Der junge De Gasperi: Werdegang eines Politikers. [Aus dem Italienischen von Bettina Dürr.] [1 ed.] 9783428540235, 9783428140237

Alcide De Gasperi ist bekannt als der Politiker des italienischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und als Förde

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German Pages 293 Year 2012

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Der junge De Gasperi: Werdegang eines Politikers. [Aus dem Italienischen von Bettina Dürr.] [1 ed.]
 9783428540235, 9783428140237

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Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 26

Der junge De Gasperi Werdegang eines Politikers

Von Paolo Pombeni

Duncker & Humblot · Berlin

PAOLO POMBENI

Der junge De Gasperi

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 26

Der junge De Gasperi Werdegang eines Politikers

Von Paolo Pombeni

Duncker & Humblot · Berlin

Italienische Ausgabe Il primo De Gasperi. La formazione di un leader politico, Bologna 2007 Die Übersetzung dieses Buches wurde mit Unterstützung des SEGRETARIATO EUROPEO PER LE PUBBLICAZIONI SCIENTIFICHE erstellt

Via Val d’Aposa 7 - 40123 Bologna - Italien [email protected] - www.seps.it Aus dem Italienischen von Bettina Dürr

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 978-3-428-14023-7 (Print) ISBN 978-3-428-54023-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84023-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur deutschen Ausgabe Die Entwicklung einer politischen Führungspersönlichkeit ist für jeden Historiker ein spannendes Thema. Es stellt ihn vor die Herausforderung, Hintergründe und „Wurzeln“ eines Politikers aufzudecken, der eine bestimmte historische Epoche maßgeblich mitgestalten sollte. Zweifellos war Alcide De Gasperi eine solche Persönlichkeit: Seine bedeutende Rolle beim Wiederaufbau Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg und damit bei der Gestaltung der neuen europäischen Ordnung ist heute allgemein anerkannt. Je mehr Unterlagen aus der Zeit zwischen 1943 und 1953, als er diese Rolle ausübte, man einsieht, desto stärker findet man bei ihm und in seinem Werk die Wesensmerkmale einer starken Führungspersönlichkeit im Sinne von Max Weber bestätigt. Wie man weiß, erreichte De Gasperi diese Position erst relativ spät in seinem Leben. Als sich sein Beitrag zum italienischen Wiederaufbauprozess herauszukristallisieren begann, hatte der 1881 geborene die Sechzig längst überschritten. Aufgrund der besonderen Natur dieses Ausgangsmoments (das Ende des Faschismus in Italien) und der Umstände, die es ihm ermöglichten, sich mit der politischen Elite an einen Tisch zu setzen, um die postfaschistische Phase zu gestalten (er war der letzte Sekretär des Partito Popolare Italiano gewesen, der von Don Sturzo gegründeten Partei der Katholiken, die – wie alle anderen Parteien – 1925 unter dem Faschismus aufgelöst worden war), hat sich in der Vergangenheit das Interesse der Biografien vor allem auf die Teilnahme De Gasperis an den politischen Prozessen in Italien, die zur Entstehung des Faschismus geführt hatte, konzentriert. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt war, so weit möglich, De Gasperis darauffolgende „innere Emigration“, die später auch als „langer Vorabend“ der Rückkehr zur Demokratie definiert wurde. Seine „Jugendzeit“ (die in Wahrheit 1919 endet, als er schon 38 Jahre alt ist) als Untertan des Habsburgerreiches hatte in der Forschung eine Nebenrolle gespielt, bis die Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag seines Todes und die infolge dessen erschienene kritische Ausgabe seiner politischen Schriften Anlass zu neuen Forschungen auch über diese erste Phase gaben. Es war kein leichtes Unterfangen, nicht nur wegen des relativ knappen Quellenmaterials und der wenigen weiterführenden Studien, sondern auch und vor allem wegen der Vorurteile, die die Interpretation des Umfeldes belasteten. Natürlich konnte zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Frage, die

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

die politische Debatte im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg vergiftet hatte – nämlich wie weit De Gasperi nun ein „Österreichfreund“, ein treuer und überzeugter Untertan Kaiser Franz Josephs gewesen sei und ob man ihn überhaupt im Sinne des Risorgimento als „Italiener“ betrachten könne – beinahe als archiviert gelten. Beinahe, denn kurioserweise hatte sich die Frage auf umgekehrte Weise neu gestellt: Wenn die Treue zum alten Reich nun nicht mehr als historische „Schuld“ galt, warum dann nicht zugeben, dass genau sie – ganz legitim – die Haltung des jungen De Gasperi bestimmt hatte? War es dann angesichts der Tatsache, dass er offensichtlich nicht zu den von der Habsburger Polizei Verfolgten gehört hatte, dass er mit den „Irredentisten“ nicht gemeinsame Sache gemacht hatte, so schlimm zuzugeben, dass De Gasperi sich auf geradezu natürliche Weise mit jener Habsburger Identität verbunden fühlte, in die er hineingeboren war? Was die Dinge verkomplizierte, war ein in gewisser Weise sogar positives Vorurteil dem Habsburgerreich gegenüber, eine Art kultureller Gemeinplatz. Claudio Magris hat unvergessliche Zeilen über die Früchte dieses „Habsburger Mythos“ verfasst: ein Mythos, der nur die großen Walzer des schillernden Wien wahrnahm, die Konditoreien als Ausdruck von dolce vita, eine beschauliche Dekadenz, die – unbewusst und damit unschuldig – auf eine Katastrophe zusteuerte, für die es letztendlich keinen Verantwortlichen zu geben schien. Diese Untersuchung, die nun dem Leser in deutscher Sprache vorliegt, beginnt als Reaktion auf diese Ansätze. Auf jene spätromantischen Vorstellungen nimmt sie als Arbeit eines Politikwissenschaftlers keinerlei Rücksicht. Dem wissenschaftlich Arbeitenden stellt sich auch nicht das Problem, die Verortung des jungen Trentiner Politikers in dem System, in das er hineingeboren worden war, zu akzeptieren beziehungsweise als „gut“ oder „schlecht“ zu beurteilen. Viel eher ist es Ziel dieser Untersuchung herauszuarbeiten, wie die natürlichen Talente eines jungen Mannes zu Führungsqualitäten heranreifen konnten, das heißt: Wie konnte De Gasperi eine Position erreichen, von der aus er unter den historischen Gegebenheiten seiner Zeit zur politischen Führung und Orientierung seiner Gemeinschaft beitragen konnte? Aus diesem Grund war es notwendig, mit der Rekonstruktion des Kontextes des Habsburgerreichs – genauer „Cisleithaniens“ – zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg zu beginnen. Einige Rezensenten der italienischen Ausgabe haben bemängelt, dass damit der Darstellung der Forschungsergebnisse, die den Historikern der Habsburger Geschichte hinlänglich bekannt sind, sehr viel Platz eingeräumt worden sei. Das ist zweifellos richtig, allerdings ist dieses Buch nicht für sie bestimmt, denn es kann ihnen in der Tat kaum Neues bieten. Vielmehr möchte diese Arbeit die Koordinaten der politischen Lehrjahre des jungen De Gasperi abstecken. Und dabei handelt es sich um Bezugspunkte, die allen, die keine Experten der Habsburger Geschichte sind, nicht unbedingt geläufig sein

Vorwort zur deutschen Ausgabe

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müssen. Der Autor kann das guten Gewissens sagen, da er sich als NichtSpezialist zum ersten Mal mit diesem Universum eingehender beschäftigen musste und ihm dabei bewusst geworden ist, dass die Geschichtsforschung längst ein Interpretationsmuster erarbeitet hatte, das weit von einer gewissen landläufigen historiographischen vulgata entfernt ist. De Gasperi wuchs in einem besonderen Umfeld, sozusagen in einer „Schlüsselepoche“ heran, um diesen Ausdruck zu wagen. Der Katholizismus, in dem er erzogen worden war und dem er sich aktiv zugehörig fühlte, machte eine tiefgreifende Entwicklung durch. Auch fand sich De Gasperi inmitten einer politischen Krise, die ganz Europa betraf, die aber im Habsburgerreich durch dessen grundsätzliche Unfähigkeit, sich den modernen politischen Strömungen zu stellen, noch verstärkt wurde. Gleichzeitig erlebte er die heikle Übergangsphase seiner Heimat, des historischen Trentino. Die Region stand im Spannungsfeld eines Modernisierungsprozesses und musste sich notgedrungen auch auf einen nationalen Identitätsfindungsprozess einlassen, wollte sie nicht im programmatisch betriebenen „Vielvölkerreich“ untergehen. Hinzu kam ein ansteigender Widerwillen gegen die zunehmende „Germanisierung“ der Habsburger Identität, die eine ihrer treibenden Kräfte in der Führungselite Tirols hatte, dem das Trentino verwaltungsmäßig unterstand. In der Auseinandersetzung mit einem derart komplexen Umfeld durchläuft ein junger Mann aus bescheidenen Verhältnissen, der aber schon früh ein ausgeprägtes Bewusstsein von seinem „Beruf“ hat, seinen politischen Werdegang bis hin zu seinen ersten, keineswegs banalen Führungsaufgaben. Diese Geschichte schien mir so faszinierend, dass sie – und an dieser Stelle sei mir eine kleine Ausschweifung erlaubt – jene überzogenen Debatten über die Postmoderne abstraft, nach denen eine „narrative“ Geschichtsschreibung ohne die Mittel und Erkenntnisformen der großen Sozialwissenschaften auskommen soll. Ich hoffe, dass der Leser auf den folgenden Seiten eine Arbeit zu lesen bekommt, die zumindest ein wenig der Faszination gerecht wird, die die Erforschung der Ursprünge politischer Führungsqualitäten ausübt – hier am Fall des „jungen“ Alcide De Gasperi. Paolo Pombeni

Inhaltsverzeichnis . . . . 11

Einleitung:

Herausforderungen einer politischen Biografie

Erstes Kapitel:

Geboren in einer Grenzregion . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweites Kapitel:

Der Werdegang eines katholischen Intellektuellen (1881-1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Drittes Kapitel:

Die Arbeit eines politischen Aktivisten (1905-1909) . . 107

Viertes Kapitel:

Die Anfänge eines Berufspolitikers (1909-1914) .

Fünftes Kapitel:

Der Erste Weltkrieg

Schluss:

Lasten und Vorteile einer Habsburger Erbschaft . . . . 265

Personenregister

. . . 157

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Einleitung

Herausforderungen einer politischen Biografie Welche Auswirkungen haben Jugenderfahrungen und Lehrjahre auf die Laufbahn eines Politikers? Dass sich das von Fall zu Fall unterscheidet, ist eine Binsenweisheit, die bei der Beantwortung dieser Frage kaum weiterhilft – einer Frage, die sich der Politikwissenschaftler, will er sich mit einer großen Persönlichkeit befassen, aber stellen muss. Für gewöhnlich wird man mit dieser Fragestellung konfrontiert, wenn man sich mit der „Einheit eines Lebens“ auseinandersetzt: Es gilt herauszufinden, ob sich der Porträtierte bereits seit der Wiege bewusst auf jenes Ziel zubewegt hat, das die Geschichte oder die göttliche Fügung (je nach kulturellem Ansatz des Forschers) für ihn vorgesehen hat, oder ob alles eher Zufall war. Oder – eine dritte Variante – ob sich bestimmte, durch die Zeitepoche bedingte Passagen, Brüche und traumatische Erfahrungen als prägend für die eine oder andere „Lebensphase“ des Porträtierten ausmachen lassen. Im Fall von Alcide De Gasperi finden sich so gut wie alle diese Varianten, derer man sich nach Herzenslust bedienen kann. Ein roter Faden ist gewiss seine Neigung zum Führen, eine Tendenz, die sich bereits an der Universität erkennen lässt und die sich stetig weiterentwickeln wird bis hin zur zentralen Rolle De Gasperis beim Wiederaufbau Italiens im schicksalhaften Jahrzehnt 1943-1953. Es lassen sich zahlreiche Begebenheiten ausmachen, die auf den ersten Blick zufällig scheinen, sich bei genauerem Hinsehen aber als entscheidend erweisen: als er die Leitung einer Zeitung übernahm, was zeitlich mit der Wahl eines neuen Bischofs zusammenfiel, der ausgerechnet der geistliche Assistent jener Universitätsjugend war, zu der auch De Gasperi gehört hatte; als er sich im Zentrum der parlamentarischen Auseinandersetzung über den Schutz der italienischen Nationalität (des Trentino) in den tragischen Jahren 1917/18 wiederfand, und dadurch – obschon nach Meinung mancher aufgrund seiner Vergangenheit nicht der Richtige dafür – eine zentrale Rolle bei der „Erlösung“ jenes Gebiets spielen sollte; dass die Wahl des letzten Sekretärs des Partito Popolare, der Volkspartei, auf ihn fiel – im Jahr 1924 gewiss keine dankbare Aufgabe, durch die er aber unter denjenigen war, welche die Wiederherstellung des demokratischen Lebens in Italien mitgestalten sollten; dass er siegreich aus dem Behauptungskampf während der Resistenza hervorging, als den traditionellen liberalen und bürgerlichen Führungseliten der Atem für eine weitere Schlacht ausgegangen war.

Einleitung: Herausforderungen einer politischen Biografie

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Auch fällt es leicht, klar definierte „Perioden“ in De Gasperis Leben auszumachen: die habsburgische Jugendzeit bis zur Auflösung der Doppelmonarchie; die neue Demokratie Italiens bis zum Beginn der Diktatur; die lange „innere Emigration“ als besiegter Gegner der faschistischen Hegemonie; die Wiedergeburt Italiens als Republik und der Wiederaufbau des Landes. Über all das ist bereits viel gesagt und geschrieben worden, denn De Gasperi ist dank seiner bedeutenden Rolle beim Aufbau der italienischen Republik mit seinem Tod zu einer „historischen Persönlichkeit“ geworden. Auch liegt heute, nach zahlreichen fragmentarischen Studien und nicht immer besonders fundierten Arbeiten, eine gelungene politikwissenschaftliche Biografie1 vor. Und dennoch gilt es weiter zu graben, nicht nur, weil die Geschichte eines großen Protagonisten des öffentlichen Lebens nie abschließend erzählt werden kann, sondern vor allem, weil man sein Wirken nur wirklich begreift, wenn man es in einen übergeordneten Kontext stellt. Die Rekonstruktion der Zusammenhänge ist für die Geschichtswissenschaft wie eine Art Tuch der Penelope, das nie zu Ende gewebt wird. Denn letztlich steht der „Sinn“ eines Lebens in engem Zusammenhang damit, wie jede Generation das Verhältnis zwischen ihrer jeweils eigenen Erfahrung und der Politik bewertet. Verständnis erfordert Wissen; und dafür braucht man die Quellen, die nicht einfach nur für sich genommen zu bewerten sind, sondern vielmehr zeitlich und in ihr jeweiliges Beziehungsgeflecht eingeordnet werden müssen. Bei einer Persönlichkeit wie De Gasperi – der als ein „Mann der Tat“ galt, als handlungsorientierter, um nicht zu sagen pragmatischer, Politiker – ist das keine leichte Aufgabe. Vor allem in der Konfrontation mit der Gruppe der jungen Intellektuellen um Dossetti zwischen 1947 und 1951 bekümmerte ihn die Tatsache, dass er gewissermaßen auf die Charakterisierung als Tatmensch reduziert wurde, was ihn dazu veranlasste, auf sein Studium hinzuweisen (schließlich aber gefiel auch er selbst sich eher als jemand, der gestaltet, denn als jemand, der „Weltanschauungen“ propagiert). Und letztendlich unternahm er nichts, um diese Sicht auf seine Vergangenheit in ein anderes Licht zu rücken, eine Vergangenheit wenn schon nicht als Denker, dann doch zumindest als denkender oder, wenn man so will, als nachdenklicher Mensch. Tatsache ist, dass diese Vergangenheit – in der sich die Interpretation der politischen Geschichte und die der aktiv erlebten, persönlichen Geschichte überlagern – nicht nur nicht „salonfähig“ war, sondern sogar gewaltige Sprengkraft besaß. De Gasperi war bis zu seinem 38. Lebensjahr Staatsbürger des Habsburgerreichs gewesen: Er war kein „Irredentist“ wie der allseits bekannte Trentiner und „Märtyrer“ Cesare Battisti, ja, man behauptete sogar, im Grunde

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P. Craveri, De Gasperi, Bologna 2006.

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sei er „Legitimist“, um nicht zu sagen „Österreichfreund“2 gewesen. Diese Perspektive war bedingt durch die verbreitete Vorstellung von Österreich als historischem Erzfeind Italiens, als „Kerker der Völker“, als perfide Macht, die das Recht Italiens auf den Status als Nation nicht anerkannte. Ebenso argwöhnisch beurteilte ein intellektueller Teil der öffentlichen Meinung den politischen Katholizismus als nicht wirklich „national“, als zu sehr an das übernationale Denken des Papsttums gebunden (und vielleicht auch an dessen problematisches Verhältnis zur Moderne). Die allgemeinen kulturellen Vorstellungen sind ein wichtiges Element in der Entwicklung eines Volkes, das sich mit ihrer Hilfe innerhalb der Weltgeschichte positioniert. Und sie sind eine veritable Schmiede von Vorurteilen jeglicher ideologischen Ausrichtung. Wie in den abschließenden Überlegungen zu dieser Arbeit ausgeführt werden wird, ist diese Art der Betrachtung des ersten Teils der politischen Laufbahn De Gasperis in einer wissenschaftlichen Untersuchung ebenso wenig zielführend wie das Hinterfragen seiner politischen Haltung in jener Zeit. Viel eher ist das der Bodensatz einer überholten politisch-moralisierenden Geschichtsschreibung (ganz recht: „Bodensatz“, denn die anspruchsvollen Erzeugnisse jener geschichtsanalytischen Phase sind nie so primitiv gewesen). Nun, da endlich die kritische Ausgabe sämtlicher politischen Texte und Reden Alcide De Gasperis3 erschienen ist, kann man seine gesamte Produktion aus der Habsburger Zeit einsehen. Dank dieser wichtigen Quellen (wichtig nicht nur aufgrund ihres Inhalts, sondern auch aufgrund ihres Umfangs) kann man heute eine Forschung in Angriff nehmen, die alle Interpretationsansätze hinter sich lässt, die der seriösen wissenschaftlichen Politikgeschichte fremd sind. Man sollte sich bei der Analyse eines politischen Lebens stattdessen an seinen Regeln, seinen Funktionsweisen und seinen Konditionierungen orientieren. Dabei geht es natürlich nicht um immer gleiche Gesetzmäßigkeiten, sondern eher um „Kultursysteme“, die eng mit ihrer jeweiligen Zeit, mit dem jeweiligen Kontext verknüpft sind. Berücksichtigt man dies nicht, wird man nichts begreifen.

2 Es fällt auf, dass die erste Darstellung von De Gasperis Habsburger Zeit ausgerechnet 1953 veröffentlicht wurde, als er im Zentrum der Polemik um das „Betrugsgesetz“, das Mehrheitswahlrecht, stand. Die Studie war mit der Absicht verfasst worden, jene Lebensphase De Gasperis der Kritik zu unterziehen, wenn nicht gar sie in einem ausgesprochen negativen Licht erscheinen zu lassen; vgl. G. Valori, De Gasperi al Parlamento Austriaco, Florenz 1953 (Valori war ein aktiver Sozialist und stand den Kreisen um Cesare Battistis Erben nahe). 3 A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, 4 Bde., Bologna 2006-2009.

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Einleitung: Herausforderungen einer politischen Biografie

Nun wird De Gasperi in die Zeit eines historischen Umbruchs hineingeboren: als Sohn einer katholischen Generation, die sich von der Illusion der simplen „Restauration“ jener Welt vor den großen Umwälzungen zunächst durch die Französische Revolution und dann 1848 längst verabschiedet hatte. Es war auch eine intellektuelle Generation, die jenseits der verschiedenen ideologischen Optionen begonnen hatte, an der – wie man es heute nennen würde – „Nachhaltigkeit“ einer permanenten Revolution zu zweifeln. Diese Welt glaubt zwar noch an die wissenschaftliche und technologische Revolution, zweifelt aber längst an ihrer mechanischen Übertragbarkeit auf die Geisteswissenschaften. Innerhalb dieser Welt ist der kulturelle Kontext anzusiedeln, in dem Alcide heranreift, zugleich ist er auch jener des Katholizismus, der um eine begriffliche Auseinandersetzung mit der Moderne bemüht war (auch wenn er dem Anschein nach versuchte – wie es seine Tradition war –, unbeirrt seinen angestammten Weg weiterzugehen). Auch ist es der Kontext des letzten vorkonstitutionellen Staates4 unter den großen Mächten im Europa der Aufklärung (Russland natürlich ausgenommen), ebenso wie der einer zum Grenzland gewordenen Region, deren „Angleichung“ an das krisengeschüttelte Habsburger System unmöglich geworden war. Hier findet der junge De Gasperi die Bedingungen, um seinen Traum, „Politiker“ zu werden, zu verwirklichen. Dabei gab es keinerlei äußere Impulse, die diese Wahl nahegelegt hätten. Die Familie stammte aus einfachen Verhältnissen und der Vater ging als kaiserlich-königlicher Gendarm einem Beruf nach, der den Kontakt zu politischer Aktivität sicherlich nicht förderte. Auch die Trentiner Kirche, die ihm Studium und Ausbildung ermöglichte, legte diesen Weg zunächst nicht nahe. Denn das, was die Kirche am meisten zu brauchen schien, waren „Männer katholischer Kultur“, durch die man Präsenz und Autorität wiederzufinden hoffte, da man sich in Zeiten von Presse und öffentlicher Meinungsbildung nicht mehr nur auf die Kanzeln und auf die gemeinschaftstiftenden Riten innerhalb der Gemeinde beschränken konnte. Für den jungen Alcide vollzog sich dieser Übergang von einer „intellektuellen“ Dimension (journalistisches Arbeiten) zur „politischen Agitation“ tatsächlich nahezu automatisch und ohne größere Schwierigkeiten. Zum einen, weil der Kampf um die Rückeroberung des verlorenen öffentlichen Terrains zur Auseinandersetzung mit jenen Kräften führte, die mittlerweile starke „politische“ Positionen erobert hatten. Das waren das liberale Bürgertum 4 Jedes Mal werden angesichts dieser Definition des Habsburgerreichs die gleichen, geradezu naiven Einwände hervorgebracht: aber nein, das Reich hatte sehr wohl eine Verfassung, es hatte ein Parlament, es war ein Rechtsstaat und so fort. Dabei war das Reich in Wirklichkeit nicht in der Lage – wie auch im Verlauf dieser Untersuchung deutlich wird –, den eigentlichen Grundgedanken des modernen Konstitutionalismus anzuerkennen, nämlich die Einigung „eines Volkes“ durch den Auftrag an seine Vertretung/Repräsentation, das Verhältnis Befehl/Gehorsam zu legitimieren.

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und – anfänglich noch in geringerem Maße – die intellektuellen Kreise, die sich dem „Sozialismus“ zuwandten. Und zum anderen, weil das politische System im Habsburgerreich, wie in ganz Europa, mit der neuen Entwicklung konfrontiert war, nach der nur politisches Gewicht gewann, wer „organisiert“ war: Um ein „politisches Subjekt“ zu werden, kam man nicht darum herum, sich sämtliche modernen Aktionstechniken anzueignen. Das war der Impuls, den das neue Zeitalter Papst Leos XIII. dem internationalen Katholizismus gegeben hatte, und als Vorbild diente der Erfolg der organisierten Kraft des deutschen Katholizismus – trotz eines Gegners wie Bismarck. Damit war der alte apokalyptische intransigentismo mit seiner Vision vom Untergang der Welt, wie sie aus der Revolution hervorgegangen war, in eine Krise geraten. Diese Anzeichen des Aufbruchs wurden nun auch im Trentino von einer neuen Generation von Geistlichen bis hin zum Bischof wahrgenommen. Ähnliche Entwicklungen ließen sich im Reich beobachten, begleitet von heftigen Abwehrreaktionen. Natürlich konnte man sich dieser Modernisierung des politischen Lebens nicht gänzlich verschließen: Sie rührte her aus der neuen Mobilisierung der Massen, aus der wachsenden Sammlungskraft der Ideologien mit „Partikularinteressen“, dieser neuen Art und Weise, sich mit einem politischen Lager zu identifizieren, dem das alte Universum der „dynastischen Treue“ kein wirksames soziales Bindemittel mehr entgegenzusetzen vermochte. Vor diesem Hintergrund vollzog sich die Entwicklung des jungen De Gasperi von einem katholischen Intellektuellen zu einem „Politiker“ nahezu automatisch. Aber nicht nur, weil er sich fast von Anfang an auch mit der Organisation der katholischen Bewegung befasst hatte, mit dem Kampf um die Wahlrechtsreform, mit der Übernahme klassischer repräsentativer Rollen, sobald sein Alter dies zuließ: Gemeinderatsmitglied, Abgeordneter im Parlament von Wien, Abgeordneter im Landtag von Tirol. Auch andere hatten diese Ämter bekleidet und ebenfalls gute Arbeit geleistet, doch ohne dass sie jemals echte „Politiker“ geworden wären. Der Begriff „Berufspolitiker“ genießt keinen besonders guten Ruf: auch aufgrund der bekannten Definition Max Webers, der zwischen demjenigen unterscheidet, der „für“ die Politik und dem, der „von“ der Politik lebt5. Das lässt den „Berufspolitiker“ aussehen, als ginge es ihm vornehmlich darum, eine Rolle im repräsentativen System zu erlangen und sich dieser für seine Zwecke zu bedienen, nämlich sich ein Gehalt zu sichern, auf das er sonst keinen Anspruch hätte. Die Definition geht zurück auf die amerikanische Polemik der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts über die „Korruption“, die 5 M. Weber, Politik als Beruf, in ders., Geistige Arbeit als Beruf. Vier Verträge vor dem Freistudentischen Bund, München / Leipzig 1919, S. 12.

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durch die „Organisatoren der Wählerstimmen“ aufgekommen war, die ihre Handlanger in die repräsentativen Organe schickten und damit die gebildeten und höheren Schichten ausschlossen. Bis dahin waren es Letztere gewesen, die die öffentliche Aufgabe der Repräsentation unentgeltlich übernommen hatten, als eine Pflicht, die ihnen aus ihrer sozialen und kulturellen Position heraus als notwendig erschienen war. Für diese Personen war die Politik eine „Berufung“ gewesen (in Wahrheit ein Mythos) und kein „Beruf“. Genau genommen war die Professionalisierung der Politik, die es in gewisser Hinsicht schon immer gegeben hatte6, das Schlusslicht im Professionalisierungsprozess der modernen Welt. Das bekannteste Beispiel ist der Waffendienst: nach durch Vererbung beziehungsweise Schichtzugehörigkeit berechtigten Kommandanten, die die sogenannte „Kriegskunst“ gewissermaßen autodidaktisch erlernt hatten, kamen die Offizierskarriere, die Militärschulen und die „wissenschaftliche“ Wissensaneignung auch auf diesem Gebiet. Dasselbe spielte sich auch in der Justiz ab, in der Diplomatie und in der öffentlichen Verwaltung7. Die Politik widersetzte sich lange dieser „Professionalisierung“, zumindest was ihre Formalisierung betraf, und das aus leicht nachvollziehbaren Gründen: Dies hätte die Freiheit in der Auswahl und den Zugriff auf die Führungspositionen eingeschränkt beziehungsweise ihre Verteilung innerhalb der Eliten infrage gestellt. Und doch brauchte man in der Politik genau wie in allen anderen Bereichen „Personal“, das ihre Regeln kennt, das sich ihrer Mechanismen zu bedienen weiß, das in der Lage ist, die vielen Vermittlungsaufgaben zwischen einem immer komplexer werdenden Entscheidungssystem und der politischen Legitimation in Angriff zu nehmen: Letztendlich ging es um die Herausbildung sozialer Subjekte, die es verstanden, effizienter mit dem Staat zu interagieren. Das führte zu Spannungen und Debatten, denn zum einen schien es, als würde damit die Politik als „öffentliches Bekenntnis zu Idealen“ abgetötet werden, als Übereinstimmung oder Konfrontation mit dem idem sentire de 6 Doch nur ein Teil dieser sozialen Eliten, denen „pflichtgemäß“ die Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten zukam, engagierte sich aktiv in der Politik, besaß beziehungsweise die Fähigkeit, politisch zu handeln (und ein noch geringerer Teil war in der Lage, politisch tatsächlich Relevantes zu bewirken). Alle anderen verkörperten einfach nur ein status symbol (bei entsprechendem politischen Desinteresse). Diejenigen aber, die maßgebliche Aufgaben bekleideten, waren durch und durch „professionell“, also Personen, die nicht nur über eine gründliche Kenntnis der politischen Mechanismen verfügten, sondern auch völlig darin aufgingen. 7 So war es die allgemeine Professionalisierung der Karrieren in Verwaltung, Diplomatie und Politik, die in Paris 1871 zur Gründung der berühmten École libre des Sciences Politiques geführt hatte; vgl. G. Quagliariello, La politica senza i partiti, Rom / Bari 1993, S. 12-24.

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re publica, den gemeinsamen Vorstellungen in Bezug auf öffentliche Angelegenheiten. Zum anderen fürchtete man, damit würden die Grundlagen des modernen Staates, zumindest in seiner kontinentaleuropäischen Auffassung, infrage gestellt – im Sinne der berühmten Formel der Französischen Revolution, nach der zwischen Staat und Bürger nichts stehen dürfe, es also außer dem einzelnen Bürger und außer dem Staat in ihrer Souveränität8 keine weiteren „öffentlichen“ Subjekte geben darf. Die Laufbahn Alcide De Gasperis ist ein Paradebeispiel für den Prozess der Professionalisierung der politischen Leadership, der in seiner Essenz bereits ein europäischer Prozess war. Er, der keinen anderen Titel als seine „Bildung“ und seine Kenntnis des Sujets hat, erfüllt diese Aufgabe dennoch dank seines herausragenden „Talents“: Er erahnt, begreift und erspürt das Aufkommen der großen Themen, die Fragen der Menschen, den historischen Wandel, und all das überträgt er nicht in abstrakte Prinzipien und Überzeugungen, sondern viel eher in das Bedürfnis, daraus – soweit die politische Aktion dies zulässt – das Beste und Nützlichste für die Gemeinschaft, die er vertritt, zu ziehen. Es erstaunt die Sensibilität des jungen De Gasperi für diese neuen Bedürfnisse: Sein Gespür für das, was zur Bildung von Identität und „ideologischer Gemeinschaft“ beitragen kann (sei es die Delegitimierung der Gegner oder die Herausarbeitung von Elementen für eine identitätsstiftende gemeinsame Kultur); sein Gespür für die sozialen Dynamiken (er erkannte, dass die Ausweitung der Schulbildung und die fortschrittliche Entwicklung der mittleren Schichten, vor allem auf dem Land, eine neue starke politische Kraft ins Feld führten); seine schnelle Auffassungsgabe, mit der er sich die Regeln des politischen Handelns in den verschiedenen Institutionen aneignete, um der objektiv schwachen Kraft, die er vertrat, zu mehr Gewicht zu verhelfen (die Trentiner Katholiken waren eine Minderheit im angespannten Szenario der politischen Kräfte im Reich und ihre Möglichkeiten, Allianzen zu schmieden, waren begrenzt).

8 Das ist eine lange und komplexe Debatte. Der Verfasser, der ihr viel Zeit und Mühe gewidmet hat, erlaubt sich, auf seine spezifisch darauf eingehenden Arbeiten zu verweisen: The Issue of Political Representation in the Twentieth Century, in: M. Faggioli / A. Melloni (Hrsg.), Repraesentatio. Mapping a Keyword for Churches and Governance, Berlin 2006, S. 151-161; Ideology and Government, in: Journal of Political Ideologies, 11 (2006), S. 61-76; I modelli politici e la loro „importazione“ nella formazione dei sistemi politici europei, in: Scienza & Politica, 31 (2004), S. 69-86; Politische Repräsentation und Konstitutionalismus in europäischer Perspektive, in: M. Kirsch / A.G. Kosfeld / P. Schiera (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002, S. 71-84.

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Einleitung: Herausforderungen einer politischen Biografie

Die Gesamtheit all dieser Erfahrungen und die Vielschichtigkeit des Werdegangs eines Mannes, der von Anfang an ein großes Interesse an der „weltlichen“ Dynamik der historischen Ereignisse zeigte, obwohl er sich in einem Kontext befand, der durchaus die Gefahr eines eher beschränkten Horizonts barg, bilden die Grundlage für eine hochinteressante Fallstudie in der Erforschung von politischen Führungspersönlichkeiten, oder auch ganz allgemein, der Dynamik politischer Systeme. Somit liegt der eigentliche Schlüssel zum Verständnis nicht nur des jungen De Gasperi, sondern der Persönlichkeit über den gesamten Verlauf ihrer Karriere in der Typologie des „Berufspolitikers“. Beruf ist hier nicht im Sinne von Lebensunterhalt zu verstehen, sondern als eine bedeutende Wahl, die man für sein Leben in voller Verantwortung und mit der größtmöglichen Kompetenz trifft. Bekanntermaßen verwendete Max Weber zur Beschreibung dieser Dynamik den Begriff „Beruf“, der sowohl für „Berufung“ als auch für „Beruf“ stehen kann (mit der etymologischen Wurzel „rufen“9). Es greift also keineswegs zu kurz, diesen Interpretationsschlüssel auf das Leben Alcide De Gasperis anzuwenden, und folglich in seiner langen und komplexen „Habsburger“ Phase den Kontext auszumachen, in dem er geformt wurde und die notwendigen Lehrjahre durchlebte. Dies belegt auch, was er am 6. August 1927 aus der politischen Gefangenschaft während des Faschismus an seine Frau schrieb: „Es gibt viele, die nur einen kleinen Ausflug in die Politik unternehmen, als Dilettanten, und andere, die in ihr, und das ist sie für sie, eine Nebensache von nur zweitrangiger Bedeutung sehen. Doch für mich war sie, und das bereits als Jugendlicher, meine Karriere oder besser, meine Mission. Das Mandat niederzulegen, bei der Zeitung aufzuhören, die Lippen zum Schweigen zu schließen, die Fesseln an den Füßen, all das war mir egal. Das habe ich zum Teil getan, und auch wenn ich es ganz getan hätte, wäre ich nicht dennoch ich geblieben, und wie hätte ich aus meiner Haut gekonnt? Ich werde immer ein „popolare“ bleiben [= Mitglied des Partito Popolare, der Volkspartei, Anm. d. Übers.], der Degasperi seiner jungen oder seiner reifen Jahre, so wie ein Chirurg immer ein Chirurg bleibt, auch wenn er das Krankenhaus wechselt, und ein Ingenieur ein Ingenieur“10.

Dieses Buch ist das Ergebnis der umfassenden Überarbeitung meines Einführungsessays zum ersten Band der „Scritti e discorsi politici“ von Alcide De Gasperi, der 2006 in Bologna im Verlag il Mulino erschienen ist. 9 Übrigens ist dieser Begriff auch im Italienischen mehrdeutig, man denke an die „professione di fede“, das Glaubensbekenntnis. Somit steht „professione“ auch in der italienischen Sprache für die Aufforderung, sich in der Öffentlichkeit zu den Wurzeln der eigenen Existenz zu bekennen, was sich hier auf Aufgaben bezieht, deren Erfüllung als soziale Pflicht verstanden wird. Man ist dann im „Beruf“, wenn man die Regeln und die Ethik des jeweiligen Aufgabenbereichs öffentlich als bindend akzeptiert hat. 10 A. De Gasperi, Lettere dalla prigione 1927-28, Mailand 1965, S. 101.

Einleitung: Herausforderungen einer politischen Biografie

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Obschon die Verantwortung für alles, was ich schreibe, ausschließlich bei mir liegt, verdanke ich vieles der Hilfe anderer, sodass ein mögliches Verdienst auch das derjenigen ist, die mir diese Hilfe haben zuteilwerden lassen. Allen voran danke ich Maria Romana De Gasperi, die mir großzügig Einsicht in die Unterlagen ihres Vaters gewährt hat, die sie zusammengetragen und in ihrem römischen Zuhause aufbewahrt hat. Darüber hinaus gilt mein großer Dank Giuliana Nobili Schiera, die sich auf das Unterfangen eingelassen hat, an diesem Werk mitzuarbeiten (und die mich darin auch bestärkt hat): Ohne ihr Talent, ihre Entschlossenheit und ihre Menschlichkeit hätte dieses Werk nie das Licht erblickt, und ohne ihre Mitarbeit wäre eine Arbeit wie diese weitaus schwieriger und aufwendiger geworden (und ich hätte sie nicht auf mich genommen). Ihr zur Seite hat eine Equipe von Wissenschaftlern an dieser Ausgabe mitgearbeitet: Mit allen gab es einen intensiven Austausch, allen voran mit Elena Tonezzer, Mariapia Bigaran, Maurizio Cau und Sara Lorenzini, denen ich für ihr Engagement außerordentlich dankbar bin. Tarcisio Andreolli hat viel für die Realisierung der „Scritti e disorsi politici“ und damit auch dieses Werk getan. Ich hätte die Figur De Gasperi der Jahre 1881 bis 1918 nicht behandeln können, hätte ich mich nicht auch im Auftrag des vormaligen Istituto Trentino di Cultura mit der Zeitgeschichte des Trentino befasst, und zwar als einer der Herausgeber des letzten Bandes der „Storia del Trentino“ (erschienen bei il Mulino, Bologna 2005). Ich hatte das Glück, dabei eng mit meinem Freund Andrea Lombardi zusammenzuarbeiten, der mich umfassend mit diesem Abschnitt der Geschichte vertraut gemacht hat, und das zusammen mit einer Gruppe wunderbarer Mitarbeiter: Mit fast allen gab es einen intensiven intellektuellen Austausch, der mich außerordentlich bereichert hat. Meine Danksagung ist somit keineswegs eine reine Formsache. Bei der Realisierung dieses Buchs, die weniger einfach war als es scheinen mag, konnte ich auf die Unterstützung weiterer Freunde bauen: die Kollegen der Politikwissenschaftlichen Fakultät Dipartimento di Politica, Istituzioni, Storia der Universität Bologna und das Personal ihrer Fachbibliothek; Gian Enrico Rusconi und das Italienisch-deutsche historische Institut in Trient, die mich auf vielerlei Weise unterstützt haben; die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Studienzentrums Centro Studi per il Progetto Europeo in Bologna (Riccardo Brizzi, Maria Coccia, Massimo Faggioli, Furio Ferraresi, Marzia Maccaferri, Michele Marchi, Gemma Tampellini). Enrico Galavotti hat mir freundlicherweise bei der Quellensuche geholfen. Zu guter Letzt gilt mein Dank wie immer meiner Frau Claudia und meiner Tochter Stefania, die mich mit meiner De-Gasperi-Besessenheit teilen mussten, und schließlich auch dem Freund Ugo Berti, Lektor für Geschichte beim Verlag Società editrice il Mulino, der – wie schon in anderen Fällen –

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Einleitung: Herausforderungen einer politischen Biografie

auch diesmal daran geglaubt hat, dass es ein manchmal etwas zerstreuter Professor wie ich am Ende doch schaffen würde, anstelle von Dutzenden Essays zu den unterschiedlichsten Themen ein weiteres Buch zur Geschichte der Politik zu schreiben.

Erstes Kapitel

Geboren in einer Grenzregion Alcide De Gasperi1 kam am 3. April 1881 als Sohn von Amedeo (1850-1929) und Maria Morandini (1855-1910) in Pieve Tesino, einer kleinen Gemeinde im Valsugana, auf die Welt. Der Vater war ein kaiserlich-königlicher Gendarm, der seit 1880 (dem Jahr seiner Heirat) in dem Ort Dienst tat und einer einfachen Familie aus Sardagna entstammte, einem kleinen Dorf (700 Einwohner) am Monte Bondone unmittelbar oberhalb von Trient2. Auch wenn der Dienst in der Gendarmerie, vor allem in kleineren Gemeinden, sozial angesehen war, kann man kaum davon ausgehen, dass der Vater ein Mann mit ausgeprägten kulturellen Interessen war. Über die Mutter weiß man so gut wie nichts, außer dass sie in Predazzo geboren wurde3. Am 7. April wurde der erste Sohn des Ehepaares auf den Namen Alcide Amedeo Francesco getauft. Auch darüber, was die Familie zur Wahl des ersten, 1 Die ewige Auseinandersetzung über die richtige Schreibweise seines Namens ist bekannt. Die ursprüngliche Schreibweise, wie sie in allen amtlichen Unterlagen seit seiner Geburt auftauchte, war „Degasperi“, ein im Trentino recht geläufiger Familienname. Durch einen Schreibfehler in den parlamentarischen Büros in Wien anlässlich seiner Wahl zum Abgeordneten in den Reichsrat (1911) tauchte der eindeutig „plebejische“ Name zum ersten Mal in der Adelsform auf: Bei dem hohen Anteil auch italienischen Adligen im Parlament, konnte den Wiener Bürokraten ein solcher Fehler leicht unterlaufen. Der junge Parlamentarier wies umgehend auf den Fehler hin, doch zog ihm die Sache den Spott vor allem der Sozialisten und des Abgeordneten Cesare Battisti zu (der damit, wie wir sehen werden, auf De Gasperis Spott wegen seiner Vereidigung auf den Kaiser konterte). Sie unterstellten ihm, er wolle mit „von Gasperi“ vorgeben, blaues Blut zu haben. In dem Zeitraum, den dieses Buch behandelt, herrschte noch die ursprüngliche Schreibweise vor (mit der er auch unterzeichnete). Diese kehrte dann noch einmal im ersten italienischen Parlament wieder, auch wenn die andere Schreibweise parallel dazu ebenfalls verwendet wurde. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entschied sich der Staatsmann endgültig für die heute gültige Schreibweise: De Gasperi. Diese allen geläufige Version wird daher auch in diesem Buch verwendet, auch wenn das angesichts des betreffenden Zeitraums philologisch nicht ganz korrekt ist. 2 Luigi, der Vater von Amedeo, war nach Ansicht von Vadagnini ein Forstbeamter und besaß auch ein kleines Stück Land; vgl. P. Piccoli / A. Vadagnini, Degasperi. Un trentino nella storia d’Europa, Soveria Mannelli 2004, S. 11. 3 Laut Maria Romana De Gasperi bezeugen „die vielen Bücher in seinem Schlafzimmer seine Liebe zur Kultur und zum christlichen Glauben“; zitiert aus M.R. De Gasperi, De Gasperi, uomo solo, Mailand 1964. Im Jahr 2004 erschien eine neue Ausgabe des Werks, mit dem Titel „De Gasperi. Ritratto di uno Statista“. Die in diesem Buch verwendeten Zitate stammen aus der neuen Ausgabe, S. 9.

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recht unüblichen und eher klassisch anmutenden Namens, ohne Bezug zur christlichen Onomastik veranlasst hatte, ist nichts bekannt4. Dass es sich um etwas „Außergewöhnliches“ handelte, zeigt die Wahl eher normaler Namen für die drei weiteren Kinder: Luigi Mario, der am 15. Februar 1883 geboren wurde, Marcella, geboren am 31. Dezember 1886, und Augusto, der 1893 auf die Welt kam. Die allgemeinen Hintergründe und das Geburtsjahr sind hier von größerer Bedeutung, als üblicherweise hervorgehoben wird. Das habsburgische Trentino beziehungsweise Welschtirol, wie es im habsburgischen Sprachgebrauch für gewöhnlich genannt wurde (übersetzt als „italienisches Tirol“5), war nicht „irgendeine Region“. Gewiss haben alle Orte und Regionen ihre ureigene Geschichte, die für ihre Bewohner eine wichtige Rolle spielt, doch in diesem Fall waren die Umstände von ganz spezieller Natur, und man muss sie in ihrer Gesamtheit betrachten, um den Werdegang des jungen Alcide De Gasperi nachvollziehen zu können.

4 Maria Romana De Gasperi berichtet von einer Erklärung, die eigentlich eher auf Vermutungen gründete, aber in verschiedenen Kreisen die Runde machte: dass sich der Vater von einem Fresko hätte inspirieren lassen, das sich auf einem Adelspalast in Trient befand (an der Ecke zwischen der heutigen Via San Marco und der Via del Suffragio). Das Fresko zeigt den Kampf des Herkules (am unteren Rand steht verblasst „l’Alcide”) gegen Antaios als die mythologische Darstellung des Geistes, der über die Materie siegt; ebd., S. 9. 5 Der Begriff „wälsch“ (im 20. Jahrhundert war die geläufige Schreibweise „welsch“) kommt vom mittelhochdeutschen „wahlisch“ und bedeutet „fremd“ oder allgemein „romanisch“ (lateinisch bzw. rätoromanisch). Später bezeichnete man damit die Franzosen und die Italiener (ab dem späten 18. Jahrhundert vor allem die Italiener). Die antiken Germanen wandten diesen Begriff möglicherweise auf jenen Nachbarstamm an (die Gallier), den Cäsar („De bello Gallico“) „Volcae“ genannt hatte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich parallel dazu der Begriff „italiänisch“ durch und das Wort „welsch“ bekam einen zunehmend „nationalistischen“ und auch abfälligen Beigeschmack, als Abgrenzung der italienischsprachigen Bevölkerung, die aber nicht „italienischer Abstammung“ war. Auch taucht der altertümliche Ausdruck „Wälschland“ für Italien in manchen neuzeitlichen literarischen Werken auf; ganz offensichtlich wurde er im 19. Jahrhundert als Alternative zu „Italien“ – in den nationalistischen Auseinandersetzungen politisch brisant geworden – verwendet. Siehe dazu ad vocem: J. / W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 1922, Sp. 1328-1353; F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / New York 2002, S. 983. Mit der Verwendung dieses Begriffs möchte man also ein Gebiet benennen, das eigentlich tirolerisch ist, aber neben den Bevölkerungsgruppen germanisch-tirolerischer Abstammung von (romanischen) Fremden bewohnt wird (diese Tatsache wird später vom deutschen und tirolerischen Radikalnationalismus geleugnet werden, wie man noch sehen wird, dabei bediente sich dieser aber weiterhin der Bezeichnung in Abgrenzung zum Begriff „Trentino“, dem er seine historische Berechtigung absprach). Ich danke meinem Freund Manfred Hinz, der mir mit seinen Hinweisen Klarheit in dieser semantischen Frage verschafft hat, die, so scheint mir, von einiger Bedeutung ist.

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An folgendem Vorfall lassen sich bestimmte Voraussetzungen für den hier behandelten Gegenstand gut veranschaulichen. Im Jahr 1870 hatte die k.k. Statthalterei von Innsbruck, also die Landesregierung Tirols, die Eintragung einer Società degli Studenti e Candidati in Innsbruck mit der Begründung abgelehnt, dass „‚Trentiner Studenten und Kandidaten‘6 kein klares Konzept ausdrückt. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Trentiner Studenten in erster Linie Studenten aus der Stadt Trient oder aus ihrem Umkreis, in diesem Fall blieben die Studenten aus dem Nonstal, aus dem Fleimstal und aus den Judikarien ausgeschlossen; in zweiter Linie kann man darunter die Studenten des aufgegebenen Fürstbistums oder des Kreises Trient verstehen, in diesem Fall würden die Studenten aus Rovereto und vom Gardasee nicht darin eingeschlossen sein“7.

Diese Begebenheit wurde nicht ganz zufällig von der liberalen Tageszeitung „Il Trentino“8 beklagt. Daran sieht man beispielhaft, wie sich eine Streitfrage herausbildete, die zwar historische Wurzeln hatte (die von dem amtseifrigen Funktionär aufgegriffen wurden, der sich des schwelenden Kulturkonfliktes offenbar hinlänglich bewusst war), aber mit dem Verlust der italienischen Besitzungen des Hauses Österreich infolge der Niederlage von 1866 eine neue Bedeutung gewonnen hatte. In seinen heutigen Grenzen war das Trentino Teil des „deutschen“ Politikraumes gewesen9. Das bedeutete aber nicht, dass es sich der neuen „deutschen Nation“ zugehörig fühlte, wie sie sich seit Ende des 18. Jahrhunderts zu definieren begonnen hatte – und mit noch größerem Nachdruck seit der Wende durch die Napoleonischen Kriege10. Bis 1803 war das Trentino, was seinen Kern betraf, als Fürstbistum Trient eine autonome Einheit gewesen, während andere Teile seines Territoriums zeitweilig zur Republik Venedig gehör6 Unter „Kandidaten“ verstand man Examenskandidaten: Es handelte sich um eine Vereinigung von Studenten der örtlichen Universität. 7 Zitiert aus: M. Nequirito, Territorio e identità in un’area di frontiera fra Otto e Novecento: il dibattito sul nome „Trentino“, in: Geschichte und Region/Storia e Regione, 9 (2000), S. 49-50. Tatsache war, dass die Regierung den Trentiner Studenten letztendlich ihr Recht auf eine Vereinigung dieses Namens zugestand, mit der sie sich von den deutschen Tirolern abgrenzen wollten. 8 Es handelt sich um die Tageszeitung, die Giovanni a Prato 1868 gegründet hatte und die 1877 eingestellt wurde. Wie wir sehen werden, sollte De Gasperi, als er 1906 Direktor von „La Voce Cattolica“ wurde, den Namen dieser Tageszeitung in „Il Trentino“ ändern, aber das ist eine andere Geschichte. 9 Wie man weiß, war Trient als Sitz des berühmten Konzils ausgewählt worden, gerade weil man es als „Brücke“ zwischen Papsttum und Reich ansah, zwischen lateinischem und deutschem Einflussbereich. 10 Siehe: Storia del Trentino, Bd. 3: A. Castagnetti / G.M. Varanini (Hrsg.), L’età medievale, Bologna 2004; Bd. 4: M. Bellabarba / G. Olmi (Hrsg.), L’età moderna, Bologna 2002.

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ten (darunter die bedeutende Stadt Rovereto)11. Nach turbulenten Jahren, in denen es verschiedenen Herrschaften unterstanden hatte – die Einvernahme in das napoleonische „Königreich Italien“ als Dipartimento dell’Alto Adige12 eingeschlossen –, wurde das Trentino infolge des Wiener Kongresses schlussendlich dem Habsburgerreich angegliedert und damit erneut auf Innsbruck ausgerichtet, oder sogar eher noch auf Wien. Damit knüpfte das Trentino zwar an seine eigene, wenn auch nicht ganz unproblematische Tradition13 an, fand sich aber zugleich in einem Kontext wieder, der seinerseits ebenfalls alles andere als einfach war. In Wirklichkeit kannte das Territorium bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts keine Einheit in einem noch so vagen „nationalen“ (oder wenigstens „regionalen“) Sinn, noch hatte sich ein Gemeinschaft stiftendes Identitätsbewusstsein verbreitet. Es handelte sich um eine bergige Region mit einem ziemlich schlechten Kommunikationssystem – wenn man von der großen Verbindungsachse durch das Etschtal absieht. Die Region war geprägt von starken Differenzen zwischen ihren Städten (derer es nur zwei gab: Trient und Rovereto; allenfalls ließe sich im Sinne einer erweiterten Definition eines urbanen Modells noch Riva del Garda dazu zählen) und den sogenannten „valli“. In den Städten hatte es sehr wohl eine kulturell interessante Entwicklung und einen mal stärkeren, mal schwächeren Austausch der großen Strömungen europäischen Den-

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Über die besondere Stellung von Rovereto siehe M. Allegri (Hrsg.), Rovereto, il Tirolo, l’Italia: dall’invasione napoleonica alla Belle Époque, Rovereto 2001. Es kommt hinzu, dass diese partielle Anbindung an Venetien in der nationalistischen Rhetorik weidlich ausgeschlachtet wurde, um den italienischen Charakter der Region hervorzuheben. Man ging sogar so weit, nach dem Ersten Weltkrieg die Umbenennung in „Venezia Tridentina“ vorzuschlagen. Diese Ideologisierung der Geografie führte dazu, dass man den westlichen Teil des Trentino der angrenzenden lombardischen Region zuordnete (bisweilen schweizerisch-lombardisch). 12 Um genau zu sein, hatte das Trentino zwischen 1796 und 1802 drei französische und drei österreichische Besatzungen erlebt; von 1805 bis 1809 hatte es der bayrischen Herrschaft unterstanden; von 1810 bis 1813 gehörte es zum napoleonischen Königreich Italien; im Juli 1814 war es von den Habsburgern zurückerobert worden. Diese Eroberung wurde 1815 offiziell in Wien bestätigt. Im Jahr 1816 hatte man das Trentino der Grafschaft Tirol angegliedert (über diese Eingliederung war es nun auch Teil des Deutschen Bundes geworden, was für Lombardo-Venetien nicht infrage kam, da Metternich dieses Gebiet als dem alten germanischen Einflussbereich historisch nicht zugehörig empfand). Mit der Angliederung an Tirol war das Trentiner Gebiet in die beiden „capitanati circolari“ (Kreisämter) Trient und Rovereto aufgeteilt worden, die dem „Gubernium” von Innsbruck unterstanden. 13 Vor allem gab es ein Kommunikationsproblem mit den Regierungen, da nun Deutsch die Amtssprache war, anstelle von Latein, das bis dahin gewissermaßen die politische und soziale Koine zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gebildet hatte.

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kens14 gegeben. Bei den Tälern handelte es sich um lokale Mikrokosmen mit jeweils eigenen Verwaltungs- und Rechtssystemen, die sich mal auf den alten tirolerisch-trentinischen Feudaladel bezogen, mal auf mittelalterliche Traditionen kommunaler Autonomie. Auch die Vorstellung einer „linguistischen Einheit“ muss entschieden revidiert werden: Die lokale Bevölkerung sprach verschiedene Dialekte, die sich teils erheblich voneinander unterschieden. Italienisch war – bis die enormen Investitionen in ein Schulsystem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Theresianischen und Leopoldinischen Reformen ihre Früchte tragen konnten – Privileg einer kleinen Elite der gebildeten Schichten. Sicherlich brachte das Zusammenleben in einem politischen System wie dem habsburgischen, für das die deutsche Sprache in allen verwaltungstechnischen Angelegenheiten längst unverzichtbar geworden war, einige Probleme mit sich15. Gerade weil das Trentiner Territorium ein „Durchgangs“-Gebiet war, erregte es das Interesse vieler ausländischer Reisender, die das Problem der „Grenze“ wahrnahmen – der Grenze zwischen einer deutlich „deutschen“ Realität in Tirol und einer Realität, die sich weitgehend dieser Charakterisierung entzog, aber in anderer Hinsicht von „deutschen Elementen“ durchdrungen war. Der Historiker Mauro Nequirito hat eine präzise und kluge Studie über die Beobachtungen jener Reisenden vorgelegt und diese als Prämisse seinen Forschungen über die Herausbildung einer kulturellen Identität des Trentino16 vorangestellt. Wie er herausgearbeitet hat, wurde die Erfahrung dieser „Grenze“ nicht immer positiv dargestellt. So spricht beispielsweise Albert Wolff in seinem Werk von 1872 nicht nur von einem eindeutigen Übergang nach der Talenge von Salurn von der deutschen Welt in die italienische, sondern schreibt sogar „du paysan tyrolien passons aux lazzaroni“17. In 14 Dabei hatte es gerade auch vonseiten des städtischen Patriziertums von Trient heftigen Widerstand gegen die habsburgischen Reformanstrengungen des 18. Jahrhunderts gegeben. 15 Erst seit 1784 war Deutsch Amtssprache, doch mit dem Ausbau des zentralistischen Verwaltungsstaats sollte der Zugang zu den öffentlichen Schaltstellen der Macht für die Bürger und Institutionen der Randgebiete ein echtes Problem werden. Was das für das Trentino bedeutete, erhellt die Untersuchung von M. Bellabarba, Scrittura e tradizione: dai carteggi amministrativi nel Trentino asburgico del secondo settecento, in: Annali dell’Istituto storico ialo-germanico in Trento, 31 (2005), S. 105-132. 16 Siehe M. Nequirito, Dar nome a un volgo. L’identità culturale del Trentino nella letteratura delle tradizioni popolari (1796-1939), Trient 1999. 17 Siehe A. Wolff, Le Tyrol et la Carinthie. Moeurs. Paysage. Légendes, zitiert aus M. Nequirito, Lo studio del folklore in Trentino nell’età delle contrapposizioni nazionali, in: L. Blanco (Hrsg.), Le radici dell’autonomia. Conoscenza del territorio e intervento, in: Trentino sec. XVIII-XX, Mailand 2005, S. 149. Ähnliche Urteile, die die „italienischen“ Stereotypen der Trentiner hervorheben (keine Lust zu arbeiten; bescheidene und ungepflegte Behausungen im Gegensatz zur stattlichen Schönheit der Tiroler

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anderen Quellen, wie etwa bei Heinrich Heine, der 1828 auf seiner Reise von München nach Genua durch Tirol kam, heißt es, in „Südtirol“ (Bezeichnung, die im 19. Jahrhundert in einem weiten Sinne verwendet wurde) „klärte sich das Wetter auf, die Sonne von Italien ließ schon ihre Nähe spüren“, denn hier sei es, „wo Italien beginnt“18. Die Ärmlichkeit der Trentiner Bauernhäuser fiel auf, insbesondere im Vergleich zur Stattlichkeit der Bauernhäuser in Tirol (die „Erbhöfe“ beziehungsweise die sogenannten „geschlossenen Höfe“, die in dieser Region durch die Erbhofgesetze nach dem Ältestenrecht verteidigt wurden, verhinderten die Zerstückelung des Landbesitzes). Auch wurde bemerkt, dass sich auf deutscher Seite die traditionell überlieferten Trachten (zumal sehr schön und prächtig) erhalten hatten, die Tradition des Trachtentragens im Trentino hingegen fast gänzlich verloren gegangen war. Wie wir gleich sehen werden, sollte dieser Zustand vor allem ab dem drastischen Wendepunkt von 1866 – der schweren Niederlage der Habsburger im Krieg gegen Preußen – ins Wanken geraten. Bevor wir uns mit diesem Thema befassen, müssen wir allerdings noch einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt des Gegenstandes in Augenschein nehmen: das Aufkommen eines deutschtirolerischen Nationalismus und seinen Zusammenhang mit der „italienischen“ Nationalisierung im neu entstandenen „Trentino“. Der nationalistische Mythos, wie er sich im Folgenden herausbilden sollte, sah in der Vererbung Tirols im Jahr 1363 durch Gräfin Margarete von Tirol an Herzog Rudolf von Österreich (beziehungsweise von Habsburg) nicht nur die Verknüpfung Tirols mit der Geschichte Österreichs. Vielmehr wurde Tirol sogar zum „Herzstück“ im Schicksal des Hauses Habsburg19. Zu der „fürst-

Häuser usw.), finden sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch bei anderen Autoren, siehe dazu M Nequirito, Dar nome a un volgo, S. 59-72. 18 Vgl. L. Cole / H. Heiss, „Unity versus difference“: The Politics of Region-building and National Identities in Tyrol, 1830-1867, in: L. Cole (Hrsg.), Different Paths to the Nation: Regional and National Identities in Central Europe and Italy, 18301870, Basingstoke 2007. Die Bezeichnung „Südtirol“ soll hier nicht in die Irre führen: Damit bezeichnete man damals den südlichen Teil der Grafschaft, nicht das Gebiet der heutigen Provinz Bozen; Heine sagt mit diesem Text nicht, wo Italien begänne. Zum Gebrauch der Bezeichnung „Südtirol“ siehe H. Heiss / G. Pfeifer, Man pflegt Südtirol zu sagen und meint, damit wäre alles gesagt, in: Geschichte und Region/Storia e Regione, 9 (2000), S. 85-109. 19 Zur Wiederaufnahme dieser nationalistischen Legende in jüngerer Zeit, und das bei einem hochgebildeten Mann, lese man die Rede des damaligen Universitätsrektors von Innsbruck, Eduard Reut-Nicolussi, vom 13. Mai 1957, in: M. Gehler (Hrsg.), Eduard Reut-Nicolussi und die Südtiroler Frage 1918-1958, Tl. 2: Dokumentenedition, Innsbruck 2006, S. 1396-1397. Reut-Nicolussi kam 1888 in Trient als Sohn einer Familie aus der deutschen Enklave von Lusern zur Welt und war schon als junger

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lichen Grafschaft“ kamen im Jahr 1803 auch die enteigneten kirchlichen Besitzungen des Heiligen Römischen Reiches der Fürstbistümer Trient und Brixen hinzu, auf die die Herren Tirols ohnehin schon seit Jahrhunderten mehr oder weniger starken Einfluss ausgeübt hatten. Im Frieden von Preßburg 1805 wurde Tirol an Bayern abgetreten, das es in seinen Modernisierungsprozess einzubeziehen versuchte, was 1809 auf den erbitterten Widerstand in den Gebieten stieß, in denen der Wirt Andreas Hofer Wort führte. Es war einer jener typischen anti-aufklärerischen Aufstände, zu denen es in napoleonischer Zeit immer wieder kam und die von Bayern und Franzosen gemeinsam blutig niedergeschlagen wurden. Die Episode sollte in der Folge als Musterbeispiel einer „nationalen“ und patriotischen Revolte der Deutsch-Tiroler gegen den Fremden gefeiert werden20. Die Niederschlagung des Aufstandes und die Niederlage Österreichs in den Napoleonischen Kriegen im selben Jahr führten zur Dreiteilung Tirols, wobei der größte Teil des Gebietes bei den Bayern verblieb, ein östlicher Zipfel ging an das Reich der Illyrer und der südliche Teil, wie bereits erwähnt, zum Dipartimento dell’Alto Adige des napoleonischen Königreichs Italien – ein kurzes Zwischenspiel, denn die gesamte Region fiel schon 1814 als Kronland wieder zurück an das Habsburgerreich. Damit wurde eine Politik wieder aufgenommen, die ab dem 17. Jahrhundert an einer gegenreformatorischen Version des Katholizismus nach Formen barocker Religiosität orientiert gewesen war (übrigens typisch für das gesamte österreichisch-deutsche Gebiet, einschließlich Wiens). Tirol wurde wieder ein „Herz“ der Restauration und es war unvermeidlich, dass in diesem Kontext die Besonderheiten des italienischen, erst kürzlich zurückgewonnen Teils nur wenig Beachtung fanden; das betraf auch seine Repräsentation in den Ständeversammlungen (dem Landtag von Innsbruck), deren Auswahlkriterien noch denen aus der Zeit der Annektierung der italienischen Besitzungen entsprachen. Die Glaubenseinheit wurde zur speziellen Tiroler Form des Bundes zwischen Thron und Altar. Während sich die Tiroler immer stärker mit dem Habsburgerreich und dessen Metternich’schem System identifizierten, fühlte sich die Trentiner Elite aufgrund ihrer kulturellen Andersartigkeit und ihrer daher nicht ganz einfachen Einbindung in das Macht- und Verwaltungsnetz (Ausschluss wäre zu

Mann in den trentinisch-tirolerischen Disput involviert; siehe ebd., Tl. 1: Biographie und Darstellung. 20 Diese Standardinterpretation hält sich bis heute, obwohl Historiker sie für weitgehend unglaubwürdig halten; siehe H. Heiss, 1809-2009: un approccio al bicentenario tirolese, in: Archivio Trentino, 1 (2006), S. 5-18.

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viel gesagt)21 zunehmend der italienischen „Nationalität“ zugehörig. Natürlich lässt sich noch nicht von eindeutig „irredentistischen“ Bestrebungen sprechen, noch fehlte dazu das „risorgimentale“ Gegengewicht auf der italienischen Seite. Hier wie auch anderswo war das Jahr 1848 einen ersten Wendepunkt. Im gesamten Vielvölkerstaat entwickelte sich die nationale Frage, was seinen Niederschlag in den Parlamenten fand, in Frankfurt (die Nationalversammlung des Deutschen Bundes) wie in Kremsier (der „revolutionäre“ Reichstag des Habsburgerreichs, der die erste liberale Verfassung in die Tat umzusetzen versuchte). Obschon in beiden Parlamenten die deutschen Elemente dominierten (in Frankfurt freute man sich über die Siege Radetzkys gegen das piemontesische Heer und die italienischen Aufständischen), fanden die jeweiligen nationalen Interessen Gehör. Zum ersten Mal formulierten die Trentiner Abgeordneten22 unter Führung von Baron Giovanni a Prato ihre Forderung nach einer Verwaltungsautonomie der italienischen Territorien von Innsbruck. So wie sich der Nationalismus unter den Italienern zu entwickeln begann, fehlte er erst recht nicht unter den Deutschen. Und so begann ein Feldzug zur Verknüpfung der Glaubenseinheit mit der Landeseinheit, also der angeblichen Unteilbarkeit des „ererbten Besitzes“ der Tiroler Gebiete. Als Beispiel sei der Appell eines gewissen Dr. Staffler zitiert, eines Führungsmitglieds des Katholisch-Konstitutionellen Vereins: „Deutsche Brüder! Seid wachsam, es gilt des Vaterlandes Einheit … Der Gesamtwille des deutschen tirolischen Volkes verdient und gebietet Achtung. Von der Weisheit und Gerechtigkeit der Minister erwarten wir, daß sie eine Landestrennung auch nur in Absicht auf die Verwaltung, … als höchst verderblich erkennen, und das Begehren der Welschtiroler, das augenscheinlich nur mit dem Ruine des deutschen Stammlandes gewährt werden könnte, auf das bestimmteste zurückweisen werden“23.

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Auch die Trentiner waren sehr wohl in der Verwaltung wie beim Militär vertreten, obschon sie nie in die oberen Ränge gelangten, allerdings nicht unbedingt aufgrund nationaler Vorurteile (die sich im Habsburgerreich erst viel später entwickeln sollten: Man erinnere sich daran, dass selbst Metternich kein Österreicher war, er war ein Deutscher aus Westfalen; darüber hinaus war er in seine Machtposition gekommen, weil er die Enkelin des einflussreichen Habsburger Ministers Kaunitz geheiratet hatte); viel eher wird es daran gelegen haben, dass es die Umstände quasi unmöglich machten, Personen mit den von Anfang an notwendigen Beziehunge für diese Aufgaben auszubilden. 22 Das Trentino war, wie auch die Grafschaft Görz und Gradisca mit Triest, Teil der Gebiete des Deutschen Bundes, die einst zum Heiligen Römischen Reich gehört hatten, während die Gebiete, die Teil des Lombardisch-Venetischen Reiches waren, auf ausdrückliche Anweisung von Metternich davon ausgeschlossen wurden. 23 Volksblatt für Tirol und Vorarlberg, 5. Oktober 1848, zitiert in: L. Cole / H. Heiss, „Unity versus difference“.

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Eine Verschnaufpause im Wettlauf zwischen „autonomen“ Forderungen und „nationalistischen“ Gegenforderungen bildete das neue Gemeindegesetz von 1849, das für viele Bereiche auf lokaler Gemeindeebene eine Verwaltungsautonomie zusicherte, was eine große Bedeutung für Rovereto und vor allem für Trient hatte: Trient wurde wieder „freie Stadtgemeinde“ mit einem eigenen Statut24. Gleichzeitig kam es mit dem Bau der 1858/59 eingeweihten Eisenbahnlinie Bozen-Verona (1867 wurde sie mit dem Ausbau der Brennerstrecke nach Innsbruck vervollständigt) zu wichtigen infrastrukturellen Neuerungen: Dies sollte langfristig die wirtschaftliche Entwicklung des Trentino ankurbeln, wenn auch vor allem in Richtung Mitteleuropa. Geradezu zwingend wurde dies mit der Niederlage des Habsburgerreichs im Krieg von 1866, wodurch das Trentino von Venetien, seinem italienischen Hinterland, abgeschnitten wurde, nachdem 1859 bereits die Anbindung an die Lombardei verloren gegangen war. In den Jahren 1859-1866 kam es durch die Konfrontation mit dem neuen „nationalen“ Staat Italien zu einer unvermeidlichen Verschärfung der ethnischen Gegensätze in Tirol. Nicht nur die Schützen, die freiwilligen lokalen Bürgerwehren, hatten ihren Anteil an den Konflikten, auch weckte das verkündete Ziel der Risorgimento-Bewegung, das Trentino zu „befreien“, das wachsam-beunruhigte Interesse jenseits der Grenzen. Schließlich sah man darin auch den Versuch der „anti-katholischen“ Kräfte, das Tiroler Bollwerk des Glaubens zu zerstören25. Obschon die Gefahr eines anti-habsburgischen Aufstands in diesen Gebieten absolut nicht bestand (nur wenige Freiwillige waren in vereinzelten Fällen mit Garibaldi in den Kampf gezogen, und während der beiden Kriege war es im ganzen Gebiet ruhig geblieben), nahm die anti-italienische Haltung in der deutschen Bevölkerung zu, und entsprechend enger wurde die Verknüpfung von kulturellem und politischem Bewusstsein. Im Jahr 1859 war der hundertste Geburtstag Schillers aufwendig gefeiert worden, worauf man in Trient mit der ersten Dante-Feier antwortete: Wie zu sehen sein wird, sollte sich der „Krieg der Dichter“ noch lange hinziehen. Im selben Jahr gedachte man feierlich des fünfzigsten Jahrestags des Andreas24

Insgesamt gab es im ganzen Reich 33 Städte mit autonomem Statut. Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gemeinden siehe M. Bigaran, Einführung zu: Alcide De Gasperi consigliere comunale a Trento, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1: Alcide De Gasperi nel Trentino asburgico, S. 1753-1765, und die dort zitierte Literatur. 25 Im Jahr 1859 erneuerte der Bischof von Brixen, Vinzenz Gasser, die Konsekration des Gebietes an das „Heiligste Herz Jesu“ (die Herz-Jesu-Verehrung war im katholischen Tirol damals sehr verbreitet) als Verteidigung gegen die „gottlosen“ Mazzini und Garibaldi. Zitiert aus: L. Cole, The Counter-Reformation’s Last Stand: Austria, in: C. Clark / W. Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in NineteenthCentury Europe, Cambridge 2003, S. 295.

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Hofer-Aufstands. 1863 wurde die Fünfhundertjahrfeier der Vereinigung Tirols mit dem Hause Habsburg begangen – an den Festlichkeiten nahm überraschenderweise selbst Kaiser Franz Joseph teil26. Dieses nationalistische Gären, das schwerwiegende Folgen haben sollte, erhielt durch die Ereignisse des Jahres 1866 zwar eine Abkühlung, aber auch neue Impulse. Die schmerzhafte Niederlage bei Königgrätz gegen die preußischen Truppen offenbarte die Schwäche des Habsburger Systems, sowohl auf politisch-diplomatischer als auch auf militärischer Ebene: Durch die daraus erwachsende Frustration sollte die österreichisch-deutschen Führungselite (maßgeblich unterstützt durch die Magyaren, die sich damit begnügten, die Lage für ihre Interessen auszunutzen) in eine Spirale geraten, in der sich unerreichbare Träume von einer wieder zu erweckenden Reichsidee, ständige Angst vor neuen Katastrophen und innenpolitischer Immobilität und die Furcht, das zu gefährden, was von der „Macht“ des Reiches noch übrig geblieben war, vermengten. Doch neben den Niederlagen gegen die Preußen an der Nordfront gab es im Krieg von 1866 auch triumphale Siege gegen die Italiener an der Südfront zu verbuchen: Feldmarschall und Erzherzog Albert von Österreich27 hatte bei Custoza die italienischen Truppen aufgerieben, obwohl diese zahlenmäßig deutlich überlegen waren. Und Admiral Tegetthoff hatte der italienischen Flotte bei Lissa eine schwere Niederlage zugefügt (den eher mäßigen Erfolg von Garibaldi bei Bezzecca klammerte man als eine eher zufällige Episode aus). Das genügte, um den Schock der Niederlage gegen Preußen zu lindern (die Vormachtstellung des Deutschen Reiches begann man zu akzeptieren, und was letztendlich zählte, war die daraus entstandene solide Allianz zwischen den beiden Reichen). Italien wurde nun zur Zielscheibe aller Ressentiments und Rachegelüste, welche die Ergebnisse von 1859 und der Verlust Venetiens heraufbeschworen hatten. All das gärte zum großen Teil noch unterschwellig. Denn vorerst war es notwendig, das Habsburgerreich intern zu reformieren und zu modernisieren, auch weil die weitere tumultartige Entwicklung der europäischen Politik (1870 französisch-preußische Kriege, Fall des Kirchenstaats, Beginn des Kolonialismus und Unruhen in Russland, schließlich der Dreibund, der auch Italien einschloss) das Szenarium offenkundig verändern sollte. 26

Siehe L. Cole, „Für Gott, Kaiser und Vaterland“. Nationale Identität der deutschsprachigen Bevölkerung Tirols 1860-1914, Frankfurt a.M. 2000, S. 129-134. Tatsächlich zog sich das Projekt, ein Denkmal in Erinnerung an dieses Jubiläum zu realisieren, in die Länge, bis man es 1868 schließlich aufgab und sich stattdessen – nicht rein zufällig – für den Bau einer Andreas Hofer gewidmeten Kapelle im Passeiertal entschied. 27 Siehe dazu R. Schober, L’arciduca Alberto alla corte d’Asburgo: militare di rango e politico sottovalutato, in: P. Prodi / A. Wandruszka (Hrsg.), Il luogo di cura nel tramonto della monarchia d’Asburgo (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 43), Bologna 1996, S. 301-321.

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An dieser Stelle sollten einige Aspekte der inneren Verfassung des Reichs näher in Augenschein genommen werden, da man diese wohl als weitere, keineswegs zweitrangige Voraussetzung betrachten darf, um den Kontext, in dem die politischen Lehrjahre des jungen De Gasperi anzusiedeln sind, besser zu verstehen. Die verfassungsrechtliche Situation des Habsburgerreichs bildete in Europa eine Besonderheit, die nicht immer angemessen in die Betrachtung einbezogen wird28. Der Vielvölkerstaat29 war eine Anomalie unter den verschiedenen Entwicklungsmodellen von Bürgergemeinschaften. Auch wenn das berühmte Bild des italienischen Patriotismus des Risorgimento – „una d’arme, di lingua, d’altar“30 – etwas Rhetorisches hatte, drückte es dennoch die reale Herausbildung einer „nationalen“ Zugehörigkeit aus: Diese basierte auf der gemeinsamen Teilhabe an kulturellen Elementen, die als einigende Kraft fungierten (als da wären Literatur und Wissenschaft, die sich ja über die „Sprache“ ausdrücken, wie auch die Religion als herausragende Form des Akkulturationsprozesses der Völker). Hinzu kam das gemeinsame Empfinden dessen, was Max Weber die „Schicksalsgemeinschaft“ nennen wird, repräsentiert durch das Militär als Inbegriff des bewaffneten Schutzes der Bürgergemeinschaft nach außen hin und als Mittel, um jene „Macht“ zu erlangen, die allein die Entwicklung eines gewissen Wohlstands garantieren würde. An diesem Ideal gemessen, befand sich das Habsburgerreich in einer recht schwierigen Lage31: Denn genau das war das zentrale Problem angesichts einer politischen Realität, die sich nie eine nationale Identität zu geben vermochte, ja, die nicht einmal die formale Definition einer solchen politischen Einheit kannte32. Zwar wurde im Jahr 1804 zum ersten Mal von einem „Kaisertum 28 Zu einer genauen Analyse der Verfassungsstruktur des Habsburgerreichs siehe W. Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848-1918, in: Die Habsburger Monarchie, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, S. 173-237. 29 Um eine Vorstellung vom Gewicht der verschiedenen Nationalitäten im Reich zu bekommen, sei hier ihr prozentualer Anteil um 1880 genannt (der sich in den folgenden Jahren nicht grundlegend verändern wird): 23,9% Deutsche, 20,2% Magyaren, 12,6% Tschechen, 3,8% Slowaken, 5,3% Kroaten, 10,0% Polen, 7,9% Ruthenen, 6,4% Rumänen, 2,6% Slowenen und 2,0% Italiener. 30 „Geeinigt in Waffen, in Sprache, am Altar“. 31 R.A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches. 1526 bis 1918, 3. Aufl., Wien 1993. 32 Auch dazu gibt es eine recht umfangreiche Bibliografie mit verschiedenen Ansätzen. Sie reichen vom einen Extrem, das in der Reichsverwaltung den entscheidenden Faktor dafür sieht, dass man regieren und die unterschiedlichen Komponenten zusammenhalten konnte, bis hin zum anderen Extrem, das in der ausgebliebenen „Nationalisierung“ des Reiches und den daher rührenden Spannungen das treibende Element seiner Auflösung ausmacht. Einen Leitfaden zum formalen Aufbau des Reiches, wie er im Folgenden dargestellt wird, findet man im Klassiker von W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 10. Aufl., Wien 2005. Für eine andere Annähe-

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Österreich“ gesprochen, da Franz II. das imperiale Modell Napoleons nachahmen wollte, doch dieser Begriff verschwand rasch wieder. Und schon 1811 nannte man die Territorien, in denen die Gesetze Wiens zur Anwendung kamen, „die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie“. In der Folge setzte sich der Begriff „Kronländer“ durch, doch erst ab 1915 würde man versuchen, eine einheitliche „österreichische“ Identität herauszubilden für das, was nach dem Ausgleich von 1867 schlicht „Cisleithanien“ genannt wurde (dagegen war Ungarn immer ein „Königreich“ gewesen)33. Man würde sehr viel mehr als dieses eine Kapitel benötigen, um weiter in das Wirrwarr eines politischen Systems vorzudringen, das sich einerseits infolge der aufgeklärten Reformpolitik von Maria Theresia und Joseph II. (1740-1790) in Richtung eines bürokratischen (und modern-rationalistischen) Zentralstaats entwickelte und daher große Anstrengungen für eine gewisse innere Angleichung unternommen hatte. Doch andererseits hatte es ein „Repräsentativsystem“ bewahrt, wobei mehrere unterschiedliche Territorien in Personalunion durch ein und denselben Monarchen verbunden waren34. Um nur ein Beispiel zu nennen: die Vertretung der verschiedenen Länder und Königreiche im Reichsrat in Wien, wie sie bis zur Wahlrechtsreform von 1873 bestand, als man die Volksvertretungen zu modernisieren begann. Im Reichsrat waren die Königreiche Böhmen, Dalmatien, Galizien-Lodomerien vertreten; ebenso die Erzherzogtümer Österreich ob der Enns und Österreich unter der Enns; die Herzogtümer Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Schlesien, Bukowina; die Markgrafschaften Mähren und Istrien; die Gefürsteten Grafschaften Tirol sowie Görz und Gradisca; der Tiroler Landesteil Vorarlberg; die Stadt Triest. Es ist klar, dass „föderalistische“ Traditionen dieser Art nicht durch Modernisierungsmaßnahmen von oben verschwinden, vor allem, wenn man bedenkt, dass es innerhalb dieses Gefüges eine weitgehende kommunale und regionale Unabhängigkeit gab: ein System, an dem lange festgehalten wurde, auch wenn es in Auflösung begriffen war, und vornehmlich von eher konservativen Kräf-

rungsweise siehe P. Urbanitsch, Pluralist Myth and Nationalist Realities: The Dynastic Myth of the Habsburg Monarchy – A Futile Exercise in the Creation of Identity?, in: Austrian History Yearbook, 35 (2004), S. 101-141. 33 Das Konzept „Österreich“ hat seinerseits eine recht komplexe Geschichte; vgl. E. Zöllner, Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen in der Geschichte, Wien 1988; R. Plaschka u.a. (Hrsg.), Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995. 34 Eine scharfsinnige Interpretation des Habsburger Systems im Kontext der Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches liefert J.J. Sheehan, German History 17701866, Oxford 1989, S. 41-55 (es empfiehlt sich, auch die vorangehenden Seiten über die „Struktur“ und den Wortschatz des Heiligen Römischen Reiches zu lesen).

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ten verteidigt wurde (wohl vor allem zum eigenen Vorteil, doch das ist eine andere Geschichte)35. Dabei war das Habsburgerreich unter vielerlei Aspekten ein „moderner Staat“: dank der Effizienz seiner Bürokratie; dank der Herausbildung eines Rechtssystems, das einen „Rechtsstaat“ garantierte; dank einer „Machtposition“, die – obschon weniger gefestigt als es den Anschein hatte – das Reich zu einem der entscheidenden Akteure bei der Stabilisierung Europas nach Napoleon machte. Unter anderen Gesichtspunkten war es aber keineswegs modern: Es bezog seine Legitimation aus dem dynastischen Prinzip (das Hause Habsburg betrachtete die verschiedenen Länder fast wie persönliche Besitztümer, vor allem durch seine Heiratspolitik), und zwar dergestalt, dass der Kaiser noch bis Ende des Ersten Weltkriegs mit der Ansprache „An meine Völker“36 auftrat; es gab ein Repräsentativsystem, das die alten, vormodernen Parlamentsstrukturen (die Landtage) in den verschiedenen Ländern des Reichs weiterhin bestehen ließ37, und auf der übergeordneten Repräsentationsebene sogar das Prinzip der Ständeversammlung noch bis 1907 beibehielt38. Um die Spannungen zwischen dem ungarischen Teil (dem Reich der Stefanskrone) und den anderen Gebieten (geografisch unterschiedlicher 35

Siehe J. Klaobouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848-1918, Wien 1968. 36 Der Plural ist aufschlussreich, da kein europäischer Staatschef im Rahmen des westlichen Konstitutionalismus jemals das „föderative“ Prinzip hätte anerkennen können. Zudem stand es in Kontrast zum Rechtsprinzip der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz (ein Thema, das in allen europäischen Staaten angesichts der allgemeinen Erweiterung des Wahlrechts noch große Bedeutung erlangen sollte). Hinzu kommt, dass Kaiser Franz Joseph sich rühmte, alle Sprachen seiner Völker zu kennen. Er liebte es, bei Gelegenheit ein paar Sätze in den verschiedenen Sprachen zu sprechen, um so sein Interesse für die nationalen Besonderheiten kundzutun. 37 Unsere Sichtweise findet Rückhalt in der Tatsache, dass sich hier das Problem der Angleichung des Wahlrechts an das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz noch verstärkte: Handelte es sich doch eigentlich immer um Gefüge, die auf einer nur sehr begrenzten Erweiterung der Ständevertretungen basierten, wie es auch auf Reichsebene der Fall war, nur hier mit noch sehr viel größerer Beständigkeit (allenfalls erweiterte man die Ständevertretung um eine allgemeine Quote, wie etwa im Fall Tirol). 38 Das Habsburger Wahlrecht basierte bis 1873 auf einem System indirekter Repräsentation: Im Reichsrat saßen die Vertreter der Landtage der einzelnen Kronländer. Man achte auf die Terminologie, die hier wichtig ist. Die Reform führte die direkte Wahl ein, die von vier „Kurien“ ausgeführt wurde: dem Großgrundbesitz, den Handels- und Gewerbekammern, den Städten, den Landgemeinden (natürlich konnten die Vertreter der ersten beiden Kurien auch in den beiden anderen wählen). 1882 wurde eine Reform verabschiedet, die sich darauf beschränkte, den sozialen Status zu senken, der nötig war, um in den letzten beiden Kurien wählen zu können. Erst 1896 konnte sich eine Reform durchsetzen, die eine fünfte Kurie mit dem allgemeinen Wahlrecht vorsah (was das Ständesystem aber nur sehr bedingt infrage stellte).

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Natur) zu lösen, hatte man im Jahr 1867 einen Ausgleich ausgehandelt: die Schaffung einer „Doppelmonarchie“, also eines Systems, das zwei getrennte Reiche vereinte, ein jedes mit eigenen Gesetzen und Parlamenten. Von da an trat das Kaiserreich geteilt auf, die Grenze wurde der Verlauf des Flusses Leitha zwischen „Cisleithanien“ und dem Gebiet der Stefanskrone39. Auch hier haben die Namen ihre Bedeutung. Der Reichsteil der Magyaren, inoffiziell auch „Transleithanien“ genannt, unterstand Budapest sowie dem magyarischen Adel, der, obschon selbst eine Minderheit, kaum gewillt war, anderen nationalen Minderheiten (Slawen, Ukrainern, Rumänen) Raum in seinem weitläufigen Territorium zuzubilligen. Man versuchte sogar ihnen mit einem Bildungsmonopol in ungarischer Sprache eine mühsame linguistische Angleichung abzuverlangen40. Zwar gab es einen Diskurs über den Schutz nationaler Minderheiten, aber in diesem Teil des Reichs keine wirklich „konkurrierenden historischen Schicksale“ beziehungsweise – um eine Unterscheidung der damaligen Zeit zu benutzen – „geschichtliche Völker“ und „geschichtslose Völker“41, da die Magyaren als Einzige eine autonome, weit zurückreichende Nationalgeschichte aufwiesen. Die Situation von Cisleithanien war eine völlig andere. Hier existierten wenigstens zwei historisch relevante Gebilde: die angestammten Territorien der Habsburgerkrone und die der Wenzelskrone, dem antiken böhmischen Königreich (dessen germanische oder aber slawische Natur ein Streitpunkt war). Und es gab ein weiteres Volk, dessen „Geschicht39 Um es noch einmal festzuhalten: Es war der Ausgleich, der das Kürzel „k.k.“ vor allen offiziellen Bezeichnungen einführte (daher das berühmte Kakanien Robert Musils). Es bedeutete „kaiserlich-königlich“, was im Italienischen mit „imperial-regio” wiedergegeben wurde: Der Monarch war in der Tat „König“ von Ungarn (die Stefanskrone, für die es ein eigenes Krönungszeremoniell gab) und „Kaiser“ als Oberhaupt einer ganzen Reihe weiterer Territorien, wie Königreiche, Herzogtümer, Grafschaften usw. Da die Bezeichnung aber „missverstanden“ werden konnte, denn in Cisleithanien gab es sowohl „Königreiche“ (darunter Böhmen, das allerdings gar nicht als solches anerkannt war) als auch anders betitelte Territorien, bestanden die Ungarn zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf, dass das Kürzel vor Einrichtungen, die das gesamte Imperium repräsentierten, „k.u.k.“ („kaiserliche und königliche“) zu lauten hatte, während sich „k.k.“ nur auf Cisleithanien beziehen durfte. 40 Ein zudem ausgesprochen unsinniger Anspruch, wenn man bedenkt, wie schwierig diese Sprache ist, die der finnisch-ungarischen Sprachfamilie angehört. Wie auch andere weist H. Haselsteiner, Die Nationalitätenfrage in der ÖsterreichischUngarischen Doppelmonarchie und der föderalistische Lösungsansatz, in: H. Rumpler (Hrsg.), Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914, München 1991, S. 21-30, darauf hin, dass sich Ungarn im Gegensatz zu Österreich nicht als dynastische Vereinigung von auf dem Ständesystem basierenden Staaten herausgebildet hatte, weshalb die „nationale Frage“ in „Transleithanien“ ganz andere Voraussetzungen hatte. 41 R.A. Kann, Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848-1918, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 3: Die Völker des Reichs, Wien 1980, S. 1304-1338.

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lichkeit“ nicht anzuzweifeln war, auch angesichts seiner jüngsten Geschichte, und das waren die Italiener. Dazu gesellte sich ein weiteres „historisches“ Volk, nämlich die Polen aus Galizien. Komplizierter gestaltete sich die Einordnung der „Südslawen“ (Slowenen und Kroaten), die als „geschichtslose Völker“ galten, sich aber immer stärker mit dem Nationalgefühl des benachbarten Serbien und seinem Mythos als christliches (orthodoxes) Bollwerk gegen die türkische Bedrohung identifizierten. Die Verfassungsstruktur von Cisleithanien gründete auf dem Grundgesetz vom Dezember 1867, das gleichzeitig die Grundrechte für die Staatsbürger wie auch für die „Volksstämme“ festlegte. Artikel 19 garantierte die Gleichberechtigung der Sprachen je nach ihrer Verwurzelung im Landesgebiet („landesüblich“ sagte man dazu). Das betraf die Bereiche Bildung/Schulwesen, Verwaltung und öffentliches Leben. Man ging sogar so weit zu sagen, die „Volksstämme“ hätten „ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege ihrer Nationalität und Sprache“42. Das in diesen Kontext eingebundene Trentino sah sich denn auch sogleich mit seinen Widersprüchen konfrontiert. Einerseits wurde an den Schulen und in der Verwaltung Italienisch gesprochen; und dank seines vormodernen Systems genoss es eine lokale Verwaltungsautonomie (wie ja bereits erwähnt, vor allem infolge des Gemeindegesetzes von 1849), auch wenn die Auswahl des Führungspersonals streng nach Standeskriterien erfolgte (Honoratioren); anfänglich konnte es eine gewisse Integration seiner Oberschichten in die Elite des Kaiserreichs verzeichnen, doch wie zu sehen sein wird, sollte sich das mit der „Eindeutschung“ der bürokratischen Führungselite wieder reduzieren43. 42

Dieser Artikel, der von Eduard Sturm, dem Rechtsgelehrten aus Brünn (Brno), ausgearbeitet worden war, übernahm zum Teil schon vorhandene Formulierungen aus dem Verfassungsentwurf der Revolution von 1848, der sogenannten „Verfassung von Kremsier“, der Stadt in Mähren, in der damals die verfassungsgebende Versammlung einberufen worden war. In der Praxis gestaltete sich die Befolgung des Artikels 19 allerdings ziemlich aufwendig und unterschiedlich in den verschiedenen Reichsgebieten; vgl. G. Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848-1918, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 3: Die Völker des Reichs, S. 975-1206. 43 Dies sind zwei Extrembeispiele unter den vielen, die sich anführen ließen, um die nicht einfache Dynamik der nationalen Zugehörigkeiten zu veranschaulichen. Scipione Salvotti sollte 1873 in einem Heft, in dem er den Föderalismus der Wahlrechtsreform verteidigte, den „Nationalismus der Österreich-Deutschen gegen die Freiheit der anderen“ anklagen (zitiert aus U. Corsini, Deputati delle terre italiane ai parlamenti viennesi, in: Archivio Veneto, 53 [1972], S. 205). Er war der Sohn von Antonio Salvotti, dem großen Verfolger der geheimbündlerischen Carbonari im Jahr 1821 und Säule der habsburgischen Strafrechtsverfolgung. An den Verhandlungen zum Waffenstillstand mit Italien am 29. Oktober 1918 nahm der Trentiner Hauptmann Camillo Ruggera (aus Predazzo) innerhalb der österreichischen Delegation als Übersetzer teil. Nach dem

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Andererseits hatte die Angliederung des Trentino an Tirol unmittelbar zu Problemen geführt: Denn in Tirol waren die Italiener eine Minderheit und die deutschösterreichische Mehrheit empfand sich immer stärker als Herz der habsburgischen Identität. Ihre Identifikation mit dem Deutschtum sollte zunehmend für Spannungen sorgen. Noch wurden diese in Schach gehalten, zumindest was einen großen Teil der Bevölkerung außerhalb der bürgerlichen, nicht sehr umfangreichen Elite betraf, und zwar durch die sogenannte „Glaubenseinheit“: die Wahrung des „katholischen“ Charakters der Region. Das hätte den Bischof von Trient (dessen Diözese mittlerweile ein Suffraganbistum von Salzburg geworden war, mit weiten Gebietsteilen, die von Deutschen bewohnt waren, einschließlich der Stadt Bozen) und seinen Klerus auf die Seite Österreichs bringen müssen. In Wirklichkeit war die Angelegenheit deutlich komplexer, und das nicht nur, weil es im Trentino schon immer einen „patriotischen“ Klerus gegeben hatte (außer der legendären Figur des Abtes Baron Giovanni a Prato oder der Haltung von Rosmini gab es weitere Geistliche, die traditionell in diese Richtung tendierten), sondern auch, weil die allgemeine historische Entwicklung im Lauf der Siebzigerjahre eine ganz andere Richtung vorgeben sollte44. Denn zwischen 1868 und 1878 wurde die „nationale“ Frage erneut zum Thema, diesmal zwischen den Trentinern, die nach mehr Autonomie strebten, und einem Teil der Tiroler Politiker, der zu Kompromissen bereit zu sein schien. Schon 1868 hatte sich in Trient eine Abteilung der Landesregierung niedergelassen, eine Statthalterei-Sektion. Aber nur wenige Jahre später, 1871, unterzeichnete a Prato mit allen Trentiner Abgeordneten eine Petition an den Kaiser mit der Forderung nach Autonomie des italienischen Teils von Tirol45. Damals war Karl Sigmund von Hohenwart Ministerpräsident, der ab 1860 der österreichischen Statthalterei-Abteilung Trient vorgestanden hatte. Seine liberale Regierung stand Verhandlungen recht offen gegenüber, auch um sich

Krieg blieb er in Österreich und beendete seine Karriere als General der Luftabwehr im Heer des Dritten Reichs (diese Informationen habe ich dem Roman von B. Zorzi, Traditori, Trient 2006, entnommen). 44 Eine genaue Untersuchung dieser Entwicklung findet sich in: L. Cole, ‚Salda come le rocce dei nostri monti‘: immagini di identità nazionale nel Tirolo del XIX secolo, in: Protagonisti, 73 (September 1999), S. 77-91. 45 Schon während seiner Teilnahme an der verfassungsgebenden Versammlung in Frankfurt hatte sich a Prato am 3. Juni 1848 für eine Loslösung des Trentino vom Deutschen Bund ausgesprochen. Bei dieser Gelegenheit waren die separatistischen Positionen des Trentino durch den Südtiroler Benediktinerpater Beda Weber aufs Allerschärfste kritisiert worden. Er war der Autor von „Das Land Tirol (1827-30)“, wo er den italienischen Teil in seinen ländlichen Gebieten als tendenziell deutsch dargestellt hatte (während er das italienische Bürgertum der Stadt sehr negativ beurteilte); vgl. M. Nequirito, Territorio e identità, S. 58.

