: Das aktive Vergessen. Gegen die moderne Schule des Historismus standen also zwei Strategien zur Verfügung: Einerseits die rückwärtsgewandte, antimodernistische, wie sie Kramáf anwandte, und andererseits die zukunftsorientierte, vielleicht gar als postmodern zu bezeichnende157 Methode Nietzsches. Nietzsche formulierte eine wertende Typologie der Arten, mit Geschichte umzugehen: eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische, wobei Kramáf deutlich den beiden ersteren zuzuordnen wäre. Fortschrittsglaube und Orientierung am Großen, Bedeutsamen in der Geschichte verbanden sich in der monumentalischen Form.

glaubte

-

das seines Volkes oder das der Menschheit insgesamt; er flieht vor der Resignation zurück und gebraucht die Geschichte als Mittel gegen die Resignation. Zumeist winkt ihm kein Lohn, wenn nicht der Ruhm, das heißt die Anwartschaft auf einen Eh-

„Sein Ziel aber ist irgendein Glück, vielleicht nicht sein eignes, oft

157 Zur Postmodernität Nietzsches in Orientation.

Bezug

auf den

Umgang mit Geschichte vgl. de Jong:

Historical

Der Blick auf das

70

Eigene

renplatz im Tempel der Historie, wo er selbst wieder den Späterkommenden Lehrer, Tröster und Warner sein kann."15 Dieses Bild beschreibt Kramáfs

Hoffnungen sehr treffend:

„Und glaube mir, dass es Stunden gab, in denen mich nur das, was ich bin, und das, was ich in der Geschichte meiner Nation sein werde, davon abhielt, ernsthaft daran zu denken, wie ich all den Qualen für immer ein Ende bereiten könnte." I59 Dies war der ehrgeizige, aber auch hoffnungslos pathetische Politiker in Kramáf. Der Romantiker zeigte sich im antiquarischen Umgang mit der Geschichte, dem zweiten Typus nach Nietzsche: Kramáf, der alte Architektur und Kunst bewunderte und neueren Werken vorzog, der lieber bewahrte als veränderte. Der dritte Typus hingegen, für Nietzsche der entscheidende, war Kramáf fremd: der kritische Umgang mit der Geschichte, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können [...] ; jede Vergangenheit aber ist es wert, verurteilt zu werden."160 Kramáf wollte nicht über die Vergangenheit richten, er sah sie vielmehr als Richterin an. Eine solche Rolle der Richterin hatte man der Geschichte erst zugeordnet, als sie im 18. Jahrhundert zu einem objektlosen Kollektivsingular wurde, „der die Summe einzelner Geschichten als 'Inbegriff alles in der Welt geschehenen' bezeichnet"161 und so als Forschungsgegenstand, aber auch als politisches Argument verfügbar schien. Die Revolutionäre Frankreichs nahmen für sich in Anspruch, die Geschichte auf ihrer Seite zu haben, und die Gegenseite, vor allem Edmund Burke folgend, argumentierte mit demselben Begriff. „Denn erst in dieser Zeit, als die Kritik an jeglicher Tradition zum erstenmal in der Geschichte Europas bis zu den möglichen Extremen ausgedehnt wurde, konnte 'Geschichte' als absolutes Subjekt überhaupt gedacht werden."1 2 Das säkularisierte Europa kannte kein Gottesgericht mehr, sondern nur mehr den Schiedsspruch der Geschichte. Die Geschichte war zu einem Feld menschlichen Handelns anstatt göttlichen Willens geworden. Auch Nietzsche ging von einem solchen Begriff aus, kritisierte jedoch die Folgen dieses Konzepts. Er weigerte sich, die Geschichte als eine grundsätzlich bewahrens- oder auch nur untersuchenswerte Einheit anzuerkennen, verlangte vielmehr eine an der Gegenwart orientierte Auswahl aus der Gesamtheit. Der verallgemeinernde Blick auf „die Geschichte" mache sie beliebig und verfügbar und liefere sie der Willkür sich als Wissenschaftler aufspielender Dilettanten 158

Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil, S. 26. „A vëf, ze byly chvile, kdy mne jen to, co jsem, a co budu v historii svého národa, zdrzelo od toho, abych váine nepomyslel na to, jak navzdy udëlat konec väem mukám." ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 3127. Brief an Kramáfová 31.12.1926. (Herv. M.W.) 160 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil, S. 40. 161 Brunner/Conze/Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd II, S. 648. 159

162

Conze: Nation und

Gesellschaft, S. 2.

Kramáfs Nationsverständnis

71

aus. Ebenso wehrte er sich gegen die Vorstellung von der Geschichte als Richterin der Gegenwart. Kramáf dagegen nahm die Rede vom Gerichtsstand der Geschichte sehr ernst, stellte sich dem Auftrag, den die Geschichte als selbständige Instanz zu vergeben hatte. Er empfand Verantwortung in dreifacher Weise. Zunächst Verantwortung gegenüber der Geschichte: Gemeint ist ein gewisser Traditionalismus, der von einer Legitimierung der Verhältnisse allein durch ihre zeitliche Dauer ausging. Außerdem Verantwortung vor der Geschichte: Die Verpflichtung, welche die drohende Rechtsprechung durch die Geschichte mit sich brachte, indem sie die Institution eines göttlichen Gerichtes wenn nicht ersetzt, so doch zumindest entscheidend ergänzt hatte. Kramáf berief sich häufig auf zukünftige Historiker, welche objektive Geschichte schreiben und welche die gegenwärtige Politik vor allem natürlich seine eigene Person endlich gerecht beurteilen würden. Und schließlich Verantwortung für die Geschichte: Das Bewahren nationaler Denkmäler, nationaler Kunst war für ihn „die furchtbarste Verantwortung, die wir haben".164 Vergangenheit musste bewahrt, archiviert und den Kommenden zugänglich gemacht werden. Geschichte als Verpflichtung und Richterin, gerecht und doch Furcht erregend in ihrer überwältigenden Größe und Bedeutung. Sie war jedoch auch Steinbruch tur Argumente und Rechtfertigungsinstanz, die Berufung auf die Geschichte allein reichte häufig als Begründung für eine Forderung aus. Die Dauer als selbständiger Wert, das Alter als Argument: Was sich bei Kramáf durchgängig fand, lehnte Nietzsche entschieden ab. Die Jugend stellte dieser als positiv, neu, lebendig gegen das Alter. In Übereinstimmung mit seiner Lobeshymne auf die grasende Schafsherde zog Nietzsche das Sein, den Augenblick vor. Kramáf dagegen betonte hier ganz Historist das Werden. In diesem Kontext ist auch die Rolle des Individuums nicht unproblematisch: Nietzsche sah den Einzelnen durch die Überbetonung der Geschichte gefährdet. Und doch ist es gerade der Historismus gewesen, der das Individuelle in der Geschichte betont hatte gegen das gesetzmäßige Denken der Aufklärung. sich auch in diesem Raum in widersprüchlich erscheinender Kramáf bewegte sich zwar ausdrücklich gegen jeden historischen MaterialisWeise. Er wandte mus, doch die Rolle des Einzelnen erschien ihm schwierig. Zwar hielt er das „Ablehnen jeder Bedeutung großer Individuen in der Geschichte"165 für falsch und betonte, Fortschritt könne letztlich nur von energischen Einzelpersonen erreicht werden,166 doch kritisierte er individuelle Entscheidungen häufig als schematisch. Ob Kramáf die Aussagen Bismarcks „Ein willkürliches, nur nach subjektiven Gründen bestimmtes Eingreifen in die Geschichte hat immer nur -

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163 164

z.B. TZNS, Bd III, S. 179.

„Jest to nejstrasnëjsi odpovëdnost, kterou mame." TZNS, Bd IV, S. 24. „odmítání kazdého vyznamu velikych individualit v historii." Kramáf: Král Eduard, NL 8.5.1910. I6Í Kramáf: Poznámky, S. 61. 165

Der Blick auf das

72

Eigene

das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt" und „Wir können die Uhren vorstellen, die Zeit geht aber deshalb nicht schneller"167 kannte, ist ungewiss; sicher ist jedoch seine Bewunderung für diesen „großen Staatsmann, einer der des XIX. Jahrhunderts".168 Der Glaube an Bismarck als großen Mann der Geschichte stand hier neben der Ablehnung Maria Theresias als Frau der falschen Entscheidungen.

größten

„Was die Natur so unterschiedlich erschaffen hat, was Kultur und Geschichte von Land zu Land so charakteristisch hervorgebracht haben, all das, was zu seiner Entfaltung nur ein wenig freie Bewegung, liebevolle Pflege und Wahrung der Individualität brauchte, damit es der gemeinsamen Dynastie zu einer festen und zu-

Stütze werde all dies hat Maria Theresia nicht gesehen. Sie hat die Länder zertreten und zusammengeworfen und an die Stelle der Entwicklung und der Geschichte vieler Jahrhunderte ihren eigenen Geist gesetzt, der die neue Form beleben sollte."169

verlässigen

-

Viele Probleme der Gegenwart waren somit „die Erbschaft der Selbstüberschätzung Maria Theresias."170 Bismarck dagegen war für ihn ein zu bewundernder Vertreter des „alten Deutschland" und fiel schließlich nur der überstürzten Industrialisierungs- und Expansionspolitik Wilhelms II. zum Opfer. Hinter diesem scheinbaren Widerspruch von Entwicklung und Initiative findet sich die Vorstellung von einer historischen Logik, einer historischen Gerechtigkeit,171 die letztlich wieder am Begriff des Organismus und an der Vorstellung vom Natürlichen orientiert war. Was sich in der Geschichte durchsetzte, waren Kramáf zufolge vor allem Ideen. Große Männer Frauen weniger konnten demzufolge Geschichte machen, wenn sie sich gegen „neue Ideen, auch wenn es nicht die ihren sind, nicht wehren"172 und ihre Entscheidungen an der historischen Logik, d.h. organisch ausrichteten. Diese historische Logik orientierte sich an der Nation. Der Einzelne konnte für Kramáf Erbe der Romantik nur als Teil eines organischen Kollektivs existieren. Und um noch einmal den Kontrast zu Nietzsche aufzugreifen: wenn dieser nichts mehr befürchtete, als nur die Position eines Epigonen, eines Nachkommen einzunehmen, war es für Kramáf eben wünschenswert und geradezu konstituierend, ein Nachkomme zu sein, ein -

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-

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167

zit.n. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 273. „velky státník, jeden z nejvetäich XIX. století." Kramáf: Pët pfednáaek, S. 15. „Co pfíroda tak rûznë vytvofila, co kultura a dëjiny od zemë k zemi tak svérázne vypëstily, vse to, co ku svému rozvinu jen trochu volného pohybu, láskyplné péíe a Setfení individuality potfebovalo, aby spoleëné dynastii utvofilo pevnou a spolehlivou oporu väeho toho Marie Terezie nevidëla, seälapala, naházela k sobë zemë a na mista vyvoje a dëjin mnohych století postavila svého ducha, ktery novy útvar 168

169

-

mël oziviti." Kramáf: Ceské státní pravo, S. 35. 170 „Nepokoje vnitfního vyvoje, vnitfní slabost Rakouska, stále nerozfeSená otázka koneCného, vsechny uspokojujícího rozluStení utváfení monarchie jest dëdictvim sebepfeceñování Marie Terezie." Ebenda, S. 35. 171 „Dejinná spravedlnost není niëim jinym, nez logikou dëjin." „Die historische Gerechtigkeit ist nichts anderes als die Logik der Geschichte." Kramáf: Poznámky, S. 6. 172 „nebránili se novym mysïenkam, i kdyz nebyly jejich." Ebenda, S. 78. -

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Kramáfs Nationsverständnis

73

Nachkomme in einer großen nationalen Tradition. Denn obwohl er den Begriff Geschichte auch überwiegend ohne zugehöriges Objekt verwandte, ging Kramáf doch ganz historistisch gedacht von einer Geschichte der Nationen aus. Geschichte war für Kramáf national strukturiert, Identifikation mit der „eigenen" Geschichte selbstverständlich. -

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Vom Sinn der Geschichte In diesem Kapitel war unter anderem die Rede vom „Sinn" der Geschichte ein Begriff, der eine nähere Problematisierung verdient. Es handelt sich hier um eine relativ neue Die Geschichte ist zum selbständig verwendbaren Begriff erst seit dem 18. Jahrhundert geworden als ein Element der Säkularisierung des Weltverständnisses. Einen Sinn schrieb man der Geschichte zumindest im deutschen Sprachkreis erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu. Die Wortverbindung weist hin auf die Bedeutung, welche die Geschichte als Instanz im Weltbild erhalten hat und gleichzeitig auf einen neu empfundenen Wer nach dem Sinn fragt, vermisst ihn, reflektiert Selbstverständliches und erscheint damit als gefährlicher Störenfried. Im tschechischen Diskurs hat Masaryk in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Frage nach dem Sinn der Geschichte der tschechischen Geschichte aufgeworfen. Er rief damit Widerstand hervor, ein Umstand allerdings, mit dem er offenbar gerechnet hatte: -

Wortverbindung.173

Mangel.174 -

-

-

„Ich begreife die tschechische Frage hier nicht im politischen Sinne, im Sinne der politischen Praxis, sondern ich verstehe darunter eine soziologische Analyse aller der Geheimnisse, die sich dem aufdrängen, der den Sinn der tschechischen Geschichte begreifen will, der erkennen will, wodurch wir als besondere Nation kulturell leben, was wir wollen, was wir hoffen. Welche Gründe haben wir für nationales Bemühen und von welcher Art sind diese Gründe? Ich weiß nur zu einem nationalen Verrat erklärt wurde und wahrscheinlich wieder erklärt werden wird."175 unser zu

gut, dass diese Frage

Eine ähnlich kritische Haltung hatte darauf spielte Masaryk hier an bereits acht Jahre zuvor sein Freund Hubert G. Schauer in seinem kontrovers diskutierten Artikel Unsere zwei Fragen eingenommen.17 Auch Palacky hatte von der Richtung, dem Inhalt und der Tendenz der Geschichte,1 7 nicht allerdings ausdrücklich von ihrem „Sinn" geschrieben. Masaryk benannte in verschiedenen Büchern den „Sinn" der tschechischen Geschichte, wie er ihn sah. Die entscheidenden historischen Punkte waren hier der Hussitismus und die Epoche der „nationalen Wiedergeburt", zwei Perioden, die Masaryk in direkten Zu-

173

Zur Begriffsgeschichte: Stückrath: „Der Sinn der Geschichte". Rüsen: Was heißt: Sinn der Geschichte, S. 22. 175 Masaryk: Ceská otázka, S. 3 (Herv.i.O.) 176 Schauer: Naäe dvé otázky. 177 Palacky: Déjiny národu Ceského, S. 17ff. 174

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Der Blick auf das

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Eigene

sammenhang setzte. Mit dieser Schwerpunktbildung begründete er argumentativ sein Geschichtsbild, in dem Protestantismus gegen Katholizismus und Demokratie gegen „Theokratie" standen. „Es gehört zu den Hinterlisten der Geschichte gegenüber ihren Philosophen, dass sie sie dazu verführt, auch Historiker sein zu wollen"178 Masaryks Konstruktion war angreifbar, und entsprechend wurden die Schwächen von fachhistorischer Seite immer wieder moniert. Er hatte sich sehr stark auf Palackys Geschichtskonzept berufen, und das, obwohl dieser die später als Fälschungen erkannten Königinnenhofer und die Grünberger Handschrift als wichtige Quellen verwandt hatte. Dass ausgerechnet Masaryk, der sich so entschieden für eine Entlarvung der Fälschungen eingesetzt hatte, sich so deutlich auf Palacky bezog, war eine willkommene Ironie. Der behauptete Zusammenhang von Hussitismus und „nationaler Wiedergeburt" war wissenschaftlich leicht zu widerlegen, ebenso die Behauptung vom angeblich genuin protestantischen Charakter der Tschechen. Die polemische Heftigkeit des Streites, wie er sich insbesondere zwischen dem Goll-Schüler Pekaf und Masaryk abspielte, wäre vielleicht zu vermeiden gewesen der eigentliche Disput jedoch nicht. Ein Historiker, in der positivistischen Tradition des Historismus ausgebildet, an sorgfältige und detailgetreue Arbeit mit Quellen gewöhnt, sah sich konfrontiert mit einem politisch ambitionierten Philosophieprofessor, der diese Form der wissenschaftlichen Arbeit als unsinnig verwarf und mit großzügigen Strichen ein Bild der tschechischen Geschichte skizzierte, das seinen Plänen entsprach. Auf der einen Seite stand hier methodisch reflektierter, um Objektivität bemühter Historismus, auf der anderen explizit formulierter Antihistorismus, der die Vergangenheit nur auf die Gegenwart beziehen wollte. Wissenschaftliche Wahrheit stand gegen philosophische Wahrheit, ein historisch denkender Relativismus gegen den Anspruch, Geschichte „sub specie aeternitatis" zu betrachten. Dass auch inhaltliche Widersprüche bestanden, dass Pekaf beispielsweise das Barock, die Hussiten und den Einfluss deutscher Kultur anders beurteilte als Masaryk, ist dabei so selbstverständlich wie nebensächlich. Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewusstsein, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voneinander entfernt hatten, trafen also sehr bald schon wieder aufeinander, als Gegensätze und Rivalen. Die Debatte, die sich vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre hinzog und ihre Höhepunkte in den Jahren vor dem Weltkrieg und um 1928 erlebte, ist in die Annalen eingegangen als der „Streit um den Sinn der tschechischen Geschichte"180 und wird gern als tschechische Besonderheit angesehen: „Keine -

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18

Meyer: Ernst Jünger, S. 19. Vgl. vor allem: Pekaf: Masarykova eeská fdosofie. Dazu ist ein umfangreicher Sammelband erschienen: Have/ka: Spor o smysl. Poznámky. Machovec: Ke sporu. Zu den verschiedenen Sinnbegriffen: Stefek: 1

180

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Vgl. auch: Dolezal: K otázce. -

Kramáfs Nationsverständnis

75

andere nationale Historiographie stellt sich die Frage nach dem Sinn der Geschichte der eigenen Nation so wie die tschechische."181 Es waren aber nicht nur unterschiedliche Konzepte, mit denen auf eine Frage geantwortet wurde, es waren vor allem auch unterschiedliche Fragen, die man stellte. Mit zwei Sinnbegriffen wurde in der Debatte um die Geschichte operiert: Während Pekaf nur Zusammenhänge und Konstanten bestimmen wollte „es geht hier im Grunde um nichts anderes als die Erkenntnis der Hauptfaktoren der historischen Entwicklung und die Erklärung der so geschaffenen Zusammenhänge"182 -, suchte Masaryk nach einer Legitimation und einem Ziel, einer Erklärung für die Notwendigkeit der Existenz der tschechischen Nation.183 Bemerkenswert ist, dass ein Aspekt in der umfangreichen Kritik kaum angesprochen wurde: Masaryk hat in seiner Formulierung dessen, was er als „den Sinn der tschechischen Geschichte" bezeichnete, sehr allgemeine Werte beschrieben. „Aller Sinn unserer Geschichte ist darin verschlossen: Das humanistische Ziel von der moralischen und vernünftigen Seite her zu begreifen, vollkommen zu begreifen, dass die reine Menschlichkeit nicht nur eine Losung der Wiedergeburt sein darf."184 Es ist heute kaum einzusehen, warum dies der Sinn ausgerechnet und exklusiv der tschechischen Geschichte sein sollte. Die Herdersche Tradition von der in Nationen gefassten Menschheit und die Kollársche Formulierung „Und stets, wenn Du ausrufst Slave! soll Dir ein Mensch antworten!", waren es, die hier eine scheinbar selbstverständliche und gegenseitige Legitimation von Menschheit und Nation anboten. Kramáf stand zwischen den Parteien der Debatte um den Sinn der Geschichte. Er war vom Historismus geschult und glaubte bis zu einem gewissen Grad an die Möglichkeit der Wissenschaft, wahre Erkenntnisse zu liefern. Auch historische Relativität war ihm wichtig, und er empfand eine ausgeprägte Achtung vor der Vergangenheit. Andererseits war er ein stark national denkender Politiker, der ein Konzept für seine Arbeit und einen Halt für die noch im Entstehen begriffene Nation suchen musste, der in der Gegenwart tätig war und in die Zukunft blickte. Der Vorwurf gegenüber Pekaf und anderen Historikern, sie vergrüben sich in Details, leisteten aber der Nation mit ihrer Arbeit keine Hilfe, muss auch Kramáf nahe gelegen haben. Doch äußerte er sich kaum zu diesem

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181

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Hanzal: Josef Pekaf, S. 32. „Nejde tu v podstatë o nie jiného nez o poznání hlavních faktorû dëjinného vyvoje a vyklad souvislostí tím vytvofenych." Pekaf: O smyslu, S. 386. 183 Jaroslava Pesková unterscheidet weitgehend den Sinn als Ziel vom Sinn als Bedeutung und formuliert auf dieser Basis zwei Probleme, Identität und nationale Existenz. Man könnte hier auch von der eigenen, in diesem Falle nationalen, Teleologie und der Legitimation m Rahmen einer globalen oder europäischen Gesamtheit, einer Eingliederung also in diese größere Teleologie, sprechen. Dies dürfte bereits deutlich machen, wie eng diese beiden angeblich unterschiedlichen Sinnbegriffe zusammenhängen. Angesichts von Masaryks Geschichtskonzept dann, in dem die Tschechen eine besondere Rolle als demokratische Nation in einer die Demokratie anstrebenden Welt spielen, erscheint eine so weitgehende begriffliche Differenzierung, wie Pesková sie vornimmt, überflüssig. Pesková: Role védomí, S. 37ff. 184 Masaryk: Ceská otázka, S. 144. 182

Der Blick auf das

76

Eigene

Thema; wurde sein Geschichtsbild, dies sei noch einmal wiederholt, mit widersprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert, so verweigerte er die Entscheidung und flüchtete sich gern zu einer höheren „Wahrheit". Es war das Dilemma zwischen

Objektivität

tik, Vergangenheit und Gegenwart

und die

Subjektivität, Wissenschaft und PoliKomplexität von Geschichtsbewusst-

sein -, das ihn zu einem solchen Ausweichmanöver zwang. Kramáf beteiligte sich nicht an der Debatte um den Sinn der tschechischen Geschichte; noch 1906 wies er ein solches Ansinnen sogar explizit zurück.185 Diese Zurückhaltung des sonst so streitbaren Politikers weist auf eine besondere Form des Umgangs mit nationaler Vergangenheit hin. Anstatt das Sinnproblem zu diskutieren, zog er sich auf den Begriff der „Wahrheit" zurück; manchmal sprach er auch vom Inhalt der Geschichte oder beschrieb ihren Geist: „Der Geist unserer Geschichte, ihr tschechischer, slavischer Geist, ist die glühende Liebe zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit und zur wirklichen Freiheit."186 Erst im Jahr 1922 hielt Kramáf eine Rede mit dem Titel Der Sinn der tschechischen Geschichte. Er stellte hier ein eigenes allerdings nicht besonders originelles Geschichtskonzept vor, in dem der „tschechische Idealismus", das „Wiedergeborenwerden der Nation" und ein bürgerlicher Nationalismus sowie die enge Verbundenheit zu Russland die entscheidenden Elemente bildeten.187 War noch 1906 das Thema des Sinns der Geschichte zu provokant erschienen, als eine Problematisierung des Selbstverständlichen und eine Infragestellung der damals noch zugunsten Kramáfs gelagerten Machtverhältnisse, so hatte sich die Situation 1922 gründlich geändert. Kramáf hatte nun selbst ein Interesse daran, die Machtverhältnisse zu problematisieren und letztlich umzukehren, und die Frage nach dem Sinn der tschechischen Geschichte gehörte nun in sein Programm eines entschiedenen Nationalismus. Nicht zu unterschätzen ist auch die Etablierung dieser Frage, die inzwischen erfolgt war und selbst den konservativen Kramáf erreicht hatte. Was 1894 eine Provokation gewesen war, hatte sich inzwischen zu einem Dauerthema entwickelt, dem auch Kramáf nicht mehr ausweichen musste. Noch immer aber stellte Kramáf die Frage nach dem Sinn nur in der Bedeutung, wie auch Pekaf sie kannte: Sinn als Kontinuität und Besonderheit der tschechischen Geschichte. Das Problem der Bedeutung der Nation im globalen Sinne jedoch, nach der Existenzlegitimation also, berührte Kramáf nicht. Die Legitimation der Nation in Frage zu stellen hätte ein Rütteln an den Grundfe-

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Kramáf: 186

Poznámky,

S. 1.

„Duchem nasfch dëjin, jejich duchem ëeskym, slovanskym je horoucí láska k pravdë, k spravedlnosti a k opravdové svobodë." Kramáf: Ceské státní pravo, S. 13. 187 Kramáf:

Smysl ëeskych dëjin, NL

14.10.1922.

Kramáfs Nationsverständnis

sten seines

77

Weltbildes, eine Problematisierung des wichtigsten aller Orientie-

rungscodes bedeutet

eine Herausforderung für einen ßes Risiko aber für den Politiker, der Kramáf war. -

Philosophen,

ein

zu

gro-

Der Blick auf das

7S

Eigene

Kramár zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft In Kramáfs Denken und Politik findet sich ein interessanter Widerspruch, der ihn für seine Zeitgenossen mitunter unglaubwürdig erscheinen ließ und den er selbst ständig aufs Neue zu heilen versuchte mit dem Instrument der Nation, der nationalen Einheit. Kramáf wurde als Zugehöriger des Bürgertums, ja des Großbürgertums betrachtet und gefiel sich in dieser Rolle; dies jedoch nur in -

Bezug auf einen bestimmten Habitus, ein auf Kleidung, Lebensform, Umgang beschränktes Selbstbild. Wenn er aber Antworten auf brennende soziale Fragen seiner Zeit suchte, so lehnte er jede Argumentation mit dem Problem der Klas-

senstruktur ab und berief sich auf das Bild einer auch sozial einheitlichen Nation. Als Kramáf im Jahre 1884 nach Berlin kam, um dort in Prag hatte er bereits promoviert seine Studien fortzusetzen, machte ihm ein Problem zu schaffen, das zu einem der prägendsten des 19. Jahrhunderts geworden war: Die Krise des wirtschaftlichen Liberalismus und die sich daraus ergebenden sozialen Folgen. Zunächst hatten sich Angehörige der Kirchen vor allem aus caritativer Motivation heraus mit den sozialen Missständen welche die Industrialisierung mit sich gebracht hatte, bald entwickelten sich verschiedene Formen des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Als Kramáf sich mit dem Thema auseinanderzusetzen begann, hatte die Problematik schon längst ihren Weg in die „hohe Politik" gefunden. Selbst die Regierung Österreichs, welche die „soziale Frage" lange als ein auf Deutschland begrenztes Problem betrachtet hatte, sah sich spätestens seit 1868 angesichts eines Manifestes der Arbeiter gezwungen, diesen Problemkomplex zu betrachten und nach Lösungen zu suchen. Hatte man das Phänomen des Pauperismus in den 1840er Jahren noch als „gewöhnliche" Hungersnöte betrachten können, so erzwangen Demokratieund Arbeiterbewegung nach 1848 mehr und mehr eine Änderung des Standpunktes. Der Wiener Börsenkrach von 1873 schließlich bezog auch die bisherigen Gewinner der wirtschaftlichen Veränderungen mit ein. Kramáf schrieb in einem frühen Tagebucheintrag vom „Kampf Richters190 mit Bismarck", der ihn in einen Zwiespalt der Meinungen stürzte. -

-

beschäftigt,188

„Mit

wem soll ich übereinstimmen? Ich bin an einer Kreuzung angelangt. Dort soziale Reformen, die mir so sympathisch sind, und hier wieder der unbezähmbare demokratische Geist, der nicht einmal den eisernen Kanzler fürchtet und mutig ihm dem Fehdehandschuh hinwirft. Gibt es denn keine Versöhnung zwischen

Bahar: Sozialrevolutionärer Nationalismus, S. 35. Urban: Ceská spoleînost, S. 265. Gemeint ist Eugen Richter (1838-1906) von der Fortschrittspartei, später

Freisinnige Partei.

Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft den beiden Gegnern? Es ist Mensch ich noch bin."191

offensichtlich,

was

für ein

79

politisch unfertiger

Liberaler Kapitalismus auf der einen Seite, soziales, am primordialen nationalen Code orientiertes Denken auf der anderen: Dieser Gegensatz erinnert sehr an die Dichotomie Ferdinand Tönnies': Gemeinschaft und Gesellschaft. Kramáf und verfugte nicht über dessen prägnante Bewar kein Nachfolger Tönnies' grifflichkeit, doch bewegte er sich in dem gleichen umfassenden Diskurs, der auch das Denken dieses Soziologen beeinflusst hat: bestimmt von dem Problem der bekannte Strukturen auflösenden Moderne.

Kramáf als Vertreter des Bürgertums Die Definition der sozialen Stellung Kramáfs erscheint schwierig; dies hängt nicht zuletzt zusammen mit den grundsätzlichen Schwierigkeiten der Applikation eines westeuropäischen Bürgertumsbegriffs auf Ostmitteleuropa. Ebenso wie die Position Kramáfs mehrdeutig ist, zeigt sich auch die Entwicklung des Bürgertums in der tschechischen Geschichte komplex. Viele historiographische Arbeiten der letzten Jahrzehnte haben die Definition des Bürgertums als Kultur, als spezifische Form von Lebensweisen bestätigt und illustriert.193 Die Untersuchung von Selbstverständnis und Lebensgestaltung ergänzt die Beschreibung sozialer Gruppen nach ihrer Funktion und ihrem Einfluss in der Gesellschaft, m und beide Wege führen erneut zur These Webers vom Bürgertum als typisch okzidentales soziales Element. Hier zeigt sich die böhmische bzw. tschechische Situation wieder einmal als von Transformation, von Übergängen zwischen West- und Osteuropa geprägt. Das tschechische Bürgertum ähnelte dem westeuropäischen, insbesondere allerdings dem deutschen Typus; es entwickelte sich jedoch mit einer Verzögerung von zwanzig bis vierzig Jahren.195 Allgemein wird erst für die Zeit seit den 1840er Jahren von der Entstehung eines tschechischen Bürgertums gesprochen, und auch dann entsprach die Entwicklung nicht dem westeuropäischen Modell: Die Urbanisierung 191

„S kym souhlasit? Jsem na rozcesti. Tarn sociální reformy, kteréz mne jsou tak sympatickymi, a zde opët nezkrotny demokraticky duch, jenz neleká se ani zelezného kancléfe a smële mu vrhá rukavici v boj. Coz není smíru mezi tëmito protivami? Patrno, jak politicky nehotovym jsem jeatë cïovëkem." Sis: Dr. Karel Kramáf

I, S. 23. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Ob Kramáf Tönnies kannte, ist unklar: Offenbar hat Tönnies selbst, wenn auch seine Ideen Wirkung zeigten, im tschechischen Diskurs keine besondere Rolle gespielt: Im Buch von Bláha: Ceskoslovenská sociologie beispielsweise taucht er nicht auf. Masaryk allerdings kannte Tönnies. Masaryk: Nova Evropa, S. 132. 193 Vgl. u.a. Koselleck/Spree/Steinmetz: Drei bürgerliche Welten? Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus. Docker: „BUrgerlichkeit und Kultur". Hettling/Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel. 194 Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 20-33. 195 Kofalka: Tschechische Bildungsbürger, S. 210. 192

Vgl.

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Der Blick auf das

80

Eigene

hielt sich in Böhmen in relativ engen Grenzen, die soziale Differenzierung bildete keine so deutlichen Grenzen aus wie in Westeuropa. Auch waren weitreichende Familienstrukturen lange Zeit von größerer als man dies für Westeuropa feststellt. Erst in den 1860er Jahren begannen tschechische Bürger, ein größeres Selbstbewusstsein als soziale Gruppe zu entwickeln. Bildung, so entscheidend für bürgerliche Karriere und Persönlichkeit, war durch die Ausgestaltung eines höheren Schulwesens nun auch in tschechischer Sprache zugänglich. Der nationale Opportunismus insbesondere von Unternehmern und die von der patriotischen Gemeinschaft lange Zeit als gefährlich empfundene weit verbreitete Bereitschaft, ökonomischen Erfolg vor nationales Engagement zu stellen,197 konnten nun langsam abgebaut werden. So entwickelte sich ein tschechisches Bürgertum, das nationale und soziale Identität demonstrierte, indem es eigene Wege in Politik und Kultur, aber auch in Mode und gesellschaftlichem Leben ging. Die Geschichte des tschechischen Bürgertums ist jedoch zweigeteilt; in den 1860er Jahren wurde eine traditionelle bürgerliche Kultur die nur wenige Familien einschloss, politisch den Alttschechen zugeordnet, mit Bequemlichkeit, nationaler Indifferenz und Sicherheitsdenken assoziiert wurde und ihren Platz vorrangig in Salons fand überholt von einer eher kleinbürgerlichen, politisch und national aktiven, sich revolutionär gebärdenden und in Massenveranstaltungen sammelnden Bewegung.199 Die Geschichtsschreibung konzentriert sich meist auf das kleinbürgerliche Milieu, das als typisch für die tschechische nationale Entwicklung gilt, für Pragmatismus und geringen Wohlstand steht. Der Blick auf die traditionelle großbürgerliche Kultur, die an Zahl wie Einfluss tatsächlich nicht sehr ins Gewicht fiel, ist eine Ausnahme.200 In Kramáfs Persönlichkeit sind beide Diskurse zu finden. Er wurde als Sohn eines ehrgeizigen Handwerkers geboren, der offensichtlich auch enormes politisches Interesse und nationale Ambition aufzuweisen hatte tschechisches, vom Lande und Handwerk ausgehendes, jedoch in die Stadt und zur Industrie strebendes kleines bis mittleres Bürgertum also. Sein späteres Leben unterschied sich von diesem Milieu radikal: Kramáf lebte das Leben eines Großbürgers, mit Sommersitzen auf der Krim und im Riesengebirge, er ging auf die Jagd und nutzte ein Automobil, seine Frau hielt sich regelmäßig in den böhmischen Kurorten auf.201 Das wohlhabende Bürgertum machte das als privat

Bedeutung,196

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196

Svátek: K dejinám sociálních élit, S. 197. Horská: Pfedstavy ceské prûmyslové burzoazie, S. 151. 198 Urban: Ceská spoleínost, S. 230f. Ders.: BUrgerlichkeit, S. 205. 199 Urban: Ceská spoleínost, S. 234. 200 Eine solche bildet: Svátek: K dejinám sociálních élit. 201 Über Kramáfs recht großzügigen Lebensstil geben viele Dokumente in seinem Nachlass Auskunft, so die Rechnungen für die verschiedenen Wohnsitze in ANM, Fond Kramáf, K 83. Dass dies allerdings auch aufgrund der Wirtschaftskrise nicht dauerhaft durchzuhalten war, zeigt schon der Vergleich der zwei Testamente von 1906 einerseits und von 1932 andererseits, die eine deutliche Verringerung seines Vermögens zeigen. ANM Fond Kramáf, K I. 197

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Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

81

Deklarierte öffentlich: Der Zustand der Ehe befand sich ebenso auf dem Prüfstand der Gesellschaft wie die „Talente" der Gattin oder auch die Auswahl der Wohnungseinrichtung. Hobsbawm schreibt über die Wohnkultur des westeuropäischen Bürgers: „Indeed, so long as he lived in the city, by definition an image of the urban social hierarchy, even the average member of the bourgeoisie could hardly avoid indicating nay, underlining his place in it by the choice of his address, or at least of the size of his apartment."202 Der Bau von „Kramáfs Villa" in dieser Formulierung bis heute ein Begriff durch den Stararchitekten Ohmann war von Planungen und Befürchtungen begleitet,203 die eines deutlich machten: Dies war nicht nur ein Haus, dies sollte ein Ereignis werden, ein das Bild und den Charakter der Stadt bestimmendes Element. Es demonstrierte in Größe, Stil und Lage die Stellung, die Kramáf in der tschechischen Gesellschaft einnehmen wollte. Insbesondere die Nähe zur für den tschechischen Diskurs des Nationalen so wichtigen Prager Burg symbolisierte Kramáfs Anspruch auf Macht und seinen Disput mit Masaryk. Robert SetonWatson beschrieb das Anwesen mit den Worten: „his famous house [...], occupying a commanding position above the river as it were, jealously watching its rivals on the neighbouring castle hill."204 Wenn Kramáf sich seine Frau als Muse eines Prager Salons träumte, so verknüpfte sich auch hier das Bild des westeuropäischen Bürgertums, dem er nacheiferte, mit dem tschechischen nationalen Diskurs. Nadëzda sollte eine Identifikationsfigur werden, doch moralisch einwandfreier als Bozena Nëmcova sein und kulturell engagierter als Zdenka Havlícková205; ihre Aktivität sollte sich auch nicht wie im tschechischen Diskurs üblich206 auf Wohltätigkeit und Frauenbildung bei Kaffeekränzchen (kaficko) und somit die Verwirklichung des Bildes der kleinen Nation beschränken. Der Anspruch wurde höher gesetzt; offenbar zu hoch, wurde doch das Haus der Kramáfs zwar zu einem Treffpunkt russischer Emigranten, nicht jedoch zu einer Konkurrenz für die Masarykschen jours fixes. -

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203 204

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Hobsbawm: The Age of Empire, S. 167. Sis: Dr. Karel Kramáf, S. 90f. (Artikel „Moje zena") Seton-Watson: Karel Kramáf, S. 189.

205 Zur Stilisierung der Tochter Karel Havlííeks: Borovicka: Kauza Karel Havliëek Borovsky, S. 207238. 206 Die Bedeutung der Frauen im tschechischen nationalen Diskurs wird unterschiedlich bewertet. Von einer nur von Männern betriebenen Nationalbewegung ist tatsächlich kaum zu sprechen, doch erscheint eine Differenzierung nach einzelnen Bereichen sinnvoll. Frauen waren im Bereich der Bildung und des sozialen Engagements tätig und dienten als Identifikationsfiguren fur die Nation, die Politik blieb jedoch, was nicht überrascht, lange den Männern vorbehalten. In den letzten Jahren wurde zu diesem Thema, inspiriert von den durch die Soziologin Jifina Siklová sehr engagiert aufgegriffenen gender studies, eine ganze Reihe von Arbeiten verfasst. Eher skeptisch bezüglich der Rolle im Frauen im nationalen Emanzipationsprozess: Lenderovà: K hfichu, bes. S. 174-182. Über den Zusammenhang von nationalem Engagement und gesellschaftlicher Emanzipation: Vosahlíková: Ceská zena. Neudorflová: Ceské zeny. Vgl. auch: Horská: Nase prababiëky. -

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Der Blick auf das

82

Eigene

Zwischen dem Handwerkersohn im Städtchen Vysoké und dem in Prag residierenden Großbürger lag eine lange Entwicklung. Schon früh allerdings befand Kramáf sich in einer besonderen Position: Ohne finanzielle Schwierigkeiten konnte er sich auf sein Studium konzentrieren, konnte seine Bildung durch ausgiebige Reisen vervollkommnen. Diese Chance erhielt er durch das Wohlwollen seines Vaters ebenso wie durch dessen beruflichen Aufstieg. Petr Kramáf war einer von vielen Entschlossenen, welche die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu „Gründerjahren" machten und einer von nicht ganz so vielen, die erfolgreich waren und blieben. Insbesondere die Textilindustrie konnte, trotz der Krise von 1873, bis zur Jahrhundertwende und einige Jahre darüber hinaus Bildung war eine der wichtigsten Errungenwelche die Mittelschicht neue nutzen wollte208; und so konnte auch schaften, Kramáf die höheren Schulen durchlaufen. Während der ersten Jahre in Prag scheint Kramáf das ganz normale Leben eines tschechischen Studenten geführt zu haben. Später aber gestaltete er seinen Lebensstil entsprechend dem Ideal des Großbürgers, wie es in vielen Teilen Europas vorgeführt und auch von der zahlenmäßig geringen Schicht der gesellschaftlichen Elite in Böhmen gelebt wurde, wie es jedoch nicht der Norm und auch nicht der Normalität der tschechischen Gesellschaft entsprach. Zwei Photographien können als Sinnbilder für diesen Wandel Kramáfs betrachtet werden: Zunächst ein Bild aus Studentenzeiten, auf dem Kramáf ausgesprochen lässig, mit einem Bierglas in der Hand, von rauchenden und musizierenden Kommilitonen umgeben, abgebildet ist,209 und als Kontrast eine Aufnahme, auf der er mit seiner sehr distinguiert wirkenden Ehefrau am Esstisch in der wie ein Schloss anmutenden Sommervilla zu sehen ist.210 Während andere Politiker und Intellektuelle sowohl vor als auch nach 1918 einen betont lockeren, von ausgelassener Fröhlichkeit geprägten Lebensstil gab sich Kramáf, der eigenen Aussagen zufolge im Jahr 1882 zum letzten Mal getanzt hatte,212 nach seiner Studentenzeit seriös. Diese Haltung war nicht auf Moralismus und prinzipielle Abstinenz zurückzuführen, wie sie beispielsweise bei Masaryk deutlich zu erkennen waren, sondern auf das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer besonderen gesellschaftlichen Gruppe. Sicher hat die Ehe mit Nadëzda Abrikosova-Kramáfová ihm nicht nur die finanziellen Möglichkeiten, sondern auch die Werte eines solchen großbürgerlichen Lebens vermittelt. Allerdings ist dabei zu vermerken, dass bereits die Hochzeit mit einer ausländischen Frau, das Ausbrechen also aus dem eng gefassten und -

expandieren.207

pflegten,2"

207

Horská: Pfedstavy êeské prùmyslové burzoazie, S. 146f. Svátek: K dejinám sociálních élit, S. 194f. 209 Sis: Dr. Karel Kramáf I, S. 116a. S. 172a. ""Ebenda, 2.1 Zur Bedeutung der Kneipe als Ort der Kommunikation wie als Symbol: Macura: auch die Erinnerungen des Teilnehmers des „Freitagskreises": Langer: Byli a bylo. 2.2 Kramáf: Pamêti, S. 56. 208

Hospoda.

Vgl. -

Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

83

Der Blick auf das

84

Eigene

gut organisierten tschechischen bürgerlichen Heiratsmarkt,213 ungewöhnlich Möglicherweise haben bereits die Einflüsse, die er auf Reisen durch Europa gewonnen hatte, ihn aus dem Milieu der tschechischen Mittelschichten herausgeführt und seinen Weg in eine stärker elitär geprägte Richtung gelenkt. war.

es die Kontakte zu wohlhabenden und adligen russischen Emidie Villa zu einer exklusiven Adresse machten. Kramáf war Kramáfs granten, also als tschechischer Kleinbürger geboren, hatte sich jedoch im Laufe seines Lebens, ermöglicht durch eine für tschechische Verhältnisse ungewöhnliche finanzielle Absicherung, durch Reisen und durch die Ehe mit der einer höheren gesellschaftlichen Schicht angehörenden und über beträchtliches Vermögen verfügenden Abrikosova, zu einem Mitglied der schmalen tschechischen großbürgerlichen Schicht entwickelt. In seinem Denken verbanden sich elitäre Haltung und großbürgerlicher Stolz stets mit der Idealisierung des tschechischen Kleinbürgertums. Kramáf passte in den tschechischen großbürgerlichen Diskurs, in dem nationales Engagement und auch Begeisterung für den tschechoslowakischen Staat recht selten waren,214 bezüglich des Lebensstils, weniger jedoch hinsichtlich der politischen Haltung hinein. Umgekehrt passte sein Lebensstil nicht in den vom Kleinbürgertum getragenen Diskurs des Nationalen.215 Wenn Kramáf sich bemühte, nationales Denken mit (groß-) bürgerlicher Position in liberaler Tradition nicht nur zu verbinden, sondern beide Elemente als untrennbar darzustellen, so wirkten seine Thesen vom demokratisch denkenden und sozial handelnden tschechischen Bürgertum oft als Verteidigung gegen Angriffe nicht nur aus sozialistischer Richtung, sondern auch aus dem vorherrschenden, kleinbürgerlichen Diskurs.

Später waren

-

-

Die tschechische kleine Nation

"

,,

Neben der bürgerlichen Position Kramáfs stand ein national orientiertes Gemeinschaftsdenken. Von entscheidender Bedeutung war hier der Topos der kleinen und das hieß zunächst vor allem adelslosen und einheitlichen tschechischen Nation.216 Ansätze zu einer solchen Idealisierung finden sich in der -

-

213

Vgl. Simunková: Statut, odpovëdnost a láska. Svátek: K dejinám sociálních élit, S. 182 und passim. Hier ist natürlich zu unterscheiden zwischen der sozialen, kleinbürgerliche geprägten Struktur und der Idealisierung der „kleinen", also auch kleinbürgerlichen Nation. Dass diese Idealisierung keinesunumstritten war, zeigt u.a. Salda: Ceästvi a Evropa. wegs 216 Der Begriff der „kleinen Nation", wie er hier verwendet wird, bezieht sich weniger auf den von Hroch geprägten Begriff, der eine messbare Situation (eine Nation ohne Staat und Elite) beschreibt, als auf die Idealisierung und Problematisierung, wie sie in verschiedenen Schriften des tschechischen Diskurses des Nationalen zu finden ist. Kein sozialhistorischer, sondern ein mentalitätsgeschichtlicher Terminus also obwohl beide Bereiche natürlich Schnittmengen aufweisen. Vgl. einerseits u.a. Hroch: Das Bürgertum, S. 337f. Andererseits z.B. Schauer: Nase dvë otázky und klassisch: Masaryk: Pro214

215

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85

Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

tschechischen Literatur schon seit dem frühen 18. Jahrhundert.217 Im 19. Jahrhundert dann komponierten verschiedene Aspekte ein Gesamtbild: Die Herdersche Idealisierung des Volkes mit seiner eigenen, als rein und unverdorben stilisierten Kultur, die Begeisterung der Biedermeierzeit für alles Kleine,218 die romantische Verklärung des Landlebens in ganz Europa und die seit 1789 offen konfliktorientierte Beziehung zwischen Bürgern und Adligen verbanden sich mit den besonderen tschechischen Verhältnissen. Die kleinbürgerlich bestimmte nationale Bewegung und der Patri-otismus des Adels fanden dort keine gemeinsame Basis, der moderne tschechische Nationalismus konnte sich anders als z.B. der polnische und der magyarische nicht mit dem Adel identifizieren. Die Kooperation der tschechischen Nationalpartei mit dem Adel seit 1860 gehörte zu den zentralen Kritikpunkten der jungtschechischen Partei. Wenn es auch eine starke böhmische Aristokratie gab, so entwickelte sich doch kein tschechischer Adel von Bedeutung die Tschechen konnten sich somit, auch wenn die Verhältnisse vollkommen andere waren als beispielsweise in der Slowakei oder der Ukraine, als eine adelslose Nation sehen. So bot sich die Landbevölkerung, der einfache, hart arbeitende Bauer als nationaler Hauptakteur an. Bereits Josef Jungmann hatte der Landbevölkerung die entscheidende Rolle in dem zugewiesen, was man heute als Nationsbildung bezeichnet und was Jungmann als ein „Bewahren" verstand. Obwohl die bürgerliche Bewegung von 1848 die Landbevölkerung nicht nur als ergebenen Verbündeten, sondern auch als potenziellen Konkurrenten sah, kam spätestens in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die romantische Verklärung des Landlebens und die Idealisierung des Bauern wieder voll zum Tragen: Man sammelte Volkskunst und kleidete sich in stilisierte Trachten. Was daran Mode war, unterlag der in dieser Branche schon damals wirkenden kurzen Halbwertzeit, die Idee jedoch blieb bestehen. Anlässlich der Ethnographischen Ausstellung des Jahres 1895 bemühten sich Organisatoren und Medien wieder um eine Einführung solcher am „traditionellen Stil" orientierten Kleidung allerdings erfolglos, denn besonders französische Mode verkaufte sich weit besser. Doch auch wenn man sich nicht mehr selbst in Trachten mit gestickten Schürzen kleidete, so war doch das Interesse an dem, was man für das typisch tschechische Landleben mit all seinen regionalen Besonderheiten hielt, ungebrochen. Die Ausstellung konnte ihren größten Erfolg mit einer Präsentation der „echt tschechischen" Hütte (chaloupka) verbuchen. Der Wunsch nach Identifikation wird auch in folgendem -

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-

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Gedicht deutlich: blém malého národa. Krejcí: Pravo eksistence. národa. Hrbata: Romantis-mus a Cechy. 217 Rat Byvali Cechové, S. 85. 218 Macura: Znamení zrodu, S. 26 zeigt dies am Literatur. 219 Stepánová: Kalendárium, S. 45.

Aus der

neueren

Literatur: Solle: Problem malého

-

Beispiel

der

Blumenmetaphorik

in der tschechischen

Der Blick auf das

86

Eigene

„Unsere Hütten, seid gesegnet

obgleich von Regen und Sturm geschlagen obgleich von der ganzen Welt übersehen, so seid Ihr doch auf Eurem Platz eigene Herren!"220 Auch die Landwirtschaft wurde idealisiert mit grotesken Details: So wurde ein Denkmal für die Gebrüder Veverka, die Erfinder des Sturzpfluges (ruchadlo), errichtet. Der Dichter Jan Neruda hielt die Lobrede für die Geehrten, musste jedoch eingestehen, dass ihm Begriff wie Instrument unbekannt waren.221 Das Bild eines einfachen Volkes, das trotz aller Widrigkeiten seinen nationalen Charakter aufrecht erhält, erwies sich als außerordentlich erfolgreich. Aus der Idealisierung der Landbevölkerung entwickelte sich eine allgemein formulierte Ablehnung höherer und wohlhabenderer Schichten:222 Ein echter vlastenec (Patriot) musste vom Lande kommen, zumindest aber aus ärmeren Verhält-

mssen

stammen.

223

Die tschechischen Legenden und Sagen enthalten Erzählungen, in denen populäre Fürsten die Nähe zum tschechischen „einfachen" Volk dem Kontakt mit der deutschen Adelswelt vorziehen. Selbstverständlich ist eine solche Traditionsbildung kein Einzelfall, andere Nationen kennen diese Form der Idealisierung ebenfalls. Übrigens handelt es sich offenbar nicht einmal um ein Spezifikum von Nationen, denen eine „eigene" Elite fehlt: Mythen von Herrschern, die ursprünglich Bauern gewesen waren bei den Tschechen war es Pfemysl Orác (Pfemysl der Pflüger), den ein Pferd direkt vom Acker zum Thron leitete finden sich auch bei Völkern wie Ungarn und Polen, sogar bei den Römern.224 Im tschechischen Diskurs des Nationalen verband sich mit diesem Mythos jedoch nicht nur der Topos der Ursprünglichkeit und ein Anspruch auf das Territorium, das man „eigenhändig" bearbeitet hatte, sondern darüber hinaus die Idealisierung der unteren Schichten schlechthin und die Ablehnung, oft geradezu das Leugnen der Exi-stenz von sozial und politisch besser gestellten Gruppen. Dazu kam das Element der Opfermentalität, die sich vor allem in der Stilisierung des Traumas von 1620 manifestierte. Diese Form der Selbstdarstellung -

,

-

220

„Chaloupky nase, bud'te pozehnány / ze tfebas destëm, vichrem oälehany / ze tfebas celym svëtem pfezírány, /jste na svém miste dosud svymi pány!" zit. n.: Ebenda, S. 62. Zum Topos der Hütte als europäisches Symbol der Idylle, zur Adaption dieses Topos durch die tschechische Nationalbewegung und zur Reklamation als spezifisch tschechisches Element: Macura: Chaloupka projekt idyly. 22i Hojda/Pokorny: Pomníky, S. 73-78. 222 Rak: Byvali Cechové, S. 93. 223 Hroch dagegen hat gezeigt, dass der größte Teil (fast 60 Prozent) der patriotisch gesinnten Intelligenz aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte. Hroch: Zur sozialen Charakteristik, S. 233. Auf die städtische Herkunft der meisten „herausragenden Persönlichkeiten" hat bereits hingewiesen: Weyr: Nadprümerná inteligence, S. 18. 224 Pynsent: Pátrání po identité, S. 227. -

-

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Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

87

übte offensichtlich besondere appellative Wirkung auf das Publikum aus, die zeremonielle Erinnerung an traumatische Niederlagen gehörte zur Illustration der Freund-Feind-Struktur. Im Ergebnis hatte man das Bild der „Kleinen Nation" konstruiert, mit dem Eigenschaften wie Einfachheit (die vielbeschworene prostota), Leidensfähigkeit und Friedfertigkeit idealisiert wurden. So war der Makel eines adels- und damit geschichtslosen Volkes, wie ihn Hegel und später Engels konstatiert hatten,226 zu einem Positivum gewandelt worden. Während Hegel sich auf den Selbstwert der Staatlichkeit berief und Engels später Tschechen ebenso wie Slowaken und Ukrainer als Bremse des revolutionären Fortschritts sah, inszenierte man, aus dem romantischen Diskurs kommend, eine Zukunft des friedlichen Zusammenlebens „einfacher", bescheidener, kleiner Nationen. In Kramáfs Denken war das Bild von der kleinen Nation fest verankert. Seine Logik besagte: Die tschechische Nation ist klein, sie hat keinen eigenen Adel, ihre soziale Struktur ist vor allem von unteren Schichten wie Bauern, Arbeitern, Kleinbürgern geprägt, folglich denkt sie grundlegend sozial und demokratisch. Das politische Konzept, das auf dem Autostereotyp der „Kleinen Nation" beruhte, wurde unter dem Begriff der lidovost zusammengefasst.227 Kramáf entwickelte 1890 gemeinsam mit Kaizl und Masaryk das lidovy program (Volksprogramm),228 das eine grundlegende Annahme seines politischen Denkens formulierte: Die soziale Struktur der tschechischen Nation, konzentriert auf die unteren Schichten, erforderte ein Demokratiekonzept, das weiter führen sollte als das liberale des 19. Jahrhunderts, indem es soziale Solidarität und Gerechtigkeit und letztlich die „organische" Entwicklung der Nation ermöglichte. Lidovost meinte also die Verbindung von Nationalismus, Demokratie und Sozialpolitik. Wenn Kramáf mit dem Volk, dem lid argumentierte, so schuf er sich damit ein wirksames politisches Instrument. Darin war nicht nur ein Anknüpfen an die Tradition der „Kleinen Nation" enthalten, sondern auch ein fast absoluter, unangreifbarer Wahrheitsanspruch. Besonders deutlich machte Kramáf dies

2

Beispiele für die rhetorische Nutzung dieses Motivs in: Hojda/Pokorny: Pomníky, S. 68,75 und

117-

126. 226 227

Vgl. Rosdolsky: Engels and the „Nonhistoric" Peoples.

Der Terminus lid kommt dem deutschen „Volk" mit eher unpolitischen und vor allem auf Einfachheit ausgerichteten Implikationen am nächsten, lidovost ist kaum übersetzbar, die Worte der Volksnähe, des sozialen Denkens und der Einfachheit aber dürften in die richtige Richtung weisen. 228 Der Návrh programu lidového erschien am 1.11.1890 im Cas. Winters zufolge stammen die ursprüngliche Idee zu dem Projekt und die politischen Teile von Kramáf, während Kaizl die sozialen und ökonomischen Teile und Masaryk die Vorschläge zur Kultur verfasst haben. Winters: Karel Kramáfs early career, S. 210. Lemberg bezweifelt sicher zu Recht Kramáfs Darstellung, die Initiative sei von ihm selbst ausgegangen. Lemberg: Studien, S. 160. Die Zuordnung der einzelnen Teile allerdings erscheint angesichts des Inhalts plausibel. Kramáf klärt in der politischen Einleitung den Begriff der lidovost und definiert bereits die Ebene, auf der die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte dann von Kaizl behandelt werden sollten. Hier wurde nach dem Manuskript Kramáfs zitiert: ANM Fond Kramáf, K55. -

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-

Der Blick auf das

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Eigene

mit seiner Behauptung, das Volk sei „besser als seine Führer", mit dem Versuch also, seine eigene Politik mit einem angeblichen Volkswillen zu legitimieren.

Kramáf übernahm also das Stereotyp der „Kleinen Nation" und legte es vielen seiner politischen Pläne zugrunde. Doch als er seine politische Karriere begann, hatte dieses Autostereotyp seinen Zenit bereits überschritten.230 Es hatte schon seit den dreißiger Jahren Äußerungen gegen das stilisierte romantische Konzept der „Kleinen Nation" am Ende des 19. Jahrhunderts wurden solche Stimmen immer lauter. Der jungtschechische Politiker Eduard Grégr hatte 1883 Havlicek zum Symbol für das Schicksal der tschechischen Nation erklärt: für Leiden und Kampf. In der Diskussion um das geplante Denkmal für die Schlacht am Weißen Berg standen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Entwürfe für eine Trauerstätte gegen den Wunsch, das Trauma der Niederlage endlich zu überwinden und aus dem Selbstmitleid herauszufinden.232 Auch Kramáf gehörte zu den Kritikern. So beschrieb er Aspekte der tschechischen politischen Kultur, mit denen er aufgewachsen war und die ihn geprägt hatten, die er jedoch auch in seiner Eigenschaft als Politiker überwinden wollte. Er argumentierte gegen den Rückzug in die Vergangenheit auf Kosten der Zukunft, gegen noch immer weit verbreitete Larmoyanz, Idealisierung von Schwäche und kompensative eitle Eine kleine Nation, so sagte er mehrfach, müsse nicht klein bleiben, eine geringe Bevölkerungszahl und schlechte Ausgangsbedingungen sagten nichts über die Möglichkeiten einer Nation, kulturell und politisch einen wichtigen Platz in der Welt einzunehmen. Mit diesem Argument bewegte er sich in den neueren, vor allem von den Jungtschechen getragenen Diskursen, die sich gegen die pessimistische Bescheidenheit richteten, wie sie von den „Erweckern" gelebt und von den Alttschechen weitergeführt worden war. Das neue Selbstbewusstsein, das den tschechischen Diskurs des Nationalen seit den späten sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts prägte, lag in dauerhaftem Konflikt mit dem traditionellen, immer wieder neu belebten Bild der „kleinen Nation". So schwankten auch Kramáfs Äußerungen hinsichtlich der „kleinen" tschechischen Nation ständig zwischen romantischer Idealisierung und Selbstmitleid sowie der Verachtung von Passivität und Larmoyanz, verbunden mit dem Aufruf, endlich zu handeln. Dabei beschrieb er die tschechische Situation in unterschiedlichem Maße als selbstverschuldet oder als durch fremde Unterdrückung verursacht, wobei seine Aggressivität gegenüber den vermeintlichen Unterdrückern bzw. der Ignoranz durch die Welt in den Jahren nach der Gründung der Tschechoslowakei beträchtlich zunahm. 1885 hatte Kramáf in einem

gegeben231;

Selbstdarstellung.233

229

TZNS, Bd III, 3205. TZNS, Bd IV, S. 3705. Rat Byvali Cechové, S. 90. Macura: Cesky sen, S. 32. 232 230

-

231

233

Hojda/Pokorny: Pomníky, S. 119-126. Vgl. z.B. die Werke von Zeyer: Tfi legendy o krucifixu und natürlich Arbes:

PláC

koruny íeské.

Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

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Brief aus Irland geschildert, wie er gemeinsam mit Iren traurige Lieder gesungen und das gemeinsame aussichtslose Schicksal betrauert und dies offenbar sehr genossen hat.234 Dies stand einerseits in der Tradition der tschechischen politisch motivierten Identifikation mit der Loyal National Repeal Association in den vierziger Jahren, zeigte Kramáf andererseits als Romantiker, der die „kleine Nation" idealisierte und ein malerisches Bild von Armut und Unterdrückung präsentierte. Später aber war für ihn Griechenland als kleine Nation mit großer, die ganze Welt beeinflussender Kultur ein leuchtendes Vorbild.235 Die Orientierung an positiven Vorbildern blieb bestehen: Ebenso wie Dänen, Norweger, Holländer und Flamen wegen ihrer hoch entwickelten Literatur und Kunst bewundert wurden, konnte so glaubte Kramáf auch die tschechische Nation einen Platz in der Weltkultur erobern. Wenn sie bisher nicht nur zahlenmäßig, sondern auch kulturell und politisch nur eine „kleine Nation" geblieben war, so sei dies keine Frage von echter Inferiorität, sondern von Unterdrückung durch den österreichischen Staat und die deutsche Kultur. Daraus folgte eine starke politische Motivation, der Kramáf in dramatisch formulierten Appellen an die Nation Ausdruck verlieh: -

-

-

-

„Wer lange Jahre dauernder Erniedrigung durchgemacht hat und des erdrückenden Gefühls, dass er es zwar mit anderen aufnehmen kann, aber doch minderwertig ist, und dies nur deshalb, weil er ein Tscheche ist, obwohl er wusste, dass

die tschechische Nation mit ihrem Erwachen und ihrem schweren Kampf gegen die Übermacht Wiens, gegen das Deutschtum und das Kapital, gegen das Desinteresse der Welt geradezu Wunder vollbracht hat, wie sie kaum eine Nation erreicht hat, der kann sich, wenn er frei und selbständig ist, nicht mit bloßem Dahinvegetieren begnügen, mit der Rolle der kleinen, minderwertigen Nation unter freien Nationen. Wir verdienen mehr und müssen mehr wollen! Wir können auch mehr sein als eine kleine, wenn auch wirtschaftlich und sozial gutgestellte Kul6 turnation, wir können uns am Weltgeschehen beteiligen!"2

Aus diesem Appell von 1926 sprach weder romantische Bescheidenheit noch realistische Selbstkritik, sondern ein tiefer Minderwertigkeitskomplex, kompensiert über eine selbstgerechte Darstellung der eigenen Geschichte und den Hinweis auf die ungerechte Behandlung durch andere. Kramáf, der in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts vehement gegen Selbstmitleid angegangen war und noch 1906 verlangt hatte, jede Nation müsse die Gründe für ihre schlechte 234

ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 902. Brief an die Eltern 14.8.1885. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1044. Brief an die Eltern aus Athen 20.4.1893. 236 „Kdo prodélal dlouhá léta stálého ponízení, tísnivého pocitu, ze vyrovná se sice druhym, ale ze je pfece ménëcennym a sice jen proto, ze je Cech, ackoliv vëdël, ze ten ëesky národ svym probuzením a svym tézkym bojem proti pfemoci Vídné, nemectví, kapitálu, proti nevaímavosti svëta vykonal pfímo zázraky, jakych máloktery národ dokázal, ten nemúze se spokojiti, kdyz je svoboden a samostatny, pouhym zivofením, a zase jen úlohou malého, ménëcenného mezi svobodnymy národy. My zasluhujeme a musíme chtíti vie! My také mûzeme byti nëëim vie, nez malym, tfeba kultumím a hospodáfsky i sociálné spofádanym národem, my mûzeme byti úeastni na svëtovém dëni!" Kramáf: Na obranu, S. 103. 235

Der Blick auf das

90

Eigene

Position zunächst bei sich selbst suchen, verband in den zwanziger Jahren einen ungeheuren Anspruch auf politische Bedeutung mit weinerlichen Betrachtungen und Vorwürfen gegen die vermeintlich Schuldigen. Zu diesen zählte er in erster Linie seine innenpolitischen Gegner. Hier ging es um einen zentralen Punkt der Codierung der Nation vor und mehr noch nach 1918: Die Existenz als „kleine Nation" wurde in vielen Diskursen nicht nur als Ideal, sondern auch als Problem gesehen. Ebenso wie Kramáf suchten die Vertreter der „Burg" oder auch das rechte politische Spektrum nach Wegen, wie das „kleine tschechische Volk" zu einer Nation von Weltrang werden könnte. Das Ziel war das gleiche, doch die Wege erschienen vollkommen unterschiedlich. Während Masaryk sein Konzept des Humanismus und der Demokratie propagierte, forderte Kramáf wirtschaftliche und vor allem militärische Stärke und Rücksichtslosigkeit. Schließlich waren es andere Staaten und Nationen, die Kramáf zufolge den Tschechen den Weg zum Ruhm verwehrten. In dieser Argumentation kamen politischer Machtwillen und moralischer Anspruch auf Gerechtigkeit gleichermaßen zum Tragen: In der Sammlung Pét pfednásek von 1922 vermischte Kramáf machtorientiertes Denken mit nationalen, moralisch besetzten Stereotypen, die einzelnen Ländern und Völkern individuelle Eigenschaften zuschrieben. Obwohl Kramáf besonders in der Nachkriegszeit immer stärker die Notwendigkeit militärischer und wirtschaftlicher Stärke gegen den ihm naiv erscheinenden Humanismus Masaryks stellte, blieben moralische Erwartungen und Bewertungen wichtig, ging die romantische Vorstellung von der kleinen, unschuldigen tschechischen Nation nicht verloren. Dieser Zwiespalt wurde jedoch nicht zum Widerspruch. Beide Aspekte konnten verbunden werden durch das Motiv der Bedrohung. Bereits im 19. Jahrhundert bezog Kramáf den Topos der Unterdrückung nicht nur auf die Vergangenheit, sondern beschwor die alltägliche Bedrohung vor allem durch die deutschen Nachbarn. Damit wurde sowohl das emotionale Bedürfnis nach einem die traditionelle Opfermentalität befriedigenden Märtyrertum bedient als auch die politische Notwendigkeit der Motivation zum Handeln erfüllt. Kramáf forderte Einheit, Zusammenhalt, Ko-

operation.

Soziale Nation

Nationaler Sozialismus -

Einheit

war

das

wichtigste Schlagwort in einem von Kramáf entwickelten Konwas man später vor allem im deutschen Kontext

zept, welches dem ähnelte,

mit dem Begriff des Nationalen Sozialismus beschreiben sollte. Nationalismus und Sozialismus hatten als ursprünglich gegensätzliche Ideologien das 19. Jahrhundert geprägt. Die Gretchenfrage richtete sich auf die Klasse oder die Nation als entscheidende überindividuelle Einheit. Schon früh hatte Kramáf ein Denkkollektiv kennen gelernt, das die soziale Frage auch ohne das Axiom des Klassenkampfes zu beantworten suchte: Den so

Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

91

genannten Kathedersozialismus. Direkt

aus der „politischen Unfertigkeit" herseiner Ankunft in Berlin empfand, fand die als Student bei Kramáf junger aus, er Anschluss an das Seminar des Ökonomen Adolph Wagner und übernahm viele von dessen Ideen.237 Wagner war grundsätzlich kein Gegner der freien Wirtschaft, die er zunächst als Befreiung der Arbeit „von ihren Fesseln" begrüßte,238 doch wandte er sich entschieden gegen einen völlig freien Manchesterliberalismus, dessen Konsequenzen er fürchtete. Wenn die soziale Lage der Arbeiter weiterhin ignoriert würde, so Wagner, könnte es zur Revolution komeine Gefahr, die einzig durch soziale Reformen abzuwenden war. Weimen terhin argumentierte er in der Tradition der historischen Schule, eine rein deduktiv vorgehende, theoretisch angelegte Nationalökonomie könne keine guten Ergebnisse bringen, die ökonomische Wissenschaft müsse realistischer und in ihrer Methode historischer werden. Neben ethischen und wissenschaftstheoretischen Argumenten spielten auch die Gefahren eine Rolle, welche die freie Wirtschaft für die Volkswirtschaft und damit für den Staat brachte. Obwohl Wagner sich gegen die Bezeichnung „Sozialist" wehrte und die Aufrechterhaltung des Privateigentums und des Kapitalismus im Prinzip für unabdingbar hielt, setzte er sich gegen eine zu weit gehende Akkumulierung von Kapital in den Händen von Privatunternehmern ein und forderte in bestimmten Bereichen die Verstaatlichung von Unternehmen. Andernfalls fürchtete er „Gefahren für die Selbständigkeit des wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Lebens",239 die Macht des Kapitals über den Staat. Für Kramáf war entscheidend, dass in diesem Denkkollektiv das Modell des bürgerlichen Kapitalismus mit sozialem Problembewusstsein vereinbar schien. Er verband die kathedersozialistischen Ideen direkt mit dem Konzept der nationalen Einheit. Die Notwendigkeit sozialer Reformen, um eine sozialistische Reform zu vermeiden, wurde zum Grundbestandteil in Kramáfs Denken, ebenso die Betonung der Rolle des Staates bei gleichzeitig unbedingt zu erhaltendem Privateigentum. Der Staat sollte nicht nur eine „Nachtwächterfunktion" übernehmen, sondern z.B. über aktive Steuerpolitik die Wirtschaft regulieren. Dennoch hielt Kramáf die Eigeninitiative von Unternehmern für entscheidend, Wagners Aussage, der Großunternehmer sei „das wahre Haupt der Privatwirtschaft",240 entsprach auch seinen Vorstellungen. Hier war auch Kramáfs Herkunft aus einer wirtschaftlich aufstrebenden Familie von Bedeutung. Er präferierte eine auf dem Grundsatz der Privatinitiative basierende bürgerlichkapitalistische Gesellschaft. Daneben aber stand das Ideal der nationalen Gemeinschaft. Während im Denken der „Kathedersozialisten" die Nation als ethi-

237

Wagner war auch in Prag kein Unbekannter. Universitätsprofessor Albín Bráf. 238 Die Strömungen, S. 4. Wagner: 239 hörende 240

Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 14.

Vermittler

war vor

allem der den „Alttschechen" ange-

Der Blick auf das

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Eigene

sches Prinzip nur zweitrangig war,241 verband Kramáf das bei Wagner Gelernte eng mit einem starken Nationalismus.2 Über das Konzept der nationalen Einheit war das Modell des bürgerlichen Kapitalismus mit sozialem Bewusstsein vereinbar. Darüber hinaus gaben die Ideen des sozialdarwinistischen Diskurses dem Denken nicht-marxistischer Sozialisten und Sozialpolitiker des späten 19. Jahrhunderts neue Kramáf bezog sich niemals ausdrücklich auf sozialdarwinistische Ideen, doch die Auswirkungen dieses Diskurses auf sein Denken sind unübersehbar. Er sprach vom „Lebenskampf der Nationen und warnte auf politischer ebenso wie auf wirtschaftlicher Ebene vor unerbittlicher Konkurrenz.244 Unter dem Einfluss von Kathedersozialismus und Sozialdarwinismus auf der Basis des nationalen Codes entwickelte Kramáf mit dem Beginn seiner politischen Laufbahn ein Programm, dem er ein ganzes Leben lang treu bleiben sollte. Er plädierte für eine Sozialpolitik, die im Rahmen des Diskurses des Nationalen durchgeführt werden, sich also innerhalb inzwischen festgelegter Grenzen der tschechischen Nation bewegen und ihre Voraussetzungen im angeblich besonders sozialen Charakter der „kleinen Nation" der Tschechen finden sollte. Dieses Konzept wurde auf verschiedenen Ebenen begründet: Zunächst spielte die Struktur der tschechischen Gesellschaft eine Rolle, dann waren allgemein Ethik und Verantwortung gegenüber dem Leid ausgebeuteter Arallem vor aber die Zukunft der Nation von Bedeutung. „Die Arbeiterfrabeiter, so schrieb Kramáf in dem Entwurf für ein Volksprogramm, ge",

Impulse.243

„hat besonders für unsere Nation große Bedeutung. Der tschechische Arbeiter ist unsere

nationale Vorhut

der tschechische Arbeiter ist

wahrhaftig der slavische

Eroberer, Schritt für Schritt vorangehend, nicht kämpferisch, sondern friedlich. -

Darin ist eine

große

Stärke enthalten. Deshalb müssen wir

unsere

Aufmerksam-

Insbesondere warnte Kramáf vor einer Germanisierung, welche die Deutschen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit durch Schulpolitik und psycholoEidenmüller: Betriebswirtschaftlich relevante Theorien, S. 31 f. Nationalistische Ideen bildeten auch den Punkt, an dem der theoretisch sonst so folgsame Schüler Kramáf sich mehrfach direkt gegen seinen Lehrer auflehnte. In einem offenen Brief von 1909 schrieb er an Wagner: „A bylo mi právé tak, jako kdyby to byl opët jeden z onëch nezapomenutelnych veëerû po Vaäich semináfích, kde jste tak silnë sekundoval proti mne Hermannu Bahrovi, ktery byl tehdy jeäte bojovnym nëmeckym nationalem. A jako tehdy, nesmím Vám ani nyni zûstati dluzen odpovëd." „Und [angesichts Ihrer Rede] fühlte ich mich genau so, als wäre dies wieder einer dieser unvergesslichen Abende nach Ihren Seminaren, an denen Sie so kräftig Hermann Bahr gegen mich sekundierten, der damals noch ein kämpferischer deutscher Nationalist war. Und genau wie damals darf ich Ihnen auch keine Antwort schuldig bleiben." Kramáf: Vefejny list, S. 3. jetzt 243 Werth: Sozialismus und Nation, S. 32ff. 244 z.B. Kramáf: Ceské státní pravo, S. 66. 245 „Otázka délnická má obzvlást pro náa národ velikou dúlezitost. Cesky delník je náS národní pfedvoj ëesky delník je v pravdë slovanskym kolonistou, postupující krok za krokem ne vybojnë, ale mímou [...unleserlich]. V torn je veliká síla. Proto musí obraceti svûj zfetel zejména také k délníku." Kramáf: Návrh programu lidového. 242

-

Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

93

gischen Druck durchsetzen könnten. Sollten die tschechischen Politiker weiterhin nicht gegen die deutsche Ausbeutung tschechischer Arbeiter angehen, so sei ein großer Zulauf zu revolutionär sozialistischen Parteien, folglich eine Entfremdung der Arbeiter von ihrer Nation und endlich die Germanisierung zu befürchten.246 Das Individuum spielte in dieser national-sozialistischen Gemeinschaft eine untergeordnete Rolle. Kramáf ging nicht vom Leid und von den Rechten des einzelnen Arbeiters aus, der einen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben vom Wohl der Nation, welche durch moralischen Verfall, durch revolutionäre Bestrebungen und durch mangelnde Einheit Schaden nehmen würde. „Uns würde es nie einfallen, etwas zu tun, was die kulturelle und wirtschaftliche Ebene unserer Arbeiterschaft senken könnte, weil wir wissen, dass wir damit nicht der Arbeiterschaft schaden würden, sondern der Nation." Nicht das Individuum, nicht die soziale Gruppe war entscheidend, sondern nur die Nation: Deutlich wird dies auch anhand Kramáfs Einstellung zur Frauenfrage. Er wollte die soziale Lage Not leidender Frauen verbessern, doch war ihm jeder Feminismus fremd, ja geradezu zuwider: Es ging auch hier nicht um die Rechte der einzelnen Frau, sondern um das Wohl der Nation. Die Frau musste sozial versorgt werden, um in der Lage zu sein, genügend Nachwuchs zu produzieren und damit ihre Aufgabe in der nationalen Gemeinschaft zu erfüllen.248 Wenn diese Einstellung an nationalsozialistische Parolen à la „Du bist nichts, dein Volk ist alles" erinnert, so stimmt dies nur in der Tendenz. Kramáf ging von einem Weltbild aus, in dem sich Einzelnes und Ganzes zu einer untrennbaren Gesamtheit ergänzten. Zwar kann die Organismusmetapher leicht in totalitären Ideologien missbraucht werden, doch erfordert dies eine besondere Denkoperation: Das Individuum muss, um als „Nichts" zu gelten, gedanklich vom Ganzen getrennt werden, es wird, nach seiner modernen Emanzipation, zurückgeworfen in eine Sphäre völliger Rechtlosigkeit. Totalitäre Ideologien geben nur vor, von einem Organismusbegriff auszugehen, tatsächlich trennen sie das negierte Individuum vom verabsolutierten Ganzen völlig ab. Kramáf dagegen wollte dem einzelnen Menschen keine Rechte absprechen; er sah ihn jedoch nicht als Individuum mit Ansprüchen, die sich von denen der Gemeinschaft unterscheiden könnten. Der Einzelne musste sich nicht unterordnen und zum Teil des Ganzen werden; er war bereits ein solcher Teil, und die Unterordnung war kein Opfer, sondern eine vollkommen selbstverständliche Platzierung. Dies war weniger die Rousseausche Idee der volonté générale als vielmehr das vormoderne Bild einer Gemeinschaft, in der jeder eine ihm von der Gesamtstruktur

hat, sondern

246

247

u.a.

in Kramáf: Miada generace, S. 14f.

„Nám ani nenapadá dëlati nëco, co by mohlo sníziti kulturní a hospodáfskou úroveft naSeho délnictva, protoze vime, ze bychom tim uskodili ne délnictvu, ale národu." TZNS, Bd III, S. 186. (Herv. M.W.) 248 Kramáf: Miada generace, S. 15ff. Proë zeny jsou vërny zásadám dra K. Kramáfe. NL 4.1.1931. -

Der Blick auf das

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Eigene

zugewiesene, gewissermaßen natürliche Funktion übernimmt. Hier wird wieder Kramáfs traditionalistische Haltung deutlich, die sich zwar den antidemokratischen Ideologien des 20. Jahrhunderts näherte und sich in seinem Ergebnis von diesen oft wenig unterschied, in ihrer geistigen Herkunft aber, und viel-

leicht auch in seiner Radikalität davon zu trennen ist. Kramáf entwarf ein Gemeinschaftskonzept, das vor allem auf nationalem Zusammenhalt beruhte. Da für ihn die Nation und nicht die Klasse die entscheidende Einheit war, ging er nicht von einem grundsätzlichen Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital aus, sondern von einer Interessenidentität aller zu einer Nation gehörenden Individuen und Gruppen. Die Idee vom Klassenkampf wurde gewissermaßen nach außen verlagert, nicht Klassen, sondern Nationen waren die Parteien im wirtschaftlichen und sozialen Disput. Kramáf verallgemeinerte dabei einen konkret erlebten Sachverhalt tschechische Arbeiter waren oft bei deutschen Unternehmern beschäftigt zu einem Weltbild. Die gesamte tschechische Nation befand sich dort an der Stelle der ausgebeuteten Arbeiter, während die „deutsche liberale Bourgeoisie" den negativen Gegenpart übernahm.249 Kramáf ging damit über die Argumentation seines Lehrers Wagner hinaus, der soziale Maßnahmen für notwendig hielt, um letztlich negative Folgen für die gesamte Volkswirtschaft zu vermeiden und damit aus einer höheren Position patriarchalisch und zweckorientiert plante. Für Kramáf waren die Arbeiter das Volk, war die tschechische Nation die ausgebeutete Klasse. Er identifizierte sich also mit der sozialen Frage, sah sie unmittelbar als sein eigenes Problem unabhängig von seiner tatsächlich ja sehr privilegierten Stellung. Kramáf widerstrebte es, die marxistische Terminologie zu verwenden, doch andernfalls hätte er sicher von der „proletarischen tschechischen Nation" gesprochen. Sein Weltbild ähnelte damit sehr stark in den Inhalten verschoben dem eines Arthur Moeller van den Brück, nach dessen Ansicht die „deutsche proletarische Nation" sich in einem verzweifelten Kampf gegen den „kapitalistischen Westen" wehren musste. 5 Kramáf ordnete die Tschechen als Volk der Arbeiterschaft zu, den Begriff des Bürgertums jedoch der als feindlich empfundenen, konkurrierenden deutschen Nation. Er empfand sich also allein aufgrund seiner nationalen Zugehörigkeit als Angehöriger der unteren Schichten, oder, wie er es formulierte, des Volkes, des lid. Auf diese Weise konnte er seine Argumentation auch dem tschechischen Diskurs anpassen, in dem der Begriff des Liberalismus eher negativ besetzt war.251 Spätestens mit dem Machtzuwachs sozialistischer Parteien musste diese eigenartige Konstellation auf energischen Widerspruch stoßen, musste seine soziale Herkunft zum Politikum und zum Makel werden. Ent-

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-

-

0

1

Kramáf: Miada generace, S. 6f. -Ders.: První Werth: Sozialismus, S. 105f Znoj: Tëzky zivot liberalismu. Urban:

máj. NL 30.4.1933.