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Verbündete unter den liberalen Kräften zu sichern, die damals im Trentino die Oberhand hatten. Denn erhebliche Probleme waren besonders im klerikalkonservativen Tirol dadurch verursacht worden, dass 1870 das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl aufgehoben worden war – das bei seiner Einführung 1855 den Bischöfen und dem Klerus weitreichende Privilegien zugestanden hatte. Hinzu kamen Probleme durch die Herausbildung einer Art Parität zwischen den religiösen Konfessionen. Doch die Regierung Hohenwart fiel schon im Oktober 1871 und so kam man vorerst nicht weiter. Das Thema wurde 1874 erneut angegangen, nachdem es im Jahr zuvor zur Wahlrechtsreform gekommen war, und zwar mit der Forderung nach einem eigenen, von Innsbruck unabhängigen Provinzlandtag für das Trentino: Mit dieser Forderung wurde die „nationale Frage“ erneut explizit angesprochen, und das in einer Situation, in der die nationalen Zugehörigkeiten auch auf Parlamentsebene eine immer gewichtigere Rolle spielten46. Es dauerte nicht lange, bis die Sache eine neue Wendung nehmen sollte: „die Frage der Unabhängigkeit unserer Provinz ist eng verknüpft mit unserem wirtschaftlichen Wiederaufleben (risorgimento economico)“47. Damit war das Motto für eine neue Phase der Trentiner Politik in den Achtzigerjahren ausgegeben In der Zwischenzeit hatte sich das in Gang gesetzt, was man anhand der historischen Wesensmerkmale der Region als „Kulturkampf“ bezeichnen könnte. Unter dem Eindruck der Erfolge der deutschen Kultur, die bei der Entstehung des neuen Bismarckreichs ausschlaggebend gewesen war, entwickelte sich eine Debatte über den „germanischen“ beziehungsweise „romanischen“ Charakter der Gebiete jenseits der Sprachgrenze, die etwa bei Salurn verlief. Hier sollte man sich die besondere geografische Lage des Trentino vergegenwärtigen, der nicht immer genügend Beachtung geschenkt wird. In den Studien, die sich mit der nationalen Frage im Habsburgerreich befassen, wird richtigerweise der Unterschied hervorgehoben, den es zwischen den sprachlich homogenen Gebieten (zum Beispiel Oberösterreich) und jenen gab, in denen verschiedene Volksgruppen zusammenlebten, darunter der klassische Fall Böhmen, ein slawisches Territorium mit starker deutscher Präsenz. Bei den „italienischen“ Gebieten unterscheidet man meist zwischen dem Trentino als ethnisch homogen und dem sogenannten „Küstenland“, also der meerzugewandten Seite Dalmatiens, und vor allem Triest, in dessen Stadtgebiet ein Bevölkerungsgemisch italienischer, deutscher und slawischer Abstammung lebte. 46 Vgl. La nostra questione nazionale, in: Il Trentino, 6. März 1875. Im Jahr 1879 übernahm Eduard Graf Taaffe die Regierung, mit einer Mehrheit, die dem Bündnis zwischen den verschiedenen national-konservativen Gruppierungen zu verdanken war, denen die Berücksichtigung ihrer besonderen Positionen versprochen worden war. 47 Vgl. Che cosa ci occorre?, in: Il Trentino, 15. Mai 1877 (eigene Hervorhebung, P.P.).

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Auch wenn diese Beschreibung grundsätzlich zutrifft, ist sie im Detail weniger eindeutig, und wie man weiß, zählen in der Geschichte die Details ganz besonders. Im Jahr 1869 setzte sich die Bevölkerung Tirols zu 58% aus Deutschen, zu 41% aus Italienern, zu 1% aus Ladinern zusammen. Gerade dieses 1% Ladiner schuf Probleme, denn es stellte sich die Frage, ob die Ladiner, die vor allem im Fassa- und im Fleimstal siedelten, nun mit Trient verknüpfte „Italiener“ waren oder von der antiken germanischen Bevölkerung abstammten, und damit auf Bozen auszurichten waren. Andererseits konnte von Spracheinheit ohnehin nicht die Rede sein, nicht nur aufgrund der offenkundigen Grenzlandlage, was sich an Beispielen wie dem oberen Nonstal zeigte, wo sich in wenigen Kilometern Entfernung italienische sowie deutsche Dörfer befanden, vielmehr gab es außerdem die sogenannten „deutschen Sprachinseln“48. Von den beiden wichtigsten Bevölkerungsgruppen deutscher Abstammung waren die einen die Fersentaler (mocheni), die auf der linken Seite des oberen Fersentals ansässig waren. Sie hatten sich ihre deutsche Sprache bewahrt und sich sprachlich nicht in ihr Umfeld integriert. Der zweite Fall betraf das Dorf Lusern auf der Hochebene von Lavarone. Hier war die Angelegenheit komplexer, denn man stieß sowohl auf italienische Familiennamen als auch auf Bewohner, die sich zum größten Teil als deutschstämmig definierten und die sich durch den Kampf, der sich Ende der Sechzigerjahre abzuzeichnen begann, in ihrer kulturellen Identität bestärkt fühlen sollten. Im Jahr 1867 kam in Innsbruck das Buch von Christian Schneller „Märchen und Sagen aus Wälschtirol“ heraus. Nicht nur die Persönlichkeit des Autors machte das Werk interessant. Schneller war Gymnasialprofessor, der auch in Rovereto gearbeitet und dort eine „Italienerin“ geheiratet hatte. Er hegte eine große Passion für anthropologische Studien und für alles, was mit Folklore und Brauchtum zu tun hatte. Seine Untersuchung war aber auch deshalb interessant, weil sie aufzeigen wollte, dass sich in einer Brückenregion wie dieser sehr wohl Elemente italienischer wie germanischer Tradition vermischt hatten49. Seit 1856 unterrichtete er Deutsch, Physik und Naturkunde am Gymnasium von Rovereto, wo er Maria Canestrini heiratete, um dann 1868 ans Gymnasium von Innsbruck zu gehen, exakt zur Zeit der hitzigen Debatte um das neue Schulgesetz (der Versuch der Liberalen, der Kirche die Schulaufsicht 48 Die berühmte, 1974 erschienene anthropologische Untersuchung des Amerikaners John W. Cole, erforscht zwei nicht weit voneinander entfernt liegende Dörfer im Nonstal, von denen das eine, Tret, „italienisch“ wird und das andere, Sankt Felix, „deutsch“: Eine ganze Reihe historischer Faktoren führen dazu, dass sich die beiden geografisch eng beieinander liegenden Dorfgemeinschaften „trennen“; siehe J.W. Cole / E.R. Wolf, La frontiera nascosta. Ecologia e etnicità fra Trentino e Sudtirolo, San Michele all’Adige, 1993. 49 Zu Christian Schneller lese man die aufschlussreichen Seiten von M. Nequirito, Dar nome a un volgo.

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zu entziehen, hatte im konservativen Tirol aufgebrachte Reaktionen hervorgerufen). Es ist bezeichnend, dass Schneller gerade in der Landeshauptstadt im Jahr 1867 an der Gründung des Komitees zur Unterstützung der deutschsprachigen Schulen im italienischen Tirol beteiligt war, das unter der Leitung eines weiteren Tiroler Brauchtumsforschers, des eindeutig deutsch orientierten Ignaz von Zingerle50, entstanden war. Hiermit zeichnete sich eine Wende ab: Denn auch wenn das Ziel dieser Vereinigung die Wahrung der deutschen Kultur in den italienischen Gebieten war, und nicht – wie es bei späteren Organisationen dieser Art der Fall sein sollte – die „Eindeutschung“ der italienischen Bevölkerung, war die Grenze zwischen diesen beiden Haltungen doch durchlässig. Das Streben danach, die ethnische Einheit der Region aufzubrechen, war zu offensichtlich, als dass es keine Reaktionen darauf gegeben hätte. Der „Kulturkampf“, bei dem es darum ging, ob man von „Trentino“ oder „italienischem Tirol“ sprechen sollte, war von einer Vielschichtigkeit und einer Lebendigkeit (auf beiden Seiten nicht frei von Übertreibungen und fantasievollen Auslegungen der Geschichte), auf die hier nicht näher eingegangen werden kann51. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, welche enormen kulturellen Energien dieser „Kulturkampf“ im Trentino mobilisierte und wie intensiv er von weiten Teilen der Bevölkerung miterlebt wurde, auch dank des regional verzweigten Netzes von Vereinigungen. Ab den Achtzigerjahren nahm der Kampf immer „militantere“ Züge an, sowohl auf deutsch-tirolischer Seite als auch auf Trentiner. So seltsam es klingen mag, genau dieser Kampf, der zuvor viel weniger präsent und eigentlich nur in bestimmten Intellektuellenkreisen ein Thema gewesen war, vertiefte den Graben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen. Es gab eine Reihe Elemente, die diese Entwicklung begünstigten und die hier näher betrachtet werden sollen52. Durch den heftigen Kulturkampf des Jahrzehnts 1869-1879 um die staatliche Gesetzgebung waren der Klerus und die Katholiken daran gewöhnt, sich aktiv zu engagieren. Diese Mobilisierung sollte das gesamte soziale und öffentliche Leben in Bewegung bringen, was angesichts der dominanten Rolle der katholischen Kirche nur folgerichtig war. Parallel dazu nahm die Alphabetisierung zu, die Presse entwickelte sich und der Zugang zu Bildung – auch über die Volksschule hinaus –, was wiederum die Entwicklung einer „intellektuellen“ Schicht begünstigte, die sich ihrerseits zur öffentlichen Meinungsbildung aufgerufen fühlte: Das begann beim einfachen Klerus und den Volksschullehrern und setzte sich fort mit den freien 50 In der Einführung seines „Lusernischen Wörterbuchs“ von 1867 hatte sich Zingerle über die sogenannte Latinität „des heiligen Trentino“ ironisch ausgelassen. 51 Doch das schon zitierte Werk von Nequirito liefert eine weitreichende und erschöpfende Analyse, die noch dazu gut zu lesen ist. 52 Sehr gut dargelegt in: L. Cole, The Counter-Reformation’s Last Stand.

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Berufen und den ersten Führungsschichten des entstehenden Vereinswesens (auf wirtschaftlicher Ebene waren das die Genossenschaften und Landkassen, auf der Kultur- und Freizeitebene die Sport- oder Musikvereine usw.). Man muss nicht gleich einen traumatischen Epochenbruch verbuchen, sollte aber durchaus die historische Wende der Achtzigerjahre registrieren. Vor diesem Hintergrund kam es zum nächsten Kapitel im „Krieg der Dichter“. Um den deutschen Charakter der Region mit Nachdruck hervorzuheben, weihte man 1889 in Bozen unter großen Feierlichkeiten ein Denkmal zu Ehren von Walther von der Vogelweide (1180-1230) ein, der nicht nur ein Minnesänger sondern auch ein treuer Anhänger von Kaiser Friedrich II. und dessen Reichsidee (ein Aspekt, der natürlich ungeachtet aller geschichtswissenschaftlichen Skrupel besonders betont wurde) gewesen war. Schon im März des darauffolgenden Jahres reagierte Trient mit einer Kampagne, die sich für die Errichtung eines Dante-Denkmals einsetzte, auch hier mit stark nationalistischer Ausrichtung und der Mobilisierung der Studentenvereinigungen. Am 28. April 1892 wählte man im Rahmen eines Wettbewerbs den Entwurf des Florentiner Bildhauers Cesare Zocchi aus. Und tatsächlich wurde das Denkmal am 11. Oktober 1896, mit einer von sintflutartigen Regengüssen beeinträchtigten Feier eingeweiht. Bei dieser Gelegenheit wies der Präsident des Förderkomittees Guglielmo Ranzi (Nachfolger des Vorsitzenden der Liberalen Carlo Dordi, der im Oktober 1892 gestorben war) in seiner Festrede ausdrücklich darauf hin, dass „das Denkmal eine feierliche Bestätigung der italienischen Wesensart [italianità]“ sei und fügte dem hinzu: „Gott hat uns als Italiener auf italienischem Boden geschaffen, und diese Tatsache gibt uns Rechte, die von Menschenhand nicht hinweggefegt werden können. An erster Stelle das Recht, den Nationalcharakter zu wahren und zu pflegen und mit ihm die Sprache, die das positive Recht als besonders edel und wichtig von den anderen Elementen der Nationalität unterscheidet“53.

Dieses Ereignis lockte schließlich auch die offizielle katholische Welt, die sich anfänglich eher zurückhaltend gezeigt hatte, aus der Reserve. Die Zeitschrift „La Voce Cattolica“, die die Initiative zwar als „gelungene Idee“ bezeichnet hatte, hatte ihr allerdings in der Vorbereitungsphase weiter keine große Aufmerksamkeit geschenkt: Möglicherweise spielten dabei auch gewisse Vorbehalte Ranzi gegenüber eine Rolle, der den Freimaurern und anti-kleri53 L’inaugurazione del monumento a Dante, in: L’Alto Adige, 12.-13. Oktober 1896. Man beachte, dass all diese Veranstaltungen öffentlich stattfanden, also von den habsburgischen Behörden genehmigt worden waren, die sich in extremen Fällen nicht scheuten, repressiv durchzugreifen, normale Kundgebungen aber durchaus zuließen. Dies ist ein wichtiger Aspekt, um zu verdeutlichen, dass die Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung umfassend waren und nichts den Anschein eines „Besatzungsregimes“ hatte, wie eine gewisse nationalistische Geschichtsschreibung in zum Glück weit zurückliegender Zeit glauben machen wollte.

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kalen Kreisen nahe stand, wie aus seiner Korrespondenz mit Pasquale Villari hervorgeht. Ranzi hatte Villari darin gebeten, diese Aspekte nicht an die große Glocke zu hängen, um den Kontakt zum Klerus nicht zu verlieren, der im nationalen Kampf entscheidend war54. Tatsächlich widmete die katholische Zeitung der Berichterstattung über die Einweihungsfeier eine ganze Seite, wobei sie die Ambivalenz des Symbols offenlegte: „Das grandiose Monument, das dem Dichter der Göttlichen Komödie in unserer Stadt gewidmet wurde, wird das Palladium nicht nur unserer Nationalität, sondern auch unseres Glaubens sein“55. Ohne Zweifel fielen die ersten Lebensjahre von De Gasperi in eine intensive Übergangszeit für das Trentino. In der nicht gerade bevölkerungsreichen Provinz (im Jahr 1890 etwa 350.000 Einwohner), die – bis auf einige besser gestellte Gebiete – schon seit Langem unter chronischem Pauperismus litt, verbunden mit konstanter Lebensmittelknappheit und einer Emigration, die sich für den hier behandelten Zeitraum auf 25.000 Betroffene belief (wahrscheinlich eher mehr aufgrund einer erheblichen, amtlich nicht erfassten Zahl an Auswanderern)56, hatte seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts eine gegenläufige Entwicklung eingesetzt. So wie es in der Provinzhauptstadt bereits während der Amtszeit des umsichtigen liberalen Bürgermeisters Paolo Oss Mazzurana (1884-1895) zu einem wirtschaftlichen Erwachen (risorgimento economico) gekommen war, hatte auch im Rest der Provinz eine Entwicklung eingesetzt, die sich in einem demografischen Wachstum von 59% im Lauf des Jahrhunderts von 1815 bis 1910 niederschlug. Dies war ein deutliches Anzeichen dafür, dass zumindest die chronische Unter- beziehungsweise Mangelernährung drastisch zurückgegangen war57. Doch was das Gesamtbild grundlegend verändern sollte, war unserer Meinung nach vor allem eine tiefgreifende Reform der Klassenstruktur im Trentino. Dem Forschungsbeitrag von Casimira Grandi zufolge, der hier 54 Dieser Vorfall ist beschrieben bei M. Garbari, De Gasperi e il liberalismo, in: A. Canavero / A. Moioli (Hrsg.), De Gasperi e il Trentino tra la fine dell’Ottocento e il primo dopoguerra, Trient 1985, S. 471. 55 La Voce Cattolica, 13. Oktober 1896. 56 Vgl. C. Grandi, Gente del Trentino. Un secolo di storia, in: M. Garbari / A. Leonardi (Hrsg.), Storia del Trentino, Bd. 5: L’età contemporanea 1803-1918, Bologna 2003, S. 839-872. 57 Um diese Entwicklung einzuordnen, siehe M. Garbari, Aspetti politico-istituzionali di una regione di frontiera, in: Storia del Trentino, Bd. 5, S. 13-164; A. Leonardi, Dal declino della manifattura tradizionale al lento e contrastato affermarsi dell’industria. Un settore in lenta ma radicale evoluzione: il terziario, ebd., S. 597-663, S. 665-743; außerdem G. Gregorini, L’agricoltura trentina tra mercato, pressione demografica e regole agronomiche, ebd., S. 531-596 (mit sämtlichen Verweisen auf die weiterführende Fachliteratur).

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zurate gezogen wird, existierte eine genau definierte soziale Pyramide, die sich aus einer sehr breiten Basis mit ländlich-bäuerlicher Bevölkerung, einer schmalen Mittelschicht („Bevölkerung mit Zivilstatus“, wie sie in den zeitgenössischen Statistiken bezeichnet wurde) und einer eng zulaufenden Spitze aus gehobenem Bürgertum und hohem Adel (gerade einmal 10% der Stadtbewohner) zusammensetzte. Diese Welt sollte sich durch das Habsburger System – mit seinen Investitionen zum Ausbau des Schul- und Bildungswesens und der Modernisierung der Landwirtschaft – erheblich verändern. Letztendlich ist die Karriere des jungen De Gasperi als politischer Führer mit eben diesen Entwicklungen verknüpft. So hatten einerseits die Einrichtung der Trentiner Abteilung des Landeskulturrats im Jahr 1881 mit seinem weitverzweigten Netz aus lokalen Agrarkonsortien und andererseits eine Reihe von Investitionen in die Verbreitung neuer Agrartechniken sowie in die Baumordnung (nach den verheerenden Überschwemmungen der Achtzigerjahre)58 nicht nur zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt, sondern auch zu einer Belebung „peripherer“ Landstriche. Das als „Peripherie“ zu bezeichnen, was eigentlich le valli, die Täler, waren, scheint irreführend: Denn „Peripherie“ steht für ein auf ein Zentrum bezogenes Umfeld, das von diesem abhängig ist, wobei das Zentrum selbst einen starken Einfluss auszuüben imstande ist. In unserem Fall liegen die Dinge ein wenig anders. Die „Bergwelt“ verstärkt das Entstehen von auf sich selbst bezogenen Mikrosystemen, von Gemeinschaften mit eigenem Profil und eigenen Beziehungsstrukturen, mit autonom entwickelten Auswahlkriterien für ihre Leitfiguren, die von außen nicht leicht zu durchschauen sind. Über diese Mikrokosmen, von denen man – bis auf einige Fälle – relativ wenig weiß, lässt sich zumindest eines mit Sicherheit sagen, nämlich dass sie um die Religion kreisten. Schon vor Jahren hat man zur Erklärung dieses Phänomens das von dem Soziologen Gabriel Le Bras entworfene Bild vom Dorf, das sich um den Kirchturm entwickelt, als repräsentativ herangezogen. Dieser zweifellos eingängige Idealtypus eignet sich sehr gut, um die zentrale Rolle der Religion als Regulativ der „Zeiten der Gemeinschaft“ beziehungsweise zur Schaffung ihrer „Kultur“ (im anthropologischen Sinne) zu veranschaulichen. Dennoch reicht dieses Idealbild nicht aus, um die herausragende Führungsrolle des Klerus im sozialen Wandlungsprozess der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu erklären.

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Vgl. A. Leonardi, Il „Landeskulturrat“ e le conoscenze agrarie nelle aree tedesca e italiana del Tirolo tra Ottocento e Novecento, in: S. Zaninelli (Hrsg.), Le conoscenze agrarie e la loro diffusione in Italia nell’Ottocento, Turin 1990, S. 85-160, sowie Depressione e risorgimento economico del Trentino, 1866-1914 (Società di studi trentini di scienze storiche), Trient 1980.

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Dies ist vielmehr zwei einander bedingenden Faktoren zu verdanken: zum einen der breiten Basis, aus der sich der katholische Klerus rekrutierte, dessen Seminare die einzigen „klassenlosen“ Einrichtungen waren, die es auch Mitgliedern der unteren Schichten ermöglichten, Zugang zu einer höheren Bildung zu finden; zum anderen dem Steigen des allgemeinen Bildungsniveaus, das die Bevölkerung veranlasste, nach Führungs- und Entscheidungsmomenten zu suchen, in denen das neu erworbene Wissen zur Anwendung kommen konnte, ohne dass man dafür die traditionelle Leitkultur radikal infrage stellen musste. Man denke etwa an die Verbreitung von Agrartechniken – ein wirklich bemerkenswertes Phänomen –, die dank der Früchte, die die Pflichtschule getragen hatte, auf alphabetisierte Interessentenkreise traf, die regelmäßig die Fachveröffentlichungen bezogen und damit am direkten Umlauf all der Fortschritte der „Moderne“ teilhaben konnten. In diesem Zusammenhang darf der positive Aspekt der Emigration nicht unterschlagen werden, dass nämlich die Trentiner auf diese Weise Kontakt zu europäischen und manchmal sogar außereuropäischen Welten bekamen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es gab Handwerker und Wanderarbeiter, die durch das ganze Kaiserreich zogen und weiter durch andere europäische Länder (wie die Scherenschleifer, die moleta aus dem Val Rendena), Leute, die bis nach Großbritannien kamen. Vor allem aber waren es die Wanderhändler, die Drucke verkauften (mit heiligen und profanen Motiven, die im Raum Vicenza hergestellt wurden), die aus ihrer Heimat, dem Tesino, sogar bis Russland, Mexiko und Lateinamerika gelangten. Man muss sich gewiss nicht gleich einschneidende kulturelle Verschmelzungen vorstellen, aber diese Menschen, die so weit herumgekommen waren, brachten auf jeden Fall neue Erkenntnisse und Erfahrungen mit in die Heimat. So befand sich der Klerus an verschiedenen Fronten in einer Schlüsselposition. Vor allem erlangte er die Führung im wirtschaftlichen Wandlungsprozess, sei es aufgrund seiner leitenden Positionen in den Agrarkonsortien, sei es aufgrund der wirksamen Förderung eines Genossenschaftssystems (mit den Landsparkassen kam auch der Kreditsektor hinzu)59: Schlussendlich reichte sein Einfluss bis in den Bereich der politischen Repräsentation. So hatten die „Klerikalen“ schon bei den Wahlen im Mai/Juni 1885 zwei Sitze erhalten (gegen die fünf der Liberalen), die an Don Emanuele Bazzanella und an Don Luigi Gentilini gingen. Dabei handelte es sich noch nicht um eine Repräsentation, mit parteipolitischen Zügen, vielmehr hatte sich im September desselben Jahres im Wiener Parlament ein „Trentino-Klub“ formiert, der sich als Brücke zwischen den 59 Zu diesem Verweis siehe die auf reichem Quellenmaterial basierende Studie von A. Leonardi, Per una storia della cooperazione trentina, Bd. 1: La Federazione dei consorzi cooperativi dalle origini alla Grande Guerra (1895-1914), Mailand 1982.

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„Klerikalen“ und den nationalen Tendenzen verstand und zu dem alle sieben Abgeordneten gehörten60. Und dennoch kam es in der Region schon zu Abspaltungen wie der eines radikalen Flügels nach dem Modell des italienischen Katholizismus, dessen Stimme „La Voce Cattolica“ war. Die alle drei Wochen erscheinende Zeitschrift war als national-katholisches Organ 1868 zum ersten Mal herausgekommen, doch 1884 waren die Vertreter der ursprünglichen nationalen Ausrichtung, Don Brusamolin und Don Bazzanella, ausgeschlossen worden: Innerhalb des Katholizismus wehte nach der Wende des 1. Vatikanischen Konzils ein anderer Wind, die anti-liberale Radikalisierung gab nun den Ton an. Schon 1877 hatte sich die Zeitschrift von der Autonomie-Idee distanziert, war sie doch allzu sehr das Thema der liberalen Partei. Die wiederum sollte fast zehn Jahre später, am 7. April 1886, die Tageszeitung „L’Alto Adige“ als ihre verlässliche Stimme ins Leben rufen. „La Voce Cattolica“ hatte sich mittlerweile vom „nationalen“ Kampf verabschiedet, auch aufgrund der legitimistischen Tendenzen des neuen Bischofs Carlo Eugenio Valussi, eines Friulaners, der 188661 auf den Bischofsstuhl von San Virgilio berufen worden war. Daher hatten die Vertreter des nationalen Flügels des Klerus im Oktober 1888 versucht, ein aufgeschlosseneres Organ ins Leben zu rufen, „Il Popolo Trentino“, mit dem sie allerdings keinen großen Erfolg hatten, sodass es nach wenigen Jahren, nämlich im März 1891, wieder eingestellt werden musste. Im Tiroler Landtag hielt der Kampf um die Unabhängigkeit an62. Diesmal ging es um ein Vorhaben des Liberalen Carlo Dordi, der – immer im Rahmen der Debatte um das risorgimento economico –, die Idee von zwei getrennten Landtagen für Innsbruck und Trient vorbrachte. Nachdem dieser Vorschlag am 23. Oktober 1889 präsentiert worden war, wurde er am 16. November

60 L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, S. 938 – „Klub“ war die Bezeichnung für die politischen Gruppen im Wiener Parlament (das entsprach der „Fraktion“ im deutschen Parlament, während man im englischen Parlament von „Party“ sprach, oder zuvor von „faction“. Im französischen Parlament, wie auch im italienischen, wo für lange Zeit die Vorstellung herrschte, die Abgeordneten würden die Nation und nicht partielle Interessen vertreten, kannte man keine entsprechenden Bezeichnungen). 61 Die Ernennung Valussis war vom Heiligen Stuhl und dem Habsburger System wohlüberlegt gewesen (der Kaiser hatte das Recht auf Mitsprache bei der Ernennung des Bischofs von Trient): So war er Italiener, was die entsprechende Kulturgemeinschaft zufriedenstellte, bekannte sich aber auch öffentlich zu Österreich und dem Kaiser (zudem war er Abgeordneter in Wien gewesen und kannte damit die Kreise und Regeln der Politik). Vgl. S. Benvenuti, I principi vescovi di Trento fra Roma e Vienna, 18611918, Bologna 1988, S. 195-200. 62 Eine ausführliche Untersuchung dieser Geschichte findet sich bei S. Benvenuti, L’autonomia trentina al Landtag di Innsbruck e al Reichsrat di Vienna. Proposte e progetti 1848-1914 (Società di studi trentini di scienze storiche), Trient 1978, worauf ich für alle weiteren Einzelheiten verweise.

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debattiert; das Autonomie-Vorhaben, obschon in deutlich modifizierter Form (man sprach ganz allgemein von „besonderen Institutionen und autonomen Verwaltungsorganen“ für das Trentino), wurde mit den Stimmen der Tiroler Liberalen und sämtlicher italienischen Abgeordneten gewählt. Was man an dem Vorhaben ablehnte, war die Einrichtung von zwei Landtagen, was eine Veränderung der Verfassung nach sich gezogen und damit der Anerkennung durch den Reichsrat bedurft hätte (womit kaum zu rechnen war). Um diese präjudiziellen Hürden zu überwinden, schlug Rechtsanwalt Brugnara, ein weiterer Liberaler aus dem Trentino, vor, sich damit zu begnügen, den Tiroler Landtag in zwei nationale Kurien aufzuteilen. Am 16. September 1890 wurde diese neue Version dem Landtagsausschuss vorgelegt, der sie einer Kommission zuschickte, die sie ablehnte und mit dem Vorschlag einer eher bescheidenen Autonomie in Sachen Finanzverwaltung zurücksandte. Am 22. Januar 1891 verlangten die Trentiner Abgeordneten eine Dringlichkeitsdebatte über das Vorhaben und erhielten (einstimmig) die Erlaubnis dafür, doch daraus wurde nichts, da der Landtag auf kaiserlichen Befehl geschlossen worden war. Die Liberalen wurden für ihren Einsatz für die nationale Frage nicht belohnt: Bei den Wahlen für die neue Legislaturperiode am 9. April 1891 gewannen die „Klerikalen“ einen Sitz dazu, den die Liberalen verloren: In Wien saßen nun außer Don Bazzanella auch Don Bartolomeo Marini und Don Giovanni Salvadori. Aus vielerlei Gründen war das ein Jahr der Wende, denn die Wahlen bestätigten die Krise des „Systems Taaffe“, des ersten Habsburger Ministerpräsidenten, der mit dem sogenannten „Eisernen Ring“ regiert hatte, einer anti-liberalen Koalition aus Konservativen und Honoratioren aus verschiedenen Kronländern. Nun schien das Parlament mehr und mehr von Gruppierungen beherrscht, die zunehmend nationalistisch ausgerichtet waren (und das fernab der traditionellen nationalen Eliten). Und ganz besonders stark wuchs ein spezifisch deutsch-österreichischer Nationalismus. Diese Entwicklungen bereiteten der Trentiner Gruppe der „Klerikalen“ erhebliche Schwierigkeiten. Probleme hatte sie auch zunehmend mit dem Bischof von Trient, Monsignore Valussi, nicht zufällig zu seiner Zeit julianischer Abgeordneter im Wiener Parlament, wo er im konservativen Hohenwartklub gesessen hatte. Don Salvadori hatte dem Bischof schon im Mai 1890 geschrieben und darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, das Prinzip auf die eigene Nationalität anzuerkennen, auch wenn man weiterhin den Liberalismus und den Irredentismus bekämpfte; Ende Januar des folgenden Jahres richteten auch Don Bazzanella und Don Brusamolin einen Brief an Bischof Valussi, wobei sie erneut die Wichtigkeit des „nationalen Flügels“ betonten, damit aber nicht auf offene Ohren stießen: Der Prälat war, wenn auch ohne radikale Tendenzen, ein Habsburger Legitimist und wenig empfänglich für die Idee eines Trentiner Sonderwegs.

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Tatsache ist, dass sich die Region von diesem Moment an in eine intensive Dynamik auch innerhalb der katholischen Bewegung verwickelt sah. Einerseits spürte sie die italienischen Ereignisse: Die Grenze war weitgehend durchlässig; nicht nur die italienische Presse, sondern auch die Menschen konnten sie leicht in beide Richtungen überqueren, und in der Tat war der Austausch unter den Katholiken beider Länder immer lebhaft gewesen. Im Habsburgerreich hatte es lange Zeit nicht einmal „Passierscheine“ gegeben, doch auch zum damaligen Zeitpunkt herrschte bis auf einige Ausnahmen Freizügigkeit63. Andererseits nahm die Region aber auch das wahr, was sich in Österreich abspielte und ganz besonders in Tirol, wo sich der allgemeine Zustand der Kirche – mit ihren nationalen Besonderheiten – niederschlug. Am 15. Mai 1891 veröffentlichte Papst Leo XIII. seine berühmte Enzyklika „Rerum Novarum“, die die sozial aktive Seite der Katholiken erneut ins Spiel brachte – als notwendiges Bollwerk gegen die Moderne und als Antwort auf die „sozialistische“ Herausforderung, die längst im Raum stand: das erste Beispiel einer anti-modernistischen Reaktion vonseiten des Vatikans, die sich auf die neuen zeitgemäßen Methoden einließ. Denn es vereinte die negative Sicht auf die modernen sozialen Dynamiken, die die neuen wirtschaftlichen Entwicklungen mit sich brachten, mit dem Traum von einer Rückbesinnung auf eine gesellschaftliche Harmonie, die sich auf die Religion stützte, aber zugleich die Katholiken dazu aufforderte, sozial aktiv zu werden. Es ist bekannt, dass dies den Anstoß für eine neue Phase des italienischen Katholizismus gab, gemeinsam mit dem Erwachsenwerden einer Generation, die sich an neuen Zielen orientierte statt an der Intransigenz im permanenten Konflikt mit dem liberalen Staat. Auf Habsburger Seite schien dies jener Christlichsoziale Verein unter Ludwig Psenner zu repräsentieren, der 1889 den „abtrünnigen“ Liberalen Karl Lueger aufgenommen hatte, der eine Schlüsselfigur werden sollte. Im Lauf weniger Jahre sollte der Stern der christlichsozialen Österreicher immer strahlender am politischen Firmament leuchten, trotz der Opposition vonseiten der offiziellen Kirche: Ein erstes Memorandum gegen diese Tendenz war zu Beginn des Jahres 1894 vom Prager Kardinal Schönborn nach Rom gesandt worden; am 17. Februar 1895 berichteten die Zeitungen, dass der Prager Kardinal zusammen mit dem Bischof von Brünn (Brno), Bauer, und dem Dominikaner Alberto Maria Weiss nach Rom gereist war, um eine päpstliche Verurteilung der christlichsozialen Bewegung zu erwirken64. Das 63 Vgl. E. Saurer, Una contraddizione sistemica: I confini nella monarchia asburgica fra Sette e Ottocento, in: S. Salvatici (Hrsg.), Confini. Costruzioni, attraversamenti, rappresentazioni, Soveria Mannelli 2005, S. 23-36. 64 Siehe dazu die Darstellung dieser Episoden in den Erinnerungen eines Zeugen, F. Funder, Von Gestern ins Heute. Aus dem Kaiserreich in die Republik, Wien 1952, S. 128-130, S. 144-145.

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Ergebnis dieser Mission, die von konservativen und liberalen Kreisen unterstützt worden war, war mehr als bescheiden: Als Fürsprecher der Christlichsozialen hatten sich beim Nuntius in Wien Monsignore Agliardi, Toniolo und Medolago Albani stark gemacht; die Bewegung hatte im Februar 1894 sogar ihre eigene Tageszeitung, „Die Reichspost“, gegründet; in den Monaten April und Mai desselben Jahres hatten in Wien Kommunalwahlen stattgefunden und zum ersten Mal hatten die Christlichsozialen und eine kleine Gruppe von Alldeutschen zusammen mehr Sitze erhalten als die Liberalen, die seit jeher die politische Bühne der Stadt beherrschten65. Am 26. November 1895 spaltete sich eine Gruppe Abgeordneter unter der Führung von Baron Josef Di Pauli vom konservativen Hohenwartklub ab, um die Katholische Volkspartei zu gründen66. Prompt antwortete die Zeitung „La Voce Cattolica“ darauf mit einem Artikel, in dem der Wunsch geäußert wurde, die Trentiner Katholiken möchten sich daran ein Beispiel nehmen. Kurz zuvor war Karl Lueger in Wien zum Bürgermeister gewählt worden, doch der Kaiser hatte seine Amtsbestätigung aufgrund von Luegers Antisemitismus abgelehnt67. Es gab zahlreiche Anzeichen für einen Wandel, sie lagen in der Luft, die bald auch der Gymnasiast De Gasperi atmen sollte. Im Dezember 1895 wurde der junge Enrico Conci zum Abgeordneten in den Landtag von Innsbruck gewählt: Seine Wahl wurde umgehend annulliert, denn der Kandidat war noch keine dreißig Jahre alt, das vom Gesetz vorgeschriebene Mindestalter, aber immerhin hatte sich hier ein erster laizistischer Politiker vorgestellt, der die neue katholische Bewegung vertrat. Conci ist eine sehr interessante Figur, die noch nicht ausreichend erforscht ist68. Er war 1866 in Mollaro im Nonstal als Spross einer wohlhabenden Familie 65 Zu dieser Phase siehe die klassische Abhandlung von J.W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago IL 1981. 66 L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 949; R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck 1984, S. 202-203. 67 Auf diese Thematik kommen wir noch zurück, sie betrifft auch den jungen De Gasperi. Hier sei nur erwähnt, dass das Thema in jenen Jahren stark aufgeladen worden war: Im Jahr 1894 hatte Hermann Bahr „Der Antisemitismus“ veröffentlicht; 1896 kam, ebenfalls in Wien, „Der Judenstaat“ von Theodor Herzl heraus. 68 Obwohl er eine umfangreiche Sammlung an Unterlagen und Dokumenten hinterlassen hat, einschließlich einer interessanten Autobiografie: Memoria autobiografica. Auch gibt es eine Magisterarbeit über ihn von M. Ghezzer, Un notabile trentino fra Asburgo e Nuova Italia: Enrico Conci 1897-1918, die von mir an der Facoltà di Scienze Politiche der Universität Bologna 1992/93 betreut wurde; auf ihr fußt der Beitrag des Autors: L’attività politica di Enrico Conci dal 1891 al 1918 nelle carte dell’archivio Enrico e Elsa Conci, in: Archivio trentino di storia contemporanea, 1 (1995), S. 51-75.

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(der Vater war Notar) zur Welt gekommen. Kaum hatte er sein Jurastudium am 18. Juni 1890 an der Universität von Innsbruck abgeschlossen, entschied sich der junge Mann für die Politik, nachdem der Vater mit seiner Kandidatur bei den Wahlen am Sieg des Liberalen Ciani gescheitert war. Als bemerkenswertes politisches Talent, was ihm zu einer brillanten Karriere innerhalb des Habsburger Systems verhelfen sollte, wurde er gewissermaßen einer der „Lehrmeister“ von Alcide De Gasperi, als sich dieser in der katholischen Bewegung des Trentino hervorzutun begann69. Nachdem er im November 1896 erneut mit absoluter Mehrheit in seinem (ländlichen) Wahlkreis gewählt worden war, wurde Conci der erste laizistische Abgeordnete der „klerikalen“ Trentiner, da die anderen drei der Gruppe, Don Bazzanella, Don Salvadori und Don Guetti, zu den „Nationalkatholiken“ zählten. In Innsbruck traten die Trentiner eher als nationale Gruppe denn als Parteivertreter auf, obschon es den „Klerikalen“ zugestanden wurde, sich in Angelegenheiten, die die Kirchendisziplin betrafen, anders zu verhalten. (Angelegenheiten dieser Art gab es genug, ging es doch in Tirol um die Frage nach den Rechten der nicht katholischen Konfessionen und nach dem Raum, den die Religion im Schulsystem beanspruchen sollte70.) Der Kampf der Trentiner Klerikalen gegen die österreichisch-deutsche Mehrheit war außerordentlich entschlossen. Als Blockademittel bediente man sich zunächst der Stimmenthaltung (was immer wieder zu Ungültigkeitserklärungen beziehungsweise Zusatzabstimmungen führte) und dann ab den Wahlsiegen, von denen hier die Rede ist, der Obstruktion.

69 Die Beziehung hatte schon allein aufgrund des Altersunterschieds, der auch unterschiedliche Haltungen mit sich brachte, etwas Förmliches. Aber als Conci zu De Gasperis Gunsten als Zeuge in der Kampagne auftrat, die die Faschisten aufgrund seines „austriacantismo“ gegen ihn angezettelt hatten, schrieb er ihm am 15. November 1924 einen Brief, in dem er ihm für „seine großzügige und wertvolle Zeugenschaft“ dankte. „Ich verdiene sie nicht, oder wenigstens nicht in dem Maße, wie Sie sie mir haben angedeihen lassen. Die Ehre für die durchgestandenen Kämpfe während des Krieges und für die Zeit davor gebührt vor allem Ihnen, und ich habe keinen anderen Stolz, als Ihnen ein ungenügender, aber sehr zugewandter Schüler gewesen zu sein.“ Auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als De Gasperi schon Ministerpräsident war, fühlte er sich in einem herzlichen Brief an Conci in dessen Schuld; in einer Karte aus Sella vom 2. August (1950) heißt es: „Mein lieber Meister und hochgeschätzter Freund, wie viele Prüfungen, wie viel Leid, derer ich Zeuge war in Ihrem langen und fruchtbaren Leben!“, zitiert aus: Trient, Fondazione Museo Storico del Trentino (künftig MSTF), Nachlass Conci, Umschl. B2, Bl. 16. Zur Korrespondenz zwischen Alcide De Gasperi und Enrico Conci, die ich in meiner Arbeit aus den Originaldokumenten zitiere, vgl. V. Calì, L’Archivio Conci al Museo del Risorgimento e della lotta per la Libertà – Lettere di Alcide Degasperi a Enrico Conci, in: Archivio trentino di storia contemporanea, 1 (1990), S. 8-16. 70 Vgl. R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 233-240.

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Conci wurde damals als „klerikaler Konservativer“ bezeichnet, aber eigentlich stand er für eine neue politisch-katholische Elite, die die Täler hervorgebracht hatten und die an einer politischen Dialektik interessiert war, die weniger „ideologisch“ gefärbt war. Vielmehr ging es ihr um stärkere politische Präsenz und Gewicht in einem System, das sich in einer unruhigen Aufbruchs phase befand71. Die Krise des traditionellen Liberalismus wurde sowohl im Trentino als auch in Tirol offenkundig. Dort war 1895 die Vormachtstellung des Liberalismus ins Wanken geraten. An Aufwind gewannen dafür nun eine aggressive nationale Identität (im Jahr 1895 war in Bozen Julius Perathoner zum Bürgermeister gewählt worden, der Vertreter einer radikalnationalen Strömung, ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger Braitenberg, der den Italienern gegenüber eher offen eingestellt gewesen war) sowie die neue christlichsoziale Strömung. Letztere wurde von den sogenannten „decisi“ repräsentiert, die mit 10 Abgeordneten bei den Wahlen von 1907 das Monopol des katholischen Konservativismus untergraben sollten72. Im Trentino gab es zwei neue Namen im politisch-religiösen Leben, und sie sollten das neue katholisch-soziale Credo nach Rom bringen. Der erste war Don Celestino Endrici, der im Jahr 1866 in Don (Nonstal) auf die Welt gekommen und 1892 ins Trentino nach Trient zurückgekehrt war; der zweite war Don Guido de Gentili, 1870 in Civezzano geboren und 1896 nach Trient gelangt73. Beide hatten in Rom an der päpstlichen Universität Gregoriana und am Colle71 Aus Schriftstücken von Conci, vor allem aus den Briefen an seine Ehefrau, die er ihr regelmäßig aus Wien schickte, geht hervor, dass die liberalen und die klerikalen Abgeordneten untereinander gute persönliche Beziehungen pflegten (während die Presse von wüsten Beschimpfungen zwischen den Gruppierungen berichtete). Der italienische Klub im Wiener Parlament setzte sich 1897 aus 8 Trentinern und 11 Abgeordneten aus anderen Regionen zusammen; davon 5 „Konservative“ und 14 „Liberale“. Von seiner Mitgliederzahl her stand er an achter Stelle unter den 20 Klubs, die im Parlament vertreten waren. Sein Präsident war Baron Malfatti (Rovereto), Vizepräsident der Anwalt D’Angeli (Triest), der Sekretär war Anwalt Bertoli (aus Istrien). Der Klub gestand den Mitgliedern, die Priester waren, in den Angelegenheiten, die die Religion betrafen, Stimmfreiheit zu. Das wollte D’Angeli, der Anführer der Triestiner, Conci nicht zugestehen, der zwar Katholik, aber kein Geistlicher war, aber auch für sich diese Freiheit beanspruchte (und sie durch die Fürsprache des Barons Malfatti auch erhielt). 72 Vgl. R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 214-215. 73 Zu Endrici, der im Jahr 1904 Bischof von Trient werden sollte, gibt es eine umfangreiche, aber noch immer nicht erschöpfende Literatur. Zu de Gentili, einer außerordentlich interessanten Figur, befinden sich die Forschungen noch in der Anfangsphase. Für einen generellen Überblick siehe S. Vareschi, Il movimento cattolico Trentino tra Ottocento e Novecento, in: Storia del Trentino, Bd. 5, S. 817-838; S. Benvenuti, I principi vescovi di Trento fra Roma e Vienna; C. Grandi, Gentili (de) Guido, in: F. Traniello / G. Campanini (Hrsg.), Dizionario storico del Movimento cattolico in Italia, Bd. 3/1, Turin 1997, S. 405-406.

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gium Germanicum et Hungaricum studiert, ein Umfeld, in dem sich das durch das Papsttum Leos XIII. wiedererweckte Interesse an theologisch-kulturellen Studien fruchtbar niedergeschlagen hatte. Ebenso fruchtbar waren die Anstöße gewesen, die aus dem deutschen Kulturraum kamen, wo das Aufeinandertreffen mit einem besonders aggressiven Protestantismus die Katholiken zu einer entschlossenen öffentlichen Neupositionierung gezwungen hatte74. In diesem Umfeld kamen auch Kontakte zu den modernistischen Strömungen zustande, die noch nicht vom Kirchenbann betroffen waren75. Auf diese Weise wurde eine ganz neue Art der Annäherung an das Problem der Auseinandersetzung der katholischen Kultur mit dem secolo vorgelebt: nicht immer nur abwehrend und rückwärtsgewandt, sondern positiv agierend und davon überzeugt, dass die Rückeroberung, die riconquista, des verlorenen Einflusses möglich sei. Das setzte voraus, dass man sich nicht mehr nur auf den simplen Kampf der Lehrmeinungen von der Kanzel herab gegen die „Fehler der Zeit“ beschränkte. Das hatte etwa Don Giuseppe Lange, eine historische Figur am Trentiner Priesterseminar der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dazu veranlasst, zu schreiben, dass „Liberalismus, Rosminianismus und Nationalismus die drei Hauptfeinde sind, die diese Diözese plagen“76. Jetzt ging es darum, den Laienstand zu organisieren, damit dieser eine soziale Einbindung aufbaue, die sich nicht auf die „Zeit der Religion“ beschränkte (womit die Riten der Entwicklungsphasen des menschlichen Lebens sowie die liturgische Praxis gemeint waren). Vielmehr sollte daraus die Führungsrolle in der neuen „öffentlichen Zeit“ erwachsen (zum Beispiel einer organisierten Form der Teilhabe mittels Repräsentativverfassung). Das stellte natürlich eine Herausforderung für das soziale Gleichgewicht und die bestehende Honoratiorenstruktur dar, die in Tirol, im Wesentlichen, in die konservative und die liberale Strömung gespalten war, wohingegen sie 74 Das Problem der Konkurrenz zwischen Protestantismus und Katholizismus im deutschen Raum ist von großer Bedeutung, kann hier aber nicht angemessen behandelt werden. Der Protestantismus, der stark mit der liberalen Bewegung verknüpft war, warf dem Katholizismus „Obskurantismus“ und Antimodernität vor. Man darf nicht vergessen, dass der „Kulturkampf“, den Bismarck politisch gegen die katholische Zentrumspartei nutzen sollte, seinen Ursprung in der Polemik hatte, die von einer der führenden Gestalten der liberalen Linken, Rudolf Virchow, vorangetrieben worden war. Das Thema war der Historikerzunft vom englischen Historiker David Blackbourn nahegebracht worden. Siehe seine Arbeiten: Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany: The Centre Party in Württemberg before 1914, New Haven CT 1980; Populists and Patricians: Essays in Modern German History, London 1987; Volksfrömmigkeit und Fortschrittsglaube im Kulturkampf, Stuttgart 1988. 75 Darauf hat seinerzeit schon L. Bedeschi aufmerksam gemacht mit: Il giovane De Gasperi e l’incontro con Romolo Murri, Mailand 1974. 76 Brief an Bischof Valussi aus dem Jahr 1889, zitiert aus S. Vareschi, Organizzazione pastorale, clero, comunità religiose, in: Storia del trentino, Bd. 5, S. 128.

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im Trentino durch die „nationale“ Frage unter dem nachwirkenden Einfluss des Risorgimento zusammengehalten wurde. Auf das neue soziale Engagement der Katholiken reagierten die Trentiner Liberalen mit heftigem Antiklerikalismus – nicht alle, aber das ist ein Thema, auf das erst später näher eingegangen wird. An dieser Stelle gilt es hervorzuheben, dass diese neue Phase des Katholizismus zeitgenössische Instrumente der Eigendarstellung erforderlich machte. Die Presse wurde ausgebant und dazu angehalten, auch jene breiten Bevölkerungsschichten anzusprechen, die für das neue Engagement die richtigen Adressaten waren: Im August 1896 kam die erste Ausgabe der von Don de Gentili geleiteten Wochenzeitschrift mit dem bezeichnenden Titel „Fede e Lavoro“77 heraus. An anderer Front begann man auf die neue Generation von Universitätsstudenten zu setzen, die nicht mehr nur aus den traditionellen städtischen Eliten oder den ländlichen Honoratiorenkreisen stammten: Sie konnten jene frischen Energien aufbringen, die für den Kampf an der kulturellen Front ebenso notwendig waren wie für die Mobilisierung auf sozialer Ebene. Die verfügbaren Daten zur Entwicklung der katholischen Studentenkreise sind fragmentarisch und basieren vornehmlich darauf, wie die mit der Zeit konsolidierten Vereinigungen78 ihre Anfänge in den Festbeiträgen anlässlich diverser Jubiläumsfeiern darzustellen pflegten (weshalb die Daten nur bedingt verlässlich sind, wie stets bei dieser Art von Rekonstruktion). Diesen Überlieferungen zufolge dürften die Ursprünge des katholischen Vereinswesens im November 1895 liegen. Damals beschlossen die Studenten Edoardo De Carli aus Trient und Emanuele Lanzerotti aus Romeno, das alljährliche Fest der Erstsemester der Società degli Studenti Trentini zu boykottieren. Diese Trentiner Studentenvereinigung war 1893 gegründet worden und hatte im August des darauffolgenden Jahres ihren ersten Kongress in Pergine abgehalten. An der Gründung waren Persönlichkeiten beteiligt gewesen, die später in sozialistischen und radikal-liberalen Kreisen eine große Rolle spielen sollten: Allen voran seien hier Antonio Piscel aus Rovereto und Ferdinando Pasini aus Trient genannt. Die wirkliche Gründung der Unione Accademica Cattolica Italiana di Vienna – auf Initiative von De Carli und Lanzerotti – fand nachweislich im Oktober 1896 statt (im selben Jahr wurde in Italien der katholische Akademikerbund FUCI, Federazione Universitaria Cattolici Italiani, gegründet). Der Wiener Verband hatte zudem wichtige externe Förderer, als da wären Don Endrici, Don de Gentili und Enrico Conci.

77

„Glaube und Arbeit“. S. Benvenuti, De Gasperi e l’ambiente studentesco, in: A. Moioli (Hrsg.), De Gasperi e il Trentino, S. 237-262. 78

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Im selben Jahr entsteht in Trient der katholische Arbeiterverein Società operaia cattolica, ebenfalls mit Unterstützung des allgegenwärtigen Endrici. Im Jahr darauf wird Don Guido de Gentili Direktor der „Voce Cattolica“, die nun als Tageszeitung erscheint79. Auf einer Konferenz im Januar 1897 erklärt Don Endrici ausführlich die neue Botschaft, die der soziale Katholizismus ins Trentino bringt. „In der Gesellschaft existiert ein großes sowohl moralisches als auch materielles Ungleichgewicht, das vor allem auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene deutlich wird, … dieser Zustand ist unnatürlich: In diesem Ungleichgewicht, in dieser Unruhe kann man nicht leben, die soziale Frage drängt sich auf: sich ihr zu entziehen, sie zu ignorieren ist absurd, vor allem aber ist es gefährlich. Zwei Parteien, wenn man sie so bezeichnen will, haben sich vorgenommen, sie zu lösen: die Katholiken und die Sozialisten …, beide erkennen, dass die tödliche Krankheit den sozialen Körper zerstört, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene; beide erkennen die Notwendigkeit einer neuen wirtschaftlichen Ausrichtung … Doch die Katholiken stimmen den Übertreibungen der Sozialisten nicht zu …, wehe, wenn man, um diese Ungleichheiten zu beseitigen, sich eines Mittels bedient, das für die totale Zerstörung der sozialen Ordnung eintritt, wehe, man wolle die positive Religion von Jesus Christus zerstören, wehe, man wolle das Recht auf Privatbesitz zerstören“.

Die Schlussfolgerung ist, dass „der Sozialismus … unter dem Vorwand, das wirtschaftliche System zu verändern …, genau das will: die Struktur der zivilen Gesellschaft verändern“, er, der „Frucht und Ausdruck des Gedankenguts und des Herzens einer Gesellschaft ist, welche die Moral vergessen und das Naturgesetz stark verletzt hat … ist selbst die Frucht des Liberalismus“80. In diesen Kontext fügt sich auch eine bedeutende politische Reform des Kaiserreichs ein: Nach Jahren der Debatte über die Notwendigkeit, das Wahlrecht auszuweiten81, gelang es der neuen Regierung, die am 30. September 79 Über die Situation der damaligen Presse im Trentino siehe G. Faustini, Il giornalismo e la diffusione dell’informazione, in: Storia del Trentino, Bd. 5, S. 413-438; über das umfangreiche Feld der kulturellen Zeitschriften und Initiativen siehe G. Faustini, Note sulla vita culturale a Trento: riviste e pubblicazioni, in: Studi Trentini, 39 (1960), S. 61-72, S. 184-202; 40 (1961), S. 50-75. 80 Der Text der Konferenz findet sich in: La Voce Cattolica, 5./6. Januar 1897. 81 Man beachte, dass Reformen in diesem Sinne mittlerweile überall im verfassungsstaatlich entwickelten Europa auf den Weg gebracht worden waren. Neben Frankreich und Deutschland, die 1870 das allgemeine Wahlrecht eingeführt hatten (in Deutschland nur auf Reichsebene, in den einzelnen Ländern sah es noch einmal anders aus), trieb Großbritannien eine ganze Reihe von Reformen voran, die in denen von 1884/85 gipfelten, und Italien hatte mit der Wahlrechtsreform von 1882 wenigstens auf dem Papier den Weg hin zu einem allgemeinen Wahlrecht eingeschlagen, sobald sich die Schulpflicht überall verbreitet haben sollte. Dagegen war das Habsburgerreich deutlich zurückgeblieben. Einmal abgesehen von Transleithanien, das ein absolut unausgeglichenes und restriktives Wahlrecht hatte, hatte sich in Cisleithanien ein System aufrechterhalten, das auf den klassischen vier Kurien basierte, wobei der Zugang zu den beiden

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1895 unter Führung des polnischen Grafen Kasimir Badeni in Kraft getreten war, am 14. Juni 1896 ein neues Wahlgesetz zu verabschieden82. Dieses sah vor, dass zusätzlich zu den vier traditionellen Wählerklassen eine – allgemeine – fünfte eingerichtet werden sollte, in der alle männlichen Bürger83 über 25 Jahre wählen durften (auch die, die schon in den vier anderen wählten). Diese fünfte Wählerklasse wählte 72 Abgeordnete (mit rund fünfeinhalb Millionen Wahlberechtigten), während 85 Abgeordnete weiterhin von den 5.000 Großgrundbesitzern der ersten Kurie gewählt wurden, 21 von ausgewählten Vertretern der Handels- und Gewerbekammern, 118 von den etwa 400.000 Wählern aus den Städten und 129 von den fast anderthalb Millionen Wählern aus den Landgemeinden84. Diese Reform reichte aus, um ein kleines Erdbeben mit einschneidenden Folgen für die politische Landschaft des Wiener Parlaments auszulösen: Es gab nun nicht weniger als 25 „Parteien“, und der Erfolg belohnte diese neuen Formierungen, wie die Jungtschechen, die Sozialdemokraten (die auf 14 Sitze kamen) und vor allem aber die Christlichsozialen85. Die Wahlbeteiligung war gering: Im Trentino hatten nur knapp über 30% der Wahlberechtigten an der Wahl teilgenommen (und in der neu eingerichteten fünften Kurie hatten von den 82.135 in den Wahllisten eingetragenen Wählern nur 26.837 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht)86. Auf mehr oder weniger ähnliche Weise war es in Tirol verlaufen87. Dennoch, in der fünften Kurie war der Erfolg der Katholiken überwältigend: Don Guetti war mit 558 Stimmen zu 34 Stimmen für den Sozialisten Avancini und 29 Stimmen für den Liberalen Capraro gewählt worden. Auch in den ländlichen Bezirken ent„allgemeinen“ Kurien weiterhin durch Ständekriterien eingeschränkt war. Erst im Jahr 1882 senkte eine Reform den Zugang auf 5 Gulden, was die Basis etwas erweitern sollte. Zum politischen System Europas siehe M.S. Piretti (Hrsg.), I sistemi elettorali in Europa tra Otto e Novecento, Rom / Bari 1997 (das allerdings keine Beiträge zum Fall Österreich enthält). 82 A.J. May, La monarchia asburgica, Bologna 1973, S. 455-456. 83 In Cisleithanien waren die Frauen in einer eigenartigen Position: Diejenigen, die über die Voraussetzungen verfügten, die ihnen erlaubten, in der Kurie des Großgrundbesitzes zu wählen, durften ihre Stimme nur mittels Prokura – indem sie einen Mann damit beauftragten – abgeben. 84 Die Daten stammen aus R.A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, S. 384. 85 Für einen Kommentar zu dieser Situation siehe A.J. May, La monarchia asburgica, S. 456. 86 Cesare Battisti sprach hinsichtlich dieses Wahlausgangs von einem „lethargischen Dämmerzustand des Landes“; zitiert aus C. Battisti, Scritti politici, Florenz 1923, S. 130. 87 Vgl. R. Monteleone, Elezioni politiche nel territorio trentino-sudtirolese sotto l’Austria, in: Il Cristallo, 11 (1969), 2, S. 35-59.

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fiel praktisch die Gesamtheit der Wählerstimmen auf die Katholiken: Gewählt wurden Don Bazzanella, Don Salvadori und Enrico Conci (letzterer mit 197 Stimmen bei 201 Wählern und vier ungültigen Wahlzetteln). Unter diesen Umständen zu regieren wurde schwierig, denn der Nationalismus fasste immer mehr Fuß, und das auch unter den Deutschösterreichern. Es ist interessant festzustellen, dass einer der scharfsinnigsten Köpfe im Trentiner Liberalismus, Vittorio De Riccabona, in seinen Aufzeichnungen von 1897/9888 diese neue Situation als „durch die nationalen Parteien verursacht“ wahrnahm, denen gegenüber „es notwendig werden wird, dass auch die Italiener Stellung beziehen und ihr nationales Programm zum Ausdruck bringen“, angesichts der Deutschen, die „ihr antikes germanisches Primat behaupten“. Die Fragen des liberalen Führers aus dem Trentino brachten es auf den Punkt: „Wie lassen sich Staatsrecht und nationales Recht miteinander vereinbaren? Gleichstellung der Völker und deutsches Primat? Lokale Sprache und Staatssprache? Die Unabhängigkeit der Völker und die Autonomie der Provinz? Föderalistische Ambitionen und zentralistische Ansprüche?“ Es handelte sich um zentrale Fragen, denen sehr bald kaum noch auszuweichen war. Den Auslöser lieferte die Entscheidung von Ministerpräsident Badeni, zwei „Sprachenverordnungen“ (vom 4. und 25. April 1897) zu erlassen. In ihnen wurde festgelegt, dass in Böhmen die deutsche und die tschechische Sprache als Amtssprachen gleichgestellt werden sollten, was in der Praxis die Beamten in öffentlichen Ämtern zur Zweisprachigkeit gezwungen hätte. Der Vorschlag entfachte den Zorn des deutschen Nationalismus und die Abgeordnetenkammer wurde praktisch unregierbar. Man argumentierte, dass diese Verordnungen eine Materie betrafen, die nur in Form von Gesetzen behandelt werden durfte, für die eine Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen wäre. Damit begann nicht nur eine verbissene Obstruktion mittels ständiger Anfragen nach Abstimmungen89, vielmehr lähmte man die Kammer auch durch endlose Reden, von denen eine einen Rekord aufstellte, nämlich die des Abgeordneten Otto Lecher vom 28. auf den 29. Oktober 1897, der ohne Unterbrechung 12 Stunden lang sprach. Am Ende sah Badeni keine andere Möglichkeit, als eine Verordnung absegnen zu lassen, die erlaubte, dass die Ordnungshüter im Sitzungssaal eingriffen – wie es auch tatsächlich geschehen sollte: Eine Maßnahme, die der italienische Klub als illegal missbilligte, über die Conci aber in einem Brief aus Wien an seine Ehefrau schrieb, sie habe ihm „eine gewisse Genugtuung“ bereitet, „denn es freut mich, sei es auch durch diese extreme

88

Der Text ist veröffentlicht worden in: U. Corsini, Deputati delle terre italiane, S. 222-226. 89 L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 956.

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Gegenmaßnahme, den teutonischen Hochmut und Geltungsdrang geschwächt zu sehen“90. Ein Ergebnis dieser Spannungen war dann allerdings der Rücktritt Badenis, den sogar der Kaiser angesichts der Unruhen auf den Straßen nahegelegt hatte. Ein ganz besonderer Beobachter, nämlich Mark Twain, der sich gerade in Wien aufhielt, erfasste intuitiv den keineswegs zu unterschätzenden Charakter dieses Vorfalls. „Die Regierung Badeni stürzte unter großem Wirbel; in Wien kam es zu einem oder zwei Volksaufständen; es gab drei oder vier Tage heftiger Unruhen in Prag, auf dass der Ausnahmezustand verhängt wurde; Juden und Deutsche wurden angegriffen und ausgeplündert und ihre Häuser wurden zerstört; in anderen böhmischen Städten gab es Aufstände – mal von den Deutschen angezettelt, mal von den Tschechen – und in allen Fällen war der Jude der Leidtragende, ganz gleich auf welcher Seite er stand. Hier ist der Dezember schon weit fortgeschritten: Der neue Präsident des Reichsrats hat es nicht geschafft, einen Frieden zwischen den sich streitenden parlamentarischen Fraktionen zusammenzuflicken und somit gibt es im Moment keinen Grund, ihn erneut einzuberufen: Die öffentliche Meinung ist überzeugt, dass die parlamentarische Regierung und die Verfassung tatsächlich Gefahr laufen, ausgelöscht zu werden und selbst das Überleben der Monarchie ist keine sichere Sache!“91

Die von Paul Gautsch, dem Nachfolger Badenis, geführte Regierung war nicht in der Lage, die Unruhen beizulegen, vielmehr wurden diese immer heftiger. Der deutschösterreichische Radikalismus unter der Führung Georg von Schönerers war sogar noch stärker geworden. Von Schönerer hatte schon 1882 von Linz aus ein Programm des alldeutschen Nationalismus in Umlauf gebracht, das die Ablehnung des römischen Katholizismus und des „Judaismus“ beinhaltete, beides Elemente, von denen man behauptete, sie würden die „deutsche“ Natur der österreichischen Kultur schwächen. Das damalige Motto „Ohne Juda, ohne Rom, bauen wir den Deutschen Dom“ wurde am 21. März 1898 durch die Gründung der Bewegung „Los von Rom“92 aufgegriffen. Die katholische Bewegung war in großer Sorge, denn diese anti-römischen Sprüche ebneten den Weg für das Eindringen des Protestantismus, und der „nationale“ Charakter der deutschen evangelischen Kirche (die, daran sei hier erinnert, eine Staatskirche war) übte nicht weniger Reiz aus als der Antisemitismus93. 90 Brief von Conci an seine Frau vom 25. November 1897; MSTF, Nachlass Conci, Umschlag 1. 91 Zitiert nach J.W. Mason, Il tramonto dell’Impero asburgico, Bologna 2000, S. 59. 92 R.A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, S. 390-392. Das „Programm von Linz“ von Schönerer ist nachzulesen bei E. Philippoff (Hrsg.), Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Ein politisches Lesebuch, Villeneuve d’Ascq 2001, S. 133-134. 93 Hitler, der 1907 in Wien gewesen war, kam hier in Kontakt mit dem Antisemitismus, wodurch Schönerer für ihn „das politische Idol“ wurde (er zitiert ihn in „Mein Kampf“, auch wenn er ihm vorwirft, ein miserabler Organisator zu sein). Vgl.

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Letzterer fand nicht nur in der Bewegung Schönerers Gefolgschaft: Auch die Christlichsozialen und allen voran ihr Parteigründer Karl Lueger, der es im April 1897 endlich geschafft hatte, Bürgermeister von Wien zu werden, hatten sich den latenten Antisemitismus der Bevölkerung zunutze gemacht94. Da dieser auch den jungen De Gasperi anstecken sollte, werden wir noch darauf zurückkommen. An dieser Stelle ist es aber zunächst wichtiger, sich dem zuzuwenden, was sich auf Trentiner und Tiroler Boden abspielte. Die katholische Bewegung, erstarkt durch die schon zitierten Wahlerfolge, vollzog einen neuerlichen Qualitätssprung. Am 12. September 1898 wurde ein Comitato Diocesano Trentino per l’Azione Cattolica unter dem Vorsitz des energischen Dekans von Pergine, Monsignore Giovanni Battista Inama, gegründet. Das Programm war bereits vorab in „La Voce Cattolica“ vom 28./29. Mai 1898 vorgestellt worden: „Es genügt nicht, im privaten Leben Katholik zu sein, vielmehr soll man, wie es die Disziplin verlangt, auch im öffentlichen Leben als Katholik auftreten“95. Wie man sieht, entwickeln sich die schon angeschnittenen Themen weiter, und zwar immer stärker sowohl in Richtung von Studenten und Universität als auch hin zu den sozialen Organisationen (allen voran den Genossenschaften). Am 16. August 1898 wurde in Cles ein Kongress zur Vorbereitung der Gründung einer katholischen Universitätsvereinigung (nicht mehr nur Studentenvereinigungen an einzelnen Universitäten) abgehalten. Zwar war die Zahl der direkt Betroffenen unter den Teilnehmern sehr bescheiden (11 Akademiker und 5 Abiturienten), doch hatten sich zahlreiche Geistliche und Vertreter katholischer Organisationen eingefunden. Don Endrici sprach über die Aufgaben der jungen Studenten und über die soziale Frage, und Don Germano Poli wies auf die Unterschiede zwischen dem katholischen und dem liberalen Programm hin96. Kurz zuvor, am 6. Juli, hatte in Trient der Kongress der Federazione dei Consorzi Cooperativi stattgefunden: Nach dem Ableben des charismatischen Gründers Don Guetti (am 19. April) ging die Leitung an die Christlichsozialen über und Don Giovanni Battista Panizza wurde zum Präsidenten gewählt97. Wenig später, am 20. Juli, begann der von Lanzerotti geführte Konfessionsflügel im Banco di San Vigilio, einem zur Unterstützung der Genossenschaften eingerichteten Kreditinstitut, seinen internen Feldzug zur Schwächung der M. Ferrari Zumbini, Le radici del male. L’antisemitismo in Germania da Bismarck a Hitler, Bologna 2001, S. 413. 94 M.P. Steinberg, Jewish Identity and Intellectuality in Fin-de-Siècle Austria: Suggestions for a Historical Discourse, in: New German Critique, 43 (1988), S. 3-33. 95 Vgl. G. Betta, Il movimento cattolico trentino fra ’800 e ’900. Organizzazione e ideologia, in: Materiali di lavoro, (1980), 9-10, S. 16-17. 96 S. Benvenuti, De Gasperi e l’ambiente studentesco, S. 238. 97 G. Betta, Il movimento cattolico, S. 31-32.

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Institutsleitung aus Liberalen und Liberalkatholiken (deren Präsident Conci war). Im Dezember kam es zum endgültigen Bruch, denn die Bank sei nicht „auf der Linie der Ideen der christlichsozialen Schule“. Zur selben Zeit entwickelte sich in Tirol ein Konflikt, der sich immer weiter verschärfen sollte, und zwar zwischen den katholischen Konservativen (die hier eine Führungsrolle innehatten) und den jungen Christlichsozialen. Parallel dazu verbreitete sich die Gesinnung, die für den Mythos der deutschen (nicht mehr nur österreichischen) Identität dieser Territorien verantwortlich zeichnete: Zu Beginn des Jahres 1898 wurde der Deutsche Volksverein für Südtirol gegründet, welcher der Deutschen Volkspartei angehörte98. Das erschwerte die Wiederaufnahme des Kampfes für die Unabhängigkeit, den die Trentiner Abgeordneten (die Liberalen im Verein mit den Katholiken) im Landtag in Innsbruck wie auch im Parlament von Wien (mit geringen Hoffnungen) vorantrieben. Dort hatten sie der neuen Regierung Thun im September – in der Hoffnung aufgrund von deren Bedarf an parlamentarischen Stimmen Gehör zu finden – eine Bittschrift vorgelegt. In diese Zeit fällt Alcide De Gasperis Eintritt ins öffentliche Leben: Wie er selbst berichtet, war er am 8. August 1899 – noch als Oberschüler – nach Pergine gefahren, um dort dem ersten Kongress der neu gegründeten Associazione Universitari Cattolici Trentini (AUCT), dem katholischen Studentenverein des Trentino, beizuwohnen. 1899 war ein ereignisreiches Jahr gewesen, das unter zahlreichen Gesichtspunkten eine Wende eingeläutet hatte, und zwar dergestalt, dass man bald davon sprach, in jenem Jahr hätte „streng genommen“ die Herrschaft von Kaiser Franz Joseph ihr Ende gefunden99. Von dieser Wende wird noch die Rede sein, doch nun soll erst einmal über den Abschnitt seiner Biografie gesprochen werden, der die Zukunft des jungen Gymnasiasten100 maßgeblich bestimmen sollte. 98

R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 201. „Von einem alten Winer Hofbeamten wird das Bonmot berichtet: ‚Genaugenommen regierte Kaiser Franz Joseph bis zum Tode von Johann Strauß‘. Und in der Tat scheint der letzte Abschnitt der habsburgischen Kultur zwischen zwei entgegengesetzten Polen zu liegen, nämlich zwischen dem wehmütigen Bewußtsein des Untergehens, das mit stummer Würde ertragen wird, und einem gedankenlosen, operettenhaften Leichtsinn“; zitiert aus C. Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Neuausg. Wien 2000, S. 201. 100 Auch in diesem Fall verwenden wir den üblichen Begriff, der nicht dem der Epoche entspricht. Im Habsburger Schulsystem kamen nach der schulpflichtigen Grundschule für den, der weiter zur Schule gehen wollte, das in acht weiterführende Klassen gegliederte Gymnasium: Die ersten drei entsprachen der Mittelschule, wie sie später im italienischen Schulsystem Standard werden sollte; das italienische humanistische Gymnasium (das „liceo classico“) erbte dieses System, damit sollte sich noch lange die Bezeichnung 4. und 5. Gymnasialklasse für die ersten beiden Lyzeumsjahre halten, während die letzten drei Jahre die 1., 2. und 3. Klasse des Lyzeums wurden. 99

Zweites Kapitel

Der Werdegang eines katholischen Intellektuellen (1881-1904) Den Lebensweg Alcide De Gasperis anhand biografischer Aussagen zu rekonstruieren ist nicht ganz einfach: Zum einen hat er sich selbst im Lauf seines Lebens nie auf autobiografische Erinnerungen eingelassen (bis auf wenige Ausnahmen, aber es handelt sich sowohl um seltene Fälle als auch um Notizen eher privater Natur oder zu Fakten, die allgemein bekannt waren; so gut wie nichts an Erinnerungen zu Personen oder zum sozialen Umfeld); zum anderen war da sein nicht ganz einfacher Charakter, der aus ihm einen „einsamen Mann“ machte, nach der berühmten Beschreibung seiner Tochter Maria Romana, sodass es auch nur wenige Erinnerungen von Freunden und Bekannten an ihn und sein Umfeld gibt1. Es kommt hinzu, dass die Literatur über die erste Lebenshälfte von Alcide De Gasperi – die für sein menschliches und politisches Profil ja sehr wichtig war – Erkenntnisse wiedergibt, die teils aus mündlichen Überlieferungen aus seinem Trentiner Umfeld2 stammen und teils Rekonstruktionen sind, die a posteriori erstellt wurden. Diese dienten zum Führen einiger Schlachten (beispielhaft sei die Polemik über die „italianità“ De Gasperis genannt, wie sie 1924 von den Faschisten entfacht wurde), oder um De Gasperi zu

1 Das bezeugt zum Beispiel Monsignore Giulio Delugan, der, obschon zehn Jahre jünger, ein enger Freund De Gasperis war, in: Alcide De Gasperi. Testimonianze, Bologna 1967, S. 19-40, wobei hier die Zeit vor 1918 nur mit wenigen Zeilen erwähnt ist, die zudem kaum Aufschlussreiches enthalten. 2 Einer dieser Zeugen ist der Anwalt Giuseppe Mattei, der nach ihm Präsident der AUCT werden sollte und der auch während des Krieges mit ihm in Wien in Kontakt stand. Mattei hinterlässt einen interessanten Band Erinnerungen, der unter Pseudonym veröffentlicht wurde (ein Kunstgriff, um vorzugeben, der Autor sei nur der Herausgeber der Erinnerungen einer Person, die in Kontakt mit De Gasperi und seinem Umfeld gestanden hätte); vgl. M. Dematté, Alcide De Gasperi all’alba del XX secolo, Trient 1962. Das Buch ist in erzählerischer Form geschrieben, ohne genaue Bezugsverweise und Quellenangaben. Dabei sind die Informationen weitgehend korrekt, wie sich bei ihrer Überprüfung für dieses Buch herausgestellt hat – auch wenn es hier und dort einige Ungenauigkeiten bei Daten und Zusammenhängen gibt (offenbar hatte sich der Autor bei seiner Darstellung vorwiegend auf seine persönliche Erinnerung verlassen). Die „Farbigkeit“ seiner Erzählung hat allerdings nicht selten etwas Übertriebenes.

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idealisieren, als er sich längst als Staatsmann internationalen Formats beim Aufbaus Italiens profiliert hatte. Berücksichtigt man schließlich, dass es grundsätzlich wenig Erinnerungsliteratur zur damaligen Zeit gibt, wird man die Mühen der rein biografischen Rekonstruktion nachvollziehen können. Eine Ausnahme bilden zwei interessante Quellen, die bislang nur zum Teil ausgeschöpft worden sind: Die erste ist ein Tagebuch von Enrico Conci, der – wie bereits gesehen – eine Schlüsselfigur in der politischen Geschichte jener Jahre war; die zweite sind die biografischen Erinnerungen, die der berühmte Historiker Ernesto Sestan hinterlassen hat. In beiden Fällen handelt es sich um private Aufzeichnungen, die die Autoren für ihre Kinder verfasst hatten. Das Tagebuch von Enrico Conci liegt bis heute nicht in einer kritischen Ausgabe vor, vielmehr wird es in einer maschinengeschriebenen Abschrift im Nachlass Enrico und Elsa Conci in der Fondazione Museo Storico del Trentino in Trient aufbewahrt; das zweite Dokument ist veröffentlicht worden3 und betrifft Sestans Trentiner Zeit zwischen 1898 (Geburtsjahr des berühmten Historikers) und 1918 (ab da spielt sich sein Leben zwischen Florenz und Rom ab). Sestan war der Sohn eines Beamten aus Istrien, der seinen Dienst in der Hauptstadt des Trentino tat, und seine Beschreibungen bieten einen ziemlich interessanten und nüchternen Einblick in jene Welt4. Mithilfe dieser und anderer Quellen5 wollen wir versuchen, ein möglichst vollständiges Bild der menschlichen und politischen Geschicke Alcide De Gasperis zu zeichnen, angefangen mit den Jahren seiner schulischen und akademischen Bildung.

E. Sestan, Memorie di un uomo senza qualità, Florenz 1997. Wobei es sich natürlich um eine Sichtweise handelt, die nicht nur sehr viel später festgehalten wurde (Anfang der Sechzigerjahre), sondern die auch die kulturelle Haltung des Autors widerspiegelt. 5 Maria Romana De Gasperi verfügt über das umfangreiche Privatarchiv ihres Vaters. Dieses Material, das für das Archiv des European University Institute in Florenz bestimmt ist (das einen Gesamtindex herausgegeben und ihn ins Netz gestellt hat: www.eui.eu/ECArchives/pdf/ADG.pdf), ist mir und anderen Forschern durch die außerordentliche Großzügigkeit von Signora Maria Romana zugänglich gemacht worden. Sie selbst hat dieses Material schon zu einem großen Teil für ihre Biografie über den Staatsmann De Gasperi noch im Jahrzehnt nach seinem Tod ausgewertet (siehe M.R. De Gasperi, De Gasperi, uomo solo), auch ist es für andere Werke verwendet worden, zuletzt für den gelungenen Katalog zur Ausstellung, die dem Staatsmann zum fünfzigsten Todestag gewidmet worden ist (M.R. De Gasperi / P.L. Ballini, Alcide De Gasperi. Un europeo venuto dal futuro, Soveria Mannelli 2004). Auch wenn diese Materialien zweifellos in vielerlei Hinsicht Klarheit verschaffen, reichen sie dennoch nicht, um die gesamte Geschichte in erschöpfender Weise abzudecken. 3 4

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Es mag seltsam klingen, Alcide De Gasperi als einen „politischen Intellektuellen“ zu bezeichnen: Ist sein Bild doch verknüpft mit dem eines pragmatischen und (politisch) aktiven Mannes. Auch hat ihm die Auseinandersetzung mit Giuseppe Dossetti, seinem jungen Gegenspieler in der Democrazia Cristiana (DC), in der letzten Phase seines Lebens den Stempel einer „realpolitischen“ Persönlichkeit aufgedrückt – im Gegensatz zum Idealismus, aber auch zur visionären Fähigkeit des Vordenkers der „jungen Generation“. Wir wissen, dass der alte Staatsmann unter dieser Darstellung gelitten hat. So erinnerte er seine Mitarbeiter hin und wieder daran, dass auch er studiert und das leidenschaftliche Engagement jener Phase gekannt habe, die man in der Nachkriegszeit „terzo tempo sociale“ oder „dritte soziale Zeit“ nennen sollte. Möglicherweise wurde das damals als Laune eines berühmten Mannes interpretiert, der nicht akzeptieren wollte, die zweite Geige zu spielen. Dabei war dieser Anspruch durchaus berechtigt, schließlich hatte er seine Karriere als politisch-katholischer Intellektueller in einer Epoche begonnen, in der man davon überzeugt war, dass es genau solcher Personen bedurfte. Über die Kindheit Alcide De Gasperis weiß man so gut wie nichts. Er pflegte kaum über Persönliches zu sprechen und erzählte nur sehr selten von seiner Herkunft. Eine dieser raren Ausnahmen war, als er in einer Rede in Trient 1947 auf die bäuerlichen Wurzeln seiner Familie zu sprechen kam: „Ich bin bäuerlicher Abstammung und mein Großvater bearbeitete den kargen Boden – mehr Fels als Erde – in Sardagna, und ich weiß, was die Arbeit und Mühen eines Bauern sind“6. Der Vater, der im Gegensatz dazu als Gendarm tätig und damit Beamter war, war von Pieve Tesino, wo Alcide zur Welt gekommen war, für kurze Zeit nach Grigno, ein anderes Dorf im Valsugana, versetzt worden, um schließlich in Civezzano, einer nicht weit von Trient entfernten Gemeinde, ansässig zu werden. Hier besuchte Alcide die Volksschule: Das habsburgische Schulsystem war eines der besten Europas und die Qualität des Trentiner Lehrkörpers in der Regel gut7. Aus der Schulzeit sind verschiedene Anekdoten bekannt, von denen allerdings keine historisch überprüfbar ist. Die Tochter erzählt etwa: „Auf den Straßen des alten Trient erklingen die Schritte dieses Jungen, wie er mit einem Fußball spielt, auch wenn die Mutter ihn ermahnt hat, es nicht zu tun, da es teuer sei, die Schuhe neu besohlen zu lassen“8. Es gibt weitere Episoden 6 Rede in Trient vom 20. Juli 1947. Siehe T. Bozza (Hrsg.), A. De Gasperi, Discorsi politici, Rom 1956, Bd. 1, S. 131-143. 7 Siehe L. de Finis, Scuola e cultura a Trento fra fine ’800 e inizio del ’900, in: A. Ara / U. Corsini (Hrsg.), Ernesto Sestan, Trient: Società di studi trentini di scienze storiche, 1992, S. 27-53; ders., Il sistema scolastico, in: Storia del Trentino, Bd. 5, S. 371-411. 8 M.R. De Gasperi (Hrsg.), De Gasperi scrive, Brescia 1974, S. 11-12.

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von kindlichem Übermut (die Geschichte, nach der er das Gewehr seines Vaters heimlich entwendete, um das Schießen auszuprobieren, als er noch in Civezzano lebte) oder von sportlichen Aktivitäten, vor allem Bergsteigen und Radfahren, die aber erst für die Jahre im Anschluss an die Universität mit Gewissheit verbürgt sind. Kleine Episoden, die für den hier behandelten Gegenstand nicht von Bedeutung sind. Die wirklich wichtige Entscheidung betraf natürlich die Frage, welches Studium mit dem Ziel eines akademischen Abschlusses gewählt werden sollte. Die Familie De Gasperi war gewiss nicht wohlhabend, auch wenn der „Armutsnachweis“, der in den folgenden Jahren immer wieder vorgelegt werden musste, nicht automatisch auf armselige Verhältnisse schließen lässt: Er bezog sich einfach nur auf das Fehlen von Landbesitz, also Einkünfte, die das bestimmt nicht üppige Gehalt des Vaters – auch wenn er in Civezzano zum „Postenkommandanten“ im Rang eines Wachtmeisters aufgestiegen war – hätten ergänzen können. In diesem Zusammenhang kam zum ersten Mal die gute Organisation der katholischen Kirche ins Spiel. In Trient verfügte sie über ein Principesco Collegio Convitto Arcivescovile, eine private Bildungseinrichtung, die aber staatlich kontrolliert wurde: sicherlich mit dem Ziel, die jungen Leute ans Priestertum heranzuführen, aber nicht ausschließlich. Die Studienbedingungen waren durchaus ordentlich, gerade auch was die Qualität des Unterrichts betraf (fast alle Beobachter bestätigten dem Trentiner Klerus ein hohes Bildungsniveau), und man genoss Kost und Logis gratis oder halb gratis9. Alcide besuchte das erzbischöfliche Kollegium von der ersten (Schuljahr 1892/93) bis zur fünften Gymnasialklasse, also bis 1897. In seinem letzten Schuljahr betrat eine Persönlichkeit die Bühne, die auf das Leben des jungen Alcide und auf das seines Bruders Mario, der zwei Jahre später ebenfalls am Kollegium aufgenommen wude und bis zu seiner Priesterweihe dort bleiben sollte, großen Einfluss nehmen sollte. 9 Die Verpflegung war nicht gerade „fürstlich“, ja, man nannte die Schüler des Internats auch „polentoni“ [„Maisfresser“], denn der Speiseplan basierte hauptsächlich auf diesem ärmlichen Grundnahrungsmittel. Als „Maisfresser“ von der Schülerschaft des k.k. Gymnasiums, das in jenen Jahren die Trentiner Führungsklasse ausbildete, bezeichnet zu werden, war eine Art der sozialen deminutio. So liest man es in den Erinnerungen von Sestan: „Andere [Schüler] hingegen, aus allen Tälern und vor allem aus dem Fleimstal, gingen zu den ,Maisfessern‘, und zwar, wie ich schon gesagt habe, ins erzbischöfliche Gymnasium. Sie wurden von uns mit mitleidiger Herablassung bedacht: Man sah sie des Abends, Klasse für Klasse in Reih und Glied aufgestellt, unter dem strengen Blick eines Geistlichen den Frischluftspaziergang auf eher abseitigen Straßen der Stadt antreten, alle gleich gekleidet, alle in Grau, mit wadenlangen Hosen und einer runden Kappe auf dem Nacken, alle mit geschorenem Kopf“; vgl. E. Sestan, Memorie, S. 84-85.

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Don Giuseppe Segatta10 war Italienischlehrer und Priester. Er galt als ausgesprochen charismatisch und sollte für die beiden De Gasperi-Brüder zum Mentor werden. In den Briefen, die sich die beiden schreiben, beziehen sie sich immer wieder auf ihn als denjenigen, der über alle ihre Angelegenheiten auf dem Laufenden zu halten sei (und den sie liebevoll „Don Bepo“ nennen, was schon viel über ihre besondere Beziehung zu ihm aussagt). So ist es wohl auf seinen Einfluss zurückzuführen, dass sich De Gasperi zum Studium der deutschen Sprache entschließt, mit der Absicht, Lehrer zu werden. Diese Wahl lag für einen jungen begabten Mann nahe, der seine soziale Position zu verbessern suchte. Ein Jurastudium wäre weniger geeignet gewesen, denn um hier die Berufsausbildung vollständig abschließen zu können, hätte es erheblicher finanzieller Ressourcen bedurft11. Als die verschiedenen Mentoren von Alcide De Gasperi zu dieser Vorstellung über seine berufliche Zukunft gelangt waren, wird das wohl der Moment gewesen sein, in dem der junge Mann vom erzbischöflichen Kollegium genommen und am italienischen kaiserlich-königlichen Gymnasium angemeldet wurde12: Die Zulassung an die Universität verlangte einen staatlich anerkannten Abschluss (während das Kollegium eine private Einrichtung war) und noch qualifizierteren Unterricht. Es ist hingegen eine falsche Annahme, dass der Wechsel auf eine öffentliche Schule mit der Pensionierung des Vaters und der anschließenden Übersiedlung 10 Don Segatta wird häufig als der erste Deutschlehrer De Gasperis bezeichnet, doch in der Liste seiner Lehrer, die Don Giulio Delugan am 16. Oktober 1955 für den Lebensbericht der Tochter zusammengestellt hat (und Delugan versichert, dass die Informationen von Don Ido Montanari stammen), wird Segatta als Italienischlehrer geführt, während ihn ein gewisser Don Benetti in Deutsch unterrichtet haben soll. Gleichwohl gilt Folgendes zu bedenken: Der plausiblen Darstellung Sestans zufolge fehlte im Habsburger Schulsystem das, was man einen „Lehrauftrag“ nennen würde, das heißt, dass einem Lehrer ein bestimmtes Unterrichtsfach zugewiesen worden wäre. Vielmehr konnten die Lehrer praktisch in jedem Lehrfach eingesetzt werden, das am Gymnasium unterrichtet wurde. 11 Das bewahrheitete sich nicht nur im privaten Sektor (für die Anwaltschaft oder Ähnliches), wo es nachvollziehbar war, dass diese Berufe innerhalb der familiären, für Außenstehende unzugänglichen Kreise weitergereicht wurden. Vielmehr betraf das auch alle Berufe im öffentlichen Dienst, für die ein freiwilliger, unentgeltlicher Dienst als Einstieg verlangt wurde. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass das Jurastudium offensichtlich etwas an Reiz verloren hatte, wenn selbst Cesare Battisti, der historische Gegenspieler De Gasperis (1875 geboren und damit ein paar Jahre älter), dieses Studium abgelehnt hatte, obwohl er aus einer gut gestellten Familie kam, und sich stattdessen in Florenz an der Philologischen Fakultät eingeschrieben hatte, wo er sich in Geografie spezialisieren sollte. 12 In Trient gab es auch ein öffentliches deutsches Gymnasium, das aber nur von den Kindern der Reichsbeamten aus anderen Reichsgebieten, die in Trient Dienst taten, besucht wurde, sowie von einigen Schülern aus den deutschen Sprachinseln (zum Beispiel ging hier Reut-Nicolussi, der schon erwähnt wurde, zur Schule, denn sein Vater unterrichtete hier).

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nach Trient zusammenhängt. In einem Brief vom 30. Oktober 1898 an die Statthalterei in Tirol bittet Alcide, der mit „Schüler der siebten Klasse am Kaiserlich-königlichen Obergymnasium von Trient – Sektion A“ unterschreibt, um ein Studienstipendium „im Hinblick auf die Armut seiner Familie und auf den Umstand, dass sein Vater seit achtundzwanzig Jahren dem Staate als k.k. Gendarm dient“13. Nicht nur daraus ist zu entnehmen, dass sein Vater zu diesem Zeitpunkt noch im Dienst stand. Auch auf einem Dokument des Gemeindeamtes von Sardagna vom 20. September 1900 (offensichtlich hatte die Familie ihren offiziellen Wohnsitz noch immer in der Gemeinde von Alcides Großvater väterlicherseits) wird der Vater Amedeo noch als „Gendarmeriewachtmeister von Civezzano“14 geführt. Möglicherweise ging der Vater ein Jahr später in den Ruhestand, als Alcide längst an der Universität in Wien eingeschrieben war15. Das kann man aus einem interessanten Brief von Mario an den Bruder schließen, der vom großen Fest für Amedeo, den Postenkommandanten von Civezzano, anlässlich seiner Pensionierung erzählt, zu der der Vater auch eine kaiserliche Ehrenbekundung erhielt. Der undatierte Brief16 informiert den abwesenden Bruder über den Verlauf der Feierlichkeiten (Alcide hatte ein Telegramm geschickt, was vermuten lässt, dass er Verpflichtungen in Wien hatte). Der Brief ist vor allem auch deshalb interessant, weil er Aufschluss über das Umfeld der Familie De Gasperi gibt. Der Stil der Feier entspricht der klassischen tirolerisch-trentinischen Art: in einem mit Blumen festlich geschmückten Saal („er schien wie eine osellara“)17 gibt es „ein Bild seiner Majestät …, unter dem W lässt sich Edelweiß auf blauem Papier ausmachen. Zur Rechten Andreas Hofer, zur Linken das Hause Habsburg, im Hintergrund der Papst“. Das Bildprogramm ist ein Gemisch aus Legitimismus (die Portraits des Kaisers und Andreas Hofers, des symbolträchtigen Helden der Tiroler Revolte gegen die bayrischen und französischen Besatzer im Jahr 1809) und der Demonstration der katholischen Zugehörigkeit (der Papst). Wenn der erste Aspekt interessiert, um die weitere „nationale“ Entwicklung des jungen Politikers nachzuvollziehen – letztlich war ein solches Bildprogramm 13 Archiv Maria Romana De Gasperi (künftig AMRDG), Kopie eines handgeschriebenen Briefes. 14 AMRDG, Kopie eines handgeschriebenen Briefes. 15 In dem undatierten „Armutsnachweis“, der im AMRDG verwahrt ist, ist Alcide als „Student 2. Jahr Philosophie“ verzeichnet (also Ende 1901 oder Anfang 1902) und der Vater taucht zum ersten Mal als jemand auf, dem „die Rente eines Postenkommandanten der Gendarmerie zusteht“. 16 AMRDG, handgeschriebener, sechsseitiger Brief. 17 „Osellara“ heißt im Dialekt der Fanggarten, in dem man mit Leimruten Vögel fing.

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natürlich zu erwarten, handelte es sich doch um eine offizielle Feier mit einer habsburgischen Auszeichnung, zu der der Hauptmann der Gendarmerie die Festrede hielt –, ist der zweite Aspekt schon weniger selbstverständlich. Bei den Feierlichkeiten kommen alle Honoratioren18 zu Wort und alle loben sie den ausscheidenden Amedeo; „beim Obst angelangt, ließ der Dekan anstoßen, wobei er die katholische Gesinnung von Papa hochhielt, als einen Seelenhirten lobte er ihn“. Und weiter: “Don Vittorio überbringt den Gruß der katholischen Vereine; er sagt, dieses Fest sei auch ihr Fest“ (die Società Cattolica hatte „mit dem Banner“ an der Messe anlässlich der Feier teilgenommen). Das Telegramm von Alcide wurde („zum Nachtisch“) vorgelesen und enthielt offenbar auch einen eindeutigen Hinweis auf eine katholische Praxis, denn Mario kommentiert folgendermaßen: „Um ehrlich zu sein, dieses ,katholisch‘ passt, denn man macht es passend, so wie es die ,Katholischen‘ überall passend machen. Glück gehabt, dass du es richtig getroffen hast und dass die Mehrheit katholisch war, wenn nicht, hätte dein ,katholisch‘ die Wirkung einer kalten Dusche gehabt“. Auch wenn Mario De Gasperi sehr privat schreibt, lassen sich hier einige wichtige Elemente des Umfeldes ausmachen, in dem der junge Alcide seine ersten Schritte als öffentliche Person tun wird. Dieses lebendige politische Klima spürte man überall im Trentino, auch im kleinen Civezzano, wo ein Koadjutor tätig war, Don Vittorio Merler, der zu jenem jungen „sozialen“ Klerus gehörte, der gegen den Sozialismus kämpfte und der einer der Initiatoren der politischen Erziehung des jungen De Gasperi war19. Denn auch in diesem Mikrokosmos war der politische Kampf angekommen. Aus sozialistischen Zeitungen wissen wir, dass eine militante Gruppierung der Partei für den 4. Dezember 1898 einen Sonntagsausflug nach Civezzano Der Brief erwähnt einen Conci als einen der Hauptakteure bei den Feierlichkeiten: Man erfährt aber nicht, um wen genau es sich handelt. Sollte es Enrico Conci sein – eine Schlüsselfigur der katholischen Bewegung des Trentino –, wäre das interessnt, doch bestehen begründete Zweifel an dieser Interpretation: 1901 war Conci bereits Abgeordneter im Landtag von Innsbruck wie auch im Parlament von Wien, und aus der spärlichen Korrespondenz, die von ihm und De Gasperi erhalten geblieben ist, geht nichts hervor, was annehmen ließe, dass man sich schon vorher über die Familien gekannt hätte. 19 Um ehrlich zu sein, gibt es für diese Behauptung, die bei vielen Autoren auftaucht, keine Quellenbelege. Doch ist es sehr wahrscheinlich, dass er jener „Don Vittorio“ war, der das Fest anlässlich der Pensionierung des Vaters Amedeo belebt hat, wie aus dem schon zitierten Brief von Mario De Gasperi an Alcide hervorgeht. Das bestärkt auch unsere Vermutung, dass er einen gewissen Einfluss auf den jungen Mann hatte. Quellennachweise finden sich hingegen für die „christlichsozialen“ Predigten von Don Merler. 18

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organisiert hatte, wo sie von feindseligen Kundgebungen der lokalen katholischen Vereinigungen empfangen worden war. Die Sozialisten beschwerten sich anschließend über den Kommandanten der Gendarmerie, Amedeo De Gasperi, dem sie parteiliches Verhalten zu Gunsten der Katholiken vorwarfen, woraufhin dieser sie wegen übler Nachrede verklagte. Doch am 17. März 1899 waren die Sozialisten frei gesprochen worden, und er hatte den Prozess somit verloren20. Derweil schritten die Organisationsbestrebungen der Katholiken voran. Am 8. August 1899 hatte der erste Kongress der AUCT, in Pergine stattgefunden: Die Feier war besser vorbereitet worden als die zuvor in Cles, und dieses Mal waren nicht nur eine sehr viel größere Anzahl an Studenten anwesend, sondern auch Delegationen von Studenten aus „dem Reich“ (damit war Italien gemeint), und möglicherweise auch Vertreter von deutschsprachigen katholischen Studentenvereinigungen. Wie bereits erwähnt, war dies die erste politische Veranstaltung, an der teilgenommen zu haben – und zwar noch als „Schüler im siebten Gymnasialjahr“21 – sich De Gasperi erinnert. Seinen Erinnerungen schickte er voraus, er sei aufgewachsen „im Reich der ,Toleranz‘, der Nachsichtigkeit, jener ,heiligen‘ Moderation, was uns nach Meinung gewisser Ratgeber weit und unversehrt voranbringen soll, Schrittchen für Schrittchen, sachte, sachte, ohne rechts und ohne links anzuecken“. Die Beschreibung der Veranstaltung selbst leitete er mit der Feststellung ein, „der Kongress von Pergine drohte einen solchen Aufruhr zu verursachen, dass ich mir das wenigstens anschauen wollte“. Die Erzählung, die fast wie eine pädagogische Botschaft an die Leser wirkt und weniger wie eine wahrheitsgetreue Darstellung der Ereignisse, fährt fort mit der Erinnerung an „den festen Vorsatz, allein zu gehen und Beobachter zu bleiben“, wobei er das Klima als „fanatisch“ empfindet, sowohl auf Trentiner Seite (Lanzerotti: „Kategorie der unverbesserlichen Radikalen“), als auch bei den Italienern (Paolo Arcari, der seine Delegation anführt und die Grüße von Don Davide Albertario überbringt)22. Doch genau an diesem 20

F. Rasera, Degasperi e il socialismo (1901-1921), in: Materiali di lavoro, (1984),

3, S. 6. 21 I. Ricordi, Alla Vigilia del Congresso di Avio, in: La Voce Cattolica, 3. September 1904, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd.1, S. 304-305. 22 In diesem Artikel von De Gasperi findet sich keine Erwähnung deutscher Studenten, im schon zitierten Buch von Giuseppe Mattei erinnert sich dieser aber sehr wohl an sie; M. Demattè, Alcide De Gasperi all’alba del XX secolo. Es kann sein, dass es der Autor im veränderten Klima von 1904 und angesichts der sich zuspitzenden Problematik, was die Vorlesungen in italienischer Sprache an der Universität von Innsbruck betraf, für nicht angebracht hielt, ihre Anwesenheit zu erwähnen, oder aber dass sich bei Mattei – wie auch schon in anderen Fällen geschehen – unterschiedliche Episoden überlagern.

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Punkt kommt es zum Sinneswandel: Als Arcari vom katholischen „Frühling“ spricht, verspürt der junge Gymnasiast den Wunsch, mitzumachen und an dem teilzuhaben, was am nächsten Tag in „La Voce Cattolica“ so beschrieben wird: „Der Kongress in Pergine … eröffnet eine neue Zeit in der Geschichte unseres Vaterlandes, er ist der Anbruch einer neuen Epoche, er bildet den Auftakt der Hinwendung des gelehrten Laientums zu einem allumfassenden und bewussten Bekenntnis zum Katholischsein“. Als der zweite Kongress der AUCT (am 21. August 1900 in Arco) stattfand, hatte De Gasperi schon sein Abitur am I.R. Ginnasio Superiore gemacht (am 29. Juli 1900)23, doch da er nicht dabei sein konnte, schickte er einen Brief als Zeichen seiner Unterstützung. Zur Untermauerung der Beziehung zu den italienischen Kreisen war Filippo Meda als Hauptredner dabei. Aber noch wichtiger war, dass Don Endrici bei dieser Gelegenheit das Projekt „Rivista Tridentina“ vorstellte, die Zeitschrift der jungen „katholischen Intellektuellen“, die als Antwort auf die Jahreszeitschrift „Annuario della Associazione degli studenti trentini“ gedacht war, dem Organ der nicht kirchlichen Studentenschaft (Liberale, die aber immer radikaler und zunehmend sozialistisch ausgerichtet waren). Mit dieser Geschichte im Rücken schreibt sich der junge De Gasperi am 6. Oktober 1900 in der philologischen Fakultät der Universität Wien ein, der Alma Mater Rudolphina. Ein Ereignis, das nicht bedeutend genug einzuschätzen ist, denn es sollte – um es salopp zu sagen – das Sprungbrett für diesen Sohn aus einfachen, bäuerlichen Verhältnissen werden. Zunächst muss man sich fragen, weshalb der junge Student Wien wählte, eine Stadt, wo das Leben teuer und die zudem weit entfernt war (sehr viel näher und preiswerter wäre die Universitätsstadt Innsbruck gewesen, nur war hier seit 1895 wegen des um sich greifenden anti-italienischen Nationalismus die italienische Präsenz stark zurückgegangen)24. Vielleicht hatten ihm seine Mentoren (Don Segatta und möglicherweise auch schon Don Endrici) zu dieser Wahl geraten. Sie werden es für wichtig erachtet haben, dass sich dieser vielversprechende junge Mann im pulsierenden Herzen eben jener Stadt entwickelte, die – nach den Erfolgen Luegers und der Christlichsozialen – zum Zentrum der Wiedergeburt des Katholizismus geworden war25. 23 Das Abiturzeugnis mit den Noten ist im Katalog zur De Gasperi-Ausstellung enthalten; siehe M.R. De Gasperi / P.L. Ballini, Alcide De Gasperi, S. 67. 24 Siehe S. Malfèr, Studenti italiani a Vienna, Graz / Innsbruck, 1848-1918, in: Il Politico, 50 (1985), S. 493-508, eine ausführliche quantitative und analytische Studie zu diesem Thema. 25 Aus welchen Gründen es der junge De Gasperi überhaupt nicht in Erwägung gezogen hat, in Italien zu studieren, lässt sich leicht erklären. Nicht nur, dass die italienischen Studienabschlüsse nicht anerkannt waren, vielmehr war auch der Besuch

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De Gasperi kommt also mit einem Staatsstipendium von jährlich 120 Kronen (ein Nicolai-Haus-Stipendium, das ihm von der k.k. Staatshalterei in Innsbruck bewilligt worden war)26 nach Wien und bezieht ein Zimmer im Studentenheim des Asylvereins der Universität, dem Porzellaneum. Nur in den letzten beiden Semestern wird er eine private Unterkunft in der Lazarethgasse bewohnen. Das Umfeld, in dem sich die italienischen Studenten in Wien bewegten, war nicht ganz einfach: Die beiden italienischsprachigen Gruppen waren seit jeher auf unterschiedliche Universitätssitze ausgerichtet, die Studenten aus dem Trentino auf Innsbruck und die julischen Studenten (die „Adriatischen“ nannte man sie damals) auf Graz; nach Wien kamen Studenten beider Gruppierungen, und die Probleme, die sie miteinander hatten, ergaben sich daraus, dass die Trentiner aus einer eher konservativen beziehungsweise traditionellen Umgebung kamen. Wohingegen die Italiener von der Adriaküste dank des Einflusses internationaler Handelsbeziehungen weltoffener und fortschrittlicher waren. Wir werden noch sehen, dass dieser Unterschied geradezu mythologisch stilisiert werden sollte: die „Leute aus den Bergen“27 gegen die „Leute vom Meer“. Diese Gegenüberstellung hatte bereits politische Auswirkungen gehabt. Wie Enrico Conci in seinen Memoiren schreibt, hatte sich die Gruppe der italienischen Parlamentsabgeordneten gespalten, als es im Juli 1897 zur Abstimmung über die Sprachenverordnungen Badenis kam: Die „Adriatischen“ stimmten auf Seiten der Deutschen ab, ein Teil der Trentiner dagegen mit den Slawen28. der Universitäten im „Reich“ sehr kostspielig – sowohl aufgrund des Wechselkurses als auch, weil damit der Anspruch auf österreichische Unterstützung wegfiel (erst viel später – ab 1910 – richtete das Kulturinstitut Dante Alighieri im Trentino Stipendien für Trentiner Studenten an italienischen Universitäten ein). Und man sollte auch bedenken, dass das angestrebte Ziel De Gasperis, Deutschlehrer zu werden, in Italien nur schwer zu realisieren gewesen wäre. 26 Das im Archiv der Universität Wien aufbewahrte Material ist von M. Guiotto, Un giovane leader politico fra Trento e Vienna, in: E. Conze / G. Corni / P. Pombeni (Hrsg.), Alcide De Gasperi. Un percorso europeo (Annali dell’Istituto storico italogermanico in Trento. Quaderni, 65), Bologna 2005, S. 99-111, zusammengetragen und analysiert worden. 27 Hier gilt es kurz anzumerken, wie sich der Symbolgehalt der „Berge“ gewandelt hatte, nämlich vom Symbol der Rückständigkeit und der Isolation hin zu einer positiven Bedeutung (Mut, Reinheit, Fähigkeit, den Menschen zu formen): Dieser Trend kam aus der Wiederentdeckung der Berge durch den bürgerlichen Alpinismus, der gerade im Trentino viele Anhänger fand – ebenso in Tirol, allerdings in beiden Regionen aus genau gegensätzlicher nationalistischer Gesinnung. Siehe M. Wedekind, La politicizzazione della montagna: borghesia, alpinismo e nazionalismo tra Otto e Novecento, in: Archivio Trentino, 49 (2000), S. 19-64. 28 Conci war von Beginn an für die Slawen (die Tschechen). In dem Brief aus Wien an seine Frau vom 28. April 1897 schrieb er: „Es gibt hier einen Kampf zwischen den deutschen Liberalen und den Slawen, und da die Slawen mithilfe der deutschen

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Zweifellos muss De Gasperi, ein recht schwieriger Charakter, wie er selbst zugegeben hat und wie es mehrere Quellen bestätigen, ziemliche Mühe gehabt haben, sich, als einer, der „aus dem Volk“ kam, in einem Umfeld zu behaupten, das vornehmlich aus bürgerlichen Schichten mit entsprechenden Mitteln bestand, über die er in keinster Weise verfügte. Mit Sicherheit interessierte sich der junge Student eher für die aktive Beteiligung an der dynamischen „politischen“ Entwicklung der katholischen Bewegung in der Hauptstadt – an der Universität wie im öffentlichen Leben – als für sein Studium, auch wenn er dieses mit Erfolg betrieb. Die Leichtigkeit, mit der er die deutsche Sprache beherrschte (wie überhaupt seine Leidenschaft für Sprachen, die er fast sein ganzes Leben lang pflegen sollte)29 ermöglichte ihm den Zugang zu anderen Kreisen, und diese Fähigkeit machte ihn wohl auch zum gefragten Vermittler unter verschiedenen Kreisen. Tatsache ist, dass ihn dies in Konflikt mit der Vereinigung der katholischen Studenten brachte, die ihm einen regelrechten Prozess machte. Im Archiv De Gasperi hat die undatierte, maschinengeschriebene Kopie einer Selbstverteidigung überlebt, die er anlässlich dieses „Prozesses“30 verfasst hatte, „auf Papier gebracht, damit kein Wort zu viel und kein Wort zu wenig gesagt werde“. Das waren die Vorwürfe: „Spannung zwischen mir und Andreatti (mit Zwischenfällen)“; das Mitglied Pizzini hat ihm im Beisein von De Carli vorKonservativen die Mehrheit haben, setzen die deutschen Liberalen, die bisher stets kommandiert hatten und herrisch aufgetreten waren, alles daran, Unruhe zu stiften“. In einem Brief an seine Frau vom 4. Mai 1897 informierte er sie über seine Stimmabgabe für die Anordnungen von Badeni; MSTF, Nachlass Conci, Umschl. 1. 29 In der Bescheinigung vom 10. Mai 1915, die ihn vom allgemeinen Wehrdienst befreite, stand unter „Sprachkenntnisse“: „Italienisch, Deutsch, Französisch“; Mattei erzählt in seinen Erinnerungen: „Ich hatte erfahren, dass Degasperi einen Vollkurs in Französisch bei dieser Lehrerin absolviert hatte [in Wien während des Krieges]. Ich erfuhr dann, dass Degasperi, um in Übung zu bleiben, Konversation mit einem französischen, nach Wien exilierten Ingenieur machte … Im Folgenden hatte ich dann gehört, dass er Englisch lernte, aber bei wem, habe ich nie erfahren. Über seine persönlichen Angelegenheiten war Degasperi überhaupt nicht mitteilsam, er sprach nur so viel darüber, wie ihm opportun erschien“; M. Dematté, Alcide De Gasperi all’alba del XX secolo, S. 267. Auf jeden Fall ist es so, dass er während seiner Gefangenschaft, also im Jahr 1927, in seinen Briefen immer wieder von Übersetzungstraining und Verbesserungsübungen in den verschiedenen Sprachen (Französisch und Englisch) erzählt und dass er dafür um Material bittet; siehe A. De Gasperi, Lettere dalla prigione, Mailand 1964. 30 Es sind vier maschinengeschriebene Seiten, bei denen es sich ganz offenbar um die Abschrift von einem handgeschriebenen Manuskript handelt, das es im Archiv nicht mehr gibt: Die Abschrift ist auch späteren Datums, wie man der maschinengeschriebenen Unterschrift „De Gasperi“ entnehmen kann, die nicht der Schreibweise entspricht, wie er sie wenigstens bis in die Zwischenkriegszeit verwendete. Die Kursivsetzung findet sich so im Original.

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geworfen, „die quasi allgemeine Meinung sei, dass ich, was die Vereinigung und generell unsere Sache betrifft, aus Ehrgeiz arbeiten würde“; eine Mahnung des Präsidenten Gius, der ihm ekelhaftes Verhalten vorwirft und ihm sagt, dass niemand ihm nachweinen würde, wenn er ginge. De Gasperi gibt die Spannungen mit Andreatti31 zu und auch, ihn mit Hochmut behandelt zu haben, aufgrund der „maßlosen Wertschätzung, die ich von einigen meiner Qualitäten hatte, die meiner Meinung nach dem Andreatti fehlten“. Dafür möchte er sich entschuldigen: „Dieses Gefühl halte ich für beklagenswert … ich verspreche feierlich, dass ich versuchen werde, mich sowohl hier in Wien als auch im Trentino in Zukunft genau entgegengesetzt zu verhalten“. Den Vorwurf, aus Ehrgeiz agiert zu haben, weist er von sich, vielmehr erinnert er an all die Arbeit, die er im Hintergrund geleistet hat. „Mir liegt daran, klarzustellen, dass die Hauptmotivation für meine Handlungen das Wohl der Vereinigung ist und überhaupt die Zukunft unserer Partei, vor allem des jungen Teils“; sollte ihm das nicht anerkannt werden, „bliebe mir nichts anderes übrig, als den sehr schmerzhaften Schritt zu tun und aus der Vereinigung auszutreten“. De Gasperi gibt auch zu, „oft die Grenze der Vorsicht überschritten zu haben“, doch er versichert, das auch aus „einem Gemütszustand heraus … aufgrund des Kummers, den ich mit euch und mit der Partei gehabt habe“ getan zu haben. Er zeigt sich besonders gekränkt, dass Gius, der Präsident der Vereinigung, ihn als einen, „der sich für was Besseres hält“32 bezeichnet hat. Auch wenn er verspricht, sich zu bessern, schließt er: „Ich wiederhole aber, dass der Charakter der Charakter ist; ich habe einen, die anderen haben einen anderen und mit meinem Versprechen möchte ich nicht sagen: Zukünftig werde ich schweigen wie ein Ochs“. Im Übrigen geht De Gasperi halb geschlagen aus diesem Prozess hervor, denn in einer Postille „ungefähr [vom] 12. Juni“33 merkt er an, dass er wohl 31 Über Andreatti wie auch über Luigi Gius weiß man so gut wie nichts, nur dass sie im Text „La Nostra Storia“, den De Gasperi unter dem Pseudonym G. Fortis im Jahr 1907 schrieb, als zwei in der Union aktive Universitätsstudenten beschrieben werden: Andreatti ist im Januar 1901 Vizepräsident der Union von Wien und Sekretär der AUCT auf dem Kongress in Arco (August 1900); Luigi Gius nimmt im Jahr 1900 an studentischen Solidaritätskundgebungen als Vertreter der Wiener Studenten teil. 32 Hierbei handelt es sich um einen Ausdruck im Trentiner Dialekt „che credet de esser po ti“ mit der Bedeutung „für wen hältst du dich eigentlich“. Im Trentino sprachen im Alltag alle Dialekt, auch die gebildeten Schichten (so blieb das noch bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts). 33 Wie schon gesagt fehlt eine Datumsangabe. Doch eine Quellenkritik erlaubt es, sie auf das Jahr 1902 zu datieren. So findet sich hier ein umfassender Bezug auf die „Weihnachtsveranstaltung“, an die De Gasperi in „La Nostra storia“ erinnert (veröffentlicht im Sonderheft der „Rivista Tridentina“, Dopo Dieci anni. Moniti,

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Zustimmung erfahren habe, was die Meinungsverschiedenheiten mit Andreatti und Pizzini betraf, doch in der Auseinandersetzung mit dem Präsidenten Gius „musste ich nach langer Debatte nachgeben“, denn der Präsident hatte unter der Drohung, aus der Vereinigung auszutreten, „eine etwas künstliche“ Mehrheit erhalten. Das Dokument ist aus mehr als einem Grund interessant. Vor allem wird zum ersten Mal ausdrücklich das Thema des „Charakters“ angesprochen: Das begegnet einem in den Briefen De Gasperis immer wieder, bis hin zur unverblümten Feststellung in einem Schreiben an den Bruder Mario im Jahr 1904: „Mein Stolz ist auch meine Bestrafung“34. Außerdem offenbart sich hier das frühe Interesse Alcides am Thema „Partei“, was anscheinend widerstreitende Gefühle unter den Jungen auslöste. Zum Dritten wird deutlich, dass er schon im zweiten Studienjahr (1901/02) eine Schlüsselfigur in der Bewegung geworden war, auch im Hinblick auf die Beziehungen nach außen sowie nach Trient. Dass sich De Gasperi zu einer bedeutenden Figur in Studentenkreisen entwickelte, war zweifellos auch seiner Begegnung mit dem Theologieprofessor Ernst Commer zuzuschreiben. Es ist viel darüber spekuliert worden, ob der deutsche Theologe, der sich ausgerechnet im Jahr 1900 in Wien niederließ, also im selben Jahr, in dem auch De Gasperi nach Wien kam, tatsächlich diesen entscheidenden Einfluss in theologischer und spiritueller Hinsicht hatte, einen Einfluss, den wir, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen können. Viel eher ist anzunehmen, auch wenn es dafür keine eindeutigen Belege gibt, dass Commer ein guter Berater war. Er wird dazu beigetragen haben, dem jungen Mann aus dem Volk den Horizont einer sehr viel umfassenderen Welt zu eröffnen sowie die Problemstellungen der Moderne plausi, ricordi, Trient, 22. September 1907; jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 665-685). Diese Initiative hatte man in Trient um Weihnachten 1901 in Angriff genommen – es handelte sich um eine Veranstaltung der Katholiken zur Unterstützung in der Universitätsfrage, nachdem in Innsbruck die italienischen Studenten von den Deutschen immer wieder ausgeschlossen worden waren. Aus dieser Quelle wissen wir, dass „der Student Alcide Degasperi“ (der Text ist mit dem Pseudonym „Fortis“ unterzeichnet und damit nicht in erster Person geschrieben) beauftragt worden war, die Unione Cattolica im Comitato d’Azione pro Università zu vertreten. In diesem Kontext begegnete De Gasperi der Feindseligkeit der liberalen und der sozialistischen Kräfte („es genügt zu sagen, dass man das Problem Rom in Widerspruch zum Universitätsproblem stellen wollte“), doch er überwand sie. Möglicherweise war es dabei zu einigen beanstandeten Vorfällen gekommen, von denen er in seiner Verteidigungsschrift berichtet, sie hätten sich auf „offiziellen Versammlungen (Magistrat)“ zugetragen (der Magistrat war die Spitze der Studentenvereinigungen). 34 Ein Abschnitt dieses Briefes ist bei M.R. De Gasperi / P.L. Ballini, Alcide De Gasperi, S. 74, wiedergegeben. Als ich das Privatarchiv konsultierte, lag der Brief nicht vor, da er sich zu dieser Zeit im Material zur Ausstellung befand.

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nahezubringen – wenn auch durch den Filter seiner streng orthodoxen und ziemlich einseitigen Sichtweise. Dieser Prälat war eine interessante Persönlichkeit35. 1847 in Berlin in eine Patrizierfamilie aus Köln hineingeboren, war er mit hohen preußischen Staatsbeamten verwandt und viele Jahre in protestantisch orientierten Schulen erzogen worden (der Direktor seiner Mittelschule war Ferdinand Ranke, der Bruder des berühmten Historikers). Zunächst begann er, Jura zu studieren, dazu kam eine kurze Praktikumszeit mit Aussicht auf die preußische Beamtenlaufbahn, bis er sich schließlich für das Priestertum und das Studium der Theologie entschied (im Jahr 1872 erhielt er die Priesterweihe). In den Jahren 1873/74 war er zur Weiterbildung in Rom (wo er Papst Pius IX. kennenlernte), dann lehrte er eine Zeit lang Philosophie am St. Edward’s College in Liverpool (wo er auch Vorlesungen in Latein hielt). Bei dieser Gelegenheit hatte er Irland bereist. Nachdem er am 7. Mai 1880 seinen Doktortitel in Rom erhalten hatte (hier war er, im Zuge der Wiederbelebung der thomistischen Studien, von Papst Leo XIII. empfangen worden), ging er nach Münster, um Apologetik zu lehren, außerdem Soziologie und Vergleichende Religionsgeschichte. Im Sommer 1888 wurde er an die theologische Fakultät von Pressburg (Bratislava) berufen, und auch dort lehrte er neben Theologie Soziologie. Schließlich erhielt er im September 1900 einen Lehrstuhl für Dogmatik in Wien. Von jeher ein Bewunderer der habsburgischen Kultur gelang es Commer, sich in Wien mit allen Ehren zu etablieren. In seinem Nachruf wird nicht nur ausdrücklich auf seine Reise nach Rom im Jahr 1902 hingewiesen, von der gleich noch die Rede sein wird, sowie auf seine Bekanntschaft mit Romolo Murri, sondern auch auf seine Teilnahme an der Weihe Endricis zum Bischof von Trient. Mit Endrici war er in Freundschaft verbunden und Ostern 1904 nach Rom gereist, wo ihn der neue Papst Pius X. zu einer langen Audienz empfangen hatte. Und weiter heißt es: „Commer unterhielt auch enge Beziehungen zu dem Südtiroler Soziologen und damals österreichischen Abgeordneten, A. Degasperi“36. Tatsächlich begann ihre Beziehung, als De Gasperi noch Student war und eine Art Sekretär von Commer wurde, nach der Universitätszeit blieb man 35 Hierzu empfiehlt sich der genau recherchierte Nachruf: S. Szabò OP, Prälat Dr. Ernst Commer. Zum Andenken, in: Divus Thomas. Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie, 49 (1928), S. 257-291. 36 „Auch mit dem Südtiroler Soziologen, damals österreichischen Abgeordneten, A. Degasperi, trat Commer in nähere Verbindung“, ebd., S. 268. Es ist interessant, dass der Autor des Nachrufs im Jahr 1928 diese Beziehung in Erinnerung bringt, wenn auch auf nicht ganz zutreffende Weise, indem er De Gasperi als „Soziologen“ bezeichnet.

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freundschaftlich verbunden, aber mit mehr Abstand37. Es ist nicht ganz klar, wie sich die beiden kennenlernten, möglicherweise durch die katholischen Studentenvereinigungen38, vielleicht auch durch Kontakte, die Commer mit Trentiner Geistlichen unterhielt, denen er während seines Studiums in Rom am Germanicum begegnet war39. Tatsache ist, dass sich der Theologieprofessor des jungen De Gasperi angenommen hatte, auch im Hinblick auf dessen konkreten Alltag. In einem leider undatierten Brief an den Bruder Mario schreibt Alcide: „Gestern z.B. hat mir der Commer unverblümt die Frage gestellt: Und wie steht es mit den Finanzen? Ich habe versucht, ihm eine ausweichende Antwort zu geben“40. De Gasperi erwiderte Commers Sympathie mit Zuneigung und unterstützte seine Aktivitäten. So kümmerte er sich um die Übersetzung seines theologischen Hauptwerks, das 1904 erschienen war, ins Italienische. In einem Brief an den Bruder Mario, kurz mit „8.23.X“ datiert (mit einiger Sicherheit stammt er aus dem Jahr 1903)41, erzählt er von Commer, der die Fahnen seines Buches 37 Commer war bekannt für seine polemische Haltung gegenüber den als modernistisch angesehenen Theorien von Hermann Schell, was ihm vor allem die Wertschätzung der Civiltà Cattolica und der offiziellen Kreise einbrachte, während ihn die progressiven Kreise dafür scharf kritisierten; siehe dazu die Anmerkungen von L. Bedeschi, Il giovane De Gasperi, sowie von A. Zambarbieri, Appunti sulla formazione spirituale del giovane De Gasperi, in: De Gasperi e il Trentino, S. 379-418. Im Jahr 1910 gab Commer sein Lehramt an der Universität auf und im darauffolgenden Jahr wurde er mit dem Orden des Eisernen Kreuzes, 3. Klasse, ausgezeichnet. Als Pensionär wollte er in Italien leben und zu Beginn des Jahres 1915 beauftragte er De Gasperi damit, ihm ein Haus im „sogenannten Trentino“ [sic!] zu suchen. Doch am Ende entschied er sich für ein Haus in Graz, wo er am 24. April 1928 starb; S. Szabò OP, Prälat Dr. Ernst Commer, S. 269. 38 Es gab sehr wohl Kontakte zwischen den italienischen und den deutschösterreichischen Studentenvereinigungen, und die unter den katholischen Studenten waren manchmal sogar herzlich. An eine der bedeutendsten Vereinigungen, Norica, erinnert F. Funder, Das weiss-blau-goldene Band ‚Norica‘: Fünfzig Jahre Wiener katholischen deutschen Farbstudententums, Innsbruck 1933, der auf S. 72 schreibt, dass die Kontakte zu den Italienern über den „Germanisten Degasperi, einen Südtiroler“ liefen. Allerdings wird Commer in dieser Studie mit keinem Wort erwähnt. 39 Wie schon erwähnt, gab es zu Endrici tatsächlich eine Beziehung, es lag ihm auch viel daran, bei dessen bischöflicher Weihe zugegen zu sein. Im Weiteren unterhielt Commer eine bedeutsame Korrespondenz mit dem neuen Fürstbischof, die im Nachlass Endrici im Diözesanarchiv von Trient aufbewahrt ist. 40 Der Brief wird bei A. Zambarbieri, Appunti sulla formazione, S. 384, zitiert. Zum Zeitpunkt meiner Einsicht befand er sich nicht im AMRDG. Commers finanzielle Verhältnisse waren sehr gut, mit Privatvermögen, an das der Autor seines Nachrufs erinnert: „Commer hatte das Glück, in seinem langen Leben keine materiellen Sorgen zu kennen; von Gütern dieser Erde gesegnet, wusste er nicht, was Not und Entbehrung sind“; S. Szabò OP, Prälat Dr. Ernst Commer, S. 269. 41 In der Tat heißt es im Text: „Du hast den Bischof getragen!“, und weiter: „Wie redet man in euren Kreisen über den zukünftigen Bischof?“. Das ist allem

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korrigiert und umgehend eine italienische Übersetzung haben möchte „ohne auf den zweiten Teil warten zu wollen“. „Da ich aber keine Zeit habe, hat er mich beauftragt, ihm unter den Studenten einen Übersetzer zu suchen. Ich dachte an dich und habe das ihm gegenüber erwähnt“42. Noch bevor das Buch tatsächlich veröffentlicht wurde43, rezensierte Alcide die deutsche Originalfassung44. Ehrlich gesagt scheint es sehr unwahrscheinlich, dass der junge Student und noch weniger der spätere Politiker durch die theologische Sicht Commers beeinflusst worden sein soll, die letztlich eine konventionelle Sicht ohne besondere Zukunftsvisionen, und ohne besonders konservative Standpunkte war. Möglicherweise war der Einfluss Commers als „Soziologe“ sehr viel bedeutender, auch wenn das nicht konkret belegbar ist. Wir verfügen über kein entsprechendes Quellenmaterial, aber die Definition De Gasperis als „Soziologe“ im zitierten Nachruf und die Tatsache, dass auch Don Endrici während seiner Lehrtätigkeit am Seminar von Trient einen Soziologiekurs abgehalten hatte, lassen vermuten, dass De Gasperis Interessen sehr wohl in diese Richtung gingen. Während seines Studiums ist er als Redner ungemein aktiv; so hält er in Wien zahlreiche Vorträge vor italienischen Emigranten, im Vorarlberg, wo es eine starke Trentiner Emigrantengruppe gab, und natürlich im Trentino selbst. Auf diesen Konferenzen, über die in der katholischen Presse häufig berichtet wurde45, waren „soziologische“ Themen an der Tagesordnung, vor allem zur Geschichte der politischen Doktrinen, sowie Auseinandersetzungen mit dem Liberalismus und dem Sozialismus. Zu zwei Vorträgen sind ausführliche Anmerkungen vorhanden. Der erste, „L’età liberale in Austria“46, hat das liberale Zeitalter in Österreich zum Thema Anschein nach eine Anspielung auf den Tod von Bischof Valussi (am 10. Oktober 1903), unter dessen Sargträgern sich auch der junge Seminarist Mario De Gasperi befunden haben soll. 42 Hier entsteht ein Arbeitsplan: Mario übersetzt, „ich gehe alles noch mal mit dem Professor durch“ und dann „würde ich alles an Don Bepo [Segatta] schicken, der für die letzte Durchsicht im Hinblick auf Stil und die … Grammatik zuständig ist“. Interessant ist diese Anmerkung: „Ich kann aufgrund meiner eigenen Studien nur den kleinsten Teil machen. Doch meine Mitarbeit ist notwendig“, was auf ein Zugeständnis an eine Person schließen lässt, der man sich offenbar sehr verpflichtet fühlte. 43 Für die deutsche Originalfassung siehe E. Commer, Die Kirche in ihrem Wesen und Leben dargestellt, Wien 1904. 44 In Murris „Supplemento bibliografico mensile“ vom Mai 1904. Der Text ist im Anhang bei L. Bedeschi, Il giovane De Gasperi, S. 125-126, wiedergegeben. 45 Diese Texte sind alle abgedruckt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1. 46 Es handelt sich um sechs handgeschriebene Blätter, die ersten drei sind diskursiv ausformuliert, die drei weiteren sind eine schematische Auflistung; aufbewahrt im AMRDG.

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und ist in Wirklichkeit eine Reflexion über die politischen Verhältnisse von 1815 bis zu den Wahlen im Jahr 1901. Daran sieht man, dass der junge Student schon früh an politischen Themen im engeren Sinne interessiert war, was aus den anderen Quellen eher nicht hervorgeht. Für ihn ist das Jahr 1815 der Moment, in dem die österreichische „Sünde“ ihren Anfang nimmt: „Im Innern hielt man das Volk in einer Art Klima der Zerstreuung, damit es sich von den öffentlichen Angelegenheiten fernhielt, die man als absolute Domäne der Bürokratie ansah“. Doch ab 1830 nahm der Einfluss der Juden in der Literatur zu (und er zitiert Heine und das „Junge Deutschland“ im Vormärz), und dann begegnete man „jüdischen Intellektuellen im Bund mit dem Bürgertum hinter den Barrikaden der Märzrevolution von 1848“. Doch während am Ende die Idealisten, die die Mehrheit darstellten, den Kopf dafür hinhalten müssen, gehen die Juden aus der Revolution „als große Journalisten und als große Bankiers“ hervor, und können somit in Niederösterreich den Ton angeben. Als Reaktion auf diese Sachverhalte entsteht die katholische Bewegung, die anfänglich nicht viel unternehmen kann, die sich aber nach dem Kongress von Linz (1892) zu organisieren beginnt und ab 1894 „die ,Reichspost‘ herausgibt, eine katholische, christlichsoziale Zeitung“. Damit nimmt die katholische Rückeroberung ihren Anfang, der sich in der ersten Zeit auch konservative Kräfte anschließen (nach Ansicht De Gasperis damals sogar der radikalnationale Schönerer). Doch 1895 kündigen die Konservativen die Einheit aus Misstrauen gegenüber den Wienern auf. Sie gehen sogar so weit, die Verurteilung Luegers zu fordern, der stattdessen gewinnt und eine Politik der großen Reformen durchsetzt („Stadttheater/Gas/Elektrik/Straßenbahnen“, so steht es in De Gasperis Notizen)47. Die letzten, sehr knappen Aufzeichnungen lassen keine großen Interpretationen zu: Man erinnere sich, wie die Sprachenverordnung Badenis die nationale Frage eröffnete (und De Gasperi schreibt: „Nationale Frage: Deutsch sein heißt lutherisch sein!“), die das anfachte, was sich als „deutscher Irredentismus“ bezeichnen ließe, der auf der Devise „Los von Rom“ basierte und den der „geringe Mut der Regierung“ begünstigte. Dieser „deutsche Irredentismus“ macht sich bezahlt, denn bei den Wahlen von 1901 gelangen 21 Parteigänger von Schönerer ins Parlament. Allerdings geben die letzten beiden, kurzen Anmerkungen Anlass zu der Vermutung, dass das „Jubeljahr des Papstes“ und „die jungen Leute: Genossenschaften und Landkassen“ zu gegenläufigen Tendenzen führen könnten. 47 Einer der ersten Berichte über die Begeisterung, die das Vorgehen von Lueger in Wien hervorrufen sollte, ist der Artikel von A. De Gasperi, C’è fuoco sotto la cenere!, in: La Voce Cattolica, 31. Juli/1. August 1902, nun in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 206-209.

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Diese beiden letzten Beobachtungen lassen sich auf Anfang 1902 datieren. Sie bestätigen die starke Faszination, die Lueger und die Christlichsozialen auf De Gasperi ausübten – eine Faszination, die viele seiner Texte aus jener Zeit widerspiegeln. Es sind die Kraft der Organisation, deren bestechendes öffentliches Auftreten, die den jungen Mann einnehmen, es ist die Fähigkeit der Bewegung, den alten liberalen Eliten ihre Vorrangstellung streitig zu machen. Zweifellos gehört dazu auch der Antisemitismus, ein belastendes Charakteristikum des Wiener Katholizismus, den De Gasperi aufnimmt und dem er lange anhängen soll. Wie aus vielen seiner Texte hervorgeht, ist dieser Antisemitismus nicht rassistischer Natur, vielmehr ist er, wenn diese ein wenig spitzfindige Definition erlaubt sei, von geradezu „mythischer“ Natur48. Der Jude ist nicht das Mitglied einer Rasse, sondern ein Archetyp kultureller Natur; und in der Gegenüberstellung mit dieser Kultur vereinigen sich die Ablehnung der Kunst und der Kultur der Moderne (die er manchmal „talmudisch“ nennt), die Ablehnung des Kapitalismus (vor allem des Finanzkapitals) und zuletzt das angeborene Klassenmisstrauen des jungen Mannes „aus dem Volk“ gegenüber der Abgrenzung und der Verschlossenheit der herrschenden Eliten. Gestärkt wurde diese „mythische“ Natur seines Antisemitismus49 durch eine besondere Geschichte aus Trient: die schwarze Legende des (falschen) „Beato Simonino“. In Trient wurde ein Kind als Märtyrer verehrt, von dem es hieß, es sei im Jahr 1475 zu Ostern von Juden als Ritualopfer getötet worden. In Wahrheit war das Kind, wie genaue Nachforschungen ergeben haben, bei einem Unfall ums Leben gekommen, doch unschuldige Juden waren seines 48 Boyer hatte in seinem berühmten Buch „Political Radicalism in Late Imperial Vienna“ schon angemerkt, dass man sich des Antisemitismus bediente wie eines „rhetorischen Scharfmachers“ zur Inszenierung des politischen Gegners vor dem Publikum, und damit den Liberalen in nichts nachstand, die die Rhetorik des Antiklerikalismus einsetzten (in der es tatsächlich an Sammlungen „schwarzer Schauergeschichten“ über Pfarrer und die Missetaten der Kirche nicht mangelte, S. 210 passim). Derselbe Autor betont die typische „Wiener Widersprüchlichkeit“ zwischen öffentlicher und privater Interpretation von Worten und Ereignissen – auch das ein Aspekt, der sich ganz besonders auf den Antisemitismus bezieht (S. 414). Ich glaube, diese Beobachtung kann auch die Rhetorik verstehen helfen, derer sich der Trentiner Katholizismus bei diesem Thema bediente. 49 Es handelt sich um kulturell sehr gängige Darstellungen, die einen negativen Archetypus abbilden sollen, durch den man mittels Abwehrmechanismus und Wunsch nach Abgrenzung das Selbstverständnis der eigenen Gemeinschaft stärken kann: Die Sozialisten hatten dafür die „Kapitalisten“ und das „Großbürgertum“; die Protestanten die Katholiken; schließlich gab es eine reiche Literatur über die „neuen Wilden“, aus der man eine ganze Reihe Titel zitieren könnte, von „Die Geheimnisse von Paris“ von Eugène Sue bis zu gewissen „anthropologischen“ Studien Mitte des 19. Jahrhunderts über die Hirten im Inneren Sardiniens oder über die süditalienischen „cafoni“ [abwertender Ausdruck für Landarbeiter aus dem Süden, Anm. d. Übers.].

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Todes angeklagt und unter schrecklichen Qualen getötet worden. Da dieser Kult aber sehr populär war und fast eine Art Stolz des lokalen Katholizismus darstellte, sollte De Gasperi ihn stets verteidigen (sogar noch als Anfang des 20. Jahrhunderts historische Studien ernsthafte Zweifel am Wahrheitsgehalt dieses Opfertods aufkommen ließen)50. Der zweite Vortrag, auf den hier aufmerksam gemacht werden soll, entstand vermutlich im selben Zeitraum und trägt den Titel „Sguardo storico di sociologia“51. Dieser Text, eine ausführliche didaktische Darstellung der Soziallehren über den Menschen, insbesondere der Lehren ab Ende des 18. Jahrhunderts (wenn auch mit zwei Verweisen auf Platon und Aristoteles), ist auch deshalb aufschlussreich, weil er De Gasperis besonderes Interesse an diesem Fach bezeugt, das mit seinen eigentlichen Universitätsstudien nichts zu tun hatte. Auf der Grundlage der Definition dieser Wissenschaft nach Comte, „dem Begründer der modernen Soziologie“, nämlich „als der Wissenschaft, die den Menschen als Sozialwesen zum Inhalt hat“, lässt De Gasperi alle klassischen Autoren Revue passieren. Da mag es interessant sein, ein paar weniger didaktische Beobachtungen festzuhalten: etwa seine Sympathie für John Stuart Mill, „den großen Philosophen des Liberalismus“, den „Gladstone den Heiligen des Rationalismus nannte“. Wenn er über Spencer und die Evolutionstheorie und seine Teilung der sozialen Evolution in Industrialismus und Sozialismus spricht, merkt er an: „Insofern als der Sozialismus eine zukünftige Gesellschaft aus einem Heer von Arbeitern, ein jeder mit festem Gehalt und seinem festen Beruf zum Ideal hat, ist er auch dem militärischen Typus zuzuordnen

50 Zu Beginn des Jahres 1902 kam es zu einer Verschärfung des Themas Antisemitismus. In der Ausgabe der „Voce Cattolica“ vom 31. Mai/1. Juni war ein Artikel mit dem Titel „Der Zionismus in Österreich“ erschienen, und im selben Jahr hatte ein Trentiner Geistlicher zwei Bände zur „Storia del Beato Simone da Trento“ veröffentlicht; siehe dazu E. Tonezzer, Alcide Degasperi e l’antisemitismo in Trentino, in: L’invito, 23 (2000), 180, S. 18-22. Am 6. Dezember 1902 hielt De Gasperi vor Trentiner Emigranten in Wien einen Vortrag über den seeligen Simon; siehe F. Rasera, De Gasperi e il socialismo, S. 12 und 39 f. Zum weiteren Verlauf dieser Geschichte sei hier angemerkt, dass am 28. Oktober 1965, dem Tag der Veröffentlichung des Dekrets des 2. Vatikanischen Konzils über die nicht christlichen Religionen, der Kult des seeligen Simon von Trient offiziell von der Heiligen Ritenkongegration des Vatikans abgeschafft wurde, und zwar aufgrund einer historischen Untersuchung, die vom damaligen Erzbischof von Trient, Monsignore Alessandro Maria Gottardi, in Auftrag gegeben und die den Professoren Monsignore Iginio Rogger und Pater Willehad Eckert anvertraut worden war. 51 Es handelt sich um neun handgeschriebene Seiten, in ausschweifendem Stil, die sich im AMRDG befinden. Man hat allerdings den Eindruck, dass der Bericht abbricht, entweder sind weitere Seiten verloren gegangen oder De Gasperi hatte, wie es häufiger bei Vortragenden vorkommt, seinen Vortrag nicht bis zu Ende niedergeschrieben.

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(Deutschland)“. Eine alles andere als abwegige These52, wobei es interessant wäre, herauszufinden, woher sie stammt. Dieser Text enthält einen berühmten Satz, der schon in anderen Abhandlungen über De Gasperi zitiert worden ist, und zwar jenen, in dem er über Marx – von dem er nur einen kurzen Exkurs zur Evolutionstheorie referiert – sagt, dass „wir einen Koloss wie ihn in der Geschichte der Menschheit nicht wieder antreffen werden“53. Liest man sie gemeinsam, so zeigen diese beiden Vorträge zwei Seiten des Werdegangs De Gasperis, zum einen die Verbindung zu den Anfängen seiner politischen Aktivität, zum anderen die zur „Soziologie“. Im Folgenden soll ein dritter Aspekt untersucht werden, der hier auch nur angedeutet werden kann, und dem etwas Flüchtiges anhaftet, der in jenen Jahren aber sehr wohl sein Gewicht hatte, und zwar die Kulturkritik. Wie bereits kurz erwähnt, war eines der mit Nachdruck verfolgten Ziele der verschiedenen Kräfte des Katholizismus – der Hierarchien wie der treibenden Kräfte in der katholischen Bewegung (selbst Romolo Murri drängte in diese Richtung) – die Herausbildung einer katholischen Intellektuellenschicht, die in der Lage gewesen wäre, es in den kulturellen Debatten mit den weltlichen Intellektuellen aufzunehmen. So sieht das auch der junge De Gasperi, der in den wenigen Texten, die er in der „Rivista Tridentina“ veröffentlichte, kulturelle Themen behandelte54, desgleichen auch in Artikeln für „La Voce 52 Diese Auffassung teilten zum Beispiel die Webbs, und auch Halévy wurde in jenen Jahren davon beeinflusst; siehe P. Pombeni, Elie Halévy e l’Ottocento inglese. Il modello inglese e la scienza politica del Novecento, in: M. Griffo / G. Quagliariello (Hrsg.), Elie Halévy e l’era delle tirannie, Soveria Mannelli 2001, S. 219-262. 53 In gewisser Weise lässt sich dieser Satz sehr wohl einordnen. Der berühmte deutsche „Sozialbischof“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler schätzte Marx, ja, er soll sogar, „Das Kapital“ während seiner Teilnahme am 1. Vatikanischen Konzil bei sich gehabt haben. 54 Am bedeutendsten ist 1902 De Gasperis Rezension eines Buches von Albert Ehrhard (von der Universität Wien!) über die Möglichkeit der Katholiken, an der Dynamik der Kultur der Moderne teilzuhaben, ohne dadurch ihren Glauben zu verraten. Zum Beispiel fasst De Gasperi eines der vom Autor behandelten Themen wie folgt zusammen: „Die Katholiken müssen unter allen Umständen versuchen, sich von diesem Gefühl der Minderwertigkeit zu befreien: sich nämlich in den schönen Künsten und in der Literatur genauso zu behaupten wie in der Theologie, der Philosophie und der Geschichte. Die Gründung von katholischen Universitäten …, auch wenn das ideal wäre, ist nicht unsere oberste Pflicht, sondern vielmehr, uns an den schon vorhandenen Universitäten zu behaupten“; siehe A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 166-169. Es gibt weitere kurze Beiträge von De Gasperi in der „Rivista Tridentina“, alles Buchrezensionen: im Jahr 1902 noch eine kritische Anmerkung zum Darwinismus und zu Tolstoi (S. 169-170) und die Rezension eines Buches von Toniolo über die sozialen Probleme (S. 191-194); im Jahr 1906 finden sich Rezensionen zu unterschiedlichen Themen (S. 419-123); im Jahr 1909 die Rezension

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Cattolica“55. Gewiss sind die politischen Schriften im Verhältnis viel zahlreicher, doch seine Beschäftigung mit kulturellen Themen eröffnet uns einen interessanten Einblick in das, was seine Mentoren mit ihm vorhatten. In diesem Sinne besonders aufschlussreich ist eine Rezension der 14. Ausstellung der Wiener Secession, die vom 15. April bis zum 27. Juni 1902 stattfand. Die Ausstellung war ein wichtiges Ereignis: Das zentrale Thema war „Beethoven“, mit einer Statue in farbigem Marmor von Klinger, die den großen Komponisten darstellte (Symbol für das Genie, für die „titanische“ Dimension der Kunst usw.), und einer Serie von zehn vergoldeten Tafeln von Gustav Klimt (während Alfred Roller das Ausstellungsplakat gezeichnet hatte). Die Ausstellung fand in dem Gebäude statt, das der Architekt Joseph Olbrich als neuen Tempel für die moderne Kunst entworfen hatte – am 12. November 1898 eröffnet – und das seinerseits eine Provokation in Richtung der neoklassizistischen Architektur beziehungsweise des eher klassischen Jugendstils des Wiener Rings darstellte. Zur Eröffnung der Ausstellung dirigierte Gustav Mahler Beethovens Neunten Symphonie mit der berühmten Ode „An die Freude“: Die gesamte Ausstellung sollte eine einzige Ode an die Freude des Menschen sein – als kreative Energie gegen Krankheit, Dekadenz und Sündenbewusstsein. Die Rezension, die der junge Student dieser Ausstellung widmete, erschien in zwei Fassungen: eine ausführlichere auf Deutsch in der angesehenen philosophisch-theologischen Zeitschrift „Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie“56, an der Commer mitarbeitete, die andere auf Italienisch in „La Voce Cattolica“57. Die beiden Texte ähneln sich sehr, weichen aber an manchen Stellen voneinander ab: nicht nur, dass die Sprache der deutschen Fassung zäher ist als die flüssige italienische Fassung, es gibt auch Textpassagen, die nicht in beiden Versionen auftauchen. Am interessantesten ist vielleicht, dass in der italienischen Fassung auf Romolo Murri hingewiesen wird („dem wir jungen Leute gern Glauben schenken“) als einem, der die moderne Kunst missbilligt, was im deutschen Text fehlt; dort findet sich hingegen einiger Forschungsarbeiten zu Rovereto (S. 893-894). Doch wie man sieht, beschränkt sich Alcide De Gasperis Mitarbeit an der Kulturzeitschrift von Endrici, die sich gut entwickelte, auf ein Minimum: Seine Interessen und sein Schlachtfeld lagen woanders. 55 La cultura presente e la riscossa cristiana, 21./22. September 1901; Arte oggi, 24./25. Mai 1902; Betlem, 27. Dezember 1902; jetzt alle in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 152-159, S. 201-206 und S. 238-240. 56 Die Ideale einer modernen Kunstausstellung, in: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie, 17 (1903), S. 232-239. Ein Auszug dieses Artikels findet sich im AMRDG. Die Übersetzung und die deutsche Originalfassung nun auch in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1854-1861 und 1861-1866. 57 Arte oggi, 24./25. Mai 1902; jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 201-206.

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ein kritischer Abschnitt zu Sienkiewiczs „Quo Vadis?“, in dem Sienkiewicz mit Klinger verglichen wird, da er auf grundsätzliche Seinsfragen mit seiner „Olympischen Phantasie“58 geantwortet hatte, eine Anspielung, die in der italienischen Fassung59 nicht auftaucht. In diesem Fall handelt es sich also um ein aufschlussreiches Indiz dafür, was Commer seinem jungen Schüler an anti-modernistischen und anti-sozialistischen Ansichten vermittelt hatte. Heute mag man sich über diese ablehnende Haltung gegenüber einem Roman wundern, der das Rom der ersten Christen unter Nero glorifizierte. Dabei schien der polnische Schriftsteller, der es mit diesem Werk zu großem Ruhm (und wirtschaftlichem Erfolg) brachte, keineswegs anti-religiös eingestellt gewesen zu sein. Dieser Widerspruch lässt sich durch den Erfolg erklären, den das Werk von Sienkiewicz unter den Sozialisten hatte, die in ihm eine ideale Darstellung des reinen Christentums der Anfänge sahen, als einer revolutionären Religion, die den untersten Schichten nahestand, während diese Reinheit durch den zeitgenössischen Katholizismus verraten worden war (wie schon Engels in seiner Theorie angemerkt hatte). Es war diese Vorstellung eines „sozialistischen Jesus“, auf die auch Prampolini in der berühmten „Predica di Natale“ (1897) zurückgreifen sollte – eine Vorstellung, für die die geschichtswissenschaftliche Exegese der Vertreter des Modernismus manche Interpretationshilfe zu liefern schien. Im Jahr 1900 ins Italienische übersetzt, zog der Roman sogleich die Aufmerksamkeit von Pater Semeria auf sich, der noch im selben Jahr eine Untersuchung mit dem Titel „L’arte e l’apologia cristiana nel ,Quo Vadis?‘ di Sienkiewitz“ veröffentlichte. Der Roman wurde in offiziellen katholischen Kreisen nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Man sah darin nur eine romantisch-abenteuerliche Verklärung der christlichen Anfänge, der der Respekt und die notwendigen Voraussetzungen fehlten, um den Ursprung des Papsttums und seine universelle Autorität darzustellen60. De Gasperi warf der Kunst der Wiener Secession „anti-christliche Tendenzen und heidnisches Wiedererwachen“ vor: In der deutschen Fassung erklingt mit größerem Nachdruck der Vorwurf, ein Übermaß an Idealismus 58 „Quo Vadis?“ war 1896 herausgekommen und hatte sofort einen so enormen Erfolg, dass der Autor im Jahr 1906 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam. 59 Es gibt ein paar kuriose Unterschiede: Die Zahl der Besucher der Ausstellung ist anhand stets derselben Quelle, nämlich der „Neuen Freien Presse“, mit 46.500 in der italienischen und mit 50.000 in der deutschen Version angegeben. Es kann sein, dass der deutsche Artikel eine spätere Fassung ist, vielleicht auf Bitte Commers geschrieben, der die italienische Version gelesen und interessant gefunden hatte – doch das ist reine Spekulation. 60 Siehe dazu A. Cavaglion, Coenobium 1906-1919. Un’antologia, Comano 1992, S. 12-15. Ich danke meinen Freund Roberto Pertici, der mich auf diese Arbeit hingewiesen und mir damit in bewährt kompetenter Art Antwort auf die Fragen gegeben hat, die ich mir nicht selbst beantworten konnte.

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und Naturalismus würden jede Erhebung vereiteln (ja, die 16. Ausstellung „lebt nur mehr ein Traumleben in der Erinnerung jener, die sie gesehen haben“61). Was aber nicht heißt, dass es in den Ausstellungen dieser Schule „nicht auch gute, dem modernen Kunstgenre fernstehende Werke [gebe], wie das z.B. im vorigen Jahr bei der Segantini-Ausstellung der Fall war“62, doch im Großen und Ganzen fänden sich dort vor allem anti-christliche Tendenzen, die als „Symptome der moralischen Dekadenz“63 aufzufassen seien. Zwei Werke werden im Einzelnen untersucht. Das erste ist die BeethovenSkulptur von Max Klinger, dem „philosophischen Künstler“, der schon für ein heftig kritisiertes Werk bekannt war („Christus im Olymp“, 1897) und dem der Vorwurf gemacht worden war, die Beziehung „Poesie-Wahrheit“ zerstört zu haben. Dieses Thema kehrt beim Thron von Beethoven wieder, wo in der Szene auf dem Golgatha eine (nackte) Venus am Fuße des Kreuzes dem Apostel Johannes gegenübergestellt wird, der nach Meinung von De Gasperi nicht über sie zu triumphieren vermag: „Am Rande des Felsens steht nämlich in einer fast unmöglichen Stellung der Apostel Johannes, der mit erhobener Hand auf die nackte Göttin zeigt. Die Züge des Gesichtes, das ganze Gebaren seiner Person deutet den Fluch an, welchen er gegen die Göttin der Wollust schleudert. Klinger kontrastiert also doch die beiden Empfindungssphären. Von Verschmelzung und Harmonie kann wohl keine Rede. Nein! Hier auf Golgatha die göttliche Tragödie, der Begründer der Religion der Entsagung und der Selbstaufopferung, die Keuschheit in der jungfräulichen Gottesmutter dargestellt; dort am Strande des Meeres die Wollust, die sinnliche Liebe in Venus symbolisiert: da gibt es keine Versöhnung, und tatsächlich erklärt auch bei Klinger Johannes der Göttin den Krieg. Nun fragt es sich, welchem Teile der Künstler recht gebe. Hat er in Johannes seine eigenen Ideen und Empfin-dungen ausdrücken wollen, und stellt er sich auf die Seite des Christentums? Leider müssen wir die Frage verneinen. Denn Venus scheint sich nicht im mindesten um den christlichen Fluch zu kümmern; sie freut sich dagegen ihrer nackten Schönheit, und stolz entfaltet sie die Grazie ihres Körpers im Lichte der Sonne“64.

61 „Bei allen früheren Veranstaltungen der Wiener Sezession hatte man oft den Mangel an Hoheit bei den verherrlichten Idealen oder den grobsinnigen Naturalismus in der Ausführung zu beklagen“; A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1861 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 62 Ebd. Es sei angemerkt, dass De Gasperi die Gemälde von Segantini immer sehr geschätzt hat. So erwähnte er in seiner Rede vor dem Wiener Parlament vom 25. Oktober 1911, in der er an die Verdienste der Trentiner in ihrer Rolle als Bindeglied zwischen der deutschen und der romanischen Welt erinnerte, „einen gewissen Giovanni Segantini, dessen Ruhm auch über den Brenner hinaus gelangt sein dürfte“. 63 „Die gesamte Ausstellung ist eine Demonstration der modernen anti-christlichen Tendenz, ein Symptom für die moralische Dekadenz“; A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1861 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 64 Ebd., S. 1863 (Originalzitat deutsch von De Gasperi).

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De Gasperi wirft dem Künstler vor, die Kunst auch vom Standpunkt Nietzsches65 aus pervertiert zu haben, indem er einem germanisch-christlichen Synkretismus mit hellenistischem Geist Ausdruck verleiht, eine Sichtweise, „welche für die Zeiten des modernen Relativismus ganz charakteristisch ist“. Dann wendet er sich Gustav Klimt zu, „auch eine philosophische, grübelnde Künstlerpersönlichkeit“. Da Klimt die Wände des Pavillons, der gerade als Ausstellungssitz66 im Zentrum von Wien errichtet worden war, dekoriert hatte, befasst sich De Gasperi eingehend mit den symbolischen Inhalten. Doch auch diese verurteilt er als heidnisch und nur auf die Verherrlichung der Sinnenfreuden ausgerichtet. In der deutschen Textfassung behauptet er, es sei Klimts Absicht, „mit Nietzsche zu sagen: Die Menschheit ist in Verfall begriffen, es wird der Übermensch geboren!“67, denn die Glückseligkeit sei die dionysische ganz nach der zweiten großen Regel des Philosophen: „lache! tanze!“ Die Schlussfolgerungen im deutschen Text sind ausführlicher als in der italienischen Fassung. Er geht hier stärker auf die Krise der modernen Welt und auf die entsprechende Untergangsstimmung ein (mit Bezug auf zwei Bilder von Roller und von Böhm, die Atmosphären des Übergangs zwischen Tag und Nacht darstellen); auch äußert er sich kritischer zu den Debatten innerhalb des Katholizismus (so hofft er, dass sich „viele ,moderne‘ Katholiken zu dem Tempel begeben, und dort ein wenig über den Fanatismus für moderne Kultur, ihre Nervosität gegen den kirchlichen Hyperkonservatismus nachgedacht hätten“68). Es lohnt sich, einen letzten Textabschnitt aus den Schlussfolgerungen in Augenschein zu nehmen, in dem sich seine Kritik möglicherweise auf jenen Albert Ehrhard bezieht, dessen Buch er ein Jahr zuvor positiv rezensiert hatte. Er hat es auf den katholischen Intellektuellen abgesehen, da dieser 65 „Es wäre ja unerhört und nach Nietzsches Philosophie auch unwahr, daß eben Golgatha gewählt sei, um sexuelle perverse Ideen zu legitimieren“, ebd., S. 1862 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 66 Das Gebäude trug auf seiner Stirnseite den berühmten Schriftzug, an den auch De Gasperi erinnert, „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit!“. Doch dieser „heidnische Tempel wurde nicht aus dem Schutt der Jahrtausende an das Tageslicht gefördert, sondern aus der modernen Seele ausgegraben“, und er erscheint ihm wie ein Denkmal der Dekadenz in einem kulturellen Kontext, der im Untergang begriffen ist: „diese Dekadenze-Kunst ist die Kunst einer niedergehenden Kulturwelt“, ebd., S. 1865 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 67 „Wenn man diese scheußlichen Figuren sieht und dann durch die große Öffnung der rechten Seitenwand den Blick auf den vergötterten Meister [Beethoven] lenkt, ist man versucht, mit Nietzsche zu sagen: Die Menschheit ist in Verfall begriffen, es wird der Übermensch geboren!“; ebd., S. 1864 f. (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 68

Ebd., S. 1865 (Originalzitat deutsch von De Gasperi).

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auch in Wien die mögliche Versöhnung zwischen moderner Weltanschauung und Katholizismus prophezeie, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass ausgerechnet im Zentrum der Stadt ein heidnischer Tempel entstanden sei69. In diesem Text, stärker noch als in vielen anderen, nimmt man den Einfluss der Wiener Fin-de-Siècle-Debatte wahr (derart auf Wien zugespitzt, dass sie so nicht ohne Weiteres von der Trentiner Presse übernommen werden konnte). Wie weit der junge De Gasperi in diese Atmosphäre involviert war, ist bis heute nicht wirklich überprüft worden. So reichen die Darstellungen von seiner unkritischen Aufnahme all dessen, was er in der Stadt von Freud und Wittgenstein an kulturellem Aufruhr erlebte, bis hin zum genauen Gegenteil, nämlich der Annahme, dass er sich in diesem Umfeld bewegt hätte, ohne von ihm besonders berührt worden zu sein. Das liegt natürlich auch an der schematischen Darstellung vom Wien des Fin de Siècle, wie sie uns in zu vielen Werken überliefert wurde, und die heute neu zur Debatte steht70. Alle Autoren haben schlussendlich erkannt, dass nicht allein die Avantgarden in der Stadt tonangebend waren, sondern dass ein großer Teil Wiens auch aus volkstümlichen und kleinbürgerlichen Kreisen bestand – genau die Bevölkerungsgruppen, die Lueger in ihrem Schock über die Dominanz der „bürgerlichen Revolution“ und deren „perverser“ und tabubrechender Kunst zu mobilisieren verstanden hatte. Der Antisemitismus war in aller Munde, nicht unbedingt im rassistischen Sinne, vielmehr gründete er zum einen auf dem Motiv des Klassenkampfes (die Juden repräsentierten die Banken) und zum anderen auf der Verteidigung der Tradition gegen die Regelverletzungen der Moderne (die Juden waren die Intellektuellen, die in der Presse den Ton angeben: Es sei daran erinnert, dass De Gasperi im oben zitierten Artikel der „Maffiapresse“ vorwarf, sie würde die heidnischen Künstler fördern und den Künstlern keinen Raum geben,

69 „Während ein katholischer Gelehrter eben in Wien die Versöhnung des modernen Geistes mit dem Katholizismus für möglich hielt und leider anfangs auch den Beifall der christlich-deutschen studierenden Jugend fand, wurde in der Mitte derselben Stadt ein Tempel, ein heidnischer Tempel ausgegraben“; ebd., S. 1865 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 70 Die Auseinandersetzung mit dieser Zeit ist sehr umfassend, angefangen mit dem berühmten Buch von C.E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980. Hier verweise ich auf vier Untersuchungen, die sich sehr eingehend mit dem Thema befasst haben, unter Berücksichtigung aller dazu vorhandenen Literatur: S. Beller, Modern Owls Fly by Night: Recent Literature on Fin-de-Siècle Vienna, in: Historical Journal, 31 (1988), S. 665-683; M.P. Steiner, ‚Fin-de-Siècle Vienna‘ Ten Years Later: ‚Viel Traum, wenig Wirklichkeit‘, in: Austrian History Yearbook, 22 (1991), S. 151-162; A. Janik, Vienna 1900 Revisited: Paradigms and Problems, in: Austrian History Yearbook, 28 (1997), 2, S. 7-22; M. Gluck, Beyond Vienna 1900: Rethinking Culture in Central Europe, in: Austrian History Yearbook, 28 (1997), 2, S. 217-222.

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die echte Werte ausdrückten)71. Natürlich war Wien auch der Geburtsort des Zionismus von Theodor Herzl, des alldeutschen Gedankenguts von Schönerer, und zu guter Letzt sollte der deutschösterreichische Nationalismus auch den Liberalismus erobern. Der Eindruck einer Welt, in der Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit vorherrschten (die österreichische „Schlamperei“, gegen die Karl Kraus schimpfte), und der Enthusiasmus für eine wiedererwachte öffentliche Dimension des Katholizismus dort, wo er zum rein äußerlichen Ritualismus geworden war, bildeten für den jungen Trentiner Studenten sicherlich eine interessante Mischung. Auch da er aufgrund seiner bescheidenen Finanzmittel am lebendigen und anregenden Kulturleben Wiens nur sehr begrenzt teilnehmen konnte. Die „wahre Bohème“, von der die Tochter des Staatsmanns in ihrem Buch schreibt (mit dem jungen Alcide, der in einer kostenlosen Mensa der Mönche aß), die aber auch in Briefen an den Bruder dokumentiert ist72, erlaubte es ihm bestimmt nicht, das kulturelle Angebot der Hauptstadt in Anspruch zu nehmen. Doch kam ihm – wie wir gesehen haben – sein „gesellschaftliches Netzwerk“ in den katholischen, politisch aktiven Studentenkreisen zugute, vor allem aber die Anerkennung seines Engagements durch Persönlichkeiten wie Commer oder Don Celestino Endrici. Durch seinen direkten Kontakt mit einer blühenden und fortschrittlichen Metropole (man denke nur an das städtische Straßenbahnnetz mit seinen schönen Jugendstilbahnhöfen des Architekten Otto Wagner) konnte er das problematische Verhältnis zur „modernen Kultur“ mit weniger abstrakten Begriffen beschreiben als jene, deren katholische Kritik an der Moderne sich aus einer rein intellektuellen Annäherung ergab, so wie es in den päpstlichen Dokumenten und in der Literatur der katholischen Orthodoxie zum Ausdruck kam. Unter vielerlei Gesichtspunkten war das Jahr 1902 ein zentrales Jahr. Commer nahm ihn im März anlässlich des Jubeljahres von Leo XIII. mit S. Beller, Modern Owls, erinnert daran, dass Karl Kraus die Doppelbödigkeit des liberalen (jüdischen) Bürgertums als Wurzel der Dekadenz der zivilen Welt und Wiens ausmachte; S. 677. Überdies war diese Analyse der „Dekadenz“ in teils ähnlichen Termini auch im damaligen Frankreich überaus aktuell. 72 Er schreibt 1904 an Mario: „Das Wetter ist furchtbar: mal zwölf Grad unter null, mal extrem feucht, ständig Nebel und wenig Holz im Kamin. All das lastet auf mir mit einer verfluchten Melancholie … Ich habe nicht nach Hause geschrieben mit der Bitte um Geld … Marcellina hat mir geschrieben, wenn ich 5 Gulden wollte, würde die Mama sie mir schicken, ohne dass Papa davon erführe. Mir gefallen diese Verheimlichungen nicht, die es so aussehen lassen, als verdiente ich die Zuwendung nicht“; M.R. De Gasperi / P.L. Ballini, Alcide De Gasperi, S. 74. Kurios: De Gasperi spricht noch von „fiorini“, während diese Währung im August 1892 längst abgeschafft und mit der Einführung des Gold-Standards die neuen Münzen „Kronen“ genannt wurden. 71

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nach Rom. Allein dieser Besuch beim Papst (die Audienz beim zweiundneunzigjährigen Kirchenoberhaupt fand am 27. März statt) war zweifellos schon Anlass genug. Doch dazu kamen – neben der anregenden Erfahrung der vor Kunst und Geschichte geradezu überquellenden Stadt Rom73 – noch zahlreiche Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten, allesamt durch Commer vermittelt, der sich offensichtlich in gehobenen römischen Kreisen gut auskannte. Von diesen Erfahrungen berichtet De Gasperi in vier Briefen74 an Don Giuseppe Segatta. Aus ihnen sprechen die Empfindungen eines Literaturstudenten angesichts eines der zentralen Themen der Romantiker, nämlich die Gegenüberstellung der klassischen Ideale mit der Umwälzung durch das Christentum und seiner zunehmenden Verankerung in der mittelalterlichen Kultur. Wenn er von seinen Besuchen in den Vatikanischen Museen schreibt, heißt es, nun verstehe er „die Begeisterung Schlegels und der Romantiker für die antike Form“, doch bewundere er auch, dass die Christen die Formen der Vergangenheit erhalten hätten: „Die Christen zerbrachen, zerstörten, wenn sie etwas fürchteten; großmütig bewahrten sie, wenn sie längst unangefochten gesiegt hatten“. Natürlich ist Rom auch der symbolische Ort für die Spaltung zwischen Staat und Kirche in Italien: „gegenüber Vittorio Emanuele II. und Umberto. Das moderne Italien endet und beginnt wie die ganze Welt der Renaissance am Pantheon: Jenseits des Tibers steht San Pietro: entweder das eine oder das andere“. Ein Urteil, in dem möglicherweise der Dogmatismus Commers nachhallt, eher noch als die persönlichen Neigungen seines jungen Gesprächspartners, der auf einer Konferenz, an der er teilnimmt, den „grimmigsten Papstanhängern und adligen Legitimisten“ begegnet – doch, so gesteht er Don Bepo, „in den Pausen vergnügte ich mich damit, vertraulich mit mir selbst über diese Verwesten von ’70 zu debattieren“75. In dieser Hinsicht musste der erste Rombesuch einen sehr starken Eindruck hinterlassen haben, denn De Gasperi kommt auf diese Eindrücke auch noch sehr viel später immer wieder in Briefen und Aufzeichnungen zurück. 74 Sie sind rekonstruiert und veröffentlicht von A. Zambarbieri, Appunti sulla formazione, S. 387-393. Diese Briefe befanden sich bei meinem Besuch nicht mehr im AMRDG. 75 Dass die römische Frage für Commer zu einer kleinen Obsession geworden war, lässt sich einer kuriosen Quelle entnehmen, die zum ersten Mal bei G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica popolare nel Trentino (1904-1914), in: De Gasperi e il Trentino, S. 533-534 Anm., auftaucht. Es handelt sich um einen Brief Commers an Bischof Endrici vom 12. Februar 1914 (!), in dem er sich beklagt, dass der Bischof, der die Bedeutung der römischen Frage unterschätzen würde, nichts gegen die wenig orthodoxe Gesinnung des „Trentino“ unternehme. Und über den Direktor der Zeitung sagt er, dass „unser lieber Alcide … von Herzen ein guter Katholik ist. Ihm fehlt nur das tiefere katholisch-theologische Verständnis“. Schon allein diese Bemerkung vonseiten 73

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Der Ausflug in die römischen Kreise, in denen sich Commer mit größter Selbstverständlichkeit bewegt, öffnen dem jungen Studenten viele Türen. Sie gehen ins Collegio Sant’Anselmo, die renommierte theologische Hochschule, wo Commer „viele berühmte Männer kennt, mindestens so berühmt wie er, und er hat sie mir vorgestellt“. Dennoch lässt sich Alcide nicht allzu sehr beeindrucken und an Don Segatta schreibt er auch, er habe „Pater Esser [kennengelernt], den Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre, einen derart liebenswerten wie gelehrten Mann, dass ich rasch den abscheulichen Posten, den er bekleidet, vergaß“76. Wichtig ist natürlich die Begegnung mit Monsignore Salvatore Talamo, dem Direktor der „Rivista internazionale di scienze sociali“. „Er ist ein schon etwas gebeugter Mann, über den Studien gealtert und der Berühmtheit, die ihm in erster Linie die Philosophie verschafft hat, und nun vor allem die Soziologie. Er befragte mich zur Bewegung, zu den neuen Ideen, zum Bischof des Trentino, und zwischen der einen und anderen Frage teilte er mir mit, dass auch er sich, wie alle anderen, in Geografie nicht gut auskenne. Ich fürchte, [wenn] die Italiener nicht lernen, wo wir uns befinden, ade, Befreiung“77.

Allseits bekannt ist natürlich die Begegnung (am 29. März) mit Romolo Murri im römischen Sitz der „Domani d’Italia“ in der Via Montecatini 5. Bekanntlich war der Priester aus den Marken ein Idol der jungen katholischen Trentiner (ein weiteres Zeichen für die uneingeschränkte „Durchlässigkeit“ der italienisch-österreichischen Grenze), aber dass De Gasperi mit Commer zu diesem Treffen ging, bezeugt, wie sehr die kulturelle Unruhe unter den jungen Katholiken damals noch das Problem des „Modernismus“ überwog. Nur wenige Jahre später sollte sich das ändern, doch zu jenem Zeitpunkt war dies der Stand der Dinge. seines mutmaßlichen Lehrmeisters in theologischen Angelegenheiten zeigt, was für eine Sonderstellung De Gasperi in der katholischen Bewegung als solcher innehatte. 76 Die Hervorhebung stammt von mir, denn der Satz scheint mir bedeutend, sowohl hinsichtlich des Verhaltens De Gasperis, als auch, weil er gewisse Freiheiten im Trentiner Katholizismus offenbart: Denn den Index in einem Brief an einen Seminarprofessor als „abscheulich“ zu bezeichnen scheint mir im damaligen Italien kaum denkbar. 77 Auch hier stammt die Hervorhebung von mir. Dass er diesen Ausdruck verwendet, immerhin eine Bezeichnung der nationalen Bewegung in Fortsetzung des Risorgimento, ist durchaus von Bedeutung. Das beweist, dass von da an die „nationale“ Frage auch in diesem spezifischen Sinne im Trentino gemeinhin im Raume stand. Jemand wie De Gasperi, mitten im Kontext eines „nationalen“ Kampfes, aber auch mitten in den letzten Kämpfen des Imperiums, sollte – wie wir immer wieder feststellen – diesen unumstößlichen Aspekt nie aus dem Blick verlieren. Die Bemerkung zu den geringen geografischen Kenntnissen der Italiener unterstreicht eine Tatsache, die immer wieder ihre Bestätigung finden wird, gerade auch bei den Verhandlungen zwischen Italien und Österreich während des Versuchs, die friedliche Ablösung des Trentino zu erwirken.

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Der Bericht für Don Segatta über das Treffen mit Murri und Fogazzaro, die in die Redaktion kamen, während er und Commer mit dem Direktor der Zeitschrift, dem Rechtsanwalt Stirati redeten, ist oft zitiert worden. „Ich zog mich zurück, drückte mich platt an die Wand, und begnügte mich damit, den Dichter von der Seite zu beäugen, als Murri laut sagte: Das ist ein junger Trentiner. Er wendet sich mir zu und gibt mir die Hand, und ich, in meiner Verwirrung, habe mich derart tief verbeugt, dass manch einer glaubte, ich hätte sie ihm geküsst, und dann fragte er mich über Trient aus usw. und nach seinen Verwandten, und ich, um das Gesicht zu wahren, tat so, als würde ich sie kennen oder jeden Tag mit ihnen Polenta essen. Murri war gestern Abend unser Gast und es war ein hochinteressanter Abend, den man nicht aufschreiben muss, um sich an ihn zu erinnern“78.

De Gasperi musste jedenfalls einen hervorragenden Eindruck auf Murri gemacht haben, denn er forderte ihn zur Mitarbeit an seiner Zeitschrift „Il Domani d’Italia“ auf. Natürlich wird dabei geholfen haben, dass der junge Student Murris Bewegung durch seine Mitarbeit an der „Reichspost“ in österreichischen Kreisen bekannt machen konnte, wie er das bereits in einem Artikel getan hatte, den er vor der Begegnung publiziert hatte, und wie er es auch weiterhin tun sollte79. Wie bereits angedeutet, muss dieses Jahr unter vielerlei Gesichtspunkten ein Jahr der Wende gewesen sein. Wieder zurück aus Rom, schickte sich De Gasperi an, innerhalb der entstehenden katholischen Bewegung im Trentino eine zunehmend bedeutendere Rolle zu spielen, worin ihn Don Endrici und Commer nach Kräften unterstützten. Sicherlich wird ihm dabei zugutegekommen sein, dass er auch Zugang zu den Kreisen der Wiener Christlichsozialen hatte. Denn dort hatte er dank seiner Bekanntschaft mit Friedrich Funder im Umfeld der „Norica“ und seiner beneidenswerten Beherrschung der deutschen Sprache einen Posten als Mitarbeiter der „Reichspost“ erhalten, 78 Nach Auffassung von Paolo Piccoli und Armando Vadagnini (De Gasperi, S. 39) waren die Verwandten möglicherweise die Töchter von Giovan Battista Fogazzaro, einem Musiker und Komponisten geistlicher Musik aus Rovereto. Außerdem sollte Antonio Fogazzaro vor allem für den Roman „Il santo“ in die Schusslinie der antimodernistischen Kritik geraten, und das durch einen höchst angesehenen Vertreter der katholischen Bewegung im Trentino, der gegen dieses Werk ein ernstes Pamphlet verfasste (vgl. G. de Gentili, Il ‚Santo‘ di A. Fogazzaro, Trient 1905), das von der „Civiltà Cattolica“ in ihrer Märzausgabe 1906 sehr gelobt wurde; vgl. L. Bedeschi, Il giovane De Gasperi, S. 16. 79 Hierin veröffentlichte De Gasperi: Ein Rückblick auf die christlich-demokratische Bewegung in Italien, 23. Januar 1902; Die christliche Demokratie in Italien (Ein Interview), 2. April 1902; Christliche Demokratie in Italien, 17. Mai 1902; Die Stellungnahme der christlichen Demokraten zu den Gemeinderathswahlen in Rom, 27. Juni 1902. Zur italienischen Übersetzung siehe (mit der angehängten deutschen Originalfassung) A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1843, S. 1847, S. 1851, sowie S. 1852.

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einer Zeitschrift, die immer einflussreicher werden sollte80. Ein ganz entscheidender Punkt war zudem das Aufkommen der Universitätsfrage, weshalb die Katholiken noch dringender qualifizierte Köpfe brauchten, die sich in einem Kampf behaupten konnten, dessen symbolische Reichweite und dessen Auswirkungen auf keinen Fall unterschätzt werden durften. Kurz zusammengefasst sei hier daran erinnert81, dass der Verlust von Venetien im Jahr 1866 den Italienisch sprechenden Habsburger Untertanen die Möglichkeit einer eigenen „nationalen Universität“ genommen hatte, denn die Universität Padua gehörte nunmehr zum neuen Reich Italien. Da es für sie sicherlich nicht leicht war, an Vorlesungen und Seminaren in deutscher Sprache teilzunehmen82, hatte man immerhin versucht, den Bedürfnissen der Österreich-Italiener entgegenzukommen – zugegebenermaßen auf recht simple Weise –, indem man an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Innsbruck (an der die meisten Italiener studierten, besonders die Trentiner) parallel Kurse und Studienbegleitungen durch Italienisch sprechende Dozenten einführte83. 80 Funder, 1872 geboren, wurde nach einem recht vielseitigen Werdegang, der ihn vom Priesterseminar zum Beruf des Journalisten geführt hatte, im Dezember 1902 Chefredakteur der „Reichspost“, nachdem er im Juli 1896 in deren Redaktion als Praktikant begonnen hatte (er sollte 1904 ihr Direktor werden). Schon 1902 schickten sich die Christlichsozialen an, etwas Bedeutenderes als nur die Partei des – wenn auch einflussreichen – Bürgermeisters von Wien zu werden: Sie sollten die „Regierungspartei“ schlechthin (und deutschösterreichisch) werden. Ab 1905 sollte Funder, wie wir sehen werden, in den einflussreichen Kreis des Thronerben Erzherzog Franz Ferdinand gelangen und eine wichtige Rolle im Belvederekreis der sogenannten „Werkstatt“ im Belvedere einnehmen (der offiziellen Residenz des Erzherzogs). De Gasperi blieb mit Funder während der gesamten habsburgischen Periode in Kontakt (und auch noch danach, wenn auch sporadischer). 81 Das Thema ist von der Geschichtsschreibung eingehend erforscht worden. Das beginnt mit dem grundlegenden Werk von A. Ara, La questione dell’università italiana in Austria, in: Rassegna storica del Risorgimento, 40 (1973), S. 252-280; siehe speziell zum Trentino V. Calì, Per l’università italiana in Austria. Carteggio Trentino 1898-1920, Trient 1990. 82 Man berücksichtige, dass deutsche Sprachkenntnisse im normalen Leben, auch im Umgang mit den Ämtern, kaum notwendig waren, man brauchte sie eigentlich nur in Angelegenheiten, die die zentralen Behörden betrafen, was für normale Bürger kaum je der Fall war. Alles andere (Schulunterricht, Gerichtsverfahren, Amtsvorgänge) fand auf Italienisch statt. 83 Eine Liste dieser Kurse findet sich bei E. Reut-Nicolussi, Das altösterreichische Nationalitätenrecht in Welschtirol, Innsbruck 1930, S. 81 Anm. Es handelte sich hierbei um vier Dozenten (von italienischen Universitäten), drei Aushilfskräfte (ohne akademischem Bildung) und zwei Trentiner Stipendiaten (Lorenzoni und Morandini). Es verwundert, dass der Autor, ein ehemaliger Abgeordneter im Reichsparlament und damals Professor in Innsbruck, diese Daten einem Artikel der Zeitung „L’Alto Adige“ vom 16. Oktober 1899 entnommen hat und nicht den Archiven oder den offiziellen Akten der Universität.

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Diese Initiative hatte umgehend den Tiroler Nationalismus auf den Plan gerufen: Am 14. März 1901 stellte der Abgeordnete Eduard Erler eine Interpellation an den Innsbrucker Landtag gegen diese italienischen Lehrstühle, da sie den deutschen Charakter der Universität unterminieren und der Invasion der Italiener – wie er es nannte – Vorschub leisten würden84. Wie bereits gesehen, hatte diese Problematik zur Gründung von Bündnissen unter den verschiedenen italienischen Studentenvereinigungen geführt, um die Forderung nach einer nationalen italienischen Universität zu bekräftigen. Es gestaltete sich allerdings alles andere als einfach, die unterschiedlichen Sichtweisen zu vereinen: Auf dem 7. Kongress der Società degli Studenti Trentini (am 22. September 1901 in Rovereto), in der sich all jene zusammenfanden, die man heute als „säkular“ bezeichnen würde (also Liberale unterschiedlicher Richtungen und Sozialisten), hatte Ferdinando Pasini die „Klerikalen“ heftig angegriffen und sie als falsche Verbündete in der Universitätsfrage bezeichnet. Ein aufschlussreiches Zeichen, das deutlich machte, wie wichtig das repräsentative Monopol in Angelegenheiten dieser Art für die Verteilung des zukünftigen politischen Gleichgewichtes war. Am 27. Oktober begann der junge Trentiner Jurist Francesco Menestrina seinen Kurs in Zivilrecht auf Italienisch abzuhalten, was umgehend Unruhen und Proteste unter den extremistisch eingestellten deutschen Studenten auslösen sollte. Im November spitzte sich die Lage zu: Am 7. November hatte der Minister für Bildung, Wilhelm August von Hartel, im Parlament in Wien eine einigermaßen positive Erklärung zur Einrichtung einer italienischen Universität abgegeben. Doch noch am selben Tag fand in Innsbruck eine große öffentliche Gegendemonstration der radikal-nationalistischen deutschen Studenten statt. Das Parlament geriet in eine schwierige Lage85: Denn obschon die Regierung Körber eine Politik der kontinuierlichen Verhandlungen mit allen Nationalitäten verfolgte – auf die noch näher eingegangen wird –, führte genau das dazu, dass jedes Zugeständnis an die eine Nationalität den Weg für immer weitere Forderungen der anderen bahnte. So war es auch beim Thema Universität, denn umgehend forderten auch die Südslawen und andere Nationalitäten eine eigene Hochschule. Für das Parlament wurde die Lage höchst problematisch, denn die Universitätsfrage verflocht sich mit der Frage der Autonomie des Trentino innerhalb Tirols – ein weiteres Thema, das den wachsenden deutschösterreichischen Nationalismus oder gar die Identitätskrise der Tiroler Führungseliten

84 Über den Tiroler Nationalismus, seine Hintergründe und seine weitverzweigten Wurzeln siehe die aufschlussreiche Studie von L. Cole, Für Gott, Kaiser und Vaterland. 85 Siehe dazu die Analyse von Enrico Conci in seinen parlamentarischen Korrespondenzen in „La Voce Cattolica“ vom 12. und vom 14. November 1901.

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verschärfte86. Die Situation spitzte sich immer weiter zu, doch mittlerweile hatten die Katholiken an Boden gewonnen. In der Debatte um die Autonomie87 war die Überwindung der Opposition der Österreich-Deutschen und vor allem der Tiroler auch dadurch erschwert, dass sie die Unterstützung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand hatten; darauf spekulierte der Tiroler Statthalter Graf Merveldt, der entschieden anti-italienisch88 eingestellt war. Man bedenke auch, wie stark die Mobilisierung des deutsch-tirolerischen Radikalismus war: Im Juli 1901 waren beim Landtag 128 Gesuche eingegangen, in denen Gemeinden und deutsche Vereinigungen gegen jede Art von Autonomievorhaben vonseiten des italienischen Teils der Region protestierten. Parallel dazu hatte es im Trentino energische Demonstrationen zur Unterstützung der Aktionen der eigenen Abgeordneten im Landtag gegeben. Als die Regierung am 7. Dezember 1901 den Statthalter Merveldt zurückrief und ihn durch den sehr viel geschickteren und für die Anliegen der Trentiner zugänglichen Baron Erwin von Schwartzenau89 ersetzte, kam man 86 Ohne auf alle Einzelheiten eingehen zu können, ist anzumerken, dass es sich hier um zwei Themen handelt, die nicht als gleichwertig anzusehen sind, auch wenn sie einander beeinflussen und sich in vielen Bereichen auch überlagern. Auf der einen Seite gab es in Anbetracht Deutschlands und seines internationalen Erfolgs die Vorstellung, dass die einzige nationale Identität nur die „deutsche“ sein könne (am 18. März 1902 sollte der Anführer der Nationalisten, Schönerer, seine berühmte Rede halten, in der er für das Bündnis mit dem Deutschen Reich eintrat und die er mit dem Ausruf: „Es leben die Hohenzollern!“ abschloss). Auf der anderen, der Tiroler Seite, gab es die Identität als „kleines österreichisch-deutsches Vaterland“ – die traditionalistische Wahrung des Habsburger Herzogtums Tirol als Herzstück der nationalen Identität Österreich-Cisleithaniens, das sich von den Zeitströmungen bedrängt und bedroht sah. 87 Eine sehr schematische Zusammenfassung findet sich bei R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 269-271; sehr viel detaillierter bei S. Benvenuti, L’autonomia trentina al Landtag di Innsbruck e al Reichsrat di Vienna; R. Schober, La lotta sul progetto di autonomia per il Trentino degli anni 1900-02 secondo le fonti austriache, Trient, 1978. 88 Im Oktober 1901 reichten die Abgeordneten Conci und Malfatti eine parlamentarische Anfrage gegen ihn direkt beim Ministerpräsidenten Körber ein; vgl. La Voce Cattolica, 21. Oktober 1901, in der der Text der Anfrage abgedruckt ist. 89 Enrico Conci äußert sich in seinen autobiografischen Memoiren sehr positiv über ihn: „Baron Schwartzenau … war ein echter Ehrenmann, hochintelligent und lebhaft und sehr bemüht, das Autonomieprogramm, aufgrund dessen er ernannt worden war, durchzusetzen. Er machte sich sogleich an die Arbeit, indem er kontinuierlich Kontakt zu den verschiedenen Parteien unterhielt und nach Lösungsmöglichkeiten suchte, denen keine unüberwindlichen Hindernisse entgegenstanden. Und es schien, als hätte er eine Lösung gefunden, die – ohne bei irgendwem echte Begeisterung hervorzurufen – als allgemeines tolerari posse gelten konnte“; MSFT, Memoria autobiografica, Nachlass Conci, Umschl. 1, S. 23.

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einem Kompromiss sehr nahe, der dem Trentino Autonomie zugestanden hätte (mit der Teilung des Landtags in zwei nationale Ratsversammlungen und einer Repräsentation in Trient) unter der Bedingung, einige Täler und Ortschaften davon auszunehmen (vornehmlich die „ladinischen“ Täler, also das Fleimstal und das Fassatal, sowie die sogenannten „deutschen Sprachinseln“). Den Kompromiss verhinderten die radikal-konservativen Tiroler und ein Teil des Radikalnationalismus im Trentino selbst90, denn beide wollten in keinem Punkt von ihren Positionen abrücken. „La Voce Cattolica“ hatte sich für den Kompromiss ausgesprochen und daran erinnert, dass „weder Körber immer in Wien sein wird, noch ein Schwartzenau in Innsbruck und … die kontinuierliche Zunahme der radikalen Elemente jenseits von Salurn wird es immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich machen, irgendeine autonome Institution im Trentino durchzusetzen“91. Ein hellsichtiges Urteil, das auch noch mehr als ein Jahrzehnt später galt, als „Il Trentino“ mit Verweis auf das Scheitern der Verhandlungen von dem „unerhörten Debakel von 1902“ schrieb92. Dass die Autonomiefrage nun so festgefahren war, hatte das erneute Aufflackern der „italianofobia“ zur Folge, wie Enrico Conci in der „Voce Cattolica“ beklagte, und insgesamt eine extrem schwierige Situation: Nicht nur, dass am 7. Juli 1902 der Tiroler Landtag offiziell aufgelöst wurde, vielmehr verkomplizierte auch die Erneuerung des Dreibundes die allgemeine Lage. Bei seiner Unterzeichnung am 28. Juni 1902 zeigte sich der italienische Außenminister Prinetti zudem stärker daran interessiert, Unterstützung für die expansionistischen Ambitionen seines Landes in der Cyrenaica zu erhalten, als für die Anliegen der italienischen Minderheiten im Reich einzutreten. Vor diesem Hintergrund wurde am 28. August 1902 der erste Kongress der Trentiner Katholiken in Trient eröffnet, in dessen Rahmen auch der Kongress der AUCT stattfand. Aus mehreren Gründen handelt es sich dabei um ein Ereignis von enormer Bedeutung93. Das beginnt schon mit der Rolle De Gasperis, den wir hier – unter dem Vorsitz von Don Celestino Endrici – als Vizepräsidenten der dritten Unterkommission antreffen. Darin offenbarte sich seine mittlerweile erreichte Position, die durch seine Wahl zum Präsidenten der AUCT auf demselben Kongress zusätzlich bestätigt wurde. 90 Um die Wahrheit zu sagen, waren diesmal weder die Liberalen schuld (ihre Zeitung „L’Alto Adige“ stand für das Ja ein) noch die der Sozialisten Battistis (in diesem Fall sprach sich ihre Zeitung „Il Popolo“ für den Kompromiss aus). Wer die Sache zum Scheitern brachte, waren die politischen Eliten aus den Gebieten Italiens, die aus dem Abkommen ausgeschlossen blieben und drohten, die Politiker abzusetzen, die den Kompromiss unterstützten. 91 Il progetto d’autonomia, in: La Voce Cattolica, 11./12. Juli 1902. 92 Il Trentino, 1. November 1913. 93 Vgl. G. Betta, Il movimento cattolico, S. 64-73.

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Bei der Gelegenheit hielt der junge Student eine sehr engagierte Rede, die man geradezu als Manifest für die Aktionen der folgenden Jahre betrachten kann94. Nach ein paar polemischen Seitenhieben auf Liberale und Sozialisten formuliert De Gasperi die Kernfrage: „Die Vereinigung hat sich auf ihre Fahne geschrieben: Pro Fide, Scientia et Patria. Erlauben Sie, meine Herren, dass ich heute sehr pragmatisch werde. Ich werde von Abstraktionen absehen und unsere Ideale ganz konkret zum Ausdruck bringen: Katholiken, Italiener, Demokraten“.

Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass das Engagement an Universitäten bedeute, genau an die Orte zu gehen, „die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch die Schmiede neuer intellektueller und sozialer Umwälzungen gewesen waren, die dem Katholizismus feindselig gegenüberstanden“; und falls es zu irgendeinem „feigen Kompromiss“ gekommen war, dann „mit jenem bisschen an Katholizismus, der aus Liebe zu familiären Traditionen gewahrt wurde“, während man den Rest als „Klerikalismus“ abstempelte. Wie man sieht, kam De Gasperi ohne Umschweife zum Kern der Sache, das heißt zur Notwendigkeit, von der Religion als einem spezifischen Moment des allgemeinen Zivillebens zu einer religiösen Militanz überzugehen („der Katholizismus ist etwas Allumfassenderes“), durch die eine politisch-kulturelle Identität aufgebaut werden konnte. Um das zu tun, zögerte er nicht, das Trentino als gespalten zu offenbaren – eine soziale (fast klassenbezogene) und zugleich symbolische Spaltung: „Das Trentino ist ein Land, dessen Bergbewohner katholisch sind und dessen gebildete Schichten, das Bürgertum, eher heidnisch“. Das musste jeder, der sich engagieren wollte, wissen, nämlich dass es „die Bedingungen einer militanten Epoche“ zu akzeptieren galt. Der Vergleich, den er vorschlug, ist mehr als deutlich: „Die Polen sagen, dass für sie Polnischsein und Katholizismus ein und dieselbe Sache sei … für uns Trentiner erst recht: Katholik sein heißt Italiener sein“. Der Redner kannte den üblichen Vorwurf nur zu gut, der sich darauf gründete, dass man „in einem Grenzland“ lebte: „Ihnen [den Katholiken] fehle es an Patriotismus und Liebe zur eigenen Nation“. Er reagierte darauf nicht nur mit der Erinnerung daran, wie viel man zur nationalen Verteidigung beigetragen hatte, sondern er schweißte italienische Wesensart und Katholizismus in einer äußerst typischen symbolischen Synthese zusammen. „Nein, diese jungen Leute, die sich vor allem als Katholiken verstehen, vergessen in sozialer Hinsicht keineswegs, auch gute Italiener zu sein. Indem sie den Glauben und die Traditionen ihrer Väter verteidigen, erfüllen sie die erste Pflicht eines jeden Italieners, der Dante, Raphael, Michelangelo und Manzoni nicht gegen Proudhon, 94 Die Rede wurde am 1./2. September 1902 unter dem Titel „Il primo Congresso Cattolico Trentino“ in „La Voce Cattolica“ veröffentlicht; jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 210-216.

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D’Annunzio oder Zola eingetauscht hat, weder den heiligen Thomas für Kant oder Nietzsche, noch unseren romanischen Apostel Vigilius für den deutschen Marx“95.

Darauf folgte der Leitgedanke, der später immer wieder zitiert werden sollte: „Zuerst Katholiken und dann Italiener, und Italiener auch nur bis dorthin, wo der Katholizismus endet“. Der letzte Punkt betraf die Frage der „Demokratie“ – dazu gehört der folgende, ebenfalls berühmte Textabschnitt. „Von der Universität kommt man schon als gemachter Demokrat oder Aristokrat. Wenn man jung ist, reduziert man entweder die Welt auf die Zeitungen, die man liest, sowie auf die Mitglieder seiner Klasse, und einmal Doktor oder Anwalt geworden, wird sich der junge Mensch nicht in die großen Volksmassen hineinbegeben wie ein Bruder unter Brüder, sondern vielmehr wie der Vertreter jenes Bürgertums, das in unserer Zeit so viel Hass und Verfluchung auf sich gezogen hat. Oder aber man sieht schon als junger Mensch jenseits dieser bürgerlichen Barriere eine große Anzahl an Menschen, die herüberkommen möchte, und man begreift die Richtigkeit dieser Bestrebung, und da gilt es, die Hand hinüberzureichen … Es ist kein Fehlen von Bescheidenheit, meine Herren, wenn wir katholische Studenten uns ohne Weiteres inmitten der Demokraten sehen“.

Das Programm war, wie man sieht, ehrgeizig und auch gut aufgebaut: Es vermischte das Bewusstsein von Kraft, die man in einer breiten Volksbasis finden konnte, für die die Religion nach wie vor das Bindemittel ihrer sozialen Identität war, mit einem geschickten Verweis auf die italienische Nationalität, die zudem richtigerweise vom Nimbus postrisorgimentaler Romantik befreit war. Das Ganze war angereichert durch den Bezug auf die Spaltung zwischen den Tälern (mit dem positiven Mythos der Bergwelt) und den Städten. Wie weit dieses Programm von De Gasperi stammte und welchen Anteil eine eventuelle Überarbeitung durch Endrici gehabt haben könnte, lässt sich nicht feststellen: Sicherlich waren einige Themen den klassischen Motiven der anti-modernen Kritik entnommen, in anderen hallten möglicherweise die internen Debatten des christlichen Populismus in Wien nach, wieder andere griffen das Ziel Murris auf, die jungen Leute in die modernen politischen Auseinandersetzungen einzubeziehen (der Verweis auf die „Demokratie“). Es bleibt festzuhalten, dass der junge De Gasperi eine beachtliche Fähigkeit an den Tag legte, sich diese Umstände zunutze zu machen und sie der Realität einer Grenzregion anzupassen, die längst mitten in den nationalistischen Widersprüchen steckte, die das Habsburgerreich erschütterten. Aus dem katholischen Kongress im August/September 1902 ging nicht nur De Gasperi als Vorsitzender der AUCT hervor, vielmehr wurde bei dieser 95 Man achte auf das rhetorische Geschick, mit dem geradezu instinktiv diese Wertbegriffspaare gebildet werden, innerhalb derer starke identifikatorische und „klischeehafte“ Motive den Sinnbildern der Moderne, die man abwehren möchte, gegenübergestellt werden.