Cesky liberalismus, S. 17.

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-

Kramáf zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

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sprechend verschob sich Kramáfs Denken von der sozialen Ebene auf die politisch-ideologische des Nationalismus: Er benutzte nicht mehr das Bild von der Arbeiternation, betonte vielmehr die ideelle Einheit, den Zusammenhalt der sozial denkenden tschechischen Nation. Seine eigene Schicht, das wohlhabende Bürgertum, stellte er dabei als besonders demokratisch und sozial dar. Er wandte sich häufig gegen den klassischen, unsozialen, Westeuropa und Deutschland zugeordneten Liberalismus, doch „die tschechische Bourgeoisie hat es schon aufgrund ihrer absolut demokratischen Struktur immer als ihre ehrenhafteste Aufgabe gesehen, ein ehrlicher Beschützer der Leidenden zu sein."252 Darüber hinaus betonte Kramáf „die Notwendigkeit, unser soziales Leben zu der organischen Entfaltung zu bringen, in der wir einzig den Erfolg und die Rettung der Nation gesehen haben." 5 So verbanden sich soziale Position und soziales Konzept: im bürgerlichen Modell der modernen Nation. Kramáf verglich sein eigenes Konzept nie mit demjenigen der deutschen Konservativen Revolution oder gar später mit dem der Nationalsozialisten, es ähnelte diesen jedoch und basierte auf derselben Situation. Der ökonomische Liberalismus hatte die Welt verändert. Wirtschaft war nun ein Kampf, in dem Leistung, Durchhaltevermögen und Kapital die entscheidenden Faktoren waren. Doch die Grenzen und Gefahren dieses Systems wurden immer deutlicher, man suchte nach neuen Wegen. Der marxistische Sozialismus hatte einen Weg gefunden, hatte der völligen Freiheit eines extremen Liberalismus, in der jeder gegen jeden kämpfte, den determinierten Antagonismus der Klassen gegenüber gestellt. National denkende Politiker und Intellektuelle mussten eine andere Lösung finden, mit der die als gefährlich empfundene Freiheit des Liberalismus zu bannen war. Die nationale Gemeinschaft, ein nationaler Sozialismus, schien eine solche Möglichkeit zu sein. Kramáf stellte sein Konzept ausdrücklich gegen den materialistischen, internationalistisch ausgerichteten Sozialismus. Die Begriffe, mit denen er hier operierte, lassen seine Haltung widersprüchlich erscheinen. Kramáf argumentierte explizit und häufig polemisch gegen „die Sozialisten", behauptete im tschechoslowakischen Parlament aber auch: „Sie sagen, ich solle mich nicht zum Sozialismus bekennen! Ich bin gar kein Gegner des Sozialismus, im Gegenteil, ich bin vielleicht ein besserer Sozialist als Sie." Die entnervte Antwort von links kam prompt und vielsagend: „Ach, hören Sie doch auf!"255 Kramáf stellte einen nationalen, moralisch angeblich höher stehenden und auch realistischeren Sozialismus gegen die Konzepte in der marxistischen Tradition. Die Nationalde252 „ta ëeska burzoazie uz po svém naprosto demokratickém slození povazovala vzdy za svûj nejëestnëúkol byti poctivym ochráncem tëch, ktefí trpëli." TZNS, Bd XIV, S. 1573. jsí 253 „potfebí, aby pfivedlo nás sociální zivot k tomu [...] organickému rozvoji, ve kterém jedinë vidëli jsme prospëch a spásu zivota." Ebenda, S. 1573. 254 „Vy fíkáte, ze nemám se hlásit k socialismu! Já dokonce nejsem nepfítelem socialismu, naopak, já mozná lepsím socialistou nezli vy." TZNS, Bd III, 3208. jsem 255 „Dejte pokoj!" Ebenda.

Der Blick auf das

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mokratie sei sozial, aber nicht sozialistisch. Letzteres würde der Moral der Partei widersprechen und sei aus diesem Grunde undenkbar.256 Die materialistische Weltsicht schien ihm die Aufgabe aller Werte zu sein, die absolute, von jeder Ethik losgelöste Anarchie, außerdem ein Widerspruch zu tschechischen Traditionen.257 National, das war gleichbedeutend mit organisch und natürlich, und damit bildete es einen Kontrast nicht nur gegen den internationalistischen, sondern auch den revolutionären Impetus des marxistischen Sozialismus. Kramáf forderte „eine ruhige und organische Entfaltung der Gesellschaft hin zur sozialen Gerechtigkeit und das, was die sozialistische Agitation zeichnet, [...] wäre der Gipfel der sozialen Ungerechtigkeit."258 Darüber hinaus wies er immer wieder auf die Unreife der bestehenden Gesellschaft hin, die jede sozialistische Utopie zum gefährlichen Instrument von Radikalen mache, und forderte Evolution statt Revolution. Wie intensiv sich Kramáf in seiner Jugend mit Denkern marxistisch geprägter Diskurse beschäftigt hat, ist nicht genau zu erkennen. Er hat Alexander Helphands („Parvus"') Buch über die russische Revolution von 1905 gelesen letzteren mögliund kannte offenbar den „Revisionisten" Eduard Bernstein cherweise über den kathedersozialistischen Diskurs, dem dieser nahe stand. Hans Lemberg hat daraufhingewiesen, dass in Berlin 1879/80 eine „Gesellschaft einiger marxistischer Sozialisten ihren Eindruck auf Kramáf nicht verfehlte".261 Vladimir Sis hat von leidenschaftlichen Debatten an der Prager Universität „über Sozialpolitik, Marxismus, die Theorien Kautskys und Owens'" gesprochen, die auch Kramáf „ernsthaft durchlebt" habe.262 Andere Autoren aber betonen, dass Sozialismus allgemein und Marxismus im Besonderen in tschechischen Intellektuellenkreisen des späten 19. Jahrhunderts keinen leichten Stand hatten.263 Insbesondere internationalistisch angehauchte Ideen schienen in einen stark vom nationalen Impuls geprägten Diskurs nur schwer integrierbar zu sein,264 Sozialismus wurde häufig als deutsch und jüdisch265 und damit als fremd betrachtet. Die systematische Beschäftigung Masaryks mit dem Marxismus bildete in einem solchen Umfeld eine Ausnahme.266 Es war eine andere Form von Sozialismus, die hier eine Chance hatte: nicht Internationalismus und Klassenkampf, sondern nationaler Zusammenhalt und Tradition waren Ele-

-

6

ANM Fond Kramáf, K 55. Handschriftliches Konzept „Radost z Moravy." Kramáf: Nasí Mladé generaci, NL 26.3.1933. „klidny rozvoj spoleínosti, organicky ku sociální spravedlnosti a to co maluje socialis. agitace byl by vrchol sociální nespravedlnosti." ANM Fond Kramáf, K 64. Möllersdorfer Heft I, S. 32. 259 Kramáf: O zahraniíních otázkách, S. 13. 260 Vgl. Kolakowski: Die Hauptströmungen, Bd II, S. 120. 261 Lemberg: Studien, S. 124. 262 Sis: Dr. Karel Kramáf I, S. 38. 263 Podiven: Cesi, S. 51. 257 258

-

264 265 266

Ebenda, S.216ff. Ebenda, S. 50. Machovec:

Masaryk a marxismus, S. 353. Vgl. Masaryk: Otázka sociální. -

[...]

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mente, mit denen man die soziale Frage erfolgversprechend in Verbindung bringen konnte. Das national-soziale Konzept Kramáfs blieb über die Jahre hinweg im Wesentlichen gleich, die Gesamtkonstellation jedoch, in der es stand, veränderte sich. Das lidovy program des Jahres 1890 wandte sich vor allem gegen die Politik der Alttschechen. Lidovost meinte eine politische Kultur, die sich von der Koalition mit dem Adel gelöst hatte, die in einer umfassenden Weise demokratisch und sozial geprägt war, und in der die politische Nation auch und vor allem die unteren sozialen Schichten einschloss. Sie war damit antiliberal sowohl im ökonomischen Sinne, indem die völlige wirtschaftliche Freiheit eingeschränkt werden sollte, als auch im klassischen politischen Sinne, da man den Egozentrismus des Bürgertums überwinden wollte. Kramáf hatte sein soziales Konzept jedoch auch gegen den Sozialismus entwickelt. Er strebte Reformen an: Um ihrer selbst willen ebenso wie zur Vermeidung einer Revolution. Später rückte dieser Aspekt in den Vordergrund. Mit der sozialen Differenzierung der tschechischen Nation und der entsprechenden Entwicklung der Parteienlandschaft musste sich Kramáf als Vertreter der jungtschechischen Partei immer stärker gegen ausdrücklich schichten- und klassenorientierte Formen von Politik wehren. Die Veränderung des sozialpolitischen Programms ging hier Hand in Hand mit derjenigen des nationalen Codes. 1893 noch hatte Kramáf für Instanzen zur Kontrolle der Wirtschaft plädiert und behauptet, er „begreife nicht die Empfindlichkeit der Bourgeoisie". In derselben Rede behauptete er, die „Socialdemokratie befindet sich in dem ersten Stadium der Entwicklung. Sie ist im Stadium der absoluten Negation [...]. Aber das ist nur eine Kampfperiode, und aus dieser Kampfperiode muss auch die Socialdemokratie heraus. Und sie wird sich herausarbeiten, aber man darf ihr nicht die Möglichkeiten nehmen."267 Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen, und so schrieb Kramáf 1906 gegen die parteipolitische Aufsplitterung an und forderte stärkere nationale Einigkeit.268 Diese Forderung wurde mit dem neuen Begriff vsenárodní program (allnationales Programm) gefasst. Während lidovost sich stärker gegen den Liberalismus gewandt und das Soziale betont hatte, war im Begriff des allnationalen Programmes die Konfrontation besonders mit dem Sozialismus und die Betonung des Nationalen und Einheitlichen deutlich. Parallel zur wachsenden Abneigung gegen Sozialismus und Arbeiterbewegung entwickelte sich auch Kramáfs Bekenntnis zum Bürgertum. Er bezeichnete sich immer häufiger ausdrücklich als Bürger oder gar als Bourgeois und nannte seine Politik nicht mehr lidová, sondern national und bürgerlich.269 267

RRP, Bd VII, S. 8605 bzw. 8607. Kramáf: Poznámky, S. 82. 269 z.B.: Kramáf: Smysl ëeskych dëjin, NL 14.10.1922. Kramáfová 27.4.1927. 268

ANM Fond Kramáf K -

2, 2 2 3137. Brief an

Der Blick auf das

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Eigene

Einen Katalysator für diese Entwicklung bildete der Weltkrieg, der die Illusion von nationaler Solidarität und Einheitlichkeit brachte, die auch später immer wieder als leuchtendes Beispiel hervorgeholt werden sollte. Und natürlich die Oktoberrevolution: Im Jahr 1917 zeigte der Sozialismus, so schien es Kramáf, sein wahres Gesicht eine hässliche Fratze. Damit, spätestens aber, als die Nationaldemokratie ihre privilegierte Stellung verlor und Kramáf seinen Posten als Ministerpräsident der neugegründeten Tschechoslowakei aufgeben musste, war klar, gegen wen seine Arbeit sich in Zukunft vorrangig richten sollte: Gegen den scheinbar falschen, den materialistischen, antibürgerlichen und internationalistischen Sozialismus,270 der nichts zu wollen schien als die Zerstörung der nationalen Einheit, um die Macht zu erlangen und ein terroristisches Regime zu errichten.271 Dieser Sozialismus hatte in Kramáfs Weltbild eine ganz neue, geradezu epochemachende Bedeutung erhalten.272 Kramáf selbst aber strebte weiterhin einen nationalen Sozialismus an, der nicht von Klassenkämpfen, sondern von nationaler Solidarität ausging und so eine starke, an der sozialen Frage orientierte und vom Bürgertum geleitete Wirtschaft ermöglichen sollte. Dieses Konzept wurde mit der sich radikalisierenden nationalistischen Rhetorik der zwanziger und dreißiger Jahre verknüpft. Die politisch wie ökonomisch schwierige Situation verlangte seiner Ansicht nach vor allem nationale Solidarität und Einigkeit; Klassenkampfparolen, die einen eigentlich nicht existenten Konflikt heraufbeschworen, konnten hier nur schaden. Kramáf hielt sie für den Ausdruck von „Klassenegoismus" und stellte seine eigene Politik als „allnational" und damit gerecht dar.273 Eine Politik, die in einer sozialistischen Revolution gipfeln könnte, würde die „moralische Grundlage" der Nation angreifen und „gewissermaßen fundamental unsere gesamte Entfaltung schädigen." Die Nationaldemokratie propagierte stattdessen eine national orientierte Sozialpolitik und führte die jungtschechische Tradition unter anderem in der entschiedenen Gegnerschaft gegen die sozialistischen Parteien fort. Masaryk und seine Anhänger dagegen wollten diese Parteien, die ja bereits vor der Gründung des neuen Staates eine feste Position in der tschechischen politischen Landschaft eingenommen hatten, einbeziehen. So wandten sie sich gegen die 1926 durchgesetzte und von Kramáf begrüßte „Herrenkoalition", die Regierungsallianz verschiedener, auch deutscher, bürgerlicher Parteien unter aus-

270

In einem Brief an Raäin

vom

23.6.1919

aus

Paris schrieb Kramáf: „na druhé stranë mam rozhodny entschiedenen

boj proti hfe se socialismem za svoji povinnost." „Auf der anderen Seite halte ich den Kampf gegen das Spiel mit dem Sozialismus fur meine Pflicht." ANM Fond Kramáf, K4. 271

TZNS, Bd III, S. 3206. Rede auf einem Kongress der jungen Generation der Nationaldemokratischen Partei vom 18.9.1921 in Pardubice. In Vychod 24.9.1921. An anderer Stelle stellte er den Kommunismus in einem „Weltkampf' gegen „Arbeit und Evolution". Dr. Karel Kramáf na Moravë, NL 17.3.1920. 273 ANM Fond Kramáf, K55. Handschriftliches Konzept „Pfedeväim o fasismu..." 274 „Jaksi do ftindamentu poäkozuje cely n᧠rozvoj." Kramáf: O zahraniënich otázkách, S. 33. 272

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drücklichem Ausschluss der Sozialisten. Masaryk hatte Kramáf schon früher eine Kooperation mit der Linken empfohlen: „Wer den kleinen Sozialismus nicht will, wird den großen akzeptieren müssen".276 Dieser Rat musste auf taube Ohren stoßen weniger aus wirtschaftlichen und politischen als vielmehr aus fast moralisch zu nennenden Gründen: Kramáf konnte sich in keiner Weise mit irgendeiner Form internationalistischen Denkens verbünden, dies hätte seinen tiefsten Wertempfindungen widersprochen, sein auf den nationalen Code gebautes Weltbild grundlegend erschüttert. Masaryk und Kramáf hatten sich aus einer ähnlichen Startsituation heraus entwickelt: Der Kreis der Realisten war stark von der kathedersozialistischen Ausbildung Kaizls und Kramáfs geprägt gewesen, und auch Masaryk hatte ihnen in der Absicht, eine soziale Politik auf nationaler Basis zu schaffen, zugestimmt.277 Die Nation war auch für Masaryk die entscheidende Kategorie geblieben, doch war er im Umgang mit anderen Diskursen offener und toleranter. Wie er sich mit den unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten beschäftigte, so blieb er auch politisch offen für Einflüsse, die Kramáf indiskutabel erschienen. Auch Masaryks Haltung war national geprägt, aber nicht antimarxistisch.278 Nicht nur die Situation seiner Partei hatte sich für Kramáf geändert; er lebte seit 1918 auch in einem vollkommen neuen Staat. Doch blieb seine Vorstellung von Wirtschaft und Sozialpolitik grundsätzlich gleich: Noch immer handelte es sich scheinbar um eine rein nationale Angelegenheit. Kramáf hatte Nationalökonomie damals Teil der Rechtswissenschaften studiert, und er nahm die Fachbezeichnung wörtlich: Noch immer war es die tschechische Nation, die sich gegen die wirtschaftliche Konkurrenz bewähren und ein sozial gerechtes System aufbauen musste. Nicht die Tschechoslowakei als Staat, sondern die Tschechen als Nation waren das Subjekt in Kramáfs Konzept und das bedeutete auch einen Kampf gegen die deutsche Wirtschaft im eigenen Land. An diesem Punkt zeigt sich so deutlich wie an kaum einem anderen, wie wenig Kramáf die besondere Problematik der Nationalitätenstaaten im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit erkannt hatte. Als Politiker des 19. Jahrhunderts hatte er sich mit dem Leben in einem multinationalen Staat zufriedengegeben; das 20. Jahrhundert aber schien mehr zu bieten. Ein von einer Nation gelenkter Staat sollte es sein, als konsequente Verwirklichung der Ideen und Kämpfe des vorangegangenen Zeitalters. Das neue Jahrhundert brachte jedoch auch andere Konzepte und Probleme mit sich, die in diesen Code zumindest ansatzweise mit einbezogen werden mussten, wollte man ein totales Scheitern verhindern. Dazu -

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-

275

Kalvoda: The Genesis, S. 8. „Kdo nechce socialismu malého bude muset pfijmout socialismus 6447. Brief Masaryk an Kramáf 13.7.1919. 277 Hoffmann: T.G. Masaryk und die tschechische Frage, S. 144. 278 Ebenda, S. 152. 276

veliky. ANM

Fond Kramáf 2 3

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Eigene

aber war Kramáf offenbar nicht fähig. Der nationale Code blieb allein vorherrschend in seinem Denken. Es war der national denkende Bürger in Kramáf, der den Sozialismus und das organisierte Proletariat als Störung und Gefährdung der nationalen Einheit betrachtete: Das Bürgertum hatte die Parole Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verfochten und sah sich im Laufe des 19. Jahrhunderts u.a. durch eine rebellierende Arbeiterbewegung in diesem schönen Traum gestört.279 Soziales, politisches und nationales Einheitsideal wurden durch Klassenkampf, Materialismus und Internationalismus herausgefordert. Obwohl Kramáfs Sozialmodell, wie beschrieben, aus den modernen Elementen Bürgertum und Kapitalismus sowie Nationalismus zusammengesetzt war, zeigte es sich zentral von grundsätzlich antimodernen Vorstellungen geprägt. Kramáfs bürgerliche Existenz, die auf der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur beruhte, verband sich mit einem Ideal der sozialen Fürsorge nach Gutsherrenart. Kramáf wollte die Freiheit der modernen Wirtschaft beschränken, die Grenzen sollte das Ideal der Nation, die nationale Solidarität setzen. Das Bürgertum als wirtschaftlich bestimmende Schicht und als traditioneller Vertreter des nationalen Denkens sollte hier die entscheidende Rolle übernehmen, die Verantwortung tragen. Die Kulissen dieses Stückes waren modern, ebenso die Akteure. Der Titel des Dramas jedoch lautete „Gemeinschaft", der Autor ließ sich von vormodernen Traditionen leiten. Diese Verbindung entsprach einem besonderen europäischen Diskurs: Die Idee des Nationalen Sozialismus verknüpfte auch in Deutschland moderne Wirtschaftsstrukturen mit völkischen, d.h. antimodernen, und organischen, d.h. an der Vormoderne orientierten Ideen. Die Idee des Ständestaates feierte besonders in Italien Erfolge, spielte darüber hinaus in Deutschland, Österreich und auch in der Tschechoslowakei eine Rolle.280 Die Modernität dieser Ideen bezog sich vor allem auf die Industrie. Die soziale Ordnung sollte idealistisch, national, organisch verfasst sein, die Wirtschaft aber sollte sich an modernen, industriegesellschaftlichen Grundsätzen orientieren. Kramáf befand sich wieder einmal in einer etwas unentschiedenen Zwischenposition, bedingt durch die Veränderung seiner Umwelt: Er hatte sich mit der Forderung nach sozialen Reformen gegen den Liberalismus des 19. Jahrhunderts gestellt, doch nun forderte er gegen den Sozialismus des 20. Jahrhunderts größere wirtschaftliche Freiheit für den Einzelnen, stellte gar Sozialismus und Individualismus als Gegner in einem epochemachenden Konflikt dar.281 Obwohl Kramáf häufig konkrete Vorschläge zur Gestaltung von Wirtschaft, sozialem System und Haushalt machte, erschien sein Denken in die9

0 1

Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S. 22. Pasát Der tschechische Faschismus, S. 96f. ANM Fond Kramáf, K 99.

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Bereich unpräzise. Dies lag zum großen Teil an der Verbindung von nationalistischer Ideologie einerseits und konkreten wirtschaftlichen Ideen andererseits. Soziale Ordnung und wirtschaftliches System passten nicht recht zueinander, wurden nur durch den unbedingten Glauben an die nationale Solidarität zusammengehalten. Indem Kramáf Vorschläge z.B. zur Steuerpolitik oder zum Versicherungswesen immer mit dem etwas naiv anmutenden Hinweis auf die notwendige nationale Einigkeit und Solidarität illustrierte, verlieh er allen politischen und wirtschaftlichen Argumenten einen ideologischen Klang. Letztlich wirkt es so, als hätte Kramáf alle ökonomischen und sozialen Probleme nur mit dem Ruf nach Einigkeit, die Schwierigkeiten der modernen Gesellschaft mit einem idealisierten Gemeinschaftskonzept lösen wollen. sem

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Der Blick auf das

Eigene

Nation und Staat Kramáfs politischer Anspruch gestaltete sich sehr umfassend: er beschäftigte sich eher selten mit spezialisierten und stellte sich mit Vorliebe der großen Politik, den grundlegenden Problemen und Veränderungen. Es war der staatliche Rahmen, der hier die Grenzen zog städtische und regionale Politik interessierte Kramáf weniger. Er hatte sich schon früh mit grundlegenden Fragen der Funktion des modernen Staates auseinandergesetzt. Wie zu zeigen sein wird, spielte auch hier der nationale Code die entscheidende Rolle. Neben dieser theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des modernen Staates ist ein weiterer Aspekt von zentraler Bedeutung: Ohne den Wohnsitz zu wechseln, lebte Kramáf in zwei verschiedenen Staaten zunächst in Österreich, später in der Tschechoslowakei. In der Ersten Republik gehörte es zu den wichtigsten Fragen, wer sich vor 1918 aufweiche Weise gegenüber Österreich verhalten und wann er die Loyalität diesem Staat gegenüber aufgegeben hatte, also zu einem Teil des odboj geworden war. Auch Historiker stellen die Frage nach der Wende einzelner Personen immer wieder, und verschiedene Äußerungen Kramáfs können auf dieses Problem hin interpretiert werden. Möglicherweise aber ist es effektiver, sich nicht auf die Haltung Österreich gegenüber, wie sie in konkreten Taten und Äußerungen deutlich werden kann, sondern auf die grundsätzliche Einstellung bezüglich einem Staat wie Österreich zu konzentrieren. So sollen in diesem Abschnitt zwei Richtungen verfolgt werden: Einmal ist die eher theoretische Frage nach Kramáfs Staatskonzept zu beantworten. Diese Analyse soll jedoch nicht nur Selbstzweck sein, sondern auch Basis und Rahmen für die Beantwortung der Frage nach Kramáfs Verhältnis zu Österreich und der Tschechoslowakei.