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Gelegenheit auch eine neue politische Gruppierung der Katholiken vorgestellt, die den Namen Unione Politica Popolare del Trentino (UPPT) erhalten sollte. Ihr Statut wurde am 26. Februar 1903 vom Tiroler Statthalter Schwartzenau und am 3. März von Bischof Valussi offiziell anerkannt96. Vorerst sollte diese zweite Initiative De Gasperi nicht allzu sehr beanspruchen, war er doch noch immer eher einer „kulturellen“, um nicht zu sagen ideologischen Vision verbunden. Natürlich verlief auf diesem Gebiet nicht alles ganz reibungslos, denn in der Kirche begann der anti-modernistische Kampf zu schwelen. Das geht deutlich aus einem Brief vom 26. Dezember 1902 hervor, den De Gasperi aus Wien an Murri schrieb97. In seinen Überlegungen zur Entwicklung der Lage bezeichnete sich der Schreibende als „Interpret jenes lieben Prof. Commer, der unsere Schicksale mit – wie soll ich sagen? – Besorgnis verfolgte“. Dann informierte er ihn über jenen Vorfall, durch den die Kritik an einem Werk des Kirchenhistorikers Albert Ehrhard in Österreich auch zu einem Angriff auf Murri und die christliche Demokratie geworden war. De Gasperi gestand, dass er seine Verbreitung der Ideen Murris in der „Reichspost“ hatte einstellen müssen. Sogar „eine sehr ausführliche Rezension von mir über ,Battaglie di Oggi‘, die schon druckfertig vorlag, konnte nicht erscheinen, denn das ,Vaterland‘ hatte Ehrhard, Murri und die ,Modernen‘ alle in einen Topf geworfen“98. Natürlich fragte er sich, ohne selbst darauf eine Antwort geben zu können: „Was hat Ehrhard, der kein Soziologe und kein Demokrat ist, sondern vielmehr ein Förderer des ,religiösen‘ Katholizismus von Kraus im Gegensatz zum ,politischen‘ des Zentrums, mit der Democrazia Cristiana Italiana zu tun?“. Doch De Gasperi hätte wissen müssen, dass das Werk von Ehrhard99, der sich in seiner Substanz für den Dialog und für eine Vereinbarkeit von Religion und moderner Kultur aussprach, Misstrauen geweckt hatte: In der „Rivista Tridentina“ von 1902 hatte Don Celestino Endrici dem Werk ein langes Essay gewidmet, in dem er, nach einer ausführlichen und – das muss man der Ehrlichkeit halber dazusagen – korrekten Wiedergabe der Thesen, die Schlussfolgerung des Autors kritisiert hatte. Er empfand sie als überflüssig, da das Problem des Dialogs zwischen Katholizismus und moderner Kultur gar nicht existiere, denn was es an Gutem in der modernen Kultur

Für den Text siehe G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica, S. 518. Die vollständige Fassung des Briefes findet sich im Anhang bei L. Bedeschi, Il giovane De Gasperi, S. 111-114. 98 „Vaterland“ war das Presseorgan des konservativen deutschen Katholizismus. 99 A. Erhard, Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit, Stuttgart / Wien, 1902. 96 97

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gab, sei seiner Meinung nach in der Ideologie des Christentums sowieso grundsätzlich vorhanden100. Auf den Brief von De Gasperi antwortete Murri am 21. Januar 1903101 und bestätigte dessen Befürchtungen über die Phase, in der man sich befand (und über seine eigene „heikle Phase“): „Ich, die ich an ihr vor allem die freie und zivile Gangart liebte, möchte keinerlei Verantwortung für das tragen, was kommen wird. Dennoch glaube ich, dass diese Periode des Wandels nützlich sein kann für den Fortschritt der Wissenschaft und dass sie für das Morgen etwas Besseres vorbereitet“.

Interessant ist die Vorstellung von der Zukunft: „Sobald ,Il Domani‘102 weggezogen ist, werde ich mich mehr als bisher mit der internationalen Bewegung befassen und jeder Brief, in dem Sie mir freimütig über Österreich berichten, wird mir ein Geschenk sein“. Tatsächlich sollte die Verbindung noch ein wenig Bestand haben. Eine Weile lang gibt es keine „entscheidenden“ Vorkommnisse im Leben De Gasperis: Nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der AUCT verläuft alles relativ normal: polemische Auseinandersetzungen mit dem Antiklerikalismus der neuen Liberalen (die bekannteste war die über den Darwinismus)103, beständige Spannungen bezüglich der Universitätsfrage und die Propaganda-Aktivitäten des jungen Studenten unter den Trentiner Emigranten vor allem im Vorarlberg104. 100 Siehe dazu die genaue Analyse dieser Ansprache bei M. Nicoletti, Il dibattito culturale in una regione „di frontiera“, in: A. Leonardi / P. Pombeni (Hrsg.), Storia del Trentino, Bd. 6: L’età contemporanea. Il Novecento, Bologna 2005, S. 662-663. Zum Text siehe C. Endrici, Appunti sull’opera del Dr. Albert Ehrhard, o.o. Professor an der Universität Wien – Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit, Wien, zweite und dritte vermehrte Auflage, in: Rivista Tridentina, 2 (1902), 3-4, S. 211-260, sowie 3 (1903), 1, S. 184-197. 101 Das Original des Briefes ist im AMRDG aufbewahrt. 102 Murris Zeitschrift wurde von Rom nach Bergamo verlegt – als Folge eines Prozesses, der ihn bald in eine Randposition bringen sollte bis hin zur Verurteilung durch die Kirchenbehörde; vgl. M. Guasco, Romolo Murri, Rom 1988. 103 Das Thema war ein topos der katholischen Polemik allgemein, doch im Trentino gab es noch eine Besonderheit: Einer der italienischen Darwinisten, der Wissenschaftler Giovanni Canestrini, war Trentiner (auch wenn er in Italien arbeitete). Die liberalen und sozialistischen Studenten und Hochschulabsolventen nahmen seinen Tod zum Anlass, ihm eine Büste zu widmen, die in der städtischen Parkanlage nahe dem Bahnhof aufgestellt wurde (und in polemischer Nähe zum Sitz des Diözesankomitees für die Katholische Aktion). Das Denkmal wurde am 15. September 1902 eingeweiht und es kam zu endlosen Auseinandersetzungen, einschließlich der Beschmierung der Statue, was eine Untersuchung im Landtag nach sich zog. Und auch De Gasperi schaltete sich, wie wir sehen werden, in die Angelegenheit ein. 104 Es handelte sich um etwa 20.000 Personen, die in der Textilindustrie der Gegend arbeiteten. Zur Reise im September/Oktober 1903 siehe F. Rasera, Degasperi e il socialismo, S. 14 Anm.

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Ein Wendepunkt ist der Tod von Bischof Valussi am 10. Oktober 1903. Wie es nun steht, beschreibt De Gasperi in einem Brief an Murri vom 27. Oktober 1903 aus Wien105. Hier spürt man die Ungeduld des jungen Organisators, der sich mittlerweile mehr für die politische Agitation interessiert als für die üblichen kulturellen Themen, auch wenn diese nach wie vor aktuell sind. „In Italien diskutiert man zu viel, und man diskutiert mit der Gewissheit, dass am Ende nichts geschehen wird. So sehen wir das; die wir uns mitten im Zentrum der Propaganda befinden und an der Seite einer Partei, der christlichsozialen, die noch nicht ausreichend erforscht ist, doch wenn sie es wäre, wäre sie eine Schule der Methodik. Man bezichtige uns nicht des Empirismus, die wir die Literatur zweier in dieser Sache sehr unterschiedlicher Nationen verinnerlicht haben“.

Es folgt eine Kritik an den jungen Leuten, die „schlecht studieren“ und anmaßend sind, glaubten sie doch, ohne Anstrengung große philosophische Werke verfassen zu könnten. „Aber wäre es nicht besser, eine Schule hochzuziehen (ich fürchte, der Ausdruck wird Ihnen nicht gefallen) mit den Methoden von Ascoli in Philologie? Es stimmt, dass es in Ihrer Zeitschrift um Kultur geht, doch diese Kultur sollte wissenschaftlich sein, oder nicht?“ So mokiert er sich über „die kindische Bewunderung, die gewisse junge Leute immer noch für Kant und die Epigonen hegen“: eine Überlegung, zu der ihn möglicherweise Commer angeregt hatte, der damals – worüber er Murri eilig informiert – am ersten Teil seines Buches schrieb (das „uns vielleicht nicht gänzlich gefallen, aber Aufsehen erregen wird“). Doch die Sache, die ihn am meisten beunruhigt, ist eine andere. „Das Trentino erlebt eine Krisenzeit. Der Bischof ist gestorben, man ernennt einen neuen, aber wen? Bisher drängte es die jungen Leute mit großen Schritten voran, doch mussten wir äußerst vorsichtig sein. Um uns nicht zu kompromittieren, haben wir nie Stellung bezogen, weder im Hinblick auf die verschiedenen Kämpfe, noch gegenüber denen der Christlichsozialen, auch wenn bekannt ist, wem unsere Sympathien gehören. Sollte der neue Bischof auf unserer Seite sein, möchten wir Don Murri in unseren Alpen sehen, wenn nicht werden wir unsere Vorsicht verdoppeln, aber auch die Anstrengungen, solange, bis die Christdemokraten uneingeschränkt regieren. Wie Sie sehen, deutsche Methoden“.

Was dann passiert, entspricht zwar nicht den Erwartungen, die in diesem Brief zum Ausdruck kommen, auch wenn es sich um eine bedeutendere Wende im Leben De Gasperis handeln sollte, als er es sich damals vorstellen konnte. In der Zwischenzeit war der Kampf um die Universität erneut entbrannt, und zwar durch einen gewaltsamen Eingriff der österreichischen Gendarmen am 23. November 1903, der eine private Zusammenkunft von italienischen Studenten in Innsbruck unterbinden sollte. Diese hatten sich zusammengefunden, um einer Einführungsvorlesung der italienischen Parallelkurse beizuwohnen, 105 Der Brief ist im Anhang bei L. Bedeschi, Il giovane De Gasperi, S. 115-118, veröffentlicht.

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die von Professor Angelo De Gubernatis gehalten wurde. Deutsche Studenten hatten darauf mit Störaktionen und Demonstrationen reagiert und sogar das italienische Konsulat belagert. Die Innsbrucker Ereignisse fanden auch in Italien ein so breites Echo, dass Murri sogar in einem Brief seine Solidarität bekundete, worauf die Trentiner Studenten der Unione Accademica Cattolica Italiana am 7. Dezember antworteten: Sie sprachen ihm ihren Dank aus und beglückwünschten ihn zugleich zum „sehr erfolgreichen Ausgang des Kongresses in Bologna“106. Doch das war nicht die entscheidende Neuigkeit, sondern vielmehr, dass der Kaiser Don Celestino Endrici am 3. Januar 1904 zum Kandidaten für den Bischofsstuhl von Trient ernannte. Der Prälat begab sich umgehend zu Beratungen nach Wien und hier begann seine enge Beziehung zum jungen De Gasperi, wie wir aus einem aufgeregten Brief an seinen Bruder Mario107 wissen, in dem er schreibt, er sei „mit einer gewissen Idee beschäftigt“, von der er „nichts verraten“ dürfe. „Dr. E. war vom 4. bis zum 21. hier, und ich begleitete ihn Tag und Nacht, so weit, dass ich 15 Tage in dem Hotel übernachtete, in dem er abgestiegen war. Ade Studium und auch Kolloquien – aber vielleicht habe ich mehr davon profitiert als von den Büchern. Man sprach bis tief in die Nacht eher über die Zukunft als über die Vergangenheit. Wenn ich nicht irre, können wir keinen besseren Bischof haben, in jeder Hinsicht. Wer sagt, er sei ein Deutscher, der kennt ihn nicht und weiß nichts von den mutigen Stellungnahmen, die er dem Statthalter gegenüber abgegeben hat, Stellungnahmen, die ihn fast den Bischofssitz gekostet hätten. Auch in allem anderen könnte ich mir keine beherzteren und moderneren Ideen wünschen. Der Mann hat noch viel Energie in sich, von der wir nichts ahnten – und er nutzt sie“.

Schon diese Worte lassen erahnen, dass die Ernennung von Don Celestino Endrici einige Debatten in katholischen Kreisen ausgelöst hatte. Interessant ist der Vorwurf gegen den Prälaten, er sei „deutsch“, was De Gasperi nach der sicher nicht ganz einfachen Begegnung des Kandidaten mit dem Statthalter von Tirol für unbegründet hält: In der Tat wird sich Endrici, wie noch zu sehen sein wird, mit Nachdruck für die Verteidigung der italienischen Identität einsetzen. Komplizierter ist es, das Spiel der Verbündeten und der 106 Das bezieht sich auf den XIX. Kongress der italienischen Katholiken, dem der Graf Grosoli vorstand und auf dem sich der Flügel Murris mit Nachdruck behaupten sollte. Der Brief findet sich im Anhang von L. Bedeschi, Il giovane De Gasperi, S. 119-120. 107 Der handgeschriebene, vierseitige Brief befindet sich im AMRDG und trägt das Datum „28. I. ’05“. Es handelt sich offensichtlich um einen Fehler, der wohl der Aufregung geschuldet ist: In diesem Brief ist ausführlich die Rede von der Ernennung und Weihe des Bischofs Endrici – im März 1904 abgeschlossen –, sowie von zukünftigen Ereignissen. Erstaunlicherweise wurde dieser Fehler von denjenigen, die diesen Text bereits verwendet haben, nicht bemerkt.

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Gegner108 zu durchschauen. Er schreibt: „Was E. im Vergleich mit Don G. einbüßt (Kommunikationsfähigkeit), gewinnt er durch Weitblick, den er seiner Erfahrung zu verdanken hat – der Don G. weitgehend zu fehlen scheint“. Es dürfte sich hier um Don de Gentili handeln (wie Endrici Absolvent der Gregoriana), und mit „fehlender Erfahrung“ wird die als Seelenhirte gemeint sein, denn de Gentili hatte vornehmlich in Redaktionen (er war zu diesem Zeitpunkt Direktor der „Voce Cattolica“) und in der politischen Organisation gearbeitet109; wie diesen Anmerkungen zu entnehmen ist, gehörte er zu den … Anwärtern. Auch der „Sarkasmus“ bezüglich der Erwartungen eines „Don B.“ wird erwähnt. Wer damit gemeint sein könnte, ist nicht ganz klar. Im Einführungsessay der kritischen Ausgabe der „Scritti“ von De Gasperi hatte man die Vermutung angestellt, es könne sich um Don Segatta handeln, der in anderen Briefen unter dieser Abkürzung auftauchte („Don Bepo“), in dem Versuch, eine interne Erklärung für diese Gegenüberstellung zu finden110. Allerdings überzeugt diese Erklärung nicht mehr, da Don Segatta gar nicht über die Voraussetzungen verfügte, die „Hoffnungen“ auf eine Ernennung zum Bischof gerechtfertigt hätten. Heute scheint es wahrscheinlicher, dass sich hinter dieser Abkürzung Don Baldassarre Delugan verbirgt (hier wäre der Vorname abgekürzt und nicht der Nachname, wie es bei de Gentili eindeutig der Fall ist): Bei ihm handelte es sich um einen bedeutenden Prä108 Zu polemischen Kontroversen hatte der Umstand geführt, dass der Vatikan weniger die Vorschläge des Domkapitels von Trient berücksichtigte als die Kandidaten, die von den anderen Bischöfen der Provinz vorgeschlagen worden waren, so wie es das Konkordat von 1855 vorsah. Daher rührte möglicherweise der Vorwurf, er sei ein „deutscher“ Bischof. 109 Viele Jahre später, und zwar genau am 4. Februar 1953, sollte De Gasperi in einem Gespräch mit Mario Rossi (Präsident der italienischen Jugend der Katholischen Aktion) an den Trentiner Geistlichen erinnern: „Als ich 24 Jahre alt war, arbeitete ich in der Zeitung von Trient und hatte Monsignore Gentili als Direktor, einen hochgebildeten Mann, der aber zugleich von beispielloser Härte war. Es war nicht leicht nachzuvollziehen, wie dieser weite kulturelle Horizont in einem derart rigiden Knochengerüst eingefasst sein konnte. Ich musste viel Geduld aufbringen, um meinen Platz in einer derart widersprüchlichen Welt zu finden“; zitiert nach M. Rossi, I giorni dell’onnipotenza. Memoria di un’esperienza cattolica, Rom 1975, S. 122. 110 Irreführend war das Ende des Satzes: „Grüße mir Don B. und sag ihm diese und auch andere Dinge in meinem Namen“ (in diesem Fall stand B. ganz sicher für „Bepo“ Segatta). Aus diesem Grund hatte man angenommen, dass es sich auch hier um ihn handelte – auch anhand dessen, was die folgende Passage über den Widerstand Don „Bepos“ gegen den Eintritt Alcide De Gasperis in den Journalismus nahelegte: Dass De Gasperis Professor für seinen Schüler möglicherweise eine Zukunft als „Mann der Kultur“ vorgezogen hätte, und dass er nun aber spürte, dass das Aufeinandertreffen zweier tatendurstiger Temperamente wie das Alcides und das des neuen Bischofs eine ganz andere Zukunft entwarf. Das sind zwar nur Vermutungen ohne Quellennachweise, doch die Interpretation, dass mit „Don B.“ Baldassare Delugan gemeint sei, überzeugt heute eher.

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laten, Dekan im Fassatal und seit 1902 Parlamentsabgeordneter. Er war eine Schlüsselfigur in der katholischen Bewegung, in deren Führungsorganen er saß, und 1905 wurde er Kanoniker im Domkapitel Trient (vielleicht um die missglückte Wahl zum Bischof zu kompensieren). De Gasperi tritt entschieden für Endrici ein und erklärt auch, weshalb. „Ich bin völlig überzeugt, und mein sicheres Wissen rührt vom engen Austausch in diesen Tagen her, dass E. der Mann der Stunde ist, mehr, als jeder glauben mag. Zu meiner Überzeugung kommt vielleicht auch – was schlecht wäre –, dass er mir den Vorschlag machte, wovon ich einst geträumt hatte, gleich nach meinem Doktor der Redaktion der ,Voce‘ beizutreten. Die Sache ist auch finanziell diskutiert worden, natürlich immer vorausgesetzt das nunmehr sichere Einverständnis von Don G. Ich denke, in Don B. einen Widersacher zu haben, doch wenn ich den Weg frei finde, werde ich ihn einschlagen, wenn ich mich nicht schon auf ihm befinde“.

Während er auf die Bischofsernennung wartete (sie fiel auf den 6. Februar 1904), sinnt De Gasperi über die Bischofsweihe nach, zu der es, so hofft er, noch vor Sankt Josef (19. März) kommen werde (in der Tat fand sie am 13. März in der Kirche des Collegium Germanicum in Rom statt)111 und anlässlich derer „er gesagt hat, dass er mich dabei haben möchte“. Das konnte seinen Studienplan beeinträchtigen, doch „Commer hat mir gesagt, dass es Studiensemester weiterhin geben wird, solche Gelegenheiten aber nicht wiederkommen“112. Wir stehen vor einem Wendepunkt im Leben von Alcide De Gasperi: Seine Zukunft entwickelt sich nicht nur in Richtung Journalismus, dieses „den Schreiberling geben“, wie er diese Tätigkeit einmal augenzwinkernd beschrieben hat113, sondern auch in Richtung politischer Aktivität – angesichts der Tatsache, dass sich der neue Bischof nicht nur in einer ausgesprochen komplizierten Lage befand, sondern es ihn darüber hinaus auch drängte, sich aktiv ins Geschehen einzumischen. Was Tirol betraf, war es bestimmt kein reiner Zufall, dass der Provikar für den deutschen Teil der Diözese von Trient, Monsignore Josef Hutter, Siehe hierzu S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 275-276. Interessant ist diese Anmerkung zu Commer, der für die Weihe ebenfalls nach Rom reisen wollte: „Armer Professor. Er ist krank, und die Arbeit geht nicht voran [sic]“. Gesundheitliche Probleme veranlassen Commer, in den Ruhestand zu gehen, wodurch der Kontakt zum jungen De Gasperi quasi vollständig abbrechen sollte. De Gasperi wiederum sollte im Lauf eines Jahres völlig von seiner neuen „politischen“ Rolle vereinnahmt werden. 113 So drückt er es in einem Brief an Bischof Endrici im Jahr 1913 aus, in dem er von einem gewissen Don Fiorilli spricht, einem Kaplan aus Arco, dem er angeboten hatte, in der Redaktion des „Trentino“ „die Drecksarbeit zu machen“; vgl. Trento, Archivio Diocesano Tridentino (künftig ADT), Acta Episcopi Endrici (künftig AEE), 1913, Nr. 307. 111 112

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dem neuen Papst in Rom am 12. März 1904 einen Besuch abstattete. Er kam zusammen mit dem Tiroler Landeshauptmann Theodor von Kathrein und dem Landtagsabgeordneten Baron Francesco de Moll, um den Papst von der schwierigen Lage im deutschen Teil der Region in Kenntnis zu setzen, die von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Christlichsozialen und konservativen Katholiken geprägt war. Kathrein war ein moderater Konservativer (auch der italienischen Seite gegenüber recht aufgeschlossen) und Präsident einer Art „Friedenskonferenz“; ein Organismus, den sich die Bischöfe der Region gewünscht hatten, um die Einheit der Katholiken wiederherzustellen. Papst Sarto fand letztlich wohlwollende, aber vage Worte für sie und forderte sie auf, Vertrauen zu den Bischöfen zu haben (aber er klagte auch darüber, dass der Modernismus beim Aufruhr des jungen Klerus gegen die Autoritäten seine Finger im Spiel hatte). Bischof Endrici hatte die Begegnung befürwortet und wollte zugegen sein, als dieselbe Gruppe zwei Tage später ihre Probleme auch dem vatikanischen Staatssekretär Kardinal Merry del Val vortragen sollte. Tags zuvor war der Bischof ebenfalls von Pius X. empfangen worden, zusammen mit einer Delegation von Trentinern, unter denen sich auch Alcide De Gasperi befand114. Kaum hatte der eben ernannte Bischof die Bühne betreten, ging ein Ruck durchs Trentino, was sogleich in einem Interview deutlich wurde, das er am 23. März der Tageszeitung „L’Alto Adige“ gab (auch in der „Gazzetta di Venezia“ veröffentlicht)115. Es interviewte ihn der Direktor der Zeitung, Graf Franquinet de Saint-Remy, der sofort merkte, dass er es mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit zu tun hatte: „ein Mann mit moderneren Ansichten als bisher vermutet … Insgesamt eine würdevolle und energische Erscheinung: vielleicht sogar ein wenig zu energisch“116. Im Gespräch wollte Endrici den Eindruck mildern, ein „sehr kämpferischer und unnachgiebiger“ Mann zu sein: „Glauben Sie mir, ich bin in der Vergangenheit sehr schlecht beurteilt worden und ein vollkommen haltloses Gerücht hat sich über S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 276-278. Ebd., S. 279-280 (ich zitiere aus dieser Quelle). 116 An diese Energie von Endrici erinnerte auch Alcide De Gasperi in einem Artikel, den er mit dem üblichen Pseudonym „G. Fortis“ unterschrieb: Nel XXX di episcopato di mons. Celestino Endrici, in: Vita Trentina, 15. März 1934 (die Wochenzeitschrift der Diözese, die De Gasperis Freund Don Giulio Delugan leitete). Hier erinnert er sich, im letzten Studienjahr „einem Mann [begegnet zu sein], der ein großes Gewicht in seiner geistlichen und politischen Bildung haben musste“. Und er fügt hinzu: „Auf einer Universitätstagung hinter dem Tisch des Vorsitzenden sprach Don Celestino, hochgewachsen und mit breiten Schultern, wobei er jeden Satz mit einem Schlag auf den Tisch bekräftigte. Diese erste Lektion des geistlichen Assistenten blieb mir ins Gedächtnis eingebrannt, denn sie war von einer einzigen Idee beherrscht, immer wieder eingehämmert mit einer nackten und unausweichlichen Logik: Charakter. Charakter haben, Charakter zeigen, den eigenen Charakter wahren“. 114 115

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mich verbreitet“. Woran dem Direktor des Traditionsblattes des Trentiner Liberalismus aber am meisten lag, war natürlich die Frage nach der Politik beziehungsweise der Position, die der neue Bischof im Kampf um mehr Autonomie einnehmen würde. Nach der Aussage, dass er sich als Landtagsabgeordneter (ein Amt, das ihm automatisch von Rechts wegen zustand) „aufgrund meiner Rolle als Pastor überparteilich“ verhalten würde, ließ er es sich nicht nehmen, klare Worte zu sprechen. „Ich werde ein unermüdlicher Verfechter der Autonomie des Trentino sein, denn ich bin vollkommen überzeugt davon, dass dieses Volk, italienisch in Gebräuchen, Sprache und Traditionen, auch im Hinblick auf seine Interessen das Recht hat, sich selbst zu verwalten. Dazu habe ich in Wien nicht geschwiegen. Auch was das Universitätsproblem betrifft, werde ich alle meine Kräfte einsetzen, damit es zugunsten der Ansprüche der Italiener gelöst wird, nicht nur im Hinblick auf die Einrichtung einer rechtswissenschaftlichen Fakultät, sondern auch und noch stärker, auf die Einrichtung einer philologischen Fakultät, die, indem sie gute Lehrer ausbildet, das verhindert, was sich heutzutage bedauerlicherweise nicht selten offenbart: dass Lehrer Italienisch unterrichten, die Italienisch nur in … sehr begrenztem Maße beherrschen“.

Deutliche Worte, auf die alarmierte Reaktionen wahrscheinlich nicht ausblieben, auch wenn man bedenkt, dass die Spannungen zwischen den katholischen Gruppierungen in Tirol anhielten, was in Wien Anlass zu großer Sorge gab. Das Problem Universität wurde immer dringlicher und verstärkte die nationalen Spannungen immer weiter, denn die Frage ihres Standorts verkomplizierte die Angelegenheit noch weiter. Die Italiener wollten sie in Triest (man war auch bereit, sie finanziell zu unterstützen), was die Reichsregierung jedoch strikt ablehnte. In der komplizierten Landschaft des Habsburgerreichs war Triest ein noch heikleres Terrain als das Trentino, denn die Stadt verfügte über den einzigen großen Hafen, der dem Reich noch verblieben war (und was das in Zeiten vom Mythos großer Meeresmächte bedeutete, wird man sich vorstellen können). Zudem war sie ein pulsierendes Herz der Finanz- und Kapitalwelt117. Sie als „italienische Stadt“ auszuweisen, hätte bedeutet, die Rechte der Habsburger Souveränität symbolisch zu schmälern. Die Tatsache, dass sich die Stadt an der Grenze zur unruhigen Welt der Südslawen befand, die ihrerseits auf der Suche nach kultureller Anerkennung in Sachen Bildungswesen waren, machte die Situation noch komplizierter. Es hatte Vermittlungsversuche gegeben und man hatte einen alternativen Universitätssitz im Trentino vorgeschlagen: Die Antwort darauf gab die

117 Vgl. die genannten Daten zur Entwicklung Triests in A.J. May, La monarchia asburgica, S. 469-471.

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kompromisslose Haltung der Studenten unter dem Einfluss des Radikalnationalismus mit dem berühmten Schlagwort „O Trieste o nulla“. Im März 1904 versuchte es die Regierung noch einmal und schlug vor, die italienische Fakultät der Rechtswissenschaften in Rovereto einzurichten. Man hoffte wohl, dass diese Aussicht für die Wahldomäne des Barons Malfatti, eines Liberalen und altbewährten Protagonisten der italienischen Repräsentation in Landtag und Parlament, den Lokalstolz anstacheln und somit die Pattsituation auflösen würde. Doch dem war nicht so, und die Lage blieb weiterhin vollkommen verfahren. In der Zwischenzeit hatte sich in der politischen Landschaft Trients, wo De Gasperi mittlerweile seinen Wohnsitz hatte, etwas verändert118: Bei den Kommunalwahlen vom März 1904 waren die moderaten Liberalen geschlagen und von einer neuen Mehrheit ersetzt worden, einem radikal-sozialistischen Bündnis unter Führung des Anwalts Giuseppe Silli. Battisti sprach mit überschwänglicher Begeisterung von einem „Trentiner Frühling“. Tatsächlich war nicht zu übersehen, dass der Trentiner Liberalismus fest entschlossen den Weg des antiklerikalen Radikalismus eingeschlagen hatte. Wahrscheinlich hatten gerade die jüngeren Mitglieder dazu beigetragen – sie spürten die Konkurrenz der katholischen Bewegung und drängten als Reaktion darauf, ein eigenes, entgegengesetztes Profil zu entwickeln. Diese Veränderungen bewirkten eine Beschleunigung der politischen Organisation der Katholiken – umso mehr, als sich im August 1904 bei einer Zusatzwahl des Repräsentanten aus dem Wahlbezirk der Talschaft Valsugana für den Landtag in Innsbruck die Liberalen aus einem Übereinkommen lösten, das mit den konservativen Klerikalen bestanden hatte. Nach diesem Übereinkommen hatten sie die Wahlbezirke untereinander aufgeteilt, um einander keine Konkurrenz zu machen, und das Valsugana war demnach ein Bezirk der Klerikalen. Doch diesmal stellten die Liberalen einen eigenen Kandidaten auf, G. D’Anna, der am Ende auch gewählt wurde119 – ein deutliches Anzeichen dafür, dass sich die Politik im Trentino verändert hatte. Endrici ließ keine Zeit verstreichen, und am 28. August schrieb er einen Brief an das Diözesankomitee für die Azione Cattolica, in dem er darauf drängte, dass man sich um die Aktivierung einer Società Politica Popolare 118 Nach der Pensionierung des Vaters Amedeo war die Familie in die Regionalhauptstadt umgezogen, wo jener eine kleine Anstellung in der Einkaufsabteilung der Föderation der genossenschaftlichen Konsortien innehatte. Zunächst wohnten sie in der Casa Menestrina (Vicolo Bellesini), dann in der Casa Triangi in der Via Belenzani. So steht es in den Memoiren des Anwalts M. Dematté, Alcide De Gasperi all’alba del XX secolo, S. 10. 119 Man beachte die Proportionen dieser „Gegenüberstellung“, die heute unvorstellbar wären: D’Anna gewann mit 38 Stimmen bei 63 Wählern.

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bemühen möge (was man sich ja schon auf dem Kongress von 1902 zum Ziel gesetzt hatte), und dazu die „Konservativen“ zur Beteiligung aufforderte. Umgehend veröffentlichte „La Voce Cattolica“ am 31. August einen Appell zur Bildung der Vereinigung und schlug ein Statut vor. Wie präpariert das Terrain und wie reif die Entscheidung war, zeigt ein Brief von Enrico Conci, der ebenfalls am 31. August in „La Voce Cattolica“ erschien. Conci, der gemeinhin als „katholisch-national“ und konservativ galt (auch wenn diese Beschreibung nicht zutrifft), erklärte sich in dem Schreiben „aufgrund der Notwendigkeit einer starken politischen Organisation, die in der Lage ist, vor jedweder Unwägbarkeit zu schützen“, zum sofortigen Eintritt in die neue Vereinigung bereit. Die organisatorischen Aktivitäten der Parteigründung schritten rasch voran und am 19. Oktober fand die konstituierende Versammlung der Unione politica popolare del Trentino statt: Zum Gründungskomitee gehörte Bischof Endrici, Präsident war Don Baldassarre Delugan, und unter den Beratern war auch Alcide De Gasperi120. Da tauchte der Name des jungen Studentenführers wieder auf, um den es im Jahr 1904 recht still gewesen war (ein Jahr, in dem er auch wenig schrieb): Wahrscheinlich hatte Endrici ihn gemahnt, seine Studien mit der Aussicht auf seine Vollzeitanstellung als Journalist zu beschleunigen – eine Tätigkeit, die sich in der Zwischenzeit noch besser für ihn entwickelt hatte. Am 4. Oktober 1904 wurde so ein Arbeitsvertrag zur „Einstellung von Hrn. Alcide Degasperi als Direktor“ aufgesetzt – natürlich bei „La Voce Cattolica“. Der Vertrag „beginnt einen Monat nach Abschluss des Studiums von Hrn. Alcide Degasperi an der Universität zu Wien“121. Doch scheint es, dass er schon seit dem 7. Juni als Redakteur für „La Voce Cattolica“ arbeitete, zumindest nach Flaminio Piccoli, der ihn im Mai 1954 anschrieb, weil er ihm ein Fest zu seinem fünfzigjährigen Jubiläum als Journalist ausrichten wollte, und der dieses Datum anhand „unserer Nachforschungen“122, die er nicht näher definierte, herausgefunden hatte. Offenbar machte es die Wende in der politischen Organisation erforderlich, dass sich de Gentili (der ins Parlament gehen sollte) stärker für sie einsetzte. Und Endrici wollte seinen Schützling in den ersten Reihen sehen. Dieser rasante Aufstieg eines Dreiundzwanzigjährigen wird sicherlich einigen Protest hervorgerufen haben; immerhin war er der Einzige seiner Generation (und auch der vorherigen und der nachfolgenden), der sich derart schnell 120 Zu diesen Ereignissen siehe G. Betta, Il movimento cattolico, S. 75-76; G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica, S. 520-523. 121 Der Vertrag befindet sich im AMRDG, er ist aber schon bei G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica, S. 543 Anm., zitiert. 122 Vgl. De Gasperi scrive, S. 411.

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behaupten sollte. Auch das wird zur „Einsamkeit“ von De Gasperi in seinem Umfeld geführt haben. Diese Entwicklung sollte sich jedoch mit der höchst angespannten Lage in der Universitätsfrage verknüpfen. Der deutsche Nationalismus hatte unter den Studenten und Dozenten der kleinen Innsbrucker Universität viele Anhänger (vielleicht weil sie die Konkurrenz vonseiten italienischer Professoren fürchteten, die aus dem „Reich“ kamen): Am 24. Juni 1904 hatten die Studenten auf einer Versammlung, an der auch der Rektor Demelius teilnahm, ihre Ablehnung von Seminaren in italienischer Sprache zum Ausdruck gebracht123. Doch die Zentralregierung, die im ständigen Versuch mal hier, mal dort, mit dieser oder jener Minderheit parlamentarische Allianzen zu bilden, ein Übereinkommen mit den Italienern suchte (ein Thema, auf das im Folgenden noch näher eingegangen wird), entschied sich am 22. September für den provisorischen Sitz einer italienischen Fakultät der Rechtswissenschaften in Wilten, einem Vorort von Innsbruck. Am 27. Oktober beschloss der Gemeinderat von Innsbruck – in dem die nationalistischen Liberalen dominierten – einstimmig seinen Protest gegen die Vorlesungen auf Italienisch, die eine „Beleidigung für den deutschen Charakter der Stadt“ seien. In diesem Klima kam es bei der Einweihungsfeier der italienischen Fakultät am 3. November in Wilten, zu der italienische Studenten aller Universitäten des Reichs gekommen waren, zu einem Angriff deutscher Studenten, der zum Teil von der lokalen Bevölkerung unterstützt wurde. Die Attacken auf die Italiener waren außerordentlich gewalttätig, sodass das Militär einschreiten musste, was es allerdings auf sehr parteiische Weise tat: So wurden die Italiener zwar vor der physischen Gewalt der Deutschen geschützt, dafür aber wegen Anstiftung zum Aufruhr verhaftet. Unter den Festgenommenen befanden sich auch Cesare Battisti (der kein Student mehr war) und Alcide De Gasperi, der als Vorsitzender der AUCT an der Veranstaltung teilnahm124. Die „fatti di Innsbruck“, wie der Vorfall genannt werden sollte, lösten im Trentino wie in ganz Italien große Empörung aus125; sie offenbarten ganz deut123 Man sprach von einem Versuch der „utroquizzazione“ [Verdoppelung = das eine wie das andere, Anm. d. Übers.] der Universität Innsbruck, in einer Parallele mit früheren juristischen Examensabschlüssen, die im kirchlichen Bereich in utroque iure – also im kanonischen und im bürgerlichen Recht verliehen wurden. 124 Die radikalnationalistische Aufheizung der Massen äußerte sich darin, dass man Steine auf das Haus des Statthalters Schwartzenau (dem man vorwarf, zu nachgiebig mit den Italienern zu sein) und auf das seines Schwagers Graf Trapp warf. Bei diesen Zwischenfällen gab es auch einen Toten, den ladinischen Maler Pizzei, der unter ungeklärten Umständen auf den Bajonettspitzen der Truppen endete. 125 Siehe dazu die berühmte Zeichnung von R. Salvadori, die in der „Illustrazione Italiana“ vom 13. November 1904 erschienen war und abgedruckt ist in M.R. De

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lich, wie es mittlerweile um den Konflikt zwischen den Nationalitäten stand, sowohl im Inneren von Cisleithanien, wie auch in Tirol. Bezeichnenderweise stürzte am 31. Dezember 1904 die Regierung Körber, der letzte Versuch eine „kaiserliche“ Regelung des Habsburgischen politischen Universums zu finden. Als er nach einem Monat aus dem Gefängnis entlassen wurde, sah sich der junge De Gasperi aus einer Position heraus mit dieser neuen Lage konfrontiert, die für ihn nicht mehr die eines zukünftigen katholischen Intellektuellen sein konnte. Von nun an sollte er in jeder Hinsicht ein politischer Aktivist werden.

Gasperi / P.L. Ballini, Alcide De Gasperi. Un europeo, S. 74. Im Trentino hatte es eine kurze „heilige Union“ gegeben, um mit einer Kundgebung am „Verdi-Theater“ in Trient die Verhafteten zu unterstützen, an der Conci für die Katholiken teilnahm. Conci spielte in Wien längst eine wichtige Rolle (er hatte direkt mit Körber verhandeln können, wenn auch ohne großen Erfolg). Conci hatte es sich nicht nehmen lassen, die wütende anti-italienische Kampagne der Tiroler Journalisten anzuprangern, aber er hatte auch zur Mäßigung bei den Gegenmaßnahmen gemahnt, denn ihm war sehr wohl bewusst, dass man dieser Stimmungslage realistisch begegnen musste.

Drittes Kapitel

Die Arbeit eines politischen Aktivisten (1905-1909) Zu Beginn des Jahres 1905, genauer gesagt am 12. Januar, schrieb De Gasperi an Bischof Endrici und erklärte ihm seine Situation: „Ich stecke im Studium fest, kann aber noch nicht zurück an die Universität, denn merkwürdigerweise hat man weder gegen mich noch gegen den Romani1 von einem Prozess abgesehen“. Nachdem er ihm mitgeteilt hatte, dass Commer erkrankt war, erkundigte er sich nach der Gesundheit des Bischofs in Anspielung auf eine Grippe, die gerade kursierte: „Dass der Himmel Sie lange als Oberhaupt der Diözese erhalten möge, den Hüter jener Ziele, aus denen nur wir Weltliche eine christliche Gesellschaft gewinnen können. Unsere Arbeiterorganisationen sind im Niedergang begriffen, in unserer Bewegung ist ein gefährlicher Stillstand eingetreten, die breite Beteiligung am öffentlichen Leben – um dieses irgendwann zu beherrschen – steckt in den Anfängen. Doch bei den jungen Studenten hält sich beharrlich die Erinnerung an den alten Löwen, und die Ideale, die seine Enzykliken zum Leuchten gebracht haben, werden nicht erlöschen. Sobald das Studium beendet ist, beginnt die Arbeit, und uns allen wird es eine Ehre sein, zu wissen, dass der Bischof unser Tun gutheißt“.

Diese Sätze sollten parallel zu dem gelesen werden, was De Gasperi am Tag zuvor in „La Voce Cattolica“ veröffentlicht hatte2. Es handelte sich um einen Korrespondentenbeitrag aus Wien: Darin lobte er die groß angelegte Kampagne der katholischen Organisationen Österreichs gegen die blasphemischen Äußerungen in den Zeitungen, den kontinuierlichen Angriffen gegen die katholischen Dogmen und Glaubensgrundlagen. Ein Anklagepunkt war die „Pressefreiheit“, in der man natürlich eine Begünstigung der Juden 1 Es handelt sich um Pietro Romani, Sohn einer wohlhabenden Familie aus Borgo Valsugana und nur wenig jünger als De Gasperi (Jahrgang 1885). Auch er war ein Aktivist in der katholischen Bewegung des Trentino. Damals studierte er noch an der Diplomatischen Akademie Wien (anschließend sollte er nach Genf gehen, wo er an der Wirtschaftsuniversität seinen Abschluss machte und weiter nach Rom, wo er ein Jurastudium absolvierte). Wegen seiner Teilnahme an pro-irredentistischen Aktionen war er mit der Polizei in Konflikt geraten. Nach dem Krieg heiratete De Gasperi eine seiner Schwestern, Maria Francesca Romani. 2 Grandiosa Protesta, in: La Voce Cattolica, 11. Januar 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 315-319.

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sah3. Die Kampagne wurde mit einer großen Kundgebung abgeschlossen: „Es war ein Menschenmeer, und mehr noch als darauf zu achteten, wer anwesend war, musste man ernsthaft aufpassen, nicht zerquetscht zu werden“. Natürlich war auch Wiens Bürgermeister Lueger zugegen, „der christliche Held, der Wien vom jüdischen Joch befreite“. Hier interessiert in erster Linie, wie sich zwischen den Zeilen das Programm De Gasperis als Agitator in dieser neuen Phase herauskristallisiert. „Dr. Lueger sagt, wenn man wolle, dass die Gesetze respektiert werden und ihre Früchte tragen, sei es notwendig, dass sich die Katholiken die öffentliche Macht aneignen … Sie müssen darauf dringen, dass Richter und Minister sie respektieren, andernfalls müssen sie sie zwingen zu gehen und Männer heranziehen, die diese Posten ehrenvoll bekleiden können. Kurz, es ist notwendig, zu handeln und sich zu erheben: Die Welt ist dem, der arbeitet“ (eigene Hervorhebung, P.P.).

Auch wenn es hier augenscheinlich um das Programm Luegers geht, das De Gasperi den Österreichern präsentiert, gibt es kaum Zweifel daran, welche generellen Auswirkungen es hatte. Zudem steht De Gasperi in Kontakt mit den christlichsozialen Kreisen, deren wachsende Bedeutung ihm sehr wohl bewusst ist. In einem Brief an seinen Bischof vom 22. März 19054 macht er sich zum Überbringer einer Bitte Funders an den Bischof von Trient, er möge den Christlichsozialen helfen, die „aufgrund der Normen, die für die italienische DC aufgestellt worden sind“, eine päpstliche Ablehnung befürchten. An der Wiener Parteispitze glaubt man, dies sei auf den negativen Einfluss Tirols auf den Vatikan zurückzuführen, und auch auf den neuen Nuntius, „welcher die christlichsoziale Partei nicht mit denselben Augen zu sehen scheint wie seine Vorgänger, eher stimmt er mit der persönlichen Meinung der Krone überein“. Und so geht die Bitte an Endrici, sich mit Dr. Gessmann zu treffen, einem der Exponenten der Partei. „Während ich meiner Pflicht als Übermittler nachkomme, erlaube ich mir, meine bescheidene Meinung dahingehend zum Ausdruck zu bringen, dass, egal ob die Mutmaßungen begründet sind oder nicht, eine derartige Unterredung für die katholische Sache von großer Bedeutung wäre, und angesichts der Tatsache, dass die christlichsoziale Partei in Österreich eine große Zukunft erwartet, Ihro Hochwürden in die Lage versetzte, der Kirche einen großen Dienst zu tun“5. 3 Diesmal fand sich unter den polemischen Angriffszielen auch „der jüdische ‚Piccolo‘ aus Triest“: „Sollen sie ruhig aufschreien, die Juden aus Triest und aus Wien; es gibt auch ‚Nichtkatholiken‘, die die Pressefreiheit, so wie sie sich dank Schutz und Protektion von Dr. Körber entwickelt hat, nicht gutheißen“. 4 ADT, AEE, Nr. 238. 5 In Funders Erinnerungen findet sich kein Hinweis auf diesen Vorfall oder auf Endrici. Möglicherweise kam es nicht zu dieser Intervention beziehungsweise hat man gesehen, dass – wie bereits im März 1904 – Pius X. und Merry del Val gar nicht die Absicht hatten, eine Bewegung zu verurteilen, die eine immer größere Rolle in der Habsburger Politik spielte. Die Idee, Endrici anzusprechen, kam wahrscheinlich

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De Gasperi verhält sich längst wie ein politischer Organisator der katholischen Presse – angesichts seiner Position natürlich mit großer Vorsicht. Auch dazu gibt es einen Artikel, der fast ein Aktionsprogramm ist6. Da fällt als Erstes auf, dass sich der Autor zu „Klagebriefen“ äußerte, in denen um die Veröffentlichung von Informationen zu religiösen Feierlichkeiten und Angelegenheiten gebeten wurde. Auch wenn er vorsichtig voranschickt, dass „wir weit davon entfernt sind, uns in der Zeitung nicht mit für das religiöse Leben wichtigen Veranstaltungen befassen zu wollen“, erkennt man sofort, dass das eigentliche Ziel der Aufbau eines großen Presseorgans der Propaganda und der politischen Debatte ist. Daher auch die Aufforderung an die Katholiken, „Zeitungsabonnenten herbeizuschaffen“ und dafür zu sorgen, dass „die katholischen Zeitungen an allen öffentlichen Orten, die wir aufsuchen, zu finden sind“ – eine Aufgabe, die „unseren in den Tälern verstreuten Vereinigungen“ nahezulegen sei. „Wenn die zahlreichen Mitglieder unserer Volksvereinigungen auf diese Weise unsere Presse kennenlernen, wird das sehr vorteilhaft für die Herausbildung einer starken und selbstbewussten Partei sein, deren positiver Einfluss sich bald zeigen wird“.

Gleichzeitig ist De Gasperi aber auch damit beschäftigt, sein Studium abzuschließen beziehungsweise unter Betreuung von Jakob Minor, einem Literaturhistoriker und Goethe- und Schiller-Kenner seine Examensarbeit „Die glücklichen Bettler von Carlo Gozzi und ihre deutsche Bearbeitung“ zu schreiben7. Am 14. Juli 1905 machte De Gasperi schließlich sein Examen, daher, dass er ein Studienkollege von Kardinal Merry del Val gewesen war (letzterer war mit der Lage in Österreich wohlvertraut, zu Beginn seiner Karriere hatte er sich eingehend damit befasst und sogar eine Zeit lang, von 1893 bis 1896, in Wien gelebt). 6 Per la nostra stampa, in: La Voce Cattolica, 28. Januar 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 326-329. 7 Es handelte sich um eine Forschungsarbeit aus der Literaturgeschichte: „Pitocchi fortunati“ des Venezianers Carlo Gozzi war ein szenisches Märchen, das sowohl Goethes als auch Schillers Interesse geweckt hatte. Von Schiller stammt eine deutsche Bearbeitung, die die Grundlage für die Oper „Turandot“ von Puccini werden sollte (die Libretto-Autoren hatten sich die deutsche Fassung von Schiller zur Vorlage genommen und diese von Andrea Maffei ins Italienische übersetzen lassen). Interessant ist, dass dieses Werk von Gozzi/Schiller Anfang des 20. Jahrhunderts einen Moment des Ruhms erlebte: Neben Puccini (dessen Oper aufgrund des Todes des Komponisten 1924 unvollendet blieb) hatte auch Carl Maria von Weber Szenenmusik für den Text komponiert. Und Ferruccio Busoni hatte ihm eine Suite für Orchester gewidmet, die 1917 uraufgeführt wurde. De Gasperi ließ in der „Voce Cattolica“ vom 9. Mai 1905 die Leser ausführlich an den Forschungen für seine Examensarbeit teilhaben, in einem Artikel mit dem Titel „Zum hundertsten Todestag von F. Schiller. Schiller und das Glück eines italienischen Dichters in Deutschland“, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 331-335. Da seine Examensarbeit verloren gegangen ist, ist diese kurze Zusammenfassung alles, was von ihr erhalten blieb;

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wobei sein eigentliches Interesse bestimmt nicht mehr der Literatur und der Philologie galt. Die politische Lage war erneut sehr angespannt, und von dem „Stillstand“, über den er sich im Juni beim Bischof beklagt hatte, konnte keine Rede mehr sein. Der Tiroler Nationalismus nahm weiter zu: Am 7. Mai 1905 wurde auf einer Versammlung in Sterzing, an der 130 deutsche und ladinische Vertreter der Region teilnahmen, der „Tiroler Volksbund“ gegründet, eine Vereinigung, die in der Theorie für die Wahrung der deutschtirolerischen Identität eintrat, in der Praxis aber versuchen sollte, den südlichen Teil Tirols, den sie nach wie vor „Welschtirol“ nannten, zurückzuerobern und zu „germanisieren“. Dieses Ereignis bedeutete eine Wende in den Beziehungen zwischen der italienischstämmigen und der deutschstämmigen Bevölkerung innerhalb der Grafschaft Tirol8. Wie bereits zu sehen war, hatte es auch in der Vergangenheit Initiativen zum Erhalt der „deutschen Sprachinseln“ im Trentino sowie in den Ortschaften mit vorrangig (beziehungsweise vorgeblich) deutschstämmiger Bevölkerung an der Grenze zwischen den Kreisgebieten Trient und Bozen gegeben. Die wichtigste Initiative dieser Art war das 1867 gegründete Comité zur Unterstützung der deutschen Schule in Welschtirol gewesen, das zehn Jahre später in Deutsche Schulgesellschaft umbenannt wurde. Ihm zur Seite entstand der weitaus bedeutendere Deutsche Schulverein (1881), der unter dem massiven Einsatz von Mitteln und Mitgliedern die deutschen Schulen für die deutschsprachige Bevölkerung in den mischsprachigen Gebieten des Reiches unterstützte (nicht nur in Tirol, sondern auch in Böhmen und anderen Gegenden). Hierbei hatte es sich aber um Institutionen gehandelt, die zumindest prinzipiell für das Recht der deutschsprachigen Bevölkerungsteile eintraten, ihre Sprache nicht aufgeben zu müssen, indem sie gezwungen waren, ihre Kinder auf die Schulen anderer vorherrschender Volksgruppen zu schicken. Die Tatsache, dass nun der Nationalismus als Deutschnationalismus stärker um sich griff, gerade auch unter dem Einfluss der Alldeutschen Bewegung aus dem nahen Deutschen Reich, führte zwangsläufig zu einer Verschiebung der Zielsetzung, die immer aggressiver auf eine „Rückeroberung“ von Gebieten ausgerichtet war, in denen aber auch andere Kulturen vertreten waren. Diese Tendenz begann selbst die Behörden Tirols zu beunruhigen: In einem Schreiben vom 31. Januar 1886 an den Ministerpräsidenten Taaffe

vgl. M. Guiotto, Un giovane leader politico, S. 100. 8 Zur Erläuterung dieses Sachverhalts halte ich mich an die herausragende Analyse von D. Zaffi, Die deutschen nationalen Schutzvereine in Tirol und im Küstenland, in: A. Ara / E. Kolb (Hrsg.), Grenzregionen im Zeitalter der nationalismen, ElsaßLothringen / Trient-Triest, 1870-1914 (Schriften des Italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 12), Berlin 1993, S. 257-284.

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hatte sich der Statthalter Widmann über das Verhalten dieser Bünde im südlichen Tirol beklagt, die ihre Wurzeln im benachbarten Reich hatten und die „überall Deutschstämmige“ sahen und versuchten, die italienische Bevölkerung zu erobern, womit sie „nicht ganz mit Unrecht“ den Trentiner Nationalismus gegen sich aufbrachten9. Obwohl es das österreichische Vereinsgesetz vom 27. November 1867 auch unpolitischen Vereinigungen verbot, Vereinssitze im Ausland zu unterhalten, waren die Beziehungen zu Deutschland sehr eng, und mehrere ihrer „Strategen“ waren Deutsche. Der auch aufgrund seiner Veröffentlichungen bekannteste war Wilhelm Rohmeder, der Vorsitzende des bayrischen Vereins für das Deutschtum im Ausland. Unter dem Einfluss dieses aggressiven und radikalen Nationalismus war es zur Gründung des Tiroler Volksbunds gekommen, auf dessen Einweihungsfeier bekannte Tiroler Politiker zugegen waren, von den Liberalen Erler und Perathoner, dem Nationalisten Wenin bis hin zu Schöpfer aus den Reihen der Christlichsozialen sowie dem Konservativen Wackernell, der zum Präsidenten gewählt wurde10. Noch interessanter war die aktive Mitgliedschaft von sieben Geistlichen. Es war neu, dass Exponenten des Katholizismus zum Thema Nationalismus Stellung bezogen (bis dahin hatten sich die Tiroler Katholiken mit anderen Fragen befasst). Neu war auch, dass sich der deutsche Klerus in den Kampf um die kulturelle Identität einmischte, in den der Trentiner Klerus dagegen schon seit geraumer Zeit involviert war. In diesem Zusammenhang darf man nicht vergessen, dass das Scheitern des Autonomiekompromisses von 1899-1902, von dem hier bereits die Rede war, auch das Werk der Vorreiter dieser Organisation11 gewesen war, die mehrere Gemeinden dazu veranlasst hatten, „Petitionen“ gegen die Kompromisslösung einzureichen. Was man unter „nationale Tiroler Gemeinschaft“ zu verstehen hatte, lässt sich leicht einem Kalender der Vereinigung entnehmen. Darin wurde behauptet, dass auch „jene Tausende, welche im Umgange italienisch sprechen, nur zum kleinsten Teile Italiener im Rassensinne, d.h. Angehörige des italienischen Volkes in geschichtlicher Zitiert aus D. Zaffi, Die deutschen nationalen Schutzvereine, S. 272. Rohmeder hatte das Amt abgelehnt, um keine Ressentiments zu wecken, (schließlich war er ein „Fremder“), und so begnügte er sich mit der Rolle des Vizepräsidenten, auch wenn er bekanntermaßen der Ideologe der gesamten Unternehmung war. 11 Wilhelm Rohmeder hatte den Protest der „Sprachinseln“ in seiner Schrift „Das Fersenthal in Südtirol“, Freiburg i.Br. 1901, als spontane Aktion dargestellt. Aus dem Gesamtkontext lässt sich allerdings ganz klar schließen, dass es sich um eine von den deutschnationalistischen Vereinen initiierte Operation gehandelt hatte. 9

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und volkskundlicher Beziehungen [seien]. Die weitaus größte Zahl derselben ist deutscher oder rätischer Abstammung“12.

Der Tiroler Volksbund hatte einen beachtlichen Erfolg, wenn man bedenkt, dass er drei Jahre nach seiner Gründung schon 16.000 Mitglieder und 171 Vereinsvertretungen zählte – und das, obwohl ihm anfänglich mit Misstrauen begegnet worden war und die wichtigsten Vereine zur „nationalen Wahrung“ schließlich (auf dem Kongress von 1908) von ihm Abstand nahmen. Man teilte das überzogene Ziel einer „Regermanisierung“ der Gebiete nicht, da man sich sehr wohl darüber im Klaren war, wie heikel ein solcher Vorstoß im stets gefährdeten Gleichgewicht der Nationalitäten im Habsburger Vielvölkerstaat war. Die nationale Frage erlangte damals ein enormes Gewicht und sie stand in engem Zusammenhang mit dem Entstehen der modernen Wissenschaften auf anthropologischem, geographischem und literarischem Gebiet. Es ist hier nicht möglich, die sehr vielschichtige Debatte nachzuzeichnen, die manchmal geradezu lächerliche Züge annahm, etwa zur Schädelform innerhalb der Region, um eine Zuordnung nach germanischen oder ladinischen Typologien zu ermöglichen, zu den volkstümlichen Traditionen, den Märchen, zur Toponomastik, zu einer Neuinterpretation der Geschichte (von der römischen zur mittelalterlichen und neuzeitlichen) auf der Suche nach Begebenheiten, die man als Beweis germanischer oder romanischer (italienischer) Ausrichtung neu zu deuten versuchte, kurz zu allem, was die Italienisch sprechende Bevölkerung eigentlich längst als „das Trentino“ definierte13. Die Universitätsfrage war eng mit dieser Debatte verknüpft, wie überhaupt mit der allgemeinen Entwicklung der Habsburger Politik, in der sie nach wie vor eine wichtige Rolle spielte. 12 Zitiert nach D. Zaffi, Die deutschen nationalen Schutzvereine, S. 275. Diese Auffassung entsprang den mutmaßlich historischen Grundlagen, die Rohmeder lieferte. Er hatte versucht, in seinem Buch „Das Deutschtum im Südtirol“ (München 1932) zu beweisen (mit einer entsprechenden Karte im Anhang), dass es zu jener Zeit nur eine winzige italienische Sprachinsel an der südlichen Grenze zu Venetien gegeben hatte, während das übrige Trentino, wie er meinte, vielerorts (vor allem in den städtischen Zentren) von „Raeto-Ladinern“ bewohnt gewesen sei, die sich mit den „Deutschen“, die die Mehrheit bildeten, vermischt hätten. 13 Einige dieser Argumente sind hier bereits vorgestellt worden anhand der Arbeit von M. Nequirito, Dar nome a un volgo. Sie lassen sich vornehmlich in den Achtzigerjahren beobachten: Von da an entwickelte sich wieder ein sehr lebhaftes Interesse an diesem Thema, an Volksliedern oder an Gedichten in Mundart (bzw. in den verschiedenen Mundarten, die es im Trentino gab). Einen Überblick zum Thema Identität bietet L. Blanco, Storia ed identità culturale in una regione di confine: Il Trentino-Alto-Adige/Südtirol, in: Scienza & Politica, 34 (2006), S. 121-140; zu den Volksliedern siehe Q. Antonelli, Le origini della coralità alpina fra storia e leggenda, in: C. Ambrosi / B. Angelici (Hrsg.), La SAT: Centotrent’anni: 1872-2002, Trient 2002, S. 261-274.

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Ernst Körbers Regierung stellte einen besonderen Versuch dar, das politische System des Habsburgerreichs zu ordnen, dessen Schwachstellen sich bereits angesichts von Badenis Sprachenverordnungen offenbart hatten. Körber – nebenbei sei daran erinnert, dass er 1850 in Trient geboren war, auch wenn darüber hinaus keine Beziehungen zur Stadt bezeugt sind – musste nach dem Urteil eines Historikers als „der herausragendste Vertreter der josephinischen Verwaltungstradition“14 betrachtet werden. Er war überzeugt, dass der klassische Parlamentarismus auf Österreich nicht anwendbar sei, dass es vielmehr drei Richtlinien zu folgen galt: einem starken Zentralismus, der auf dem monarchischen Prinzip als einzigem Bindemittel zwischen den verschiedenen Völkern basierte; einer funktionstüchtigen Bürokratie, die eine groß angelegte Modernisierung, wie sie das Reich brauchte, vorantreiben konnte; einem Parlament als Organ des Ausgleichs, in dem die Nationalitäten mit der Regierungsverwaltung in Kontakt kamen und wo man die für die Modernisierung geeigneten Investitionen aushandeln konnte. Drastisch gesagt war hier von einem System die Rede, das sich über die Verteilung öffentlicher Mittel und Eingriffe legitimierte. Doch wäre das ein wenig zu kurz gegriffen. Denn Körber verstand sehr wohl, dass ein großer moderner Staat eine zentral einigende Kraft brauchte, und er glaubte, diese im Heer gefunden zu haben. Dieses verbindende Element konnte sich in einem Staat, der – was Körber unumwunden zugab – „nicht auf der nationalen Einheit gründete“ (und deshalb auch keine Parteienregierung nach englischem Vorbild haben konnte, um es deutlich zu sagen) kaum anders manifestieren als im Dienst am Monarchen15. Dieser Vision kam nun aber der Dualismus ins Gehege: Ungarn wollte auf keinen Fall ein konstitutionelles System, das irgendeine – auch noch so abgeschwächte – Form der einigenden Nationalisierung durch das Militär vorsah. Die Verfassungskrise von 1903/0416, an der auch die Außenpolitik 14 Vgl. F. Lindström, Ernst von Körber and the Austrian State Idea: A Reinterpretation of the Körber Plan (1900-1904), in: Austrian History Yearbook, 35 (2004), S. 143-184. 15 „Die Regierung ist keine Partei Regierung … Die großen Parteien dieses Hauses sind meist national … Wir aber wenden uns an die Objectivität und Unvoreingenommenheit aller Parteien, denn Österreich ist kein einheitlich nationaler Staat“, zitiert ebd., S. 156 Anm. 16 Das Parlament in Wien und das in Budapest waren über der Frage einer Aufstockung des militärischen Kontingents bezüglich der Waffenbereitschaft und damit auch der Verteilung unter den verschiedenen territorialen Einheiten in Cisleithanien (Landwehr) und der Stefanskrone (Honvéd) aneinandergeraten. Die Krise brachte das Gleichgewicht zwischen den magyarischen Parteien ins Wanken und führte so zu einem Regierungswechsel in Budapest. Die Angelegenheit hatte aufgrund der komplizierten Beziehungen, die die Doppelmonarchie beherrschten, weitreichende Auswirkungen auf das gesamte System. Im Dezember 1904 fand man einen ersten

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einen erheblichen Anteil hatte17, konnte nicht überwunden werden, indem man sich auf die Bürokratie stützte, die Körber so viel bedeutete. Der Entwurf einer Verfassungsreform von 1904, der im Grunde genommen die bürokratische Struktur als Mittler zwischen „Volk“ und „Staat“18 verstand, musste die Sprachhürde nehmen: ein Thema, dass dem Ministerpräsidenten mit seiner glänzenden Verwaltungskarriere durchaus präsent war, weswegen er Deutsch als die einzige Amtssprache in Verwaltungsangelegenheiten vorschlug. Damit wurde aber erneut einer der neuralgischen Punkte des Systems berührt, ohne dass man eine Lösung gefunden hätte19. Die Krise der Regierung Körber offenbarte erneut alle Schwachpunkte des Reichssystems, in mancherlei Hinsicht verstärkte sie sie sogar: Die Begeisterung, mit der man sich dem Thema Militär zugewandt hatte (ohnehin ein Stützpfeiler im Habsburger Staatsgerüst), sollte sich aufgrund der Bedeutung, die man seinem Oberkommando zukommen ließ, negativ auswirken. Ebenso verhielt es sich mit der Begeisterung für die Vorzüge der Bürokratie, die eher Probleme schaffen sollte, da diese so unflexibel war und zumindest in Teilen dem österreichisch-deutschen Selbstbehauptungskampf zum Opfer gefallen war (denn die Österreich-Deutschen bildeten ihren Kern und ihre Verwaltungsspitze). Dabei schienen der Rücktritt Körbers im Dezember 1904 – offiziell aus gesundheitlichen Gründen – und die Nachfolge von Paul von Gautsch auf Kompromiss, doch zog sich die Sache noch lange hin – mit einem weiteren Kompromiss im April 1906 und noch einem im Oktober 1907. In der vorliegenden Arbeit werden die Aspekte, die die magyarische Seite der Doppelmonarchie betreffen, ganz bewusst soweit es geht, außen vor gelassen: Sie stärker zu berücksichtigen hätte die Rahmenbedingungen der vorliegenden Darstellung enorm verkompliziert, ohne dass tatsächlich neue Erkenntnisse gewonnen worden wären. 17 In Mazedonien hatte es Unruhen und Aufstände gegeben, was die Balkanfrage neu entfacht hatte – und zu Spannungen mit Russland führte. Diese Spannungen konnten mit dem sogenannten „Februarprogramm“ von 1903 für den Moment beigelegt werden. Gleichzeitig gab es Spannungen mit Italien: In Wien hatte man den Eindruck, die Regierung Zanardelli sei dem Irredentismus zu stark zugeneigt, sodass man bereits erste Maßnahmen zur massiven Verstärkung der südlichen Grenze (und auch der istrischen und dalmatischen Küste) ergriffen hatte. Wie zu sehen sein wird, sollte das Jahr 1902 für die Habsburger Autoritäten ein Wendepunkt in der „toleranten“ Politik hinsichtlich des italienischen Nationalismus werden (man denke an die berühmte Rede des Polizeioberkommissars Muck an Bischof Endrici, auf die noch eingegangen werden wird). 18 F. Lindström, Ernst von Körber, S. 18. 19 Zum Problem der Sprachen, vgl. P. Burian, The State Language Problem in Old Austria (1848-1918), in: Austrian History Yearbook, 6/7 (1970-71), S. 81-103; R.W.J. Evans, Language and State Building: The Case of the Habsburg Monarchy, in: Austrian History Yearbook, 35 (2004), S. 1-24; R. Rinder Schjerve (Hrsg.), Language, Politics and Practice in the 19th Century Habsburg Empire, Berlin / New York 2003.

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den ersten Blick eine Folge des Machtkampfes unter den Parteien, denen gegenüber der scheidende Präsident jede Verhandlungsgrundlage eingebüßt hatte. So konnte ein Beobachter, Graf von Wieser, 1905 schreiben, dass „wenigstens in Österreich“ keinerlei „Staatskrise“ herrsche, sondern einfach nur „eine Krise des Parteiensystems“20. Starke nationale Parteien wurden damit eine dringende Notwendigkeit, aber genauso dringend wurde es nötig, innerhalb der einzelnen Nationalitäten die stärkste repräsentative Partei auf diesem Gebiet zu werden. Ob bewusst oder eher instinktiv, ist nicht genau zu sagen, auf jeden Fall schlug die neu entstandene katholische Partei des Trentino diese Richtung ein, und De Gasperi sollte sich als ihr geschickter Ideologe erweisen. Wie hinlänglich bekannt ist, war es für die ehemaligen „Klerikalen“ alles andere als einfach, sich einen konkreten Handlungsspielraum zu schaffen oder gar eine Vormachtstellung einzunehmen, wenn sie mehr werden wollten als nur die Partei der Bauern und Talbewohner. Intelligent wie der junge De Gasperi war, erfasste er schnell, dass es darum ging, die ursprüngliche soziale Basis in eine „Massenpartei“ – um es mit einem heutigen Begriff zu sagen – umzuwandeln, das heißt, eine mehr oder weniger fest verwurzelte kollektive Bewusstseinsbasis zu schaffen, in der sich auch das neue Kleinbürgertum, das dem Katholizismus treu geblieben war, wiederfinden konnte. Die Universitätsfrage bildete den idealen Ausgangspunkt für diese neue Klassenorientierung. „Der größte Teil unserer Studenten hat, wenn schon keinen Bauern zum Vater, dann zumindest zum Großvater“, schrieb De Gasperi, wobei er vielleicht auch an sich selbst dachte21. Das bedeutete, dass die radikale Positionierung des liberalen und sozialistischen Nationalismus mit seinem Beharren auf „Triest oder nichts“ und somit dem Verzicht auf eine italienischen Fakultät im Trentino22 eine Angelegenheit „der feinen Herrschaften“ war. „Ja Ihr, Doktoren oder Notare, seid nicht daran interessiert, denn Ihr könnt Eure Söhne je nach Bedarf nach Italien schicken, aber der Bauer kann das nicht, er hat nicht die Mittel dazu“23. 20 „Es ist ja überhaupt nicht wahr, was uns in allen erdenklichen Wendungen gepredigt wird, dass sich Österreich – ich spreche nicht von Österreich-Ungarn – in einer Staatskrise befindet. Der Staat diesseits der Leitha, für sich betrachtet, befindet sich nur in einer Parteienkrise“ zitiert aus: S. Malfèr, Der Konstitutionalismus in der Habsburgermonarchie – Siebzig Jahre Verfassungsdiskussion in „Cisleithanien“, in: Die Habsurgermonarchie, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, S. 54. 21 Il Comizio di Riva, in: La Voce Cattolica, 28. August 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 341-344. 22 Das hatte die neue Regierung Gautsch, die auch für die Verhandlungspolitik mit den nationalen Minderheiten eintrat, wieder aufgegriffen. 23 Ancora su ‚Trieste o nulla‘, in: Fede e Lavoro, 1. September 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 345-346.

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So konnte man den traditionellen Eliten ihre Rolle als allgemeine Interessenvertretung absprechen, denn man hatte „genug von der Politik der Herren, die, auch wenn’s schiefläuft, keinerlei Schaden erleiden. Schluss damit! Von jetzt an muss das Volk die Politik machen“24. Auch fragte sich De Gasperi, ob die Verweigerung der Liberalen, mit der Regierung über eine Fakultät im Trentino zu verhandeln25, „die letzte Dummheit ist, die unsere Radikalen machen“ und erneut kam er auf die Klassendefinition zurück: „Die meisten Studenten sind nicht die Söhne fetter … Bürger mit Tresoren voller Napoleondore, sondern die Söhne von Arbeitern und Bauern, die für das Studium große Opfer bringen“26. Diese Phase des Kampfes für die Universität ist von großer Bedeutung, denn sie konfrontiert den jungen De Gasperi mit den Schwierigkeiten, die der ideologische Kontext mit sich brachte: Da war auf der einen Seite der nationalistische Radikalismus des Bürgertums, den die Liberalen wie auch die Sozialisten repräsentierten und bei dem der symbolische Gehalt einer Schlacht über allem stand (natürlich zielte der „Tiroler Volksbund“ genau in diese Richtung)27; dem standen auf der anderen Seite der Realismus und das politische Gespür eines Enrico Conci gegenüber. Er hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass es unmöglich sei, für die italienische Forderung nach einer Universität in Triest oder irgendeiner anderen Stadt an der Adriaküste Unterstützung im Parlament zu finden28.

24 Il paese e i contadini, in: Fede e Lavoro, 22. September 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi, Bd. 1, S. 368-370. 25 Am 26. September 1905 hatte der Abgeordnete Rizzi (aus Triest) den Antrag gestellt, den Gesetzesentwurf für eine italienische Rechtsfakultät in Rovereto von der Tagesordnung zu nehmen – ein Antrag, dem natürlich sofort stattgegeben wurde. 26 Sarà l’ultima?, in: Fede e Lavoro, 29. September 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 370-371. 27 Auch die Italiener Österreichs hatte Organisationen zur Wahrung ihrer Nationalität: Die wichtigste war die Pro Patria, die im Jahr 1886 gegründet und von der österreichischen Regierung umgehend aufgelöst worden war, da sie der italienischen Dante Alighieri eine Solidaritätsbekundung geschickt hatte, die in Österreich als eine pro-irredentistische Vereinigung galt. Mit der Begründung, dass Kulturvereine keine Politik betreiben dürften, wurde die Pro Patria aufgelöst. Schon 1891 wurde sie neu gegründet, indem man sie einfach in Lega Nazionale umbenannte. Auch hier war eines der Hauptziele dieser Vereinigungen der Erhalt der italienische Schulen entlang der Sprachgrenze und in den Ortschaften, in denen ein Zugriff des deutschen Radikalismus drohte. Was die Universitätsfrage betraf, vertraten diese Organisationen die Haltung „Triest oder nichts“; vgl. D. Zaffi, L’Associazionismo nazionale in Trentino (1849-1914), in: Storia del Trentino, Bd. 5, S. 225-263. 28 Siehe zum Beispiel die Parlamentschronik mit dem Kürzel „N.“ (mit dem Conci normalerweise seine regelmäßigen Korrespondenzen aus dem Reichsrat unterzeichnete, die stets sehr scharfsinnige Beobachtungen enthielten): Questione Universitaria, in:

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Dieser erste Zusammenstoß von „Realismus“ und „Ideologie“ ist von großer Bedeutung. Der Kampf wurde nicht nur in der Presse ausgetragen, sondern auch auf Veranstaltungen und Kundgebungen überall in der Region (vom Konflikt innerhalb der Trentiner Abgeordnetengruppe zwischen Conci und Malfatti ganz zu schweigen). Die katholischen Abgeordneten Conci und Delugan traten für den Kompromiss eines Universitätssitzes im Trentino ein, ganz gleich ob in Trient oder in Rovereto. Am 21. August 1905 legte Conci auf einer Versammlung in Tenno im Nonstal, seinen Standpunkt in aller Deutlichkeit dar: „Ich bin gänzlich gegen die Formel ‚Triest oder nichts‘; vielmehr glaube ich, dass wir tun müssen, was in unserer Verantwortung liegt, um eine italienische Rechtsfakultät zu bewahren oder besser noch ins Leben zu rufen, und wir müssen das Vorhaben dahingehend verbessern, dass es auch tatsächlich realisierbar ist, sowohl in linguistischer Hinsicht als auch, was den Sitz der einzurichtenden Fakultät betrifft … Nach der Abstimmung der Finanzkommission, in der die slawischen und die deutschen Fraktionen um die Ablehnung von Triest wetteiferten, und für jeden, der weiß, welche Haltung in der Universitätsfrage in den oberen Rängen vorherrscht, ist es völlig undenkbar, dass es jemanden geben könnte, der glaubt, es bestünde auch nur die geringste Chance, Triest könne akzeptiert werden; und so leite ich hier meine ersten grundsätzlichen Überlegungen mit der Feststellung ein, dass die Devise ,Triest oder nichts‘ heute in der Politik nichts wert ist; vielmehr entspricht sie der Forderung, anstatt sich über eine Fakultät im Trentino zu einigen – und nur im Trentino kann sie realistischerweise eingerichtet werden – die [italienische] Rechtsfakultät, die in Innsbruck eingerichtet und dort de facto abgeschafft wurde, auch von ihrem Rechtsanspruch her abzuschaffen“29.

Da die Versammlung in der Wahldomäne der Katholiken stattfand, stimmten die Anwesenden zugunsten des Abgeordneten. Ganz anders verlief die Kundgebung am 10. September in Malé im Val di Sole, denn hier waren auch Battisti und eine große Gruppe radikaler Studenten zugegen, die die beiden katholischen Abgeordneten Conci und Delugan, die sich für Trient als Universitätssitz ausgesprochen hatten, als „crumiri [Kollaborateure] und Verräter“ und als „Hasenfüße beschimpften, die für irgendeinen materiellen Vorteil auch Christus verkaufen würden“30. Am Ende wurde über einen Tagesordnungspunkt abgestimmt, in dem die Teilnehmer an der Kundgebung „ihre Abscheu“ gegenüber den beiden Abgeordneten zum Ausdruck brachten. Auf diese Niederlage antwortete die UPPT mit einer weiteren Veranstaltung, die sie eine Woche später anberaumte, erneut im ihr treuen Nonstal, diesmal in Fondo. Unter den Teilnehmern waren außer Delugan und Conci auch De Gasperi und als kontroverser Diskussionsteilnehmer Battisti. DiesLa Voce Cattolica, 30. Juni 1905; Il voto nella commissione finanziaria, in: La Voce Cattolica, 10. Juli 1905. 29 Il comizio di Tuenno, in: La Voce Cattolica, 22. August 1905. 30 Il Comizio di Malè, in: La Voce Cattolica, 11. September 1905.

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mal war die Sache offensichtlich besser vorbereitet und Conci setzte alles daran, eine Abstimmung über seinen Standpunkt zu erhalten; Battisti und die radikalen Studenten versuchten, das zu verhindern, indem sie nur über die Grundsatzfrage („Triest oder nichts“) abstimmen wollten, doch dieses Mal unterlagen sie damit31. Für De Gasperi bot sich hier auch eine Gelegenheit, die politische Strategie der Gegner anzugreifen, wobei er sich eines typischen Modells politischer Rhetorik bediente. „[De Gasperi] glaubt auch hier anprangern zu müssen, dass man in Zeiten, in denen sich die Liberalen als Demokraten bezeichnen wollen und in denen die Sozialisten im Trentino das Reich der Demokratie ausgerufen haben, den Bauern vergessen würde, der die Mehrheit im Lande darstellt und der gegenüber dem Staat und der Provinz und den Gemeinden die stärkste Last zu tragen hat (Beifall). Leider ist die bäuerliche Bevölkerung politisch noch nicht ausreichend vorbereitet, um gewissen Narrenpossen auf Versammlungen Einhalt zu gebieten, wo die Stimme eines Stallburschen oder eines Ladenverkäufers entscheidend wird für die Politik des Landes. Ich bin sicher, würde man zu einem ,Referendum‘ aufrufen und jeden nach seiner Meinung befragen, spräche sich eine enorme Mehrheit gegen ,Triest oder nichts‘ aus. Eine weitere Bemerkung muss er über jene Studenten machen, die, wie der Kollege Mezzena in Malé, die katholischen Studenten, die den Mut zu Kohärenz und einer eigenen Meinung haben, als Abtrünnige und Verräter bezeichneten. Und er protestiert energisch gegen diese Herrschaften, die doch genau wissen, dass die katholischen Studenten sich trotz der Kälte und der Ablehnung, die ihnen von einem großen Teil der liberalen Studenten entgegenschlagen, mit eben jenen verbündet haben, um ein gemeinsames nationales Anliegen zu unterstützen. Mit derselben Freimütigkeit und derselben Verantwortung, mit der die katholischen Studenten immer auch gegen den teutonischen Hochmut gekämpft haben, kämpfen und protestieren sie jetzt gegen diese Hinterhältigkeit in der öffentlichen Meinung (tosender Beifall)“.

Eine vergleichbare ideologische Prägung zeigte sich auch auf anderen Gebieten. Ganz sicher beim Thema Nationalismus, der ein zentraler Punkt in der liberalen Tradition war und es nun auch unter den Bürgerlichen wurde, die ja aus dem liberalen Milieu stammten und sich dem Sozialismus zugewandt hatten. Ein wenig Rhetorik zu diesem Thema konnte nicht schaden. „Wir sind ein Volk, das auf allen Seiten von Feinden unserer Nationalität umzingelt ist, die sich an unseren Alpenübergängen einnisten, die sich wie die Herren in unseren Tälern aufführen, und während wir an den Grenzen Schritt für Schritt, Fuß um Fuß das nationale Leben verteidigen müssen, sind wir gezwungen, auch im Innern den Angriffen gegen die Burg unserer Nationalität standzuhalten“32.

31 Comizio di Fondo. La votazione per Trento, in: La Voce Cattolica, 18. September 1905; teilweise wiedergegeben (nur die Abschnitte von De Gasperis Rede) in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 364-368. 32 Il Comizio di Riva.

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Genauso nützlich konnte es sein, mit „antisemitischem Pfeffer“ zu würzen, mit dem man in Wien so großen Erfolg hatte. Damit konnte man die in den eigenen Reihen ausgemachten Feinde treffen, wie beispielsweise die „Adriatischen“, die eine bedeutende Rolle im „italienischen Klub“ spielten und die Liberalen unterstützten. „Die Juden des ‚Piccolo‘ erklären von vornherein die Anklagen der ‚Voce Cattolica‘ für lächerlich. Die Herrschaften des ‚Piccolo‘ tun so, als wüssten sie nicht, dass hinter der ‚Voce Cattolica‘ eine Partei steht. Da sind Tausende und Abertausende von Wählern, meinetwegen Leute aus den Bergen, die aber in der letzten Zeit gezeigt haben, dass sie es leid sind, von einer Gruppe von Juden an der Nase herumgeführt zu werden, die aus Galizien und aus anderen Ecken über Triest hereingefallen sind“33.

Es sei daran erinnert, dass Conci und Monsignore Delugan Mitte September den „italienischen Klub“ im Parlament aufgrund des anhaltenden Streits verlassen sollten, die die unnachgiebige Haltung der Julischen provoziert hatte, die es unmöglich machte, einen Kompromiss in der Universitätsfrage zu finden (De Gasperi sollte diese Gruppe die „adriatische Camorra“ nennen). Und „La Voce Cattolica“ kommentierte stolz: „Ein jeder seines Weges“34. Das war ohnehin das Ziel des neuen Direktors. Nachdem er am 1. September 1905 seine Stelle angetreten hatte, äußerte sich De Gasperi zu seiner Zielsetzung: der Zeitung die Position zu sichern, die sie errungen hatte, und die aus ihr „nicht nur das Organ einer starken und redlichen Partei gemacht hatte, sondern auch einen einflussreichen Faktor in der öffentlichen Meinung des Trentino“35. Die Gelegenheit, dieses Ziel in Angriff zu nehmen, war günstig: Im Reich stand erneut die Frage einer Wahlrechtsreform zur Debatte und selbst der Kaiser drängte mit Nachdruck auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Ungarn. Denn das schien der einzige Weg, eine politische Reform in Gang zu setzen, die zu einem ausgewogeneren Regierungssystem führen konnte im Hinblick auf die verschiedenen Nationalitäten in Transleithanien, 33 Il fallimento di una politica, in: La Voce Cattolica, 2. September 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 347-354. Es handelt sich um einen ausführlichen Artikel, in dem der Direktor eine Bilanz der Politik der italienischen Gruppe im Reichsrat zieht. 34 Siehe hierzu den Kommentar von De Gasperi, Sulla via maestra, in: La Voce Cattolica, 15. September 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 362-364. In diesem Artikel sprach sich der junge Direktor auch deutlich für Trient als Universitätssitz aus (statt Rovereto). 35 Vgl. Degasperi direttore della Voce cattolica, in: La Voce Cattolica, 1. September 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 347. Der junge Direktor betonte, dass er sich seiner Aufgabe „im vollen Bewusstsein der großen Verantwortung und der Schwierigkeiten, die diese Aufgabe mit sich bringt“, stellen wolle.

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die alle wie gefangen waren in der Übermacht, die das klassenbezogene und oligarchische Wahlsystem der magyarischen Minderheit zusicherte. Im Reich kam es zu zahlreichen Kundgebungen für eine Wahlrechtsreform: Am 9. September fand in Budapest eine große Demonstration statt, und in den ersten Novembertagen zogen Menschenmassen, die von den Sozialisten aufgerufen worden waren, durch Wien, wobei es zu Zusammenstößen mit den Ordnungshütern und Verletzten kam. Es handelte sich natürlich um eine sehr heikle Angelegenheit, denn das allgemeine Wahlrecht würde einen erheblichen Eingriff in das Gleichgewicht unter den Nationalitäten bedeuten, was nachhaltige Auswirkungen gerade in den Gebieten gehabt hätte, die ethnisch nicht homogen waren, und das war die Mehrheit36. Unter diesem Aspekt bildete das Trentino eine der wenigen Ausnahmen37. Auf dem julischen Gebiet hingegen lebten Italiener, Deutsche und Slawen zusammen. Dazu kam noch eine zusätzliche Spaltung, die die katholische Partei – wie zu sehen sein wird – geschickt für sich zu nutzen verstand. Und in der Tat, als am 6. Oktober 1905 in der Kommission über einen ersten Entwurf der Wahlrechtsreform abgestimmt wurde, spalteten sich die anwesenden Italiener (alles „Adriatische“) in 3 Stimmen dafür und 2 Stimmen dagegen38. Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Liberalen in Schwierigkeiten gerieten, denn wie sie es schon bei der Einführung der fünften Kurie erlebt hatten, schlug sich das allgemeine Wahlrecht nicht zu ihrem Vorteil nieder. Das gab den katholischen Agitatoren eine weitere Gelegenheit, sich die Widersprüche des Gegners zunutze zu machen, der „modern“ sein wollte und die Klerikalen des Obskurantismus bezichtigte, während er es selbst nicht schaffte, die modernste aller politischen Reformen mitzutragen. 36 Gerade unter diesem Aspekt war die regelmäßige Bekanntmachung der Erhebungen von großer Bedeutung, denn dabei wurde die Bevölkerung aufgefordert, in Spalte 13 der Tabelle die ethnische Zugehörigkeit einzutragen: Diese Aufforderung wurde nicht immer verstanden, vor allem in den ländlichen Gebieten, wo es kaum ein Identitätsbewusstsein in diesem Sinne gab. Ab Anfang des Jahrhunderts versuchten die verschiedenen nationalistischen Kräfte, für die Bedeutung dieser Erklärungen zu sensibilisieren. In der Folge kam es zu deutlichen prozentualen Unterschieden, da es unangenehme Folgen haben konnte, sich einer Minderheit in einer bestimmten Gegend zugehörig zu erklären, (aus diesem Grund schrumpfte im heutigen Südtirol der Bevölkerungsanteil, der sich als „italienisch“ bezeichnete); vgl. Z.A.B. Zeman, The Four Austrian Censuses and Their Political Consequences, in: M. Cornwall (Hrsg.), The Last Years of Austria-Hungary, Exeter 1990, S. 32-39. 37 Vgl. D. Rusinow, The „National Question“ Revisited: Reflections on the State of the Art, in: Austrian History Yearbook, 31 (2000), S. 1-13. 38 Vgl. L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 971.

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Die Lage wurde immer unübersichtlicher, denn auch in Tirol entwickelte sich eine Debatte über die Reform des Wahlrechts, und auch hier gab es größte Divergenzen: Die konservativen Tiroler befürchteten, die Reform würde den Vormarsch der Christlichsozialen begünstigen; die Liberalen hatten Angst um ihre städtischen Wahlkreise (das galt auch für die Italiener); und alle waren äußerst besorgt um das ethnische Gleichgewicht. Der Versuch von Statthalter Schwartzenau, die Versammlung des Landtags in Innsbruck, mit dem Versprechen großer öffentlicher Aufträge bei Laune zu halten, war zum Scheitern verurteilt: zu groß waren die Spannungen. Zunächst war da die Universitätsfrage und nun auch noch die Wahlrechtsreform. Die herbstliche Sitzungsperiode des Tiroler Landtags, die Mitte Oktober begann, wurde am 17. November beendet, ohne dass man in irgendeiner Sache weitergekommen wäre39. Die katholische Partei konnte allerdings einen wichtigen Pluspunkt für sich verbuchen. Im Oktober hatte es einen zusätzlichen Wahlgang im Landtag in Innsbruck gegeben, da ein Trentiner Abgeordneter verstorben war, der Liberale G. Donati. Im Wahlkreis Cavalese-Cles-Fondo-Lavis-Mezzalombardo hatten die Katholiken – nicht mehr an den Pakt gebunden, den ja die Liberalen mit D’Anna im Valsugana gebrochen hatten – ihren Kandidaten Emanuele Lanzarotti aufgestellt, einen der Anführer der genossenschaftlichen Bewegung, der natürlich ganz souverän gewann40. In der „Voce Cattolica“ begann De Gasperi eine engagierte Kampagne für die Wahlrechtsreform. „Wir stellen fest, dass es der Liberalismus in seinen verschiedenen nationalen Farben ist, der die Tür zum allgemeinen Wahlrecht verschlossen hält“, stellte er ohne Umschweife fest41, und merkte weiter an, dass „sich die adriatischen Italiener am meisten fürchten“42, während „die Trentiner Katholiken nichts durch eine solche Reform zu befürchten haben“, da sie es rechtzeitig verstanden hätten, die Massen zu organisieren und auszubilden. Wie man sieht, bereitete der junge Direktor das ideologische Terrain für ein Zugehörigkeitsgefühl, wozu er sich auf den Realismus und auf die strategische Fähigkeit der Partei berief, wie sie sich vor allem im Kampf um die Universität bewiesen hatte („durch Erfahrung geschult, sind wir davon R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 217-218. Vgl. G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica, S. 544. 41 Il suffragio universale in Austria, in: La Voce Cattolica, 11. Oktober 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 376-378. 42 Il governo e la riforma elettorale, in: La Voce Cattolica, 6. November 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 384-385. Hier mahnte De Gasperi, „die Öffentlichkeit solle Ruhe bewahren“, und kritisierte die sozialistischen Agitationen und insbesondere die großen Demonstrationen in Wien. 39 40

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überzeugt, dass der Radikalismus in der Politik verheerender ist als alle anderen Probleme“43). Dazu kamen die Vorteile, die sie ihrer guten Organisation zu verdanken hatten, in diesem Fall war das Negativbeispiel „Frankreich … wo sich die katholische Sozialbewegung nicht entwickelt und keinen Einfluss auf die öffentliche Meinung gewonnen hat, mit den Schäden, die jetzt für jedermann sichtbar sind“44. Der Kampf um die neue Wahlrechtsgesetzgebung sollte für die Konsolidierung der katholischen Bewegung große Bedeutung erlangen. Gerade die Debatte um das allgemeine Wahlrecht gab De Gasperi die Möglichkeit, sich als Verfechter einer demokratischen volksnahen Bewegung zu präsentieren und damit die liberale Hegemonie endgültig infrage zu stellen. Denn obschon die Partei im Dezember 1905 im Trentino ihren Namen von „liberalnational“ zu „liberal-demokratisch“ geändert hatte, steckte sie in einer tiefen Krise, denn die Reformbedrohte deren Position selbst in ihren traditionellen Hochburgen45. Anfang des Jahres 1906 wurde das Leben Alcide De Gasperis von einer persönlichen Tragödie überschattet: Am 15. Januar starb sein Bruder Mario, der im Juli des Vorjahres sein Priesteramt angetreten hatte. Das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern war, wie man auch ihren Briefen entnehmen kann, sehr eng gewesen und Mario war mit allen Kampagnen und Initiativen seines Bruders Alcide vertraut gewesen46. Man kann sich den Schmerz angesichts dieses Schicksalsschlags vorstellen, die ein junges, vielversprechendes Leben beendete, das schon zuvor wiederholt seine Zerbrechlichkeit hatte 43 Ancora su „Trieste o nulla“, in: Fede e Lavoro, 1. September 1905, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 345-346. Hier sei noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass die Betonung der Tatkraft natürlich genau zum traditionellen Bild des „Volkes“ passte, das mit einer harten Realität konfrontiert war, im Gegensatz zu den „Herrschaften“, die sich Träumereien und Utopien hingeben konnten. 44 L’assemblea dell’„Unione Politica“, in: La Voce Cattolica, 13. Dezember 1905, zum Teil wiedergegeben (nur der Beitrag von De Gasperi), in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 392-393. In diesem Artikel war auch die Entscheidung festgehalten, „dass der offizielle Titel der Partei wie folgt zu lauten hat: Partito Popolare Trentino“ (um die Wahrheit zu sagen, erhielt diese Bezeichnung nicht die ungeteilte Zustimmung, die er sich gewünscht hätte). 45 Überhaupt sollte diese historische Wende zu einer allgemeinen Krise des österreichischen Liberalismus führen: vgl. L. Höbelt, Kornblume und Kaiseradler; die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs, Wien 1993. 46 Im AMRDG gibt es eine autografische Notiz von Mario De Gasperi, in der er 36 von ihm bis einschließlich 1904 veröffentlichte Artikel auflistet: Sie bezeugen die Bandbreite seiner kulturellen Interessen wie auch der literarischen Vorlieben (es finden sich sogar Versuche, Theatertexte zu verfassen). Er arbeitete maßgeblich an der „Voce Cattolica“ wie auch an der „Rivista Tridentina“ mit.

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erahnen lassen47. Die Anmerkungen der Schwester Marcellina De Gasperi im Familientagebuch halten die schweren Stunden fest. „Am 15. Januar 1906 stirbt Don Mario. Es ist ein sehr trauriges Datum. Seine Krankheit von Rovereto, nach Trient, zur Familie, ins Krankenhaus. Alcide steht ihm bei mit der Liebe eines Bruders und eines Freundes. Er folgt ihm in den Operationssaal. Er bringt ihm bei, dass er diese Erde verlassen wird. Mario stirbt in der Blüte seines Lebens, gerade zum Priester geweiht … Der Tod von Don Mario ist für Alcide einer der größten Schmerzen seines Lebens. Er verliert nicht nur den Bruder, sondern den Freund, das Herz eines Freundes, mit dem er aufgewachsen ist und mit dem er all seine Sorgen, seine Ängste, seine Freuden teilte, der dieselben Ideale in der Arbeit hatte … Der Schmerz zwingt ihn nieder, die erschöpften Nerven lassen ihn keine Ruhe finden, immer sieht er das Bild des leidenden Bruders vor sich … wir wachen über ihn am Bett, bis er in den mütterlichen Armen endlich Schlaf findet48.

Trotz dieses schweren Schicksalsschlags ist der junge Direktor im Kampf um die Wahlrechtsreform auf seinem Posten. Wie vorauszusehen war, ermöglichte es die konkrete Ausformulierung des Gesetzes – trotz des kaiserlichen Drängens auf ein allgemeines Wahlrecht – allen Interessengruppen, ihre Karten auszuspielen. Niemand war so naiv gewesen zu glauben, dass die Reform die bestehenden Verhältnisse ernsthaft ins Wanken bringen würde49. Selbst Ministerpräsident Gautsch hatte ein offenes Ohr für die Position der Deutschösterreicher, so wie er die Widerstände zu berücksichtigen hatte, die aus dem Herrenhaus und von den polnischen Parlamentariern kamen. Das hatte auch der wie immer scharfsichtige Conci in seiner Korrespondenz aus dem Parlament bemerkt50. 47 In einem Brief von Mario an Alcide, der im AMRDG aufbewahrt ist (undatiert, aber gleich nach seiner Priesterweihe verfasst, also etwa Ende Juli 1904) steht: „Erinnerst du dich daran, wie ich in den Ferien in der Achten und in den ersten Monaten im Seminar gelitten habe? Gott treibt sein Spiel auf der Welt. Er erwählt einen Schwachen aus dieser Welt, um die Starken durcheinanderzubringen“. In einer anderen handgeschriebenen, undatierten Notiz schreibt Mario von seiner Absicht, sich einer harten Arbeit zu widmen, „um den Preis, jung zu sterben“. Der Krankheitsverlauf des jungen Priesters war dramatisch: Im Dezember 1905 litt er an Angina und Diphtherie, dann an Phlegmonen, die schmerzhafte Operationen erforderlich machten. 48 Das Tagebuch von Marcellina befindet sich nicht im AMRDG. Ich danke Signora Maria Romana De Gasperi, die mir freundlicherweise dieses Zitat zur Verfügung gestellt hat, das sie auch selbst schon einmal in einem Artikel in der Tageszeitung „Avvenire“ verwendet hat. 49 Man darf nicht vergessen, dass es in Österreich zu dieser Reform gekommen war, nachdem diese in mehreren Varianten in zahlreichen Ländern erprobt worden war, mit uferlosen Debatten über ihre möglichen Folgen und den „leap in the dark“ (um ein berühmtes Schlagwort aufzugreifen, das für die Reform von 1867 in Großbritannien geprägt wurde). Für einen Überblick dazu siehe R. Romanelli (Hrsg.), How Did They Become Voters? The History of Franchise in Modern European Representation, Den Haag 1998. 50 La Voce Cattolica, 4. Dezember 1905.

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„Daran gewöhnt, zu jeder Zeit blind jeder Linie der Regierung zu folgen – stets darauf aus, sich einen Vorteil mit sofortiger Wirkung zu verschaffen, oder wenigstens ohne allzu lange Wartezeit –, sieht er [der deutsche konservative Block und die Polen] nun seine Existenz durch die geplante Wahlrechtsreform bedroht; und so weigert er sich, die Pläne der Regierung zu unterstützen – ist sogar im Begriff, ihr eine formale Kriegserklärung anzudrohen“.

Der Trentiner Parlamentarier erfasste ganz klar das höchst angespannte Klima im Reichsrat und genauso deutlich sah er, wie viele offene und versteckte Gegner es innerhalb der Gruppe der österreichisch-deutschen Parlamentarier gab. „Ich spreche nicht von Wolf51 und seinesgleichen, die die Schamlosigkeit besitzen, es zur Bedingung für das allgemeine Wahlrecht zu machen, dass die deutsche Sprache als Staatssprache anerkannt wird, … vielmehr rede ich von denen, die unter allgemeinem Wahlrecht die Erhaltung des Status quo zugunsten der deutschen Nationalität verstehen, der demnach eine Mehrheit an Mandaten zuzuweisen sei; denn das Wahlrecht kann für die anderen gleich sein, nicht aber für die Deutschen, die – natürlich – eine Sonderbehandlung genießen müssen“.

De Gasperi kritisierte diesen Zustand nachdrücklich52, indem er von einer Regierung sprach, die durch ein geschicktes Manöver bei der Bildung der Wahlkreise, nicht „das wirklich gleiche allgemeine Wahlrecht [wollte] …, sondern das allgemeine und gleiche … ungleiche Wahlrecht!“, um „die Privilegien der deutschen Nation zu retten“. Er wunderte sich allerdings, dass dies auch die Unterstützung der italienischen liberalen Abgeordneten fand: „Dass die Italiener, ein an die Dienstbarkeit gegenüber den Deutschen gewöhntes Volk, einen Pakt des Verrats und der Privilegien abschließen, hätten wir nie für möglich gehalten“. Das war vielleicht in Triest „erklärbar“; „aber dass sich die Italiener als Untertanen der Fürstgrafschaft Tirol für das Prinzip der Privilegien aussprechen, ist eine Ungeheuerlichkeit“. Jedenfalls gab ihm das die Gelegenheit, die Liberalen weiter zu demontieren: „Verurteilung eurer Lügen und Camorrapolitik, eures großherrschaftlichen Gebarens, ihr, die ihr die große bäuerliche Mehrheit, die Basis und die erste Kraft im Trentino, auf den Wert eines halben Menschen, eines halben Bürgers herabsetzt“. Und er bezeichnete die Liberalen denn auch als „Scharlatane der Demokratie“. Wie immer in diesen Fällen war das Heikelste die Festlegung der Wahlkreise, durch die man ein Ungleichgewicht der Wählerschaft legitimieren konnte. Der junge Politiker prangerte die schon existierenden Übervorteilungen Karl Hermann Wolf (1867-1941), Böhme, eine prominente Figur der Deutschnationalen Bewegung, hatte als Anführer der „Ostdeutschen“ im Jahr 1901 für eine Spaltung der Alldeutschen Partei gestimmt. 52 La Commedia, in: La Voce Cattolica, 22. Januar 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 399-402. 51

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an: Im Jahr 1901 waren die 129 Abgeordneten der bäuerlichen Gemeinden von 1.585.466 Wählern gewählt worden, die 118 Abgeordneten in den Städten von 493.804 Wählern, die 21 der Handelskammern von 556 Wahlberechtigten53. Das Hauptthema bei allen Strategien der verschiedenen konservativen Kräfte im Reichstag war stets die Wahrung der liberalen Vormachtstellung im Verein mit den nationalen Domänen; einen Vorschlag des Tirolers Karl von Grabmayr zum Anlass nehmend, polemisierte De Gasperi: „Wir werden es schon schaffen, dass 1.000 liberale Trentiner genauso viel wert sein werden wie 2.000 klerikale. So retten wir die deutsche Vormachtstellung und ihr die liberale Vormachtstellung im Trentino“. An diesem Punkt war es natürlich leicht, den Gesinnungswandel der Radikal-Liberalen anzuprangern, die als Verbündete der Sozialisten feierliche Erklärungen zugunsten des allgemeinen Wahlrechts abgegeben hatten, dann aber einen Rückzieher machten mit der Begründung, dass diejenigen, die die „zahlenmäßige Übermacht“ besaßen, eine „rohe und unwissende Kraft“ seien. (Das veranlasste den jungen Direktor zu dem ironischen Kommentar, diejenigen, die „doktrinäre … Liberale“ gewesen seien, hätten sich nun in „demokratische … Liberale“ verwandelt.) Die Schlussfolgerung entsprach der neuen ideologischen, hier ja schon vorgestellten Linie: „Das christliche Volk wird sich erheben, um die Pharisäer der Demokratie zu verjagen“54. Die Argumentationslinien der politischen Propaganda der Katholiken waren nunmehr recht klar gezogen: Angriff auf die Liberalen, um deren politische Führungsrolle infrage zu stellen; Stärkung des Identitätsbewusstseins (die nationale Frage) als Bollwerk gegen das Vordringen der alldeutschen Bewegungen und zugleich gegen die Ansprüche der Tiroler Führungseliten. Diese Positionen werden lange Gültigkeit haben (im Grunde bis zum Krieg, obwohl es um das Jahr 1910 zu einer gewissen Neuausrichtung kommen wird). Auch wenn sie sich in den Kommentaren zu den Ereignissen niederschlagen (es ist hier ja nach wie vor die Rede von den Artikeln in einer Tageszeitung), waren die Überlegungen, die diesen Positionen zugrunde lagen, keineswegs improvisiert, sondern im Gegenteil sorgfältig durchdacht. Eine Rede De Gasperis zur Wahlrechtsreform, die verschiedene Aspekte enthält, könnte man als Synthese werten55. Zum einen ist da die „religiöse

53 La Commedia, in: La Voce Cattolica, 24. Januar 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 402-406. 54 La Commedia continua, in: La Voce Cattolica, 27. Januar 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 406-410. 55 Veröffentlicht unter dem Titel Il momento politico e il partito popolare trentino, in: La Voce Cattolica, 13. Februar 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 413-416.

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Frage“: Mit der Reform würden die sozialistischen Mandate zunehmen, was zur Folge hätte, dass mit „einem starken, ausdrücklich antiklerikalen, antikatholischen Kern [zu rechnen ist], um den sich die anderen radikalen Fraktionen sammeln, die homogener, schlagkräftiger werden, da die moderaten Tendenzen verschwinden“. Das bedeutete Raum für Themen wie die Einführung der Ehescheidung und die „laizistische Schule“ (und hier ein Fingerzeig: „Man sollte wissen, wie wichtig der Liberalismus oder der Antiklerikalismus gewissen ehrenwerten Herrschaften ist“). Zum anderen sind da neue Formen des politischen Kampfes: „Unsere zweite Pflicht ist die Organisation. Das allgemeine Wahlrecht wird den Wahlkampf in alle Täler tragen, in alle Ortschaften, auch die kleinsten, und dann müssen wir uns verteidigen oder in allen Punkten angreifen. Nur die Organisation kann der Unterpfand für den Sieg sein“. Dafür war die UPPT, die Unione Politica Popolare Trentina, zuständig, in der „die Ideen der christlichen Demokratie weiterleben“ und die „den Weg zur nationalen Erhöhung unseres Landes“ geht. Das war die Linie, die aus der Hauptversammlung der UPPT am 6. Februar 1906 hervorgegangen war, um die Taktik für die anstehenden Wahlen auszuarbeiten und vorzubereiten. Auf der Versammlung hatte Conci eine Strategie vorgestellt, wie im Parlament vorzugehen sei, die dem jungen De Gasperi gewiss gut gefallen hat. „Ich spreche nicht vom Programm, das unsere Abgeordneten zu vertreten haben und das sich in der Idee zusammenfassen lässt, auf die bestmögliche Weise das moralische, nationale und ökonomische Anliegen des Trentino zu unterstützen, wobei besonders jede Anstrengung zu unternehmen sei, um die viel beschworene und dringend notwendige Verwaltungsautonomie zu verwirklichen, und dabei stets daran zu denken, dass ein Volk umso besser im Kampf um seine Rechte abschneiden kann, je stärker es wirtschaftlich ist! … Ich sage nur, dass die Politik der Trentiner Abgeordneten pragmatisch und positiv sein muss; sie muss ein für alle Mal dieses ‚Alles oder Nichts‘ aufgeben, das fatal für uns gewesen ist“56.

Diese politische Linie gilt es in eine Reihe von Ereignissen in Österreich, in Tirol und im Trentino einzuordnen. Auf zentraler Ebene drängte sich längst die Frage der „Reform“ des politischen Systems des Habsburgerreichs auf, auch mit einigen Verweisen auf Lösungen föderalistischer Art. Im Jahr 1906 sollten zwei berühmte Werke erscheinen, das des Sozialdemokraten Karl Renner (der unter dem Pseudonym „Rudolf Springer“ veröffentlichte), „Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreichisch-Ungarischen Monarchie“, und das von Aurel Popovici, „Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich“57. Die L’adunanza dell’UPPT, in: La Voce Cattolica, 6. Februar 1906. Siehe dazu A.J. May, La monarchia, S. 679-682; H. Haselsteiner, Die Nationalitätenfrage in der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie, insbesondere 56 57

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mochte zum einen – insbesondere dort, wo es Politiker gab, die für dieses Gedankengut besonders empfänglich waren, was gewiss bei De Gasperi der Fall war – die Entwicklung von national ausgerichteten Organisationen begünstigen, zum anderen aber schürte es die Ängste und die Abwehrhaltung der österreichisch-deutschen Bevölkerung. Diese Dynamik wurde auch in Tirol deutlich wahrgenommen, wo im März 1906 Statthalter Schwartzenau seines Amtes enthoben und durch Graf Markus Max von Spiegelfeld ersetzt wurde. Von den Italienern als Feind wahrgenommen58, sahen ihn am Ende auch die deutschen Mitglieder im Landtag als ihren Gegner, allen voran die Deutschnationalen und die alten Konservativen59. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr der Deutschnationalismus Unterstützung von höchster Stelle in Wien, und zwar durch Thronfolger Franz Ferdinand, der in jenem Jahr mit eine Art Schattenregierung Einfluss auf die Habsburger Politik zu nehmen begann. Die wichtigste Neuigkeit im Trentino war die Umbenennung der „Voce Cattolica“, die ab dem 17. März 1906 unter dem Namen „Il Trentino“ erschien. Diese Entscheidung war bereits Ende des Vorjahres von Bischof Endrici getroffen worden, der sie damals als „Geheimsache“ in einer Versammlung der Dekane vorgestellt und damit den Protest ihres höchsten Vertreters, des Dekans von Pergine Monsignore Inama hervorgerufen hatte60. Dieser schrieb einen polemischem Brief an den Bischof und stellte ihm die Frage, ob sich die Zeitung „schäme, sich als katholisch zu bezeichnen“; er verwies auf „ein großes Durcheinander an Ideen, ganz zum Vorteil des Feindes und zum Befremden derjenigen, die bis jetzt Vorbilder der christlichen Demokratie waren, ein Begriff, der nun auch zu Grabe getragen wurde“. Der Historiker Umberto Corsini hat diesen Vorgang schon vor vielen Jahren als eine „gezielte Absicht“ interpretiert, „sich von der Vergangenheit zu lösen, in der die Kirche und die Katholiken im Trentino lange genug der konservativen Tiroler Reichstreue angehangen hatten“, um ein neues Instrument zu schaffen, das den Konsens auch auf „nicht ausgesprochen kirchliS. 25-27. 1907 wurde die nationale Frage in sozialdemokratischen Kreisen mit dem Erscheinen von Otto Bauers „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ wieder zum Thema. 58 „Il Trentino“ betonte immer wieder, dass dahinter der Druck vonseiten des Tiroler Nationalismus stand, dem zum Beispiel der Vorwurf gemacht wurde, „einen Statthalter versetzt zu haben, der sich schuldig gemacht hat, das Leben von Italienern vor Knüppeln und Waffen geschützt zu haben“; Continuano le provocazioni, 25. April 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 445-446. 59 R. Schober, Der Tiroler Landtag, in: Die Habsburgermonarchie, Bd. 3, S. 1846. 60 Brief von Inama an Monsignore Endrici vom 19. Dezember 1905, in ADT, AEE, Nr. 206/1905.

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che Kreise“61 erweitern konnte. Uns stellt sich die Sache etwas komplexer dar. Aus den schon angeführten Gründen hatten Endrici und De Gasperi begriffen, dass sich der Katholizismus, um politische Kraft zu entwickeln, auf eine breite Basis stützen musste62, und das konnte nicht über eine Zeitung erreicht werden, die sich ausdrücklich auf die Religion bezog: Man wollte sich nicht etwa von den „kirchlichen“ Kreisen lossagen (zumal ein Christentum mit Empfindlichkeiten gegenüber dem, was man heute „derive clericali“63 nennen würde, sollten solche damals überhaupt existiert haben, nur eine unbedeutende Minderheit betraf), sondern sich vielmehr den internen Auseinandersetzungen innerhalb der Führungsspitze der Kirche entziehen. Man darf nicht vergessen, dass wir uns mitten in der Zeit der antimodernistischen Repression befinden. So begegnete man der Bewegung der Murri-Nachfolger mit Misstrauen (und im Juli erschien die Enzyklika „Pieni l’animo“, in der der „nationale demokratische Bund“ verdammt wurde). Da schien es für einen Bischof, der die Risiken nur zu gut kannte, angeraten (allein schon aufgrund der innerkatholischen Kämpfe im deutschen Teil von Tirol, wo man nicht davor zurückschreckte, sich im Vatikan Hilfe zu holen), den politischen Kampf vom „katholischen Dogmatismus“ im engen Sinne zu trennen. Die Namensänderung, die bereits im Januar vollzogen werden sollte, aber aufgrund eines Druckerstreiks verschoben werden musste, löste heftige Reaktionen aus. Die Liberalen und die Sozialisten um Battisti sahen sich um ihre angestammte Losung – die Trentiner Autonomie – gebracht und versuchten, die These zu verbreiten, dass die Entscheidung für diesen neuen Namen reiner Opportunismus sei, und ohnehin alles beim Alten bleiben würde: Ihren Widerstand unterstrichen sie noch dadurch, dass sie in ihrer politischen Polemik die von De Gasperi geführte Zeitung noch über Jahre „La Voce Cattolica“ nennen sollten. Der Tiroler Nationalismus hingegen interpretierte die Namenswahl als Anschlag der Katholiken auf die Einheit der Region (und womöglich sogar auf die „Glaubenseinheit“). Vor allem aber sahen sie darin den Akt eines „italienischen“ Bischofs mit großem Einflussbereich, denn ihm 61 U. Corsini, Il colloquio Degasperi-Sonnino. I cattolici trentini e la questione nazionale, Trient 1975, S. 137-138; 141. 62 Bischof Endrici sollte am 5. Februar 1907 an den Dekan von Condino schreiben, dass „die armen Bischöfe, die nicht selten mit den Regierungen kämpfen müssen …, der Regierung keine andere Macht entgegenzusetzen haben, um sie nachgiebig zu stimmen, als eine ordentliche Gruppe an Abgeordneten, die die Kirche lieben und die Einfluss ausüben können. Es ist eine Tatsache, dass die Regierungen diejenigen respektieren, die die meiste Macht haben. Gallia docet“; zitiert aus G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica, S. 549. 63 Gemeint sind „abweichende klerikale Kreise“, eine Art von katholischem Lobbyismus, der sich parallel zum offiziellen Katholizismus als gesellschaftliche Kraft entwickelt (Anm. d. Übers.).

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unterstanden auch viele deutsche Katholiken (gehörte doch das Gebiet von Bozen zu seiner Diözese). De Gasperi antwortete auf den Seiten seiner Zeitung auf all diese Anschuldigungen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die nationale Frage lag ihm besonders am Herzen: Geschickt hatte er lange versucht, sich nicht vor den „irredentistischen“ Karren spannen zu lassen, was für den Moment nur Gefahren barg und ihn an die Liberalen ausgeliefert hätte. Seine These war es, dass „die Interessen der teutonischen Eindeutschung ,nicht‘ mit den Interessen des polyglotten österreichischen Reichs“64 verwechselt werden durften. Damit wies er auf „eine Verschärfung des nationalen Kampfes“ hin und erinnerte daran, dass auch die Österreich-Deutschen „die Taktik der Magyaren [anwandten], jeden als Irredentisten abzutun, der nicht die Güte hat, sich assimilieren zu lassen“. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Polemik mit der Zeitung „Neue Tiroler Stimmen“: „Sie sind der Ansicht, wir hätten einen Namen gewählt, der nicht einmal für einen geografischen Begriff steht und noch dazu hätten wir ein gefährliches Zugeständnis an den Irredentismus gemacht, den Feind der Kirche und des Staates“. Außerdem legte „unser wohlgesonnener Innsbrucker Ratgeber“ nahe, „dass das Volk nichts von einem „Fantasiegebilde“ namens Trentino wissen wolle und dass wir gut daran täten, nicht auf dem schlüpfrigen Grund des Nationalismus auszurutschen“65. Umgehend antwortete De Gasperi den konservativen Tiroler Katholiken und ihrer Zeitung, die hofften, die gefährliche Kraft der neuen Bewegung irgendwo zwischen Irredentismus und Liberalismus in Schach halten zu können: „‚Trentino‘ habe aber, so hält man uns entgegen, einen liberalen Beigeschmack. Ja, wenn wir es denen überlassen, die meinen, sie hätten ein Monopol darauf; nicht, wenn wir uns dessen Repräsentation und Verteidigung annehmen, wozu wir ein Recht und die Pflicht haben, denn wir sind die überragende Mehrheit im Land. Und wir versichern euch, dass wir uns für dieses Trentino einzusetzen wissen, für seinen angestammten Glauben, für seine nationalen Rechte und für seine ökonomischen Interessen, und niemals werden die gierigen Krallen des unverschämten Pangermanismus uns das aus den Händen reißen, auch wenn an der Spitze des

64 Vgl. Il sistema della prepotenza (Alle Innsbrucker Nachrichten), in: Il Trentino, 27. März 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 428-431. 65 Der Kampf darum, dem Trentino seine historische Existenz abzusprechen, wurde damals von den Tirolern mit aller Heftigkeit geführt. Ein besonders viel schreibender Tiroler Publizist, Wladimir Kuk, hatte im Jahr 1895 auf eigene Kosten eine kleine apologetische Biografie über Erzherzog Albrecht veröffentlicht, dem Sieger über die Italiener bei Custoza („Feldmarshall Erzherzog Albrecht. Biografisches Bild“, 72 S.). Im selben Jahr ließ er „Es gibt kein ‚Trentino‘. Historische Studie“, Wien 1906, drucken. Das Werk hatte großen Erfolg und wurde mehrfach neu aufgelegt.

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Tiroler Volksbunds der konservative Wackernell marschiert, und wenn sich unter seinen Anhängern ein Abt Treuinfels, ein Professor Mayr usw. befinden“66.

Der Kampf gegen den Volksbund hielt unablässig an und Zitate ließen sich dazu in Hülle und Fülle anführen. Auch sei erwähnt, dass die Polemik um den Namen „Trentino“ schon längst auf der Ebene der politischen Institutionen Einzug gehalten hatte. Enrico Conci erzählt dazu die folgende aufschlussreiche Anekdote von 1903 aus dem Landtag von Innsbruck. „Und jetzt bleibt mir noch, von den Unternehmungen des Ehrenwerten Dr. Perathoner zu erzählen, dem Bürgermeister von Bozen. Hatte schon Schrott Conci den Vorwurf gemacht, an die Fleimstalbahn67 gedacht zu haben, meinte Perathoner ein nicht minder verdammungswürdiges Vergehen in seinen Worten ausgemacht zu haben, dass er nämlich ausdrücklich von ,Trentino‘ gesprochen habe. Beim Wort ,Trentino‘ sprang der Dr. Perathoner auf: ,Trentino!‘ – rief er – ,Wo ist das Trentino?‘ Bekommt ihr nicht Mitleid, hoch geschätzte Leser, mit dem armen Dr. Perathoner, der sich unvorsichtigerweise einem italienischen Abgeordneten soweit genähert hatte, dass er dessen Rede zu hören bekam und sich verletzt fühlen musste, horribile dictu, von diesem tristen Wort, das da ist ‚Trentino‘? Wo ist das ‚Trentino‘? fragte der Dr. Perathoner, wobei er mangelhafte geografische Kenntnisse an den Tag legte, aber einen lobenswerten Eifer, sie sich anzueignen. Die Trentiner Abgeordneten sollten seinen guten Willen ernstnehmen: Sie klären ihn auf, sie laden ihn zu einem Besuch ins Trentino ein; sie bieten ihm an, ihn auf seiner geografischen Erkundung zu begleiten und zu führen“68.

Es lohnt sich, auf das Thema Wahlrechtsreform zurückzukommen, denn sie ist zweifellos von gleicher Wichtigkeit, um die Grundlagen für eine „moderne Partei“ (dar Ausdruck versteht sich natürlich cum grano salis) zu schaffen, wie es die UPPT im Gegensatz zu anderen Gruppierungen war. Nicht nur Gruppierungen der Liberalen, sondern auch der Sozialisten, die weitaus weniger in der Lage waren, zu mobilisieren und einen ideologisch-

66 Informazioni attendibili e consigli non richiesti, in: Il Trentino, 30. März 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 431-434 (eigene Hervorhebung, P.P.). 67 Die Fleimstalbahn war ein casus belli zwischen Trentinern und Tirolern. Der Bürgermeister von Trient, Paolo Oss Mazzurana, hatte schon in den Achtzigerjahren eine Eisenbahnlinie zwischen Trient und dem Fleimstal anvisiert (mit einem Verlauf, der einige technische Schwierigkeiten barg). Dadurch wäre dieses Tal stärker an den italienischen Raum angebunden worden. In Bozen hingegen wollte man eine Bahnlinie, die das Tal mit der Südtiroler Landeshauptstadt verband, was die deutsche Ausrichtung verstärkt hätte. Da sich die Angelegenheit über einen längeren Zeitraum hinziehen sollte, werden wir später wieder darauf zurückkommen. 68 Vgl. La Voce Cattolica, 22. Juni 1903. Der Artikel ist wie üblich mit „N.“ unterzeichnet.

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identitätsstiftenden Kontext herzustellen, der für eine breite Masse relevant gewesen wäre. Dazu sollte man den Aufbau der Reden betrachten, die De Gasperi und Don Panizza hielten, um das Programm der UPPT zu erläutern69. Er begann mit folgender Anmerkung: „Wer zu den Talbewohnern über Politik spricht, stößt beim Publikum sofort auf großes Misstrauen. ,Politik‘ bedeutet hier für die meisten: leeres Gerede, Phrasen ohne Fundament, Kurpfuscherei“. Es galt stattdessen zu erklären, dass sie „die Kunst des Regierens ist, die Kunst, einen Staat und die öffentlichen Einrichtungen zu leiten: Politik macht man in den Parlamenten, in den Landtagen, wenn über die Abgaben, über die Steuern, über die Militärausgaben, die Schulgesetze usw. abgestimmt wird. Von der Politik hängen also die Belange ab, die für das Individuum und die Sittengemeinschaft von größter Bedeutung sind. Dem kann man sich nicht entziehen: Entweder macht man Politik, oder man erduldet sie“. Dann ging De Gasperi dazu über, die Aspekte der Wahlrechtsreform zu erläutern: die Ungleichheiten, die die vorherigen Wahlsysteme geschaffen hatten, die Vorteile der obligatorischen Wahlbeteiligung, die Ablehnung der Direktwahl. Schließlich war die „nationale Frage“ an der Reihe. Er hob hervor, dass „Österreich aus verschiedenen Völkern besteht“, doch dass „sich in Wahrheit die Deutschen, auch wenn sie tatsächlich die Mehrheit sind, als Herren aufspielen wollen“. Die Katholiken waren fest entschlossen, für die Interessen der Italiener zu kämpfen, sie wollten jedoch nicht wie die Liberalen „nationale Politik im negativen Sinne machen. Sie stellen Forderungen in der Hoffnung, dass man Nein sagt (wie die Universitätsfrage lehrt)“. Ganz anders die Katholiken: „Wir wollen eine produktive nationale Politik machen, wir wollen ein positives Nationalbewusstsein im Trentiner Volk schaffen!“ Es folgte eine lange Auflistung der Themen, die „den ökonomischen Fortschritt des Volkes“ zum Gegenstand hatten: Versicherung der Arbeiter, aber auch der Bauern; Sanierung der Gemeindefinanzen; Reduzierung des Militärdienstes (mit Lizenzen für die Erntesaison); Befreiung des Bauernbesitzes von der Erbschaftssteuer, außerdem eine progressive Erbschaftssteuer, aber mit Steuerfreiheit bei kleinen Vermögen; Unterstützung des Bauernkredits und der genossenschaftlichen Hilfsvereine, Bekämpfung des Alkoholismus; Entwicklung der technischen Ausbildung für die Landwirte (mit Spezialdozenten, die in der Wintersaison und während des Militärdienstes Wanderunterricht abhielten). Wie man sieht, war das Programm sehr geschickt aufgebaut und konnte eine breite Zustimmung erwarten: Natürlich half dabei die Tatsache, dass die Katholiken durch die seelsorgerische Tätigkeit des Klerus besonders offen 69 Quello che vogliamo, in: Il Trentino, 15. Mai 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 455-460.

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für die Bedürfnisse der Bevölkerung waren und dass eine lange Tradition volkstümlicher Homiletik ihnen wirksame rhetorische Instrumente zur Verfügung stellte. Bei einem dieser Auftritte kam es in Meran zur Auseinandersetzung zwischen De Gasperi und dem sozialistischen Abgeordneten Mario Todeschini70. Dieser Zwischenfall ist insofern interessant, als er ein neues Licht auf De Gasperis Antisemitismus wirft, der, wie bereits angedeutet, seiner Bewunderung der Wiener Christlichsozialen entsprungen war71. De Gasperi hatte den österreichischen Sozialisten vorgeworfen, der Freimaurerei hörig zu sein, und dass ihre Führungsspitze „den Generalstab des Judentums“ enthielt. Und er fügte hinzu: „Wir sind nicht gegen die Juden, weil sie eine andere Religion haben und eine andere Rasse sind. Wir müssen uns aber dagegen wehren, dass sie die Christen mit ihrem Geld unter das Joch der Sklaverei zwingen“. Auf den Vorwurf zum Verhältnis zwischen Juden und katholischer Kirche erwiderte er: „Papst Gregor VII. verteidigte die Juden vor den Angriffen des Plebs … Die spanischen Bischöfe stellten sich energisch gegen das niedere Volk, dass die Juden töten wollte. Sankt Bernardin verteidigte sie im 12. Jahrhundert gegen den Zorn der Kreuzritter. Dasselbe lässt sich von Innozenz II., von Gregor IX. für die Juden in England sagen. Außerdem, Herr Todeschini, wissen Sie nicht, was der derzeitige Papst von den Massakern in Russland hält?“

Diese Passage ist nicht nur interessant, weil sie die Gedanken De Gasperis genau beschreibt (und eingrenzt), sondern weil ihre Vorbereitung und die Details ad exemplum, die er hier aufführt, beweisen, dass der Antisemitismus begann, die katholische Bewegung zu beunruhigen. So beeilte man sich, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um die römische Religion aus der jüngsten Entwicklung, die der Antisemitismus genommen hatte, herauszuhalten72. 70 Vgl. Il contraddittorio D.r. Degasperi-Todeschini a Merano, in: Il Trentino, 18. Juni 1906, De Gasperis Beitrag zu dem Disput auch in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 468-473. 71 Es sei noch einmal daran erinnert, dass es sich hier um die typische idola tribus handelt: Im Trentino gab es damals kaum Juden, man bezog sich also eher auf imaginäre Vorstellungen von ihnen. 72 Zum besseren Verständnis unseres Gegenstands ist es wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass die katholische Haltung zu diesem Thema recht vielschichtig war. Ich verweise hier auf die interessante Untersuchung von V. De Cesaris, Pro Judaeis. Il filogiudaismo cattolico in Italia (1789-1938), Mailand 2006 (natürlich auch mit einer umfassenden Bibliografie zum Antijudentum). Zum Standpunkt De Gasperis zur Judenfrage siehe S. Trinchese, L’altro De Gasperi. Un italiano nell’impero asburgico 1881-1918, Rom / Bari 2006, S. 37-44 passim; der Autor erwähnt handschriftliche Aufzeichnungen von De Gasperi zum Judenthema, die sich nicht im De GasperiArchiv befanden, als ich dieses aufsuchte, zumindest nicht in der Sektion, die seine „Habsburger“ Phase enthält. Da das Archiv auch das Material für die Ausstellun-

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Was den Kampf gegen den „Volksbund“ und die Wahlrechtsreform betraf, sollten sich die Auseinandersetzungen noch lange hinziehen, und auch auf der Ebene der großen Politik hatten sich die Turbulenzen keineswegs gelegt. Dafür brachte die Ankunft des Barons Alois Lexa von Aehrenthal auf dem Ballhausplatz, dem Sitz des österreichischen Außenministers, neuen Schwung in eine Politik der Diplomatie, die stärker darauf achtete, sich Verbündete zu schaffen und Beziehungen zu pflegen, als es auf unrealistische Kraftproben ankommen zu lassen. So war der Ministerpräsident Italien gegenüber positiv eingestellt, und jenes Klima schien abzuklingen, das den deutschen Botschafter in Wien noch im Februar veranlasst hatte zu schreiben, dass nur ein Krieg mit Italien in der Habsburger Monarchie auf große Zustimmung stoßen würde73. Außerdem war die Regierung Gautsch Ende April über ihre Unfähigkeit gestürzt, die Probleme anzugehen, die die Wahlrechtsreform aufgeworfen hatte, und das kurze Zwischenspiel von Conrad Hohenlohe, bis dahin Statthalter in Triest, sollte nicht einmal zwei Monate dauern. In Tirol hatte Spiegelfeld zugeben müssen, dass es dem Landtag nicht gelang, zu arbeiten. Er hatte aber die Regierung auch wissen lassen, dass es besser war, ihn nicht aufzulösen, da die Konservativen neue Wahlen zu sehr fürchteten. Ein Hoffnungsschimmer schien die Ernennung von Baron Max Wladimir von Beck zum Ministerpräsidenten. Unter anderem war er der Lehrer für Verwaltungskunde des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand gewesen. Diese Regierung hatte, so das kluge Urteil von Enrico Conci74, endlich die Serie der „Beamtenminister“ unterbrochen, um „parlamentarischen Charakter“ anzunehmen75. Auch in seinen Memoiren sollte er dieses Urteil bestätigen. „Derjenige [das Regierungsoberhaupt], der mir von allen als der unvergleichlich beste erscheint, ist jedoch Baron Max Wladimir Beck. Er war besonders geschickt in der Führung des Parlaments; es war sein großes Verdienst, das allgemeine Wahlrecht eingeführt und unter tausenderlei Schwierigkeiten alle alten Wahlprivilegien abgeschafft zu haben. Vor allem für das Trentino und dessen wirtschaflichen Interessen setzte er sich durchaus wirkungsvoll ein: durch den Bau neuer Straßen, Bewässerungsanlagen, Gemeindewasserwerke und Schulgebäude.

gen liefert, fehlen dort gelegentlich Dokumente. Da es außerdem nicht detailliert katalogisiert ist, ist es auch sehr gut möglich, dass die Wissenschaftler, die dank der Großzügigkeit von Signora Maria Romana Zugang zum Archiv haben, das ein oder andere Dokument in einer anderen Sektion, als der ihm angestammten, einordnen. 73 Zitiert aus A.J. May, La monarchia, S. 552. 74 Il nuovo governo della Cisleitania, in: Il Trentino, 12. Juni 1906. 75 Das Urteil von Conci findet sich heute bestätigt bei L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 972, der von der „Parlamentarisierung des Kabinetts“ spricht.

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Baron Beck unterstützte auch mit einem erheblichen Einsatz an Mitteln den Kampf gegen eine schreckliche Plage, die gewisse Gebiete des Trentino heimsuchte, die Krankheit Pellagra … Er war der einzige österreichische Ministerratspräsident, mit dem ich eine gewisse Vertrautheit hatte und mit dem ich frei und vertrauensvoll reden konnte“76.

Beck schaffte es im Oktober, ein Übereinkommen zur Wahlrechtsreform auf den Weg zu bringen, und im darauffolgenden Monat folgte auch die Hohe Kammer dem Zeitgeist und stimmte der Reform zu, unter der Bedingung, eine Obergrenze für die Anzahl der auf Lebenszeit festgelegten Mandate einzuführen (zwischen 150 und 170)77. Natürlich beherrschte die Wahlrechtsreform längst jeden Schritt der politischen Parteien, doch ging es eigentlich um die nationale Frage. Dabei war einer der Gründe, weshalb der Kaiser und ein Teil der politischen Spitze die Reform gewollt hatten, ausgerechnet die Hoffnung, dass eine neue Konstellation – indem sie die Ketten sprengte, die die Vorherrschaft der alteingesessenen nationalen Eliten festgezurrt hatten – die Entwicklung neuer Parteien fördern würde. Denn man stellte sich (zu Unrecht) vor, sie seien von dieser Problematik frei, wie beispielsweise die Sozialdemokraten und die Christlichsozialen78, womöglich auch die neuen alldeutschen Parteien, wozu sie sich allerdings über die traditionellen Grenzen der einzelnen Territorien hinaus hätten entwickeln müssen79. Wie schon gesagt, handelte es sich hierbei um eine ziemlich naive Hoffnung, denn tatsächlich hatte die nationale Frage die Reformdebatte beherrscht, wenn auch unter dem Aspekt der sogenannten „Distriktaufteilung“, der klassischen Waffe, mit der man – durch gerrymandering – auf die Verteilung der Nationalitäten innerhalb der Wahlkreise Einfluss nehmen konnte. Zur Beurteilung dieses Themas können uns die handgeschriebenen, undatierten Anmerkungen im Archiv De Gasperi dienlich sein80. Sie tragen den Memoria autobiografica, S. 30-31. L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 975. Die Reform wurde tatsächlich am 26. Januar 1907 verabschiedet: Sie sah das allgemeine Wahlrecht vor, obligatorisch, männlich (ab 24 Jahre), gleich, direkt, geheim, Einmannwahlkreise (an Wahlbereichen orientiert, die mehr oder weniger den nationalen Gruppen entsprechen sollten, die aber vielfach die Vorstellung widerspiegelten, die die zentrale Habsburger Geografie von den Nationalitäten hatte). 78 Ebenfalls aus Concis Erinnerungen weiß man, dass sich die Trentiner Sozialisten der Gruppe der deutschen Sozialisten angeschlossen hatten, was unter den Katholiken die Diskussion ausgelöst hatte, ob es nicht sinnvoll wäre, sich im Parlament mit der großen Gruppe der Christlichsozialen zusammenzutun, was jedoch wieder fallengelassen wurde. 79 Vgl. J.W. Boyer, The End of an Old Regime: Visions of Political Reform in Late Imperial Austria, in: Journal of Modern History, 58 (1986), S. 156-193. 80 Es handelt sich um 6 kleine Blätter, knappe, handschriftliche Notizen, die im AMRDG aufbewahrt sind. 76 77

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Titel „I popoli dell’Austria e la lotta linguistica e nazionale“81. Es handelt sich möglicherweise um den Entwurf einer Rede, wahrscheinlich auf den Zeitraum zwischen Ende 1905 (ein Teil bezieht sich nämlich auf den Volksbund) und Anfang 1907 zu datieren, denn es handelt sich um eine Rede über die erwähnte Problematik der „Distriktaufteilung“. Die sehr knappen Anmerkungen sind nicht einfach zu interpretieren, doch lassen sie ein gewisses Gedankenkonstrukt erkennen. Sie beginnen mit der Beschreibung der traditionellen Unterscheidung in „Kronländer“ wie „Königreich Böhmen, Galizien, Tirol usw.“ als „historischer Käfig“, dem stattdessen „nationale Territorien“ entgegenzusetzen seien. Die Verfassungskommission hatte das „historische“ Prinzip dem „ethnischen“ entgegengesetzt, um am Ende das historische siegen zu lassen, was die Nationen zugunsten der vorherrschenden Nationalität zerstückelte, gegen die die Minderheiten eine „nationale Autonomie“ einforderten. Dann kritisierte er „das falsche Ideal von der historischen Einheit Tirols“ und erinnerte stattdessen an „einen großen Unterschied an Sprache, Gebräuchen und wirtschaftlichen Zuständen“. Es folgten Anmerkungen, die den „ultranationalistischen“ Charakter der Deutschnationalen beschrieben, die er in Verbindung mit dem „Alldeutschen Verband“ in Berlin sah und damit mit dem germanischen Imperialismus und der Rassenlehre, auch vergaß er nicht den „protestantischen“ Charakter dieser Kräfte anzuklagen (natürlich ein idealer Anlass zum Polemisieren). Der Tiroler Volksbund wurde entsprechend als Spross deutscher – nicht österreichischer – Gesinnung gedeutet, mit extremistischen Tendenzen (zwei Sätze von „Majr“ [Edgar Meyer] wurden zitiert: „Der Wunsch nach Frieden ist ein Produkt der Schwäche“; „Zugeständnisse sind Zeichen von Schwäche“). Die letzten Sätze der Anmerkungen waren: „Die Volkspartei ist: / 1) für die autonome Entwicklung: für unser Leben notwendig wie Sauerstoff und Frieden / Also / 2) für die nationale Integrität. Wahrung / Wir vereint, denn die nationale Bildung ist fundamental / und hier mit dem Volk: ökonomische Grundlagen, nicht Irredentismus / Schließlich: nationale Erhebung / Universität“. Schließlich noch eine wichtige Anmerkung, ein Schlüssel zu De Gasperis politischem Engagement: „Unterschied der Methoden: positiv – negativ / Wir – Frieden“. Diese Standpunkte wurden bereits angesprochen, mit ihnen wurde der Kampf um die Wahlrechtsreform bestritten, der am 14. Mai im ersten Wahlgang – mit eventuell folgenden Stichwahlen – sein Ende fand. 81 „Die Völker Österreichs und ihr Kampf auf linguistischer und nationaler Ebene“.

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Die Wahlen hatten zweifellos eine Neuordnung der parlamentarischen Landschaft zur Folge: Auf der allgemeinen Ebene verschwanden die Alldeutschen fast gänzlich (ihre Positionen waren von vielen traditionellen Parteien aufgegriffen worden) und auch die Liberalen und die Jungtschechen fielen stark zurück; die Christlichsozialen konnten einen erheblichen Erfolg verzeichnen und 87 Sitze gingen an die Sozialisten82. Im Trentino kam es zu einem regelrechten Erdrutsch: Zunächst einmal war die Wahlbeteiligung außerordentlich hoch (zwischen 70 und 80%, auch das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Kampagne De Gasperis funktioniert hatte). Bis auf die beiden traditionellen städtischen Domänen Trient und Rovereto (wo ein Sozialist, Avancini, beziehungsweise ein Liberaler, Malfatti, gewannen, aber erst in Stichwahlen, bei denen sie gegen einen Kandidaten aus der Volkspartei antreten mussten, der immerhin fast die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen konnte), eroberte die Volkspartei die übrigen 7 Wahlkreise bei einem Verhältnis von etwa 5 zu 1 auf die Nichtgewählten. Das bedeutete für die politische Repräsentation, dass auf die Volkspartei 70% der Stimmen kamen, auf die Liberalen 13% und auf die Sozialisten 11%83. Hier kann nunmehr ohne Weiteres von einer katholischen Vormachtstellung gesprochen werden, die die Vertretung der „nationalen“ Interessen übernommen hatte. Die Reaktion der neuen Führungseliten unter den Liberalen war, dass man nun noch stärker auf die ideologischen Gegensätze setzen müsse. „Auch ich glaube“ – schrieb Scipio Sighele an Giovanni Pedrotti am 22. Mai 1907 –, „dass die liberale Partei nur einen einzigen gesunden Weg hat: den Antiklerikalismus“84. In den Augen des Historikers erscheint diese Sichtweise wie eine Selbstvernichtung, doch ist es nachvollziehbar, dass eine Führungsgruppe voller Wut auf eine Niederlage reagierte, die ihr die Vertreter einer Lebenswelt beigebracht hatten, die sie – vor allem auf kultureller Ebene – stets als „minderwertig“ wahrgenommen hatte, wie es überhaupt im europäischen Liberalismus üblich war. Im neuen Parlament bildete sich ein „Klub der italienischen Volkspartei“ (der auch drei julische Abgeordnete zählte), in einem extrem differenzierten Nationalitätenkontext: 232 deutsche Abgeordnete, 19 italienische, 5 rumänische, 4 national-jüdische und 256 Slawen (108 Tschechen, 79 Polen, 32 Ruthenen, 24 Slowenen, 11 Kroaten und 2 Serben). Die Parteien waren geblieben, doch anstatt schwächer zu werden, hatte sich ihre Nationalisierung verstärkt (auch mit brisanten Ergebnissen, wie im Fall der SozialdemoVgl. A.J. May, La monarchia, S. 475-476. Vgl. R. Monteleone, Elezioni politiche nel territorio trentino-sudtirolese sotto l’Austria, S. 51-52. Die gewählten Abgeordneten der Volkspartei waren A. Tonelli, G. de Gentili, B. Paolazzi, G. Lanzerotti, G.B. Panizza, B. Delugan und E. Conci. 84 Zitiert aus M. Garbari, De Gasperi e il liberalismo, S. 472. 82 83

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kraten, die nun etwa 23% der Abgeordnetensitze innehatten). Wie bereits erwähnt, war der Sturz der National-Liberalen, die von zwei Dritteln der Mandate auf ein Viertel gefallen waren am eklatantesten. Die stärkste Partei war jetzt die neue Deutsche Christlichsoziale Reichspartei, die aus der Fusion zwischen den Christlichsozialen und den katholischen Konservativen entstanden war (sie kam auf 96 Mandate)85. Dem neuen Ministerpräsidenten, Baron von Beck, war daran gelegen, das Verhältnis zwischen den Nationalitäten in Tirol zu verbessern: Er verhinderte nicht nur eine nationalistische Propagandareise des deutschnationalen Ministers Schreiner ins Trentino86, vielmehr war es auch seiner Politik der Öffnung zu verdanken, dass sich die Nationalitäten auf parlamentarischer Ebene organisierten, indem je einem Vertreter pro Nationalität ein Sitz in der Gruppe der Vizepräsidenten der Kammer zugestanden wurde und Conci fiel diese angesehene Aufgabe zu. Im Juli 1907 hatte sich die Unione Latina gebildet, die sich aus drei Gruppen zusammensetzte: der italienischen Volkspartei (10 Mitglieder), den italienischen Liberalen (4) und der rumänische Gruppe (5). Das war die Vorbedingung gewesen, um ein Mitglied für das Präsidialamt der Kammer stellen zu können, eben Enrico Conci (ein weiteres Zeichen für die neue katholische Rolle)87. In der Regierungzeit Becks wurde Conci auch zum LandeshauptmannStellvertreter von Tirol ernannt: eine weitere Auszeichnung nicht nur für einen geschickten Politiker, sondern auch für die zunehmende Wichtigkeit der katholischen Bewegung im Trentino. Der große Wahlerfolg stärkte natürlich auch De Gasperis Stellung, der allerdings zu jung war um als Kandidaten eingesetzt zu werden (die Altersgrenze für eine Kandidatur war 30 Jahre). So führte er seinen Kampf als Direktor an den bereits bekannten Fronten fort. Vor allem verteidigte De Gasperi die besondere Zusammensetzung der katholischen Bewegung, ein Zusammenwirken von Laien und Klerus, das den Liberalen natürlich nicht gefiel. „Wir wissen, dass der Priester außerhalb der Kirche diesem ganzen Liberalentum ein Dorn im Auge ist“, schrieb er88. Und erklärte sogleich: Vgl. L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 975-976. So zumindest heißt es in den autobiografischen Erinnerungen Concis. 87 Conci war zum Präsidenten der Unione Latina gewählt worden und daher damit beauftragt, diese im Präsidialamt zu vertreten. Das Übereinkommen sah für dieses Amt eine Dauer von zwei Jahren vor und anschließend sollte ein Vertreter einer anderen Gruppe an die Reihe kommen, doch nach Ablauf der Amtszeit wurde Conci mit der Zustimmung aller für zwei weitere Jahre bestätigt. Auch das war ein Zeichen dafür, wie die Trentiner Volkspartei, nicht nur zahlenmäßig, stärker wurde. 88 Vogliamo i preti in chiesa, in: Il Trentino, 1. Juni 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 593-597. 85 86

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„Ob diese Herrschaften wohl wissen, dass es in den meisten unserer Dörfer nur die Geistlichen sein können, aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds und ihres ständigen Kontakts zu den armen Leuten, die diese zu einem echten zivilen und sozialen Bewusstsein erziehen, die sie zu einem energischen Schutz ihres Hab und Gutes und ihrer Interessen anhalten können?“

Diese Polemik half, der Bewegung den Rücken zu stärken und wenig später griff er sie in einem wichtigen Artikel89 noch einmal auf. Aufhänger waren die Beleidigungen in den liberalen Medien gegen „die Ladung Hohlköpfe, die die Volkspartei ins Parlament schickt“, überzeugt, dass der Sieg nur den „intriganten, verlogenen Priestern“ zu verdanken sei, und es kam sogar so weit, dass „die antiklerikale Presse den Wählern aus den Tälern vorwarf, sie seien ,verantwortungslose und finstere Gebirgler‘“. Sein Ziel war es, zu zeigen, dass die Liberalen, die bei den Parlamentswahlen den Sozialisten Avancini unterstützt hatten und nicht den moderaten Antonio Tambosi, einen Nationalliberalen mit guten Kontakten zu den Katholiken, längst entlarvt waren: „Die Entwicklung der Parteien hat gezeigt, dass ihr vor allem Liberale und Antiklerikale seid“, denn „der Nationalismus ist in den Hintergrund getreten; Antiklerikalismus und purer Liberalismus haben sich auch dem Blinden gegenüber als der eigentliche Daseinsgrund der Liberalen offenbart“. Jetzt hatte sich die Volkspartei die nationale Frage auf die Fahnen geschrieben: „Trentino è scritto sulla nostra bandiera vittoriosa“, und den Liberalen wurde der Vorwurf eines schwerwiegenden Bruches gemacht: „Ihr habt euch praktisch von den Tälern losgesagt, ihr habt sie beleidigt, ihr habt den heiligen Bund, der allein Trient als Hauptstadt rechtfertigt, gelöst“. Auf diese Weise versuchte De Gasperi, auch eine weitere Flagge für sich zu hissen: die der Hauptstadt. „Die Volkspartei wird bestimmt nicht versuchen, Trient zu isolieren. Für uns wird Trient immer das Zentrum des Landes sein, Trient die Hauptstadt der Diözese, Trient der Knotenpunkt unserer ökonomischen Kräfte und unsere Abgeordneten werden die Repräsentanten des gesamten Trentino sein, und die nationalen und ökonomischen Interessen unseres gesamten Landes fördern“.

Hier kehrte er zu der ideologischen Synthese zurück, wie sie von Anfang an zu finden ist: Der Liberalismus hatte „dem katholischen und gläubigen Trentino“ „einen Schlag ins Gesicht“ verpasst und die Volkspartei, die sich „trotz gewisser Trentiner für ein einiges und starkes, rational und moralisch fortgeschrittenes Trentino“ einsetzte, hisste „unsere katholische und italienische Flagge“.

89 Il Trentino, in: Il Trentino, 10. Juni 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 597-601.

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Wie man sieht, war De Gasperi sehr geschickt darin, einen politischen Diskurs der Identifikation aufzubauen, der die Gegensatzpaare Freund/Feind eng mit identitätsstiftenden Inhalten verknüpfte, um das zu kreieren, was die politischen Anthropologen das „Wir-Bewusstsein“ nennen. Dabei war es behilflich, auf Beispiele von außen, etwa aus dem Ausland, zurückzugreifen: Sie dienten dazu, gewisse Botschaften mit besonderem Nachdruck und zugleich dezenter Zurückhaltung zu vermitteln. Ein solcher Fall ist seine Berichterstattung vom Kongress der deutschen Katholiken, der im August 1907 in Würzburg stattfand und an dem De Gasperi teilnahm. So teilte er mit90, dass „die deutschen Katholiken stark und entsprechend respektiert sind“, sich aber auch „tolerant“ gegenüber den „protestantischen Gläubigen“ zu verhalten wissen. Es wird hinzugefügt, dass „sich die Frauenorganisation einbringt“; dass „es wunderbar ist, wie die deutschen Katholiken auf ihren Kongressen zu abstrahieren wissen von dem, was sie trennt, um stattdessen das herauszustreichen, was sie eint“. In einer weiteren Korrespondenz91 aus Würzburg, in der er den Akzent auf den internationalen Charakter der Tagung gelegt hatte, hebt er dann hervor, dass „diese Männer … für einen Katholizismus innerhalb der fortschrittlichsten Entwicklung einer modernen Gesellschaft stehen“, weshalb man „das Wort von Pius X.: Germania doceat!“92 gut nachvollziehen kann. Wie schon im vorherigen Artikel erwähnt er auch hier die polemischen Auseinandersetzungen über den Modernismus (einschließlich der zwischen Schell und Commer), wobei er eine hochinteressante Beobachtung macht: In seinen Interviews mit Vertretern der verschiedenen Provinzen trat „die Überzeugung [zutage], dass in Deutschland der sogenannte Reformismus und all das, was von der Orthodoxie oder vom Gehorsam abweicht, überhaupt keine Resonanz erfährt. Ich habe festgestellt, dass vor allem das Laientum in religiösen Fragen nur das Wort der Bischöfe in Rom anerkennt. Genauso groß ist ihre Freiheitsliebe in ökonomischen und politischen Fragen. Ein Durcheinander in diesem Sinne, wie es in Italien herrschte und weiterhin herrscht, kennt man dort nicht“ (eigene Hervorhebung, P.P.). Hier haben wir eine Erklärung – und diese Behauptung sei mir gestattet – für die Haltung des Katholiken De Gasperi, wie sie in all seinen Aktionen 90 Il congresso di Würzburgo (nostra corrispondenza particolare), in: Il Trentino, 30. August 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 635-640. 91 Il congresso di Würzburgo (nostra corrispondenza particolare), in: Il Trentino, 31. August 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 640-643. Über die Methoden der deutschen Katholiken berichtete De Gasperi auch in einem anderen Artikel, Il ‚Volksverein‘, in: Il Trentino, 31. August 1907, jetzt ebd., S. 643645. 92 Über den Einfluss des deutschen Modells auf den italienischen Katholizismus siehe S. Agocs, „Germania doceat“, The Volksverein, the Model for Italian Catholic Action 1905-1914, in: The Catholic Historical Review, 1975, 1, S. 31-47.

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offenbar wird: sich aus den theologischen Auseinandersetzungen heraushalten (für die er weder Verständnis noch Interesse aufbrachte) und auf diesem Gebiet die offizielle Orthodoxie akzeptieren, ohne sich damit Probleme zu schaffen; in politischen Fragen auf der eigenen Freiheit beharren. Mit dieser gedanklichen Klarheit verfolgte der junge Direktor sein Ziel, die überragende politische Fähigkeit der Volkspartei immer überzeugender zu propagieren. Anfang September kommentierte er einen kleinen Erfolg im Landtag, der die Tiroler Presse aufgebracht hatte (es sei daran erinnert, dass der gesamte Sommer im Zeichen der Provokationen vonseiten der Alldeutschen, die ins Trentino gekommen waren, gestanden hatte), indem er die „unverhohlenen Ratgeber der Gewalt und der Unterdrückung“ daran erinnerte, dass die Volkspartei nie locker lassen würde „solange ihr nicht verinnerlicht habt, dass ihr in Österreich seid, in einem Vielvölkerstaat und nicht in einem pangermanischen Staat“ und dass „in der Provinz Tirol, ob ihr es wollt oder nicht, zwei Nationen leben, denen die Natur und die Verfassung die gleichen Rechte zugestanden hat“93. Es gab die Bereitschaft zu einer „Versöhnung“, doch „die Volkspartei wird, sobald ihre Zeit kommt, ihre Pflicht tun, und, das merke man sich, sie wird mit den Deutschen auf Augenhöhe verhandeln: keine Almosen, keine Bittstellerei“. Er war sich darüber im Klaren, dass „die einzig mögliche nationale Politik im Trentino dessen wirtschaftliches Erwachens ist“, denn es ist „ein Land, das nicht von politischen Abenteuern träumt, sondern sich vielmehr frei entwickeln will zu einem eigenen Leben, ohne dabei die Rechte des Staates oder die anderer Nationen antasten zu wollen“. Es wird deutlich, dass diese Politik extrem ehrgeizig war und die traditionellen Führungselite in den ihr angestammten Bereichen herausforderte, selbst in der Sprache („risorgimento economico“ war das Schlagwort des Trentiner Liberalismus der Achtziger- und zu Beginn der Neunzigerjahre gewesen94). Die Kämpfer für diese Losung („die leichte Kavallerie“ wie er einmal sagte) sollten die katholischen Studenten und Akademiker sein, die am ehesten in diese neuen thematischen Zusammenhänge passten. An sie richtete De Gasperi zum zehnten Jahrestag der Gründung der AUCT eine Rede, die erneut ein politisches Manifest war. In diesem Text95 des Direktors 93 Sempre!, in: Il Trentino, 4. September 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 645-647. 94 M. Wedekind, Borghesia e liberalismo in Trentino nell’ultimo periodo della monarchia asburgica (1866-1915), in: E. Conze / G. Corni / P. Pombeni (Hrsg.), Alcide De Gasperi, S. 63-92. 95 La Nostra Storia, in: E. Zucchelli / A. Goio / E. Tamanini (Hrsg.), Dopo Dieci anni. Moniti, plausi, ricordi, Einzelheft, Trient, 22. September 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 665-685.

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des „Trentino“, der die Geschichte der Vereinigung als Einstand der neuen politischen Bewegung auf der politischen Bühne illustrieren sollte, tauchte zum ersten Mal die neue Losung – „Trentinismus“ – auf, und er erklärte sie auch. Es handelte sich keineswegs um ein Mittel, das nationale Thema außen vor zu lassen, die Schreiber der Sonderausgabe richteten sich in ihrer Einführung vielmehr an die „Universitätsbrüder des Reiches, mit denen uns im Hinblick auf Glaube, Nation und Kultur so viel verbindet“ und „mit denen wir uns heute mehr denn je verbrüdert fühlen“. Der Darstellung De Gasperis zufolge war die neue Struktur im November 1895 als Reaktion auf den Circolo Universitario von Wien entstanden, „in dem die Adriatischen vorherrschten“, die „einen unguten Einfluss auf die Trentiner hatten“, die sie als „Bergleute“ definierten. Die Adriatischen veranstalteten vor allem Feiern für die Erstsemester – laut De Gasperi, „echte Gelage, Szenen abscheulicher Aufnahmerituale“. Und so beschreibt er die Entstehung der unabhängigen Organisation der katholischen Studenten des Trentino: „Was diese jungen Leute, die letztlich viele unterschiedliche Wege einschlugen, gesinnungsmäßig gemeinsam hatten, ist im Rückblick schwer zu sagen, doch glaube ich, dass sie ein gewisser ehrlicher Unabhängigkeitsgeist einte, den man gegenüber den hochgelobten Traditionen der „Menschen vom Meer“ mit trentinismo bezeichnen könnte“.

Daraus folgt zweierlei: dass für diese neue Generation die „regionale“ Identität mehr Gewicht hat als die traditionelle „nationale“ und dass es zu einer „Klassenspaltung“ innerhalb der Studentenschaft kommt. Die „Menschen vom Meer“ stehen für ein wirtschaftlich fortschrittliches und kulturell lebendiges städtisches Milieu und sie sind wahrscheinlich Kinder eines reichen und expandierenden Bürgertums. Die „Gebirgler“ stehen nicht so sehr für eine rückständige Lebenswelt (im Trentino gab es kulturelle Entwicklungen, die allzu oft unterschätzt werden), als vielmehr für eine sozial neue Realität mit der Öffnung des Hochschulzugangs für die Söhne des kleinen und mittleren Bürgertums (und De Gasperi ist eben einer von ihnen). Im Gegensatz dazu herrschten im Habsburgerreich – zumindest in der Erinnerung des Chronisten De Gasperi – „Zeiten des nationalen Friedens“, sodass im Mai 1900 in Innsbruck auch die deutschsprachigen Studentenvertreter an der Eröffnung einer lokalen Sektion der AUCT teilgenommen hatten (er erinnert gar daran, dass der Student Guido Barbacovi, der in Wien die deutschen katholischen Studenten gegen die Angriffe der Pangermanisten verteidigt hatte, von allen gefeiert wurde). Was verändert das Panorama dieser Analyse zufolge? „Die Universitätsfrage“, merkt De Gasperi an, „sollte stärker noch als der Antiklerikalismus [die Trentiner Studenten] in mehrere Lager spalten“, und weiter: „Der Einsatz unserer Studenten im Kampf gegen den Volksbund war groß“. In

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dieser Passage lassen sich die drei Aspekte ausmachen, die der Bewegung Kraft und Struktur geben sollten. Die Universitätsfrage hatte den trentinismo gegen den allgemeinen, verdeckt irredentistischen nationalen Geist ins Leben gerufen, und zwar dank dessen, was von nun an als das Eintreten für eine „positive Politik“ bezeichnet wurde. Auf der anderen Seite sollte der Kampf gegen den Tiroler Volksbund die Bedeutung eines sozial organisierten Trentiner Gemeinschaftssinns wieder ins Bewusstsein rücken, der sich gegen ein entnationalisierendes Eindringen von außen zur Wehr setzte. Und da der Klerus in seiner Eigenschaft als gemeinschaftsstiftende Autorität das tragende Element in der sozialen Organisation war, sollte ihm eine zentrale Rolle im Kampf gegen das „Volksbündlertum“ zukommen. Es handelte sich um ein politisches Programm, das am Ende ohne große Polemiken einen gewissen altmodischen katholischen Paternalismus96 abgestreift hatte und vielmehr dem Appell von Pater Agostino Gemelli nachkam, der auch in der Sonderpublikation vertreten war. „Diese traurige Stunde des Kampfes gegen die Religion, wie wir sie derzeit erleben, muss in uns Katholiken das Bedürfnis wecken, standzuhalten und unserer Stimme Gehör zu verschaffen“.

Wie gesagt, war De Gasperi am intellektuellen Kampf für eine Reform der Kirche kaum interessiert. In seinem Kommentar zur Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“, die den Modernismus geißelte, ging er auf Abstand zu allen, „die – ein höchst unseliges Ansinnen – die christliche Demokratie in eine Reform der Philosophie, der heiligen Wissenschaften und der kirchlichen Regeln verwandeln wollten“, denn das hielt er für das „Eindringen des kühnsten liberalen Protestantismus in die katholischen Reihen“97. Diesen Standpunkt teilte er mit dem Bischof, der Rom immer wieder stolz wissen ließ, dass es in seiner Diözese keinerlei Anflug von Modernismus gebe98. 96 Das kam in einem Brief von Commer deutlich zum Ausdruck, der in derselben Ausgabe zwischen zahlreichen Glückwünschen veröffentlicht worden war. Darin ließ man „diese Söhne keuscher Mütter“ hochleben, die die Wahrheit suchten „mit dem Geist des Vaterlandes … in der Hauptstadt eines großen Reichs, das sich aus den unterschiedlichsten Völkern zusammensetzte im Zentrum der modernsten Kultur“ (damit spielte er auf Wien an). 97 Intorno all’enciclica, in: Il Trentino, 19. September 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 662-665; Religione e politica, 28. Dezember 1907, jetzt ebd., S. 706-709: Hier distanzierte er sich von Murri, auch wenn er an seine persönliche Bekanntschaft mit dem Geistlichen aus den Marken erinnerte. 98 Am 5. Oktober 1908 schrieb er zum Beispiel nach Rom, dass „man keine geeignete Gelegenheit auslässt, dem jungen Klerus den Abscheu vor dieser modernen Häresie einzuimpfen … Der Klerus, der sich um die Seelsorge kümmert, ist gegen die modernistischen Ideen ohnehin immun“; zitiert nach G. Faustini, Emilio Chiocchetti anomalo, in: Archivio Trentino, 2005, 1, S. 104-105.

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Zwischen dem Ende des Jahres 1908 und Oktober 1909 schien sich daher die Situation derart aufzuhellen, dass die katholische Bewegung einmal mehr die Früchte ihrer Arbeit ernten konnte. Außenminister Aehrenthal hatte eine Politik der Entspannung mit Italien vorangetrieben (mit Unterstützung seines italienischen Amtskollegen Tittoni), und er hatte sowohl mit Russland als auch mit Großbritannien wieder politische Kontakte aufgenommen99. Aber seine Politik hatte auch innenpolitische Ambitionen. Wir wissen aus unveröffentlichten Aufzeichnungen Aehrenthals aus dem Jahr 1907 vom „Problem, eine für uns günstige Gestaltung der Verhältnisse an der Südgrenze der Monarchie für den Fall einer Auflösung der türkischen Herrschaft vorzubereiten“. Er erkannte, dass „es bis jetzt nicht gelungen ist, eine konkrete Idee zu formulieren, die uns den Weg ebnet für in unserem Sinne günstige zukünftige Entwicklungen“, da „es uns intern nicht gelungen ist, die slawischen Elemente im Süden der Monarchie so zu gruppieren, dass aus ihnen ein Gegengewicht zu der von Belgrad ausgehenden Attraktionskraft der großserbischen Idee geworden wäre“. Das war für ihn der einzige Weg, der Lage Herr zu werden, denn das würde „langfristig nicht zu einer zunehmenden Magyarisierung führen, sondern die Monarchie in eine Bahn lenken …, die ihrer Entwicklung vielleicht am angemessensten ist: die Bahn des Trialismus“100. Das hieß, für eine rationale Entwicklung der Situation einzutreten – und zwar ohne kriegerische Auseinandersetzungen und stattdessen mit einer Erweiterung der „föderalistischen“ Ansätze des Habsburger Systems. Das zwang selbst die Liberalen zu der Feststellung, dass man mit den alten Vorstellungen nationaler Intransigenz nicht mehr weit kam. De Gasperi notierte das voller Genugtuung101 und erinnerte an das, was die UPPT in ihrem Programm unter „positivem Nationalbewusstsein“ verstand: „Die Schaffung eines Gefühls der Zugehörigkeit und der Treue gegenüber der eigenen Nationalität, ein fest verankertes dauerhaftes Empfinden, nicht nur Momente der Rebellion, wenn die Nationalität ganz offensichtlich bedroht ist, und all das, ohne sich dabei auf negatives Reagieren zu beschränken, um die Angriffe abzuwehren“.

Die Liberalen, die ihn ausgelacht hatten, die mittlerweile aber auch Eisenbahnen, wirtschaftliche Entwicklung und Abgabengerechtigkeit forderten, erinnerte er daran, dass das Programm der Katholiken immer schon „das gemeinsame Hinarbeiten auf das wirtschaftliche Erwachen des Landes“ gewesen sei. 99 Vgl. A. Skrivan, Schwierige Partner: Deutschland und Österreich-Ungarn in der europäischen Politik der Jahre 1906-1914, Hamburg 1999. 100 Zitiert aus J.W. Mason, Il tramonto dell’impero, S. 125. 101 La coscienza nazionale positiva, in: Il Trentino, 17. März 1908, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 735-736.

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Diese Haltung wurde durch einen weiteren Erfolg bestätigt, denn bei den Landtagswahlen vom 20. Februar 1908 in Innsbruck waren alle 12 Kandidaten der Volkspartei in den ländlichen Bezirken gewählt worden, dazu ein Kandidat in den städtischen Wahlkreisen (zu dem ein weiterer Kandidat aus der Kurie der Geistlichen kam), und das gegen 6 Kandidaten der Liberalen (5 aus den Kurien der Stadt und ein Kandidat aus der Kurie der Gewerbeund Handelskammer)102. Daraus ergab sich eine neue politische Konstellation innerhalb des Landtags: der Bruch mit den alten Verbündungstaktiken zwischen konservativen Katholiken und Liberalen im Tiroler Teil zugunsten einer Allianz zwischen den Trentiner Mitgliedern der Volkspartei und den Tiroler Christlichsozialen, was im April, wie selbst Statthalter Spiegelfeld anerkannte, zu einer ausgesprochen fruchtbaren Sitzung führte103. Nicht dass dieses Idyll von Dauer gewesen wäre: Schon im Herbst hatte sich die Diskussion über das Problem einer zusätzlichen Rekrutierung von Hilfstruppen festgefahren, auch wenn man gute Gesetze zu ökonomischen und sozialen Eingriffen auf den Weg gebracht hatte. Die Trentiner wollten, dass diese Anordnung nur in Verknüpfung (junctum hieß das im damaligen parlamentarischen Sprachgebrauch) mit einer Anordnung zur Verbesserung des Gehalts der Volksschullehrer genehmigt würde, deren Bezahlung dem Land übertragen werden sollte, um die Gemeinden zu entlasten, die im Trentino in finanziellen Schwierigkeiten steckten. Zu neuen Spannungen kam es auch durch den Anschluss BosnienHerzegowinas an das Habsburgerreich am 7. Oktober 1908104. Damit tauchte zwar für einen Moment ein Hoffnungsschimmer für das Trentino auf: Der italienische Außenminister Tittoni hatte in einer Rede in Carate von der Möglichkeit gesprochen, das Trentino Italien zu überlassen als Ausgleich für die Expansion Österreichs auf dem Balkan (auch hatte er das Thema einer italienischen Universität in Triest angesprochen). Das war aber ein Szenarium ohne echte Perspektiven, das nur dazu führte, dass anti-österreichische Ressentiments in Italien zunahmen und dass es im Reich, vor allem an den Universitäten, erneut zu anti-italienischen Unruhen kam.

G. Vecchio, De Gasperi e L’Unione politica, S. 557-559. R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 224-226. 104 Für eine erste Annäherung siehe F.R. Bridge, The Foreign Policy of the Monarchy 1908-1918, in: The Last Years, S. 7-30; ausführlicher ders., From Sadowa to Serajevo: The Foreign Policy of Austria-Hungary 1866-1914, London 1972; K. Boeckh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg: Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan, München 1998; J. Milojkovi’c-Djuric, The Eastern Question and the Voices of Reason: Austria-Hungary, Russia and the Balkan States 1875-1908, New York 2002. 102 103

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De Gasperi erkannte ganz realistisch, dass für Italien bei einer internationalen Neuordnung im Zuge der Bosnienfrage (zu der es dann gar nicht kam) keine Vorteile zu erhoffen waren und dass sich Tittoni Aehrenthal allenfalls „die Anerkennung seiner Einflusssphäre in Tripolitanien“ erhoffen konnte, das heißt: „Afrikanischer Ausgleich. Was, Aehrenthal, haben wir Tittoni nicht wie einen Freund behandelt? [sic]“105. Die nationalistische Euphorie und die Rückkehr der alten Führungselite hatten am 7. November 1908 die Regierung Beck stürzen lassen, die am 17. unter Graf Richard von Bienerth neu gebildet wurde. In seiner Chronik sprach Conci von der Rache der österreichischen Aristokratie an denen, die ein Wahlrecht eingeführt hatten, das sie benachteiligt hatte. Über Bienerth fällte er ein sehr hartes Urteil, er hielt ihn für unfähig106. Dieses Urteil hatte auch einen kleinen Zusammenstoß zwischen Conci und De Gasperi zur Folge. In seiner Erwiderung an den Trentiner Parlamentarier schrieb der Direktor des „Trentino“ am 18. November107, dass Conci ihm einen zwar „in der Form höflichen“ Brief geschrieben habe, der aber „zum Inhalt einen doppelt bitteren Vorwurf hatte und als Abschluss vielleicht sogar ein Ultimatum“. In dem ihm eigenen Stil, der immer auch vom Selbstbewusstsein, das er aus seiner Rolle bezog, zeugte, schrieb er: „Ich erlaube mir, offen zu sein und, was die Form betrifft, meiner jugendlichen Grobheit die Straffung der ausschweifenden Sätze zuzuschreiben“. Conci hatte sich beklagt, dass ein Beitrag von ihm aus Wien gekürzt und verändert worden war. Der Direktor (der Brief ist auf dem offiziellen Briefpapier der Zeitung geschrieben) gab zwar zu, dass man mit Namen versehene Artikel nicht verändern sollte, sagte aber auch, dass er nur den letzten Satz über die Regierung Bienerth gestrichen habe, da ihm Concis „Pessimismus“ übertrieben schien. Er erinnerte ihn allerdings auch daran, dass „es in Ihrer langjährigen Mitarbeit viele Male Anlass gab, zu streichen oder zu kürzen, wenn die Beiträge aus Wien von telegrafischen Notizen überholt wurden oder wenn ich mich aufgrund lokaler Polemiken gezwungen sah, einige Abschnitte nicht stehen zu lassen, die gegen die Zeitung hätten verwendet werden können“ (eigene Hervorhebung, P.P.). Und er fügte hinzu: „Ihre Mitarbeit hat für unsere Zeitung mehr Wert als 105 I compensi, in: Il Trentino, 9. Oktober 1908, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 838-840. 106 Der „Memoria autobiografica“ zufolge war Bienerth über die Angriffe informiert, die Conci im „Trentino“ veröffentlichte, und er ließ ihn sogar einmal in sein Büro rufen, wo er ihm sagte: „Denken Sie daran, so wie ich in Eurer Zeitung behandelt werde, so werde ich Euer Land behandeln“. 107 Der Brief befindet sich in: MSTF, Nachlass Conci, Umschl. 2, Bl. 16. Der Brief enthält keine Jahresangabe: Der Archivar hat ihn auf 1906 datiert, das ist aber aufgrund der klaren Bezugnahme auf die Regierung Bienerth unmöglich, die erst am 15. November 1908 angetreten war.

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mein Opportunismus“, sodass er sich bemühen würde, „Ihre Artikel, die ich Sie dringend bitte, uns weiterhin zukommen zu lassen, gewissenhaft Korrektur zu lesen“. Er rechtfertigt die Streichung des Schlusses, denn „dieser war extrem pessimistisch und man konnte leicht den Schluss ziehen, die gesamte parlamentarischen Politik der Volkspartei [Hervorhebung im Original]“ sei gescheitert: Die gegnerische Presse hätte sich sofort darauf gestürzt, um „in allen Tönen wieder das Lied von der Bauernfängerei der Volkspartei anzustimmen“. Das galt es zu verhindern: „Wie Sie sehen, gibt es dafür im Hinblick auf die lokale Situation taktische Gründe. Sie können uns vorwerfen, dass wir diese zu sehr berücksichtigen, während wir meinen, dass Sie sie zu sehr vernachlässigen“. Und er fuhr fort: „Sie sehen, wenn ich etwas falsch mache, tue ich es aus Übereifer für die Partei. Das hat zumindest diesmal mit persönlicher Ambition wenig zu tun. Für mich ist nach wie vor gültig, trotz der Meinungsverschiedenheiten, auf die ich es hin und wieder anlege, dass ich Sie hochschätze und Ihnen gegenüber herzliche Gefühle hege. Was tut es da zur Sache, dass ich manchmal die anderen brüskiere? Das ist mein Fehler, das ist meine Tugend. Aber um was es sich auch handeln mag, ich bin jederzeit bereit, meinen Fehler einzugestehen, wenn es darum geht, der Partei oder der herzlichen Wertschätzung für die Personen, die bei uns mitarbeiten, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.

Die politische Situation war zweifellos komplex und De Gasperi hatte den heiklen Moment nicht nur in seiner Gänze erfasst, vielmehr hielt er sich in seiner Führungsrolle selbst einer bedeutenden Persönlichkeit wie Enrico Conci gegenüber nicht zurück. Für die alte zentraleuropäische Monarchie begann eine extrem schwierige Phase. Dabei schien es, als seien Lösungen für eine interne Befriedung greifbar (in der Tat bemühte man sich kontinuierlich um verschiedenste Reformen). Doch in Wirklichkeit führte das sture „An-der-Macht-Festhalten“ vonseiten der herrschenden Eliten – in der Annahme, nur so könne man den Fortbestand des Reichs108 rechtfertigten – zu Entscheidungen, denen die politische Grundlage fehlte; was sowohl die Konsensfindung (das mindeste für eine Außenpolitik dieser Art wäre eine breite Geschlossenheit der Führungsklassen des gesamten Reiches gewesen) betraf als auch die ökonomischen und militärischen Ressourcen109. Längst hatten alle die kluge Einschätzung von Hegel hatte in den „Berliner Vorlesungen“ von 1828-1832, geschrieben: „Österreich ist nicht ein Königtum, sondern ein Kaisertum, d.h. ein Aggregat von vielen Staatsorganisationen, die selbst königlich sind … Die hauptsächlisten dieser Länder sind nicht germanischer Natur“. Dennoch war Österreich „eine politische Macht für sich“; zitiert nach W. Heindl, Was ist Reform?, in: Innere Staatsbildung, S. 167-168. 109 Dieser Punkt wird seit jeher in der Literatur ausgiebig und kontrovers diskutiert. Da ich noch auf die Debatte über das Militär zurückkommen werde, beschränke ich 108

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Ministerpräsident Badeni aus dem Jahr 1895 vergessen, nämlich dass der Krieg eine Unmöglichkeit für Österreich sei und dass ein Vielvölkerstaat keinen Krieg führen könne, ohne seine Integrität zu gefährden. In einem Zusammenschluss aus Nationen würde sowohl ein Sieg als auch eine Niederlage zu den gleichen Schwierigkeiten führen110. Tatsächlich hoffte Bienerth, der in vielerlei Hinsicht ein Schützling von Erzherzog Franz Ferdinand war, viel stärker als Beck111, sich zum einen auf die Kraft der christlichsozialen Partei stützen zu können, und zum anderen – je nach Situation – zu einer Politik zurückkehren zu können, in der man sich mit den verschiedenen Nationalitäten auf wirtschaftlicher Ebene einigte. Doch die Parteien veränderten sich: Die Christlichsozialen entwickelten sich immer mehr – auch dank ihrer Nähe zu Erzherzog Franz Ferdinand – zu einer Art Regierungsschutztruppe112. Die Sozialisten sollten rasch Opfer der nationalen Spannungen werden, die ihre Führungsgruppe, in der gefühlsmäßig und kulturell österreichisch-deutsche Personen bei weitem überwogen, nicht mehr kontrollieren konnte. Hinzu kam, dass ihr Antiklerikalismus, der aus ihren bürgerlichen und aufklärerischen Wurzeln herrührte, die Möglichkeit, weitere Bevölkerungsgruppen anzusprechen, stark in Grenzen hielt. Die weitreichende Zersplitterung des Parlaments ließ keine Gemeinsamkeiten zu und Bebel, der Anführer der deutschen Sozialdemokraten, sprach vom Reichsrat als von „einem reinen Affentheater“113. Und das Ganze angesichts einer weiteren Verwaltungsreform, deren Ausarbeitung 1909 einer Kommission unter dem berühmten Juristen Josef Redlich anvertraut worden war. Doch auch in diesem Fall sollten die Ergebnisse minimal sein, denn der Verwaltungsapparat war zwar effizient und gut organisiert, aber auch unflexibel und sehr konservativ: einer der vielen

mich hier darauf, eine Untersuchung zur ökonomischen Frage zu zitieren (vgl. D.F. Good, Stagnation and ‚Take off‘ in Austria, 1813-1913, in: The Economic History Review, 27 [1974], S. 72-87), die die These von einem allgemein guten Entwicklungsstand des Reichs vertritt, vergleichbar dem anderer europäischer Länder. Es sollte dazu aber angemerkt werden, dass die territoriale Zersplitterung und die internen Konflikte mit all den Kosten, die sie verursachten, die Bilanz dieser wirtschaftlichen Entwicklung erheblich schmälerten. 110 Zitiert aus A.J. May, La monarchia asburgica, S. 693. 111 S.R. Williamson, Influence, Power and the Policy Process: The Case of Franz Ferdinand 1906-1914, in: Historical Journal, 17 (1974), S. 417- 434. 112 Allerdings um den Preis einer wachsenden inneren Krise, die drohte, sich auf den Wahlausgang auszuwirken, vgl. J.W. Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 1897-1918, Chicago IL 1995. 113 Vgl. E. Hamisch, Ambivalenz der Modernisierung, in: Innere Staatsbildung, S. 177-185.

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Widersprüche, die von der letzten Phase des Reichs sehr gegensätzliche Vorstellungen entstehen ließen114. Das betraf auch die Monarchie. Im Jahr 1908 feierte man das 60. Thronjubiläum Franz Josephs. Bei den zahllosen Festen zu diesem Anlass waren die Beteiligung der Bevölkerung und die allgemeine Würdigung des alten Kaisers zwar sehr groß gewesen, doch es hatte auch nationalistische Spannungen gegeben (im Dezember war in Prag aus Angst vor Ausschreitungen sogar der Ausnahmezustand verhängt worden)115. Davon wird später noch die Rede sein, aber hier sei bereits angemerkt, dass diese Widersprüchlichkeit heute nicht mehr verwundert, nach Jahrzehnten der geschichtswissenschaftlichen Debatte über den „Konsens“ im Faschismus (und auch im Nationalsozialismus): Der Konsens auf allgemeiner Ebene (mit Ausnahme weniger, hoch spezialisierter Kreise) wird als gegeben angenommen, solange ein System stark ist, erst in Krisenmomenten wird er infrage gestellt. Hier zeigt sich, ob ein System „hält“ und inwiefern der Konsens auf der Anpassung an das Unabänderliche gründet oder auf der Legitimierung eines Systems, das es auch in glücklosen Zeiten zu verteidigen gilt. Wir neigen zu der Annahme, dass das Habsburger System in seiner letzten Phase eher der ersten Typologie zuzurechnen ist116. Vor diesem Hintergrund begann sich De Gasperi mit Fragen der Außenpolitik zu befassen (die er bis dahin nur gelegentlich gestreift hatte). Er fand es extrem beunruhigend, wie die Presse im Februar 1909 „mit einer beneidenswerten Leichtfertigkeit das Bevorstehen eines Krieges“ verkündete117. Und er klagte darüber, wie all das außerhalb der parlamentarischen Kanäle vonstattenging, denn „in diesen Zeiten des Konstitutionalismus scheint es nicht üblich zu sein, [die Völker] in hohen diplomatischen und militärischen Angelegenheiten nach ihrer Meinung zu fragen“118. Es entging Um die Gegensätzlichkeit der Sichtweisen zu veranschaulichen, seien zwei Werke zitiert, die in Österreich zur Reform der Bürokratie erschienen waren: Im ersten Werk, von 1904, ironisierte der Bürokrat Josef Olszewski die Aufgabe dieses Korps, indem er schrieb, dass es „die Kontrolle der Kontrolle zu kontrollieren“ galt; im zweiten Werk, von 1911, schrieb Karl Brockhausen, „das Staatsrecht zerreißt Österreich, die Verwaltung hält es zusammen“, in: W. Heindl, Was ist Reform?, S. 172, 169. 115 Zum Problem des „monarchischen Mythos“ siehe P. Urbanitsch, Pluralist Myth and Nationalist Realities: The Dynastic Myth of the Habsburg Monarchy. A Futile Exercise in the Creation of Identity?, in: Austrian History Yearbook, 35 (2004), S. 101-141. 116 Für eine historische Reflexion über diese Kategorien verweise ich auf P. Pombeni (Hrsg.), Crisi, legittimazione, consenso, Bologna 2003. 117 La Guerra, in: Il Trentino, 20. Februar 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 885-887. 118 La spada di Damocle, in: Il Trentino, 25. Februar 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 889-890. 114

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ihm auch nicht, dass sich all das innerhalb eines Wandels des politischen Systems vollzog. „Und der Staat, diese große Krake, die alle öffentlichen Energien verschlingt, die Bürokratie, dieser Apparat, der jeden höheren Gedanken abtötet, übernahm jede Art von Unterstützung, für die Familie, bei der Erziehung, und die Welt war es zufrieden, begnügte sich damit und hatte ihren Frieden“119.

Im März zeigte er sich angesichts der Nachricht sehr erleichtert, dass die Kriegsgefahr abgewendet war, wobei er betonte, dass „der Dreibund funktioniert“120. Das war die Bedingung – darüber war sich De Gasperi im Klaren –, um irgendein Ergebnis in diesem neuen Spannungsklima im Inneren des Reiches zu erzielen: In Tirol hatten sich durch das Scheitern der Landtagssitzung im Februar erneut die Fronten verhärtet, Trentiner gegen Tiroler, während Bienerth in Wien gezwungen war, sein Ministerium mit Vertretern der wichtigsten Nationalitäten neu zu besetzen – in der Hoffnung, auf diese Weise das Haushaltsgesetz zu verabschieden, das in der Kommission gescheitert war121. Die Spannungen sollten aufgrund der internationalen Schwierigkeiten122 noch zunehmen, und für die Italiener wurde es in Österreich immer problematischer. Das lag auch an der Situation in Italien. Im Juni hatte dort die Kammer für eine Anhebung der militärischen Ausgaben gestimmt, außerdem entging natürlich niemandem, dass die Akzeptanz des Dreibundes (wenn es sie denn je gegeben hatte) mehr und mehr schwand123. 119 Annotando, in: Il Trentino, 26. Februar 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 891-893. 120 Una speranza di pace alla vigilia della guerra, in: Il Trentino, 20. März 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 903-906. 121 Bienerth gelang es, eine recht umfassende Mehrheit zur Unterstützung seiner Regierung aufzustellen, die die deutschen Parteien der Mittelschichten, die Polen und die Italiener einschloss, die aber je nach Anlass noch breiter werden konnte (wie es bei den Regierungen Usus war). Im Jahr 1909 musste Bienerth angesichts der Regierungsschwierigkeiten allerdings kapitulieren, und zweimal sah er sich gezwungen, die Parlamentssitzung zu schließen, da er nichts gegen die Verweigerungshaltung der Tschechen und der Slowenen unternehmen konnte. Und das, obwohl im Dezember Kramar, der tschechische Vorsitzende der Konservativen, eine Veränderung der parlamentarischen Regeln befürwortet hatte – sogleich vom Kaiser unterstützt (wenn auch auf eine verfassungsrechtlich zweifelhafte Weise) –, durch die die Obstruktion stark erschwert wurde. Das Ergebnis schien darüber hinaus die kleinen Nationalitäten, wie Ukrainer (Ruthenen) und Slowenen, zu stärken. Vgl. L. Höbelt, Parliamentary Politics in a Multinational Setting: Late Imperial Austria, Working Paper, Center for Austrian Studies, University of Minneapolis, 1992, S. 11-13. 122 Siehe dazu die Analyse De Gasperis in: La situazione europea, in: Il Trentino, 1. April 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 910-912. 123 Vgl. La Triplice, in: Il Trentino, 5. Mai 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 937-939.

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Dem Direktor des „Trentino“ fiel es nicht schwer, die Zustände mit kühlem Kopf zu analysieren, „um zu sehen, ob für unser kleines Land diese Allianz von Nutzen ist oder ob sie ihm schadet“124. Das bewies einmal mehr seinen politischen Realitätssinn, er wusste, dass „sich die internationalen Beziehungen nicht mit der Leichtigkeit knüpfen oder verändern lassen, mit der gewisse Dummheiten in einer Zeitung geschrieben werden können“. Und da „die Zeit für Sentimentalitäten abgelaufen ist“, musste man sich fragen, vorausgesetzt dass „wir wenig von den Auswirkungen der Allianz gespürt haben“, was im Falle eines „offenen, erklärten und bekennenden Antagonismus“ passiert wäre: „Die Universität, die Autonomie, die nationale Gerechtigkeit – würden sie sich rasch in Rauch auflösen?“ Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass die Krise De Gasperi in seinem Verhältnis zur Politik hatte reifen lassen, dass er sich Schritt für Schritt von den reißerischen Methoden eines Lueger entfernte. Seine scharfsichtige Wahrnehmung dessen, was um ihn herum geschah, half ihm zweifellos dabei. In Italien hatte es am 7. März 1909 Wahlen gegeben und zum ersten Mal war das non expedit in 72 Wahlkreisen aufgehoben worden, mit dem Ergebnis, dass man nun 16 „katholische Abgeordnete“125 hatte. „Il Trentino“ veröffentlichte diese Nachricht umgehend und sprach von einem „wirklich wunderbaren [Erfolg], noch verstärkt dadurch, dass sie fast überall aus eigener Kraft allein gewonnen haben“126. In Österreich allerdings tauchte ein neues Element auf: „die Tatsache, dass es die militärische Verwaltung ist, die hier das Schwert in die Waagschale geworfen hat“. Das führte im Trentino zu „besonderen Bedingungen“ und wieder griff man auf „die übliche Politik des Misstrauens und des Verdachts [zurück], die sich gegen uns wendet, es ist der militärische Polizeistaat, der auf alle Initiativen und Aktionen im Trentino seine eiserne Hand legt“127. De Gasperi stellte fest, dass „die Italiener die Aufgaben in den öffentlichen Behörden rasch abzuwickeln verstehen, zu ihrer Leitung aber Deutsche oder Slawen berufen werden müssen“. Und er beklagte, dass nach Meinung der Regierung „auf die Energien unserer lebendigen Kräfte die zersetzende Säure des staatlichen Misstrauens und des militärischen Einspruchsrechts zu 124 Perché no?, in: Il Trentino, 7. Mai 1909 (eigene Hervorhebung, P.P.), jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 939-942. 125 Vgl. G. Formigoni, I Cattolici-deputati (1904-1918), Rom 1988. Hierzu sei des Weiteren angemerkt, dass neben diesem eher „politischen“ Faktor das Nationalbewusstsein unter den italienischen Katholiken zunahm; vgl. G. Formigoni, L’Italia dei cattolici. Fede e nazione dal risorgimento alla repubblica, Bologna 1998. 126 Le elezioni in Italia. La prima battaglia, in: Il Trentino, 8. März 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 903. 127 Una grave notizia, in: Il Trentino, 27. Juli 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 964-966.

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gießen sei“. Und das alles, während man in Österreich offen vom „Trialismus“ zu sprechen begonnen hatte, um die Probleme zu lösen, genauer von einer staatsrechtlichen Lösung, die neben Österreich und Ungarn eine autonome „slawische“ Komponente vorsah. Auch das veröffentlichte De Gasperi, wobei er sich fragte, ob tatsächlich Erzherzog Franz Ferdinand hinter all dem stand128: Es war klar, dass eine Lösung dieser Art den Minderheitenstatus der Italiener im Reich verstärkt hätte. Das grundsätzliche Thema war ohne Zweifel die Entwicklung einer neuen Phase der „Machtpolitik“. Dazu gehörte natürlich der Aufstieg des Militärs, vor allem nachdem – ebenfalls auf Anraten des Thronfolgers – General Franz Conrad von Hötzendorf im Jahr 1906 an die Spitze des Heeres berufen worden war. Das Heer als „Schutzschild der Dynastie“ hatte nicht nur innerhalb des Verfassungssystems eine Sonderstellung, sondern auch im politischen Bild, das das Habsburgerreich von sich selbst hatte: Seit Radetzky und der Begeisterung Wiens über die Triumphe in Italien 1848, die das Reich vor der Auflösung gerettet zu haben schienen (man denke nur an den berühmten Marsch, den Strauss ihm widmete), war ein Gedicht von Grillparzer sehr populär geworden, in dem es hieß „in deinem Lager ist Österreich“129. Die schmerzhafte Niederlage gegen die deutschen Truppen im Jahr 1866 hatte den drängenden Wunsch nach Revanche hinterlassen, der von der Erinnerung an die Siege über zahlenmäßig stärkere Heereseinheiten in Italien allenfalls gemildert wurde. Das Heer war seither reformiert worden und seit dem Jahr 1868 gab es den obligatorischen Wehrdienst (von drei Jahren, der aber nicht die gesamte Bevölkerung gleichermaßen betraf130). Einmal abgesehen vom Problem der Kommandosprache (das vor allem Ungarn betraf), lässt sich feststellen, dass 128 Il „trialismo“?, in: Il Trentino, 6. August 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 970-971. Die Angelegenheit ist vielschichtig. In der Untersuchung von G. Franz, Erzherzog Franz Ferdinand und die Pläne zur Reform der Habsburger Monarchie, München / Wien 1943, neigt der Autor dazu, diese These zu unterstützen. Komplexer ist die Betrachtung von R.A. Kann, Erzherzog Franz Ferdinand Studien, Wien 1976. Heute tendiert man zu der Annahme, es habe sich eher um propagandistische Öffnungen gehandelt als um echte reformerische Absichten. 129 Vgl. N. Stone, Army and Society in the Habsburg Monarchy, 1900-1914, in: Past and Present, 33 (1966), S. 95-111; G.E. Rothenberg, The Shield of the Dynasty: Reflections on the Habsburg Army, 1649-1918, in: Austrian History Yearbook, 32 (2001), S. 169-206; J.C. Allmayer-Beck, Die bewaffnete Macht in Staat und Gesellschaft, in: Die Habsburgermonarchie, Bd. 5: Die bewaffnete Macht, Wien 1987, S. 65-141. 130 Wie es auch in anderen europäischen Staaten üblich war, betraf der Wehrdienst nur eine begrenzte Anzahl von „Tauglichen“, die per Losverfahren ausgewählt wurden. Junge Leute mit einem hohen Bildungsniveau mussten nur für ein Jahr als Reserveoffizier dienen.

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sich die Fähigkeit des Habsburger Heeres, zur Schaffung eines einigenden Nationalgefühls beizutragen, als ziemlich beschränkt erwies. Diese Feststellung mag paradox erscheinen, denn natürlich gab es auch im Habsburgerreich das Phänomen der Veteranenvereinigungen, die die Erinnerung an den Militärdienst bewahrten und sich einer legitimistischen Rhetorik bedienten131. Jedoch handelt es sich dabei doch wohl eher um Formen von Sozialisierung und gemeinsamer Lebenserfahrungen, als um tatsächliche Kanäle zur legitimistischen Konsensbildung, der mit dem österreichisch-deutschen Nationalismus verschmolzen wäre. Das Fehlen eines Zentrums zur Entwicklung einer „nationalen Kultur“, die die Barrieren der ethnischen Komponenten hätte überwinden können, erwies sich auch in diesem Fall als ausschlaggebend. Auch das Habsburger Offizierskorps war – obschon es sich vornehmlich aus den bürgerlichen Schichten rekrutierte – nicht in der Lage, eine „volksnahe“ Ideologie des Waffendienstes für das Vaterland zu entwickeln, blieb es doch weitgehend den kulturellen Modellen des Adels in ihrem Dienst an der Dynastie verhaftet. Diese „Sonderstellung“ begann auf dem Trentino zu lasten. Bestätigt wird das in einem späteren, aber aufschlussreichen Dokument. Als der Polizeichef von Trient, Rudolf Muck am 2. Dezember 1915 bei Bischof Endrici vorstellig wurde, um diesen zu einer offen zustimmenden Haltung gegenüber der Regierung und ihren kriegerischen Unternehmungen zu bewegen, zog er eine Art Bilanz über das frühere Verhalten der Habsburger Politik im Trentino. In diesem Zusammenhang hielt er fest, dass man einst alles habe laufen lassen und dass man die von der Presse gelenkte öffentliche Meinung gefürchtet hatte. Doch das hatte den militärischen Behörden missfallen, die seit dem Beginn der Sonderverteidigung der südlichen Grenzen im Jahr 1902 immer mehr Einfluss innerhalb der politischen Verwaltung des Landes gewonnen hätten. Im Gegenzug dazu übten die politischen Autoritäten einen immer geringeren Einfluss aus132. Zur Stärkung dieser Positionen sollten die Hundertjahrfeiern des Tiroler Aufstandes gegen die Bayern und Franzosen beitragen, die im August 1909 im Gedenken an Andreas Hofer abgehalten wurden. Dass sich diese als eine Gelegenheit erwiesen, den deutsch-tirolerischen Nationalismus zu feiern,

131 Das sieht man auch sehr schön in der Untersuchung von L. Cole, Military Veterans and Popular Patriotism in Imperial Austria, 1870-1914, in: L. Cole / D.L. Unowsky (Hrsg.), The Limits of Loyalty: Imperial Symbolism, Popular Allegiances and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy, Oxford / New York 2007. Sie zeigt, wie auch das Trentino von dieser Dynamik erfasst wurde. Ich danke dem Autor, dass ich seinen Text vor der Veröffentlichung konsultieren durfte. 132 Das Dokument wird zitiert bei S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 334 (eigene Hervorhebung, P.P.).