Teilaspekten282

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Kramáfs Staatskonzept Zunächst fällt auf, dass der Begriff des Staates zu den am meisten verwandten in Kramáfs Reden und Schriften gehörte. Kramáf war lange einer der vehementesten Verfechter der Theorie des böhmischen historischen Staatsrechtes.283 In den zwanziger Jahren dann wurde der Satz „Für Staat und Nation" zur immer lauter propagierten Parole der sich radikalisierenden Nationaldemokratischen 282

Natürlich war er besonders im Zusammenhang mit der Arbeit in parlamentarischen Ausschüssen er arbeitete beispielsweise in der ersten Legislaturperiode seiner Mandatszeit im Reichrat in verschiedenen mit Finanzfragen beauftragten Ausschüssen mit, so im Steuerausschuss auch mit Einzelheiten beschäftigt. Doch es ist auffällig, wie gern er in Reden und ebenso in privaten Notizen einen großen Bogen spannte und grundlegende politische Fragen anschnitt. 283 Vgl. zu Kramáfs Staatsrechtsdenken: Winters: „Tactical Opportunism". -

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Partei. Das Verhältnis von Staat und Nation schien im tschechischen Diskurs des Nationalen ungeklärt. Nur wenige Autoren machten sich diesen Zusammenhang bewusst und kritisierten ihn, so Emanuel Radi, als er versuchte, mit einer stärker am Staat orientierten Nationskonzeption gegen die Herdersche Tradition anzugehen: „Herder hat die Theorie aufgestellt, der zufolge diese Entwicklung verkehrt herum erscheint: als sei die Nation zuerst da gewesen, der Staat erst danach; diese Philosophie verwirrt uns heute: Nehmt Euch in Acht 4 vor Herder!"2 Der Terminus „Staat" wurde jedoch kaum hinterfragt oder theoretisch reflektiert. Kramáf war ein leidenschaftlicher Staatsmann, aber ein nur sehr widerwilliger Staatstheoretiker. Dies entsprach ganz dem bereits in anderen Zusammenhängen deutlich gewordenen Mangel an Bereitschaft, auf einer eher abstrakten Ebene Theorien zu entwickeln oder zu überdenken. Hinzu kam, dass das europäische späte 19. Jahrhundert ein enges, aber sehr selbstverständliches Verhältnis zum Staat entwickelt hatte. Insbesondere das deutsche Bildungsbürgertum forderte Treue und Stolz gegenüber dem Staat. Der Historismus spielte hier in der Tradition Hegels, welcher den Staat als praktizierte Vernunft angesehen hatte, und mit Rankes Vorstellungen von Staaten als „Individualitäten [...], geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes man darf sagen, Gedanken Gottes"285 eine entscheidende Rolle. Kramáf dürfte stark von dieser sehr grundsätzlichen Haltung beeinflusst worden sein, nicht zuletzt wieder vom Staatssozialisten Adolph Wagner. Es war ein moderner, mächtiger Staat mit umfangreichen Funktionen und Kompetenzen, der so verehrt wurde, ein Staat aber auch, der sich in den deutschen bürgerlichen Diskursen schon lange zu einer Selbstverständlichkeit und Autorität entwickelt hatte. Er konnte in seiner konkreten Form kritisiert werden, wurde jedoch in seinem Wesen, seiner Existenz nicht hinterfragt. Vertragstheorien, Visionen vom gesellschaftlichen Urzustand, in den Bereich naturrechtlichen Denkens hineinführende Fragen nach dem Warum waren auch Kramáfs Sache nicht. Er ging vom gegebenen Zustand aus, und der zeigte den modernen, durchorganisierten Staat. Dieser hatte Kramáf zufolge eine Vielzahl von Aufgaben zu erfüllen, die sich über die Bereiche der Wirtschaft, des Sozialwesens und natürlich der Politik -

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erstreckten.286

„Die moderne staatliche Verwaltung ist nicht auf die Aufgaben eines Nachtwächters beschränkt, nicht nur auf den Schutz des Eigentums, sie greift vielmehr in alle Lebensbereiche ein und schafft neue, und sie ist einer der wichtigsten Motoren der modernen sozialen Entwicklung, ist entscheidend für die Gestaltung aller kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse."287 284

„Pozor na Herdera!" Rádl: Válka Cechû s Nëmci, S. 21. Ranke: Zur Geschichte Deutschlands, S. 329. Kramáf: Ceské státní pravo, S. 6If. Ders.: Miada generace, S. 7. 287 „Státní správa moderní neobmezuje se na úkoly ponocného, na pouhou ochranu majetku, zasahá do vsech pomërû zivotních, tvofí nové a je jedním s pfedních pruzin moderního sociálniho rozvoje, je 285

286

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Autorität war hier ein wichtiger Begriff, der Staat sollte die Verwaltung trotz aller geforderten föderalen Strukturen288 fest im Griff behalten,289 auch die Kirche sollte vom Staat kontrolliert werden.290 Bei einer solch mächtigen Stellung mit so weitreichenden Funktionen konnte es nicht ausbleiben, dass in das Leben des Einzelnen sehr stark eingegriffen wurde, dass der Bürger in direkten Kontakt zum Staat trat und treten musste.291 Ein enges Verhältnis zwischen Staat und Bürger hielt Kramáf für wünschenswert und aus administrativen und politischen Gründen für notwendig. Ein wichtiges Problem der russischen Gesellschaft vor 1917 beispielsweise sah er darin, dass die Bauern nur in Beziehung zum gutsbesitzenden Adel und eventuell zur Bürokratie standen: Das Fehlen einer Beziehung zum „Staat" war Kramáf zufolge eine direkte Ursache für den Mangel an Patriotismus und nationalem Engagement des russischen Volkes. Der Bauer habe überhaupt erst bei seiner Einberufung zum Militär von der Existenz eines Staates erfahren.292 Es gehörte Kramáf zufolge zu den Aufgaben der Bürokratie, nicht nur zu organisieren und zu verwalten, sondern auch, den Staat nach außen hin zu vertreten und eine Einheit, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu vermitteln. Diese Staatsidee entsprach dem modernen westeuropäischen Modell, wie es sich seit Absolutismus und Aufklärung, besonders aber in der Verknüpfung dieser beiden Phänomene in der in Preußen und Österreich praktizierten Form, durchgesetzt hatte. Effektivität, Planung, Organisation waren die Zauberworte dieses rationalistisch begründeten Konzepts. Auch Kramáfs Staat sollte vernünftig planen und handeln, einen effektiven wirtschaftlichen, politischen und kommunikativen Organisationskomplex bilden. Darüber hinaus aber sollte er auch eine Einheit, Heimat formen, in Kramáfs Diktion: einen Organismus. Kramáf bestritt ausdrücklich, an einen allmächtigen, durchgeplanten Staat zu glauben. Die Effektivität, die er anstrebte, wollte er letztlich nicht in rationalen Überlegungen, in Entscheidungen am runden Tisch begründet sehen, sondern in einem tieferen, lebendigen, „organischen" Zusammenhang. „State administration is a living entity, the object of which is direct intercourse with the public; it is not the arcanum of a government department seated on a height from which it looks down upon the Kramáf wandte sich explizit gegen jede rationalistische, von ihm als absolutistisch oder neoabsolutistisch beschriebene Regierungsform und plädierte für

people."293

rozhodující pro utváfeni

väech

pomërû kulturních, hospodáfskych a sociálních."

Kramáf: Miada gener-

ace, S. 7. 288

Kramáf wandte sich allgemein, nicht nur in Bezug auf Österreich, gegen jeden Zentralismus. So stellte er Deutschland als positives Beispiel gegen Frankreich. Kramáf: Ceské státní pravo, S. 68. z.B. TNSZ, Bd IV, S 3707. 290 Posl. Dr. Kramáf o souëasné politické situaci, NL 7.4.1925. 291 Kramáf: Miada generace, S. 7. 292 Kramáf: Die russische Krisis, S. 121 und 260. 293 Kramáf: Europe, S. 194. 289

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einen

„organischen", die historischen Strukturen und die individuellen WesensStaat.294 „Ich bin fest davon überzeugt, dass Staaten nicht nur züge zufällig zusammengetriebene Massen innerhalb von [...] Grenzen sind. Die hundertjährige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung verbindet alle und schafft aus ihnen einen Körper mit den gleichen Schmerzen."295 Der moderne Staat, eigentlich ein Produkt der aufklärerischen Tradition, wurde so in seiner letzten Begründung in einen eher romantischen Zusammenhang überführt. Es war wieder die Nation, die das Funktionieren und die Legitimation des Staates möglich machte. Organische Verwaltung bedeutete an einem nationalen Charakter orientiertes Handeln; nur nationale Einheit konnte Kramáf zufolge den notwendigen staatlichen Zusammenhalt und eine gewisse Kontinuität gabeachtenden

rantieren. Kramáf bewegte sich hier deutlich im Denkkollektiv der romantischkonservativen Staatsidee in der Tradition Adam Müllers, Lorenz von Steins und schließlich der Staatssozialisten und verband diese mit dem entwickelten nationalen Denken des späten 19. Jahrhunderts. Der Begriff des Organismus, der konservativen Tradition entnommen, wurde mit Elementen aus dem kulturell begründeten Diskurs des Nationalen gefüllt, wie sie im Konzept der lidovost als integraler, d.h. über den traditionell engen, bürgerlichen Nationsbegriff hinausgehender Nationalismus formuliert worden waren. Jeder Einzelne sollte eine unmittelbare Beziehung zum Staat haben, jeder Staatsbürger sich mit Regierung, Verwaltung und Staatsidee identifizieren können. Historisches Staatsrecht und nationales Selbstbestimmungsrecht

Die Staatsidee in Kramáfs Schriften war also von zwei scheinbar gegensätzlichen Konzepten geprägt: dem rationalen Staatsbegriff der Aufklärung einerseits und dem am Organismusideal orientierten Denken der Romantik andererseits. Kramáf propagierte einen Staat mit rationaler, moderner Praxis und romantischer

deshalb aber nicht weniger moderner Legitimation. Praktisch war dieGegensatz im Konzept des böhmischen historischen Staatsrechts begründet. Hier stellte Kramáf historische Entwicklung und regionale Individualität als rechtsbegründende Strukturen gegen die theresianischen und josephinischen Verfügungen, welche seiner Ansicht nach Gesetze, jedoch kein Recht geschaf-

-

ser

fen hatten.

294

Kramáf: Miada generace, S. 7. sim. !95

Ders.: Na -

novych dráhách,

S. 2.

Ders.:

„Já jsem pevnë pfesvëdëen, státy nejsou nahodnë sehnané masy v Stoiety hospodáfsky, sociální a kulturní vyvoj váze vSecky a delà z nich bolestmi." TZNS, Bd XIV, S. 1574. ze

Ceské

státní

pravo, pas-

-

[...unleserlich] hranicích. jedno tëleso se stejnymi

105

Der Blick auf das

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Eigene

„Das böhmische Staatsrecht ist also dem Rechtsdenken des böhmischen Volkes zufolge das Recht, das den Ländern der böhmischen Krone zugehört. Und es ist wohl nicht besonders

Rechtsgültigkeit

zwar

wagemutig

zu

sagen, dass Maria Theresia gegen seine

Taten und Gesetze einsetzen

konnte, jedoch nichts,

was

ging noch weiter, als er schrieb: „Uns allen ist die innere Gestaltung Cisleithaniens gleichermaßen verhasst, weil sie die Verneinung unserer historischen Rechte ist."297 Mit Hilfe des böhmischen Staatsrechts sollte eine staatliche Ordnung nach Kramáfs Vorstellungen möglich werden: Das bedeutete vor allem eine intensive und effektive Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungspolitik. Kramáf wollte diese Zielgerichtetheit und Zweckmäßigkeit jedoch nicht durch rationalistische Überlegungen erreichen, sondern in einem „organischen" Staat, der auf historisch gewachsene und national bedingte individuelle Strukturen Rücksicht nahm. Letzteres war es, die national bedingten Strukturen, auf die es Kramáf in der konkreten Situation natürlich am meisten ankam: Eine moderne Verwaltung hatte Cisleithanien bereits, Kramáf kämpfte nun für weitere Rechte der tschechischen Nation. Die Länder der böhmischen Krone verkörperten für ihn das Ideal eines historisch gewachsenen Staates mit einer verbindenden Institution der Wenzelskrone -, regionalen Besonderheiten in Böhmen, Mähren und Schlesien -, historisch verwurzelten und juristisch begründeten politischen und administrativen Instanzen und einer eindeutigen nationalen Tradition. Einer eindeutigen nationalen Tradition? Der deutsche Begriff des böhmischen Staatsrechts machte unübersehbar deutlich, was die tschechische Entsprechung Ceské státní pravo verstecken konnte: Es handelte sich hier ursprünglich um eine staatliche und territoriale Tradition, keineswegs um eine nationale. Dennoch wurde die Forderung nach Realisierung des Staatsrechts zu einem Argument der tschechischen nationalen Bewegung sowohl Alttschechen als auch Jungtschechen, und ebenso einige Radikale operierten mit ihr und war seit dem Ende der 1860er Jahre ein fester, allgemein akzeptierter Bestandteil des tschechischen nationalen Diskurses.298 Nur wenige Autoren erinnerten dann und wann an die ursprünglichen Implikationen der Staatsrechtsidee, so Josef Pekaf, der 1912 schrieb: „Das Staatsrecht ist absolut kein tschechisch nationales Programm [...], es ist ein Programm, an dessen Zielen sich die Deutschen ebenso wie die Tschechen beteiligen können."299 Kramáf bildete keine Ausnahme unter den Verfechtern des böhmischen Staatsrechtes, wie sie seit den späten 1860er Kramáf

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296

„Ceské státní pravo jest tudíz die právních nazorû ëeského lidu pravo, jez zemím koruny íeské nálezí. A není snad odvázno tvrdit, ze proti právoplatnosti jeho od Marie Terezie bylo lze provésti sice a zákony, avsak nie, co by pravajako pravo mohlo zruäiti." Kramáf: Ceské státní pravo, S. 51. skutky 297 „Nám vsem je vnitfní ustrojení Cislajtanie stejnë nenávidenym, ponSvadí je negad naSich historickych práv." Kramáf: Poznámky, S. 27. 298 Zur Akzeptanz vgl. Cornej: Lipanské ozvëny, S. 106. 299 Pekaf: Nové zprávy, S. 462.

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107

Jahren, nach dem Ausgleich mit Ungarn von 1867, vor allem in den Reihen der Jungtschechen zu finden waren; auch er formulierte eine alte, ursprünglich lanzu einer neuen, national codierten Parole welche besagte, die staatliche Eigenständigkeit Die Kontinuitätsthese Böhmens als Teil der Habsburgischen Erbländer sei nie rechtlich wirksam aufgegeben worden war jedoch eigentlich als Protest des böhmischen Adels gegen den Habsburgischen Zentralismus entstanden. Dieser Diskurs hatte ursprünglich keine Gemeinsamkeiten mit dem tschechischen Diskurs des Nationalen, der sich aus vollkommen anderen Wurzeln entwickelt und mit Kultur und Sprache anstatt mit Staatsrecht und Geschichte argumentiert hatte. Die nationale Bewegung aber gewann durch die Übernahme der Staatsrechtsidee den historisch-juristischen Argumentationsstrang für sich, der Diskurs des Nationalen nahm einen Aspekt des verdrängten Landespatriotismus in neuer Formulierung, neuer Codierung in sich auf. Und es war nicht zuletzt Kramáf selbst, der diesen Diskurs aktiv mitgestaltete, indem er „eine Art bedingter verfassungsrechtlicher Nullifikationstheorie" 00 entwickelte und ein Recht Böhmens eigentlich der Tschechen auf Kündigung bei Unzufriedenheit im österreichischen Verband

despatriotisch gemeinte Forderung um.

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reklamierte. Hier wird eine häufig vertretene These bedeutsam: Die Behauptung, „das tschechische Volk [denke] nicht vom Staat her",301 es sei in seinem Denken und seiner Tradition staatsfremd,302 ja sogar staatsfeindlich oder habe zumindest „kein ungezwungenes Verhältnis zum Staat".303 Diese These kann sich auf die eindeutige Orientierung des frühen tschechischen Diskurses des Nationalen an Sprache und Kultur berufen sowie auf die auch von den Zeitgenossen beklagte mangelnde Identifikation der Tschechen mit „ihrem" Staat nach 1918. Auch Kramáf äußerte sich während des Weltkrieges in fast verbitterter Weise über eine angeblich grundsätzliche Abneigung der Tschechen gegen Regierungen.304 In diesem Zusammenhang erscheint es zunächst wichtig, diese „Staatsfremdheit" der Tschechen von der Haltung anderer „staatenloser" Völker zu unterscheiden: Für die Slowaken beispielsweise bildete die Situation nach 1918 viel stärker eine Neuentwicklung als für die Tschechen, die sich bereits in der österreichischen Verwaltung und vor allem im Reichsrat die staatsbürgerlichen Hörner abgestoßen hatten. Auch die nicht wenigen Elemente, die aus der österreichischen Tradition mehr oder weniger bewusst in die Tschechoslowakei hinübergerettet wurden, um Kontinuität und Identifikation zu ermöglichen, sprechen nicht für eine besondere Staatsfremdheit. Trotz dieser allgemeinen Einschränkungen aber ist Eugen Lemberg und anderen im konkreten Fall zuzu-

300

Rabl: Historisches Staatsrecht, S. 395. Lemberg: Volksbegriff, S. 162. So z.B. auch: Makrlik: Ceäi a integrace, S. 60. 303 Kofalka: Tschechen, S. 122f. 304 Tobolka: Procès, Bd I, S. 7. 301

302

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stimmen, wenn sie das böhmische historische Staatsrecht als Mogelpackung identifizieren, als nationalistisches Schaf im staatsbürgerlichen Wolfspelz.

Denn mit dem neuen Staatsrecht wurde kein Staatsbewusstsein geschaffen, sondern wurden nationalistische Forderungen mit juristischen und historischen Argumenten verkauft. Mehr noch: Ein traditionelles Staatsbewusstsein, das theoretisch ein größeres Publikum, unabhängig von nationalen Identitäten, hätte ansprechen können, wurde von der sprachlich-kulturellen nationalen Idee instrumentalisiert und so in der Wirkung eingeschränkt. Staatsbewusstsein wurde umcodiert und zu Nationalbewusstsein gemacht. Angesichts der nicht einfachen Bevölkerungsstruktur in ganz Ostmitteleuropa und eben auch in Böhmen bedeutete diese Umcodierung möglicherweise eine verschenkte Chance, sicher aber eine schwierige, weil unrealistische Gleichstellung von Staatsbewusstsein und Nationalbewusstsein auf Kosten des ersten. Diese Problematik das scheinbar stark auf den Staat bezogene, letztlich aber an der klassischen Kulturnation orientierte Denken wird in Kramáfs Schriften besonders deutlich: Auf den ersten Blick scheint ein intensives Staatsbewusstsein erkennbar zu sein. Und tatsächlich kann man bei Kramáf keinesfalls von einer antistaatlichen Haltung sprechen. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich für einen stark national orientierten Politiker im Vielvölkerstaat Österreich ergeben mussten, akzeptierte Kramáf diesen Staat grundsätzlich als Rahmen für die tschechische Nation. Auch das Konzept des böhmischen Staatsrechts war für ihn dies betonte er immer wieder kein Widerspruch zur österreichischen Idee. Denn Österreich, so sah es Kramáf, war „ein lebendiger Organismus, fähig zur Entwicklung zum Wohle seiner Nationen, und keine zufällige Form, an der man nicht rühren darf, damit sie nicht auseinander fällt."305 Nicht das böhmische Staatsrecht stand also in Widerspruch zum Projekt Österreich, sondern der theresianische Zentralismus. „Ich bin entschieden fur die Erhaltung der Einheit der Monarchie" ; ebenso wie der überwiegende Teil der tschechischen Politiker307 hielt Kramáf den ganz und gar nicht nahe liegenden Wunsch nach einem selbständigen tschechischen Staat bis in die Weltkriegsjahre hinein für eine unrealistische und möglicherweise sogar gefährliche Es war jedoch kein österreichischer Patriotismus, an den Kramáf sich gebunden fühlte. Er akzeptierte Österreich als historisch entwickelten Schutzrahmen für die tschechische Nation, als Verwaltungseinheit, welche am besten geeignet schien, moderne staatliche Aufgaben wie die Durchführung der Wehrpflicht zu erfüllen, und welche wirtschaftliche Räume in der erforderlichen Größe bereit -

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Utopie.308

""

„My pokládáme Rakousko za zivy Organismus schopny rozvoje k blahu svych národu, náhodny útvar, s kterym nesmí se hybati, aby se nerozpadl." Kramáf: Na rozcestí, S. 6. 306 307

RRP, Bd II, S. 2376.

Eine Ausnahme war nur die von A. Kaiina S. 33. Kramáf: O národnostní autonomii, S. 6.

308

a ne za

geführte Staatsrechtspartei. Vgl. Kalvoda:

The

Genesis,

Nation und Staat

109

hielt. Einen abstrakteren und gleichzeitig persönlichen Bezug zu einer übergeordneten Idee „Österreich", Liebe zur Dynastie oder Identifikation mit der österreichischen Geschichte aber sucht man in den Schriften Kramáfs vergeblich. Zu den verschiedenen Kritikpunkten bezüglich Maria Theresias beispielsweise fügte er auch an: „Außerdem war Maria Theresia eigentlich nichts anderes als ungarische und böhmische Königin, weil das deutsche Kaisertum bereits nichts als ein leerer Titel war und Maria Theresia sogar nur die Ehefrau des deutschen Kaisers."309 An anderer Stelle nannte er die Begründung des österreichischen Kaisertitels „eine bloße Namensänderung" 10 und sich selbst „keinen besonders dynastisch empfindenden Menschen".311 Ehrfurcht vor der habsburgischen Dynastie oder dem Institut des österreichischen Kaisertums ist nicht zu erkennen, vielmehr zweckorientiertes politisches Denken. Ebenso wenig aber stand hinter dem Kampf um das böhmische Staatsrecht eine Orientierung an höheren Werten abgesehen natürlich vom Wert der Nation. Kramáf sprach zwar von Freiheit, Demokratie, Wahrheit, aber er meinte damit angebliche Eigenschaften der Tschechen, nicht philosophisch begründete Ziele eines Staates. Wenn er Österreich erhalten wollte, so ging es ihm ganz in Übereinstimmung mit der berühmten Argumentation Palackys aus dem Jahre 1848 um den Schutz der tschechischen Nation. Wenn er für das Staatsrecht kämpfte, wünschte er nicht vorrangig einen Landespatriotismus, sondern die Verbesserung der Lage der Tschechen. In der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts trafen nationale Bewegungen auf einen dynastisch legitimierten Staat. Kramáf erkannte die Problematik deutlich, und bis ins 20. Jahrhundert hinein bemühte er sich um eine Verknüpfung beider Konzepte und eine Befriedung des Konflikts. Seine Position und die Entscheidung, die er im Falle eines radikalen Auseinanderstrebens treffen würde, war jedoch klar: Der Diskurs des Nationalen hatte ihn so stark geprägt, dass der Wert und die Gemeinschaft „Nation" eindeutig im Vordergrund stand. Kramáfs intensive Beschäftigung mit dem Staatsrecht, das die Berechtigung Österreich-Ungarns in seiner gegebenen Form in Frage stellte, war hier Ursache und Symptom gleichermaßen. Dabei waren andere Entscheidungen durchaus denkbar: Es wurde bereits der Bohemismus als landespatriotische Option genannt, und im Weltkrieg, als die Entscheidung akut wurde, plädierten nicht wenige Persönlichkeiten aus so unterschiedlichen Lagern wie Sozialdemokratie und Katholizismus für die Weiterexistenz eines österreichischen Staates. Kramáf kannte diese Positionen, doch es war nicht erst ein Weltkrieg notwendig, um seine Entscheidung auf der theoretischen Ebene vorweg zu nehmen. -

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309

„Mimo to Marie Teresie ani vlastnë nebyla niëim jinym nez královnou uherskou a íeskou, ponëvaé nëmecké císafství bylo jiz jen prázdnym titulem a Marie Teresie dokonce byla jen manzelkou nëmeckého císare." Kramáf: Ceské státní pravo a ëeska strana lidová, S. 1094. 310 RRP, BdVII, S. 7923. 311 „AC nejsem ani pfiïia dynasticky cítící ilovëk". AÚTGM MA Kor I, Brief an Masaryk 31.1.1889.

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Bereits 1906 hatte er geschrieben: „Ein zweisprachiger Patriotismus, wie ihn sich vielleicht noch unser Adel vorstellt, ist ein Anachronismus. Das Problem liegt darin, ein Gleichgewicht zwischen dem [nationalistischen] Bemühen der beiden Nationen und der kategorischen Forderung nach der Einheit des Landes zu finden."312 Dabei erschienen österreichischer Patriotismus und tschechisches Nationalgefühl nicht prinzipiell als Widersprüche, es gehörte vielmehr zu Kramáfs Zielen, hier eine Übereinstimmung herbeizuführen: „Im Wiener österreichischen Patriotismus liegt auch nicht das österreichische Problem. Das liegt tiefer, und es lässt sich nicht auf eine so bequeme Art lösen, wie es Ehrfurcht vor bestimmten Farben, Emblemen usw. ¡st, wie so oft oberflächlich gedacht wurde. Das österreichische Problem liegt darin, dass der ausschließlich tschechische, polnische, slowenische, deutsche Patriotismus gleich-

zeitig eo ipso gut österreichischer Patriotismus sein muss, [...] dass die tschechische Nation sich so glücklich und für die Zukunft so sicher in Österreich fühlen soll, dass sie in der gesicherten Existenz des Reiches, in seiner Kraft und Mächtigkeit auch ihre eigene Kraft und Entfaltung und gesicherte Zukunft sieht."3'3

Diese Übereinstimmung machte Kramáf jedoch vom Verhalten Wiens den Tschechen gegenüber abhängig. Ein österreichischer Patriotismus war wünschenswert, keinesfalls aber notwendig oder gar natürlich ganz im Gegensatz zum tschechischen nationalen Bewusstsein, das ihm so selbstverständlich wie unausweichlich und damit absolut vorrangig erschien. Und so drohte Kramáf nicht erst nach dem Ausbruch des Weltkrieges mit slavischer Untreue gegenüber Österreich, sondern schon in früheren Jahren. „Daher sage ich ganz offen: Österreich braucht die slavische Einigung nicht zu furchten, solange es selbst zu den Slaven gerecht sein wird. Wenn aber Österreich die Slaven hier bei uns als eine Nation zweiten Ranges behandle [...], dann kann die slavische Frage eine Gefahr für Österreich werden."314 Kramáf plante, wenn er solche Aussagen machte, keinen selbständigen tschechischen oder tschechoslowakischen Staat, sondern er wies auf eine Verpflichtung der österreichischen Regierung den Nationalitäten gegenüber hin, die juristische und historische Grundlagen hatte. Er verlangte die Erhaltung eines „organischen" österreichischen Staates, in dem die Tschechen die ihnen seiner Ansicht nach zustehenden Rechte hatten. Eine solche Haltung unterschied sich grundsätzlich von der Aussage Masaryks, der -

312

„Dvojjazyëny Patriotismus, jak tane na mysli jeäte snad naäi siechte, je anachronismem. Problem je, najiti rovnováhu mezi pfirozenym a oprávnením tímto snazením obou národu a kategorickym pozadavkem jednoty zemë." Kramáf: Poznámky, S. 69. „Ve vídeñském rakouském patriotismu také není rakousky problem. Ten lezí hloub, a nedá se fesiti tak pohodlnym zpûsobem, jako je úcta kjistym barvám, emblemüm atd., jak ëasto tak povrchnë myslili. Rakousky problem je v torn, aby vyluënë ëesky, polsky, slovinsky, nëmecky Patriotismus byl zároveñ eo ipso dobfe rakouskym, nebo jinymi slovy, hledíme-li k nasïm pomërûm, aby ëesky národ se cítil tak äfastnym a pro budoucnost v Rakousku bezpeënym, ze by v pojiStëné existenci fíSe, v její síle a mohutnosti vidël také vlastní sílu a rozkvét i zajistënou budoucnost." Ebenda, S. 51. 314 RRP, Bd I, S. 1212.

Nation und Staat

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im Weltkrieg davon sprach, dass „Österreich ein vollkommen künstlicher Staat" sei315 und der damit paradoxerweise zustimmend die Meinung der alldeutschen Bewegung zitierte. Später berief sich Kramáf im Zusammenhang mit dem sehr schwerwiegenden Vorwurf des „Österreichertums", der einen zentralen Punkt des odboj-Stveits und eine Waffe im parteipolitischen Kampf bildete, bevorzugt auf seinen Zei-

tungsartikel

vom 4. August 1914, in dem er von einem unerbittlichen Kampf des Slaventums gegen das Germanentum gesprochen hatte.316 Dieser Artikel wird gern als deutliche Kampfansage gegen Österreich und damit als Wendepunkt in Kramáfs Denken interpretiert.317 Ganz abgesehen davon, dass die Rede vom Konflikt zwischen „Deutschtum und Slaventum" in deutschen Kontexten bekannt und im tschechischen Diskurs von Palacky etabliert worden, also keinesfalls neu war, relativiert auch die Tatsache, dass Kramáfs selbst schon Jahre zuvor seine Loyalität gegenüber dem österreichischen Staat an Bedingungen geknüpft hatte und sogar schon 1898 von einem „historischen Kampf zwischen Tschechen und Deutschen" gesprochen hatte,318 die Bewertung des Textes: Einmal wird klar, dass der Kriegsausbruch nicht der Meilenstein für Kramáf war, für den er gern gehalten wird, dass er die gleichen Vorstellungen, ja sogar in ähnlicher Formulierung, bereits Jahre zuvor vertreten hatte. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn diese radikale Rhetorik vor 1914 mit einem Konzept wie demjenigen der „positiven Politik" vereinbar gewesen war, so blieb sie es auch nach Kriegsausbruch. Wenn Kramáf den Wahlspruch „My country, right or wrong" gern zitierte und lobte,319 so meinte er damit eigentlich „My nation..." Loyalität gegenüber dem Staat setzte eine gute, d.h. eine den Interessen der tschechischen Nation entsprechende Politik voraus. In der Nationalismusforschung wird häufig Verfassungspatriotismus mit Nationalismus kontrastiert; westliche Identifikation mit dem Staat gegen östliche Loyalität zur Nation. An Kramáfs Beispiel kann die Komplexität dieser Frage deutlich gemacht werden. Verfassungspatriotismus war möglich, aber an Bedingungen geknüpft, dagegen war nationale Identität ursprünglich, primordial codiert. Dennoch konnte Kramáf durchaus ein auf die Verfassung bezogenes Nationalbewusstsein, wie beispielsweise im Falle der Vereinigten Staaten, nachvollziehen. Denn dort war die Nation in dieser Richtung definiert, codiert worden, Nation und Staat entsprachen einander per deflnitionem. Demgegenüber weisen Kramáfs Zitat „My country, right or wrong" und seine Bewunderung des englischen Nationalstolzes auf einen komplexeren 315

Masaryk: Nova Evropa, S.

120. Gemeint ist der Artikel Kramáf: Svétová válka, NL 4.8.1914. Differenzierter äußert sich Lemberg: Studien, S. 197f. Aber auch er interpretiert die Aussage vom slavisch-germanischen Kampf als Zeichen für eine Abwendung von Österreich. 318 „mezi národem naSím a návalem nëmeckym se odehrává svëtodëjny historicky boj". Banket k oslavë narozenin Frantiäka Palackého. NL 19. 6.1898. stych 319 z.B. Kramáf: Die russische Krisis, S. 205. 316 317

Der Blick auf das

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Fall hin: Denn hier wurde englischer Anspruch einem britischen Staat übergestülpt, einem Staat, der von vielen seiner Angehörigen, ob in Belfast, Cardiff oder Edinburgh, durchaus nur unter bestimmten Bedingungen akzeptiert werden kann. Ein in seiner Tendenz so totalitärer Wahlspruch wie „My country, right or wrong" bezieht sich meist auf ein Kollektiv mit primordialer, unangreifbarer Codierung, und es gibt wohl nur wenige Fälle, in denen dieses mit dem Staat kongruent ist Großbritannien gehört sicher nicht dazu. Die Konstruktion einer scheinbaren Kongruenz ist in Ostmitteleuropa besonders deutlich zu beobachten, sie entspricht jedoch einem grundsätzlichen Problem der Schaffung kollektiver Identitäten und nicht nur den Verhältnissen östlich des Rheins. In Österreich war seit der Regierungszeit Josephs II. versucht worden, ein tiefgreifendes Staatsbewusstsein zu vermitteln. Doch gegen die Behauptung eines Staatsratsmitglieds im Jahre 1780 „Allein der Staat lebt ewig, das ist über alle Menschenalter hinaus"320 entwickelte sich der nationale Code, und so konnte Palacky behaupten: „Wir waren vor Österreich, wir werden auch nach Österreich sein". Und tatsächlich Österreich-Ungarn zerfiel, und einer seiner Nachfolger war die Tschechoslowakei, ein neuer Staat, dessen Existenz und Grenzen zunächst legitimiert werden mussten. Dies schien zunächst nicht schwer, entsprach doch die Gründung der Tschechoslowakei scheinbar den Idealen, für die im Weltkrieg auf alliierter Seite gestritten worden war: Freiheit, Demokratie und nationale Selbstbestimmung. Im tschechischen nationalen Diskurs erschien ein „eigener" Staat nun auch als das konsequente Ziel langjähriger Bemühungen und Kämpfe. Doch obwohl dieser Staat als das einzig richtige Ergebnis eines entsetzlichen Krieges und als Belohnung für die langen Mühen einer nationalen und damit moralisch gerechtfertigten Bewegung dargestellt werden konnte, obwohl die Literatur gern die Begeisterung des Spätherbstes 1918 beschreibt, obwohl also eine ideale Ausgangslage gegeben schien, hatte die Tschechoslowakei schon früh mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen und auch wenn man die außenpolitischen Steine außen vor lässt, welche die Revisionsversuche von deutscher, österreichischer und ungarischer Seite dem Staat in den Weg legten, waren die inneren Probleme noch weitreichend genug. Die politische Diskussion in der Tschechoslowakei im tschechischen Rahmen beschäftigte sich immer wieder mit dem Problem einer mangelnden Akzeptanz des Staates in der Öffentlichkeit. Mit dem Appell „Dies ist nun unser Staat, wir sind nicht mehr in der Opposition" versuchten Politiker und Publizisten, einen kritischen, im Kern aber loyalen Diskurs vor allem unter der Intelligenz und den Beamten zu schaffen. Die vielzitierte, nun als problematisch empfundene Staatsfremdheit, ja Staatsfeindschaft der Tschechen sollte überwunden werden. Nicht nur die österreichische Vergangenheit aber die „Staatsfeindschaft" wird meist mit dem Leben in einem „fremden" Staat erklärt war hier -

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zit.n. Kofalka:

Tschechen, S. 28.

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auch aus der nach 1918 etablierten neuen Staatsideologie ergaben sich Probleme. Denn das Masaryksche Geschichtsbild, das hier von entscheidender Bedeutung war, orientierte sich stärker an oppositionellen Denkern als an pragmatischen Politikern. Seine Losung „Jesus, nicht Cäsar" konnte Pathos und Aufbruchstimmung vermitteln, sie war jedoch weniger gut als Integrationsformel in einem modernen Staat geeignet. Aus der Oppositionshaltung in die Rolle der loyalen Staatsnation: Abgesehen von sozialpsychologisch erklärbaren Schwierigkeiten, die sich aus diesem Schritt ergaben, ist natürlich das Problem des Nationalstaates, der keiner war sondern ein vom tschechischen nationalen Diskurs geprägter Nationalitätenstaat, legitimiert durch eine fiktive „tschechoslowakische" Staatsnation und konfrontiert mit der Existenz verschiedener nationaler „Minderheiten", allen voran einer deutschen Bevölkerung von mehr als drei Millionen von entscheidender Bedeutung. Die Proklamation der Tschechoslowakei als Nationalstaat schien logisch und viel versprechend zu sein: Auf diese Weise konnte man sich die Unterstützung der Alliierten sichern insbesondere Wilsons und seiner Berater -, und die innere Legitimation, die Traditionsbildung ebenso wie die administrative und die politische Struktur des Staates erhielten so eine klare Richtung. Die Probleme aber, die sich aus der Gründungsidee ergaben, waren nicht nur durch „Minderheiten" erzeugt, die sich mit diesem Staat nicht identifizieren konnten oder wollten und ihn in mehr oder weniger aggressiver Weise sabotierten.321 Die Legitimation war in sich bereits so widersprüchlich, dass Schwierigkeiten sich ergeben mussten. Dass das Nationalstaatsprinzip nicht in dem Sinne „Eine Nation ein Staat" verwirklicht werden konnte, war klar, und so formulierte eine juristische Definition in der Tschechoslowakei von 1931 auch, „dass als nationaler Staat nur ein solcher anzusehen ist, dessen Rechtsordnung einer bestimmten Nation eine Vorzugsstellung vor den übrigen Nationen Dennoch musste zumindest diese Vorzugsstellung legitimiert werden. Die Fiktion der tschechoslowakischen Nation gehörte ebenso dazu wie das Lavieren zwischen historischem Recht und nationalem Selbstbestimmungsrecht als Legitimationsbasis. Auch Masaryk, der in der Vergangenheit stets ein Gegner der historischen Argumentation gewesen war und sich für die Naturrechtsidee eingesetzt hatte, musste nun Zugeständnisse in Fragen der Logik machen. Hatte er 1896 geschrieben „Wir unterstellen das historische Recht dem natürlichen",323 und hatte sich seine Fortschrittspartei gegen die Argumentation mit dem Staatsrechtsgedanken gewandt,324 so nutzte er seit Beginn des Weltkrieges nicht nur pragmatisch unterschiedliche Argumentationsstränge, sondern

wichtig,

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gewährt."322

321 Eine solche auf Minderheiten konzentrierte Interpretation findet sich noch heute, beispielweise bei Broklová: Die NichtSelbstverständlichkeit. Auch bei Olivová: Ceskoslovenská demokracie. 322 Sobóla: Das tschechoslowakische Nationalitätenrecht, S. 177. 323 Masaryk: Karel Havlííek, S. 142. 324 Skilling: T.G. Masaryk, S. 80. -

Der Blick auf das

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Eigene

optimierte auch durch deren oft bewusst opportunistische325 Verknüpfung seine territorialen Ansprüche. Schon 1914 nutzte Masaryk im Gespräch mit Robert Seton-Watson das Staatsrecht als Basis seiner

Überlegungen,326

und in seiner Schrift Das neue Europa behauptete er in guter diesbezüglicher Tradition, Böhmen sei juristisch gesehen noch immer ein selbständiger Staat.327 Wenige Seiten später im gleichen Buch verband er beide Prinzipien mit der Feststellung, die Tschechen hätten ein historisch begründetes Recht auf einen eigenen Staat und einen natürlichen Anspruch auf den Anschluss der Slowaken328; in einem Gespräch mit Aristide Briand 1916 schließlich forderte er die Auflösung Österreichs „in seine natürlich und historisch gegebenen Bestandteile". Es gab einige Debatten, in denen solche Widersprüche und Legitimationsprobleme aufgegriffen und Fragen nach der nationalen und staatlichen Identität der Tschechen gestellt wurden; die wohl bekannteste hat Ferdinand Peroutka mit seinem provokativen Aufsatz Jaci jsme (Wie wir sind) Auch Kramáf musste sich in diesem von offenen Diskussionen, mehr noch aber von ungestellten Fragen bestimmten Raum seinen Weg bahnen, und sein Wegweiser war natürlich die Nation. Kramáfs pragmatischer Blick war nicht im Charakter Österreichs begründet gewesen, sondern in seiner grundsätzlichen Haltung zum Staat zu jedem Staat! Für ihn brachte die Gründung eines Nationalstaates nicht die Notwendigkeit einer prinzipiellen gedanklichen Wende mit sich. Er hatte schon Jahre zuvor geschrieben, „dass Politik, welche als ihr Ziel nicht das Erreichen der legislativen und administrativen Selbständigkeit der Länder der böhmischen Krone hat, keine tschechische Politik sein kann",331 die Staatsrechtpolitik war als Idee so weit nicht vom Grundgedanken des Nationalstaatsprinzips entfernt. Dagegen hatte beispielsweise der junge Masaryk Nation und Staat getrennt, wenn er formulierte:

ausgelöst.330

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„Die Nation ist eine Einheit, in der die Menschen vor allem eine Sprache sprechen, wo die gleichen religiösen und moralischen Haltungen, die gleichen Sitten,

Gebräuche und Gewohnheiten herrschen und der gleiche Blick auf die Geschichte. Der Staat aber ¡st eine Gemeinschaft von Menschen auch unterschiedlicher Nationalitäten zu dem Zweck, mit einer gemeinsamen Ordnung und gemeinschaftlicher Konzentration der Kräfte den allgemeinen Wohlstand zu si-

Zum Opportunismus Masaryks im Umgang insbesondere mit dem historischen Recht Svetová revoluce, S. 320-394 und passim. Ebenda, S. 16. 327 Masaryk: Nova Evropa, S. 144. 328 Ebenda, S. 149f. 9 Masaryk: Svetová 330 Peroutka: Jaci jsme. 331 Kramáf: Ceská otázka, S. 3. 3 Masaryk: O právu mezinárodním, S. 86. 326

vgl. Masaryk:

Nation und Staat

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Er blieb diesem Gedanken lange treu, später schrieb er: „Das staatliche und politische Leben hat für die Nation nicht die Bedeutung, die man ihm bei uns gern

zuordnet."333

So weit der Weg Kramáfs vom Hauptakteur der „positiven", also loyalen Politik in Österreich zum radikalen Verfechter des Paradoxons einer nationalstaatlichen Tschechoslowakei auf der praktischen Ebene auch scheinen mag, theoretisch war das Staatsrechtsdenken eine Vorbereitung auf die Ideale des Nationalstaates, und die Entstehung der Tschechoslowakischen Republik verlangte von ihm keinen vollständigen Bruch mit bisherigen Prinzipien. Kramáf bildete mit der Forderung, die Tschechoslowakei müsse als tschechischer Nationalstaat betrachtet und gestaltet werden, prinzipiell keine Ausnahme in der tschechischen politischen Kultur. Auch Masaryk und Benes sowie die meisten anderen Politiker sprachen vom tschechoslowakischen Staat und meinten damit einen tschechischen; sie schlössen damit die Slowaken faktisch, die Polen, die Karpathoukrainer und die Magyaren und vor allem die Deutschen auch explizit aus der den Staat begründenden Gemeinschaft aus. Doch Kramáf äußerte sich in dieser Hinsicht deutlicher und radikaler als andere Politiker. Seine Äußerungen über die Deutschen nahmen in manchen Zusammenhängen ausgesprochen hetzerischen Charakter an, seine zentrale Forderung lautete immer wieder: „Dieser Staat wird tschechisch und nur tschechisch sein."334 Wenn Benes dagegen das Ideal des Schweizer Modells auch nicht verwirklichte, so lehnte er es doch nicht ausdrücklich ab. Zumindest verbal versuchte er häufig, in Übereinstimmung mit vielen anderen Politikern, die nichttschechischen nationalen Gruppen einzubeziehen. Kramáf aber wandte sich entschieden gegen die Idee von einer nach Schweizer Vorbild gestalteten Tschechoslowakei335 und ließ sich in einem privaten Brief sogar zu der Äußerung hinreißen: „Man spricht bei uns schon von den 'Brudernationen', die mit uns zusammen in der Republik leben. Das ist nun wirklich [...] widerlich."336 Masaryk nahm seine mit Entsetzen vernommene Äußerung von den Deutschen als Emigranten und Koloni37 sten mit einer Entschuldigung als Ausrutscher zurück.33 Ein Ausrutscher war es nicht, sondern eine ins Gesamtbild sehr gut passende Formulierung, aber immerhin erkannte Masaryk die Gefahr solcher Verbalattacken für den jungen Staat. Kramáf aber betonte auch in bewusstem Kontrast zu Masaryks Zurückhaltung seine nationalistische, exklusive Position immer wieder und mit wachsender Radikalität. -

-

333

Masaryk: Ceská otázka, S. 123. „tentó stát bude cesky a jen Cesky". TZNS, Bd I, 335

334

S. 319.

„Rozhodli jsme se..." mluví o 'bratrskych' národech, ktefí s námi obyvaji republiku. To uz je opravdu hnusné". ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 2819. Brief an Kramáfová 7.6.1920. 337 Masaryk: Na hradë. Poselství národnímu shromázdení. 22.12.1918. Cesta demokracie I, S. 19f. 338 Lemberg: Die Tschechoslowakei, S. 227. 336

ANM Fond Kramáf, K55. Handschriftliche Notizen

„U nás

se uz

[...]

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Kramáf griff auch das Problem der Legitimation der Staatsgrenzen auf, das sich in der Widersprüchlichkeit von historischem Recht und nationalem Selbstbestimmungsrecht manifestierte. Er lehnte die Idee des nationalen Selbstbestimmungsrechts ab. Damit stand er allerdings in der gleichen Sackgasse, in der sich auch viele andere tschechische Politiker und Intellektuelle befanden, welche die Gründung der Tschechoslowakei zu rechtfertigen suchten. Man hatte den Zusammenschluss mit den Slowaken unter Anwendung des Wilsonschen Programms begründet und zu diesem Zweck die Fiktion einer tschechoslowakischen Nation geschaffen. Andererseits berief man sich auf historisches Recht, um das alte Territorium der „Länder der böhmischen Krone" möglichst vollständig inklusive vieler von Deutschen besiedelter Gebiete für den neuen Staat zu erhalten. Bei einer Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts war im Grunde auch die Zugehörigkeit der Slowakei zum neuen Staat nicht mehr zu rechtfertigen. Auch für Kramáf, der sich mit der slowakischen Problematik nur ungern und selten auseinandersetzte, war die Fiktion der einheitlichen Staatsnation eine willkommene Hilfskonstruktion, doch auch damit argumentierte er nur zurückhaltend. „Ich sehe mir das überhaupt nur vom Standpunkt des Staates aus an, und ich halte die Frage deshalb für unnötige Streiterei, ob die Slowaken eine eigene Nation sind."339 Der Argumentation mit nationalem Selbstbestimmungsrecht zog er historische und ethische Begründungen vor: Die Angliederung der Slowakei beschrieb er als eine moralisch notwendige Befreiung einer Nation aus unerträglicher nationaler und sozialer Die sich aus diesem Problem ergebenden Widersprüche ignorierend, konnte er aus ideologischen und pragmatischen Gründen gegen die Idee des nationalen Selbstbestimmungsrechts argumentieren. So hielt er diesen Diskurs, den Wilson mit dem Anspruch auf globale Gültigkeit, gegen die Konzeption Lenins eröffnet hatte, für schädlich bezüglich tschechischer Interessen. Die Deutschen341 und die Polen342, so Kramáfs Vorwurf, hätten die Gutgläubigkeit der Alliierten ausgenutzt und sich durch opportunistischen Umgang mit historischem und natürlichem Recht viele eigentlich den Tschechen zustehende Gebiete gesichert. Eine ebenso opportunistische Argumentation von tschechischer Seite akzeptierte Kramáf natürlich stillschweigend; doch hielt er selbst ausdrücklich am historischen Recht, konkret am böhmischen Staatsrecht und allgemein am Argument langjähriger, „organischer" Zusammengehörigkeit fest. „Aber wie könnte man die tausendjährige Geschichte zerreißen? [...] Böhmen war doch über Jahrtausende -

-

Unterdrückung.340

unser!"343 339

„Já vúbec dívám se na vëci jen se stanoviska státu, a mam proto za zbyteëné hádky, jsou-li Slováci zvláatní národ." Sis: Dr. Karel Kramáf II, S. 19. Kramáf: Pët pfednásek, S. 61. 341 TZNS, Bd I, S. 674. 342 Kramáf: Pët pfednásek, S. 73. TZNS, Bd I, S. 157. 3 „Aie jak pak je mozno roztrhati tisiciletou historii? [...] Vzdy ty Cechy po tisíceletí byly naâe!" Reë poslance dra K. Kramáfe na Kladnë. NL 22.4.1922. 340

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Eigentlich, so scheint es, hätte Kramáf durch seine starke und idealistische Identifikation mit der Nation zum überzeugten und konsequenten Vertreter der nationalen Selbstbestimmung werden müssen, doch ein realistischer, pragmatischer Teil seiner Persönlichkeit wies in eine andere Richtung. Letztlich wird hier eine sehr typische Unentschiedenheit Kramáfs bezüglich Idealen und Interessen sichtbar: Einerseits spielte die Nation als Wert und als vermeintlich ideale Gemeinschaft in seinem Denken eine so starke Rolle, dass jeder Staat möglichst „organisch" verfasst, d.h. einem nationalen Charakter entsprechend organisiert sein sollte. Andererseits dachte er realistisch genug, um diesbezüglich relevante wirtschaftliche und politische Probleme und die Grenzen des nationalstaatlichen Ideals erkennen zu können. Organische Gesellschaft und rational verfasster moderner Staat, nationales Ideal und nationalitätenstaatliche Realität; Kramáf zeigte sich hier als zu idealistisch, um die Realität zu akzeptieren und zu pragmatisch, um eine wirkliche Utopie anzustreben. Kramáf wollte keinen „echten" Nationalstaat mit kongruenten nationalen und staatlichen Grenzen, er wollte einen Staat, in dem es den Tschechen möglichst gut ging. Sowohl dem österreichischen als auch dem tschechoslowakischen Staat gegenüber war er zur Loyalität bereit, solange die tschechische Nation die Möglichkeiten hatte, die er verlangte. Folgerichtig äußerte er sich rückblickend über den österreichischen Staat dahingehend, dieser hätte noch sehr lange bestehen können, wenn er sich nicht gegen die nationalen Bewegungen gestellt, sondern deren Kraft genutzt hätte.344 Es war also keinesfalls der multinationale Charakter des Staates, sondern allein die als antinational empfundene Politik, die Kramáf kritisierte. Auch mit dem tschechoslowakischen Staat konnte er sich nur so lange identifizieren, als dieser einen tschechischen Charakter hatte. Für den anderen Fall drohte er gern mit unerbittlichem Kampf.345 Auch hier ist wieder eine sehr pragmatische Haltung dem Staat gegenüber zu erkennen, dem Denken Kramáfs vor 1918 sehr ähnlich. Dieser Pragmatismus bezüglich der Staatsform wurde jedoch hinter einem demonstrativ zur Schau getragenen Idealismus, einer kompromisslosen Begeisterung für den Nationalstaat versteckt. Durch die Fiktion des tschechoslowakischen Nationalstaates konnten Staats- und Nationalbewusstsein kongruent erscheinen. So erhielt der Staat denselben Wert, der auch der Nation zukam: „Für uns gibt es nur einen einzigen Standpunkt und einen anderen kennen wir nicht: Wir sind vollkommen dem Staate ergeben und niemandem sonst. Staat -

344

Kramáf: Pët pfednásek, S. 7f. Ceskoslovenské národní demokracie". NL 27.3.1922. Eine Drohung übrigens, die er nicht einhielt, die Nationaldemokratie verbreitete lange die Parole „Die Deutschen in die Regierung wir in die Revolution" („Nëmci do vlády my do revoluce"), zeigte sich jedoch auch nach der Ernennung eines Deutschen zum Minister weiterhin stark an einem Ministerposten interessiert. Vgl. Klepetáf: Seit 1918, S. 245f.

345„Sjezd

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und Nation sind uns eins und deshalb sind wir bereit, alle Opfer zu bringen, die der Staat braucht, um zu leben, zu erblühen und kräftig zu sein."34 Noch einmal: Diese Kongruenz war eine Fiktion, die von Kramáf latent gehalten wurde. Entsprechend folgte er weder Mancinis Ausspruch von dem Nationalitätenstaat, der nur mehr ein „monstro incapace di vita" sei, noch forderte er mit Bluntschli eine Kongruenz von nationalen und staatlichen Grenzen. Kramáf verlangte nicht wirklich einen Nationalstaat, sondern einen nationalen Staat. In einem solchen tschechischen Staat war die tatsächliche Zusammensetzung der Bevölkerung unerheblich, es kam auf die Legitimation, die Bedeutung des tschechischen Diskurses des Nationalen und auf die politische und wirtschaftliche Macht der Tschechen an. Doch auch aus anderen Gründen war Kramáf kein klarer Vertreter des nationalen Selbstbestimmungsrechts: So ist seine starke Bindung an historische Traditionen und juristische Gegebenheiten zu nennen und außerdem sein heikles Verhältnis zu Masaryk und dessen Vorwährend des Weltkrieges. Wenn Kramáfs begriffliche Unentschiedenheit gehen ihn ohnehin nicht für eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Dilemma von Nationalstaatsidee und Nationalitätenstaatsrealität prädestinierte, so tat seine Oppositionshaltung seit 1919 ein Übriges: Die Beschränkung auf den Nationalismus als staatsintegrierende Kraft neben der Akzeptanz der national uneinheitlichen Bevölkerungsstruktur wurde bestärkt durch Kramáfs Abneigung gegen Masaryks philosophische Entwürfe. Auch Masaryks Verhältnis zum Staat in der Theorie und in der Praxis war nicht unproblematisch: Er betonte immer wieder, um wie viel wichtiger die innere Befreiung der Menschen sei, forderte die moralische Erneuerung, für die der Staat nur die äußere Hülle abgeben könne. Doch bemühte er sich gemeinsam mit seinen Anhängern, seine Philosophie von der Humanität zu einer übergreifenden Staatsidee zu machen, sprach beispielsweise auch von der Notwendigkeit einer Integration der „Minderheiten": -

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„Man muss auch bedenken, dass unsere Armee auch aus Deutschen und teilweise auch aus Ungarn und Rusinen bestehen wird. Dies sind neue Verhältnisse, die wir beachten müssen, und deshalb werden wir die Demokratie nicht im Äußeren suchen. Ich weiß, dass solche Äußerlichkeiten große Bedeutung haben [...]. Aber ein Nichts."3'1

ohne eine Idee ist dies eine mechanische Äußerlichkeit

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Kramáf hatte nicht nur nichts Entsprechendes zu bieten, er wandte sich auch noch entschieden gegen solch „philosophisches Gerede", das den Menschen seiner Ansicht nach keinen Halt und dem Staat keine Sicherheit bieten konn346

„Pro nás je jen jediné stanovisko ajiného neznáme: Jsme naprosto oddáni státu a nikomu jinému. a národ je nám jedno a proto jsme ochotni a hotovi pfinaäeti väechny obëti, kterych stát potfebuje, aby zil, vzkvétal a byl silny." TZNS, Bd III, S. 186. 347 Masaryk: Reë pfi navstëvë dûstojnickych a poddùstojnickych kursù. Cesta demokracie I, S. 95. (Herv. M.W.) Stát

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Die Debatte um die jeweiligen Aktivitäten während des Weltkrieges, den odboj, ist auch in dieser Hinsicht und bezüglich der Frage nach der Staatsnähe oder -ferne der Tschechen aufschlussreich: Die Gruppe um Masaryk betonte die Schaffung der Tschechoslowakei während des Weltkrieges. Diese Interpretation trug nicht besonders zur Identifikation der Bürger mit ihrem Staat bei der BeKramáf griff der geschenkten Freiheit ist hier das entscheidende betonte dagegen den Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauernden Kampf und die Leiden des tschechischen Volkes. So stellte er eine historische Kontinuität her, die mit staatlichen und territorialen Loyalitäten verknüpft schien, doch die Widersprüchlichkeit von historischer und naturrechtlicher Argumentation konnte er nicht umgehen: „Nach unserer Meinung und nach unserem Willen wird dieser Staat fur alle unsere Leiden und die unserer Väter nie anders sein als unser und tschechoslowakisch!"350 Die alten Grenzen der böhmischen Länder könne man, so forderte er, nicht einfach aus praktischen Gründen oder wegen national begründeter Ansprüche verändern. „Wir wollten nicht einen Fußbreit Erde opfern, weil wir mit den deutschen Gebieten die Idee des tschechischen Staates geopfert hätten." ' Diese Argumentation zog zwangsläufig die Notwendigkeit des Zusammenlebens unterschiedlicher Nationalitäten in einem Staat nach sich: Ein tschechischer Staat konnte nur dann bestehen bleiben, wenn er deutsch besiedelte Gebiete Ein multi- oder zumindest binationaler Staat also ein solcher aber passte keinesfalls in Kramáfs Weltbild. Eine tschechische Tschechoslowakei war der einzige Ausweg. Die böhmischen Länder waren tschechisch aufgrund ihrer Geschichte, die Slowakei war im Grunde tschechisch aufgrund tieferer nationaler Verwandtschaft, die gesamte Tschechoslowakei war tschechisch aufgrund einer Vermengung dieser beiden Axiome. Zusätzlich jedoch nutzte Kramáf noch ein Argument, das machtpolitischen Charakter hatte, aber in moralischer Verkleidung daherkam: Ihr habt den Krieg verloren, wir haben den Krieg Ihr seid die Bösen, wir die Guten, und es gibt keine Ungerechtigkeit, die wir begehen könnten, welche ihr nicht bereits auf viel schrecklichere Weise begangen hättet.354 Es war eine Mischung von modernem Nationalismus, an historischem Recht orientiertem Denken, der Tradition des böhmischen Staatsrechtes in seiner nationalistischen Form und einem besonderen Pragmatismus, welche diesen zittrite.