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versteht sich von selbst133. Sie wurden aber auch ein Anlass, die Loyalität Welschtirols auf den Prüfstand zu stellen. Die Liberalen ließen sich diese Gelegenheit nicht entgehen, die Katholiken zur nationalen Frage aus der Reserve zu locken, um sich die Führungsrolle zurückzuerobern, die ihnen abgenommen worden war. Giuseppe Stefenelli, der Direktor des „Alto Adige“, schrieb am 19. August einen offenen Brief an De Gasperi, in dem er ihm (aus taktischen Gründen?) einen nationalen Standpunkt bescheinigte und ihn aufforderte, gegen die katholische Beteiligung an den Hofer-Feierlichkeiten Stellung zu beziehen134. Als die Antwort des Direktors des „Trentino“ ausblieb, ging der liberale Vordenker erneut zum Angriff über und kritisierte das berühmte „positive nationale Bewusstsein“ als heuchlerisch. Sehr viel schärfer war der Ton der Sozialisten, in deren Reihen sich damals auch Benito Mussolini befand135, der die Katholiken unumwunden bezichtigte, sich der Reichsregierung verkauft zu haben136. Bei der Abfahrt der Trentiner Schützenvereine vom Bahnhof in Trient (es waren wenige, denn die Tradition der bewaffneten Bauernwehr gehörte eher nach Tirol und die „scizzeri“, wie sie im Trentiner Dialekt genannt wurden, hatten keinen großen Zulauf) kam es zu Demonstrationen und zu Zusammenstößen mit der Polizei. „Il Trentino“ hielt sich zurück und antwortete auf die Vorwürfe137 nur, um zu sagen, dass die Abgeordneten der Volkspartei einzig deshalb nach Innsbruck fuhren, um dem Kaiser138 ihre Aufwartung zu machen und ihm Unterlagen zum Bauvorhaben einer Eisenbahnlinie im Fleimstal zu 133 Zur Bedeutung des Mythos Andreas Hofer und auch zu den erwähnten Feierlichkeiten siehe L. Cole, Für Gott, Kaiser und Vaterland, S. 2225-2321; über die Feierlichkeiten von 1909, S. 323-409, behauptete man, es sei eine der Absichten – und dazu passte man das Bild einer berühmten Untersuchung von Eugen Weber über Frankreich hierauf an –, „peasants into Austrians“ zu verwandeln. 134 Vgl. M. Garbari, De Gasperi e il liberalismo, S. 469. 135 Mussolini hielt sich vom 6. Februar bis zum 26. September 1909 im Trentino auf. Die Geschichte ist nur allzu gut bekannt (vgl. u.a. R. De Felice, Mussolini il Rivoluzionario, Turin 1965, S. 62-78). Während seines Aufenthalts kam es im Rahmen einer öffentlichen Debatte in Untermais (Meran) am 7. März 1909 zu einem Streit zwischen ihm und De Gasperi. Die Debatte wäre gar nicht von besonderem Interesse, wären da nicht die beiden Streitenden gewesen. Mussolini war sehr aktiv in der sozialistischen Presse, vor allem in Battistis „Popolo“, auf dessen Seiten er De Gasperi ausgesprochen brutal attackierte, der natürlich sarkastisch auf das antwortete, was er für reine Pöbelei hielt. 136 B. Mussolini, Pagnottisti avanti!, in: Il Popolo, 14. August 1909. 137 Parole chiare, in: Il Trentino, 27. August 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 971-973. 138 Der Kaiser wohnte den Feierlichkeiten vom 29. August in Innsbruck bei; bei dieser Gelegenheit sprach er auch einige Worte auf Italienisch, in denen er sich ein friedliches Zusammenleben zwischen den beiden Völkern in Tirol wünschte.

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überreichen (ein Projekt, das auf den Widerstand der Tiroler stieß, die eine Verbindung dieses Tals mit Bozen wollten, nicht aber mit Trient)139. Die Spannungen machten es erforderlich, sich erneut mit dem Thema Nationalismus zu beschäftigen: „Vor allem zwei Ideale ziehen die jungen Menschen an: die Freiheit und das Vaterland“, schrieb De Gasperi im September140, denn sie „fühlen sich natürlicherweise zu radikalen und extremen Zielen hingezogen und saugen die romantische Seite des Nationalismus regelrecht in sich auf“. Das war aber eine „einfache Politik“, die sich „eher ans Herz als an den Verstand“ richtete. Am Ende hätte diese Politik Menschen geschaffen, die sich „vom Volk moralisch längst entfernt“ ganz „dem Egoismus ihrer Karriere“ verschrieben hätten. Hier griff er auf jene Klassenrhetorik zurück, die er schon vorher bei anderen Gelegenheiten angewendet hatte und die sich an das Kleinbürgertum und an die junge Generation der unteren Schichten richtete, die den katholischen Organisationen nahestanden: „Und schon bildet sich als natürliche Folge die Klasse der Herrschaften141 heraus, jenes oberflächliche Bürgertum, das zu einem großen Teil von einem abstrakten und volksfremden Nationalismus lebte“. Davon galt es sich zu lösen, denn „es ist die Demokratie, die den Nationalismus erneuert und ihm den sozialen Inhalt gibt“. Zur selben Zeit wurde der Kampf gegen die deutschnationalen Bewegungen wieder aufgenommen, nicht nur gegen den Volksbund, sondern auch gegen die Südmark, die von Rückeroberungen träumten, „um einer anachronistischen Romantik willen, vermischt mit dem modernen teutonischen Größenwahn“142. Die Rückkehr zu den traditionellen Mitteln der politischen Propaganda hing sicherlich auch mit den Problemen zusammen, die die Frage des Nationalbewusstseins bei den Katholiken aufgeworfen hatten143, vor allem aber 139 Zu dieser lokalen, doch vielschichtigen Angelegenheit siehe, was M. Bigaran in der Einleitung zu dem Teil schreibt, der von De Gasperi als Gemeinderatsmitglied handelt, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1761-1765. 140 Vigilia, in: Il Trentino, 18. September 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 978-980. (Die Hervorhebungen in den Zitaten sind aus dem Originaltext übernommen.) 141 Um seiner Botschaft Nachdruck zu verleihen, verwendet De Gasperi interessanterweise das Mundartwort „siori“ (= signori = Herren), das aufgrund seiner volkstümlichen Semantik eine klare Distanz zu den wohlhabenden Klassen schafft. 142 Documenti contro i germanizzatori, in: Il Trentino, 8. Oktober 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 990-992. Tatsächlich war die Südmark eine Organisation, die auf das adriatische Küstenland ausgerichtet war (und daher überwiegend antislawisch eingestellt), sie hatte aber auch einige Aktionen im Trentino initiiert. 143 Im Juli waren zwei Professoren, Don Bettini und Don Zanolini, aus dem Seminar entfernt worden. Es hieß, sie seien zu stark der alten, klerikal-nationalen

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mit einem gewissen Stillstand in der katholischen Bewegung, und das, obwohl bedeutende Termine anstanden. Einer dieser Termine war im Dezember die Neuwahl des Gemeinderats von Trient, eine Festung, in die die Katholiken bislang noch nicht nennenswert vorgedrungen waren. Schon im November hatte der Direktor des „Trentino“ das Terrain für die Aktion bereitet144. Die Liberalen schienen sich nicht sicher zu sein, wie sie vorgehen sollten, wollten aber wohl an ihrer längst konsolidierten radikalen Linie festhalten. Die Wahlbeteiligung war bislang immer sehr gering gewesen und außerdem diskutierte man auch auch über eine Wahlrechtsreform auf kommunaler Ebene. Schon im September 1903 war sie im Gemeinderat beschlossen, im Landtag aber noch nicht ratifiziert worden. Sie sah vor, einfach den ersten drei „Wahlkörpern“ einen vierten – allgemeinen – hinzuzufügen, nach dem Modell der fünften Wahlkurie der Reform Badeni. Das ist der Moment, in dem De Gasperi beginnt, sich für die Einführung des Verhältniswahlrechts einzusetzen. Er hielt es für die notwendige Voraussetzung, wenn man die Wählerbasis wirklich erweitern wollte (bis dahin hatten in der Gemeinde Trient bei etwa 23.500 Einwohnern nur 2.500 das Recht zu wählen). Dabei dachte De Gasperi nicht nur an eine proportionale Repräsentation, sondern auch daran, „einen Schritt weiter zu [gehen] und zuzulassen, dass die Frauen, die das Wahlrecht haben, es auch direkt und persönlich ausüben“ (das wäre „angesichts des Missbrauchs bei der ProkuraStimmabgabe ein großer Fortschritt“ gewesen). Dieser Kampf war entscheidend, schließlich ging es um mehr als nur um eine allgemeine politische Frage: „Das Rathaus von Trient ist ein Wirtschaftsunternehmen geworden, ein Arbeitgeber und ein Produktverkäufer, ein Händler von Wasser, Gas, Elektrizität“; außerdem „hat die Gemeinde auch soziale Ziele und Funktionen, die Armenhilfe, die Wohlfahrt, die Sozialfürsorge, die Krankenhäuser und sie hat, was man nicht vergessen darf, einen großen Einfluss auf die Grundschulerziehung beziehungsweise die Berufsausbildung der neuen Generationen“. De Gasperi bereitete sich ganz offensichtlich auf den Eintritt in die Politik und eine Rolle in den Institutionen vor. Am 6. Dezember wurde er vom primo corpo, (der höchsten Steuerklasse, in der auch Endrici wählte) in Ausrichtung verhaftet. De Gasperi fragte in einem Brief an den Bischof vom 30. Juli 1909 nach Anweisungen, was er sagen solle, denn „solange es keinen öffentlichen Akt gibt, beziehungsweise ich keine Anweisung von zuständiger Stelle habe, kann ich mich nicht mit einer Sache befassen, die noch nicht offiziell bekannt ist“, ADT, AEE, 1909, 126/b. Die Antwort des Bischofs ist nicht bekannt. 144 Il partito popolare e le elezioni comunali, in: Il Trentino, 15. November 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 998-1006.

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3. Kap.: Die Arbeit eines politischen Aktivisten

den Gemeinderat gewählt. Es handelte sich um einen besonders begrenzten Wahlkreis (mit etwa 60 Wahlberechtigten, von denen kaum mehr als 20% wählten). Die Wahl von drei Vertretern der Volkspartei war dank eines Übereinkommens der Katholiken mit den Liberalen möglich geworden: Somit war De Gasperis Erfolg nicht unbedingt der eines politischen Organisators, sondern vielmehr die Kooptation eines zukünftig hoffentlich ausgezeichneten Berufspolitikers.

Viertes Kapitel

Die Anfänge eines Berufspolitikers (1909-1914) Für De Gasperi war der Sitz im Gemeinderat nur eine Etappe in einem cursus honorum, auf dem er noch sehr viel weiter nach oben gelangen sollte. Ein guter Start war dieses Amt aber allemal. Zugleich hielt er an der journalistischen „Schufterei“ fest und blieb weiterhin Direktor seiner Zeitschrift. 1910 war ein bewegtes Jahr, positive Phasen und schwierige Momente wechselten sich ab. Es begann ruhig, sodass De Gasperi sogar Ferien machte. Er verbrachte einige Tage am See von Castel Toblino als Gast des Bischofs, der dort eine Residenz hatte1. Außerdem hatte es im Landtag von Innsbruck eine fruchtbare Sitzung gegeben, auf der man eine Übereinkunft bezüglich der Gehaltserhöhung für Lehrer gefunden hatte. Das wiederum hatte zu einer Annäherung zwischen den Tiroler Christlichsozialen und der Trentiner Volkspartei geführt, sodass Spiegelfeld am 20. Februar nach Wien schrieb, die deutschen Gelder für die Bezahlung der Trentiner Lehrer seien gut angelegt, denn damit sei „ein Reif um das Land geschmiedet, welcher gewiss fester ist als alle staatsrechtlichen Dekorationen“2. Zu den Sorgen des Statthalters zählten sicherlich auch die Nachrichten aus Wien über die Möglichkeit eines italienisch-österreichischen Krieges: Heute ist bekannt, dass am 15. Januar ein Bericht an Aehrenthal den Ausbau der italienischen Eisenbahnen als Vorbereitung auf einen Krieg gegen das Reich interpretiert; und am 21. Februar hatte General Conrad dem Kaiser ein Memorandum über die Priorität der Alpenfront zur Verteidigung des Imperiums zukommen lassen3. Diese Spannungen sollten allerdings wieder abflauen, denn der Außenminister trat für eine Politik der Verhandlungen mit den Italienern ein, worin ihn 1 Auf einer Grußkarte vom 10. Januar 1910 bedankt sich De Gasperi beim Bischof für die Gastfreundschaft in der „grünen Stille des Sees“ und schreibt, er spüre „in den Muskeln noch die Erinnerung an die Ruder“, ADT, AEE, 1910, Nr. 7. In einem Nachruf auf Endrici nach dem Tod des Bischofs (1940) erinnerte De Gasperi an diese Ferien in Castel Toblino, genauer an einen Gedankenaustausch zwischen den beiden bei einer Rudertour auf dem See. 2 R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtags, S. 227. 3 Vgl. D. Stevenson, War by Timetable? The Railway Race before 1914, in: Past and Present, 162 (Februar 1999), S. 181 Anm., 182 Anm.

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der alte Kaiser unterstützte, der sich sehr wohl bewusst war, welche Risiken ein Krieg barg. Ganz anders dachte der Thronerbe, der eher aufseiten des Obersten Heerführers, General Conrad, stand und für den Außenminister wenig Sympathie empfand4. Natürlich waren in dieser Zeit die Auswirkungen einer Reihe vorangegangener Spannungen zu verkraften. Das Abenteuer der Annexion BosnienHerzegowinas war keineswegs reibungslos vonstattengegangen, auch wenn von einer „Südslawenfrage“ bereits seit 1903 die Rede war5. Die Beziehungen der Doppelmonarchie zum angrenzenden Serbien hatten sich verkompliziert, nachdem dort – ebenfalls im Jahr 1903 – eine Dynastie und eine politische Elite an die Macht gekommen waren, die entschieden antihabsburgisch eingestellt und in der komplizierten Balkansituation eher slawisch-nationalistisch ausgerichtet waren6. Angesichts dieser Konstellation hatte die Verwaltung in Wien ihre Überlegenheit demonstriert und versucht, die ohnehin schwache Wirtschaft des Nachbarn durch eine restriktive Zollpolitik gegenüber serbischen Produkten noch weiter zu schwächen. Höhepunkt war der sogenannte „Schweinekrieg“: 1906 wurde der Handel mit serbischen Schweinen in diese Zollpolitik einbezogen, womit man einen für die Wirtschaft des Nachbarn besonders wichtigen Handelsposten traf. All das belastete natürlich die Beziehungen zum Zarenreich, das der große Beschützer des Slawentums war und gleichzeitig ein bedrohlicher Grenznachbar, seitdem es sich der englisch-französischen Entente angenähert hatte. Dabei war es früher ein vertrauenswürdiger Verbündeter im Hinblick auf die „Restaurationspolitik“ gewesen (im Jahr 1848 hatte es erst der Einmarsch der russischen Truppen in Ungarn ermöglicht, den Aufstand des magyarischen Nationalismus unter Kontrolle zu bekommen). Der dritte Störenfried im Bunde in dieser vertrackten Situation war paradoxerweise Deutschland. Der Nachbar stellte für Wien einen widersprüchlichen Partner dar: Deutschland sicherte dem Reich zwar einerseits, da, wo die eigenen Kräfte nicht ausreichten, eine Art Machtdeckung, schränkte damit aber andererseits den Handlungsspielraum Wiens ein, denn die internationalen 4 S. Wank, The Archduke and Aehrenthal: The Origins of a Hatred, in: Austrian History Yearbook, 33 (2002), S. 77-104. 5 Es war die einflussreiche Wiener Zeitung „Die Zeit“, die diese Formel zum ersten Mal in ihrer Ausgabe vom 30. Mai 1903 verwendete. Diese Information findet sich bei J. Pleterski, Die Südslawenfrage, in: M. Cornwall (Hrsg.), Die letzten Jahre der Donaumonarchie. Der erste Vielvölkerstaat in Europa des frühen 20. Jahrhunderts, Essen 2004, S. 126-154. 6 Es darf hier nicht vergessen werden, dass die in Transleithanien lebenden Slawen, die faktisch unter der Vorherrschaft der Magyaren standen, starke irredentistische Tendenzen aufwiesen, die nicht mehr von einem politischen System aufzufangen waren, in dem sich keinerlei Autonomiespielraum entwickeln konnte.

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Ziele Berlins deckten sich nicht unbedingt mit denen des Ballhausplatzes. Ganz deutlich wurde das in Zusammenhang mit der Revolution der „Jungtürken“ im Juli 1908, denen gegenüber Österreich und Deutschland vollkommen unterschiedliche Interessen vertraten (Deutschland sollte sogar versuchen, die Modernisierung der neuen Türkei mit anzuregen). Man kann sich gut vorstellen, wie in dieser heiklen Zeit alles in Bewegung geriet. Im Juli fand nicht nur der erste panslawistische Kongress in Prag statt7, es hatte auch geschienen, als sei Russland bereit, die Habsburger Politik zu stützen. In der Tat hatte der Außenminister in Sankt Petersburg, Alexander Izvolskij, Aehrenthal im selben Monat wissen lassen, er sei bereit, „dans un ésprit d’amicale reciprocité“ über die Zukunft Bosniens, des Sandschaks Novi Pazar8 und der Meerengen zu sprechen9. Doch letztlich brachten diese Zugeständnisse keine positiven Ergebnisse. Zwar fand am 9. September 1908 ein geheimes Treffen zwischen Aehrenthal und Izvolskij auf dem Landgut des Grafen Berchtold (damals österreichischer Botschafter am Zarenhof) in Buchlau statt, bei dem es zu einer Art Übereinkunft gekommen zu sein schien (nach der die Russen eine entschiedene Unterstützung vonseiten der Habsburger zugunsten einer Öffnung der Meerengen der Dardanellen für ihre Kriegsschiffe erwarteten). Doch verschlechterte sich die Situation rasch wieder, nachdem man festgestellt hatte, dass Russland der Doppelmonarchie sozusagen für ein Linsengericht, das heißt für eine Zusage, die gar nicht eingehalten werden konnte, das Feld überlassen hatte. (Die Versuche des alten Kaisers, Unterstützung in Großbritannien zu finden, weshalb er sich im August 1908 mit König Edward VII. in Ischl traf, hatten 7 Vgl. A.J. May, La monarchia asburgica, S. 611. Der Sitz des Kongresses verwies auf einen Aspekt, der charakteristisch für ein immer größer werdendes Problem war: Die Aufspaltung zwischen der „historischen“ Slawenfrage, wie sie sich im Königreich Böhmen stellte, der Wenzelskrone und allem, was dazu gehörte, und der „neuen“ Situation durch das Aufkommen der „Südslawen“. Dazu kam die Sonderstellung der Polen in Galizien, die der Hegemonie des Nachbarn Russland höchst abgeneigt gegenüberstanden, schon allein aufgrund der ungleich besseren Bedingungen, unter denen der eine Teil ihrer Nation in Österreich lebte, im Gegensatz zu dem Teil, der zu Russland gehörte. Addiert man dazu die Spannungen in den ukrainischen Gebieten des Reichs (Ruthenien oder die Karpatenukraine) – auch im Hinblick auf die religiösen Differenzen zwischen dem Unierten Katholizismus und der Orthodoxen Kirche –, gewinnt man eine Vorstellung davon, welchen Stellenwert die „slawische Frage“ innerhalb der Doppelmonarchie hatte. Wie bereits gezeigt, bestimmte diese Frage das Gleichgewicht und die Dynamiken innerhalb des Wiener Reichsrats ganz erheblich. 8 Es handelte sich um einen kleinen Gebietsstreifen zwischen Montenegro und Serbien, formal unter türkischer Herrschaft, allerdings hatte das Habsburgerreich das Recht, hier eine Garnison zu stationieren. Außerdem war selbst die Heeresspitze damit einverstanden, dieses Gebiet aufzugeben, da sie es für strategisch uninteressant hielt. 9 Zitiert nach A.J. May, La monarchia asburgica, S. 581.

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nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt – was aber auch nicht anders zu erwarten gewesen war.) Die Situation verschlechterte sich zusehends. Die öffentliche Meinung in Russland war entschieden gegen die Habsburger Ausbreitung auf dem Balkan, sodass Izvolskij sich der panslawistischen Idee verschreiben musste, und Frankreich und Großbritannien standen dem neuen Wiener Imperialismus ohnehin sehr kritisch gegenüber. Aehrenthal gab sich der Illusion hin, mit einer Zahlung von zwei Millionen Pfund Sterling an die Türkei für deren Gebietsverlust alles wieder ins Lot bringen zu können: Ein Angebot, das die neue türkische Regierung angesichts ihrer leeren Kassen kaum ausschlagen konnte und für das auch andere europäische Mächte plädierten10. Auf den ersten Blick wirkte das wie ein großer Erfolg für die Habsburger Monarchie: Obschon der Ausbruch eines Kriegs keine unmittelbare Gefahr darstellte (Russland konnte sich nach der Revolution von 1905 ein derartiges Abenteuer in keinster Weise leisten und das Gleichgewicht der Mächte von 1908/09 war ein ganz anderes als das von 1914)11, war doch viel die Rede davon gewesen. Und dass man den Krieg hatte verhindern können, vermittelte den Führungseliten in Wien das Gefühl, noch immer eine wichtige Rolle auf der Bühne der internationalen Politik zu spielen. Innerhalb der Monarchie gab es Spannungen, die mit der Slawenfrage zu tun hatten: Im Oktober 1908 hatte es in Prag regierungsfeindliche öffentliche Kundgebungen gegeben und der Wortführer Masaryk hatte Aehrenthal mit einem ironischen Wortspiel „Annexander der Große“ getauft; im Dezember verhängte man schließlich aus Angst vor Ausschreitungen anlässlich der Feierlichkeiten zum sechzigsten Thronjubiläum des Kaisers den Ausnahmezustand über Prag. Das sollte den eher aggressiven Kräften, zu denen Aehrenthal mit Sicherheit nicht zählte, Auftrieb geben. Er wusste die politische Lage recht realistisch einzuschätzen, trotzdem hatte er als Außenminister mit seinem „Erfolg“ genau diese radikale Position gestärkt. So war es kein Zufall, dass Österreich 1909 begann, „Panzerschiffe“ zu bauen (das damalige status symbol des militärischen Imperialismus). Sogleich wähnten die Engländer dabei Deutschland mit im Spiel, das seinerseits auf diesem Gebiet mit der britischen Marine konkurrierte. Tatsächlich aber war das alles auf eine Lobby zurückzuführen, die wiederum hinter Erzherzog Franz Ferdinand stand, auf dessen Italienphobie stets Verlass war. In der Tat sollten sich die Beziehungen zu Italien ab Ende 1908 und im Laufe des Jahres 1909 verschlechtern. Bereits im Dezember 1908 war Außenminister Tittoni von der Kammer für seine allzu kompromissbereite Politik 10 11

Die Zahlung erfolgte am 26. Februar 1909. F.R. Bridge, The Foreign Policy, S. 13.

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Österreich gegenüber kritisiert worden. Abgesehen von der Zeit, in der die Kammer von dem katastrophalen Erdbeben in Messina (am 28. Dezember 1908) in Beschlag genommen war, stand die zunehmend anti-österreichische Haltung im Mittelpunkt und im Juni 1909 stimmte die Kammer einer Erhöhung der militärischen Ausgaben zu, was in Wien mit großer Sorge aufgenommen wurde. Aehrenthal, in der Zwischenzeit (am 18. August 1909) von Franz Joseph für seine Verdienste in den Grafenstand erhoben, war stets darum bemüht gewesen, die Beziehungen zu Italien zu pflegen, wenn auch mit wechselndem Erfolg. Im Oktober teilte er seinem Amtskollegen Tittoni offiziell mit, man sei im Hinblick auf die Balkanfrage an einem Übereinkommen mit Italien interessiert. Doch am 24. Oktober gelang es dem russischen Außenminister Izvolskij mit dem sogenannten „Abkommen von Racconigi“, sich mit Rom zu verständigen, um die Habsburger Expansion auf der Balkanhalbinsel zu bremsen (eine anschließende Italienreise von Zar Nikolaus II. bekräftigte diesen Pakt feierlich). Damit war aber nicht das letzte Wort gesprochen, denn der Sturz der Regierung Giolitti am 2. Dezember ermöglichte es der neuen Regierung Sonnino und ihrem Außenminister Guicciardini, einen geheimen Pakt mit Aehrenthal zu schließen, der in der Angelegenheit für einen Moment für Ruhe sorgte: Letztlich begnügte sich Italien mit der Zusage Wiens, das Sandschak nicht weiter zu besetzen, vielleicht hoffte man, sich so ein Hintertürchen für eigene zukünftige Interessen an Montenegro offenzuhalten. Dieses Hin und Her vereinfachte die Lage der Italiener in Österreich sicherlich nicht. Auch wenn sich hin und wieder eine neue Chance bezüglich der Universitätsfrage zu ergeben schien (beispielsweise der Gesetzesvorschlag für eine italienische Fakultät an der Universität zu Wien, der am 20. Januar 1909 vorgelegt wurde), zerschlugen sich die Hoffnungen jedes Mal wieder genauso schnell. Schuld daran hatten unter anderem die nach wie vor hitzigen nationalistischen Auseinandersetzungen (am 23. November 1908 war es vor der Wiener Universität zu Zusammenstößen von italienischen und deutschen Studenten gekommen, wobei es Verletzte und Verhaftungen gegeben hatte). Auch in Tirol war die Situation nach wie vor angespannt und die kurze Zusammenarbeit zwischen den deutschen Christlichsozialen und den Italienern der Volkspartei war an der Frage einer Anhebung des Lehrergehalts gescheitert; eine Maßnahme, die die Kommunen zu tragen hatten, und die sich die italienischen Gemeinden mit ihren knappen Finanzmitteln nicht leisten konnten. Am 16. Januar 1909 brachte de Gentili mit Obstruktion und einer zweieinhalbstündigen Rede den Landtag zum Stillstand, sodass ihn Statthalter Spiegelfeld wegen Unregierbarkeit schließen lassen musste. Tatsache war, dass die nationale Frage überall im Reich wieder an Gewicht gewann. Ein Auslöser war am 3. Februar die Vorlage zweier Gesetzesentwürfe im Reichsrat, die die Sprachregelung in Böhmen behandelten: Vorschläge, die prompt innerhalb von drei Tagen mit großer Mehrheit quer durch alle Lager

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(139 Tschechen, 95 Deutsche und 5 Verschiedene) abgeschlagen wurden, gerade auch von den Tschechen, die eine ganze Reihe von Kompromissen nicht akzeptieren wollten, auf denen die Aufteilung in neue Sprachgebiete beruhte. Zu weiteren Spannungen kam es im März, und das nicht nur aufgrund der Mobilisierung an der serbischen Grenze und aufgrund der Flotte, die auf der Donau patrouillierte. Am 3. Februar hatte es in Prag studentische Unruhen mit nationalistischem Hintergrund gegeben, gegen die das Heer mit Bajonetten vorgegangen war. Ende März erregte der Fall des Journalisten und Historikers Heinrich Friedjung die Gemüter, der in der „Neuen Freien Presse“ die Behauptung aufgestellt hatte, serbische und kroatische Politiker schmiedeten mit der Regierung in Serbien ein Komplott gegen die Doppelmonarchie. Diese Vorwürfe griff auch die christlichsoziale „Reichspost“ auf, die mittlerweile in engem Kontakt mit politischen Regierungskreisen und dem Hof stand. In Wirklichkeit handelte es sich bei diesen Anschuldigungen um eine Verleumdungskampagne des Außenministeriums, wie ein berühmter Prozess nachweisen sollte, in dem Friedjung und der Direktor der „Reichspost“ ihre Behauptungen widerrufen und offen zugeben mussten, dass sie sich für eine politische Kampagne der Regierung hatten instrumentalisieren lassen12. Das war ein weiterer Beweis für die zunehmenden Spannungen, die sich zwischen den verschiedenen Nationalitäten des Reichs aufbauten, und für die schwindende Fähigkeit des Reichssystems, diese Spannungen zu kontrollieren: Ein zusätzlicher Beweis kam vom Kongress der Slawen, der im August in Warschau stattfand und auf dem extrem nationalistische Töne angeschlagen wurden. Der beschriebene historische Zusammenhang entging De Gasperis wachsamem und sensiblem Blick natürlich nicht. Gerade in seinen Interpretationen dieser ungemein vielschichtigen und komplizierten Phase lässt sich ein Reifesprung des jungen Mannes feststellen, der sich nun, kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, immer sicherer auf dem politischen Parkett bewegte. Er beschränkte sich nun nicht mehr auf das Trentino und den Habsburger Raum, immer stärker rückte auch die internationale Politik in den Fokus seiner Betrachtung. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht etwas abwegig scheint, führt es keineswegs in die Irre, mit einem Artikel zu beginnen, den der Direktor des „Trentino“ dem Kaiser Franz Joseph zu dessen sechzigstem Thronjubiläum 12 Vgl. A.J. May, La monarchia asburgica, S. 540-541. Auch Friedrich Funder schreibt in seinen Memoiren (Vom Gestern ins Heute, S. 442-444) ganz offen, ihm seien die Unterlagen, eine Fälschung der österreichischen Botschaft in Belgrad, vom Militärkabinett des Thronfolgers zugetragen worden (und um sich zu entlasten, zitiert er die Versicherung des englischen Historikers Seton-Watson, des großen Verteidigers der slawischen Völker im Reich, dass sich jeder Journalist wie er verhalten hätte).

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widmete13. Auch wenn „wir uns nicht anmaßen wollen, uns als Schiedsrichter zwischen zwei Jahrhunderten aufzuspielen“14, zog er in dem Text – wenn auch zwischen den Zeilen – eine Art Bilanz „der historischen Periode, die von Metternich … bis zu Baron Beck“ reichte. Natürlich kam beim Blick auf das lange Leben des Kaisers mit seinen zahlreichen politischen Prüfungen, und familiären Tragödien, die von allen Kommentatoren hervorgehoben wurden15, seine Wertschätzung zum Ausdruck: „Was die Geschichte Franz Joseph nicht wird absprechen können, ist die stete Unterordnung seiner Person unter das, was ihm als seine Pflicht erschien, die Hintanstellung seiner Persönlichkeit angesichts der Aufgabe, die er als groß empfand und die es zu erfüllen galt“16.

Weniger als Apologie gedacht, bot der Artikel vielmehr die Gelegenheit zu unterschwelliger Polemik. So betonte De Gasperi wie „seine [des Kaisers] 13 Due dicembre, in: Il Trentino, 2. Dezember 1908, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 860-862. 14 Man beachte hier die Anspielung auf „Cinque Maggio“ („Der Fünfte Mai“) von Alessandro Manzoni, seine Ode auf Napoleon: „Ei si nomò: due secoli / l’un contro l’altro armato / sommessi a lui si volsero / come aspettando il fato / Ei fe’ silenzio, ed arbitro / s’assise in mezzo a lor“ (Übersetzung von Goethe: „Er trat hervor: gespaltne Welt/ Bewaffnet gegen einander,/ Ergeben wandte sich zu ihm /Als lauschten sie dem Schicksal;/ Gebietend Schweigen, Schiedesmann/ Setzt’ er sich mitten inne“). Gegen Ende des Artikels zitiert er noch einmal aus der Ode: „Und wir Christen, jungfräulich, keiner Schmeichelei noch frevler Schmähung schuldig, richten heute im Verein mit der Kirche ein freies Gebet an den Allmächtigen, in dem wir den Patriotismus nicht als Flittergoldschmuck auf Kundgebungen behandeln, sondern als wesentlichen Gehalt in Berufung auf die Vorsehung und die Barmherzigkeit Gottes“. Die Anspielung auf Manzoni ist nicht nur der vom Autor kursiv gesetzte Satz, sondern auch der Verweis auf die Vorsehung und die Barmherzigkeit Gottes – einer der Schlüssel zum Verständnis der Ode des lombardischen Dichters. Ein weiterer Hinweis auf die starke Inspiration durch das literarische Vorbild ist der Schlusssatz einer zentralen Textpassage, in der er über die Erfolgsaussichten der politischen Erneuerung reflektiert: „Der Nachwelt das schwierige Urteil“. 15 Die beiden großen Tragödien waren am 30. Januar 1889 der Selbstmord des Sohnes Rudolf in Mayerling und im Jahr 1898 die Ermordung seiner Frau Elisabeth – der berühmten Kaiserin Sissi – durch einen Anarchisten aus Genf. (Im Übrigen war es schon seit Längerem um die Beziehung des Kaisers und der Kaiserin schlecht bestellt gewesen.) Der Kaiser klagte immer wieder über diese Schicksalsschläge mit dem Ausspruch: „Mir ist nichts erspart geblieben“, ein Satz, der auch außerhalb des höfischen Umfelds bekannt wurde. Siehe dazu C. Magris, Der Habsburger Mythos, sowie J.-P. Bled, Franz Joseph, Oxford 1994. 16 Hier mischte sich der Mythos vom Kaiser als bescheidener und unermüdlicher Arbeiter – ein vom Hof propagiertes Bild – mit der Wirklichkeit eines Mannes, dessen Leben – wie die jüngere Geschichtsforschung bestätigt hat – tatsächlich von einer asketischen Hingabe an seine Pflicht durchdrungen war. Man beachte aber die Geschicklichkeit De Gasperis, wenn er sagt, dass die Aufgabe nicht des Kaisers Pflicht „war“, sondern ihm als solche „erschien“.

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Erziehung, die Traditionen und ein erheblicher Teil seiner Ratgeber ihn, so scheint es, in der Vergangenheit festhalten wollen, ohne die Hinführung zum Künftigen“, sodass es „psychologisch nachvollziehbar“ wäre, wenn er sich angesichts all der unglücklichen Umstände „je älter er werde, umso verzweifelter an der Vergangenheit festhielte“. Doch stattdessen „wird dieser Mann, alt, fast achtzigjährig, in der Zeit Metternichs erzogen, zum Fürsprecher des allgemeinen Wahlrechts, wodurch er die zögerlichen Parteien zwingt, sich den Zeiten anzupassen“. Man beachte, wohin dieser Gedankengang führte: „Wir beschränken uns heute auf die Feststellung, dass es nach all dem kein Wunder ist, dass Franz Joseph, zumindest was seine Person betrifft, die Krise des Patriotismus überwand, nämlich die Verwandlung des dynastisch-militärischen Patriotismus in einen nationalen und zivilen Patriotismus“.

Ehrlich gesagt waren diese abschließenden Worte eher Wunschdenken, denn in Wirklichkeit lagen die Dinge anders. Wie noch zu sehen sein wird, wurde De Gasperi bald klar, dass auch die Wahlrechtsreform das Habsburger System der Staatsbürgerschaft nicht rationalisieren würde (obwohl die Hoffnungen diesbezüglich weit verbreitet waren). Im Übrigen fehlte es der Führungselite in Wien an Persönlichkeiten, die diesen Wandel hätten ein leiten können. Auch der alte Kaiser konnte das nicht leisten, der über gerade genug Realitätssinn verfügte, um zu erkennen, was der magyarische Nationalismus anrichtete, mehr aber auch nicht. Wie schon gesagt, sollte es wieder einmal die Frage der „Übermacht“ sein, die die Hoffnungen auf eine Reform von innen heraus zerstörte. Auch in diesem Fall zeigte der Direktor des „Trentino“ seinen Weitblick. In der Krise vom Februar 1909, als der Krieg kurz bevorzustehen schien, schrieb er17, dass „ein Teil der Presse mit beneidenswerter Leichtfertigkeit das Bevorstehen des Krieges ankündigt“. Er hingegen sah „ein Geschehnis, dass unabhängig von seinem Ausgang eine neue Tragödie für die gesamte Gesellschaft sein wird und ein Unglück für die Kriegspartner“, allein schon, weil es auf jeden Fall „einen enormen wirtschaftlichen Schaden“ bedeuten würde. Dieser Text bildete den Auftakt zu einer ganzen Reihe sehr interessanter Artikel, die sich mit der internationalen Politik befassten. Im ersten Artikel, in dem er seine Befürchtung zum Ausdruck brachte, dass sich im Konflikt zwischen Österreich und Serbien „die beiden gehörig einen überziehen werden“, hielt er fest, dass die Völker von der Außenpolitik ausgeschlossen waren, denn zur Abwendung der Katastrophe „steht ihnen keine Entscheidung zu, da es in diesen Zeiten des Konstitutionalismus nicht üblich ist, sie nach ihrer 17 La guerra, in: Il Trentino, 20. Februar 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 885-887.

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Meinung zu diplomatischen und militärischen Angelegenheiten zu fragen“18. Im zweiten Artikel untersuchte er die Situation unter dem Gesichtspunkt, den man „moralisch-philosophisch“19 nennen könnte. Ausgehend von Überlegungen zu dem verheerenden Erdbeben in Messina („die Katastrophe des Südens“), das erneut die „Unberechenbarkeit der Naturgewalten“ offenbarte, sprach er über den sozialen Wandel. Auf der einen Seite sah er „den Staat, diese große Krake, die alle öffentlichen Energien verschlingt, die Bürokratie, dieser Apparat, der jeden höheren Gedanken abtötet“; auf der anderen Seite das, was man heute Imperialismus nennt, der dazu führte, dass „sich nach wenigen Wochen [seit dem Erdbeben, das eine Welle der Solidarität ausgelöst hatte] die hochgelobte menschliche Brüderlichkeit … im Kriegsgeschrei aufgelöst hatte“, denn „der nationale Egoismus oder der Klassenegoismus ist das, was in der Hülle des neuen Staates und der modernen Organisation lebt“. Das Eintreten des jungen katholischen Direktors für den Frieden hatte seinen Ursprung gewiss in den bei ihm fest verankerten Grundsätzen des Evangeliums20, was aber die realistische Einschätzung der Situation keineswegs beeinträchtigte. Entsprechend freudig begrüßte er die italienische Initiative einer europäischen Konferenz mit Österreich in begünstigter Position, was bewies, dass „das ‚verstimmte Klavier‘ doch nützlich war, dass der Dreibund funktioniert“, sodass „man zurzeit nicht von Krieg spricht … Und das ist die Hauptsache“21. Heute weiß man, dass ein Krieg zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht realistisch war, doch De Gasperi, obschon er das nicht wissen konnte, hatte verstanden, dass die Bosnien-Herzegowina-Frage nur ein Vorwand war. In einem weiteren Artikel22 bewies der Direktor der Tageszeitung, dass er viele Aspekte der Lage begriffen hatte. Das extrem harte Urteil über Großbritannien („schon lange für seine absolute Skrupellosigkeit bekannt“)23, La spada di Damocle, in: Il Trentino, 25. Februar 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 889-890. 19 Annotando, in: Il Trentino, 26. Februar 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 891-893. 20 Per la Pace, in: Il Trentino, 3. März 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 895-899. 21 Una speranza di pace alla vigilia della guerra, in: Il Trentino, 20. März 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 903-906. 22 La situazione europea, in: Il Trentino, 1. April 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 910-912. 23 De Gasperi zeigt in dieser Zeit eine ausgesprochen anti-englische Haltung. Das belegt auch ein späterer Artikel, I fantasmi, in: Il Trentino, 25. Mai 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 944-946, in dem er nicht nur von einem „neurasthenischen“ Großbritannien spricht, sondern auch englische Touristen beschreibt, die ihm auf seiner Romreise begegnet sind: „Zurückhaltend und fast aus 18

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das er beschuldigte, nicht mit offenen Karten zu spielen, überraschte. Aber er traf den Kern der Sache, als er schrieb, „der Kampf sei eine Kraftprobe zwischen der Dreibund-Position zum einen und den zentralen Mächten Europas zum anderen“, mit dem Versuch, „die Beziehungen Italiens zum Dreibund abzukühlen“ und „Deutschland zu isolieren“. Im selben Atemzug erinnerte De Gasperi an den anglo-deutschen Wettstreit und vor allem an die Auseinandersetzung zum Thema Flotte, und er schrieb den Satz, der beinahe wie eine Prophezeiung klang: „Sollte man zu keinem Einvernehmen kommen, wird – sobald die Mächte sich stark genug fühlen, für das äußerste Duell ins Feld zu ziehen – der Tag kommen, an dem anhand irgendeines Zwischenfalls, echt oder künstlich herbeigeführt und entsprechend aufgebläht, ein derart verheerendes Feuer ausbrechen, wie man dergleichen wohl noch nie gesehen hat“24.

Ebenfalls interessant ist eine weitere Schlussfolgerung De Gasperis, zu der er spontan durch die Analyse jener Ereignisse gelangt, nämlich seine Zufriedenheit angesichts der Verbesserung der Beziehungen zwischen Wien und Rom, denn daraus „ergeben sich auch positive Auswirkungen für die Italiener, die diesseits der Grenze leben und hier ihren Tätigkeiten nachgehen“. Mit bemerkenswertem Realitätssinn erfasst De Gasperi, wie sich die internationale Lage auf die Situation der Italiener in Österreich auswirkt. Er wusste nur zu gut25, dass es sich um „zwei Mächte handelte, die viele Gründe haben – egal ob echte oder scheinbare –, einander zu misstrauen“, so „gibt es in Italien niemanden, der, wenn von Krieg die Rede ist, nicht in Österreich den zu bekämpfenden Feind ausmachen würde; und umgekehrt beschwört in Österreich eine nicht zu unterschätzende Anzahl an unkenden Propheten ohne Unterlass das Gespenst eines Italiens, das bereit sei, das Reich – noch dazu hinterrücks – anzugreifen“26. Der Direktor des „Trentino“ konnte sich eine Entwicklung zum Schlimmsten nicht vorstellen, auch aufgrund gewisser Eis“ vor den Ruinen des Palatin, ereiferten sie sich dagegen bei der Lektüre des „Standards“ im Café über Geschichten von Panzerschiffen, Spionage und Rivalität mit Deutschland. 24 Seine Vision ist klar, aber weder ungewöhnlich noch steht sie allein da. „Vorahnungen“ – welcher Art auch immer – darüber, wie der Erste Weltkrieg sein würde, finden sich in jenen Jahren überall in der europäischen Presse. 25 La Triplice, in: Il Trentino, 5. Mai 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 937-939. 26 Da stellt sich die Frage, ob De Gasperi diese letzte Beobachtung nur aus der Presse hatte, in der es tatsächlich Kommentare dieser Art gab, oder ob er etwa durch vertrauliche Informationen von Funder oder ihm nahstehenden Kreisen Witterung davon bekommen hatte, was im Belvederekreis besprochen wurde (das Wiener Barockschloss Belvedere war die Residenz des Thronerben Franz Ferdinand, der bekanntlich ein Anhänger Conrads war, der von der Vorstellung besessen war, Italien würde hinterrücks angreifen.

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Pläne, von denen er berichtete und die immer stärkeren Zuspruch in der Öffentlichkeit fanden. Mit Bezug auf einen Artikel des „Feldmarschalls Baron Förster“ erklärte er dessen Ansatz, dass die beste Kampfmethode gegen den „Irredentismus“ nicht der Polizeieinsatz sei, sondern „die andere, angrenzende Nationalität zu stärken“, das heißt die Tiroler (was nicht ausgesprochen wird, aber durchscheint). Das musste den politischen Kommentator natürlich beunruhigen, der mit dem Hinweis, der Feldmarschall wünsche sich immerhin, dass der Dreibund halten würde, schloss: „Auch wir hoffen das – warum sollten wir das nicht offen zugeben? Den Italienern in Österreich wird es zunehmend besser gehen, je besser die Beziehungen zum Reich ihrer Nationalbrüder sein werden“.

Und gleich anschließend stellte er in einer Polemik mit dem „Popolo“ von Battisti, der die Katholiken beschuldigt hatte, „triplicisti“ zu sein, ganz offen die Frage: „Als zum österreichischen Staate gehörende Italiener“ … „ja, warum denn nicht?“27. Für ihn „geht es einfach darum, ob unserem kleinen Land diese Allianz nützt oder schadet“, wobei er daran erinnerte, dass „sich die internationalen Beziehungen nicht mit derselben Leichtigkeit knüpfen oder verändern lassen, mit der man ein paar Dummheiten in einer Zeitung schreibt“28. Und auch wenn „wir wenig von den Auswirkungen des Bundes gespürt haben“, hätte ein „offener Antagonismus“ nur Schaden angerichtet. „Oder ist es so, und das sollen uns die Patrioten der Internationale offen sagen, dass sie auf einen Krieg hoffen? Natürlich steht es den Antimilitaristen frei, ihre Tinte … für das Vaterland zu vergießen, wir, wir wünschen uns wirklich keinen Krieg“.

De Gasperi fand mühelos die Anzeichen dafür, wie sich die internationalen Spannungen auch faktisch auf das Trentino auswirkten. In einem Artikel vom Juli 1909 über das Projekt der Eisenbahnlinie Trient-Tione-Gardasee29 bemerkte er, die „besondere Lage des Trentino“ sorge für Probleme, „denn wer hier das Schwert in die Waagschale geworfen hat, ist die Militärverwaltung“, bestärkt durch „die Nervosität des Innenministers“. So klagte seine Zeitung, dass „es kurz gesagt unsere autonome Entwicklung ist, die 27 E perché no?, in: Il Trentino, 7. Mai 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 939-942. 28 Für De Gasperi wurden Sachverstand und Ernsthaftigkeit in der Außenpolitik immer wichtiger. Das wird deutlich, als er im Kommentar zum Aufstieg von BethmannHollweg an Stelle von Bülow ins Regierungsamt schreibt, es sei von „Nachteil, dass der Bethmann in der Tat neu in der Außenpolitik ist und dass Deutschland heute dafür eine Person von allerhöchstem Niveau braucht“. Vgl. Il nuovo cancelliere germanico, in: Il Trentino, 16. Juli 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 956-957. 29 Una grave notizia, in: Il Trentino, 27. Juli 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 964-966.

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verhindert, die erstickt werden soll, da das Polizeiregime uns nicht traut“. Das Klima wurde insgesamt immer angespannter: An den Spitzen der öffentlichen Machtorgane wollte man, „dass sich die deutsche Vormacht deutlich und geschlossen manifestiert und dass unter die Beamten, die Angestellten, in die Verwaltung nicht ein Hauch jenes nationalen Geistes dringt, dem die Gesetze des Staates bereits den Weg ebnen“. Er machte sich keinerlei Illusionen über eventuelle Veränderungen des politischen Systems30, obwohl es „ganz besonders in Österreich eine föderalistische Strömung gibt und man oft und viel über den Trialismus gesprochen hat“ (ja, „man versichert, dass der Thronfolger und Erzherzog hinter solchen Ideen steht“), wurde diese Idee aber als „wenig beliebt und verbreitet“ eingeschätzt. Das nationalistische Gebaren anlässlich der Hundertjahrfeier zum Gedenken an Andreas Hofer sollte diese Vision bestätigen31. Nichtsdestotrotz sah der junge politische Beobachter Anzeichen für einen epochalen Wandel. Er sah sie, wenn er sich über die Krise in Ungarn ausließ (die sich fast bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch lange hinziehen sollte)32, denn er erkannte, dass hier die Schwachpunkte eines kaum mehr reformierbaren Systems zutage traten: „Der Achtzigjährige in der Hofburg hört das neue Zeitalter an die Pforte klopfen, eine neue historische Epoche und wie es am Vorabend großer Umwälzungen passiert, zögert er, Herein! zu rufen. Draußen steht die Demokratie und rüttelt, aber sie könnte auch die Ordnung des alten Reiches erneuern“.

Das Unterfangen gestaltete sich angesichts des Mythos vom „historischen Zusammenhang“ der verschiedenen Reichsgebiete ziemlich schwierig. „Dieser enorme Anachronismus“33 verhinderte die Reform der lokalen Autonomien – wie „Mumien“ einbalsamiert in den veralteten Strukturen –, während „nur die nationale Autonomie mit dem allgemeinen Wahlrecht das Leben der Landesvertretungen wieder aufbauen kann“. Weniger optimistisch stimmten die Anzeichen der grundsätzlichen Schwierigkeiten, auf die der Übergangsprozess zur „Demokratie“ überall stieß: Obwohl es sich eher um eine Randerscheinung handelt, ist es interessant, dass auch De Gasperi der 30 Il ‚trialismo‘?, in: Il Trentino, 6. August 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 970-971. 31 Siehe dazu die Ausführungen im vorangegangenen Kapitel. 32 La grande crisi, in: Il Trentino, 24. September 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 982-984. Zur ungarischen Krise und ihren Auswirkungen siehe die ausführliche Analyse von L. Valiani, La dissoluzione dell’Austria Ungheria, Mailand 1966, S. 68-84. 33 Come funziona il „nesso storico“, in: Il Trentino, 25. September 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 985-986.

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Krise in Großbritannien im Jahr 1909 Aufmerksamkeit schenkte. Bei diesem Streit zwischen dem Unterhaus und dem Oberhaus ging es um das berühmte „People’s Budget“ von Lloyd George, das in ganz Europa und natürlich auch in Italien viel Aufsehen erregte34. Auch innerhalb der katholischen Bewegung gab es Grund zur Besorgnis. Zur Situation in Italien35 hatte De Gasperi vom „traurigen Zustand des katholischen Lagers“ gesprochen. Dort sah er „an der extremen Linken die Ruinen des Modernismus und an der extremen Rechten besessene Polemiker, die völlig in der Berufung aufgehen, den Modernismus auch dort zu bekämpfen, wo es ihn gar nicht gibt“. De Gasperi befürchtete, nach „der relativ toleranten Ära Giolitti“ ein erneutes Aufflammen des Antiklerikalismus nach französischem Vorbild. Grund für diese Befürchtung war die „selbstbezogene“ Tatsache, dass „die Wellen des katholischen Lebens in Italien immer auch an unsere Ufer geschlagen sind und wir deren Auswirkungen zu spüren bekamen“. In Wahrheit hatten drängende Probleme auf lokaler Ebene die Auswirkungen der allgemeinen Lage auf das Trentino eher abgeschwächt. Ende 1909 hatte es die Polemiken um die Hofer-Feierlichkeiten in Deutschtirol gegeben, von denen bereits die Rede war. Ihnen folgte der Kampf um die Wahlrechtsreform für die Kommunalwahlen. Und mit dem neuen Jahr 1910 nahmen die Auseinandersetzungen mit den Tirolern wieder zu, vor allem, da die Situation auf Landtagsebene – trotz der guten Anfänge – erneut festgefahren war (neue, häufige Aktionen der deutschen anti-italienischen Radikalen trugen ihren Teil dazu bei). Die katholische Bewegung des Trentino fing sich wieder und die Gründung einer Associazione Femminile Tridentina – die ins Leben gerufen wurde nachdem „Il Trentino“ bereits seit einigen Jahren eine „Frauenseite“ veröffentlichte – wurde als wichtiger Schritt der Verankerung der katholischen Bewegung in der Bevölkerung gesehen36. Das Wiederaufflammen des 34 Vgl. Una crisi storica in Inghilterra, in: Il Trentino, 5. Oktober 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 986-988. Es handelte sich um den Versuch der liberalen Regierung (mit Unterstützung der Labour-Abgeordneten und der Iren: die sogenannte „Progressive Alliance“), Welfare-Maßnahmen für die bedürftigen Bevölkerungsteile einzuführen, was von den Lords, die entschieden gegen neue Steuern für Vermögende waren, abgelehnt wurde. Zur Rezeption dieser Debatte in England und auch in Italien siehe G. Guazzaloca, Fine secolo. Gli intellettuali italiani ed inglesi e la crisi fra Otto e Novecento, Bologna 2004. 35 I cattolici d’Italia, in: Il Trentino, 19. Juli 1909, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 957-959. 36 Associazione femminile tridentina, in: Il Trentino, 1. März 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1054-1056. Marcella De Gasperi war sowohl in der neuen Vereinigung als auch für die „Frauenseite“ (die ab Mai 1908 erschien) aktiv. Diese Öffnung für die Frauenfrage war für den Direktor des „Il

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Pangermanismus, nachdem die Südmark die Bühne betreten hatte, „eine Gesellschaft, die von den deutschen Katholiken bekämpft wird, denn sie hat Kärnten mit Protestanten bevölkert und arbeitet in engem Einverständnis mit den lutherischen Pfarrern“37, führte zu einer Kollaboration, die vorher unvorstellbar gewesen wäre: Am 20. März signalisierte die wieder gegründete Associazione degli Studenti Trentini, die von der Polizei anlässlich der Proteste gegen die Hofer-Feierlichkeiten aufgelöst worden war, ihre Öffnung gegenüber den Katholiken mit dem Ziel eines gemeinsamen nationalen Kampfes. Denn nach wie vor gab es Aktionen des Volksbundes, und De Gasperi griff sie direkt an, sei es auf der Demonstration gegen die Einrichtung eines deutschen Kindergartens in Roveré della Luna (am 21. März) oder mit einem ausgesprochen harten Artikel gegen den Tiroler Katholizismus38. Dieser Artikel ist wichtig, denn er zeigt die spezifische Anwendung von „katholischer Kultur“ in identitätsstiftendem nationalem Sinne, und das mit einer Radikalität, die diejenigen nachdenklich stimmen sollte, die von einem De Gasperi gesprochen haben, der, wenn schon nicht „österreichfreundlich“, so doch zumindest weit entfernt vom kulturellen Milieu des Irredentismus war39. Die katholisch-konservativen Zeitungen Tirols (ebenso wie christlichsoziale Kreise) protestierten gegen die Trentiner Katholiken, die sich im Namen des nationalen Kampfes mit dem Antiklerikalismus einließen. Darauf reagierte De Gasperi nicht nur mit dem deutlich polemischen Argument, der Pangermanismus käme aus dem Lager der Protestanten (die in Meran ihre eigene Kirche hatten), auch betonte er, dass „uns die muntere Trentino“ nicht neu: Schon in einem früheren Artikel, „L’Adunanza femminile pro Università“ (Il Trentino, 9. Dezember 1908, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 863-866), hatte er geschrieben: „Wir sind für die Beteiligung der Frau am öffentlichen Leben, in der Form und in jenem Maß wie es der Frau als Mutter, als Gattin und als signora della famiglia möglich ist“, und er hatte das, was er „unseren vernünftigen Feminismus“ nannte, „gegen die vorhandenen Vorurteile und die Halsstarrigkeit der Ultra-Konservativen“ verteidigt. 37 Basta!, in: Il Trentino, 8. März 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1062-1064. Schon seit einigen Tagen protestierte De Gasperi gegen die Machenschaften des Volksbundes und seiner Agitatoren. In dem zitierten Artikel hatte De Gasperi auch kritisiert, dass eine Militärkapelle die Einweihung eines deutschen Kindergartens, den die pangermanischen Bewegungen erwirkt hatten, begleitet hatte, um dann anzufügen: „Auch die Italiener haben ihren Beitrag an Geld und Blut geleistet und das vielsprachige österreichische Heer kann sich nicht in die Dienste von Unterdrückern nehmen lassen“. 38 Santo Tirolo, in: Il Trentino, 8. April 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1080-1081. 39 Zu dieser ausschlaggebenden Frage sei auf die Schlussfolgerungen verwiesen: Sie muss jedoch vor einem anderen kulturelle Horizont betrachtet werden als die heutigen Polemiken.

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südländische Wachsamkeit lieber ist als die schwere tirolerische Rüstung“, denn er war den Tirolern gegenüber misstrauisch, auch wenn man ein und derselben religiösen Konfession angehörte: „Schon andere Male haben wir an Eure nationale Unparteilichkeit appelliert, dieser Appell fand aber nur ein schwaches Echo, warum also sollten wir ihn nicht noch dringlicher machen, indem wir an Euer religiöses Empfinden appellieren?“

Die Antwort darauf ist überaus interessant. „Nichts verabscheuen wir mehr als diejenigen, die religiöse Ideen und Einrichtungen in einen Bereich hineinziehen, in den diese nicht hineingehören, und wir hätten uns lieber darauf beschränkt, den nationalen Kampf im Namen der Naturrechte, der sozialen Gleichheit, der verfassungsrechtlichen Garantien zu führen. Doch wer hat einen Kampf, der schon allein bitter genug ist, mit angedrohten religiösen Konflikten verschärft, wer sprach von deutscher Rückeroberung und hat damit gleichzeitig die Grenzen des Protestes gegen Rom gezogen? Wir haben also das Recht, darauf zu reagieren und uns zu mobilisieren – im Namen des Heiligen Vigilius und unserer Latinität40, die in einer tiefen Harmonie unser gesamtes Sein und Leben umfasst, unseren Glauben, unsere zivile Haltung, die Sprache und die Gebräuche unserer Väter“.

Wie man sieht, wurde der Aufbau einer politischen Identität des Trentino rund um den Katholizismus außerordentlich geschickt betrieben, indem man ihn als eine Synthese aller gemeinschaftsbildenden Elemente darstellte: eine Entwicklung, die immer weiter verfeinert wurde, seit die nationalen Kämpfe in der Doppelmonarchie zunehmend zu Strukturelementen der Reichspolitik wurden und die zukünftige verfassungsmäßige Ordnung maßgeblich bestimmen sollten (der Zusammenbruch des Reichs war damals noch unvorstellbar). In der Zwischenzeit war, am 10. März, der Wiener Bürgermeister Karl Lueger verstorben. Schon ab 1906 hatte er aufgrund einer Reihe von Erkrankungen (Diabetes, Leberprobleme und anderes) kürzertreten müssen und am Ende war er fast vollständig erblindet41. De Gasperi widmete ihm einen langen Artikel, in dem er auch Bilanz jener politischen Erfahrung zog, die die ersten Jahre seines Werdegangs so stark geprägt hatte42. Der Artikel schwang zwischen einer umfassenden Geschichte Wiens, „das lange … das ‚Capua des Geistes‘43 gewesen war“, und „dem Wiener Leben, das sich heiter und beschwingt im Takt der Walzer von Lanner und Strauss 40 San Vigilio, der heilige Vigilius, hatte in römischer Zeit das Evangelium im Trentino verbreitet und so war die Diözese nach ihm benannt worden. 41 Vgl. J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S. 236-240. 42 Lueger nel movimento critiano-sociale – I Funerali, in: Il Trentino, 11. März 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1064-1072. 43 Der Luxus des Winterquartiers in Capua 212 v.Chr. hatte Hannibal und seine Truppen verweichlicht (Anm. d. Übers).

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drehte“, ein „ewiger Karneval“. Dieses „Operettenleben“, in dem „Bürokratie und Börse ein keineswegs unnatürliches Bündnis schlossen, um sich ungestört die Überreste des schlappen und durch öffentliche Luperkalien verdorbenen Volkes untereinander aufzuteilen“, wurde durch die Revolution von ’48 schwer erschüttert. Doch wer „es verstanden hatte, daraus einen Vorteil zu ziehen, war der Fremde, der aus Galizien und aus Russland eingewanderte Jude. Dieses Volk ohne Vaterland und ohne Rechte witterte die Beute, und mit seiner außerordentlichen Geschäftigkeit ohne Skrupel läutete es das sogenannte goldene Zeitalter des Handels und der Industrie ein“. Der manichäischen Darstellung des Direktors des „Trentino“ zufolge verspürten diese Fremden „auch den Ehrgeiz, die Lehrstühle der Universität zu besteigen“: „und wenn die Ideale der Freiheit und der Gleichheit erst einmal die Barrieren des Ghettos durchbrochen haben, werden die Fremden herauskommen, um sich der Presse, der Universitäten, der gesetzgebenden Organe mit den während der absolutistischen Zeit erworbenen Mitteln zu bemächtigen“. Nach Meinung des Verfassers wird „die Kammer, die in ihrer Zusammensetzung eher die Oligarchie als das Volk repräsentiert“, inakzeptable Gesetze durchgehen lassen wie die Zivilehe, die nicht-konfessionelle Schule und den Bruch des Konkordats, „während das große Volk aus den Sudeten und den Alpen schweigt, abwesend ist“. All das führt zum „großen Börsenkrach“ (am 7. Mai 1873), nach dem endlich wieder die Normalität Einzug hält, und „derjenige, der die fatale Verstrickung entwirrte, trug den Namen Karl Lueger“. Es folgt eine Analyse der Anfänge der katholischen Bewegung und ihrer ersten Siege, obwohl „die Übermacht der semitischen Presse so absolut [war]“. Ab 1882 kam es zu einer antiliberalen Erhebung, „sodass wir gegen 1887 drei parallele Organisationen haben: Luegers ‚wiedervereinte Christen‘, die radikalen Antisemiten unter der Führung von E. Schneider und von Schlesinger und die Deutschnationalen mit Ritter von Schönerer an der Spitze“. Zum Glück verstand es Lueger, „der Mann der Vorsehung“, die Kräfte zusammenzuhalten und Abweichungen zu verhindern: „Die Bewegung hätte in einem antisemitischen Fiasko im Stile Drumonts enden können oder in einem nationalen Radikalismus wie dem, der später, und zwar allein durch Schönerer, ins Leben gerufen werden sollte“.

Diese sehr ausführliche Darstellung historischer Ereignisse, aus der hier nur die wichtigsten Punkte vorgestellt werden sollen, fährt fort mit der Erinnerung an die „Sozialromantik“ der Jahre 1891-1895, an das Aufkommen des Sozialismus, aber auch an die Versuche des Wiener Konservativismus, mithilfe der „Bürokratie“ die Abmahnung Luegers vonseiten des Vatikans zu erreichen, was dank der Unterstützung des Nuntius von Wien, Monsignore Agliardi, verhindert wurde. Und während Schönerer „den furor teutonicus eines Großdeutschlands entfesselte“, indem er versuchte, „den Klerikalismus“

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an den Rand zu drängen und dabei riskierte, „mit dem Motto: ‚Gegen Judas ja, aber auch gegen Rom‘ die antisemitische Front aufzubrechen“, wurde Lueger – „allein gegen alle und ein großer Agitator“ – auch zum „Erzieher seines Volkes“. Und hatte damit einen so nachhaltigen Erfolg, dass „aus den letzten Wahlen die Christlichsozialen als große Staatspartei hervorgingen“44. Nicht uninteressant ist die Schlussfolgerung dieser Lobrede – die zweifelsohne von De Gasperis Erinnerungen an seine Wiener Studienzeit beeinflusst war und von den Ideen, denen er in den Kreisen um die „Reichspost“ und in den studentischen Organisationen, denen auch Funder angehört hatte, begegnet war. Wahrscheinlich ist sein bedenklicher Rückfall in einen rhetorischen Antisemitismus45 der allgemeinen „Ergriffenheit“ zuzuschreiben, die nach dem Ableben Luegers herrschte46. Auf jeden Fall werden in diesen Schlusssätzen die eigentlichen Themen des jungen Politikers deutlich. Auf der einen Seite haben wir die Beschwörung des „magischen Wortes“ von Lueger – „Aufrüttelung, mutige Propaganda, unermüdlich, ohne Pose“ –, auf der anderen Seite die Zuversicht, dass sich ein neuer, siegreicher Kampf anbahnt, „während sich die Konservativen in die pagi [Landbezirke] der Alpen zurückziehen oder in ihre böhmischen Besitzungen, in der Furcht vor allem Neuen, rückwärtsgewandt gegen jede Reform“. „Es ist der Optimismus von Leo XIII., wenn er die französischen Katholiken zu einer Koalition mit den Republikanern auffordert, oder wenn er den Klerus dazu drängt, sich der sozialen Frage anzunehmen, und aus noch weiterer Vergangenheit ist es der Optimismus von Montalambert, der sich für die Freiheit und für die Rechte des Menschen einsetzt, auch wenn ihn viele andere falsch interpretieren, und der trotz aller Umstürze und allen Sektierertums gegen Christus an den Fortschritt glaubt und prophezeit, dass das 20. Jahrhundert besser werden wird als das 19. Jahrhundert“.

44 Hier spielt De Gasperi auf die Tatsache an, dass sich die Christlichsozialen nach den Wahlen von 1907 mit den Konservativen zusammentaten und die Reichspartei ins Leben riefen. Das Verdienst dieser Entwicklung wurde gerechtfertigterweise Gessmann zugeschrieben. De Gasperi fügte vorsichtig hinzu: „Doch damit befassen wir uns nicht“. Vielleicht ahnte er, dass der Wandel nicht unbedingt in die Richtung ging, die er sich vorstellte: Wie zu sehen sein wird, stand er nur wenige Monate nach diesem Artikel im Kontrast zur Reichspartei, was die Frage der italienischen Universität betraf. 45 Der Antisemitismus in Wien hatte eine besondere Kraft: Man darf nicht vergessen, dass Hitler aus diesem Umfeld kam und in Lueger eine Art Vorbild sah, auch wenn er ihm zu romantisch und unentschlossen war; vgl. M. Ferrari Zumbini, Alle radici del male. 46 Der Bischof von Trient, Celestino Endrici, hatte dem Vatikan mitgeteilt, „der Tod des Wiener Bürgermeisters hat das Reich bewegt: Die Katholiken erkennen in ihm ein Mittel, um Wien zur christlichen Praxis zurückzuführen“; zitiert nach G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica, S. 538.

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Die ausgewählten Beispiele und der Tonfall seines Textes lassen erkennen, wie De Gasperi dem apokalyptischen Katastrophendenken des Katholizismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Lektion in Sachen „Optimismus“ abgewinnt und Proviant für einen entschlossenen Einsatz im modernen Zeitalter. Das ist ungewöhnlich, da man zur damaligen Zeit der Moderne eher mit Skepsis begegnete (der Vatikan verurteilte den Modernismus schärfer denn je), doch der junge katholische Politiker schrieb sie sich weiterhin – im Schutz der Lehre Leos XIII. und fern jeden theologischen Disputs – auf die Fahne. Trotz der Begeisterung für die Errungenschaften Luegers lagen die Wiener Christlichsozialen keineswegs auf einer Wellenlänge mit den Italienern. Im Mai hatte sich die Finanzkommission im Parlament endlich des Gesetzesentwurfs angenommen, der probeweise für vier Jahre die Einrichtung einer italienischen Fakultät an der Wiener Universität vorsah. Im Anschluss daran sollte die Fakultät nach Gradisca, an die Adriaküste, verlegt werden. Das Projekt stieß aber auf den Widerstand von Erzherzog Franz Ferdinand und der nationalistischen Kreise47. Die Christlichsozialen, obschon längst durch ihren Status als Regierungspartei gezwungen, der Linie Bienerths zu folgen, verhielten sich äußerst zweideutig, sodass sich der Ministerpräsident im Juli zum wiederholten Mal gezwungen sah, die Parlamentssitzung aufzulösen48, wodurch das Thema italienische Universität erneut in der Versenkung verschwand. So spitzte sich – jenseits der Feierlichkeiten und der allgemeinen Anteilnahme zum achtzigsten Geburtstag des Kaisers (am 18. August 1910) überall im Reich – die politische Lage wieder einmal zu. Auch im Rathaus von Trient sah es nicht besser aus, wo sich eine Krise anbahnte. Der schon seit Langem erkrankte Bürgermeister Silli war nicht mehr Herr der Lage, und selbst das Presseorgan der Liberalen, die Tageszeitung „L’Alto Adige“, sprach von einer „gespaltenen, apathischen, unentschlossenen“ Partei49. De Gasperi, der sich stark im Gemeinderat engagiert hatte – ganz besonders im Hinblick auf den Haushalt und die Wahlrechtsreform (für ein 47 Hier gab es wenig Unterstützung von den italienischen Liberalen, die auf ihren extremen Standpunkten beharrten. Siehe dazu die Artikel von De Gasperi, La sciagura del nullismo, in: Il Trentino, 21. Mai 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1093-1096 (in dem er den italienischen Liberalen vorwarf, dass sie den günstigen internationalen Moment verpasst hätten); La nuova fase della questione universitaria, in: Il Trentino, 25. Mai 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1096-1097. 48 Vgl. J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S. 153-154. Kurz darauf geriet die Partei in eine Krise, die zu einer Spaltung zwischen den Mitgliedern aus der Stadt und denen aus den Landbezirken führte. 49 Vgl. Nel centenario della nascita di Camillo Cavour, in: L’Alto Adige, 10./11. August 1910.

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Verhältniswahlrecht)50 –, verfolgte die Krise mit großer Anteilnahme. Auch an der Durchführung der Nachwahlen, die aufgrund des Rücktritts einer Gruppe liberaler Ratsmitglieder notwendig wurden, war er beteiligt. Es war eine ausgesprochen heikle Phase. Noch dazu ist aus einem Gratulationsbrief von De Gasperi an Giuseppe Mattei, der gerade sein Studium abgeschlossen hatte51, bekannt, dass er sich mit gesundheitlichen Problemen herumschlug („mein schlechtes Befinden schwächte mich sehr und zehrte meine letzten Energien auf“). In diesem Brief schilderte er Mattei eine eher unerfreuliche Situation. „In der Zwischenzeit wirst du bei deiner Rückkehr zu uns viel, zu viel Liegengebliebenes vorgefunden haben. Seit zwei Jahren rühren wir uns fast nicht, du freilich, wenn du eher auf die Formen achtest, wirst darin sogar einen regelrechten Rückschritt sehen. Dafür gibt es viele Gründe, doch der wichtigste war, meiner Meinung nach, dass unsere wenigen Kräfte noch im Labyrinth des lokalen Konflikts feststeckten: Und dennoch (und ich werde die Zeit haben, dir das zu beweisen) wird das Rathaus der Dreh- und Angelpunkt unserer politischen Lage werden“.

Dieser Brief erklärt sein Engagement in der Kommission für die Wahlrechtsreform. Der Kampf innerhalb der Kommission bezüglich des Verhältniswahlrechts war weder belanglos noch einfach gewesen, wie aus einem Brief von De Gasperi an Conci (offenbar ein Vertrauter), der mit „Tesero, 26. Juli 1910“52 datiert war, hervorging. In diesem Brief berichtete er von einer Sitzung zur Frage der „R.P.“, die „die halbe Nacht dauerte“, und in der es schien, als würde „der Dr. Cappelletti“ „sein ‚tollerari potest‘ geben“, während er bezweifelte, dass die „Demokraten“ (im Brief in Anführungszeichen) wirklich gewillt waren, zurückzutreten. „Bertolini hat als Erstes klar und deutlich ausgesprochen, dass die Liberalen das junctim zwischen der Repr. im Rathaus und der im Landtag setzen würden (die Idee des Abgeordneten Antonio [Tambosi?]), und als ich in einer langen Diskussion zu zeigen versuchte, dass es kein Kräftegleichgewicht gibt, da die Volksparteiler im Landtag in keinem Fall die Anliegen vertreten können, die die liberale Mehrheit in Trient in die Tat umsetzen kann, erwiderte er mir, mit den

50 Vgl. M. Garbari, Alcide De Gasperi nel Consiglio comunale di Trento. Diritti e doveri di maggioranza e minoranza, in: Studi trentini di scienze storiche, 83 (2004), S. 339-379. Wichtige Artikel über die Probleme in der Gemeinde Trient sind: Le finanze di Trento nel 1910, in: Il Trentino, 19. April 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1085-1087; L’ultima ora. Le elezioni suppletorie per il consiglio comunale, in: Il Trentino, 23. August 1910, jetzt ebd., S. 1118-1120; Logica e correttezza, in: Il Trentino, 25. August 1910, jetzt ebd., S. 1121-1123. Zu seine Tätigkeit im Gemeinderat in der ersten Phase (22. Dezember 1909-27. September 1910), siehe ebd., S. 1767-1790. 51 Der mit „Tesero, 22/7/10“ datierte Brief befindet sich im AMRDG (als maschinengeschriebene Kopie des verloren gegangenen Originals). 52 MSTF, Nachlass Conci, Umschl. 2, Bl. 16.

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üblichen Anspielungen auf die Allmacht unserer Partei, dass Bert. nur schwafelt und sich darüber auch sehr wohl im Klaren ist.“

Und er fuhr fort: „Konkret heißt das, dass B. eine Reform ganz im Sinne von Briand (scilicet parva …) vorschlägt, was bedeutet, eine Mehrheit der Mandatsträger (zum Beispiel die ersten drei Wahlklassen) soll nach den alten Prinzipien des Mehrheitswahlrechts gewählt werden und der Rest nach der R.P. Ich habe es philosophisch genommen und angemerkt, dass das kommunale Endergebnis genau umgekehrt sei, doch der Mann hat darüber nur gelacht. Zum Schluss hat man auf die Schnelle noch einen Sozialisten in die Kommission hineingewählt, und diese Wendetaktik von B. halte ich für einen Zug, um Zeit zu gewinnen und die Sache auf die lange Bank zu schieben. Ich habe aber keinesfalls die Absicht, den Prügelknaben zu spielen. Im Herbst – sollte ich Lust und Zeit haben – werde ich die Stimmung derart aufmischen, dass dem B. die Lust vergeht, uns zum Narren zu halten“.

Von Anfang an gab sich De Gasperi den Liberalen gegenüber ausgesprochen kämpferisch: Er warf ihnen eine miserable Führung der Gemeindeverwaltung vor53 und erklärte sich im Falle einer Wiederaufnahme der Wahlrechtsreformfrage kampfbereit. Die Katholiken waren gerüstet, und sie wollten sich gewiss nicht auf die nationalen Fragen festnageln lassen, wie es die radikale Mehrheit der Liberalen des Trentino möglicherweise hoffte. Schon auf dem 13. Kongress der katholischen Studenten, der am 17./18. September 1910 in Trient abgehalten worden war, hatte der Direktor des „Trentino“ den jungen Leute erklärt, „der wahre Nationalismus müsse in Einklang mit den katholischen Prinzipien stehen, und wenn er wirksam sein will, muss er der Verbindung Rechnung tragen, die er mit dem wirtschaftlichen Problem eingeht“54. Um seine Thesen zu unterstreichen, hatte er über eine Erklärung abstimmen lassen, die „den Jungen ans Herz legt, ihr Studium den wirtschaftlichen Problemen zu widmen und den Kontakt zu den Klassen, die direkt in der Produktion tätig sind, aufrechtzuerhalten“. Eine Aufforderung, die die neuen Erfahrungen des

53 In der Tat schrieb er im selben Brief: „Man belastet uns derart mit Abgaben, dass unsere Institute unter der unerträglichen Last ächzen und weiter verlangt man die Vorherrschaft, um uns zu verwalten, mit diesem formidablen Beispiel, das sie abgeben! Ich hoffe, dass in der Begründung ausdrücklich gesagt wird: dass die Einspruchsverfahren [gegen den Haushalt] insofern gerechtfertigt sind, da sie auf den Einwürfen und den Vorschlägen der Minderheit gründen, denn würde man diese Vorschläge aufgreifen, könnte man die Pachtsteuer zumindest vorläufig vermeiden; das wäre umso wünschenswerter, als die Haussteuer und weitere Steuern eine nicht mehr tragbare Höhe erreicht haben“. 54 Le conclusioni del congresso universitario nell’assemblea generale, in: Il Trentino, 23. September 1910 (eigene Hervorhebung, P.P.), jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd.1, S. 1141-1142.

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jungen Politikers widerspiegelte, der durch die Kommunalarbeit mit einer Lebenswelt in Kontakt kam, die er bislang nicht weiter wahrgenommen hatte. An dieser Stelle sei eine Zwischenbemerkung erlaubt – nämlich die Frage, was der Grund für diese Aufforderung war, sich mit einem Bereich zu befassen, von dem die Geschichtsschreibung noch bis vor Kurzem angenommen hat, dass De Gasperi dafür nicht sonderlich geeignet gewesen sei, gerade auch angesichts seines Handelns in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. In seiner scharfsinnigen Biografie hat Piero Craveri diese These für jene Zeit bereits entkräftet55, aber es muss auch daran erinnert werden, dass die katholische Finanzwelt im November 1908 die Banca Industriale gegründet hatte und dass De Gasperi zum Vizepräsidenten ernannt worden war, ein Amt, das er aktiv ausüben sollte und das er für einen wichtigen Schritt in seinem politischen Werdegang hielt56. Die Arbeit des Direktors des „Trentino“ in der Banca Industriale, die einen speziellen Zweig der Banca Cattolica darstellte, war keine Sinekure. In einer handschriftlichen Notiz, vermutlich aus den frühen Dreißigerjahren, in der er die „Parabel der dreißig Jahre“57 zusammenfasste, hob De Gasperi dieses Amt (das er bis 1912 bekleiden sollte) in seinem cursus honorum besonders hervor. Dabei war ihm daran gelegen, deutlich zu machen, dass sich der Vorstand, dem er angehörte, aus „drei Mitgliedern zusammensetzte“. Er betonte auch, dass die Bank „damals recht stark und an vielen Finanzierungen in verschiedenen italienischen Städten beteiligt“ war. Im Archiv De Gasperi hat ein „allgemeines Schema der wirtschaftlichen Organisation“58 überlebt, dem zu entnehmen ist, dass diese auf Kredite spezialisierte Sparte mit einem Kapital von einer Million Kronen gestartet Vgl. P. Craveri, De Gasperi, Bologna 2006. Das lässt sich einer handgeschriebenen Notiz über die Stationen seiner Karriere entnehmen, die sich im AMRDG in den Papieren zu den Dreißigerjahren befindet. Ich danke Maurizio Cau, der mir eine fotografische Reproduktion dieser Anmerkungen hat zukommen lassen, auf die er bei seiner Recherche zum zweiten Band der „Scritti e discorsi politici“ von De Gasperi gestoßen war. 57 Es handelt sich um eine Notiz, die sich heute im AMRDG befindet und von der mir Maurizio Cau freundlicherweise eine Kopie zugänglich gemacht hat. 58 Es handelt sich um vier maschinengeschriebene Blätter, die sich zusammensetzen aus einem „allgemeinen Schema der ökonomischen Organisation“ (2 Blätter), einem Blatt mit dem Titel „Entwurf“ mit der Beschreibung der Abteilungen, in die die Bank aufgeteilt werden sollte („unter Anwendung der Theorien der Unterteilung nach den positiven Kriterien der politischen Vereinigung und der Verwaltungswissenschaft, wie sie in allen Handbüchern von Hoepli und von allen Professoren der technischen und akademischen Lehre vertreten werden“) und einem letzten Blatt mit dem Titel „Gruppe der Geschäfte, für die die katholische Bank des Trentino zuständig ist“ (die Bahnlinie Bozen-Mendelpass und ihre Verzweigungen). 55 56

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war, das auf 8 Millionen angehoben wurde (womit das Bankinstitut eine bedeutende wirtschaftliche Einrichtung wurde), um die Entwicklung des Trentino zu fördern. „Und in der Tat bestimmen Bauernhöfe und einige wenige Industriebetriebe, in Art und Umfang von nicht unerheblichem Gewicht, die wirtschaftliche Lage des Trentino. Die meisten landwirtschaftlichen Betriebe sind auf Weinherstellung und Seidenraupenkultur spezialisiert. Das Trentino besitzt aber noch weitere Schätze von wirtschaftlicher Bedeutung, zum Beispiel die Wasserkraft, die landschaftliche Schönheit: Das Trentino wird sich damit auch in den Bereichen Elektrotechnik, Transportwesen und Fremdenverkehr entwickeln“.

Das legte nahe beispielsweise in die „cantine riunite“, also den Weinbau, oder in die Entwicklung eines Spinnereiprojekts zu investieren, vor allem aber, sich auf die Unione Trentina per Imprese Elettriche zu konzentrieren. Darin sah er nämlich einen wirklich zukunftsträchtigen Sektor („die elektrischen Anlagen, die Eisenbahn, die Straßenbahnen, die Autos usw.“), neben einer Società degli Alberghi zum Zusammenschluss der Gastbetriebe im Tourismussektor. Eine ausgesprochen moderne Sichtweise, die zeigt, dass er sich vollkommen im Klaren darüber war, welche Themen künftig entscheidend für die politische Vormachtstellung sein würden. Anlässlich des 8. Kongresses der katholischen Studenten gab es auch zahlreiche Kundgebungen zur italienischen Identität, an denen italienische Studenten und Professoren beteiligt waren (unter ihnen Pater Gemelli): Am Bahnhof war ihnen ein Kranz mit dem Schriftzug „Gli studenti cattolici sempre italiani“ überreicht worden; am Dante-Denkmal legten sie Kränze nieder; am 20. September unternahmen sie einen Ausflug zum Mendelkamm und zum Aussichtsturm auf dem Penegal, wo sie die italienische Flagge hissten59. In der Zwischenzeit wurden die Zusatzwahlen für den Gemeinderat anberaumt – für die Katholiken kein leichtes Spiel in einer Stadt, die sich traditionell in der Hand des liberalen Bürgertums befand. Auch in diesem Fall setzte De Gasperi auf seine „Klassen“-Schiene: Er stellte „das Volk“ (die verstädterte Bevölkerung, die aus den Tälern stammte und das neue Kleinbürgertum) den alten Eliten gegenüber. Die Liberalen sahen nicht tatenlos zu. Zunehmend erkannten sie, dass dieser junge, katholische Politiker nicht zuletzt aufgrund der Nationalitätenfrage an Boden gewann, sodass sie beschlossen, ihn auf eben jenem Terrain anzugreifen, wobei sie allerdings ihre „irredentistisch“ geprägten Überzeugungen zugrunde legten. Der Direktor 59 So heißt es zumindest in den Erinnerungen von G. Mattei, Degasperi all’alba del XX secolo, S. 56. Eine eher nüchterne Chronik des Ereignisses gibt De Gasperi selbst ab: Una buona giornata, in: Il Trentino, 20. September 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1134-1136.

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des „Trentino“ verteidigte sich nach Kräften60. So kritisierte er „den üblichen Trick, uns als ‚governativi‘ hinzustellen, wogegen jeder national Empfindende aufmarschieren müsse“, und auch die Anklage, dass „der Dr. Degasperi ‚austriacante‘ ist, ein Tiroler, gegen das Vaterland“. Und er drehte den Spieß um: „Dem, der gegen die Germanisierung kämpft und für die nationale Existenz des Landes, jagt man feig ein Messer in den Rücken“ und zwar einzig und allein deshalb, weil „sie die politische Vormachtstellung des Liberalismus über alles stellen, und dem Liberalismus alles andere, nämlich die Interessen der Stadt und des Landes, unterordnen“. Hierzu61 trat das übliche Klassenmotiv (auch hier ist der Einfluss Luegers deutlich erkennbar): „Kampf für die Gerechtigkeit und gegen die Privilegien“, für „die Interessen der gesamten Bürgerschaft Trients und der vielen Steuerpflichtigen, die bislang kein anderes Recht hatten und haben, als sich ihre Taschen leeren zu lassen“. Die Zusatzwahlen für die Ratsversammlung von Trient, die am 3. Oktober abgehalten wurden, waren ein Erfolg für die Volkspartei. Sie konnte in der dritten Wahlklasse, der mit der breitesten Basis62, vier Ratsmitglieder stellen, und zwei weitere in der zweiten Wahlklasse – das allerdings nur im Bündnis mit einer kleinen Gruppierung, die sich Gruppo degli Impiegati nannte. (Damit kam die Volkspartei auf 7 Ratsmitglieder, denn De Gasperi war in der ersten Wahlklasse wiedergewählt worden und hatte somit die 27 Ratsmitglieder der Liberalen hinter sich gelassen.) In seiner Zeitung feierte De Gasperi diesen Sieg, indem er ihn „einen Akt der Rebellion“ nannte, womit er erneut den Klassengegensatz zu den Liberalen beschwor: „Es hatte wenig gebracht, sich auf civis tridentinus sum zu berufen: Wir waren ‚Klerikale‘ und basta. Sie, die Optimaten der Urbs, wir, wie die ‚Alto Adige‘ schrieb, die verstädterten Bauern“63. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten; sie war getragen von dem Wunsch der Liberalen nach einer Revanche für die Erfolge der katholischen Partei. So kam es, dass, nachdem Bürgermeister Silli am 17. Oktober 1910 aufgrund massiver gesundheitlicher Probleme zurückgetreten war, die Liberalen 60 Il predominio politico nell’amministrazione, in: Il Trentino, 1. Oktober 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1148-1150. 61 Per la giustizia, contro il privilegio!, in: Il Trentino, 3. Oktober 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1150-1152. 62 Darüber hinaus handelt es sich um relative Zahlen: Zwar gab es 2.261 Wahlberechtigte, aber davon wählten nur 420 und 175 hatten ihre Stimme durch Prokuration abgegeben. 63 La nostra grande vittoria, in: Il Trentino, 4. Oktober 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1152-1155.

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bei der Wahl seines Nachfolgers leere Stimmzettel abgaben. Wie De Gasperi in der Ratsversammlung am 22. Oktober64 beklagte, handelte es sich dabei um ein politisches Spielchen: „nicht um Fragen der Würde, sondern darum, die Minderheit aus diesem Sitzungssaal zu vertreiben. Lieber überlässt man das Rathaus der Regierung als mit der Minderheit zusammenzuarbeiten“. Und genau das geschah, denn am 13. November löste Statthalter Spiegelfeld die Ratsversammlung auf und ernannte erneut Silli zum von der Regierung bestellten Kommissar, womit die Wahl für die Ratsversammlung aufs neue Jahr verschoben wurde. In jener Zeit traf De Gasperi der frühe Tod der Mutter, Maria Morandini, die am 3. Dezember 1910 starb. Das hielt ihn aber nicht von seiner Arbeit für die Zeitung ab. Ihm war sehr wohl bewusst, dass im neuen Jahr viele wichtige Ereignisse anstanden. Wie er sich fühlte, lässt ein Artikel erahnen, den er zum Jahresende veröffentlichte65, wo er mit der literarischen Fiktion der Zeitung spielt und diese in der ersten Person reden lässt. Hinter der Fiktion erkennt man sofort, dass die Zeitung eine Metapher für ihren Direktor ist, der über den bislang errungenen Erfolg reflektiert: „Ich war ein junger, schlicht gestrickter Mensch, dessen Miene diese widersprüchliche Mischung aus Draufgängertum und Unbeholfenheit trug. Ich führte ein ärmliches Leben und bewohnte einen düsteren Raum, in dem ich fast immer allein war, ausgenommen die Tage, an denen ihr hereinstürmtet, um mir aufrührerische Ratschläge, Ansporn oder auch Kopfnüsse zu geben. Draußen auf der Straße grüßte mich niemand. Die Mächtigen verachteten mich, da ich arm war. Die Intellektuellen bemitleideten mich, denn ich war wie einer aus dem Volke gekleidet“.

Schließlich stellte sich der Erfolg ein, denn „es ereignet sich dieser demokratische Einschnitt, allen Bürgern des Trentino wird das allgemeine Wahlrecht zugestanden“ und „damit wurde ich das Parteiorgan“ (noch immer tut er so, als spräche die Zeitung in erster Person): An diesem Punkt (1910) hätte man sagen können, „ich stünde auf dem Gipfel einer Anhöhe“. „Die Feinde sind zurückgeblieben, sie liegen im Staub oder mühen sich auf eben dem Weg ab, den wir geebnet haben, andere wiederum schauen uns mit Respekt zu, um nicht zu sagen mit Sympathie für die Sansculotten von einst“. Abgesehen von dieser gehörigen Portion Rhetorik im Stile von De Amicis66 war das auch eine Bilanz über De Gasperis eigene Entwicklung. Die Schluss64 Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 22. Oktober 1910, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1795. 65 La parola a me!, in: Il Trentino, 31. Dezember 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1178-1181. 66 Edmondo De Amicis (1846-1908), Schriftsteller mit hohem sozial-moralischen Pathosfaktor (Anm. d. Übers.).

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folgerung war in gewisser Weise allzu optimistisch: Die Kommunalwahlen machten deutlich, dass die Liberalen noch einige Trümpfe auszuspielen hatten, wenn auch dank des rückständigen Wahlsystems. De Gasperi kämpfte bis zuletzt67, konnte aber nicht mehr viel ausrichten: Beim Urteil über den Wahlausgang kam er zu dem Schluss, „das Ergebnis der Wahlen [sei] passabel“68. Im ersten Wahlgang waren die Vertreter der UPPT leer ausgegangen, doch bei den Stichwahlen am 6. März 1911 gewannen sie aufgrund des nicht mehr gültigen Abkommens zwischen Liberalen und Sozialisten alle 5 verfügbaren Sitze in der dritten Wahlklasse. Zugleich konnten sie ihre 3 Sitze in der ersten Wahlklasse dank des nach wie vor gültigen Paktes zwischen Katholiken und Liberalen verteidigen. Diesmal war De Gasperi in der dritten Wahlklasse gewählt worden und das nach einem richtigen Wahlkampf69, den er vor allem gegen die Liberalen geführt hatte, nicht ohne den einen oder anderen Angriff auf die Sozialisten: Schließlich vereinte diese beiden Parteien ihr Antiklerikalismus im Kampf gegen die Volkspartei70. Der Wahlausgang sollte die problematische Situation im Gemeinderat nicht wirklich entschärfen, denn die Wahl des neuen Bürgermeisters, des liberalen Grafen Manci, war von den österreichischen Behörden nicht bestätigt worden – mit der Begründung, er sei 1909 ohne Angabe von Gründen aus dem Gemeinderat ausgeschieden, weshalb er nach der Gesetzesauslegung der Behörden gar nicht mehr wählbar war71. 67 Siehe dazu die Artikel: Vigilia elettorale – parole chiare, in: Il Trentino, 10. Februar 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1191-1195; L’ordine di battaglia, in: Il Trentino, 16. Februar 1911, jetzt ebd., S. 1195-1197; vor allem aber der Bericht über eine Versammlung, in dem De Gasperi den Standpunkt der Vertreter der Volkspartei unterbreitete: Concentrazione per il partito o per l’amministrazione cittadina?, in: Il Trentino, 21. Februar 1911, jetzt ebd., S. 1197-1209. 68 Ad perpetuam rei memoriam, in: Il Trentino, 13. März 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1231-1235. 69 Es handelt sich auch hier um eine begrenzte Wählerschaft: von den gewählten Kandidaten hatte jeder knapp über 700 Stimmen auf sich vereint. 70 Siehe dazu: Il connubio, in: Il Trentino, 6. März 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1226-1227; L’ultima bomba dei patrioti, in: Il Trentino, 6. März 1911, jetzt ebd., S. 1227-1229 (hier antwortete er auf die Vorwürfe der Liberalen gegenüber der Volkspartei, es mangele ihr an Patriotismus, da sie angeblich ihre Unterschrift für die Errichtung eines Denkmals für Erzherzog Albert in Arco gegeben hätten, was abgestritten wurde); Il ballottaggio, in: Il Trentino, 10. März 1911, jetzt ebd., S. 1229-1230, in diesem Artikel wurde das Übereinkommen zwischen Liberalen und Sozialisten bekanntgegeben, wobei Erstere „die Wähler mit der Kutsche abholen“ würden, um ihr Ziel zu erreichen. 71 Auf der Sitzung vom 30. August 1911 zeigte sich De Gasperi einverstanden mit dem Protest gegen das Verhalten der Statthalterei, die die Wahl von vier Ratsmitgliedern aufgehoben hatte, darunter die des Grafen Manci; vgl. A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1798-1801.

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Das war letztlich aber ein zweitrangiges Problem, denn am 30. März 1911 hatte Premierminister Bienerth den Reichsrat aufgelöst und zu Neuwahlen aufgerufen. Bereits am 12. Dezember 1910 war es zu einer Regierungskrise gekommen, doch der Kaiser hatte Bienerth zum Bleiben gedrängt und dessen Regierung am 9. Januar 1911 erneut bestätigt. Um über eine Mehrheit zu verfügen, sah sich der Ministerpräsident gezwungen, eine erhebliche Anzahl von Slawen einzubeziehen (vor allem Tschechen und Polen), was ihm aber den Unmut der Deutschen einbrachte. Außerdem stand die Regierung unter Konsensdruck, um die Gesetze durchzubringen, die das Militär einforderte72. Bei vielen Gruppierungen stieß sie damit auf Widerstand. Außerdem reichten ihre Finanzmittel nicht für Investitionen, die als Verhandlungsbasis mit den verschiedenen nationalen und nicht nationalen Interessenvertretungen hätten dienen können. Nachdem Bienerth vergeblich versucht hatte, mithilfe von Artikel 14 der Verfassung zu regieren, der es der Exekutive erlaubte, im Falle einer großen nationalen Bedrohung auch ohne Parlament zu agieren (wie man sich vorstellen kann, haftete dem Einsatz dieser Möglichkeit immer etwas Bedenkliches an), sah er sich nun von genau jenen Parteien des deutschnationalen Blocks, die er eigentlich schützen wollte, zu Neuwahlen gezwungen. Seine Idee war es gewesen, auf diese Weise einen Block von Deutschen und Polen zu fördern (Sammlungspolitik) als Opposition sowohl gegen die Sozialisten als auch gegen die Slawen73. Die Auflösung der Regierung fand bei der Volkspartei keine Zustimmung. Denn immerhin hatte sie sich einen kleinen Zugang verschafft, in der Hoffnung, dadurch gewisse Vorteile zu erlangen (unter anderem in der nach wie vor ungeklärten Universitätsfrage, die sich zwischen Kommissionen, Sitzungen und neuen Vorschlägen hinschleppte). De Gasperi wusste, dass sie kein leichtes Spiel haben würden, denn „die 1907 geschlagenen Gegner werden zum Gegenschlag ansetzen“74. Gemeint waren auf jeden Fall die Liberalen, die man jetzt – möglicherweise angestachelt durch ihren durchaus beachtlichen Erfolg bei den jüngsten Kommunalwahlen – noch mehr als in der Vergangenheit fürchtete.

72 Das Militär hatte nach dem, was sie für einen Sieg im „Krieg im Frieden“ hielten, den man zur Zeit der Annexion Bosniens geführt hatte, auf Investitionen in die Wiederaufrüstung gedrängt; vgl. G. Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k.-Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906-1914, München 2003, S. 357-360. 73 Über diese Wendung, die Bienerth zum Bruch mit den Christlichsozialen brachte, vgl. J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S.161-163. 74 Il parlamento è sciolto – il pensiero del governo, in: Il Trentino, 31. März 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1245-1246.

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In gewisser Weise sollte sich die Wahlkampagne der Volkspartei im Jahr 1911 noch stärker auf die Themen „Identität“ und „Konfession“ stützen als alle vorangegangenen. Nachdem De Gasperi bereits „die slawische Verweigerungshaltung, die mit Unterstützung der sozialistischen Internationale das Parlament ruiniert hat“, angeprangert hatte, sprach er es im Aufruf an die Wähler75 deutlich aus: „Gegenüber dem Staat mit seinen Gesetzen und seiner Schule, gegenüber der laizistischen Regierung und ihren Beziehungen zur Kirche und zu den religiösen Vereinigungen bestehen wir auf unserem entschlossenen, unumstößlichen Willen, dass das Trentino ein katholisches Land sein soll“.