Schlagwort.349

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einbezog.352

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gewonnen,353

348

z.B. ANM Fond Kramáf, K 55. Handschriftliches Konzept „Nelze nezabyvat se..." Podiven: CeSi, S. 362f. 350 „po naäem mínení, po naäi vüli za väechna utrpeni nasich otcû a nás tentó stát nebude nikdy jiny, nez nás a ëeskoslovensky!" TZNS, Bd I, S. 166. 351 „Nechtëli jsme obëtovati ani píd' zemë, ponëvadz s tëmi kraji nëmeckymi bychom obëtovali ideu ëeského statu." Poslanec dr. K. Kramáf o vyznamu 28. fíjna. NL 28.10.1921. 352 z.B. TZNS, Bd III, S. 1989. 353 z.B. TZNS, Bd I, S. 159. 354 z.B. in TZNS, Bd I, S. 1926. 349

Der Blick auf das Eigene

120

gen Tanz auf dem

Drahtseil, dieses Jonglieren mit verschiedenen, einander oft

widersprechenden Legitimationen

und Realitäten verlangte. Letztlich entscheidend war auch hier wieder die Idee der Nation und der Wunsch, die für die Tschechen vorteilhafteste Entscheidung zu treffen auch unabhängig von innerer

Logik.

-

Verschiedene Codes bestimmten Kramáfs Welt, und um die Latenz dieser Codes aufrechtzuerhalten, ihre Konstruiertheit und Widersprüchlichkeit nicht deutlich werden zu lassen, mussten sie miteinander verknüpft und nebeneinander stehen gelassen werden wie schwierig das sein konnte, zeigte sich insbesondere in der Problematik des „Nationalstaates". Im Grunde verfugte Kramáf über keine feste Staatstheorie, sondern nur über ein äußerst stark entwickeltes national orientiertes Empfinden, das sich an konkreten tatsächlichen oder vermeintlichen Gegebenheiten orientierte. Auch hatte sich seine Einstellung nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, vollkommen geändert, nachdem die Tschechoslowakei als Nationalstaat gegründet worden war. Es waren dieselben Codes, von denen er ausging, und es waren dieselben Prioritäten, die er geltend machte. Die neue Situation ließ Widersprüche deutlicher werden und machte neu formulierte Argumentationen notwendig. Dennoch ist eindeutig eine Kontinuität im Denken festzustellen, das Jahr 1918 brachte in dieser Hinsicht keinen wirklichen Bruch. -

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Der Staat und sein

Umfeld

Mit der

Gründung der Tschechoslowakei, mit der Wandlung der Tschechen zur Staatsnation, kam auf die tschechischen Politiker eine neue Aufgabe zu: der Bereich der Außenpolitik. 55 Hatten sich insbesondere die Jungtschechen schon seit den 1860er Jahren bemüht, halbwegs eigenständig internationale Beziehungen zu entwickeln, und hatten Masaryk und Benes ihre Arbeit während des Weltkrieges vorrangig auf diplomatische Wege gestützt, so wurde die Außenpolitik nun von der Kür zur Pflicht. Diplomatische Anerkennung durch andere Nationen war exi-stentiell wichtig, neue Handelspartner mussten gesucht werden, die Tschechoslowakei hatte sich der Welt als Staat zu präsentieren. Für Kramáf allerdings änderte sich auch in dieser Hinsicht nicht viel. Die Partner, oder besser: Konkurrenten mit denen er sich besonders beschäftigte, waren -

kaum andere als vor 1918: An erster Stelle standen die Deutschen im Reich und Österreich bzw. später in der Weimarer Republik und in der Tschechoslowakei, weiter waren Polen, Ungarn, Frankreich und Russland von besonderem Interesse. Die Kategorien, in denen Kramáf dachte, waren dieselben geblieben, die tschechische Nation war umgeben von Freunden oder Feinden, gleichgültig ob -

Vgl. Dejmet

Historik.

Nation und Staat

121

innerhalb des bestehenden österreichisch-ungarischen oder tschechoslowakischen Staates oder außerhalb. Auch wenn Kramáf in diesem Bereich von staatlicher Stärke und Selbstbehauptung sprach, so ging es doch um die Nation. Die nationalen Grenzen, nicht die staatlichen, waren hier entscheidend. Kramáf gefiel sich auch in diesem Bereich in der Rolle des Realisten im Vergleich zum Humanisten Masaryk. Gegen die These „Jesus, nicht Cäsar" und die idealistische Demokratievorstellung setzte Kramáf explizit die Kategorie der Macht; innen- wie außenpolitisch. Nicht humanistische, universale Werte, sondern eine Politik der nationalen Stärke war, was Kramáf forderte. Dazu gehörten ein fester und einheitlicher Staat, militärische Stärke sowie eine solide, vor allem konkurrenzfähige Wirtschaft. „Weshalb, wozu [die Nation] leben soll, das sind Fragen, die ich gern anderen überlasse. Mir reicht es, dass sie nach außen stark und innerlich gesund, frei und von keinem Fremden abhängig sei",356 so hatte er schon 1906 geschrieben; nach 1918 war es nur eine neue staatliche Ordnung, in der er dieses Prinzip weiter verfolgte. Den Gegensatz zu Masaryk, den scheinbaren Kontrast von starker Politik und schwacher Philosophie hatte Kramáf früher implizit als Praxis gegen Theorie formuliert357; später nannte er es Realismus gegen Träumerei. Im Grunde aber hatte sich seine Meinung auch an dieser Stelle nicht verändert. Kramáf war schon vor 1918 von einer selbstverständlichen ökonomischen und politischen Konkurrenz der Nationen untereinander ausgegangen. Dieser Gedanke radikalisierte sich jedoch: In der Schrift über das böhmische Staatsrecht von 1895 hatte er noch die Notwendigkeit betont, größere wirtschaftliche Regionen zu schaffen. Um die Jahrhundertwende rechnete er in einer Streitschrift gegen Masaryks Volkspartei schon mit nationalen Wirtschaftsräumen, sah aber auch Österreich noch als Einheit, die zur Konkurrenz mit anderen Nationen die Terminologie an dieser Stelle war inkonsequent fähig sein müsse.35 Eine weitere Veränderung ergab sich in den 1920er Jahren. Kramáf, der in Österreich auf einen Ausgleich mit der deutschen Bevölkerung bedacht gewesen war, radikalisierte seine Rhetorik, ging von politischen und wirtschaftlichen Konkurrenzen aus. Hatte er in Österreich für Föderalismus und gegen Zentralismus plädiert, die Schlagworte Habsburg und Böhmen einander gegenübergestellt, so verlagerte sich der Konflikt nun von der staatsrechtlich argumentativen -

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356

„Proé, k Cemu má zít, jsou otázky, které rád pfenechávám druhym. Mnë staëi, aby byl na venek silny vnitfnë zdravy, svobodny a na nikom cizím závisly" Kramáf: Poznámky, pfedmluva. Brief an Masaryk 7.1.1899. AÚTGM MA Osoby K7 Slozka 13. Masaryks Antwort folgte entschieden und prompt: AÚTGM MA Kor I. Brief Masaryk an Kramáf 9.1.1899. 358 Kramáf: Ceské státní pravo a eeská strana lidová, S. 1104f. Auch in einer Reichsratssitzung sprach er von der österreichischen Wirtschaft als „unser nationaler Handel". RRP, Bd IV, S. 4295. Ob und aufweiche Weise sich dieser Gedanke im Kontext der deutschen Nationalökonomie entwickelt hat, ob Kramáf beispielsweise die intellektuell folgenreiche Vorlesung Webers Die nationalen Grundlagen der Volkswirtschaft, Vortrag am 12. März 1895 in Frankfurt/Main kannte, in der dieser sich auf die wirtschaftliche Konkurrenz der Nationen untereinander bezog, kann und muss hier nicht erörtert werden. Vgl. Weber: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. a

357

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121

Der Blick auf das

122

Eigene

Ebene auf die nationalistisch polemische, die Gegenpole hießen nun noch deutlicher als zuvor Deutsche und Tschechen. Kramáf sah eine Gefährdung der Tschechoslowakei in der gespannten internationalen Lage, er verstand jedoch nicht den gesamten Staat als eine einheitliche Kategorie im globalen Kampf um Macht und Geld. Stattdessen schienen es Nationen zu sein, welche gegeneinander kämpften. Ein Aspekt in diesem Kampf war für ihn der scheinbar selbstverständliche Wunsch jeder Nation nach einem eigenen Staat. Dieses Streben gründete sich seiner Ansicht nach in der nationalen Individualität und Geschichte. Da Kramáf aber nicht dem Ideal von kongruenten nationalen und staatlichen Grenzen nachhing, betrachtete er einen Wettbewerb der Nationen, in dem der Erfolg der einen das Unglück der anderen bedeutete, als unausweichlich. Diese Ansicht war ein Ergebnis der Radikalisierung der Nachkriegsjahre. Vor dem Weltkrieg hatte Kramáf eine friedliche Koexistenz der Nationalitäten Österreichs angestrebt. Nach 1918 argumentierte er zynisch mit Sieg und Niederlage: „Wer gewonnen hat, hat gewonnen!"359 Dass dies nicht nur ein rhetorisches Mittel war, dass er tatsächlich an eine Vorrangstellung der Tschechen in der CSR glaubte, zeigt die privat geäußerte Verzweiflung angesichts der Schwierigkeiten, dem neuen Staat ein tschechisches Gesicht zu geben: „Staatsnation! Nein, wir sind vollkommen unnütz!"360 Kramáf meinte eigentlich Nationen, wenn er von Staaten sprach. Der Staatsbegriff, der so häufig in seinen Schriften als Forderung auftaucht, bildete im Grunde nur ein Element seines nationalen Denkens. Kramáf machte auf den ersten Blick den Eindruck, als spielte der Staat in seinem Denken eine wichtige Rolle, da er seine Loyalität insbesondere zur CSR, aber auch zu Österreich, gern und laut bekundete. Letztlich aber zeigt sich, dass er nur die Nation meinte und nicht bereit war, sich auf die auftretenden Widersprüche und Dilemmata einzulassen. Die europäische Entwicklung des modernen Staates und das Ideal der Kongruenz nationaler und staatlicher Grenzen bildeten hier die Basis: Sowohl die revolutionäre Forderung nach der Anerkennung der Volkssouveränität als auch die romantische Vorstellung vom organischen, national-individuellen Staat spielten hier eine Rolle. Wenn das Ideal des nationalen Staates schon in Frankreich kaum zu erreichen war, so gestalteten sich die Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa noch prekärer. Tschechischen Politikern gelang es, sich mit dem Konstrukt des böhmischen Staatsrechtes an diesem Dilemma vorbeizu-

159

„kdo vyhrál,

ten

vyhrál!"

Reë

post

dra. Kramáfe

na

schûzi Národní demokracie

v

Písku. NL

5.7.1921. 360

„Státnim národem! Ne, my nejsme k niëemu!"ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 3202. Brief an Kramáfo-

vá 1.8.1928.

Nation und Staat

123

schummeln. Ein genauer Blick auf die tschechische politische Kultur und auf die Schriften einzelner Politiker wie zum Beispiel Kramáf zeigt jedoch die Fallstricke einer solchen Konstruktion. -

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III. Generationserlebnisse I: Das fm-de-siècle

Excentrische Menschen. Ich saß mit einem jungen Mädchen auf einer Bank und wechselte mit ihr freundschaftliche Worte. Wir sprachen über Ehe und Liebe. Sie wird nur aus Liebe heiraten. Aus Liebe heiraten. Ist das nicht excentrisch Kreisen diese jungen Seelen nicht um eine Achse außerhalb ihres Mittelpunktes? Müssen sie nicht zerreißen? -

Diesen Gedanken schrieb Robert Musil im Jahre 1898 in seinem Tagebuch nieder. „Aus Liebe heiraten" schien ihm eine Verknüpfung zweier sehr unterschiedlicher Dinge zu sein, waren doch im Europa des vergangenen Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen Liebesheiraten eher ungewöhnlich trotz des romantischen Ideals, das sich längst entwickelt hatte. Der Wiener Bürger insbesondere heiratete ernsthaft und liebte zum Vergnügen. Nun aber wollte eine neue Generation beides verbinden, wollte einen Anspruch, den die Väter formuliert hatten, wirklich leben. Sie suchten eine neue Achse und gingen dabei oft bewusst das Risiko ein, „zu zerreißen". Der Gedanke, aus Liebe zu heiraten erschien Musil, dem Beobachter seiner Zeit, als ein Symbol für das verzweifelte Anspruchsdenken, wie es dem fin-de-siècle eigen war, und als Grund für die Zerrissenheit vieler Menschen in dieser Zeit. Kramáf war einer von ihnen. War das 19. Jahrhundert eine Epoche des Bürgertums gewesen, so war es auch die Zeit einer ständigen Krise desselben, das Bürgertum zeigt sich uns als eine gespaltene Klasse. Die Zersplitterung in Wirtschafts-, Bildungs-, Großund Kleinbürger war hier nur ein Symptom für die Unsicherheit der neuen sozialen Schicht. Sie hatte mit ihrem wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg nicht nur die Vorherrschaft von Adel und Klerus in Frage gestellt, sondern die ganze Ständeordnung in ihrer Tradition und vor allem in ihrer Selbstverständlichkeit angegriffen, und es gehörte zu den Zielen bürgerlicher Politik und Lebensweise, eine neue Ordnung mit neuen Legitimationen und Maßstäben zu schaffen. Dieser neuen Ordnung jedoch fehlte die Rechtfertigung durch Gott und Tradition, sie zu kritisieren brauchte es keine Revolution mehr. Oft reichte schon ein wenig Unzufriedenheit und unzufrieden waren nicht nur die nachrückenden Gruppen der neuen Gesellschaft, war nicht nur der „vierte Stand". Auch die Bürger selbst zweifelten häufig an der neuen, inzwischen etablierten Ordnung. Verunsicherung durch den Wechsel von Modernisierungserfolgen und enttäuschenden Rückschlägen war hier nur ein Aspekt von vielen; auch so scheinbar banale Empfindungen wie Überdruss angesichts des anstrengenden, der Öffent-

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1

Musil:

Tagebücher, S. 50.

Generationserlebnisse I

126

lichkeit

Lebensstils der Bürger und der Doppelung von privaöffentlicher Darstellung spielten eine Rolle. Widersprüche und Spannungen kulminierten im so genannten fin-de-siècle. Dazu gesellte sich noch die Tatsache der nahenden Jahrhundertwende: Offenbar reicht allein der Blick auf den Kalender häufig aus, um Diskurse des Krisenbewusstseins zu stärken und in Endzeitstimmung gipfeln zu lassen. Obwohl das moderne Bürgertum sein Selbstverständnis und seine politische Macht weitgehend revolutionären Ereignissen verdankte, stand es zum Ende des Jahrhunderts doch eher für Ausgeglichenheit, Mittelmäßigkeit, Sicherheit Langeweile. Dieses Bild vom bequem zufriedenen Bürgerstand jedoch war ein Klischee waren es doch vor allem Bürgersfrauen, die sich wegen Hysterie und überreizter Nerven zu Dr. Freud in Behandlung begaben, waren es Pastorensöhne, die provozierend über Menschliches, Allzumenschliches schrieben. Nachdem Manns Protagonist Thomas Buddenbrook gestorben war, letztlich wegen eines kariösen Backenzahns wurde sein Sohn Hanno zum Schreiben von Traueranzeigen herangezogen eine sehr bürgerliche Tätigkeit, mit der ein Familienereignis der Öffentlichkeit „in höchster Geschäftigkeit" vermeldet werden musste. „Plötzlich geschah etwas, was alle verstörte. Der kleine Johann geriet ins Lachen. Er [...] schnob durch die Nase, beugte sich vornüber, zitterte, schluchzte und konnte nicht an sich halten. Anfangs konnte man glauben, dass er weine; aber es war nicht an dem. Die Erwachsenen sahen ihn ungläubig und fassungslos an."2 Unbeherrschtes Gefühl steht in dieser aussagekräftigen fiktionalen Quelle gegen kontrollierten Lebensstil, der Sohn, blass, kränklich, ausschließlich auf künstlerischem Gebiet begabt, revoltierte hilflos gegen den politisch aktiven, wirtschaftlich erfolgreichen und schließlich ganz undramatisch an Zahnschmerzen gescheiterten Vater. Und so wie Hanno Buddenbrook den Verfall des großbürgerlichen Hauses in Lübeck symbolisierte, folgten in ganz Europa den wohlhabenden, etablierten, auf Sicherheit und messbaren Erfolg bedachten Vätern des 19. Jahrhunderts die dandyhaften, ästhetizistisch überfeinerten Söhne des fin-de-siècle. Das Antibürgerliche wuchs aus einer bürgerlichen Wurzel, und obwohl es sich so angestrengt als Kontrast gerierte, ließen sich die Ursprünge doch oft nicht verstecken. „Gerade das bürgerliche Publikum reagiert oñ positiv auf Wertvorstellungen, die einer anderen Welt entstammen und die seinige verhöhnen."3 So war das fin-de-siècle eine Zeit des Nebeneinanders von Bürgertum und Dandyismus, von Durchschnitt und Extrem

preisgegebenen

tem Handeln und

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und in dieser Form spiegelt es sich besonders interessant in der Person Karel Kramáfs. Den zentralen Quellenkorpus in diesem Kontext bilden die Briefe Kramáfs an Nadëzda Abrikosova, seine spätere Ehefrau, die er auf seiner Reise durch -

2

3

Mann: Buddenbrooks, S. 688. Loewenstein: Entwurf der Moderne, S. 317.

(Herv.i.O.)

Das fin-de-siècle

127

Russland im Jahre 1890 kennen und lieben gelernt hatte. Im Jahre 1900 konnte Abrikosova sich scheiden lassen und Kramáf heiraten die Trauung wurde im orthodoxen Ritus vollzogen -, doch bis dahin sind viele Briefe geschrieben worden, die heute eine interessante Informationsquelle bilden. Verschiedene Autoren haben bereits auf die Bedeutung Abrikosovas für Kramáfs Persönlichkeit, sein Denken und auch sein politisches Handeln hingewiesen. Häufig wird dieser Aspekt augenzwinkernd als anekdotische Anmerkung oder als Besonderheit des ungewöhnlich irrational handelnden oder gar „unter dem Pantoffel stehenden" Kramáf behandelt.4 Dieser Blickwinkel führt wohl auf eine falsche Fährte, da er eine rationale Normalität impliziert, die vom irrationalen Ausnahmefall kontrastiert wird. Politisches Denken und Handeln jedoch sind nicht nur rational geprägt, sondern immer auch von Vorurteilen und persönlichen Vorlieben sowie von Erlebnissen, privaten Beziehungen und Zufallen beeinflusst. Spätestens seit Bourdieu ist die methodische Trennung von „hoher" und „niederer" Kultur, von Untersuchenswertem und Alltäglichem, überholt.5 Auch der nahe liegende Einwand, Liebesbriefe seien eine Art „Jugendsünde" und deshalb als historische Quelle problematisch, wird schon dadurch entkräftet, dass Kramáf im Jahr der Bekanntschaft mit Abrikosova kein pubertierender Jüngling mehr war, sondern ein erwachsener Mann von dreißig Jahren. Die emotionale Situation, in der Kramáf sich hier befand, ließ einen besonderen Zug seines Wesens, der auch ein Zug dieser Zeit war, deutlich hervortreten: Den Kontrast von Bürgerlichkeit und Extrem. Diese Struktur seiner Persönlichkeit war auch an anderen Stellen erkennbar wie insbesondere im nachfolgenden Kapitel über „Den Blick auf das Andere" deutlich wird und prägte sein Leben in vielerlei Hinsicht, trat jedoch nie in solcher Deutlichkeit zutage wie in diesen sehr emotional geprägten und offenen Briefen. Die Briefe bilden somit einen interessanten Kontrast und gleichzeitig eine Ergänzung zu den anderen Quellensorten, die für diese Arbeit grundlegend waren. Wir schreiben das Jahr 1890. Kramáf hat das kleinstädtische Milieu seiner Herkunft längst hinter sich gelassen und einige Jahre in Prag verbracht. Jetzt lebt er hauptsächlich in Wien, fühlt sich jedoch mit Prag und auch mit dem Heimatort seiner Eltern, dem Städtchen Semily/Semil, eng verbunden. Mit seinen 30 Jahren, nach einem abgeschlossenen Studium und einigen Bildungsreisen in verschiedene europäische Länder wäre es für den folgsamen Sohn eines Textilfabrikanten an der Zeit zu heiraten. Die Ehefrau könnte mit zwei bis drei -

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Kindern in einer nicht allzu

prunkvoll eingerichteten Wohnung

4

in

Prag leben,

z.B. Herman/Sládek: Slovanská politika, S. 12. Auch Lemberg scheint sich für die Verwendung Briefe als problematische Quelle geradezu zu entschuldigen. Lemberg: Studien, S. 174f. privater 5 „nicht allein deshalb, weil in diesen Merkmalen [des Lebensstils] sich die ihre Auswahl beherrschenden ökonomischen und kulturellen Zwänge objektivieren, vielmehr auch, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in diesen vertrauten Dingen gegenständliche Gestalt gewinnen [...] sich vermittels zutiefst unbewusster körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen." Bourdieu: Die feinen -

Unterschiede, S. 137.

Generationserlebnisse I

128

mit der gebotenen Sparsamkeit, immerhin aber umsorgt von einem Dienstmädchen. Von den groben Arbeiten im Haushalt befreit, könnte sie sich, den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend, verschiedenen wohltätigen Aktivitäten in tschechisch-national orientierten Vereinen widmen. Der Einfluss des Wiener Bürgertums würde Kramáf womöglich zu einer Liebelei mit einem „süßen Mädel" verführen, die jedoch auf seine Ehe keinerlei Einfluss hätte. Ordnung, gemäßigter Wohlstand, Amüsement, aber keine großen Leidenschaften dies wäre im Jahr 1890 beim Blick auf die private Zukunft Kramáfs zu erwarten gewe-

sen.

ungefähr aber trat ein neuer Diskurs in den Vordergrund. Ein Jahrzehnt brach an, in dem genau dieses zu erwartende Leben umfassend kritisiert und mit dem Entwurf eines anderen Daseins konfrontiert wurde. Wie sehr dieser neue Diskurs Kramáfs Leben und Denken beeinflusst hat, aber auch, an welche Grenzen er stieß, soll hier an einigen Topoi dargestellt werden. Kramáf suchte sich kein „süßes Mädel" als Zusatzunterhaltung zu einer rechtmäßigen Ehefrau, ein Luxus, den viele Wiener Männer sich offenbar mit Billigung der bürgerlichen Gesellschaft leisteten.6 Seine Beziehung zu Abrikosova bewegte sich in der Nähe eines anderen damals hochaktuellen Motivs: der femme fatale. Abrikosova war eine Frau, kein „Mädel", sie war sexuell nicht unerfahren, sie war wohlhabend und nahm in der russischen Gesellschaft eine anerkannte Position ein und sie war unerreichbar. Die femme fatale war ein typisches Element der antibürgerlichen Welt, „eines von vielen Symptomen des fin-de-siècle"': décadence, unterdrückte Sexualität und die Suche nach dem Besonderen, Dramatischen, nicht Alltäglichen, erzeugten auch diesen literarischen und kulturellen Topos8: „Sie war furchtbar. Er sah nicht hin, aber er fühlte sie immer dort, eine bösartige Feindin, die die Macht besaß, durch sein Blut, das sie umwälzte, den sehnsüchtigen Glauben zu jagen, sie sei die eine, für die er besinnungslos drauflos empfinden dürfe und die ihn, ihn lieben würde!" Gegen die überschaubare, als langweilig empfundene Welt des Bürgers wurde das Bild eines nicht kontrollierbaren, überraschenden und bedrohlichen, in jedem Fall aber faszinierenden Daseins gestellt. Und während die bürgerliche Welt von Männern bestimmt war, waren es hier Frauen, die im Mittelpunkt standen: grausam, unberechenbar, fremd. Die Liebe war keine romantische Geschichte mehr, sondern in fast antiker Manier ein über den Mann hereinbrechendes Ereignis, gegen das er sich nicht wehren konnte, das ihn zerstörte und doch bereicherte, ihn leben ließ. Dass diese von Frauen bestimmte Welt mehr mit Männerphantasien und -ängsten als mit weiblicher Emanzipation gemein hatte, versteht sich eigentlich von selbst. Wildes und Strauss' Salomé, Heinrich In diesem Jahr

neues

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6 7

8

Vgl. dazu: Haas: Die Sommerfrische, S. 371. Scott: The Fabrication, S. XIII. Zum Frauenbild der Décadence: Pynsenl: Decadence, Mann: Liebesspiele, S. 6.

-

Decay and

Innovation.