Denn „ein derartiges christliches Bekenntnis [ist] auch ein Akt der gebührenden Würdigung und eine Garantie in nationaler Hinsicht“ – war doch die Kirche das Bollwerk gegen die „germanische“ Invasion gewesen. Dieser doch eher zurückhaltende Ton erklärt sich auch durch die Tatsache, dass die Liberalen diesmal einen Vorstoß in Richtung der Katholiken versuchten, denn sie hatten begriffen, dass dort die notwendigen Wählermassen zu finden waren. De Gasperi beließ es nicht dabei, auf jede nur erdenkliche Weise diesen – wie es ihm schien – plötzlichen Sinneswandel der Liberalen aufzudecken76. Vielmehr wollte er, so scheint es, durch sein Beharren auf dem Thema Konfession das Wiederaufflackern des Antiklerikalismus in jenen Kreisen provozieren. Denn diese Gesinnung hatte als Bindemittel für die katholischen Gemeinden bestens funktioniert, die man daran erinnerte, dass „aufgrund dieses [sozial-katholischen] Prinzips im Trentino eine blühende und großartige wirtschaftlich-soziale Organisation entstanden ist“. Es gab auch ein Stühlerücken unter den katholischen Kandidaten: Außen vor blieben Don Giovanni Battista Panizza (als Geistlicher war er auch Seelsorger und der Bischof wollte diese Vermischung der Ämter vermeiden, so jedenfalls lautete die Begründung – sehr zum Ärger des Betroffenen), der Ingenieur Emanuele Lanzerotti (aufgrund seiner Aktivitäten im finanzwirtschaftlichen

75 Elettori del Trentino, in: Il Trentino, 12. Mai 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1268-1271. 76 In dem Artikel „Angustie liberali“ (Il Trentino, 27. Mai 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1280-1282) schrieb er erst, dass „die Liberalen normalerweise den Boden der Kirchen „nicht gerade abwetzen“. Das ändert sich nur während einer Wahlkampagne. Da werden die Ohren unterhalb der Kanzeln gespitzt, um den Priester in flagranti bei „politischer Agitation“ zu erwischen, um dann darüber zu spotten, dass die Priester offenbar vergessen hätten, dass „sie sich normalerweise sehr dabei amüsieren, über den Besen in Frankreich zu sprechen“ (eine Anspielung auf die antiklerikalen Gesetze in Frankreich vom Dezember 1905 und die antiklerikalen Aufwallungen im Jahr 1909). Das war eine Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass der einzige Schutz, „im Parlament … eine große Zahl katholischer Abgeordneter“ sei.

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Sektor, die einige Probleme verursacht hatten)77, und schließlich Bonfilio Paolazzi (aufgrund seiner pro-österreichischen Haltung). Der Ausschluss Paolazzis hatte für die heftigsten Diskussionen unter den Außenstehenden gesorgt, denn an seine Stelle trat Alcide De Gasperi als Kandidat für den Wahlkreis Fleimstal-Fassa-Primiero-Civezzano. Er war in jenem Jahr endlich 30 und somit wählbar geworden. Selbstverständlich sahen die Gegner, die seine Bedeutung längst erkannt hatten, seinen weiteren politischen Aufstieg78. Auch in diesem Wahlkampf stritt De Gasperi, wie er das bereits in Bezug auf einige Themen bei den Kommunalwahlen getan hatte, an mehreren Fronten. Er verteidigte das Vorgehen der Vertretung der Volkspartei in Wien, der vorgeworfen wurde, für die Militärgesetze gestimmt zu haben, um sich die Regierung zu verpflichten. Dabei betonte er, dass der Katholizismus den Militarismus eher verurteilte (es ist bezeichnend, dass diese Thematik Gegenstand der öffentlichen Diskussion wurde: eine Tendenz, die noch zunehmen sollte)79. Er versuchte, die Partei, die die „Wahlkampagne lustlos und mit einer gewissen Müdigkeit“ angegangen war, mit einem Wahlkampf aufzurütteln, der erst im letzten Moment entschieden wurde (im Gegensatz zur „5 Monate dauernden Kampagne“ im Jahr 1907) und der aufgrund der diversen Saisonarbeiten der bäuerlichen Bevölkerung – immerhin die Wählerbasis der Volkspartei80 – in eine ungünstige Jahreszeit fiel. Dazu kam natürlich auch die Polemik mit der „national-liberalen Partei“, die seiner Meinung nach „die erbärmlichste Figur“ abgab: Sie hatte zum einen viel von „Religion“ und dem alten Gleichgewicht gesprochen, „als die guten Priester und die liberalen Herrschaften in Frieden lebten“ und „die modernen Priester …, Krämer und intriganten Politiker“ angegriffen; zum anderen hatte man mit „der nationalen Idee“ gespielt und mit Blick auf das Rathaus hatten sich „Liberale und Sozialisten verbündet; was freilich die nationale Idee mit Blick aufs Parlament, betrifft, werden Liberale und Sozialisten Feinde sein“81. 77 Vgl. A. Leonardi, Per una storia della cooperazione trentina, Bd. 1: La Federazione dei consorzi cooperativi dalle origini alla Grande Guerra (1895-1914), Mailand 1982, S. 156-157. 78 Auf diese von der Tageszeitung „L’Alto Adige“ verbreitete „Lüge“ (der Ausschluss Paolazzis, nur um dadurch Platz für den jungen Direktor des „Trentino“ zu schaffen) antwortete De Gasperi mit einem Artikel, in dem er mit aller Entschiedenheit festhielt, dass er darauf beharrt hätte, Paolazzi solle bleiben, während er sich hingegen hätte zurückziehen wollen; vgl. In causa propria, in: Il Trentino, 3. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1284-1286. 79 Vgl. L’anima del militarismo, in: Il Trentino, 7. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1286-1289. 80 La giornata d’oggi, in: Il Trentino, 13. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1292-1294. 81 Liberalismo nostrano, in: Il Trentino, 8. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1289-1291.

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Das Wahlergebnis war dasselbe wie 1907: Sieben ländliche Wahlkreise gingen an die Volkspartei, die beiden städtischen fielen in der Stichwahl an den Sozialisten Battisti in Trient und an den Liberalen Malfatti in Rovereto, der damit in seinem angestammten Wahlkreis bestätigt wurde82. Auch hier führt es nicht zu weit, von einer katholischen Vormachtstellung zu sprechen, auch wenn sich die Lage „abgekühlt“ hatte – sowohl was die Teilnahme betraf (nur 60% der Wahlberechtigten waren an die Urnen gegangen) als auch hinsichtlich des Wettstreits in den Wahlkreisen. Beide Städte waren nach wie vor Domänen der alteingesessenen Parteien – auch wenn sich in Trient die Stimmenverteilung zu verlagern begann, doch noch ohne zu einschneidenden Veränderungen zu führen, wohingegen in Rovereto die Sozialisten stark hinzugewonnen hatten und wegen nur 68 fehlender Stimmen knapp verloren. Doch in den anderen Wahlkreisen, in denen die Volkspartei weiterhin fest verankert war (mit Ausnahme des Val Lagarina, wo eine autonome Bauerngruppierung dem Kandidaten der Volkspartei eine Stichwahl aufgezwungen hatte), hatte sich der – wenn auch nach wie vor deutliche – Abstand zwischen Siegern und Verlierern verringert83. Dazu lassen sich zwei Beobachtungen machen. Erstens hatte die Stadt weiterhin ein liberales Profil, allerdings wurden die liberalen Stimmen nun nicht mehr nach dem Mehrheitswahlrecht84 gezählt und spalteten sich somit bei den Stichwahlen in etwa 35%, die den katholischen Kandidaten unterstützten, und 65% für den sozialistischen Kandidaten. Zweitens variierten die Prozentanteile der Stimmen, die die verschiedenen Parteien erhielten: Verluste gab es für die Volkspartei (von 70 auf 61%), sehr geringe Verluste verzeichneten die Liberalen (von 13 auf 12%) und die Sozialisten gewannen hinzu (von 11 auf 15%). Ein beunruhigendes Zeichen kam aus Südtirol, wo der Stimmenanteil der Konservativen dank ihrer anti-italienischen Haltung sprungartig von 8 auf 20% gestiegen war (obwohl sie nicht einmal einen gewählten Kandidaten hatten)85. Zu dieser bedeutenden Persönlichkeit siehe S. Benvenuti, Valeriano Malfatti, podestà di Rovereto, deputato alla Dieta di Innsbruck e al Parlamento di Vienna, in: Studi trentini di scienze storiche, 85 (2006), S. 201-216. 83 R. Monteleone, Elezioni politiche nel territorio trentino-tirolese, S. 54-58. Die Gewählten waren: Battisti (Sozialist) in Trient, Malfatti (Liberaler) in Rovereto, und die Vertreter der Volkspartei Grandi, Delugan, de Gentili, De Gasperi, Conci, De Carli und Tonelli. 84 Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, sollte De Gasperi (mit Genugtuung) erklären, dass „die Liberalen in Trient eine Minderheit darstellen“; vgl. Il finale del liberalismo nostrano, in: Il Trentino, 22. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1298-1301. 85 Wie immer an diesen Dynamiken sehr interessiert, hatte De Gasperi auf diese Tendenzen hingewiesen, sowohl was die konservativen Zeitungen als auch was die christlichsozialen betraf, wobei sich Letztere meist eher vorsichtig verhielten, 82

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De Gasperi nahm ex post eine sorgfältige Analyse vor. Als erste Reaktion befand er „den gesamtheitlichen Ausgang … für unsere Partei beruhigend“, er hob sogar hervor, dass „die Organisation in Trient einen wahren Triumph erlebte. Von 960 Stimmen sind wir auf 1.345 gestiegen, mit einem höchst bemerkenswerten Vorsprung vor den anderen Parteien“86. Nach dem Ausgang der Stichwahlen zeigte er sich zufrieden, denn „die Volkspartei hält im Trentino ihre Vorrangstellung“87 und wiederholte seine Kritik am Hauptgegner: „die gestrige Wahl zieht so einen würdigen Schlussstrich unter die erbärmliche Kampagne unseres Liberalismus. Der Antiklerikalismus um jeden Preis und die Anbiederung an die Sozialisten werden sein Tod sein“. Dann richtete der Direktor des „Trentino“ seinen Blick auf Wien, wo er eine erhebliche Veränderung im politischen Gleichgewicht erkannte: das Vorspiel zu einer neuen Phase. So schrieb er noch im selben Artikel: „Allerdings werden die Italiener in der Kammer eine schwächere Position haben, denn sie werden es mit den aufgebrachten deutschen Nationalisten Erler, Kofler und Kinz im erstarkten deutschnationalen Bund zu tun bekommen. Die Katholiken müssen sich ab sofort rüsten. In Wien unterlagen die Anführer der Christlichsozialen und stattdessen gewannen etliche Kandidaten der jüdischen Freimaurerei und die authentischsten Vertreter der anti-religiösen Bewegung!“

Diese Analyse wurde im folgenden Artikel wieder aufgenommen, wobei sie sich wahrscheinlich auf Bewertungen bezog, die im Umfeld der „Reichspost“ kursierten88. Hier bezichtigte er alle, gelogen zu haben, die „gepredigt und lauthals wiederholt [hatten]: Die Religion hat nichts damit zu tun“, womit sie sagen wollten, dass der Kampf politisch und sozial war, obschon es sich um eine Grundsatzentscheidung handelte. Und damit war er zurück beim christlichsozialen Misserfolg in Wien, wo eine Allianz aus „den Kandidaten der Hochfinanz“ und den Sozialisten gewonnen hatte. Daraus zog er eine eindeutige Lehre: im Wesentlichen aber auf derselben Linie lagen. Im Bericht über den Kongress des „Volksbundes“ in Neumarkt, an dem auch Männer teilnahmen, die dem politischen Katholizismus nahestanden, äußerte sich der Direktor des „Trentino“ ironisch über „die Proteste der Redner, einschließlich Pfarrer Steck, gegen das italienfreundliche System, das derzeit die [tirolerische] Regierung beherrsche und gegen die Übermacht des Landeshauptmannstellvertreters Dr. Conci (?!), fast so, als hätten die Christlichsozialen nicht zusammen mit den deutschen Liberalen die Mehrheit!“; vgl. Il Congresso di Egna, in: Il Trentino, 16. Mai 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1273-1275. 86 Poche parole di commento, in: Il Trentino, 14. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1294-1295. 87 Le elezioni di ieri, in: Il Trentino, 21. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1295-1297. 88 Le supreme ragioni della lotta, in: Il Trentino, 24. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1301-1303.

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„Im Parlament sind die Vertreter des christlichen Denkens heute eine beachtliche Minderheit, und vorher waren sie auch nicht gerade eine Mehrheit gewesen. Im Gegensatz dazu nehmen die Verfechter der ‚freien Schule‘, der Ehescheidung, des Kulturkampfs zu. Was wir Katholiken daraus lernen sollten, ist völlig klar. Wehe, wir geben uns einer bequemen Illusion hin. Auch in unserem Land ist dieses Phänomen aufgetaucht. Klerus und Laienstand müssen sich einen Ruck geben und sie müssen dazu angehalten werden mit mehr Kontinuität und Bewusstheit zu arbeiten“.

Dazu kam der Erfolg der Sozialisten, der zeigte, dass man noch zu wenig für die politische Bildung des Volkes getan hatte, das leicht zur Beute jener Demagogie werden konnte. Und wieder verwies er auf die allgemeine Entwicklung: „Das Schicksal der Wiener Christlichsozialen und der slawischen Katholiken in Böhmen sollte uns eine Lehre sein“89. Das neue Parlament, in dem nach Lothar Höbelt90 längst eine „bürgerliche Sammlungspolitik“ gegen die Sozialdemokratie vorherrschte, hatte also die Christlichsozialen als tragende Achse verloren, aufgerieben durch die Wahlen nach dem Tod von Lueger91 und der Deutsche Nationalverband von Gustav Gross, der mit seinen 99 Parlamentariern nunmehr die stärkste Partei bildete, übernahm diese Rolle nur teilweise. Auch die Gruppe der Italiener war gewachsen, doch ihr Zusammenhalt war fraglich, setzte sie sich doch aus 10 Vertretern der Volkspartei, 6 Liberalen und 3 Sozialisten zusammen. Aufgrund der Wahlschlappe der Regierungspolitik hatte Bienerth seinen Platz für die Rückkehr von Gautsch geräumt, die aber nur von sehr kurzer Dauer sein sollte. In einem Parlament, in dem nationale Zugehörigkeit nach wie vor alles bestimmte, konnten die Trentiner popolari Erfolge verbuchen. Conci wurde unter die 6 Vizepräsidenten gewählt, von denen jeder eine Nationalität vertrat (er war als Einziger einstimmig gewählt worden, was sein Ansehen weiter festigte). Als jüngstem Abgeordneten fiel De Gasperi die Aufgabe zu, am 22. Juli 1911 die Vereidigung in italienischer Sprache vorzulesen, außerdem wurde er zum provisorischen Sekretär der Kammer ernannt92. 89 Il dito nella piaga, in: Il Trentino, 28. Juni 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1304-1306. 90 L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 985-987. 91 Zur Krise der Christlichsozialen bei den Wahlen von 1911 siehe J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S. 268-277. Wie der Autor bemerkt, wurde die Niederlage auch in diesem Fall dem Antiklerikalismus zugeschrieben. Dabei lag es in Wirklichkeit eher an der veränderten sozialen Situation sowie an einer gewissermaßen kulturellen Emanzipation, dass die traditionelle Rhetorik dieser Partei nicht mehr so griff wie früher, zudem besaß sie keine Persönlichkeiten von der demagogischen Wirkungskraft eines Lueger. 92 M. Guiotto, Un giovane leader politico, S. 134. Bei dieser Gelegenheit legte Battisti den Schwur ab, was De Gasperi dazu nutzte, in der Presse das boshafte Porträt des Revolutionärs (und – zwischen den Zeilen – des Irredentisten) zu zeichnen, der

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Von diesem Moment an überschlugen sich die Ereignisse. Auf Reichsebene beharrte der Kaiser – in seiner Thronrede – auf einem neuen Gesetz für das Militär, wodurch das Thema Militarismus und dessen beherrschende Rolle abermals in den Fokus gerieten (ein Thema, das nicht nur in Österreich höchste Dringlichkeit hatte). In Trient hielt die Krise der Stadtverwaltung an93: Am 30. August verabschiedete die Ratsversammlung einstimmig einen Tagesordnungspunkt, der eine Beschwerde gegen die Statthalterei von Innsbruck vorsah, die sich weigerte, die Autonomie Trients anzuerkennen. De Gasperi beteiligte sich allerdings nicht an dieser Beschwerde vor dem Ministerrat, den die Mehrheit gegen das Vorgehen der Statthalterei einreichte, denn das hätte die Arbeit des Gemeinderats erneut lahmgelegt. Der Kampf gegen die Provokationen der pangermanischen Vereinigungen setzte sich fort und verschärfte sich sogar noch. Auch Bischof Endrici war ins Feld gezogen: In einem Telegramm an den 14. Kongress der AUCT (am 1. September 1911 in Levico) forderte er die Studenten zur Verteidigung „des italienischen Wesens [auf], das durch die unerlaubten fremden Aufdringlichkeiten des Volksbundes in seinem religiösen und nationalen Frieden bedroht ist“. Das Telegramm sorgte für große Aufregung94 und für den Bischof, der schon länger im Verdacht des „Irredentismus“ stand, nahmen die Probleme mit dem deutschen Teil der Diözese und den Tiroler Behörden nur noch weiter zu. Als er am 21. November in Bozen zu Besuch kam, begrüßte ihn eine feindselig gestimmte Menschenmenge, die „Die Wacht am Rhein“, Andreas Hofers Tirollied und das Bismarcklied sang und „Es lebe der Volksbund!“ und „Nieder mit Italien!“ schrie95.

dem Monarchen Treue schwor. Battisti antwortete ihm in seiner Zeitung in gereiztem, scharfem Ton, wobei er hier auch über das „von Gasperi“ herzog, was an anderer Stelle bereits erwähnt wurde. 93 Im Juli war Bürgermeister Silli gestorben. De Gasperi widmete ihm den Nachruf „La morte di Giuseppe Silli“, in: Il Trentino, 22. Juli 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1036. „Ehrlich und selbstlos übertrug er diese Tugenden auf die Stadtverwaltung, doch besaß er weder die Genialität für Reformen noch Kriterien von Bestand für die Ökonomie. Er rief die Demokratie aus, doch gab er ihr keinen Inhalt“, und das Scheitern seines „radikalen Blocks“ hätte „unserem leichtsinnigen Radikalismus“ zu denken geben sollen. 94 De Gasperi verteidigte prompt seinen Bischof im Artikel „Losche manovre“, in: Il Trentino, 28. September 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1320-1322. Das war eine Gelegenheit, hervorzuheben, dass die Manöver der Alldeutschen ihren Ursprung „in München“ hatten und dass diese Aktionen ihre Befürworter im Tiroler Klerus fanden. 95 S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 321-322. Auch in diesem Fall erhob De Gasperi seine Stimme: Contro i fatti di Bolzano. Per la giustizia e la pace nazionale,

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Um Tripolitanien zu erobern, hatte Italien Ende September der Türkei den Krieg erklärt: Ein Schritt, der – obschon mit der österreichischen Diplomatie abgesprochen – in Cisleithanien eine Welle von Italien-Hass auslöste. Das fortdauernde Misstrauen General Conrads Italien gegenüber spielte dabei natürlich eine Rolle. Er überschüttete die Regierung mit Schreiben zu diesem Thema, so erst im August/September wieder, was ihn erneut mit Aehrenthal96 in Konflikt brachte. Gleichzeitig schien es, als sei sich Italien nicht ganz im Klaren darüber, was sein Angriff auf türkisches Territorium für eines der heikelsten Probleme der damaligen Zeit bedeutete – nämlich den Streit um die Meerengen und um die Tatsache, dass man der russischen Kriegsmarine den Zugang dazu verwehrte: ein Thema, auf das man in Berlin, aber auch in Wien, ganz besonders empfindlich reagierte97. Der italienisch-türkische Krieg fand in der italienischen Presse, die auch im Trentino weitläufig erhältlich war, natürlich ein großes Echo, und die anti-italienische Haltung der Deutsch-Österreicher reizte die ItalienischÖsterreicher dazu, Partei für ihre nationalen Brüder im „Königreich“ zu ergreifen. Das Thema erregte die Gemüter, sodass sich De Gasperi veranlasst fühlte, die deutsche Presse daran zu erinnern, dass Wien das Symbol des Kampfes des Westens gegen die Türken war und dass das, was man in den österreichischen Zeitungen zu lesen bekam, nun ziemlich lächerlich wirkte – „arme Türken, die wie Schafe auf die Schlachtbank unterhalb der Mauern von Tripolis geführt werden! Arme Frauen in der Wüste, deren Männer die Eindringlinge hinterrücks gemeuchelt haben. Arme edle Beduinen, denen die plündernden Feinde ihre Macht geraubt haben, ihr von den Ahnen ehrlich erworbenes Erbe!“98. Immerhin stabilisierte sich die Trentiner Gemeindeverwaltung durch die Wahl des Bürgermeisters am 16. Oktober 1911. Antonio Tambosi war ein moderater (und dem Anti-Klerikalismus fernstehender) Liberaler, dem auch De Gasperi seine Stimme gab. Bei dieser Wahl wurden harte Töne gegen die Regierung laut, und angesichts der erzielten Einstimmigkeit wurde deutlich,

in: Il Trentino, 24. November 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1334-1335. 96 G. Kronenbitter, „Krieg im Frieden“, S. 364-365; A. Skrivan, Schwierige Partner, S. 247-252. 97 Ebd., S. 240-247. 98 Commentarii de bello turco!, in: Il Trentino, 4. November 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1326-1328. Darüber hinaus sollte daran erinnert werden, dass der Vatikan die Begeisterung der katholischen Presse über den Libyenkrieg gar nicht gern sah. Zu den kritischen Reaktionen in der österreichischen Presse, sowohl der klerikalen als auch der sozialistischen, auf das Tripolis-Unternehmen siehe auch C. Magris, Der habsburgische Mythos, S. 252 Anm. 115.

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dass ein gewisses nationales Einvernehmen durchaus noch möglich war, wenn auch nur in besonderen Situationen. Ende Oktober geriet in Wien die Regierung Gautsch unter dem Druck verschiedener Probleme in eine neuerliche Krise: Die vom ungarischen Parlament blockierte Militärreform kam auch in Wien nicht voran; ein Nationalabkommen in Böhmen blieb in weiter Ferne; aber an erster Stelle war da die Unmöglichkeit mit dem neuen Parteiensystem zu regieren99: In der Sitzung vom 6. Oktober fielen im Lauf einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Tschechen und Deutschen sogar mehrere Pistolenschüsse100. Vor diesem Hintergrund hielt De Gasperi seinen Einzug ins Wiener Parlament. Seine, wie die Engländer sagen, maiden speech vom 13. Oktober 1911101 behandelte die Verteuerung der Lebensmittel, während er seine erste wirklich bedeutende Rede (die vielleicht bedeutendste überhaupt) am 25. Oktober zur Universitätsfrage hielt. Hier einige bezeichnende Ausschnitte: „Oder – nachdem man hier den Irredentismus hineingezogen hat –, daß dieses Her- Aus- und Umwandern der Studenten in Zusammengehörigkeitsgefühl zum österreichischen Staate verstärke? Man hat gesagt, die Fakultät wird der Heranbildung der irredentistischen Intelligenz dienen. Im Gegenteil, meine Herren, nicht die Fakultät, sondern die Fakultätsfrage schafft und verschärft die Verbitterung in unserer Jugend. Wenn man ihr Rechtsgefühl verletzt, wenn man sie in ihrem gerechten Verlangen abstößt, so sind da seitens des Staates zentrifugale Bewegungen und zentrifugale Bewegungen schaffen eben zentrifugale Erscheinungen. Will man aber damit vielleicht sagen, daß die Fakultät nur die Kadettenschule unserer Bourgeoisie sein wird, so liegt auch dieser Behauptung eine krasse Unkenntnis unserer Verhältnisse zugrunde. Gerade das

99 Siehe dazu die Korrespondenz von Conci aus Wien, die dieses Klima sehr gut veranschaulicht: Difficoltà della situazione, in: Il Trentino, 19. Oktober 1911. 100 Conci schildert diese Episode in seiner schon zitierten „Memoria autobiografica“ (S. 45) folgendermaßen: „Ich hatte mich gerade von meinem Platz als stellvertretender Hauptmann erhoben, als ein Revolverschuss fiel, und es stellte sich heraus, dass die Kugel genau den Stuhl traf, auf dem ich einen Moment zuvor noch gesessen hatte. Derjenige, der geschossen hatte, hatte es weder auf mich noch auf sonst jemanden aus dem Vorsitz abgesehen; seine wohlgemeinte Initiative galt dem Justizminister Dr. von Hochenburger und die Kugel war vom Weg abgekommen; ich war aber sehr froh darüber, mich nicht mehr an der Stelle befunden zu haben, an der die Kugel des Attentäters, wenn auch unbeabsichtigt, einschlug“. Einige Zeit darauf, am 24. Oktober, kam es zu weiteren Tumulten im Parlament, bei denen Tschechen und Deutsche aufeinander losgingen, was Conci ebenfalls in seinen Erinnerungen erzählt. 101 Zuvor hatte es bereits andere Anfragen zu weniger bedeutenden Problemen gegeben, in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1873-1879. Zur Rede vom 13. Oktober 1911 über die Verteuerung der Lebensmittel siehe ebd., S. 1879-1884.

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Gegenteil ist wahr. Die Söhne unserer Bourgeoisie besitzen auch jetzt die Mittel sich anderer Studien zu widmen, entweder in Rom, Florenz, Leipzig oder Berlin zu studieren. Die Fakultät dagegen soll auch den Bauernsöhnen die Möglichkeit bieten, billig und bequem in der eigenen Heimat zu studieren. Wer also gegen die Fakultät ist, ist nicht gegen die sogenannte Irredenta102, sondern sündigt an den Söhnen eines Volkes, welches nach dem bekannten Ausspruche unseres Kaisers selbst, was ja auch in der letzten Zeit in den „Innsbrucker Nachrichten“ stand, österreichischer gesinnt ist als man glauben konnte. Freilich, meine Herren, wir müssen uns über den Begriff des Irredentismus verstehen. Der allgemeine und geschichtlich begründete Irredentismusbegriff ist nichts anderes als ein Korrolarium des nationalistischen Prinzips, welches nur einheitlich nationalgebildete Staaten annimmt. Der Irredentismus aber, auf welchen Dr. Erler103 hingewiesen hat, ist das Gefühl der geistigen Kulturgemeinschaft mit unserer italienischen Nation, die Begeisterung für unsere Geschichte und für unser Volkstum. Ein solches Gefühl und ein solches Bewusstsein ist es, das uns die Kraft einflößt, uns unguibus et rostris zu wehren gegen jeden Versuch, unseren nationalen Besitzstand und unser Recht zur nationalen Entwicklung anzutasten. [Abgeordneter Malik104: Wenn wir so etwas machen, werden wir Hochverräter genannt!] Wir werden auch als Hochverräter bezeichnet. Hohes Haus! Gibt es unter den Völkern, die hier im Hause vertreten sind, auch nur eines, welches diese nationale Betätigung als im Konflikt mit den Staatsgrundgesetzen oder mit der politischen Gemeinschaft betrachtet? Ich warne Sie, die Bestrebungen der Italiener in Österreich durch die Innsbrucker Brille des Abgeordneten Erler zu beurteilen. (So ist es) Das ist die Brille einer kurzsichtigen Politik, welche den österreichischen Staatsgedanken für ihre Einseitigkeit konfisziert und ihn damit weit mehr kompromittiert als der vermeintliche Irredentismus. [Zustimmung] Der Abgeordnete von Innsbruck hat seine ablehnende Haltung auch dadurch zu begründen versucht, daß er behauptete, die Italiener seien nur ein kleiner Volkssplitter mit weit unter dem Durchschnitt stehender Kultur. Nun, von unserem allgemeinen Bildungsgrade will ich hier nicht reden und keine Vergleiche anstellen. Denn stehen wir wirklich, wie der Abgeordnete Erler meinte, unter dem Bildungsdurchschnitte unserer Brüder im Regno, dann hat Österreich noch mehr die Pflicht zu sorgen, daß die Zugehörigkeit zu seinem politischen Gebiete und für seine Bürger keine moralische Inferiorität bedeute; trifft aber die Behauptung des Abgeordneten Erler nicht zu, dann besitzen wir Kraft unserer Bildung das Recht auf eine höhere Bildungsstätte. [Beifall] Sie müssen aber mindestens nicht vergessen, daß der Übersetzer Goethes und Schillers ein Trientiner war und dass

102 Dieser italienische Ausdruck wurde zu einer stehenden Wendung in der österreichischen politischen Polemik. Man bezeichnete damit die Forderung des italienischen Nationalismus nach der Rückeroberung der italienischen Gebiete, die sich im Habsburgerreich befanden. 103 Es handelte sich um Eduard Erler, einen Tiroler Abgeordneten und zugleich stellvertretender Bürgermeister von Innsbruck, der als deutscher Nationalist entschieden gegen die italienische Universitätsfakultät war. 104 Rudolf Malik, tschechischer Abgeordneter aus Mähren.

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die tridentinischen und triestinischen Literaten in der Zeit der Romantik zwischen der italienischen und der deutschen Literatur vermittelt haben; daß zu unserem Volkssplitter Borsieri, Prati, Rosmini, Dal Pozzo, Barbacovi, Martini und viele andere bekannte Namen gehören und in der letzten Zeit der bekannte Philologe Ascoli und ein gewisser Giovanni Segantini, dessen Ruhm wohl auch über den Brenner gedrungen sein mag“105.

Wie man sieht, greift De Gasperi in dieser Rede die grundlegenden Aspekte der Verbindung zwischen „nationaler“ Politik und trentinismo wieder auf: nicht nur die Abgrenzung vom Irredentismus mit risorgimentaler und postrisorgimentaler Ausrichtung sondern auch die Klassenpolemik mit dem Bürgertum, den politischen Realismus beim Nutzen des Verhandlungsspielraums in einem Staat, in dem man sich eine in einem weit gefassten Sinne föderative Entwicklung erhoffte (das sollte sich als Illusion erweisen, was man aber noch nicht wissen konnte). Darüber hinaus nahm er deutlich Bezug auf die Sonderstellung des Trentino als „Brücke“ zwischen der deutschen (man beachte den Hinweis auf Goethe und Schiller, die sicherlich keine „österreichischen“ Autoren waren) und der italienischer Welt (eine Definition, derer man sich zur Schaffung einer Trentiner Identität auch nach 1918 weidlich bedienen sollte). De Gasperis Rhetorik ist zweifellos geschliffen und – typisch für eine echte politische Rhetorik – ganz davon beherrscht, immer genau die Saiten anzuschlagen, mit denen man die Hörerschaft am besten erreicht (anstatt abstrakter Prinzipienreiterei). Auf diesen Aspekt werden wir in den Schlussfolgerungen noch einmal zurückkommen, aber er ist von vielen Historikern kaum verstanden worden, da sie die Maßstäbe nicht berücksichtigen, die der politischen Aktivität zugrunde liegen, und deshalb moralisierende und irreleitende Urteile gefällt haben. Im Herbst 1911 hatte sich die Lage in Wien weiter verkompliziert. Nach dem Fall der Regierung Gautsch hatte der Kaiser am 3. November 1911 Graf Stürgkh zum Ministerpräsidenten ernannt. Dieser stellte wieder eine Beamtenregierung zusammen, deren Minister aus der Verwaltung kamen. Diesen ausgesprochen konservativen und wenig parlamentarisch eingestellten Ministerrat106 präsentierte man als eine Konzentrationsregierung, die einerseits die Nationalitätenfrage zu einem Randproblem machen wollte, andererseits aber die Politik der bilateralen Verhandlungen mit jeder Gruppe fortsetzte, und in jeder Gruppe einen Brückenkopf zu errichten suchte. Diese Politik ähnelte in gewisser Weise der berühmten Politik der Diagonale, die von 105 Die vollständige Fassung der Rede findet sich in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1896-1897 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 106 Zu diesem Thema siehe die synthetischen und wie immer sehr scharfsinnigen Überlegungen von A. Ara, Crisi e declino della monarchia asburgica, in: P. Prodi / A. Wandruszka (Hrsg.), Il luogo di cura nel tramonto della monarchia d’Asburgo, S. 334-336; siehe auch L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 992-993.

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seinem Amtskollegen in Deutschland, Theobald Bethmann-Hollweg, praktiziert wurde. Dieser vertrat die Auffassung, dass die Regierung ihre politische Linie an der Diagonale zu definieren habe, die sich aus dem Zusammentreffen der verschiedenen parlamentarischen Kräfte ergibt. Anfänglich gingen die Italiener zu dieser Regierung in Opposition, auch wenn ihre eigene Lage angesichts des zunehmend radikalen deutschen (und Tiroler) Nationalismus alles andere als einfach war. Auch die Debatten zur Universitätsfrage setzten sich mit dem üblichen Auf und Ab fort107. Der Druck des deutschen Nationalismus wurde freilich immer stärker und auf einer Sitzung Mitte November hatte der nationalistische Abgeordnete Pollauf gar – mit der Zustimmung vieler deutscher Abgeordneter – behauptet, man solle an die „Wiederherstellung des Zustandes vor 1866“ denken (worauf De Gasperi ihm von den Rängen zurief: „Versucht’s nur!“)108. Ebenfalls beispielhaft für dieses Klima war die Polemik, die sich um eine Spendensammlung entzündet hatte, zu der man im Trentino für die in Libyen gefallenen Italiener aufgerufen hatte. Dieses Klima war so weit verbreitet109, dass sich De Gasperi, der an dieser Initiative gar nicht beteiligt war, gezwungen sah, auf die Angriffe zu reagieren und eine deutliche Klarstellung an die „Reichspost“ seines Freundes Funder schickte, der sich dem herrschenden Klima angepasst hatte110. De Gasperi wies den Vorwurf zurück, dass die Aktion als „Hochverrat“ zu interpretieren sei (wie es die christlichsoziale Zeitung getan hatte). Vielmehr bezeichnete er den Ton eines Großteils der deutsch-österreichischen Presse als „unverantwortlich“: „Voller Sarkasmus und giftiger Angriffe gegen 107 Am 25. Oktober hatte Cesare Battisti dazu Stellung bezogen, wobei er nicht nur die üblichen Begründungen für Triest als Standort anführte, sondern auch forderte, dass die in Italien erlangten akademischen Abschlüsse anerkannt werden sollten, solange es keine Fakultät in italienischer Sprache innerhalb der Grenzen des Habsburgerreichs gäbe. Seine Position rief die gewohnte Reaktion unter den nationalistischen deutschen Abgeordneten hervor, gegen die „Il Trentino“ umgehend Stellung bezog; vgl. Tripoli e la Facoltà italiana, 25. Oktober 1911; La discussione sulla facoltà giuridica italiana, i discorsi degli onorevoli Degasperi e Gentili, 26 Oktober 1911 (Texte, die in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, nicht enthalten sind). 108 Diese Episode schildert auch De Gasperi in „Mentre si canta“, in: Il Trentino, 15. November 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 13281331. 109 De Gasperi äußerte sich dazu in seinem Artikel „La guerra e la stampa tedesca in Austria“, in: Il Trentino, 1. Dezember 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1340-1343. 110 Der Text wurde ohne besondere Hervorhebung und nur mit „Wir erhalten folgendes Schreiben“ vorgestellt und unter dem Titel „Die Kriege und die österreichischen Italiener“ in der Ausgabe vom 10. November 1911 veröffentlicht, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1871-1872.

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alles, was italienisch ist, sodass jeder Italiener, egal wo er lebt, sich offen abgestoßen fühlen muss“. In der Zwischenzeit nahm der Gedanke an die Möglichkeit eines Krieges innerhalb der habsburgischen Führungskreise immer mehr Raum ein, auch wenn sich General Conrad Ende 1911 gezwungen sah, als Oberster Heeresführer abzudanken, was als Schwächung des Belvederekreises angesehen wurde. Im Jahr 1912 wurde endlich das Gesetz über die Anhebung der Militärausgaben verabschiedet, was sowohl das Heer als auch die Landwehren betraf. Die öffentliche Meinung Österreichs befand sich in einem permanenten Erregungszustand, wobei sie zwischen zwei Extremen hin- und herschwankte: Ein Beleg dafür ist die Haltung des Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal, der in dem Text „Antwort auf die ‚Neunte Canzone‘ Gabriele D’Annunzios“ die kriegerische Prosa des Italieners kritisiert, dann aber prompt umschwenkt und die kriegstreibende und nationalistische Politik Österreichs unterstützt111. De Gasperi fiel es nicht schwer, die Veränderungen wahrzunehmen. Am 17. Februar starb in Wien Minister von Aehrenthal. Mit ihm ging eine Epoche der verantwortungsbewussten Diplomatie zu Ende. In einer Hommage an den Verstorbenen schrieb der junge Trentiner Parlamentarier, nachdem er an Aehrenthals freundschaftliche Haltung gegenüber Italien erinnert hatte, dass „für ihn der ständige Kampf gegen die öffentliche Meinung, die es davon zu überzeugen galt, dass Italien und Österreich in Freundschaft verbunden sein sollten, dass gute Beziehungen in beiderseitigem Interesse wären, vielleicht beschwerlicher gewesen war, als für die italienische Diplomatie“112. Da er, im Herbst 1911 zusammen mit Otto von Guggenberg113 zum Vertreter Tirols in den „Delegationen“114 gewählt worden war, musste sich De Gasperi nun auch sehr viel direkter mit Außen- und Verteidigungspolitik befassen (am 5. DeVgl. C. Magris, Der habsburgische Mythos, S. 276-278. La morte del ministro degli esteri, in: Il Trentino, 19. Februar 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1381-1382. 113 De Gasperi war auch Mitglied der Reichstagskommission für die Industrie und die Presse (er war am 13. Oktober 1911 in die Kommission gewählt worden und blieb dort bis zum 27. Juni 1912). 114 Im Habsburger Verfassungssystem gab es aufgrund der dualistischen Ausrichtung (infolge des Ausgleichs von 1867) zwei voneinander getrennte Parlamente für die beiden Reichsteile (wie bereits gesehen, war das Wiener Parlament nur für Cisleithanien zuständig). Da aber die Außen- und die Verteidigungspolitik, wie auch ein Teil der Finanzpolitik, für beide Teile galten und demnach parlamentarisch gemeinsam ratifiziert werden mussten, gab es eine eigens dafür eingerichtete Institution (Delegation), die sich aus „delegierten“ Vertretern der beiden Parlamente zusammensetzte. Entsprechend trat man von Fall zu Fall zusammen, entweder im Reichsrat in Wien oder im Sitz des Parlaments in Budapest (wie in der Session von 1912); vgl. E. Aomagyi, Die Delegation als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien, in: Die Habsburger Monarchie, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, S. 1107-1176. 111 112

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zember 1912 sollte er zum Mitglied der außenpolitischen Kommission der Delegationen ernannt werden). Seine erste bedeutende Stellungnahme zur Außenpolitik ist ein Artikel vom 12. Oktober 1912, in dem er über die Arbeit der Delegationen Rechenschaft ablegt115. Schon bei dieser Gelegenheit kommen dem jungen Parlamentarier Zweifel, ob eine Stabilisierung der europäischen Situation noch möglich ist. Vom neuen Außenminister Graf Berchtold – „stets sehr höflich, zunehmend geheimnisvoll“116 – war nichts zu erfahren, „so ist man zu dem Schluss gekommen, dass hinter dem Lächeln dieses sicherlich geschickten Mannes nicht viel steckt, genauso wenig wie hinter dem sogenannten europäischen Konzert“. Die Weltlage befand sich mitten im Wandel und der Erste Balkankrieg, der gerade ausgebrochen war, offenbarte die Veränderung des politischen Klimas. „Nun schlägt auch die Stunde des Balkans, wo das Prinzip der nationalen Unabhängigkeit hochkommt und die Politik der Kanzleien durcheinanderbringt, wie es einst mit der italischen Halbinsel geschehen ist, und diese Erhebung ist so heftig, so gewalttätig, dass sie auch die Freunde derer mit sich zieht, die sich aus guter Gewohnheit auf die alten Formeln des status quo und des Gleichgewichts versteift hatten, Erfindungen des Egoismus und der europäischen Eifersüchteleien“.

Mit für den damaligen Zeitpunkt bemerkenswerter Scharfsichtigkeit erfasste De Gasperi auch, dass die Situation die Doppelmonarchie in eine Krise trieb, denn „die Kriege und die Aufrüstungen haben den Staat in einer ungünstigen Viertelstunde erwischt“117: Da war nicht nur die Finanzschwäche, die sich zuspitzen sollte, unter dem Druck der imperialistischen Interessen sollte es auch unmöglich werden, die notwendigen innenpolitischen Reformen ernsthaft in Angriff zu nehmen. Es lief darauf hinaus, dass die Militärpolitik zur Priorität wurde. So nahm De Gasperi anlässlich einer Sitzung der Delegationen in Budapest im November 1912 mit den anderen Parlamentariern an einer Vorführung der neuen Feuerkraft von Schnellfeuergewehren, Artillerie, Bomben und chemischen Waffen teil. „Drei Stunden lang wurden einem Bezeichnungen wie Ekrasit und Trotyl ganz vertraut, drei Stunden lang wurden die neuen Geräte erklärt, die neuen Verfeinerungen der Kunst, sehr viele Menschen auf einen L’entusiasmo Balcanico, in: Il Trentino, 12. Oktober 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1481-1484. 116 Das Urteil über Graf Leopold Berchtold, der eine bedeutende Rolle in der Diplomatie in der ersten Phase des Ersten Weltkriegs spielen sollte, fiel nicht gerade positiv aus, weder vonseiten der Zeitgenossen (die in ihm vor allem einen „Dilettanten“ sahen, obschon er auf eine beachtliche Karriere zurückblicken konnte und von Aehrenthal persönlich als dessen Nachfolger empfohlen worden war) noch vonseiten der Geschichtsschreibung; vgl. A. Skrivan, Schwierige Partner, S. 255-259. 117 Preludi parlamentari, in: Il Trentino, 18. Oktober 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1484-1485. 115

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Schlag zu töten“118. Man versteht, weshalb es dem Trentiner Parlamentarier weniger leichtfiel als anderen, einen neuen Krieg in Betracht zu ziehen, sodass er schon damals mit dem Satz abschloss: „Nein, der moderne Krieg ist zu widerwärtig, um ihn zu führen, wenn es gar nicht notwendig ist“. Bei jenem Anlass hatte er – wie er seiner Zeitung am 19. November telegrafieren sollte – Gelegenheit gehabt, ein paar Worte mit dem Kaiser zu wechseln (dessen Gesundheitszustand sich immer weiter verschlechterte) und ihm erneut die Universitätsfrage anzutragen. „Gestern Abend gab der Kaiser ein Abendessen für die Delegierten, im Anschluss daran saß man zusammen; … Der Kaiser richtete dabei folgende Worte an den Parlamentarier Degasperi: ‚Sie sind zum zweiten Mal hier. Sie kommen aus der Nähe von Trient‘. Degasperi: ‚Ja, Majestät‘. Kaiser: ‚Was geschieht mit der Trentiner Bevölkerung?‘ Degasperi: ‚Wenn die Universitätsfrage ordentliche Fortschritte machen würde, glaube ich, dass diese Tatsache unter den aktuellen Umständen ein sehr gutes Licht auf die Außenpolitik werfen würde, vor allem auf die guten Beziehungen zu Italien‘. Kaiser: ‚Davon bin ich überzeugt, doch das Parlament arbeitet nicht; und es ist Aufgabe des Parlaments, dieses Problem endgültig zu lösen‘“119.

Der Tiroler Historiker Richard Schober hat aufgrund dieser Episode (und anderen, aber dazu mehr in den Schlussfolgerungen) die These aufgestellt, dass die „Grundlage seines Denkens und seines politischen Handelns dennoch stets die absolute Treue gegenüber dem Kaiser und dem Reich gewesen ist“120. Uns scheint das nicht absolut zutreffend, und in diesem Fall sind wir sogar ziemlich sicher, dass dem nicht so war. De Gasperi hatte diese Zufallsbegegnung genutzt, um ein Problem anzusprechen und hatte vom Kaiser eine ausgesprochen vage und ausweichende Antwort erhalten: Möglicherweise spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass es genau zu jenem Zeitpunkt eine kurzzeitige Entspannung in den diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Rom gegeben hatte. Auch das war De Gasperi nicht entgangen. Schon einen Monat zuvor hatte er voller Genugtuung festgestellt, dass sich nach Beendigung des italienisch-türkischen Krieges (am 18. Oktober 1912) nicht nur die Beziehungen zwischen Wien und Rom wieder verbessert hatten, vielmehr hatte das auch die „Reichspost“ bemerkt, die einen anderen Ton angeschlagen hatte, auch wenn die deutsche und vor allem die tirolerische Presse nach wie vor deutlich anti-italienisch eingestellt waren121. 118 Lettera danubiana, in: Il Trentino, 16. November 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1493-1496. 119 Diese Passage zitiert auch R. Schober, Alcide De Gasperi al parlamento di Vienna, in: A. Canavero / A. Moioli (Hrsg.), De Gasperi e il Trentino, S. 767. 120 Ebd., S. 677. 121 In memoria, in: Il Trentino, 22. Oktober 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1486-1487.

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Das Augenmerk auf die internationale Politik hatte den Direktor der katholischen Tageszeitung außerdem keineswegs vom Kampf in seiner Stadt ablenken können. Zu Jahresbeginn herrschte in Trient Aufbruchsstimmung – es gab zwar jede Menge Schwierigkeiten, aber immerhin begann man mit der Ausarbeitung des neuen Wahlrechts für die Kommunalwahlen. Am 29. Januar 1912 wurde dafür eine Kommission mit 4 Liberalen aus der Mehrheit, 2 Vertretern der Volkspartei und 1 Sozialisten aus der Opposition ernannt. De Gasperi war mit von der Partie122 und er setzte sich für seine Vorstellung vom Verhältniswahlrecht sowie für die Erststimme für steuerzahlende Frauen ein123. In Tirol hatte sich die Polarisierung der Positionen – wenn überhaupt möglich – noch weiter zugespitzt. Spiegelfeld schrieb am 8. Februar 1912 nach Wien, dass die radikalsten Positionen der beiden Antagonisten das Klima derart beherrschten, dass die Arbeit im Landtag praktisch unmöglich geworden war124. Der Kampf gegen den Volksbund und die „Südmark“ wurde nach wie vor mit Nachdruck geführt und der Direktor des „Trentino“ ließ keine Gelegenheit aus, das zu betonen. In Bozen war eine kleine Schrift erschienen, „Die Irredenta“125, mit den üblichen Angriffen, wie etwa dem Vorwurf, es mangele den Trentinern an Loyalität gegenüber dem Habsburgerreich. Da hinter diesen Anklagen ein Teil des Klerus und des Tiroler Katholizismus stand (und nicht notwendigerweise nur die konservativen Vertreter), verwundert es nicht, dass eine tirolerische Tageszeitung den Trentiner Katholiken auf ihrem Kongress im August 1912 vorwarf, keine Stellung gegen den Irredentismus bezogen zu haben. De Gasperi erwiderte mit eiserner Miene, die „tirolerische Kurzsichtigkeit“ sei behandlungsbedürftig: „Zuerst müsst ihr den Trentinern das Recht auf eine eigene nationale Entwicklung zugestehen, die vom Staat garantiert und geschützt wird; das Recht, im öffentlichen Leben all jene Autonomien erringen zu können, die zu dieser Entwicklung notwendig sind, sowohl im Hinblick auf den historischen Kontext Tirols als auch angesichts des staatlichen Zentralismus. Zweitens müsst ihr die Aktivitäten des Volksbunds in unserem Land verurteilen und dagegen vorgehen, denn sie gefährden unser nationales Leben“126. 122 Und er sagte „dem Bürgermeister, dass er der Kommission gern beitreten würde, sowohl wegen seiner anerkannten Kompetenz in Wahlangelegenheiten als auch wegen seiner Vermittlerrolle zwischen den verschiedenen Parteien“; vgl. A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1808. 123 Der Kommissionsbericht wurde am 22. August 1912 vorgelegt, und in ihm wurde De Gasperis bedeutende Rolle innerhalb der Kommission anerkannt. 124 R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtags, S. 227. 125 Die Irredenta. Von einem Tiroler, Bozen 1911. 126 Risposta chiara, in: Il Trentino, 2. Oktober 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1476-1479.

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Die Kritik des Trentiner Parlamentariers, die von der Feststellung einer Verbesserung der Beziehung zwischen Österreich und Italien ausging und somit von einer wünschenswerten Wiederaufnahme des Dreibunds127, wandte sich – wie immer – gegen die Aktionen der Alldeutschen. Doch De Gasperi versuchte auch, ganz nach seinem Verständnis von „positiver Politik“, diese Verbesserung zu nutzen, um in dieser heißen – und damit dynamischen – Krisenphase innerhalb der habsburgischen Politik mehr Verhandlungsspielraum zu gewinnen. In der Rede, die er am 8. Oktober 1912 vor den Delegationen hielt128, kam der junge Politiker auf die Problempunkte zurück: die nationalistische Unterdrückung des Trentino durch die Deutschen (wobei er diejenigen Tiroler wie Karl von Grabmayr lobte, die gegen die Sinnlosigkeit und die Gefahren dieser Art von Politik protestiert hatten), die Psychose von Behörden und „Zeitungsartikeln, Broschüren und Pamphleten“, nach denen „der ganze Landesteil … irredentistisch angeseucht [sei]. In den höheren Ständen sei keine Klasse von der Fäulnis frei, weder Priester noch Lehrer, noch Beamter“. Ein weiteres Mal warnte De Gasperi vor den politischen Übergriffen des Volksbunds, durch die sich „diese kaisertreuen Bergbewohner“ gezwungen sahen, „ihr Nationalgefühl mit dem staatlichen Zusammengehörigkeitsgefühl in ihrer Psyche zur Diskussion kommen zu lassen“, da „jede berechtigte Nationalbewegung als staatsgefährlich hingestellt“ werde. De Gasperi schloss seine Rede: „Von demselben Standpunkt, meine Herren, von dem wohlverstandenen österreichischen Standpunkt nec plus nec minus wünschen wir, dass unsere Lage mit vorurteilslosem und weitem Blicke beurteilt werde, als diejenige eines Volkes, das enge Kulturbeziehungen zu dem Nationalleben seines Stammes unterhält und unterhalten darf, gleichzeitig aber in einer Felsenburg wohnt, welche aus militärischen und handelsgeographischen Gründen als zum unveränderlichen Besitz der Monarchie gehörend betrachtet wird“.

Diese Formulierung ist sehr gut gewählt und beschreibt treffend den Versuch, der Situation des Trentino Rechnung zu tragen und ihm im Hinblick auf die zu erwartende Entwicklung des Habsburger Systems in föderalistischem Sinn, eine Sonderstellung zu sichern. Dieser Standpunkt sollte dann als „austriacante“ kritisiert werden; aber man muss bedenken, dass 1912 die Möglichkeit, dass das Trentino an Italien abgetreten würde, noch eine äußerst vage Vorstellung war (dazu im damaligen Klima eine höchst unwahrschein-

127 Zu dieser Phase, die das gegenseitige Misstrauen allerdings nicht auflösen sollte, und zu den daraus resultierenden Entwicklungen vgl. H. Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien / Köln 2002, S. 595-720. 128 A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1911-1914 (Originalzitat deutsch von De Gasperi).

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liche: Wir werden noch sehen, was 1915 geschehen sollte). Wollte man sein Ziel erreichen, musste man sich eben an die jeweiligen Spielregeln halten. Weiterhin gilt es zu bedenken, dass die Kirche im Allgemeinen und Bischof Endrici im Besonderen zur Zielscheibe des wachsenden Misstrauens vonseiten der Habsburger Behörden, die eine anti-italienische Hysterie129 erfasst hatte, geworden waren. Dem nationalistischen Radikalismus der „risorgimentalen“ Trentiner gingen De Gasperis Worte längst nicht weit genug. Doch er war nach wie vor gegen das, was er – im Zusammenhang mit dem Scheitern der berühmten Losung „Triest oder nichts!“ – als nullismo bezeichnete130. Er erhielt nur wenig Zustimmung, unter anderem von Vittorio De Riccabona, dem ehemaligen Vordenker des moderaten Liberalismus im Trentino: In der Zeitschrift „Pro Cultura“ trat De Riccabona für „Il Trentino“ als Botschafter der nationalen Identität ein und ebenso für die positive Politik der Volkspartei131. 1912 war auch ein entscheidendes Jahr im Kampf um die Fleimstalbahn gewesen, in dem sich De Gasperi fast aufgerieben hatte. Die Angelegenheit war sehr komplex – und sie war Teil des „wirtschaftlichen Wiedererwachens“ des Trentino. Dieses risorgimento hatte etwa Mitte der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts eingesetzt – dank der entschlossenen Initiative des Bürgermeisters von Trient, Oss Mazzurana, der in der öffentlichen Verschuldung einen Weg gefunden hatte, Investitionen und Kapital zugunsten des Wachstums der Region zu mobilisieren132. Das Projekt einer Eisenbahnlinie, die das wirtschaftlich interessante Fleimstal mit Trient verbinden sollte, war in aller Munde. Aus denselben Gründen hatte allerdings auch Bozen Interesse an einer Eisenbahnlinie. Tatsächlich hatte es schon 1894 ein Abkommen zwischen den beiden Städten gegeben (das 1908 erneuert wurde), das eine salomonische Lösung vorsah: Die Eisenbahnlinie sollte Trient mit dem Tal verbinden, wobei in Cavalese eine Abzweigung vorgesehen war, die über Neumarkt auch bis nach Bozen führen sollte. Was die Sache aber noch komplizierter machte, war die Tatsache dass Innsbruck als Landeshauptstadt die Entwicklung des italienischen Teils boykottieren wollte und dabei bei einem 129 Vgl. S. Benvenuti, La chiesa trentina e la questione nazionale, 1870-1914, in: A. Ara / E. Kolb (Hrsg.), Grenzregionen im Zeitalter des Nationalismus, S. 169-175. 130 Zu seiner Verteidigung dieser Politik siehe: Leggende, in: Il Trentino, 30. Juli 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1457-1459. 131 Zitiert nach: M. Garbari, De Gasperi e il liberalismo, S. 472 Anm. 132 Vgl. A. Leonardi, Depressione e „risorgimento economico“ del Trentino; zum speziellen Thema des Baus der lokalen Eisenbahnlinien im Trentino, einige verwirklicht (die Linie Trient-Malè wurde 1909 eingeweiht), andere geplant und nie realisiert (wie die bereits erwähnte Linie Trient-Tione-Riva del Garda) siehe M. Forni / P. Corrà, Le Ferrovie del Trentino, Trient 2003. Eine knappe, aber treffende Darstellung der Problematik findet sich bei M. Bigaran, Introduzione, S. 1762-1764.

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nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung im Fleimstal auf Zustimmung stieß, der eher auf Bozen als dessen traditionellem Handelsplatz ausgerichtet war. De Gasperi war auf zweierlei Weise in die Angelegenheit involviert: sowohl als Mitglied des Gemeinderats von Trient als auch als Abgeordneter, der mit den Stimmen aus dem Wahlkreis, zu dem das Fleimstal gehörte, gewählt worden war. Er setzte sich uneingeschränkt für die so komplizierte Angelegenheit ein (auf deren technische Details hier nicht eingegangen werden kann), deren wirtschaftliche wie auch symbolische Bedeutung ihm überaus bewusst war. Das wusste auch der Bürgermeister von Trient, Antonio Tambosi, der für die Kompromisslösung eintrat, denn – wie er am 5. Juli 1912 bei einem Treffen mit dem Eisenbahnminister in Wien (bei dem auch De Gasperi zugegen war) sagte – „auf diese Weise könne die italienische und die deutsche Bevölkerung in dieser Provinz versöhnt werden“133. Die provisorische Lösung, zu der man (erst gegen Ende des Jahres 1913) gelangen sollte, war ein Kompromiss gewesen134, womit der Abgeordnete zufrieden war, und er schrieb Conci, dem er namentlich für seinen Einsatz gedankt hatte: „Sollen sie reden und schreien so viel sie wollen, wir handeln im Interesse unseres Volkes und unseres Landes“. Wie hart der Kampf tatsächlich gewesen war, bezeugt der Schluss des Briefes: „Nehmen Sie vorerst die Empfehlungen des Unterzeichnenden entgegen, der auch verspricht, sich beim Bocciaspiel schadlos zu halten, doch nur unter der Bedingung, das Gemüt vom Albtraum Eisenbahn befreit zu haben“135. De Gasperi hatte inzwischen gelernt, was es hieß, Politik als Beruf zu betreiben, und das in einem Kontext wie dem habsburgischen – mit einer Kammer, die sich in ständigem Aufruhr befand, und einem bürokratischen System, das kontinuierliche Lobbyarbeit erforderlich machte. Noch klarer wurde ihm das, als Anfang 1914 der Landtag von Innsbruck die „italienische“ Eisenbahn trotzdem blockierte und nur der deutschen Linie zustimmte. Sogleich nutzten die Liberalen die Angelegenheit, um die Trentiner Volkspartei anzugreifen (in erster Linie Conci und De Gasperi), die die eigentlichen Akteure der Dreiecksverhandlungen zwischen Wien, Trient-Fleimstal und Innsbruck gewesen waren, nun aber geschlagen dastanden und leicht als Judasse verteufelt werden konnte, die eine nationale Einbindung des italienischen Trentino verspielt hatten136. Zitiert ebd., S. 1764. De Gasperi selbst analysiert die erste Phase der gesamten Angelegenheit in seinem Artikel „La crisi luogotenenziale e la questione di Fiemme“, in: Il Trentino, 31. März 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1547-1551. 135 MSTF, Nachlass Conci, Corrispondenza, undatierter Brief, wahrscheinlich Ende 1913 oder Anfang 1914 geschrieben. 136 Eine „Selbstverteidigung“ war auch der Artikel von De Gasperi „Il contegno dell’on. De Gasperi e dei liberali nell’ultima fase“, in dem er auf die Anwürfe der 133 134

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Gegen diese Vorwürfe, die eine aggressive Pressekampagne auslösten, verteidigte sich De Gasperi auch in der Gemeinderatssitzung vom 18. Februar 1914. Der junge Abgeordnete hatte begriffen, dass sich die öffentliche Meinung im Wandel befand und sich zunehmend radikalisierte, was weitreichende Folgen haben sollte. Das betraf nicht zuletzt die stetig sinkende Akzeptanz der „Habsburger Einbindung“, was allerdings nicht öffentlich ausgesprochen werden durfte137. Wie „prosaisch“ die parlamentarische Arbeit freilich sein konnte hatte De Gasperi längst in Erfahrung gebracht, und so gab er sich keinerlei Illusionen hin. Er schrieb aus Wien: Den Parlamentariern „bleibt in diesen sumpfigen Wochen nichts anderes übrig, als sich in den eigenen Klub und in die Kommissionen zurückzuziehen und immer wieder zu versuchen, mit ihrem individuellen Handeln jene Ergebnisse zu erzielen, die die parlamentarische Kollektivität nicht voranzutreiben imstande ist. Oder ihr könnt ihnen morgens und abends auf den Treppen der Ministerien auf der Suche nach Ministerialrat X, Hofrat Y, Sektionschef Z begegnen um an irgendeine Akte zu erinnern oder um aus ihrer Nekropole aus Staub diejenigen Sentenzen oder jene Reden wieder zum Leben zu erwecken. So werden die Abgeordneten zu Schmierern der Maschinerie. Wenn sie sich trotz dieses parlamentarischen Öls so langsam, so schwerfällig bewegt, was würde geschehen, überließe man sie ganz dem rostigen Getriebe der Bürokratie?“138.

Die vielen Anfragen, „Fürsprachen“ und Mahnbriefe, die in seinem persönlichen Archiv überlebt haben, belegen, dass der junge Parlamentarier aus dem Trentino sich seinen Pflichten nicht entzog. Die große Politik klopfte wirklich an die Tür. Wie bereits erwähnt, hatte der neue Außenminister Berchtold im September 1912 vor den Delegationen von der „turbulenten“ Situation auf dem Balkan gesprochen. Und tatsächlich Liberalen und der Sozialisten (Cesare Battisti) reagierte, die diese auf einer Kundgebung am 8. Mai 1913 gegen ihn erhoben hatten, in: Il Trentino, 10. Mai 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1551-1562. 137 De Gasperi hatte geschrieben: „Ihr, die ihr den Vertretern aus Cembra und dem Fleimstals und der Volkspartei – die aber, ob ihr es wollt oder nicht, die Mehrheit des Landes darstellen – mit Hassparolen begegnet, tretet auf diese Weise nicht für die Interessen Trients ein, sondern für die eurer Partei. Wobei ihr auf die Leichtgläubigkeit der Massen spekuliert, die nicht wissen, wie die Dinge wirklich stehen, die aber leicht der Radikalität der Worte folgen. Ihnen gegenüber hätten wir die noble Geste des Rückzugs an den Tag legen und im Nichts verschwinden können. Da hätten wir leicht den Applaus auf unserer Seite gehabt, doch die Verantwortung für die grundsätzlichen Anliegen des Landes hat uns davon abgehalten“; vgl. Protokoll der Gemeinderatsitzung von Trient, 18. Februar 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1827. 138 La palude (elegia di un esiliato), in: Il Trentino, 21. März 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1411-1413.

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brach am 10. Oktober der Erste Balkankrieg aus139. Obschon De Gasperi von Anfang an den Eindruck hatte, Österreich sei nicht in der Lage, eine große imperialistische Politik zu betreiben („seit vier Jahren schleppt man sich mit einer äußerst mageren Bilanz mühsam dahin und mit einem nur scheinbaren Ausgleich, da wird man in den nächsten Tagen einen neuen Kredit aufnehmen müssen, was die schon weitgehend ausgereizte finanzielle Lage des öffentlichen Fiskus zusätzlich belasten wird“)140, war ihm bewusst, dass die Beweggründe der Politik, zumindest wie sie in verschiedenen Kreisen wahrgenommen wurden, zu großem Unheil führen konnten. An Vorzeichen fehlte es nicht: Auch wenn De Gasperi nichts vom berühmten Kriegsrat in Potsdam wissen konnte, bei dem Kaiser Wilhelm II. und die deutschen Militärspitzen den Beschluss gefasst hatten, die Vorbereitungen für einen Krieg aufzunehmen (am 8. Dezember 1912), war ihm sicherlich nicht entgangen, dass Conrad von Hötzendorf erneut das Amt des Generalstabschefs des Heeres bekleidete (seit dem 12. Dezember). In diesem Klima war die nüchterne automatische Erneuerung des Dreibunds (am 5. Dezember) praktisch bedeutungslos. Bereits Anfang des neuen Jahres schilderte der Direktor des „Trentino“ aus Wien die ganze Dramatik einer Situation, die auf eine allgemeine Aufrüstung hinauslief und durch die die Doppelmonarchie immer tiefer in den Sog einer gefährlichen Einbindung in die Spannungen auf dem Balkan geriet141. Als Beleg dafür, wie bewusst sich der junge De Gasperi der Bedeutung dieser historischen Wende war, sei einer seiner Artikel im „Trentino“ zitiert. Darin nimmt er Bezug auf eine Debatte, die die Anhebung des Wehrdienstes auf drei Jahre (eines der Anzeichen für die europäischen Kriegsvorbereitungen) in Frankreich ausgelöst hatte142. „Wir hatten eine lange Phase des Friedens und des zivilen Aufbaus. Fast fünfzig Jahre lang schien sich jede nationale Anstrengung auf die Entwicklung und Verbesserung des sozialen Lebens zu konzentrieren. Man sprach von nichts anderem als von der proportionalen Interessenvertretung, vom Schutz der schwächeren 139 Zu dieser komplexen Situation, die hier nicht auf einige wenige Sätze reduziert werden kann, siehe K. Böckh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg: Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan, München 1998; R.C. Hall, The Balkan Wars. Prelude to the First World War, London 2000. 140 I preludi della guerra balcanica, in: Il Trentino, 5. Oktober 1912, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1479-1481. 141 L’ora è grave. Nuovo punto critico, in: Il Trentino, 4. Januar 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1511-1512. Zur Aufrüstungspolitik der damaligen Zeit siehe D. Stevenson, Armaments and the Coming of War: Europe: 1904-1914, Oxford 1996; M. Reinschedl, Die Aufrüstung der Habsburgermonarchie von 1880 bis 1914 im internationalen Vergleich: der Anteil Österreich-Ungarns am Wettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 2001. 142 L’Europa in crisi, in: Il Trentino, 25. Februar 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1531-1532.

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Klassen, von der gerechteren Verteilung des Wohlstands, und gerade in den letzten Jahren hatte man sich um die Vorbereitung der ‚Sozialversicherung‘ bemüht, Pensionen für Invalide und Arme, das Eintreten der Starken zugunsten der Schwachen“.

Doch dieses „soziale neunzehnte Jahrhundert“ wurde langsam von einem neuen Zeitalter abgelöst, und De Gasperi wurde dessen neuen Wesens gewahr. „Jetzt präsentiert sich als Zeichen einer veränderten Situation die Bedrohung durch die französische Republik. Das ist der Staat, in dem die Demokratie regiert, das Land, in dem radikale Demagogen und sozialistische Volkstribune ins Kriegsministerium gelangen. Was wird aus anderen Staaten, in denen die Militärmacht ein Erziehungsideal und die Sicherheit ist, auf die die Herrschenden mangels anderer sicherer Lösungen zurückzugreifen versucht sind? Sind wir tatsächlich im Rückschritt begriffen? Folgt auf die soziale Epoche eine imperialistische und nationalistische Ära? … Mehr denn je fühlen wir uns als Fremde unter Fremden und um uns herum sehen wir nur die Barbaren, wie es die alten Griechen zu ihrer Zeit taten. Wie leer klingen heute Parolen wie ‚menschliche Solidarität‘, ‚universale Brüderlichkeit‘, die uns in allen politischen Revolutionen als fast natürlicheres und menschlicheres Evangelium gepredigt werden, die das verleugnete mittelalterliche Christentum ersetzen sollen. Wie nackt steht es da, wie entblößt sich dieses moderne Europa in all seinem unverhohlenen Egoismus, und wie hat es sich immer wieder auf Kongressen und internationalen Veranstaltungen als selbstlose Mutter des menschlichen Fortschritts präsentiert. Und dennoch rebelliert der Geist gegen den Gedanken, dass die Krise, die sich in den letzten Jahren offenbart und in den letzten Monaten zugespitzt hat, ein unheilbares und tödliches Übel werden könnte. Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, die das soziale und internationale Leben intensiv erforscht und intensiv erlebt haben, können nicht glauben, dass die schiefe Bahn, auf die Europa geraten ist, schon den Niedergang unserer Kultur ankündigt, die sich nun der Dekadenz hinneigt“.

Dem jungen Parlamentarier, dem man die Kriegsvorbereitungen vorführte, war die Bedeutung der „Militärpsychologie in diesem trüben europäischen Winter“ sehr wohl bewusst: „Alle reden mit größter Natürlichkeit und weltläufigstem Expertentum von Kanonen, von Haubitzen, von Maschinengewehren, von dreadnoughts (Schlachtschiffen), von Minen und Kalibern, von Panzerschiffen und Schießbaumwolle“. Und er merkte dazu an: „Wie die Reden, so die Kriterien. Die Werteskala existiert nur in der Naivität der Philosophen“143. Das Klima war nicht das beste: Am 25. Januar 1913 hatte das Habsburger Oberkommando der Armee seinen Bericht zu Italien vorgelegt, in dem man auf das Wiederaufkommen anti-österreichischer Tendenzen und die daraus 143 Il Gun-Club, in: Il Trentino, 5. März 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1537-1540.

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resultierende Kriegsgefahr hinwies (im Dezember folgte ein weiterer Bericht mit Hinweisen auf die aggressiven Absichten Italiens)144; und im Parlament wurde ein Gesetz verabschiedet, das für den Kriegsfall nicht nur die Pflichten der Zivilbevölkerung gegenüber der Militärverwaltung reglementierte, sondern auch Maßnahmen vorsah, die von denen einer Militärdiktatur nicht mehr weit entfernt waren145. Der Ausbruch des Zweiten Balkankriegs im Juni/ Juli und die internationalen Gegenschläge trugen sicherlich nicht zu einer Entspannung des Klimas bei146. Für die Trentiner war die Situation in gewisser Hinsicht sogar von Vorteil. Stürgkh brauchte Stimmen für seine Militärgesetze und war deshalb zu Zugeständnissen an die Italiener bereit. Der geschickte Conci ergriff diese Gelegenheit beim Schopf: Seine Zusage, die Regierungsmehrheit zu unterstützen, gab ihm die Möglichkeit, Spiegelfeld an der Spitze Tirols loszuwerden. In seinen unveröffentlichten Memoiren berichtet er über diese Verhandlung in allen Einzelheiten und zeigt sich mit dem Ergebnis sehr zufrieden147. „Regierungschef Graf Stürgkh teilt mir mit, der Landtag werde sich mit einem Gesetzesentwurf bezüglich der Gebietsverteidigung beschäftigen. Da denke ich: Das ist die ideale Gelegenheit, dem Spiegelfeld ein Bein zu stellen. Es gab nur eine einzige Sache, auf die die österreichische Regierung wirklich empfindlich reagierte, und das waren die militärischen Angelegenheiten. So antworte ich Stürgkh also: Dazu muss allerdings der Statthalter ausgetauscht werden! Was für Klagen habt Ihr bezüglich Baron Spiegelfeld?, fragt er mich verwundert; ich erkläre ihm, dass dieser bei Interessenskonflikten mit der deutschen Mehrheit immer nur Partei für Letztere ergreife; wir daher nicht mit ihm zusammenzuarbeiten können. Das neue Militärgesetz im Landtag kann deshalb nur mit einem neuen Statthalter behandelt werden, erkläre ich resolut. Stürgkh verstand woher der Wind wehte, der jede Aktivität im Landtag mit Obstruktion zunichtemachen konnte. Überrascht beeilt er sich, mich zu entwaffnen: ‚Machen Sie dem neuen Militärgesetz keine Schwierigkeiten und sobald dieses verabschiedet ist, wird sich die Regierung mit der Frage des Statthalters befassen‘.

144 D. Stevenson, War by Timetable?, S. 181 Anm. Die Euphorie, die in den Heeresspitzen herrschte, veranschaulicht dieses Gedicht mit dem Titel „Appell an die Diplomaten“, das der Generalstabsarzt Wenzel Schuller im Dezember 1912 schrieb: „O, sprecht doch endlich das Erlösungswort! / Krieg soll es sein, wir wollen freudig bluten“. Schuller ließ es sich natürlich nicht nehmen, zu den Feinden außer den Slawen auch die „treulosen Italiener“ zu zählen; zitiert nach G. Kronenbitter, „Krieg im Frieden“, S. 401. 145 Über die Bedeutung der Wende 1913 in der Außenpolitik und im Habsburger Oberen Heereskommando vgl. ebd., S. 414-428. 146 A. Skrivan, Schwierige Partner, S. 335-349. 147 Dazu informierte er umgehend den Bischof: ADT, AEE, 1913, Nr. 73.

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Nein, insistiere ich, die Frage des Statthalters muss gelöst werden, bevor sich der Landtag mit dem Gesetz beschäftigt: Mit dem jetzigen Statthalter ist es ausgeschlossen, dass dieses Gesetz diskutiert wird … Vor der Zusammenkunft des Landtags wurde Spiegelfeld seines Amtes enthoben, und an seine Stelle berief man Graf Toggenburg, einen perfekten Ehrenmann, den Italienern gegenüber wohlwollend eingestellt und mit Gerechtigkeitssinn“148.

Tatsächlich wurde Spiegelfeld am 23. März 1913 (offiziell in den Ruhestand) verabschiedet. De Gasperi hielt sich nicht zurück und kommentierte, es sei „Opfer seiner Politik in der Angelegenheit der Fleimstalbahn geworden“149 und fügte hinzu, dass Spiegelfeld „an der Macht festhielt wie eine Krake an der Klippe“ und dass er bis zuletzt mit Unterstützung der Deutschen im Amt durchgehalten hätte. Es war auch eine Gelegenheit, auf das Thema der nationalen Ungleichheiten zurückzukommen. So ließ er durchblicken, dass auch ein italienischer Nachfolger denkbar gewesen wäre (Conci?). „Konnten die Italiener erwarten, dass tatsächlich ein Italiener zum Zuge käme? Das sind Posten, um die sich nur die Deutschen bewerben können oder – dort wo sie zahlreich und stark sind – die Slawen. Mitnichten sind alle Nationalitäten im Reich gleichgestellt!“

Was in jenem Jahr die katholische Bewegung des Trentino beschäftigte, waren einerseits der Militarismus und andererseits das Problem von Religion und Nationalgesinnung. Zum ersten Punkt fand De Gasperi klare Worte, die er Ende Juli im Lauf der ersten Woche einer religiös-sozialen Bildungsinitiative im Oberen Nonstal zum Ausdruck brachte. „Die Kirche ruft sicher nicht zum Krieg auf und in den Fürbitten heißt es a peste, fame et bello libera nos domine. Und die Katholiken, deren moderne französische Schule unter Vanderpol …, sie vom übertriebenen Pazifismus (der Pazifismus um des Pazifismus willen) fernhält, und mehr noch, vom kriegstreibenden Militarismus, nehmen sich vor, mit ihrer Geisteshaltung und ihrer höchst ehrenwerten Tradition … die heutige pazifistische Bewegung in ihrer Gesamtheit zu durchdringen, um die Menschheit, wenn schon nicht zur vollständigen Abschaffung von Krieg und Aufrüstung (vielleicht eine Utopie), zumindest zu deren schrittweiser Beschränkung anzuleiten“150.

E. Conci, Memoria autobiografica, S. 45-46. Spiegelfeld caduto, in: Il Trentino, 28. März 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1546-1547. 150 Dalla prima settimana religioso-sociale, in: Il Trentino, 31. Juli 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1583-1584. In einem früheren Artikel, „Dalla prima settimana religioso-sociale (Impressioni)“, in: Il Trentino, 28. Juli 1913, jetzt ebd., S. 1580-1583, erinnert er auch an eine Diskussion über den Imperialismus, in der man die damals höchst aktuelle These von Norman Angell über die ökonomische Unmöglichkeit des Kriegs thematisierte, wobei man allerdings auch bedachte, dass für die Diplomaten die militärische Übermacht nach wie vor Vorrang hatte. 148 149

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Diese Thematiken wurde auf dem 16. Kongress der AUCT in Lavis (am 21. September 1913) wieder aufgenommen, und zwar von dem Philosophen Pater Chiocchetti, der in jenem Jahr die Leitung der „Rivista Tridentina“ übernommen hatte: In seiner Rede gegen den Nationalismus rief er zum katholischen Universalismus auf151. Beim Thema Kirche und Nationalismus stand ein ums andere Mal Bischof Endrici unter Beschuss. Am 25. Juli hatte der Bischof im „Foglio diocesano di Trento per la parte italiana“ einen Text veröffentlicht: „I doveri dei cittadini cristiani verso il Principato civile con speciale riguardo al clero“152, von dem De Gasperi in einem Brief an den Sekretär des Bischofs, Don Augusto Guadagnini, meinte, man hätte ihm auch den Titel „Über die Freiheit der Kirche gegenüber weltlichen Herrschaft“ geben können153. Der Text, auf seine Weise eine Erwiderung auf das Drängen der Habsburger Behörden, die Kirche möge zum „Irredentismus“ Stellung beziehen, jonglierte in Wahrheit geschickt mit der wohlbekannten katholischen Dichotomie: Respektvoll gegenüber der Obrigkeit, solange sich diese dem Allgemeingut gegenüber rechtmäßig verhielt; im Falle einer „Rechtswidrigkeit“ immer den apostolischen Grundsatz „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ vor Augen. Außerdem hatte Endrici dem Vatikan eine auf den 13. November 1913 datierte „Relatio secreta de statu dioecesis tridentinae“ – als Anlage zur offiziellen Berichterstattung anlässlich des Besuchs ad limina zukommen lassen. Darin bezog er dem Papst gegenüber Stellung zu der Notwendigkeit, dass die Kirche – auch in theologischer Hinsicht – zu ihrem Volk und damit zu dessen nationaler Identität zu stehen habe154. Endrici begann seinen Bericht mit der Feststellung der besonderen (und schwierigen) Lage einer Diözese, die zwei Nationalitäten unter ihrem Dach vereinen musste („duplex haec nationalitas fidelium“), diese Situation aber nicht ändern und die deutschen Pfarreien der Diözese Brixen überlassen konnte, denn dies erlaubte die Regierung „ob rationes politicas“ nicht, da sie „partem germanicam tamquam naturalem custodem patriotismi“ ansah. Das führe zu einem Klima von Desinformationen und Vorurteilen, auch gegen den Bischof, dessen Verteidigung der nationalen Frage und der Muttersprache 151 Vgl. A. Vadagnini, La partecipazione di Chiocchetti al movimento cattolico trentino, in: Archivio Trentino, 2005, 1, S. 162. 152 „Die Pflichten der christlichen Bürger gegenüber der weltlichen Herrschaft unter besonderer Berücksichtigung des Klerus“. 153 Siehe dazu S. Benvenuti, La Chiesa trentina, S. 124-126. 154 Mein Dank geht an Professor Don Severino Vareschi, der mir freundlicherweise die Kopie des Schriftstücks hat zukommen lassen, das er im Vatikanischen Geheimarchiv gefunden hat: Relatio Secreta de statu dioecesis tridentinae, 10. November 1913, in: Archivio Segreto Vaticano, Concistoriale, Relationes 874.

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„cum irredentismo politico“ missverstanden werde. Dagegen versicherte der Bischof, dass „maxima enim pars populi et universus clerus … nullo modo fovent irredentismi“, derweil die Provinz von Regierungsfunktionären kontrolliert werde, „regioni extranei, immo indolis et usuum nostrarum ignari“, die der Regierung Berichte voller Vorurteile zusenden (und das vor allem dort, wo die Region unter „potestate militari“ stehe). Es folgte die Klage über Eindeutschungsversuche und die Aktivitäten der Vereinigungen, die sich diese zum Ziel gemacht hatten, auch wenn er zugab, dass das Phänomen leicht rückläufig war. Interessant ist auch die Textpassage, in der Endrici auf das Problem der Bischofswahl für die Diözese eingeht und sein Verhalten in Wirklichkeit als eine Notwendigkeit darstellt. Wenn tatsächlich das Problem zweier unterschiedlicher Bevölkerungen existierte (mit deutlich erkennbaren Grenzen zwischen den beiden Ethnien, was – so erinnerte er – in Österreich nicht der Fall war), war es wichtig, dass der Bischof, obschon er fließend Deutsch sprach, als jemand anerkannt wurde, der der größeren Volksgruppe angehörte. Anderenfalls wäre er zu „impotentiae et solitudini“ verurteilt, von den gebildeten Schichten ausgeschlossen („praesertim a parte exculta civium“) abgelehnt, die ihn als „creatura et comissarius guberni“ angesehen hätten. Letzten Endes wäre dem Bischof die Steuerung der sozialen Organisation der Katholiken unmöglich gewesen, was dieser „cum ingenti gaudio omnium inimicorum religionis et civitatis“ schaden würde. Das war die Rebellion des Bischofs gegen den „Josephinismus“, gegen die Habsburger Ideologie der Verknüpfung von Thron und Altar155, zugleich aber auch eine weitere glaubwürdige Zeugenschaft für das Klima, das mittlerweile im Reich herrschte. Die Regierung Stürgkh hatte große Mühe, das Parlament zusammenzuhalten und die Versuchung, auf Paragraf 14 der Verfassung zurückzugreifen, der es erlaubte, im äußersten Fall ohne das Parlament zu regieren, war so groß, dass man ihr immer wieder nachgab. Zudem hatte der alte Kaiser gerade erst einem hohen Funktionär gesagt, dass „man vor allem in Österreich nichts mit einem parlamentarischen Ministerrat anzufangen weiß“, womit er offenbarte, dass er grundsätzlich mit der geringen Neigung seines Ministerpräsidenten parlamentarisch zu regieren, einverstanden war156. Im Trentino hatte der nächste politische Schritt von Bedeutung wieder einmal mit Wahlen zu tun. 1914 standen die Wahlen für den Landtag an, und 155 In seinem Exil in Heiligenkreuz während des Kriegs sollte Bischof Endrici diese Überlegungen noch weiter vertiefen. Siehe dazu S. Benvenuti, Il gioseffinismo nel giudizio del vescovo di Trento Celestino Endrici, in: Studi trentini di scienze storiche, 73 (1994), S. 37-102. 156 Zitiert nach J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S. 294.

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diesen Termin durften sich die Katholiken nicht entgehen lassen. De Gasperi verwies immer wieder mit Nachdruck auf die Verdienste der Katholiken, was die Verteidigung der Nationalität betraf, so beispielsweise bei der Jubiläumsfeier der Einweihung des Dante-Denkmals157, wo er „einen herrischen Nationalismus mit unterschwellig klerikalen Zügen und nicht selten marktschreierischen Kundgebungen“ und die katholische Sozialbewegung, [die] vom nationalen Standpunkt aus eine Vermittlerfunktion und eine erzieherische Vorreiterrolle ausübte“ gegenüberstellte. Da war sie wieder, die Theorie vom positiven Nationalgefühl. „Lasst uns, wo es nötig sein sollte, [das Volk] weiter von dem einst ziemlich verbreiteten Vorurteil befreien, politischer Irredentismus und Kult der eigenen Nationalität, Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Nation und anti-staatliche Bewegung seien ein und dieselbe Sache, die man entweder ablehnen oder in ihrer Gesamtheit akzeptieren könne. Lasst uns das Volk in unseren Vereinigungen beständig zu einem Nationalgefühl erziehen, aus dem wir ein Instrument von Kultur und moralischem Fortschritt machen, nicht ein Mittel, um die anderen Nationalitäten zu hassen oder zu verachten“.

Nichtsdestotrotz spürte De Gasperi höchstwahrscheinlich, dass diese Vorgehensweise nicht mehr denselben Anklang fand wie noch 1907/08, sei es, weil sich der nationale Kampf im Reich dermaßen verschärft hatte, oder weil die Liberalen und Sozialisten von diesem neuen Klima profitierten konnten. Aus diesem Grund spornte er die Seinen zum Kampf an und zur Vorbereitung auf die Landtagswahlen mit Unterstützung der katholischen Presse: „Die Landtagswahlen, die vielleicht mit den Kommunalwahlen für Trient zusammenfallen, werden die Parlamentswahlen von 1907 an Heftigkeit übertreffen. Das sehen wir, das fühlen wir, das wissen wir, und so bereiten wir uns darauf vor, unseren Gegnern jenen Empfang zu bereiten, den ihr verbissener und illoyaler Angriff verdient“158.

In Wirklichkeit konnte auch De Gasperi äußerst polemisch werden. Das lässt sich etwa an seinen häufigen Attacken auf Cesare Battisti festmachen, dem er vorwarf, ein treuer Verbündeter der Liberalen zu sein (die er als Sozialist eigentlich hätte bekämpfen müssen), trotz seines Patriotismus ein Kamerad der deutschen Sozialisten und zu guter Letzt sogar der Feind eines wirklich demokratischen Wahlrechtsgesetzes für die Gemeindewahlen, und zwar aus Furcht, das liberal-sozialistische Bündnis könne zugunsten der Katholiken an Macht verlieren159. 157 Patrie, in: Il Trentino, 11. Oktober 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1609. 158 Un lavoro urgente da fare, in: Il Trentino, 21. November 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1625-1627. 159 Cesare … non passa il Rubicone, in: Il Trentino, 11. Dezember 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1635-1642.

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Das Jahr schloss er mit der üblichen Bilanz über das, was getan worden war und das, was man sich für die Zukunft vornahm. Voller Zufriedenheit stellte der Direktor der katholischen Tageszeitung fest, dass man „auch in aufgewühlten Zeiten seine Pflicht getan hatte“, und er entwarf einige Leitgedanken, die auf Bewährtes zurückgriffen. „Es ist Zeit, dass es auch im Trentino ein Ende mit den leeren Worten hat und dass man eine ernsthafte Politik zu betreiben beginnt, die auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingeht, die wahren Bedürfnisse, die machbaren Erfolge; anstatt sich an aussichtslosen Fantasien zu berauschen und mit der verheerenden Taktik des nullismo den ökonomischen und nationalen Niedergang zu riskieren. Bei der Erfüllung unserer Pflicht – daran erinnern wir voller Stolz und Dankbarkeit –, haben uns die Zustimmung und der Ansporn der Täler und der überwältigenden Mehrheit des Landes unterstützt. … Unser erster Gedanke wird stets die Verteidigung der obersten religiösen Prinzipien sein, aus denen unser Volk über viele Jahrhunderte hinweg seine Lebenskraft schöpfte und auch heute noch schöpft. Die Reinheit und die Standhaftigkeit dieser Prinzipien werden unser ganzer Stolz sein, wir werden sie vor allem anstreben und wir werden glücklich jede Maßnahme verteidigen und unterstützen, die dabei hilft, diese Prinzipien zu wahren und zu festigen“160.

In jenem Moment konnte keiner ahnen, welch fatale Wende das neue Jahr mit sich bringen würde.

160 Buon anno!, in: Il Trentino, 31. Dezember 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1642-1643.

Fünftes Kapitel

Der Erste Weltkrieg Zunächst schien der Beginn des Schicksalsjahrs 1914 nicht unter dem Vorzeichen eines Krieges zu stehen. Heute weiß man, dass bereits am 26. November 1913 ein Memorandum von Außenminister Berchtold an Graf Ottokar Czernin, den Botschafter in Bukarest und zugleich treuesten Berater des Erzherzogs Franz Ferdinand, gegangen war: darin wurde behauptet, Belgrad versuche, einen großserbischen Staat zu schaffen, und also ein Krieg die Alternative zwischen „der völligen Zerstörung Serbiens und dem totalen Auseinanderbrechen von Österreich-Ungarn“1 war. Es gab damals sehr wohl Anzeichen, dass es darauf hinauslaufen würde, aber letztendlich noch nichts Konkretes, woraus die Öffentlichkeit auf den tragischen Verlauf, den die Ereignisse nehmen sollten, hätte schließen können. Wie sich zeigen wird, sollte das politische Klima im Trentino von zwei Wahlterminen beherrscht werden – dem für den Tiroler Landtag nach dem neuen Wahlrecht und dem für den Gemeinderat von Trient – auch diese Wahl schon mit dem neuen System der Stimmenauszählung. Das bedeutet nicht, dass im „Trentino“ nicht dann und wann auch über eher Überflüssiges debattiert wurde, etwa, als sich De Gasperi über die „Tangotanzerei“ (zur Melodie des „Inno a Tripoli“) auf einem Karnevalsball der Lega Nazionale ausließ, die er ziemlich unangebracht fand. Darüber habe sich, so der Autor, der Botschafter Argentiniens in Paris folgendermaßen geäußert: „Kein Salon, der etwas auf sich hält, darf den Tanz der verlorenen Frauen zulassen“2. In einem anderen Artikel beklagte der Direktor das Echo, das der Tod einer berühmten Kurtisane in Budapest ausgelöst hatte, was ihn zu einem strengen Urteil über die angebliche Dekadenz der Zeit veranlasste: „Also gut, beruhigt Euch, ihr hochherzigen Geister, und Du, Gabriele D’Annunzio, was wetterst Du noch gegen Golgatha. 1

Zitiert in: A.J. May, La monarchia asburgica, S. 662. Zu der heiklen Situation, in der man sich nun befand, vgl. A. Skrivan, Schwierige Partner, S. 250-276, der auch die rückblickende Einschätzung der Lage durch den Außenminister zitiert: „Wir mußten sterben. Die Todesart konnten wir uns wählen, und wir haben uns die schrecklichste gewählt“; ebd., S. 350. 2 Ebbene parliamone!, in: Il Trentino, 23. Februar 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1663-1665.

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Die Zivilisation, der ihr nachweint, ist dabei wiederzuerwachen, und das christliche Mittelalter geht unter“3.

Etwa ab Herbst 1912 lassen sich Anzeichen für das Wiedererwachen einer gewissen Reizbarkeit bezüglich der katholischen „Orthodoxie“ ausmachen – ein Thema, mit dem De Gasperi, obschon praktizierender Katholik, wenig anfangen konnte, auch wenn er in Positionsfragen sehr wohl die Seite der offiziellen Kirche vertrat (wie im berühmten „Fall Wahrmund“, auf den wir noch im Schlusskapitel zu sprechen kommen werden). So hatte er sich am 30. Oktober 1912 im Gemeinderat auf den Vorschlag, eine Straße nach Abt Giovanni a Prato zu benennen, geäußert, dass die Volkspartei den Vorschlag unterstützen würde, doch nur „im Hinblick auf die Idee der Autonomie, der das ganze Land unterschiedslos zustimmt; wir lassen aber nicht zu, dass unsere Zustimmung als noch so vages Einverständnis mit den Theorien des klassischen Liberalismus in Bezug auf die Schule und die Beziehungen zwischen Kirche und Staat aufgefasst wird“4. Fast ein Jahr später hatte er die Trentiner Katholiken – vor allem die Frauen – dazu aufgefordert, ihren Lesestoff sorgfältig zu wählen, ja, selbst den „Corriere della Sera“ zu meiden, der als heimtückischer Zerstörer von Glaubensgewissheiten zu betrachten sei: „Auch wenn wir einerseits darüber erfreut sein dürfen, dass der ‚Corriere della Sera‘ den jüdischen ‚Piccolo‘ [die Tageszeitung von Triest, Anm. d. Red.] so gut wie verdrängt hat, der mit seiner Skandalchronik unsere Stadt verseuchte, und wenn wir uns das kleinere Übel wünschen müssen, dass nämlich der ‚Corriere‘ ein Gegengewicht zum freimaurerischen ‚Secolo‘ bildet, der versucht, sich immer weiter auszubreiten, ist es unsere Pflicht als katholische Publizisten, die Gutgläubigen auf die Gefahren aufmerksam zu machen, welche die Verbreitung der großen liberalen – wenn auch nicht radikalen – Presse für das christliche Bewusstsein in unserem Lande bedeutet“5. 3 Davanti ad una bara, in: Il Trentino, 20. Januar 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1660-1662. 4 A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1821. Wie bereits erwähnt, war Baron a Prato nicht nur federführend beim Kampf um die Autonomie des Trentino, vielmehr war er als Schüler Antonio Rosminis auch ein Vertreter des liberalen Katholizismus und darüber hinaus ein Aktivist der ersten Stunde im Trentiner Liberalismus. 5 Un esame necessario, in: Il Trentino, 4. November 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1616-1618. Zur Verbreitung der Zeitungen in Trient findet sich eine interessante Passage in den Erinnerungen von Ernesto Sestan: „Es war zur Zeit des italienisch-türkischen Krieges. Ich las den Mailänder ‚Il secolo‘, er kostete 5 Cent. Ich erinnere mich nicht mehr, weshalb ich mich für diese radikale Zeitung entschied, die in Trient kaum gelesen wurde, denn hier lasen viele den ‚Corriere della Sera‘. Sicher war diese Wahl nicht politisch motiviert … Die Zeitungen, die mein Vater las, ‚L’Alto Adige‘ aus Trient und den ‚Piccolo‘ aus Triest, interessierten mich nicht. Der ‚Piccolo‘ langweilte mich sogar mit seinen ellenlangen

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Im oben zitierten Artikel über den Tanzabend der Lega Nazionale rechtfertigte De Gasperi das ungewöhnliche Thema damit, dass „es seine Pflicht sei“, „dem Kriterium der Vorsicht [zu folgen], das einer katholischen Zeitung des Trentino aus den Lehren unseres Klerus’ und der Praxis seiner Seelsorge erwächst“. Davon, dass das Klima durch die anti-modernistische Kampagne aufgeheizt und überreizt war, zeugt ein weiteres Ereignis. Im Jahr 1913 hatte Pater Emilio Chiocchetti die Leitung der „Rivista Tridentina“ übernommen. Er war ein franziskanischer Philosoph von erstaunlicher Originalität und Offenheit (der auch in Lovanio studiert und die lobende Beachtung von Croce gefunden hatte). Im April 1914 hatte die Zeitschrift einen Artikel von Pater Agostino Gemelli veröffentlicht – dem späteren Gründer und Rektor der Università Cattolica in Mailand – mit dem Titel „Considerazioni intorno al problema dell’origine dell’uomo“, welcher das Thema Evolutionismus behandelte (und das aus einer Feder, über deren Rechtgläubigkeit es keine Zweifel gab). Umgehend schrieb Bischof Endrici an Chiocchetti, der Artikel habe für „Überraschung gesorgt“. Dabei war der Franziskaner, der Abbitte geleistet hatte, durch einen offenen Brief vonseiten des kirchlichen Zensors entlastet worden, in dem dieser versicherte, dass die Kirche den Evolutionismus nicht verdammte6. Diese Begebenheit ist emblematisch für ein Klima, das vielleicht auch der bekannte Brief von Ernst Commer an Endrici widerspiegelt. Darin beklagte der einstige Mentor De Gasperis die mangelnde Orthodoxie des „Trentino“ (da die Zeitung den päpstlichen Anspruch auf Rom nicht nachdrücklich genug verteidigte!). Und er kam zu dem Urteil über „unseren lieben Alcide“: er ist „von Herzen ein guter Katholik … Ihm fehlt nur das tiefere katholischtheologische Verständnis“. Was die ernsteren politischen Probleme betraf, so spitzte sich die Lage in Wien wie in Trient zu. Der Reichsrat war durch die Obstruktionspolitik der Tschechen beschlussunfähig, die sich die Unterstützung, die Stürgkh den Deutschen in Böhmen zugesagt hatte, nicht gefallen lassen wollte, was wiederum den dortigen Landtag blockierte. Begleitet vom Schlachtruf der obstruierenden Tschechen „ohne Landtag kein Reichsrat“ war es nur zur Vertagung der Parlamentssitzungen gekommen, ohne dass man ein Datum für eine neue Zusammenkunft festgelegt hätte, was eine weitere Regierungsperiode auf Grundlage des berüchtigten Paragrafen 14 der Verfassung einleitete. Anmerkungen zum Geschehen in Albanien, von dem ich nichts verstand“; E. Sestan, Memorie di un uomo senza qualità, S. 77. 6 Diese Begebenheit findet sich in S. Benvenuti, Emilio Chiocchetti e l’ambiente culturale Trentino (die gesamte Ausgabe dieser Zeitschrift ist für die Forschungen zu Chiocchetti ausgesprochen aufschlussreich).