129

Das fin-de-siècle

Manns namenlose „Frau" oder die aus heidnischen Zeiten hervorgesuchte Lilith verkörperten eine Sehnsucht nach dem Extremen. Kramáf stilisierte seine Liebe zu Abrikosova in ähnlicher Weise.

„Eine solche Liebe wie die meine ist schon eher ein Kultus von etwas Höherem [...], und ich schäme mich nicht dafür, dass ich mich so vor Dir verbeuge, ich bin glücklich darüber, weil Du mich liebst. Liebend gern unterwerfe ich meinen [...] unnachgiebigen Charakter, den mir alle vorwerfen, Dir, meiner einzigen Na-

docka."10

Abrikosova liebte, forderte aber vor allem Liebe und Unterwerfung. Kramáf beschrieb sie als geheimnisvoll und unerreichbar, als eine Frau, die ihren Partner in totale Abhängigkeit stürzen kann. Ihre Liebe schwächte ihn, er war ihr völlig ausgeliefert, unterwarf sich ihren Launen. „Alles, was ich wollte, was das Ziel meines Lebens war, das alles ist in der Katastrophe untergegangen weil alles, was außerhalb Ihrer war, für mich seinen Wert und seine Schönheit verloren hat."" Glück und Verzweiflung trafen aufeinander, Extreme, die Kramáfs Leben zerstörten, in ihrer Intensität aber auch reicher machten. Es gab aber auch eine andere Seite an Kramáf: Wenn er sich seiner Geliebten in einigen Briefen bedingungslos auslieferte, so verweigerte er genau diesen Schritt in anderen. „Du forderst Gehorsam. Das hat mich aus der Fassung gebracht, weil ich schon das Wort Gehorsam hasse, weil ich immer die Pflicht des selbständigen Menschen gefühlt habe, alles aus gutem Willen und eigener Initiative heraus zu tun, und nie auf einen Befehl. Erst recht, wenn es um die Liebe geht!" Auch wünschte er sich von ihr Anpassung, indem er sie darum bat, Tschechisch zu lernen was sie in sehr kurzer Zeit bewerkstelligte und davon träumte, sie als Organisatorin eines tschechischen Salons in Prag zu sehen.13 Dies war das bürgerliche, konventionelle Pendant zum Bild der femme fatale. Ebenso spielte die Erotik, ein so entscheidendes Moment in der Konstruktion der „anderen Frau", in Kramáfs Briefen kaum eine Rolle. Die bürgerlichen Moralvorschriften, in denen Sexualität ein Tabu bildete, beraubten das Bild der femmefatale so um ein zentrales Motiv. So persönlich Kramáf in seinen Briefen auch wurde, Sexualität oder auch nur die Tatsache der Kinderlosigkeit des Ehepaares im bürgerlichen Idealbild ein eindeutiges Manko tauchten nicht auf. -

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,0

„Taká láska, jako je ta má, která je uz spiä kultem ëehos vyääiho [...]. Nie se za to nestydím, ze tak se pfed tebou, já rád jsem tomu, ponévaé mne milujeá. Milerád podéiñuji svou [...] nepoddajnou povahu, kterou mnë väude vyéítají, Tobé, své jediné Nadoëce." ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1532. Brief klaním an "

Abrikosova 19.8.1891. ANM Fond Kramáf K

2, 2 2 1700. Brief an Abrikosova 10.7.1892.

i slovo posluänost, ponévaé vzdy jsem pociroval povinnost samostatného élovéka, délat väe, co vùbec mozno, z dobré vúle, z vlastní iniciativy, a nikdy na rozkaz. Coz teprve kdyz jedná se o lásku!" ANM Fond Kramáf K 2, 2 2

l2„Ty, ze zádáa posluänost. To mne pfivedlo z klidu, ponévaé nenávidím 1612. Brief an Abrikosova 1891, kein Datum. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1507. Brief an Abrikosova 7.8.1891.

13

Generationserlebnisse I

130

Hier ist auch der Aspekt wichtig, dass Kramáf die Briefe nicht nur an seine Frau, sondern auch an die Nachwelt schrieb. Er ging schon früh davon aus, nicht zu Unrecht, wie man sieht dass seine Korrespondenz eines Tages als historisches Dokument gelesen würde. Die Öffentlichkeit, die Sphäre des verantwortungsbewussten Bürgers, war beim Schreiben der Briefe häufig präsent. Es gibt noch verschiedene andere Elemente, an denen solche Widersprüchlichkeit deutlich wird: So plante Kramáf beispielsweise, ein Gut in Galizien zu kaufen. In diesem Vorhaben oder vielmehr: dieser Laune vermischten sich verschiedene Aspekte: Kramáf zeichnete eine Utopie, die sehr an die zeitgenössische Mode alternativer Lebensentwürfe erinnert. Materielle Bescheidenheit, ein Leben in der Natur, fern von urbaner Hektik, das Zusammenleben mit „dem ein Klischee, das von dem westlichen Ruf, armen, elenden russischen Volk" zur Natur zurückzukehren, beeinflusst gewesen sein mag, sicher aber auch vom Lebensstil Tolstojs und der Tradition der russischen narodniki. Beide Lebensund Denkformen bewunderte Kramáf, kritisierte sie jedoch auch als zu radikal und auf gefährliche Weise idealistisch. In seinem kurzen Traum von einem anderen Leben kamen denn auch sehr pragmatische Überlegungen vor: Galizien war sein Ziel, wo „viele Güter zu haben sind und nicht teuer", weil „sie fast alle verschuldet sind so dass nicht sehr viel Bargeld notwendig wäre außerdem [...] kann man aus dem Grund und Boden bei ein wenig rationellem Wirtschaften eine Menge herausholen."15 Hier standen Utopie und praktisches, ja buchhalterisches Denken nebeneinander der Kulturkritiker Kramáf wollte aussteigen, und der Bürger in ihm berechnete die Kosten. Ein weiteres Beispiel bietet der Umgang mit religiösen Fragen. Kramáf war katholisch getauft worden, doch spielten Religion und Kirche in seinem Leben offensichtlich keine große Rolle.1 Der Bürger Kramáf sah die Kirche als einen in der Politik nicht zu unterschätzenden und in sozialen Bereichen sinnvoll verwendbaren Faktor. Sein Katholizismus war jedoch selbstverständlich und keines Streits oder gar Kampfes wert, in Berlin hatte er sich über das deutsche Engagement in konfessionellen Fragen gewundert.17 Das gebrochene, „ziemlich oberflächliche, laue und rationalistische"1 Verhältnis der Tschechen zum Katholizismus wirkte hier gemeinsam mit der Selbstverständlichkeit auch könnte

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14„tu myslim o torn, jaky bude náS statek v Haliii, jak budeme hospodafiti, jak budeme pracovati pro ten chudy, bidny rusky lid."ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 2046. Brief an Abrikosova 17.8.1893. 15 „v [...unleserlich] Galicii [...] mozno dostati velmi mnoho statkü, a ne draho. [...] Jsou skoro vSecky velmi prodluzené takze by nebylo potfebi pfiliä mnoho hotovych penëz [...] ze se dá z pûdy pfi jen trochu racionalním hospodáfství mnoho vytëziti." ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 2034. Brief an Abriko-

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11.8. 1893. 16 Die Aussage Klimeks, Kramáf sei orthodoxen Glaubens gewesen (Klimek: Boj 1, S. 338), findet in den Quellen keine Stütze und wird durch die Tatsache widerlegt, dass Kramáf von einem katholischen Priester es handelte sich um Bischof Picha in Vertretung des abwesenden Erzbischofs beerdigt wurde. Disposice o pohfbu dr. Karla Kramafe. NL 27.5.1937. 17 Sis: Dr. Karel Kramáf I, S. 18. 18 Kofalka: Tschechen, S. 80. sova

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Das fin-de-siècle

131

Desinteresse sprechen -, mit der das vor allem wirtschaftlich engagierte westeuropäische Bürgertum spirituelle Fragen anging. In den neunziger Jahren dann tat Kramáf ein paar Schritte auf einem neuen Weg: Er las die Bibel die er sich übrigens erst beim Buchhändler bestellen musste! und war entsetzt über die Grausamkeit im Alten Testament, die ihm der Stimmung der Gegenwart zu entsprechen schien.19 Das im Neuen Testament beschriebene Christentum dagegen verhieß ihm eine bessere religiöse Zukunft, eine Zukunft allerdings, in der die existierenden Kirchen keine Rolle mehr spielen würden.20 Er begab sich auf die Suche2 nach Tiefe und Wahrheit, nach Herz, das er dem Verstand entgegenstellte, suchte im Spiritismus und bei den gängigen Religiman von

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onskritikern, interessierte sich für die Tradition der Böhmischen Brüder, in der er alles zu erkennen glaubte, „wonach die Menschheit sich sehnt".22 Der „formale"23 Katholizismus war ihm zu oberflächlich, aber in einer Zeit von Religi-

onskritik und Zersplitterung auch auf polemische Weise zu kämpferisch.24 Dieses Interesse an religiösen Fragen ordnete ihn den irrationalistischen Tendenzen der Zeit zu, unterschied ihn von der selbstverständlich vorausgesetzten, eher formalen Frömmigkeit des Bürgertums. Doch auf seinem Weg durch das Feld religiöser Kämpfe wurde er niemals zu radikal: Die Dogmengeschichte des eher gemäßigten Harnack beeindruckte ihn tief25; auf den Besuch einer spiritistischen Séance aber reagierte er ziemlich ratlos26 und distanzierte sich fortan von Experimenten dieser Art. Kramáf las in dieser Zeit nicht nur die Bibel; ausnahmsweise hat er hier recht bereitwillig Auskunft über seine Lektüre und andere Inspirationsquellen gegeben. Dabei waren auf der einen Seite die Künstler der décadence und des Kulturpessimismus von Bedeutung. Kramáf liebte Wagner; die starke Emotionalität der als Gesamtkunstwerk konzipierten Opern empfand er als Befreiung von der bürgerlichen Normalität.27 Zu seiner Lektüre zählten Romane des Naturalismus und Realismus mit sozialkritischem oder nationalem Einschlag, soweit sie einen (neo)-romantischen, melancholischen Zug enthielten. Kramáf bekannte sich hier explizit zum Neuen, zum fin-de-siècle: „Wo stehen wir heute am Ende des Jahrhunderts nach dem, was noch vor zehn Jahren herrschte!"

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ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1802. Brief an Abrikosova 4.2.1893. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1802. Brief an Abrikosova 14.9.1892. Er beschrieb seine Motivation selbst: „In diesem Leben gibt es für mich kein Glück mehr, und so muss ich Frieden und Ruhe in der eigenen Seele suchen, und ein Leben anderswo, außerhalb der Welt." „V tom zivoté není pro mne vice ätesti, a tak musim hledati mir a pokoj ve vlastni duêi, a Zivot nëkde mimo svët." ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1798. Brief an Abrikosova 12.9.1892. jinde, 22 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1657. Brief an Abrikosova 25.4.1892. 23 ANM Fond Kramáf K2, 2 2 1835. Brief an Abrikosova 18.10.1892. 24 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1518. Brief an Abrikosova 12.8.1891. 25 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1835. Brief an Abrikosova 18.10.1892. 26 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1768. Brief an Abrikosova 24.8.1892. 27 ANM Fond Kramáf, K 2, 2 2 2000. Brief an Abrikosova 12.2.1893. Zur tschechischen WagnerRezeption Ottlová/Pospísil: Bedfich Smetana, S. 96-111. 20 21

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schrieb er 1895. „Welche Reaktion gegen den damaligen Zolismus." Da mag man Zola heute als Décadent bezeichnen,29 Kramáf erschien er oberflächlich und langweilig. Er begeisterte sich für Knut Hamsun, dessen Mysterien von 1892 er als „ein ungewöhnliches Buch, aufregend durch die schwere Verzweiflung und Melancholie, Unbestimmtheit und Entschlossenheit"3 lobte. extreme Gefühle, Unklarheit und dezisionistische Neigungen Genau dies war es, was àas fin-de-siècle bestimmte, mit dem der Bürger sich gleichzeitig vom des Bourgeoisen abwandte. Weiterhin las Kramáf den Begriff angewidert pessimistischen Jacobsen31 und schrieb an Abrikosova: „Ich habe auch d'Annunzio: L'innocent zum Lesen bekommen und freue mich darauf. Nietzsche allerdings scheint Kramáf noch nicht als Philosophen, sondern nur als -

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verrückten, arbeitswütigen Sonderling gekannt zu haben.33 Ein Bücherschrank, gefüllt mit décadence also auf der anderen Seite aber Lektüre, die dem rationalen Lebensstil des Bürgers entsprach, bildungsorien-

tierte Sachbücher über die Entwicklung der englischen Verfassung beispielsweise,34 Renan oder Rankes Weltgeschichte. Diese Bücher empfand Kramáf als das, was man gemeinhin als „erbaulich" bezeichnet: „etwas, was den Menschen, wie Du so schön sagst, aus dem irdischen Staub heraushebt."35 Auch in der Lektüre also die Doppelung von décadence und Bürgertum, von Rebellion und konventionellen Lebens- und Denkformen. Kramáf hatte an der Verzweiflung des Jahrhundertendes teil. Er hat dabei, ob aus eigener Lektüre oder über Sekundärquellen, Schopenhauers Pessimismus übernommen und proklamierte die Überwindung des Willens die er an einer Stelle fälschlich als Anweisung zum Selbstmord verstand als einzigen Ausweg aus der Sinnlosigkeit alles Irdischen.36 Einige Briefe weisen darauf hin, dass Kramáf in den neunziger Jahren eine echte Krise erlebt hat, bestimmt von Selbstmitleid und Suizidgedanken. Die Politik erschien ihm oberflächlich, sinnlos und beschämend. „Was ich inzwischen alles durchmachen muss [...] mit diesem mir so ekelhaften Bewerben um ein Mandat.37" Er beklagte Fäulnis und -

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„Kde jsme nyní na konci stoleti po torn, co panovalo jeäte pfed 10 lefy! Jaká reakce proti tehdejSimu Zolismu!" ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 2104. Brief an Abrikosova 25.11.1895. 29 „Zola is a decadent because of his pervasive pessimism, because he sees every phenomenon monstrously magnified and weirdly distorted." Laqueur: Fin-de-siècle, S. 14. 30 „neobyöejnou knihu, rozCilující tëzkou zoufalostí a melancholii a neurëitosti a rozhodnostiV'ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 2104. Brief an Abrikosova 25.11.1895. 31 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1657. Brief an Abrikosova 25.4.1892. 32 „Dostal jsem také ke ëteni d'Annunzio: l'innocent a tëaim se na to."ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 2104. Brief an Abrikosova 25.11.1895. 33 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1837. Brief an Abrikosova 19.10.1892. 34 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1736. Brief an Abrikosova 3.8.1892. 35 „nëco, co ilovëka, jak Ty tak hezounce fíká§, pozdvihne z toho pozemniho prachu." ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 2183. Brief an Abrikosova 26.12.1899. 36 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1978. Brief an Abrikosova 4.2.1893. 37 „Coja zkuslm [...] tim odpornym mne ucházením se o mandat." ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1367. Brief an Abrikosova 1.2.1891. -

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Verfall und erwartete voller Angst und zugleich Sehnsucht den tiefen Sturz nach anmaßendem Seine Ideen wiesen häufig einen diffus utopifast chiliastischen Zug auf: Er erhoffte eine bessere Zukunft für die schen, Menschheit, erwartete jedoch zuvor einen großen Krieg, welcher den ewigen Frieden ermöglichen würde. Die Kriegsidee, einhergehend mit einer Zerstörungswut, die Kramáf in besonders verzweifelten Momenten empfand,40 bildete einen Höhepunkt in der Zerrissenheit der neunziger Jahre. Selbsthass, Todesverachtung und morbide Verherrlichung von Alter und Verfall haben diese Zeit ebenso geprägt wie Lebensdurst und Jugendkult. Ganz gleich, welche dieser Elemente jeweils vorherrschten, immer traten sie verfeinert, in ästhetisierter Form auf. Dies ist auch in Kramáfs Briefen zu beobachten: die Gefühle wirken stilisiert. Damit soll keinesfalls Kramáfs subjektives Empfinden von Leid und Verzweiflung in Zweifel gezogen werden; doch stellte er seine Gefühle in einer Weise dar, die den zeitgenössischen Diskursen des fin-de-siècle entsprach. In den neunziger Jahren wurde das Individuum in anderer Weise als zuvor thematisiert; hatte das Bürgertum den Einzelnen als Träger von Pflichten und Nutznießer von Rechten, als politisch und ökonomisch aktives Wesen entdeckt, so machte das fin-de-siècle sich an seine Analyse und das Zeichnen seines Ruhmes. War das Individuum zuvor Teil eines Ganzen gewesen, ausgestattet mit Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft, so wurde es jetzt in einem amoralischen Impuls zum „Einzigen", in sich versunken und allein sein eigenes Dasein wie eine Theaterszene gestaltend. Kramáf verkroch sich gern in larmoyantem Selbstmitleid und schloss die Welt bewusst aus, es gibt jedoch mindestens ebenso viele Quellen, in denen sein bürgerliches Verantwortungsgefühl, sein Engagement, seine Verwurzelung in der Gesellschaft manifest wurden. So gern er möglichst viel Zeit mit Abrikosova verbracht hätte, so empfand er, der schon in seiner Jugend geneckt worden war, „auf Rieger zu studieren", dass doch „auf der anderen Seite wieder in mir die alte Stimme nach ihrem Recht ruft, die in meiner Seele klingt seit den Stunden, als ich begann zu denken, die Stimme, die voller Inspiration will, dass ich mich mühe mit dem öffentlichen Leben und dort bis zu den letzten Kräften arbeite."*2 Denken, Öffentlichkeit, Arbeit stehen hier gegen das Fühlen, das Private und das Leben, auf das er sich in den Stunden pessimistischer Apathie zurückzog. Kramáf nannte die Arbeit für die Nation, die kleine Nation, die jeden Einzelnen lebensnotwendig brauchte, seinen Lebensinhalt, bewunderte Ha-

Höhenflug.38

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ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1677. Brief an Abrikosova 23.6.1892. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1758. Brief an Abrikosova 17.8.1892. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1677. Brief an Abrikosova 23.6.1892. 41 Sis: Dr. Karel Kramáf I, S. 35. 42 „Na druhé strané ve mnë zas vola ten stary hlas po svém právu, ktery od té hodiny v mé duäi zní, kdy jsem mysliti zaéal, hlas, ktery pin inspirace chce, abych se mofil obecnym zivotem a tam ai do posledních sil pracoval." ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1614. Brief an Abrikosova ohne Datum, wahrscheinlich aus dem Jahre 1891. (Herv. M.W.) 39

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vlicek, der „alles hatte,

was ein Politiker braucht: Verstand, Herz, Witz und und Entschlossenheit",43 bemühte sich immer wieder, der offenbar eher desinteressierten44 Geliebten die Verhältnisse der tschechischen Politik näher zu bringen. Neben langen Briefen über seine komplizierte Gefühlslage finden sich somit ebenso lange Erklärungen der Theorien und Realitäten des böhmischen Staatsrechts.45 Hoffnungslose Apathie wechselte sich ab mit Augenblicken der Der Bürger Kramáf verkörperte, was der DécaEnergie und des dent verabscheute: Kompromissbereitschaft und Realitätssinn und Aufopferung für das nationale Kollektiv. Kramáf war sogar ausgesprochen stolz auf sein realistisches Denken, hielt seine Partner Masaryk und Kaizl für gelehrt in der Theorie, doch unbegabt in taktischen Fragen der Politik.48 Abstraktes gegen Konkretes: Diese Kategorien prägten Kramáfs Überlegungen, wenn er sich mit seiner Tätigkeit auseinandersetzte. Dabei stellte er sich immer wieder auf die Seite des Konkreten: Ironisch schrieb er gegen das Philosophieren des Russen Grot,49 genoss offensichtlich politische Debatten sehr50 und lehnte theoretische Diskussionen ab, die „immer weiter führen, als man eigentlich gehen

Tatendrangs.46

Loyalität,47

will."51

Es erscheint wie ein Widerspruch: Eben in den Jahren, in denen Kramáf seiner zukünftigen Frau Briefe schrieb, die angefüllt waren mit kulturpessimistischen Topoi, in denen er von der Sinnlosigkeit seines Lebens schrieb und über den Selbstmord räsonierte, bastelte er erfolgreich an seiner politischen Karriere52: Er trat der jungtschechischen Partei bei, wurde Reichstags- und Landtagsabgeordneter und arbeitete als jüngster Mandatsträger daran, das Image des „Kindes",53 des „Benjamin" hinter sich zu lassen. Bald gehörte er zur Gruppe pragmatischer Politiker, welche sich in Nymburg 1894 vom Radikalismus distanzierten und das Programm positiver Kooperation mit Wien entwickelten. 43

„Mël v5e, co má mit politik, rozum, srdce, vtip a odhod!anost."ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1542. Brief an Abrikosova24.8.1891. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1663. Brief an Abrikosova 15.6.1892. 45 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1513. Brief an Abrikosova 10.8.1891. 46 z.B. ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1738. Brief an Abrikosova 3.8.1892. 47 AÚTGM MA Osoby K 7 Slozka 15. Brief an Masaryk 25.7.1893. 48 In einem Brief an Abrikosova 13.11. 1891 beklagte er sich, dass Masaryk und Kaizl nicht abwarten könnten. „Nur die rechte Zeit abwarten das ist das ganze Geheimnis der politischen Erfolge." ANM Fond Kramáf K 3, 2 2 1861. 49 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1988. Brief an Abrikosova 7.2.1893. 50 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1711. Brief an Abrikosova 18.7.1892. 51 ANM Fond Kramáf K 2, 2 2 1612. Brief an Abrikosova, kein Datum. 52 Der Eintritt in die parlamentarische Politik erschien ihm allerdings nicht unproblematisch: Der Briefwechsel mit Masaryk aus dem Jahre 1889 zeigt in seiner Widersprüchlichkeit, wie schwer auch Kramáf die Entscheidung zwischen jungtschechischer oder alttschechischer parlamentarischer Politik oder aber einem dritten, „realistischen" Weg fiel. Dennoch sind es hier politische und pragmatische Überlegungen, die eine Rolle spielen, der kulturpessimistische Diskurs bleibt außen vor. AÚTGM MA Kor I. Vgl. auch Kucera: Fûze „realistû". s3 Kramáf wurde im Kreise der Realisten mit dem Spitznamen des „Díte", „Kind" bedacht. Masaryk dagegen wurde „Pastyf", „Hirte" genannt. 44

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Kramáf war ein politisch aktiver, rational denkender und sein Leben der Öffentlichkeit widmender Bürger, der sich jedoch stark von kulturpessimistischen Diskursen beeinflussen ließ und seine Gefühle und Selbstzweifel ganz im Stil dieser Diskurse beschrieb. Seine Briefe aus den neunziger Jahren zeigen, insbesondere im Kontrast zu Dokumenten anderer Art, die Unausgeglichenheit des Bürgertums dieser Zeit. Zdenëk Sládek hat auf einen Charakterzug Kramáfs hingewiesen, der an die oben beschriebene Lage von Bürgersöhnen am Ende des Jahrhunderts erinnert:

„Sein Vater verkörperte das Vorbild der Zähigkeit, der unentwegten und zielbe-

Zähigkeit [...] scheint bei Kramáf vollkommen verloren gegangen zu sein. War dies das Schicksal der zweiten Generation, die sich ins gemachte Bett legen konnte und so die Fähigkeit verlor, wieder und wieder um einen Platz an der Spitze zu kämpfen?"54 wussten Arbeit. Gerade diese

Die Zerrissenheit dieser sozialen Gruppe war im Kern bereits früher angelegt: So sind die drastischen Übergänge in Kramáfs Briefen, die es dem heutigen Leser so schwer machen, an ihre Ehrlichkeit zu glauben, nicht ungewöhnlich. Ebenso wie Kramáf nach ausgiebigen Beschreibungen seiner Verzweiflung und seines Lebensüberdrusses bruchlos zu ausgesprochen banalen Schilderungen von täglichen Ereignissen oder auch beispielsweise Zahn- oder Ohrenschmerzen überging,55 findet sich auch in vielen Tagebüchern von Bürgern des 19. Jahrhunderts solch ein Nebeneinander von emotionaler Dramatik und alltäglichen Banalitäten. Ein Beispiel aus Peter Gays Werk The Bourgeois Experience könnte aus Kramáfs Korrespondenz der neunziger Jahre stammen und ist dabei so übergreifend typisch für den Bürger des 19. Jahrhunderts: „This assures me that I truly love her. O if she died I would want to die too! Her sweet little figure is at present very dear to me. It snowed last night and it is very cold this morning. The barometer is holding steady at around 29."56 Begründet im ständig gelebten Nebeneinander der Gegensätze Privatleben und Öffentlichkeit, hat diese Ambivalenz eine extreme Ausprägung im fin-de-siècle gefunden. Die Trennung, die heute durch die rückwärtsgewandte Beschreibung von décadence und Bürgertum impliziert wird, scheint so deutlich und zwingend nicht gewesen so zu sein. Die décadence entstammte dem Bürgertum, und in einigen Fällen in dem Kramáfs blieb sie auch noch eng mit ihm verbunden. Kramáf ist somit als ein symptomatisches Beispiel zu sehen. So deutlich ein näherer Blick auf das fin-de-siècle den Zusammenhang mit dem Bürgertum auch zeigt, so klar sind doch die Unterscheidungen, die in Geschichts- und Literaturwissenschaft meist getroffen werden: Es gibt Literatur über das Bürgertum -

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Sládek: Karel Kramáf a Rusko, S. 149. z.B. ANM Fond Kramáf, K 2, 2 2 1680. Brief an Abrikosova 25.6.1892. Gay: The Bourgeois Experience, S. 129.

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Anthologien, die angefüllt sind mit Décadents par excellence, die Mischung von beidem aber wird nur deutlich durch eine Analyse, welche die Muster durchbricht. Kramáf verband in den neunziger Jahren und letztlich in seibeide Diskurse. Was eng zusammengehörte, sonst ner ganzen Persönlichkeit aber auf verschiedene Persönlichkeiten verteilt schien, war hier in einer Figur verkörpert. Egon Friedell hat einen Terminus geprägt, der für den Kramáf der neunziger Jahre in besonderer Weise zutreffend erscheint: Den Begriff des homme du fin-de-siècle, der Impressionist und Décadent sei. Friedell sprach von und

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denn auf eine ganz

allgemeine psychologische

Formel geMengen neuer Vorstellungsmassen, für die noch keine ordnenden Dominanten gefunden sind. Und was die Dekadenz anlangt, so ist nach Nietzsche ihr Wesen 'die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie'".58