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Hinter dieser Entscheidung, die den verfassungsrechtlichen Parlamentarismus praktisch aufhob, vermuteten viele den Thronerben und die Militärkreise. Was auch stimmte, doch das zentrale Problem war, dass die Strategie Stürgkhs, allen alles zu versprechen und zuzugestehen, auf lange Sicht unhaltbar war: Gewiss war das ein „virtuoses Taschenspielerkunststück“, wie es ein angesehener Historiker7 bezeichnet hat, aber es konnte nicht ausreichen. Diese Situation beunruhigte die Vertreter der Volkspartei derart, dass Conci das offen in ihrer Zeitung zum Ausdruck brachte. „Man hat sich zu stark dem Par. 14 anvertraut; man hat den parlamentarischen Prinzipien zu wenig Beachtung geschenkt; man hat sich zu wenig darum gekümmert, auch nur dem Anschein nach die verfassungsrechtlichen Formen zu wahren, als dass darauf keine Reaktion erfolgte! … Die Verfassung kann nicht so ohne Weiteres, auch nicht aus praktischen Gründen, aufgehoben werden: Der Parlamentarismus ist eine unumstößliche Notwendigkeit“8.

Just Anfang 1914 erschien außerdem ein langer Artikel von De Gasperi über diese nahezu surreale Situation des Wiener Parlaments. Ein Artikel, dem, so scheint es, wenig Beachtung geschenkt worden ist9. Der Trentiner Parlamentarier lässt darin den „Gemeindevorsteher“ eines kleinen Ortes (den er nicht nennt) dem Reichsrat einen Besuch abstatten. Der beschlagene Führer geleitet den Mann aus dem Volk durch die prachtvollen Säle und macht seine geistreichen Anmerkungen zu den Statuen und Stuckverzierungen, zu den allegorischen Darstellungen und den Modellen aus der klassischen Antike. Doch das ist nur ein Vorwand, um sich sarkastisch über das Parlament auszulassen, wo Reden geführt werden, denen niemand zuhört („Lieber Herr Vorsteher, Sie denken noch in alten Wertemustern. Früher schrieb man alles auf, um das dann vorzutragen, heute redet man, um gedruckt zu werden“), wo man spricht, ohne verstanden zu werden („Was sagt er? [fragt der Vorsteher De Gasperi, während sie einem Abgeordneten zuhören] Das weiß keiner, denn der Mann spricht Ruthenisch / Nicht einmal der Präsident? / Nein, nicht einmal er /… / Aber das ist ja eine Komödie!, rief mein großer Wähler mit unterdrückter Stimme. / Das mögen Sie nennen, wie Sie wollen. Im parlamentarischen Sprachgebrauch heißt das Obstruktion“). Es fehlt auch nicht der Tumult in den Rängen des Parlaments, der ebenfalls von den Ruthenen ausgelöst wird („unter die Pfiffe mischten sich Trompetenstöße, Glockengebimmel und es folgte der Lärm von Kastagnetten und Schellentrommeln“). 7

L. Höbelt, Parteien und Fraktionen, S. 997. Una vignetta del Morgen, in: Il Trentino, 29. April 1914. 9 Il signor Capocomune al Parlamento, in: Il Trentino, 3. Januar 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1646-1652. 8

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Man achte auf die folgende Textpassage, in der De Gasperi ein Thema aufgreift, das er schon an anderer Stelle behandelt hatte: „Und dennoch, man arbeitet hier, wissen Sie, ja, auch hier wird gearbeitet, und zwar ernsthaft“. Um seinen Gast davon zu überzeugen, führt ihn De Gasperi „in die Zimmer der Minister, wo die Abgeordneten die wichtigsten Belange ihrer Wahlkreise behandeln, in die Kanzleien, wo sich die Projekte, die Berichte, die Statistiken, die Bittschriften häufen, alles, was unter den Abgeordneten verteilt wird“. Anschließend führt er ihn in den Saal der parlamentarischen Gruppe (Unione Latina), um ihm die Abgeordneten bei der Arbeit zu zeigen, wie sie sich mit den ihnen anvertrauten Anliegen beschäftigen („nicht umsonst nannte man in Frankreich die Abgeordneten den Bettelorden des XIX. Jahrhunderts“). Auch das Ende des Artikels gibt Aufschluss darüber, wie De Gasperi die ganze Widersprüchlichkeit der damaligen politischen Situation erfasst hatte. „Aber was hättest du gesagt, verehrter Gemeindevorsteher, wenn du dich drei Stunden später auf der Tribüne eingefunden hättest? Da war die Szenerie eine völlig andere und die Ventilatoren und die Absaugvorrichtungen, die abends angestellt werden, hatten alle giftigen Ausdünstungen aufgesaugt. Fünfhundert Abgeordnete saßen friedlich auf ihren Sitzen und antworteten in allen Sprachen auf die Abstimmung, in wunderbarer Ruhe. Beim Anblick dieser Völkerfreundschaft nach all dem Hass wäre ich versucht gewesen, dir zu erklären, weshalb man unter den großen Persönlichkeiten des Szenarium auch Platon abgebildet hat, den Urheber des Idealen Staates. Doch du, verehrter Gemeindevorsteher, warst zum Glück schon fortgegangen! Diese Überraschung hätte dir noch gefehlt, um das österreichische Problem als unverständlich und undefinierbar bezeichnen zu müssen“.

Die Situation in einem spontanen Wechselspiel aus Spannung und Entspannung in der Balance zu halten wurde in der Tat immer schwieriger, auch wenn es in jenem Jahr Versuche gab, wie noch im Fall Tirol zu sehen sein wird, ein akzeptables Gleichgewicht der Nationalitäten zu erreichen. Alles lief nunmehr über eine Wahlrechtsreform, deren Entwicklung zwar kompliziert gewesen war, die aber auch zu recht interessanten Lösungsansätzen geführt hatte. Die Behandlung dieses Themas zog sich bereits seit 1905 hin, denn eine Demokratisierung des Wahlrechts hätte das sozio-ökonomische Gleichgewicht durcheinandergebracht. Doch nachdem im Jahr 1907 das allgemeine Wahlrecht für das Parlament Cisleithaniens eingeführt worden war, erschien das Festhalten am alten Kuriensystem, mit der Kurie der Prälaten und Großgrundbesitzer an erster Stelle, nicht mehr akzeptabel. Die Liberalen wehrten sich hartnäckig gegen eine Reform, da die Erweiterung der Wahlberechtigung die Christlichsozialen in Tirol begünstigt hätte (wie auch die radikalen Nationalisten), und ebenso die Vertreter der Volkspartei

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im italienischen Teil10. Doch zum Ende des Sommers 1913 hin erreichte eine Wahlkommission den ersten Kompromiss, gegen den radikaleren Vorschlag des christlichsozialen Joseph Schraffl aus Tirol: Der Kompromiss strich die vorgesehene Reduzierung der Vertreter der privilegierten Kurien (es blieb bei 4 Vertretern für die Kurie der Prälaten und bei 10 für den adligen Großgrundbesitz), hob für die Kurie, deren Wahlberechtigte sich nach Besitzstand zusammensetzten, die Zahl der Abgeordneten von 31 auf 50 an, gestand aber der allgemeinen Wahlklasse nicht mehr als 21 Mandate zu (statt der 25 Mandate, die Schraffl vorgeschlagen hatte). Außerdem teilte die Kommission die Kurie des Großgrundbesitzes in zwei nationale Sektionen auf, mit 4 Vertretern auf der italienischen Seite und 6 Vertretern auf der deutschen. Die Italiener hatten nämlich bis dahin, aufgrund des geschlossenen Blocks der deutschen Liberalen und Konservativen, überhaupt keine Vertreter in dieser gemeinsamen Kurie gehabt. Ein solcher Vorschlag führte natürlich zu neuerlichen nationalistischen Spannungen: Die Deutschnationalen trafen sich am 21. September 1913 in Brixen und forderten, dass man das Verhältnis von 2 zu 1 bei der Repräsentation von Deutschen und Italienern beibehalten solle, da das Trentino nur ein Fünftel des gesamten Steueraufkommens erbrachte. Doch für diese Art Forderungen standen die Zeichen nun nicht mehr günstig und am Ende sah auch der deutsche Teil Tirols, wenngleich recht widerwillig, dass man den Bogen nicht noch weiter spannen konnte. So kam man zu der endgültigen Entscheidung, die indirekte Wahl in den Landgemeinden abzuschaffen und sich mit der Einrichtung einer allgemeinen Wahlklasse für die Ausweitung der Wählerschaft einzusetzen. Für die Italiener stellte das eine deutliche Verbesserung dar, denn auf 96 Mandate erhielten sie nun 35 statt der bisher 21. Damit kletterte ihr Anteil von 31% bei der alten Zusammensetzung (68 Abgeordnete) auf 36%11. Mit der gleichen Festlegung der Wahlkreise auf Tiroler Ebene umfasste der Landtag – abgesehen von den Abgeordneten, die ihm durch ihr Amt angehörten – 58 Deutsche und 34 Italiener12. Außerdem wurde der Usus offiziell festgeschrieben, nach 10 Zu dieser Angelegenheit siehe R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 344-352. 11 Die Mandate waren folgendermaßen verteilt: sogenannte „Virilstimmen“ waren der Universitätsrektor und die Tiroler Bischöfe; 4 Abgeordnete gab es für die Prälatenkurie; 10 Abgeordnete (6 Deutsche + 4 Italiener) für den adligen Großgrundbesitz; 3 Abgeordnete kamen aus den Handels- und Industriekammern; die Zensuskurie: 19 Sitze für die Städte und 35 für die Landgemeinden; für die allgemeine Kurie 7 Abgeordnete in den städtischen Wahlkreisen und 14 in den ländlichen. 12 Nicht uninteressant ist, dass die Frauen, die zum Großgrundbesitz gehörten und die, die in kleineren Städten und Landgemeinden lebten und zur Zensuskurie

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dem man den Landeshauptmannstellvertreter (das war Conci) unter den Italienern wählte, auch wenn jetzt, um die Deutschen zufriedenzustellen, das Amt eines zweiten Vizehauptmanns eingerichtet wurde. Außerdem erhielten die Italiener 3 Reservesitze in der Landesregierung anstelle der 2, die sie bislang innegehabt hatten. Das neue Wahlrecht wurde am 16. Oktober 1913 vom Tiroler Landtag abgesegnet und von der Wiener Zentralregierung am 2. Februar 1914 ratifiziert. Das waren durchaus beachtliche Zugewinne, mit denen man sich nun auf ausgesprochen wichtige Wahlen vorbereitete, die das Gleichgewicht unter den Gruppierungen neu austarieren sollten. Im Trentino bedeutete das, sich erneut mit einem Parteiensystem zu messen, in dem die drei immer gleichen Hauptakteure – die Volkspartei, die Liberalen und die Sozialisten – nicht so sehr um das Gesamtergebnis rangen, das fest in der Hand der Katholiken lag, als vielmehr um die Städte, allen voran um die Hauptstadt Trient. Durch die Wahlen in den vergangenen fünf Jahren hatte man Erfahrungen mit der Organisation der Massen gesammelt und so die Mobilisierungstechniken verfeinert. De Gasperi ließ von der UPPT „genaue Regeln zum System und zur Organisation im Inneren sowie zur Art und Weise, die Parteikandidaten zu ernennen und zu präsentieren“, aufstellen. Ein Modell, das in erster Linie darauf abzielte, den Entscheidungsspielraum der eigentlichen Aktivisten auf den Versammlungen zur Ernennung der Kandidaten einzuschränken: „Eine demokratische Bedingung, die ein klein wenig egalitär anmutet, die aber für die Kraft und Geschlossenheit der Partei unabdingbar ist“13. Wie immer missfielen diese Einschränkungen den Liberalen, worauf der Direktor des „Trentino“ sie aufforderte, es der Volkspartei gleichzutun, „denn auch euch kann die allgemeine Klage der Liberalen nicht entgangen sein, nach der ihr, wenn es darum geht, im Namen des Landes zu sprechen, ein Grüppchen von zwanzig Leuten [sic] zusammenruft, um Entscheidungen zu treffen“. Das war eine Kritik am Honoratiorensystem, das nun als Last empfunden wurde: „Es ist ein großes Unglück für unsere Politik, dass die liberale Partei nicht gut organisiert ist. Sie ist schlichtweg eine Partei, mit der man nicht verhandeln kann,

gehörten, das Wahlrecht erhielten, nicht aber die, die in den großen Städten lebten und auch nicht die aus der allgemeinen Wahlkurie. 13 Elezioni dietali per la designazione delle candidature del partito popolare nei collegi rurali, in: Il Trentino, 28. Februar 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1666-1667. Die UPPT hielt am 8. April 1914 in Trient die allgemeine Versammlung zur Auswahl der Kandidaten ab. Bei dieser Gelegenheit kam auch Don Panizza wieder ins Spiel. Vgl. G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione Popolare, S. 585-586.

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denn es gibt niemanden, der eine Verpflichtung eingehen kann, die am nächsten Tag nicht von den anderen widerrufen würde“14.

Der Wahlkampf war auch diesmal sehr lebhaft gewesen, und De Gasperi hatte sich nicht gescheut, sämtliche wunden Punkte anzugehen, allen voran den Anti-Klerikalismus. Allerdings scheinen diese Polemiken, liest man sie heute, etwas mechanischer und weniger inspiriert als jene aus seinen Anfängen. Einerseits griff er die Liberalen und die Sozialisten an, die sich dem deutschen Konservativismus angeschlossen hätten, um jene Wähler zu halten, von denen sie fürchteten, dass sie sonst zur Volkspartei und zu den Christlichsozialen überlaufen würden15. Und andererseits musste er es mit einem neuen Phänomen aufnehmen, das er „confusionismo“ nannte, nämlich die Tatsache, dass sich mit der Erweiterung des allgemeinen Wahlrechts vor allem auf dem Land „die Gegner nun auf diese Wahlkurie gestürzt haben, dass sie sie untereinander aufteilen, dass sie hier die regionalen Kandidaten unterstützen, dort die unabhängigen Kandidaten, die aus der Bauernschaft usw.“. Einen Zustand, den die „mettizizzania“ – oder Unfriedenstifter – und die „confusionisti“ geschaffen hatten und der beunruhigte, da „man in vielen Dörfern passiv ist. Die Wahlkampagne ist zu sanft gewesen“16. So sah er „Gegenkandidaten“ erstarken, in denen er die alte Gefahr ausmachte: „Das ist der alte Antiklerikalismus, der in neuem Gewand zurückkehrt“. Er rief dazu auf, „unsere alten Flagge“ zu hissen, auf der „heute wie gestern wie morgen geschrieben steht: Katholiken! Italiener! Demokraten!“17. Auch wenn die Wahl für die Volkspartei in ihren traditionellen Hochburgen gut verlaufen war, blieb der wunde Punkt natürlich die Hauptstadt Trient, wo beim Wahlgang am 27. April 1914 für die Stimme der fünften Kurie (der des allgemeinen Wahlrechts) kein endgültiges Ergebnis erzielt worden war, weshalb man eine Stichwahl zwischen dem Sozialisten Cesare Battisti und dem Liberalen Giuseppe Menestrina ansetzen musste. Die Volkspartei musste eine Entscheidung treffen18. De Gasperi hielt fest, dass es für „uns keine Pflicht zum Urnengang gibt; und noch weniger drängt uns irgendeine Verpflichtung zur Gegenseitigkeit“ (bei den Stichwah14

Fate anche voi, in: Il Trentino, 3. März 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1669-1671. 15 E se non ridi … che rider suoli?, in: Il Trentino, 20. April 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1675-1677. 16 Contro il confusionismo, in: Il Trentino, 21. April 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1677-1679. 17 Battaglia su tutta la linea – Per la sincerità politica!, in: Il Trentino, 23. April 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1682-1683. 18 Contro il socialismo e l’ibridismo socialistoide, in: Il Trentino, 1. Mai 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1684-1686.

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len hatten sich die Liberalen nie auf die Seite der katholischen Kandidaten gestellt). Und er machte darauf aufmerksam, dass „uns als Partei keinerlei Vorteil daraus entwächst, wenn der liberale Klub, der schon dank seiner Wahlprivilegien hinzugewonnen hat, weiter gestärkt wird“. Nichtsdestotrotz trat er dafür ein, den liberalen Kandidaten zu unterstützen. Die Begründung ist hochinteressant: Tatsächlich trat die Pflicht, den Sozialismus als „antireligiöse und antisoziale Doktrin“ zu bekämpfen, angesichts der Herausforderung den liberal-sozialistische Block auf seine Widerstandsfähigkeit hin zu prüfen in den Hintergrund. „In Trient sind die Grenzen zwischen Proletariat und Bürgertum nicht klar zu ziehen, die Kontraste zwischen Nationalismus und Internationalismus nicht eindeutig zu definieren“, schrieb De Gasperi. Auch wenn das die Kammer nicht betraf, galt es, „gegen die hybride sozialistoide Gesinnung zu protestieren“, also gegen jene Liberalen, die aus Antiklerikalismus (aber eher noch aus der Weigerung heraus, die katholische Hegemonie zu akzeptieren, die sie um ihre Rolle als führende Klasse brachte) lieber einen Sozialisten unterstützten, als sich mit der neuen politischen Hegemonie auseinanderzusetzen19. Das Ergebnis der Stichwahl klärte die Situation, denn Battisti gewann mit 238 Stimmen Vorsprung. Wie De Gasperi in einer scharfsichtigen Wahlanalyse schrieb20, konnte man deutlich sehen, dass ein beachtlicher Teil der liberalen Wähler „sozialistoid“ war, um seine Wortwahl aufzugreifen. Nichtsdestotrotz war der Wahlausgang in seiner Gesamtheit ein großer Erfolg für die Volkspartei, die auf 21 Abgeordnete kam, gegen 11 Liberale und einen Sozialisten. De Gasperi war in der fünften Kurie mit 3.598 Stimmen gewählt worden (ein gutes, wenn auch nicht überragendes Ergebnis, bedenkt man, dass immerhin acht Kandidaten mehr Stimmen bekommen hatten 19 De Gasperi hatte dieses Phänomen in einem Artikel scharf kritisiert, in dem er einerseits der Tageszeitung „L’Alto Adige“ ihre offenkundige Antipathie gegenüber den katholischen Stimmen für Menestrina vorwarf und andererseits ein schonungsloses Porträt von Battisti im Wiener Parlament zeichnete. Er bezichtigte ihn, Beziehungen sowohl zu den Sozialisten aus Triest wie auch zu den deutschen Sozialisten zu unterhalten und diese unnatürliche Allianz auch im zukünftigen Tiroler Landtag beibehalten zu wollen. Das war kein harmloser Vorwurf. „Der Weg von Wien scheint zu einem Weg nach Damaskus geworden zu sein: der, der in Trient ein ‚echterer und größerer‘ Mazzini zu sein schien, begibt sich, einmal dort draußen, klamm und heimlich in den Schafstall von Valentino Pittoni. Verehrte Herren! Wisst Ihr, wer Valentino Pittoni ist? Das ist ein echter, internationaler Sozialist; er ist der vom Prinzen Hohenlohe, dem Statthalter von Triest, am meisten geschätzte und liebste italienische Politiker; er ist der Mann, der von den adriatischen Nationalisten am herzlichsten verabscheut wird“; vgl. Un caso di patologia elettorale, in: Il Trentino, 2. Mai 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1686-1690. 20 Le elezioni di ieri, in: Il Trentino, 5. Mai 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1691-1694.

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als er)21, und nur ein liberaler Kandidat war in der Kurie des allgemeinen Wahlrechts gewählt worden. Der Erfolg ließ die Autonomiefrage wieder aufkommen. So erklärten alle Trentiner Vertreter (einschließlich Battisti) auf der ersten Sitzung des Landtags am 18. Mai 1914, dass sie dieses Organ nicht als ihre legitime Repräsentationsinstanz anerkennen könnten. Wie zu erwarten, rief das umgehend den Widerstand der Tiroler hervor, die wie gewohnt darauf beharrten, dass die Einheit Tirols nicht verhandelbar war (einzig der Sozialdemokrat Simon Abram erklärte, dass er die italienischen Forderungen als ein Element der zukünftigen Neuorganisation Österreichs akzeptiere). In gewisser Weise war das eine Art Ritual, denn die anschließende Sitzung verlief ausgesprochen fruchtbar. Es wurde vor allem das beschlossen, was als die Parlamentarisierung des Landtags angesehen werden kann, mit Kathrein als Landeshauptmann (einem sehr vernünftigen und den Italienern gegenüber offenem Politiker), Enrico Conci als seinem ersten Stellvertreter und Josef Schraffl als zweitem, vor allem aber mit der Erklärung, dass die Landesregierung ein permanentes Organ sei22. Tatsächlich engagierte sich De Gasperi im Landtag aktiv, aber aufgrund des Kriegsausbruchs sollte es sich nur um einen Monat handeln. Vorrang vor allem anderen hatte natürlich die militärische Frage, denn die Regierung forderte die Anhebung des militärischen Kontingents der Landesschützen. Auch wurde unablässig in die Befestigungen und Verteidigungsanlagen investiert. Schon mit seiner ersten Rede am 29. Mai bezog De Gasperi zu diesem Thema Stellung, das für seine Landsleute von größter Bedeutung war: „Wir wissen, dass unser Gebirgszug als ein entscheidender Schutzwall für die Verteidigung des Staates angesehen wird, dass diesem Umstand gezwungenermaßen Rechnung zu tragen ist. Aber wir müssen hervorheben, dass es hier bei uns außer den Bergen auch noch die Menschen gibt, die sie bewohnen. Und es geht nicht an, dass dieselbe Hacke, die unsere Berge niederreisst, um Festungen zu bauen, auch die wirtschaftlichen Arterien unseres Landes durchtrennt“23.

Mit dem für ihn typischen Realitätssinn behauptete er, diesen historisch und geographisch begründeten Zustand zu akzeptieren, aber auch, dass „der Staat [daher] die Pflicht hat, uns zu entschädigen“. Eine Forderung, die nach der von Stürgkh am 16. März angeordneten Schließung des Parlaments, kaum Unterstützung fand. Daher ließ De Gasperi mutig verlauten: 21 Vgl. Chi ha combattuto i privilegi e chi li sfrutta, in: Il Trentino, 7. Mai 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1696-1699. 22 R. Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, S. 229-230. 23 Vgl. A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1999.

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„wir wollen, dass uns die parlamentarische Tribüne wiedergegeben wird, die, obschon sie uns wenig geben kann, doch immer noch eine beachtliche Bedeutung vor allem für die Völker hat, die an den Grenzen der Monarchie leben und sich auf bürokratischem Wege kein Gehör verschaffen können“24.

Am 12. Juni25 kam er in einer Rede noch einmal auf dieses Thema zurück. Der neue Landtagsabgeordnete protestierte erneut gegen die Zustände in seiner Region, die in ihrer Entwicklung eingeschränkt und vom Gewicht militärischer Zwänge erdrückt wurde. Er hatte sich aber auch zu einer interessanten Überlegung hinreißen lassen, bedenkt man den Zeitpunkt, zu dem er sie anstellte. „Ich hatte die Gelegenheit, in der Bibliothek des Friedenspalasts in Den Haag26 die umfangreiche Literatur zum Thema Frieden zu bewundern, unter der ich eine ganze Reihe Titel kannte. Doch zwischen Pazifismus und Militarismus bin ich eher für Realismus und ich verstehe, dass man in jenen Büchern nicht nach Kriterien suchen soll, dass dies sinnlos wäre, um ein Gesetz zur Erhöhung des Militärkontingents im Tiroler Landtag zu beurteilen“27.

Die Reden De Gasperis fanden kein großes Echo. Die Situation war, wie sie war, auch wenn der Krieg noch nicht unmittelbar vor der Tür stand. Möglicherweise trugen sie dennoch dazu bei, die italienische Position zu stärken, um jene Investitionen zu erhalten, von denen bereits die Rede war. Es hat natürlich keinen Sinn, hier von nationaler Friedensfindung zu sprechen, denn die Spannungen hielten an. Ganz im Gegenteil, die Tiroler Presse, die die von den Italienern errungenen Positionen an einem wunden Punkt trafen, klagte nun sogar, man sei den Italienern nicht „gleichgestellt“. De Gasperis scharfe Replik ließ nicht auf sich warten28: Er wies auf die noch immer deutlichen Ungleichheiten hin, auf die Unterordnung der italienischen unter die deutschen Beamten, die nicht einmal Italienisch sprachen. Am 17. Juni standen in Trient die Kommunalwahlen an, die nach dem neuen Verhältniswahlrecht erfolgen sollten, an dessen Ausarbeitung De Gasperi beteiligt gewesen war. Der Direktor des „Trentino“ hatte sich nicht mehr als Kandidat aufstellen lassen: Als Parlamentarier in Wien und Abgeordneter 24

Ebd., S. 2001. In der Zwischenzeit hatte er weitere Beiträge zu eher nebensächlichen Themen und zu Detailfragen verfasst. Der bedeutendste behandelte die Verteidigung des Rechts auf Auswanderung auch für potenziell wehrtüchtige Männer; ebd., S. 2002-2008. 26 Ihn hatte De Gasperi knapp ein Jahr zuvor besucht; vgl. Visitando il palazzo di giustizia, in: Il Trentino, 27. September 1913, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1599-1602. 27 A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 2011. 28 Eguale diritto, in: Il Trentino, 19. Mai 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1704-1706. 25

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in Innsbruck hatte er wohl diese Ebene hinter sich gelassen, die den ersten Schritt auf seinem Weg zum Berufspolitiker dargestellt hatte29. Dieses Mal, so das Urteil De Gasperis, war der Wahlkampf nicht besonders leidenschaftlich geführt worden, wie er wenige Tage vor dem Urnengang schrieb: „Wir stehen am Vorabend der Wahlen und doch scheint es fast, als sei dem nicht so! Kein Waffengerassel, das den großen Kampf ankündigt, auch die kümmerliche Polemik – obwohl es nicht an Versuchen galliger Rückwärtsgewandter gefehlt hat – hat es nicht geschafft, um uns herum die bissige Atmosphäre der alten Faktionen herzustellen“30.

Das war, seiner Meinung nach, „die optimale Auswirkung“ des Verhältniswahlrechts, das die Parteien dazu veranlasst hatte, sich eher auf die Polarisierung ihrer Wählerschaft zu konzentrieren als auf ein Handgemenge mit dem Gegner. Der Direktor verstieg sich gar in die Vorstellung, aus diesem System könne die Gepflogenheit erwachsen, „an alle Listen für eine proportionale Kombination der Exekutive zu appellieren“: Ein vielleicht etwas eigenartiger Vorschlag von einem Mann mit seinem politischen Realitätssinn, der wohl trotz allem hoffte, man könnte eine verwaltungstechnische Vision, vielleicht „mit völlig apolitischem Charakter“ anvisieren, von der er – man weiß nicht, aufgrund welcher Anhaltspunkte – glaubte, es gebe sie „in Mailand, in Venedig und in Neapel“. Dass das Klima zu Beginn jenes Sommers recht positiv war, lässt sich auch aus der Zufriedenheit schließen, mit der er sich Anfang Juli zur guten Arbeit im Landtag von Innsbruck äußerte, in dem in der Tat zahlreiche Maßnahmen in Sachen Autonomie und Verwaltung beschlossen worden waren31. Doch nun überschlugen sich die Ereignisse. Am 29. Juni wurde Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet und das Habsburger System geriet in einen Sog aus Frustration und Behauptungswillen, was in Verbindung mit den internationalen Spannungen zum Ausbruch des Konflikts führen sollte. Als erste Reaktion des „Trentino“ überwog allerdings das Mitleid mit dem 29 So erklärte er das selbst auf einer Kundgebung: „Er kann seine erneute Kandidatur nicht akzeptieren, vor allem auch, weil er nur einen winzigen Teil seiner Tatkraft dafür geben kann, denn er ist schon durch zahlreiche Aufgaben belastet. Die Freunde mögen ihm erlauben, dass er jenen mittlerweile sehr geringen Teil seiner Zeit und seiner Kräfte, der ihm nach der Befreiung von seinen öffentlichen Ämtern verbleibt, der Verbreitung seiner Ideen widme“. Vgl. Il comizio di ieri sera per le elezioni comunali, in: Il Trentino, 29. Mai 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1706-1708. 30 La nostra via, in: Il Trentino, 12. Juni 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1708-1711. 31 Giornate di lavoro, in: Il Trentino, 7. Juli 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1711-1713.

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Kaiser, „dem fast hundertjährigen Greis“, der öffentlich hatte kundtun lassen: „Dieser neue Schlag ist auf den unergründlichen Willen Gottes mir und den Meinen gegenüber zurückzuführen“32. De Gasperi war längst ein erfahrener Beobachter der internationalen Politik und er wusste nur zu gut, dass sich eine schwierige Phase anbahnte, und das nicht nur international. Die Spannungen in jenem Juli sollten das Misstrauen unter den Nationalitäten neu entfachen. Er beobachtete dies am Ende eines Artikels über die Anschuldigungen bezüglich dessen, was in Sarajevo passiert war und wofür man das „System Biliński“ verantwortlich machte (Biliński war der Finanzminister, dem man die Regierung Bosniens anvertraut hatte und der eine tolerante Haltung gegenüber den verschiedenen Ethnien eingenommen hatte)33, und schrieb, die „Innsbrucker Nachrichten“ hätten sofort geschrieben, jenes System „blühe auch anderswo. Man ist sofort versucht, einen Vergleich mit dem Verhalten unserer Behörden gegenüber dem italienischen Irredentismus im Trentino anzustellen“34. Und De Gasperi kommentierte, wohl ahnend, was passieren würde: „Die Gedanken drängen in diese Richtung. Das ist der atavistische Instinkt der Väter“. Am 31. Juli gab es keinen Zweifel mehr am Ernst der Lage35 und schon am 3. August brachte er eine Ausgabe mit dem Titel „Der große Krieg ist ausgebrochen“36 heraus. Die Stunde war gekommen, so beschrieb es der Direktor des „Trentino“ und Wiener Abgeordnete ganz im Stil seiner katholischen Kultur mit ihrem Sinn für Tragik: „Die Stunde Gottes: Er verbirgt im Mysterium seines hohen Rates die Gründe für die Strafe und das unmittelbare und ferne Schicksal der Menschen“. Dass es eine äußerste Prüfung war, daran hatte er keinen Zweifel. Alles, was den Ausbruch des Konfliktes zurückgehalten hatte, sah er zusammenbrechen: „das von der europäischen Diplomatie mit gezielten Maßnahmen, mit Täuschungen und ehrlichen Absichten mühsam errichtete Gebäude“, „die pazifistischen Lehren“, „der breite Strom der Sympathien … für das

32 La concezione cristiana del dovere, in: Il Trentino, 8. Juli 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1713-1715. 33 Zu den Kritiken an Biliński nach dem Attentat siehe G. Kronenbitter, „Krieg im Frieden“, S. 463-465. 34 Cose della Bosnia, in: Il Trentino, 9. Juli 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1716-1718. 35 La gravità della situazione internazionale, in: Il Trentino, 31. Juli 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1720-1721. 36 La grande guerra è incominciata, in: Il Trentino, 3. August 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1721-1722.

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gemeinsame Ideal des menschlichen Fortschritts“, die Beziehungen, „die dem immensen Netz aus Wechselbeziehungen und den sich daraus ergebenden unkalkulierbaren Diensten entwachsen“. All das zog sich zurück „angesichts des harten Schicksals des Kriegs … Ein unausweichliches Schicksal …, gegen das die Menschen ohnmächtig sind, wenn seine tragische Stunde schlägt“37. Wie zu sehen ist, hatte De Gasperi sofort die Rolle des Kriegs als historischen Wendepunkt erkannt: Was angesichts all der Diskussionen und zahllosen Zukunftsprognosen, die es ähnlich so gut wie überall in Europa gegeben hatte, auch nicht allzu schwierig gewesen war. Für das Trentino stellte sich das Problem noch komplexer dar, denn man wusste nur zu gut, dass man in einem Grenzgebiet lebte. Schon bei anderen Gelegenheiten war man versucht gewesen, das Trentino als Tauschpfand zwischen Österreich und Italien zu benutzen. Zu Beginn konnte man vielleicht noch hoffen, dass die Ereignisse nicht die tragischste Wendung nehmen würden, schließlich hatte Italien am 2. August seine Neutralität erklärt und noch bestand Hoffnung auf einen kurzen oder wenigstens nicht allzu langen Krieg. Wie alle Reichsangehörige der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie waren auch die Trentiner mobilisiert worden und die Truppen brachen zu weit entfernten Fronten auf: Überall waren die Menschen aufgewühlt38 und den Geistlichen fiel in dieser Stunde die Aufgabe der rituellen Begleitung zu, der sie selbstverständlich auch nachkamen. Und trotz der Befürchtungen der Behörden gab es keine Vorfälle, die die öffentliche Ordnung gestört hätten. In der allerersten Phase der Feindseligkeiten war De Gasperi in seinen Zeitungskommentaren sehr vorsichtig. Die Kriegsstrategien waren noch nicht klar artikuliert und die Position der Österreich-Italiener war äußerst problematisch. Das kann man sich leicht vorstellen, wenn man sich das Klima vor Augen führt, wie auf den vorangegangenen Seiten dargestellt. Aus diesem Grund hatte er in seinem Kommentar zu den Nachrichten aus der italienischen Presse, der zufolge das Trentino die neutrale Haltung Italiens unterstützte, zum einen gemahnt, dem Trentino auf keinen Fall „einen aktiven Part, den es nicht haben kann“, zuzuteilen. Dem fügte er hinzu, „kein Element [zu besitzen], anhand dessen er die Beziehungen, wie sie heute zwischen den Mächten des Dreibunds bestehen, beurteilen könnte“. Zum anderen beeilte

37 L’ora di Dio, in: Il Trentino, 6. August 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1722-1723. 38 Siehe dazu den Artikel, mit dem De Gasperi die Abfahrt des ersten Kontingents von Soldaten aus dem Trentino an die Front kommentiert: Il reggimento parte …, in: Il Trentino, 7. August 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1723-1724.

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er sich zu versichern, dass „nichts den Wünschen von Tausenden und Abertausenden Trentinern, die gegen das Slawentum in den Krieg gezogenen sind, mehr entsprechen würde, als sich von dem großen Teil der Nation unterstützt zu wissen, der als politisch-militärische Einheit organisiert ist und der ohne Zweifel mit uns die Risiken und Gefahren einer eventuellen Übermacht des Slawentums teilen würde“39. Es ist nicht einfach, einen Einblick in die wirklichen Gefühle der Bevölkerung im Hinblick auf den Krieg zu bekommen. Die schon mehrfach herangezogenen Erinnerungen Sestans ergeben ein anderes Bild, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sein Blick durch den Filter späterer Sichtweisen geprägt ist: Damals war der berühmte Historiker ein junger Gymnasiast, und die späteren Erinnerungen an den Krieg standen sicher unter den Eindrücken des Patriotismus der faschistischen Ära. Wie dem auch sei, hier Sestans Sicht aus dem Nonstal, wo der Gymnasiast in Coredo Ferien machte: „Nach meiner Erinnerung muss ich sagen, dass jene Kriegserklärung, dieser Aufruf zu den Waffen unter den Bergbauern weder Begeisterung noch Entsetzen auslöste. Unter den Frauen gab es Entsetzen, doch nicht wegen der Kriegsgefahren, sondern weil die Mobilisierung Arbeitskräfte ausgerechnet beim Einbringen des Heus entzog, dem größten Reichtum dieser Menschen. Doch alle waren der Meinung, dass es sich um einen militärischen Spaziergang von kurzer Dauer handeln würde: Die Pessimisten sagten, dass Weihnachten alles vorbei sein wird: ‚Wir werden es diesem ‚Nikita‘ beibringen‘, hörte ich diese Eingezogenen sagen; denn seltsamerweise sprach niemand von Serbien und noch weniger von Russland, das noch nicht in den Krieg eingetreten war, doch alle redeten, als handelte es sich um einen Schlagabtausch mit Montenegro, voller Ironie über die Herausforderung, die dieser Zwergstaat sich gegenüber dem österreichisch-ungarischen Koloss erlaubt hatte. Die eingezogenen Soldaten brachen noch in derselben Nacht auf, und Tags darauf war alles wieder ruhig und so ging es noch viele Tage weiter; erst Ende September, als wir wieder zurück in Trient waren, kamen die ersten, vagen Nachrichten von Toten und Verletzten unter den eingezogenen Trentinern“40.

Schon bald wurde klar, dass sich das Verhältnis zu Italien verkomplizieren würde. Am 20. September hatte es in Rom eine große Demonstration von Vertretern des demokratischen Interventismus gegeben, und am 5. November war der Ministerrat unter Salandra mit Sonnino als Außenminister erneut im Amt bestätigt worden, was als ein Schritt hin zur aktiven Teilnahme Italiens am Kriegsschauspiel gewertet wurde (auch hörte man in der Parlamentsdebatte vom 5. Dezember über das Vertrauensvotum gegenüber der Regierung viele Stimmen, die die Intervention befürworteten). Der neue Papst (Pius X. war am 20. August gestorben und Kardinal Giacomo Della Chiesa wurde am 5. September unter dem Namen Benedikt XV. 39

A proposito di un’opinione a noi attribuita, in: Il Trentino, 13. August 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1727-1728. 40 E. Sestan, Memorie di un uomo senza qualità, S. 81-82.

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sein Nachfolger) hatte Anfang November den Krieg in seiner Enzyklika Ad beatissimi apostolorum principis cathedra41 verurteilt. In diesem Klima blieb De Gasperi nicht untätig. Auch wenn es bis heute unmöglich ist zu sagen, ob ihn sein persönliches Pflichtgefühl oder ein Anstoß vonseiten seines Bischofs (oder beides) dazu antrieb – Tatsache ist, dass er sich einer heiklen aber wichtigen Aufgabe annahm: herauszufinden, was hinter den Kulissen vor sich ging, damit das Trentino dem künftigen Geschehen nicht unvorbereitet ausgeliefert sein würde. Vielleicht spielte auch die Unterredung mit dem neuen Papst am 18. November 1918 eine Rolle, von der er in seiner Zeitung kurz berichtete42. Zumindest liefert eine Bemerkung in diesem Artikel den Schlüssel zum Verständnis seiner schwierigen Lage in jenen Tagen. „Und ohne Auftrag, ohne Genehmigung, aber auch ohne jede Anmaßung, und aufgrund einer spontanen und natürlichen Verbundenheit mit den innersten Fasern unseres Volkes, aufgrund einer intensiven Kommunion mit dem Geist, der in diesem Moment alle unsere doppelt brüderlichen Herzen durchdringt und schlagen lässt, habe ich mich als Interpret aller unserer Seelen gefühlt, vor allem jener, die am grausamsten leiden“.

Dass von italienischer Seite Forderungen gestellt wurden, um aus der neutralen Position Nutzen zu ziehen, war allseits bekannt. Zudem drängte auch Deutschland in diese Richtung und schickt Fürst von Bülow als Vermittler nach Rom43. Aus vielerlei Gründen war das eine alte Geschichte, denn Italien fühlte sich in Berufung auf Artikel 7 des Dreibunds zu „Kompensationen“ berechtigt, sollte sich das Habsburgerreich auf dem Balkan ausbreiten. Und diese „Kompensationen“ zielten aus historischen Gründen stets auf die „terre irredente“, die „unerlösten Gebiete“. Es ist bereits geschildert worden, wie man über diese „Kompensationen“ schon zur Zeit der Annexion Bosniens gesprochen hatte. Es handelte sich allerdings um eine äußerst heikle Angelegenheit, die gerade De Gasperi als Habsburger Reichsangehöriger sehr wohl verstand. 41 De Gasperi kommentierte sie in dem Artikel: La parola dell’amore, in: Il Trentino, 18. Dezember 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1733-1736. 42 Una sosta a Roma (Frammenti di pensiero), in: Il Trentino, 24. November 1914, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1731-1733. 43 Diese Vorgänge sind weitgehend bekannt, sodass hier einige bibliografische Verweise genügen mögen: L. Riccardi, Alleati non amici, Brescia 1992; G.E. Rusconi, L’azzardo del 1915. Come l’Italia decide la sua guerra, Bologna 2005. Die umfassendste Analyse dieser komplizierten Situation ist natürlich nach wie vor die klassische, aber nach Auffassung des Autors unübertroffene Arbeit von L. Valiani, La dissoluzione dell’Austria-Ungheria, S. 85-120, auf ihr gründet sich auch weitgehend die folgende Analyse.

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Sehr viel weniger Verständnis brachten hingegen die italienischen Führungskreise dafür auf, sogar was den relativ klaren Standpunkt im Hinblick auf die Geografie betraf, wie wir noch sehen werden. Das Problem hatte zwei Seiten. Der kompliziertere Aspekt betraf sicher Triest – und zugleich das, was den italienischen Imperialismus am meisten interessierte. Für Österreich ging es hier um seinen einzigen bedeutenden Hafen und in der Mentalität der Zeit war man ohne einen Meerzugang und eine gut ausgerüstete Flotte keine echte „Macht“. Hinzu kam, dass Triest eine reiche Stadt war, mit vielen österreichischen Handels- und Versicherungsgesellschaften, und einer gemischten Bevölkerung, sodass man annehmen konnte, dass hier kaum auf die Nationalitätenfrage gepocht worden wäre. Für das Trentino sah die Sache anders aus. Hier kam der sentimentale Patriotismus der Habsburger ins Spiel, die Vorstellung vom Erbland, das heilige Vermächtnis der Geschichte, Tirol als Herzstück der Monarchie. Und dieses Tirol reichte in der österreichisch-deutschen Vorstellung bis an die Gebietsgrenzen von Verona heran. Dazu kam die lange interne Auseinandersetzung mit den Trentinern, denen man nicht nachgeben wollte. Und dann war da noch der Gedanke, dass man die Früchte der großen Schlacht nicht verlieren wollte, die man mit Erzherzog Albert, dem letzten großen General und Helden des Zeitalters, an den südlichen Grenzen zur Rettung der Monarchie gewonnen hatte (Custoza 1866, einer der wenigen Siege des Reichs im 19. Jahrhundert)44. Schließlich gab es noch ein paar „romantische“ Motive, etwa die Sorge des alten Kaisers um die Trentiner, die, einmal an Italien angeschlossen, nicht mehr gewusst hätten, wo sie ihren Wein verkaufen sollten45. Es sei noch angemerkt, dass das Trentino in Wirklichkeit niemandem echte Sorgen bereitete: abgesehen von den Überreaktionen auf den Irredentismus, gab es keine Probleme öffentlicher Ordnung. Es wurde nicht notwendig, 44 R. Schober, L’arciduca Alberto alla corte d’Asburgo: militare di rango e politico sottovalutato, in: Il luogo di cura, S. 301-321. Man beachte, dass Erzherzog Albert den letzten Abschnitt seines Lebens im Trentino, genauer in Arco, verlebt hat. Ebenso bedeutend ist die übergenaue (um nicht zu sagen, kleinkarierte) Auflistung sämtlicher Niederlagen, die Österreich Italien in der Vergangenheit zugefügt hatte, in der Manifest-Ansprache „An meine Völker“ – dem Armee-Befehl, mit dem der Kaiser die Bevölkerung vom Kriegseintritt mit Italien in Kenntnis setzte. „Der neue heimtückische Feind im Süden – erklärte der Kaiser – ist ihnen kein neuer Gegner: die grossen Erinnerungen an Novara, Mortara, Custozza [sic], und Lissa, die den Stolz Meiner Jugend bilden und den Geist Radetzky’s bilden, Erzherzog Alberts und Tegetthofs, der in meiner Land- u. Seemacht fortlebt, bürgen Mir dafür, dass wir auch gegen Süden hin die Grenze der Monarchie erfolgreich verteidigen werden“; hier zitiert nach G. Pircher. Militär, Verwaltung und Politik in Tirol im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 1995, S. 90. 45 Zitiert aus M. Guiotto, Un giovane leader politico, S. 113.

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das Gebiet militärisch zu kontrollieren, und selbst die Polizei gab zu, dass sich das Volk loyal verhielt. Das zeigte sich auch an der Tatsache, dass die Einberufung praktisch problemlos vonstattenging: Bei einer Bevölkerung von 393.111 Einwohnern wurden etwa 60.000 Mann in die Habsburger Armee eingezogen, denen 757 gegenüberstanden, die nach Italien gingen und sich dort als Freiwillige meldeten. Diesen Aussagen muss hinzugefügt werden, dass die Situation in Wien ziemlich unklar war. Im Juli hatte Conrad die Sorge geäußert, nicht über genügend Truppenverbände zu verfügen, um auch eine dritte Front beschicken zu können. Doch Außenminister Berchtold war anfänglich wenig geneigt, etwas zu unternehmen, was Italien einen Vorteil gebracht hätte – vom Widerstand des Kaisers ganz zu schweigen. Als man am 8. August 1914 im Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten (zwischen Österreich und Ungarn) begann, über die Eventualität einer Abtretung des Trentino nachzudenken, brachte Stürgkh seine Idee vor – die allerdings abgelehnt wurde –, Italien zu täuschen: nämlich so zu tun, als würde man das akzeptieren, allerdings unter der Bedingung, die Übergabe auf nach dem Krieg zu verschieben, um dann aber diese Zusage rückgängig zu machen („Gegen solche Ganoven, wie es die Italiener jetzt sind, ist kein diplomatischer Winkelzug zu niederträchtig“)46. Dieser Vorschlag sollte nie ganz in Vergessenheit geraten (auch Kaiser Wilhelm II. fand Gefallen an ihm): Es ist unklar, ob die Italiener darüber informiert worden waren, sicherlich ahnten sie dergleichen, was dazu führen sollte, dass die Verhandlungen zwischen den beiden Partnern immer durch gegenseitiges Misstrauen getrübt wurde. Auch sonst war die Lage derart angespannt, dass Wien im August seinen Botschafter in Rom auswechseln musste: für den erfahrenen Mérey, der einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, kam Baron Macchio, über den die Zeitgenossen wenig positiv urteilten, auch wenn die Geschichtsschreibung das nicht ganz nachvollziehen kann. Ihm, Macchio, war die anti-österreichische Stimmung in Italien sehr wohl bekannt (im September war es zu Demonstrationen vor seiner Botschaft gekommen), und er wusste, dass die Öffentlichkeit über den berühmten, immer wieder zitierten Artikel 7 des Dreibunds über die Kompensationen sehr wohl informiert war. Es ist allseits bekannt, dass auch Fürst Bülow, der ehemalige Kanzler, mit der Absicht nach Rom kam, Italien aus dem Krieg herauszuhalten, und dass auch er dafür die Abtretung des Trentino an Italien in Erwägung zog. Natürlich berührten diese diplomatischen Spiele auch den Vatikan, zum einen grundsätzlich aufgrund seines Ansehens, zum anderen, weil man wusste, dass der Papst für den Frieden eintrat und dass die katholische Bewegung 46

Zitiert nach L. Valiani, La dissoluzione dell’Austria-Ungheria, S. 93.

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eine „internationale“ Kraft47 war, die sich daher zugunsten der italienischen Neutralität verwenden ließ, auch angesichts der Tatsache, dass die politischen und militärischen Spitzen Italiens bekanntermaßen eher antiklerikal eingestellt waren. Einigermaßen über die Lage informiert, begann sich De Gasperi aktiv darum zu bemühen, herauszufinden, was vor sich ging48. Zu jenem Zeitpunkt genoss er eine gewisse Bewegungsfreiheit, denn seit September gehörte er einer Kommission an, die sich mit Billigung der österreichischen Regierung um die Problematik der Nahrungsversorgung im Trentino zu kümmern hatte, wofür er ins neutrale Italien – nach Verona, nach Mailand und Rom – reiste49. Bereits Anfang Oktober 1914 war De Gasperi in Rom gewesen und hatte dort auch den österreichischen Botschafter getroffen, der am 6. Oktober seine Regierung darüber unterrichtet hatte50. Der Abgeordnete, so der Botschafter,

47 Das entsprach nicht der Wahrheit, auch nicht für die Sozialisten: Die Frage der nationalen Zugehörigkeit gewann die Oberhand über die gemeinschaftliche Ideologie, dennoch blieb die Vorstellung von der „internationalen“ Kraft des Sozialismus eine verbreitete Illusion (siehe hierzu auch das Schlusswort). 48 Diese Begebenheit ist dank der herausragenden Untersuchung von U. Corsini, Il colloquio De Gasperi-Sonnino, seit vielen Jahren bekannt. 49 M. Dematté, Degasperi all’alba, S. 117-118. 50 Dieses Dokument ist in den Memoiren Generals Franz Conrad von Hötzendorf (Aus meiner Dienstzeit 1906-1918, 5 Bde., Wien 1921-1925, hier Bd. 5, S. 113) veröffentlicht worden, und zitiert von G. Valori, De Gasperi al Parlamento austriaco, Florenz 1953, S. 89-91. Valoris Studie hat einen polemischen Ansatz, der darauf abzielt, De Gasperi als keinen guten italienischen Patrioten darzustellen: obschon reich an Material, ist die Studie extrem einseitig und irreführend. Valori, ein sozialistischer Publizist, verfasste sie nicht zufällig genau in der Zeit der Polemiken über das Schwindelgesetz, die „legge truffa“. Er stand in Kontakt mit Ernesta Battisti, der Witwe Cesare Battistis, sowie mit deren Freundin Bice Rizzi, der Direktorin des Museo del Risorgimento in Trient: Beide galten als die leidenschaftlichen Hüterinnen der „irredentistischen“ Erinnerung des liberalen und des sozialistischen Flügels und sie sahen es höchst ungern, dass De Gasperi, dessen Partei schon damals mit ihren Wahlergebnissen die „irredentistische“ Ausrichtung überstimmt hatte und der zum Fürsprecher eines „positiven Nationalismus“ geworden war, nun erneut innerhalb der italienischen Politik auf der Gewinnerseite stand. So war es nur natürlich, dass die Witwe Battisti und ihre Freundin höchst gereizt auf den Versuch verschiedener Schönredner reagierten, die De Gasperi ebenfalls eine gewisse Form von „Irredentismus“ zuschreiben wollten, dabei waren doch sie es, die das Monopol des Verdienstes der „nationalen Erlösung“ innehatten. Vor diesem Hintergrund entstanden die Polemiken, die vor allem die Witwe Battisti gegen diese Schönrednereien führte, die tatsächlich manchmal ans Lächerliche grenzten, etwa, wenn behauptet wurde, De Gasperi und Battisti seien „Freunde“ gewesen oder dass sie herzliche Beziehungen zueinander unterhielten (ganz im Gegenteil hatten sich die beiden mit allen Mitteln politisch erbittert bekämpft). Es stimmt, dass die Witwe Battisti zugab, De Gasperi sei tatsächlich nie „anti-italienisch“ eingestellt gewesen, doch das schien ihr nicht zu

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suche nach einer Zusicherung, dass die Möglichkeit eines bevorstehenden Krieges mit Italien unbegründet sei, was ihm der Botschafter auch bestätigt habe, in der Hoffnung, De Gasperi würde diese Eindrücke den Spitzen der italienischen katholischen Bewegung mitteilen. Macchio war sicher, dass das besonders nützlich sein konnte, denn „Herr Degasperi [scheint] von der unbedingten Reichstreue, insbesondere der Südtiroler Landbevölkerung, überzeugt und [tat] z.B. die bezeichnende Äußerung …, man solle doch ein Plebiszit veranstalten; man würde sehen, daß 90% für Österreich optieren“. Wir wissen nicht, wie diese Informationen in Wien aufgenommen wurden, wo man zudem auf die Meinung der untergeordneten Völker wenig gab (und in diese Richtung zielte der ungarische Ministerpräsident Tisza, der von Nationalitätenfragen nichts wissen wollte, da diese ihm seine von Rumänen bewohnten Gebiete streitig gemacht hätten). Tatsache ist, dass sich im Januar 1915 die österreichische Führung auch auf Informationen ihres Botschafters im Vatikan, Fürst Schönburg, hin, davon überzeugte, dass Italien zum Kriegseintritt tendierte (während es zu dieser Entscheidung tatsächlich erst Anfang Februar kam) und dass man nunmehr ernsthaft in Betracht ziehen musste, das Trentino an Italien abzutreten. Auch in diesem Fall lief es nicht gut für Berchtold, denn Tisza zwang ihn zum Rücktritt und ersetzte ihn Mitte des Monats durch Burián: In Wien wollte man weiterhin nichts davon wissen, „Südtirol“ abzugeben (die Bezeichnung „Trentino“ war tabu) und der Kaiser gab vor, seine treuen Südtiroler nicht verraten zu dürfen, die dann nicht gewusst hätten, wo sie ihren Wein verkaufen sollten51. Ein weiteres Element machte die Sache noch komplizierter: Am 1. Februar veröffentlichte Giolitti in der „Tribuna“ seinen berühmten offenen Brief, in dem er feststellte, dass Italien „allerhand“ zu gewinnen habe, sollte es sich aus dem Krieg heraushalten und stattdessen verhandeln. Das ließ immerhin die Illusion aufkommen, dass eine Abtretung des Trentino doch noch als etwas Positives für beide Mächte ausgehandelt werden konnte. Auch der Papst hatte das in einer Audienz am 28. Februar 191552 dem deutschen Zentrumspolitiker Erzberger gegenüber vertreten. Das konnte Wien nicht gleichgültig lassen. Am 3. März schrieb Außenminister Graf Burian in sein Tagebuch, dass die italienische Forderung kaum abzulehnen sei, da es um die militärische Lage schlecht stehe; am 5. März sandte Macchio einen Bericht in seine Hauptstadt, in dem er von einer Unterredung mit Facta erzählte, der ihm von Giolitti geschickt worden war, und in der genügen, um ihn zu den Nationalisten zu zählen. Zu diesem Thema vgl. jetzt die kluge Biografie über Bice Rizzi: P. Antolini, Vivere per la patria, Trient 2006, S. 342-349. 51 Zitiert nach M. Guiotto, Un giovane leader politico, S. 113 Anm. Das war am 25. Januar 1915. 52 Zitiert nach L. Valiani, La dissoluzione dell’Austria-Ungheria, S. 104.

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der Italiener dazu riet, sich mit den Konzessionen zu beeilen, da sich die Regierung sonst auf einen Kriegseintritt vorbereiten würde. Damit wurde am 8. März in Wien die Abtretung des Trentino beschlossen, doch mit einer ganzen Reihe von Hintergedanken: Stürgkh sagte das Trentino zu, nicht aber die Grenzverlegung am Isonzo; in jedem Fall würde man diese Abtretung erst nach Abschluss des Krieges einleiten; und Conrad fügte hinzu, dass man dann die erste Gelegenheit ergreifen würde, um Italien eine Lektion zu erteilen. Auf jeden Fall wurde beschlossen, Italien davon zu unterrichten, dass man grundsätzlich bereit war, das Trentino abzutreten, und diese Mitteilung überbrachte Macchio dann auch umgehend53. Wir wissen nicht, wie weit De Gasperi über diesen komplizierten diplomatischen Austausch informiert war, aber etwas wird er gewusst haben (aus vatikanischen Quellen?). Mittlerweile wurde die Abtretung des Trentino auch in der Presse diskutiert – und nicht nur in der italienischen. Daran sollte sich der Trentiner Abgeordnete am 4. Oktober 1918 im Wiener Parlament erinnern, als er über diese Phase sprach. Er war von „einem amerikanischen Journalisten“ kontaktiert worden, der für Presseorgane arbeitete, die den Mittelmächten nahestanden und „… der in der kritischen Zeit nach Trient kam und mich fragte, welche Erklärungen zu dieser Sache [das Abtreten der Provinz an Italien]) wir Abgeordnete des Landes der Regierung gegenüber abgegeben hätten“54.

Somit machte sich der Direktor des „Trentino“ nach Wien auf, höchstwahrscheinlich zwischen Ende Februar und Anfang März 1915, um seinen Freund Friedrich Funder, den Direktor der „Reichspost“ zu besuchen. Er wusste, dass dieser in höfischen Kreisen und den Entscheidungsebenen der Außenpolitik sehr gut eingeführt war. Hier sei das herangezogen, was Funder in seinen Erinnerungen erzählt, die allerdings nicht zu wörtlich genommen werden dürfen, wenn man bedenkt, dass er sie erst Anfang der Fünfzigerjahre niedergeschrieben hat. Darin55 erzählt er, dass De Gasperi den Freund 53

Ebd., S. 104-108. A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1979. 55 F. Funder, Vom Gestern ins Heute, S. 527-528. Wie hinreichend bekannt ist, unterließ es Funder, De Gasperi namentlich zu erwähnen, stattdessen sprach er von einem Abgeordneten, der eine herausragende Stellung bekleidete, der ein Österreichitaliener war und den er bereits aus Universitätszeiten kannte. Er hatte die Nennung des Namens bewusst unterlassen, weil das, was er schreiben würde, De Gasperi zu jener Zeit (1952) schaden konnte, denn gegen ihn lief in Italien eine heftige Kampagne aufgrund seiner „österreichfreundlichen“ Haltung, und das sowohl von extrem rechter Seite als auch vonseiten der kommunistischen Partei Italiens. Das reichte bis hin zu so lächerlichen Vorwürfen wie, er habe die Hinrichtung von Battisti von den Bänken der Regierungsvertreter im Parlament aus beklatscht. Das war ganz offenkundig absurd, nicht nur, weil De Gasperi nie Mitglied jener Regierung gewesen war, sondern auch, weil zum Zeitpunkt von Battistis Hinrichtung im Juli 1916 das Parlament bereits seit 54

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aufgesucht habe, damit dieser ihm „nur reinen Wein“ einschenke56, und dass er wissen wollte, ob es wahr sei, dass man zur Abtretung des Trentino an Italien neige. Auch hier hatte er wiederholt: „Die Lage ist doch so: 95% der italienischen Bevölkerung Südtirols neigt infolge ihrer natürlichen Interessen zu Österreich, zu dem sie durch Jahrhunderte gehört haben“. Nachdem er erfahren hatte, dass Deutschland tatsächlich auf die Abtretung drängte und dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gab, dass es dazu kommen würde, soll er hinzugefügt haben: „Sie können von uns katholischen Südtirolern nicht verlangen, daß wir für euch die Haut zu Markte tragen. Bedenken Sie die Verantwortung, die wir Führer vor unserem Südtiroler Volk tragen!“. Beide Begebenheiten, sowohl die Begegnung mit Macchio als auch die mit Funder, wurden oft als Beleg für De Gasperis „Österreichfreundlichkeit“ angeführt. Doch in Wirklichkeit war De Gasperi kein „Österreichfreund“, interpretiert man die Begebenheiten in dem hier dargestellten Kontext. Zum Gesamtverständnis müssen wir allerdings auch das Gespräch analysieren, das er am 16. März 1915 mit Sonnino führte und das der Außenminister wohl nur kurze Zeit später in seinem Tagebuch festhielt57. Nach den Erinnerungen von Giuseppe Mattei war dieser Schritt direkt vom Bischof vorgeschlagen worden. „Das, was ich weiß, da ich es von ihm erfahren habe, ist, dass er anlässlich seiner Reise mit dem Versorgungskomitee nach Rom vom Bischof von Trient, Monsignore Celestino Endrici, damit beauftragt worden war, zu versuchen, etwas über die Absichten der italienischen Regierung zum Thema Kirchenpolitik in den neuen Provinzen herauszufinden“58.

zwei Jahren geschlossen war. Der Dank des Autors geht an dieser Stelle an Stefano Cavazza, der bei seinen Forschungen zu den Wahlkampagnen auf diese Information gestoßen war. 56 F. Funder, Vom Gestern zum Heute, S. 528. 57 S. Sonnino, Diario, Bd. 2: 1914-1916, Bari 1972, S. 107-108. 58 Vgl. M. Dematté, Degasperi all’alba, S. 119. Der Autor schrieb das, um eine These, die Senator Enrico Conci in einem Interview mit der Trentiner Tageszeitung „L’Adige“ vertreten hatte, zu widerlegen. Nach dieser These Concis zielte der Plan De Gasperis, mit Sonnino zu reden, darauf ab, die Möglichkeit einer teilweisen Abtretung des Trentino zu verhindern. In Wirklichkeit schließen sich die beiden Hypothesen nicht aus: Einerseits ist klar, dass die Trentiner Kirche den Verlust vieler Privilegien, die sie unter der Habsburger Herrschaft genoss, befürchtete, auch dank der vorteilhaften Gesetzgebung in Tirol, die klerikal-konservativ war; andererseits war die „geografische“ Frage stets gegenwärtig: Es waren vor allem die österreichischen Behörden, die den italienischen Teil um ein ganzes Stück verkleinerten, indem sie behaupteten, dass zum Beispiel die Täler Fiemme und Fassa sowie das obere Nonstal und weitere Gebiete nicht dazugehörten. Gegen diese „beschränkte“ Sicht des Trentino hatte De Gasperi bei zahlreichen Gelegenheiten immer wieder polemisiert.

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De Gasperi kommt in Rom an und wird dem Außenminister vom katholischen Abgeordneten Longinotti als „Katholik mit italienischem Empfinden“ vorgestellt. Dem Minister erläutert er eine „gespaltene“ öffentliche Meinung im Trentino: „Einige eifern nach dem Italienischsein, viele sind besonnener, aber keineswegs ablehnend; doch fürchten sie um ihre materiellen Belange“. Interessant ist, dass die Liste der aufgeführten Befürchtungen im Wesentlichen mit der identisch ist, die er Funder vorlegte (Interessen der Winzer; Probleme bei Gemeindeverwaltungen, dem Klerus und den Lehrern). Nur ist in diesem Fall die Perspektive eine andere: „Er sagt, dass all diese Befürchtungen den Ausgang einer Volksabstimmung ungewiss machen, vor allem angesichts des Drucks vonseiten der österreichischen Behörden“. (Und warf beiläufig ein: „Im Fall einer Annexion müsste man nach einem Ausgleich suchen“.) Sonnino fand, dass die von seinem Gesprächspartner vorgebrachten Aspekte keineswegs banal waren und bat ihn um einen schriftlichen Bericht. Hier kann nicht weiter auf die Besorgnis eingegangen werden, die diese Begebenheit – die bald öffentlich wurde – im Trentiner fuoruscitismo (also bei jenen, die sich vom Habsburgerreich lösen wollten) hervorrief, wo man auf einen Krieg drängte und auch bereit war, dafür Lügenmärchen zu verbreiten, wie das vom mangelhaften österreichischen Militärschutz in der Provinz. Hier geht es vielmehr darum, zu analysieren, was De Gasperi mit diesem nicht autorisierten Vorstoß wirklich im Sinn hatte. Wer diese Art politischer Verhandlungen kennt, wird sein Verhalten leicht nachvollziehen können. Der Trentiner Abgeordnete sah ein Szenarium vor sich, – und zwar die Abtretung des Trentino an Italien –, das ganz gewiss Probleme verursacht hätte. Dass darüber verhandelt wurde, war kein Geheimnis: Sogar in den Zeitungen war die Rede davon, auch wenn die genauen Bedingungen nicht bekannt waren. Die erste Herausforderung war es also, herauszufinden, was daran wahr war, und dazu musste er sich seinen Gesprächspartnern als jemand präsentieren, der einen ähnlichen Standpunkt vertrat (man bedenke etwa, dass Funder und die „Reichspost“ nationalistische Positionen einnahmen59, die in der Tageszeitung „Il Trentino“, wenn auch zurückhaltend, kritisiert worden waren). De Gasperi konnte sich auch vorstellen, dass im Fall einer Abtretung eine Volksabstimmung unvermeidbar gewesen wäre: Denn wenn man schon bei allen Annexionen im Risorgimento so vorgegangen war, wäre es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weniger vorstellbar gewesen, Völker wie Pakete auszuhändigen.

59 Zum Nationalismus der Christlichsozialen, der als Teil eines insgesamt immer nationalistischeren Kontextes zu sehen ist, der sich in jenen Jahren in Österreich manifestierte, siehe J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S. 344-387. Dieses Phänomen – mit De Gasperis direkter Stellungnahme – hatte man bereits anlässlich des italienisch-türkischen Krieges beobachten können (siehe dazu das vorherige Kapitel).

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Da er ein scharfsichtiger Politiker und kein Träumer war, konnte er sich bestens vorstellen, was das bedeutet hätte: die Spaltung seiner Volksgemeinschaft mit Folgen, die sich durchaus erahnen ließen – die Mobilisierung externer Kräfte zur Unterstützung der beiden kontrastierenden Richtungen, die jeweils versucht hätten, sich den Konsens der Bevölkerung, mit allen vorhersehbaren Schäden, zu erkaufen. Die Auswirkungen, die eine Volksabstimmung – unabhängig von ihrem Ausgang – unter diesen Bedingungen gehabt hätte, konnte man sich leicht vorstellen. Daher entschied er sich für diesen Versuch einer zwar riskanten, aber klugen Operation: eine Verhandlung über die Abtretung des Trentino anzuregen, durch die der Übergang weniger traumatisch geworden wäre, da die Kontroversen bereits im Vorfeld geklärt worden wären. Aus diesem Grund riet er der österreichischen Seite, auf die Verteidigung jener Sonderstellung zu pochen, um auf diese Weise Glauben zu machen, die Österreicher würden ihre alten treuen Reichsangehörigen verteidigen. Der italienischen Seite hingegen legte er nahe, Zusicherungen in besagtem Sinne zu geben, um der österreichischen Propaganda im Kampf um eine Volksabstimmung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Beweise dafür, dass es sich so zugetragen hat, liegen nicht vor, doch scheint es naheliegend, die Quellen dahingehend zu interpretieren60. Natürlich nahmen die Dinge einen anderen Verlauf und so konnte De Gasperi seinen Plan – so er noch die Absicht gehabt hätte – nicht mehr ausbreiten: Im Gegenteil, angesichts dessen, was im Weiteren geschah, durfte er ihn überhaupt nicht eingestehen. Dabei war sich Italien nicht einmal über die Geografie des Trentino im Klaren, und die Grenzen des Territoriums, das man einforderte, verschoben sich mal in diese, mal in jene Richtung. Dagegen war Wien, das die Geografie ganz klar vor Augen hatte, darauf aus, so wenig herzugeben, wie es in einem bergigen Gebiet überhaupt möglich war61. Bis zuletzt war der heikelste Punkt die fehlende Bereitschaft Wiens, die Übergabe sofort durchzuführen und sie stattdessen auf nach dem Krieg zu verschieben. Das wiederum konnte Italien

60 Verlief es nicht mehr oder weniger auch so, mutatis mutandis, während der Verhandlungen über eine Rückgabe der britischen Kolonie Hongkong an China? 61 Das Problem der südlichen Grenzen des Habsburgerreichs war den britischen Geografen sehr wohl bekannt. Siehe dazu D.W. Freshfield, The Southern Frontiers of Austria, in: The Geographical Journal, 46 (1915), S. 414-433. Als Beispiele für unterschiedliche Sichtweisen der Geografie seien zwei Rezensionen des bekannten Werks von Battisti zum Trentino zitiert: Die erste kam aus dem deutschen Raum, wurde von der „Geographischen Zeitschrift“ im Februar 1900 veröffentlicht, S. 123, und sprach sehr negativ über die Plausibilität dieser Gebietsdefinition; die zweite erschien in: „The Geographical Journal“, 51 (1918), S. 48, und war dem Werk ganz im Gegenteil sehr wohlgesonnen (man bedenke dabei allerdings, dass der Opfertod Battistis hier bereits erfolgt war).

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nicht akzeptieren, denn im Falle eines Sieges der Reiche würde die Zusage zu diesen Abkommen möglicherweise infrage gestellt werden, während die Angelegenheit im Falle ihrer Niederlage praktisch undurchführbar wurde. Der Versuch den Fürst Schönburg am 9. Mai 1915 in extremis unternahm, den Papst als Garanten für die Übergabe zu gewinnen, wurde abgelehnt, denn man wollte nicht die reservatio mentis verlieren, das heißt ein Versprechen geben, das man nicht hätte einlösen können, weshalb es nicht ratsam war, den Papst hineinzuziehen62. Doch wieder einmal überschlugen sich die Ereignisse und genau das brachte die Lösung: die Entscheidung Italiens, den Dreibund aufzukündigen und an der Seite der Entente in den Krieg einzutreten. Aus einer Quelle63 geht hervor, dass De Gasperi wenige Tage vor dem italienischen Kriegseintritt von der Stadtverwaltung beauftragt worden war, sich mit dem Vizebürgermeister Francesco Menestrina nach Salzburg zu begeben, um sich beim Heereskommando zu erkundigen, ob es im Kriegsfall Pläne für eine Massendeportation der Trentiner gab. Am 23. Mai trafen sie in Innsbruck ein, wo Statthalter Toggenburg sie sehr kühl empfing und ihnen verbot, nach Salzburg weiterzureisen. So blieb ihnen nichts anderes übrig als nach Trient zurückzukehren, wo sie vom Kriegseintritt Italiens erfuhren. Dieser hatte natürlich schwerwiegende Auswirkungen auf das Trentino, das sofort Manövergebiet und damit einer Militärverwaltung unterstellt wurde, die de facto die zivile Verwaltung entmachtete (Anordnung vom 23. Mai 1915). De Gasperi selbst erinnerte sich in der bereits zitierten Rede vor dem Parlament im Oktober 1918 daran: „als der Krieg mit Italien ausbrach, fiel das in Trient einrückende Militär in die Stimmung der Legionäre des Mummius bei der Eroberung von Korinth“, weshalb sie als erstes „alle Denkmäler von italienischen Dichtern und Künstlern“ verschwinden ließen sowie die Inschriften beseitigten, die das Dantedenkmal schmückten, vor allem die, in der es hieß: „Inchiniamoci Italiani! / Inchinatevi stranieri! / Deh, rialziamoci / Affratellati nella Giustizia“64. Die oberste Autorität wurde damit der Befehlshaber der Südwestfront, General der Heeresgruppe Feldmarschall Erzherzog Eugen, zugleich Bruder des Obersten Befehlshabers, der eine ganz besondere Bindung zu Tirol hatte, 62

L. Valiani, La dissoluzione dell’Austria-Ungheria, S. 110. Vgl. P. Piccoli / A. Vadagnini, Degasperi un trentino nella storia d’Europa, Soveria Mannelli 2004, S. 107, die allerdings die Quelle nicht anführen, aus der die hier wiedergegebenen Information stammt. Außerdem basiert diese Untersuchung auf der Trentiner Erinnerungsliteratur, die hier bereits Eingang gefunden hat. 64 „Beugen wir uns Italiener! / Beuget Euch Fremde! / Und erheben wir uns / verbrüdert in der Gerechtigkeit“. 63

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da er dort von 1900 bis 1912 die 4. Heeresgruppe kommandiert hatte. Sein Generalstabschef war Feldmarschall Alfred Krauss, ein verbissener Deutschnationaler65. Von diesen Militärspitzen hatte sich das Trentino wenig zu erhoffen: Von Anfang an herrschte ein Klima der nationalistisch motivierten Überreaktion, das – soweit das überhaupt noch möglich war – durch den alten Revanchismus gegenüber Italien und die fixe Vorstellung vom Irredentismus, zusätzlich verstärkt wurde, der ihrer Meinung nach ein normales Leben in „Welschtirol“ unmöglich machte. Obwohl die Trentiner größtenteils nicht gerade enthusiastisch in den habsburgischen Truppen kämpften und wie alle – vor allem die Bauern – das unausweichliche Schicksal des Krieges66 ertrugen, drückte die österreichische Italienfeindlichkeit der Provinz ein hartes Regime auf, verstärkt natürlich durch den „Verrat“ Italiens. 75.000 Zivilpersonen wurden nach Österreich, aber auch nach Bosnien, Mähren und Ungarn zwangsevakuiert (ganze Gemeinden mit ihren Familien und Priestern; bei Kriegsausbruch wurden allein aus Trient innerhalb von drei Tagen über 15.000 Menschen zwangsevakuiert), dazu kamen 1.754 politisch Internierte. Das Internierungslager Katzenau bei Linz erlangte traurige Bekanntheit als eine der berühmten „città di legno“67 oder Barackenstädte. Man begann, den Trentiner Soldaten argwöhnisch zu begegnen, als Angehörige einer Nationalgemeinschaft, der nicht zu trauen war. Eine Tochter von Enrico Conci, wahrscheinlich Irma, schrieb in ihren privaten Memoiren „Come vivevamo in Austria durante la guerra – Noi Trentini“68, dass die in das k.u.k. Heer rekrutierten Trentiner Soldaten oft mit dem Kürzel P.U. (Politisch Unverlässlich) gekennzeichnet wurden, das von den Trentinern spöttisch „Pia Unione“ (Fromme Union) genannt wurde. Dieses Kürzel „bedeutete den Offizieren, dass sie ihnen nicht trauen sollten: So wurden sie immer schlecht 65 Vgl. G. Pircher, Militär, Verwaltung und Politik in Tirol im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 1995, S. 42. Es handelt sich um eine hervorragende Untersuchung eines Tiroler Historikers, der ganz objektiv die Härte und die politische Ignoranz der oberen Militärbehörden beschreibt. 66 Beispielhaft für diesen Standpunkt ist der Fall des jüngeren Bruders von De Gasperi, Augusto. Im Juli 1914 war er eingezogen und wie alle Trentiner an die galizische Front geschickt worden; bei einer Militäraktion am 2. Mai 1915 in Gorlice hatte er sich eine Medaille verdient; am 2. Juni war er in russische Gefangenschaft geraten (oder er hat sich freiwillig in Gefangenschaft begeben, was unter den Trentiner Soldaten nicht selten vorkam). Im Herbst 1916 war er in der Folge der Absprachen innerhalb der italienisch-russischen Allianz nach Italien entlassen worden. Die Jahre bis Kriegsende verbrachte er in Mailand; vgl. U. Corsini, Il colloquio De GasperiSonnino, S. 46-47. 67 D. Leoni / C. Zadra (Hrsg.), Le città di legno. Profughi trentini in Austria 1915-1918, Trient 1995. 68 MSTF, Nachlass Conci, Umschl. 3, Bl. 27.

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behandelt, sie mussten die niedrigsten Arbeiten verrichten und wurden an die vorderste Front an die gefährlichsten Stellen im Feld geschickt … Wie viele dieser armen jungen Männern sind auf den elenden Schlachtfeldern Galiziens geblieben, das Herz voller Angst, sinnlos und ohne Ideale sterben zu müssen, im Kampf um ein Vaterland, das sie hassten“. Mit gewissen Abstrichen – da die Erinnerung im patriotischen Klima der unmittelbaren Nachkriegszeit geschrieben wurde – ist man hier von der Wahrheit nicht weit entfernt69. Darüber hinaus wurde das Verhalten der militärischen Kommandostellen mit Fortschreiten des Kriegs noch unerbittlicher, sofern das überhaupt noch möglich war. Dazu braucht man nur zu lesen, was am 9. Mai 1916 Generalmajor Edler von Lerch in einem Memorandum geschrieben hatte: „Die noch in Südtirol [= Trentino] Ansässigen, welche ihre wahre Gesinnung zu verbergen wissen: Man darf sich auch hier keiner Täuschung hingeben und die Gebliebenen als kaisertreu annehmen. Ein Rückschlag würde uns die Augen öffnen und grausam enttäuschen … Kein Südtiroler italienischer Zunge soll als absolut vertrauenswürdig gelten. Die Versuchung in verschiedener Gestalt könnte an ihn herantreten, welcher er erliegen wird“70.

Es wäre aber falsch, hierin einen allgemeinen Rachefeldzug der Tiroler Behörden zu sehen. Der damalige Statthalter von Tirol und Vorarlberg, Markus von Spiegelfeld, eine Persönlichkeit, die kaum in Verdacht stand, den Italienern besonders freundlich gesonnen zu sein, hatte schon 1912 an den Thronerben höchstpersönlich ein Memorandum geschickt und ihn darauf hingewiesen, „dass irredentistisch sehr oft mit national und autonomistisch verwechselt wird … National, und zwar scharf national, ist da unten die gesamte Bevölkerung“, doch daraus abzuleiten, dass „jeder national oder autonomistisch denkende Italiener ein Irredentist sein müsse, ist ein Trugschluss“. Das waren Worte gesunden Menschenverstands, denen aber keine Beachtung geschenkt wurde. Schon ab 1915 protestierten sogar der Innsbrucker Oberlandesgerichtspräsident, Friedrich Freiherr von Call, und der angesehene Tiroler Abgeordnete Baron Johann Nepomuk Di Pauli gegen die Verbohrtheit der Militärs. Letzterer warf nicht nur der Militärbehörde vor, dass sie „überall und hinter jedem italienischen Tiroler einen Spion wittert“, sondern fuhr sogar fort, nun „fange ich an, die Antipathie der gebildeten Italiener gegen uns zu begreifen“71. 69

Zu diesem Punkt siehe auch E. Sestan, Memorie di un uomo senza qualità. Der Historiker wurde als knapp Achtzehnjähriger ins Habsburger Heer eingezogen und kämpfte an verschiedenen Fronten im Osten. Zu den Trentinern im Habsburger Heer siehe S. Chervosani, Esercito austro-ungarico e ‚italiani d’Austria‘, in: G. Fait (Hrsg.), Sui campi di Galizia 1914-1917, Rovereto 1997, S. 237-251. 70 G. Pircher, Militär, Verwaltung, S. 53. 71 Ebd., S. 54-55.

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Diese Aufrufe zur Vernunft zeigten aber keinerlei Wirkung. Selbst die Trentiner Politiker wurden unabhängig von ihren Ämtern interniert und ihrer Rechte beraubt (die parlamentarische Immunität war mit dem italienischen Kriegseintritt aufgehoben worden und im Gebäude des längst geschlossenen Parlaments hatte man ein Krankenhaus eingerichtet). Conci, der Innsbruck bei Kriegsausbruch hatte verlassen müssen, wurde am 31. Mai 1915 mit der gesamten Familie in Linz interniert. De Gasperi hatte sich dem Schicksal entzogen, das die gesamte Trentiner Führungsklasse getroffen hatte (im Mai 1916 wurde sogar Monsignore Endrici in den Zisterzienserkonvent Heiligenkreuz bei Wien verschickt)72, indem er sich umgehend in die österreichische Hauptstadt begeben hatte, das heißt an einen Ort, an dem ihn niemand irredentistischer Politik bezichtigen konnte und wo er daher eine gewisse Freiheit genoss. Nach Mattei [Demattè] war es der Abgeordnete und Hofrat Guido de Bonfilioli-Cavalcabò gewesen, ein Trentiner und damals hoher Funktionär am Wiener Verwaltungsgericht, der ihm zu diesem Schritt geraten hatte. Er setzte sich auch für die Internierten ein und als magna pars des Hilfskomitees für die Flüchtlinge aus dem Süden konnte er De Gasperi mit in dieses Komitee nehmen (er bot ihm sogar eine Entlohnung an, die De Gasperi aber trotz seiner materiellen Schwierigkeiten ablehnte)73. Seine finanzielle Versorgung war für eine gewisse Zeit noch durch sein Gehalt als Ex-Direktor des „Trentino“ sichergestellt, auch wenn die Tageszeitung am 22. Mai 1915 eingestellt worden war. Da das aber kein Dauerzustand sein konnte, auch weil das Diözesankomitee der Azione Cattolica, offiziell der Verleger der Zeitung, nicht länger zahlen wollte, beantragte De Gasperi die ihm vertragsmäßig zustehende Abfindung, die recht hoch war. Mattei stellt diese Angelegenheit lebendig und geradezu romanhaft dar, wobei er sich das Verdienst zuschreibt, die Sache ihrer Lösung zugeführt zu haben74. In Endricis Unterlagen findet sich der offizielle Hergang, mit einem vom Bischof handgeschriebenen Dokument vom 1. November 1916, in dem der Vertrag des Direktors aufgelöst wurde „mit Zahlung der Abfindung, wie vertraglich vorgesehen“75. 72 Der Bischof hatte alles vermieden, wodurch er selbst oder der Klerus in das, was man „Akte der Loyaltät“ gegenüber dem Kaiserhof und seinem Krieg nannte, hätte hineingezogen werden können; vgl. S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 330-380. 73 M. Dematté, Degasperi all’alba, S. 136. 74 Ebd., S. 137-141. Hier beklagt er sich darüber, dass De Gasperi zwar zufrieden war, ihm aber nie dafür gedankt hätte: „Ich erinnere mich nicht daran, dass er mir dankbar gewesen wäre. Degasperi war nicht sehr überschwänglich und man machte sich keine Komplimente“; S. 141. 75 Der Betrag ist nicht angegeben, Mattei spricht aber von 14.000 Kronen. Aus seiner Erinnerung an die Forderung De Gasperis geht hervor, dass dieser bis zum

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De Gasperis Einsatz als Trentiner Parlamentarier für seine in den Flüchtlingslagern internierten Landsleute war intensiv und voller Anteilnahme, wie seine Arbeit für die Redaktion des „Bollettino dei profughi“ belegt. Gleiches galt für seine unermüdlichen Besuche in den verschiedenen Lagergemeinschaften. All das verweist auf eine enge Verbundenheit mit seinen Landsleuten und mit jenen Geistlichen, die deren Schicksal teilten: In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass sein Professor und Mentor Don Giuseppe Segatta am 26. April 1916 in einem Lager starb, in dem er mit seiner Gemeinde interniert war. De Gasperi gedachte seiner in einem kleinen, nicht unterzeichneten Artikel im „Bollettino del segretariato per richiamati e profughi“76. De Gasperi übte seine Inspektionsaufgabe mit großer Gewissenhaftigkeit aus und verfasste zahlreiche Berichte über die Zustände in den Lagern, womit er Verbesserungen der Lebensbedingungen anstrebte77. Ein schwieriges Unterfangen, denn das Misstrauen gegenüber den „italienischen“ Verrätern nahm weiter zu, während sich gleichzeitig die Nahrungsversorgung und der Zustand der Reichsfinanzen verschlechterten. Wie De Gasperi sowohl von seiner Beobachterstelle und aus den Nachrichten erfuhr, die ihm von den auf das ganze Reich verstreuten Trentinern irgendwie erreichten, wurde die Lage immer schwieriger. Klammert man diese Wende aus, kann man weder den regelrechten Zusammenbruch des Legitimismus in der Bevölkerung gegenüber den Habsburgern nachvollziehen (eine Gesinnung, die sehr wohl anzutreffen war, wenn auch seltener als vermutet, wie noch zu sehen sein wird), noch die Haltung De Gasperis, der am Ende aus voller Überzeugung mit diesem System brach, das sich unter der Prüfung des Kriegs als völlig unflexibel und längst vom österreichischdeutschen Nationalismus beherrscht erwies.

2. Juni 1916 sein reguläres Gehalt bezog, das damals 6.000 Kronen pro Jahr betrug (der Gehaltsverlauf sah wie folgt aus: 2.800 Kronen im Jahr für die ersten drei Jahre; 4.000 für die folgenden fünf Jahre; 5.000 ab dem neunten Jahr – diese Summe war nach einer mündlichen Absprache auf 6.000 angehoben worden); vgl. ADT, AEE, 1916, Nr. 8. 76 Siehe dazu das ausgesprochen positive Urteil über diese Aktivität De Gasperis bei F. Rasera, Con i profughi. Tre articoli sconosciuti di Alcide Degasperi del 1915, in: Materiali di lavoro, 1984, 3, S. 67-89. Und wie der Historiker aus Rovereto schreibt, sind die Texte auch von literarischer Qualität, Zeugnisse „der Menschlichkeit De Gasperis, seiner zivilen und christlichen Passion, die sich ausdrückt im Zulassen einer Empfindsamkeit, die vielleicht nur die Anonymität (zusätzlich zur Außerordentlichkeit der historischen Lage) erlaubte“; S. 69. Der Artikel über den Tod von Don Segatta: In morte d’un ‚curato dei profughi‘ (2. Mai 1916), jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 2018-2021. 77 Einige dieser Vorträge sind veröffentlicht in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 2022-2051.

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Die Internierung der Trentiner in Österreich war zum Teil nachvollziehbar, denn die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Kriegsgebieten ist eine allgemeine Praxis (auch wenn hier das „Rückzugsgebiet“ besonders großzügig ausgelegt wurde), wurde jedoch von den Militärbehörden als terroristische Strafmaßnahme angewendet, was so weit ging, dass das Landesverteidigungskommando in Tirol im Juli ein Rundschreiben verbreiten ließ, in dem es hieß: „Um die Rückkehr [der Internierten] in möglichst vielen Fällen auszuschließen, erscheint es daher unerlässlich, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln nach Beweisen für begangene strafbare Handlungen von Internierten zu fahnden“78. Noch im Juli 1917 beharrte Conrad darauf, die Rückkehr der Internierten in die Kriegsgebiete dürfe nicht erlaubt werden, worum viele in der Hoffnung gebeten hatten, zumindest in ganz kleinem Umfang ihre landwirtschaftliche Tätigkeit wieder aufnehmen zu können. Ganz zu schweigen von den Vorschlägen, die in besonders erregten Kreisen zirkulierten, Welschtirol mit deutschen Kriegsheimkehrern zu besiedeln, die es „kolonisieren“ würden. Auch gab es Pläne, den Trentinern italienischer Nationalität ihre industriellen und kommerziellen Gewerbetätigkeiten zu enteignen und sie Deutschen zu übergeben, um die Entstehung eines neuen, national gesinnten Bürgertums zu verhindern. Diese irrwitzigen Vorschläge, zu denen natürlich auch die Eindeutschung der italienischen Ortsnamen im Trentino gehörte, finden sich umfassend belegt im bereits zitierten Werk von Gerd Pircher, der auch daran erinnert, dass man für die Friedenszeit eine radikale Säuberung des Verwaltungsapparats im Sinn hatte: Das bedeutete, Deutsch als alleinige Staatssprache und selbst nach Kriegsende für einen gewissen Zeitraum die Aufrechterhaltung des militärischen Ausnahmezustands79. Der Wahrheit halber sollte erwähnt werden, dass sich die Behörden Tirols den extremsten Plänen hin und wieder entgegenstellten und dass Statthalter Toggenburg zu vermitteln versuchte, wenn auch ohne Erfolg. De Gasperi konnte in Wien wenig ausrichten, doch wo immer er konnte, setzte er sich für seine Landsleute ein. Auch Giuseppe Mattei hielt sich in der Hauptstadt auf (er erinnert daran, dass De Gasperi in jener Zeit seine Französischkenntnisse verbesserte und Englisch lernte). Auch er war in einem der Flüchtlingssekretariate, dem Segretariato Richiamati e Profughi Trentini tätig, das aber von der Zensur getroffen wurde, die die Verwendung der Bezeichnung „trentino“ nicht länger erlaubte. Ein besonderes Ereignis dieser Zeit ist das über Cesare Battisti verhängte Todesurteil und seine Hinrichtung. Die Sache als solche ist nicht das eigentli78 79

G. Pircher, Militär, Verwaltung, S. 67. Zu diesen weitreichenden Reformplänen siehe ebd., S. 150-198.

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che Problem (ein vergleichbarer Fall wäre an jeder anderen Kriegsfront kaum anders behandelt worden), sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie sich abgespielt hat, das längst ausführlich erforscht worden ist80: das hysterische Gebaren der Militärjustiz, ein „Exempel zu statuieren“, der Versuch, aus der Hinrichtung, die direkt auf das Urteil folgte, ein Spektakel zu machen (man wollte sie sogar öffentlich vollstrecken, was aber gesetzlich verboten war, dafür fand sie inmitten einer feindselig gestimmten Menge von Soldaten statt, die die Verurteilten lautstark verhöhnten), die Verbreitung von Bildern, die einen lachenden Henker mit dem Gehenkten zeigen, als sei dieser eine Trophäe81, schließlich die würdelose Behandlung der Leiche, die anonym verscharrt wurde82. Der Krieg brachte der Doppelmonarchie kein Glück. Und die Vorahnung, dass man früher oder später mit der „großen Auflösung“ konfrontiert werden würde, mit einem tragischen Schicksal von epischem Ausmaß, führte zu einem kulturellen Kurzschluss, in dem all die in den Jahren zuvor angestauten nationalen Spannungen explodieren mussten. War der Nationalismus bisher nicht zwangsläufig mit dem Irredentismus gleichzusetzen, wurde er es nun zwangsläufig. Mit dem Tod von Kaiser Franz Joseph am 21. November 1916 schien wieder etwas in Bewegung zu geraten83. Der neue Kaiser, Karl I., war ein 80 Vgl. O. Überegger, Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002, S. 366-386. 81 Eine dazu immer wieder veröffentlichte Fotografie rief die angewiderte Reaktion von Karl Kraus hervor, der schrieb, „das österreichische Antlitz [sei] kein anderes als das des Wiener Henkers“. 82 Hier soll der bedeutungslosen Polemik über die unmittelbare Reaktion De Gasperis auf die Hinrichtung von Battisti keine größere Beachtung geschenkt werden, denn in Wahrheit weiß man darüber überhaupt nichts. Selbst Battistis Witwe schrieb viele Jahre später (vgl. E. Bittanti, Italianità di Degasperi. Lettera aperta all’on. Meda, Florenz 1957), sie habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass der Parlamentarier der Volkspartei bei der Nachricht von der Hinrichtung in Tränen ausgebrochen sei (was ihm die Witwe hoch anrechnete). Ganz gewiss gab es – im Gegensatz zu dem, was manche unter Berufung auf erfundene Quellen verleumderisch geschrieben haben – weder zum damaligen noch zu einem späteren Zeitpunkt irgendeine Art der Zustimmung zu dem, was geschehen war. Es ist sehr wahrscheinlich, dass De Gasperi für das schreckliche Schicksal seines erbitterten Gegners menschliches und christliches Mitleid empfunden hat, auch wenn es dafür keine konkreten Belege gibt. 83 S. Trinchese, L’altro De Gasperi, S. 206, behauptet, De Gasperi habe gemeinsam mit Conci und anderen Trentiner Parlamentariern am Begräbnis des Kaisers teilgenommen und zitiert als Beleg dafür die Einladungskarte zu dieser Feier, die sich im Archiv von De Gasperi befindet. Unter den gegebenen Umständen ist das aber recht unwahrscheinlich: Alle ernst zu nehmenden Historiker, einschließlich Schober, der im Wesentlichen die These von De Gasperis proösterreichischer Haltung vertritt und deshalb keinen Grund hätte, diese Begebenheit für unwahrscheinlich

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junger unerfahrener Mann, der Mühe hatte, sich Respekt zu verschaffen84 und der keine Entschlusskraft an den Tag legte. Es schien, als bahnte sich eine Art „liberale Verfassungsrevolution“ an, allerdings mithilfe eines octroi, also per kaiserlichem Dekret (tatsächlich hatte der neue Monarch seinen Schwur auf die ungarische Verfassung geleistet, nicht auf die Cisleithaniens). In der Tat war die Lage ziemlich verworren. Bereits seit geraumer Zeit übten die Abgeordneten verschiedener Parteien Druck aus, damit das Parlament neu einberufen würde. Dem wollten sich aber weder Stürgkh noch der alte Kaiser (dessen Gesundheit mittlerweile so angegriffen war, dass er kaum noch Einfluss nehmen konnte) beugen. Dieser Druck, der noch durch die Schwierigkeiten der Nahrungsversorgung gesteigert wurde, wurde durch die christlichsoziale Partei unterstützt, die am 10. Oktober 1916 einen Antrag auf die Wiedereröffnung des Parlaments stellte, in dem sie darauf verwies, dass die Kammer nun effektiver arbeiten könne und somit das Ansehen des Reichs im Vaterland und im Ausland keinen Schaden nehmen würde. Der Ministerpräsident sträubte sich, doch am 21. Oktober wurde er beim Speisen in einem Restaurant von Friedrich Adler, einem jungen Aktivisten der sozialdemokratischen Linken (und Sohn von Viktor, einem der Parteispitzen), aus Protest gegen das Verbot einer Massendemonstration für die Wiedereröffnung des Parlaments ermordet, die auch von Professoren der Wiener Universität unterstützt worden war85.

zu halten, sprechen sich dafür aus, De Gasperi habe sich zu jenem Zeitpunkt in den Flüchtlingslagern aufgehalten. Auch Conci erwähnt diese Begebenheit in seinen Erinnerungen mit keinem Wort. Diese Erinnerungen waren schließlich als privates Dokument für seine Kinder bestimmt, entsprechend hatte er keine Schwierigkeiten damit, seine Rolle im Reich sowohl als stellvertretender Präsident der Kammer als auch als Landeshauptmannstellvertreter in Tirol darzustellen. Trinchese behauptet auch (S. 205), De Gasperi habe sich „im Moment der Not auf die Seite seines Volks [gestellt] und die Verantwortung des Regierungswochenblattes ‚Risveglio austriaco‘ innerhalb der Redaktion des eingestellten ‚Il Trentino‘“ übernommen“. In der Fußnote gibt er als Quelle dieser Information R. Schober, A. De Gasperi al parlamento, S. 685, an. Das ist aber eine falsche Information; vielmehr versuchte „Risveglio austriaco“ von Kriegsbeginn an, wohlwollende Stellungnahmen von italienischen Parlamentariern, einschließlich De Gasperi, zu erhalten, die er aber nicht bekam; vgl. G. de Gentili, La deputazione trentina al parlamento di Vienna durante la guerra, Trento, Tridentum, 1920, S. 5-6 Anm. Davon abgesehen geht Schober überhaupt nicht auf diese Tatsache ein, weder auf der zitierten Seite noch anderswo. 84 Ein Offizier der Obersten Heeresführung beschrieb ihn nach einer Begegnung folgendermaßen: „you hope to meet a 30-year old there, but you find a man with the appearance of a 20-year-old youth, who thinks, speaks and acts like a 10-year-old boy“; zitiert nach M. Cornwall, Disintegration and Defeat. The Austro-Hungarian Revolution, in: ders. (Hrsg.), The Last Years of Austria Hungary. A Multi-national Experiment in Early Twentieth-Century Europe, 2. Aufl., Exeter 2002, S. 169. 85 J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S. 399-400.

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Geschockt über diese Bluttat trafen sich am 23. Oktober Vertreter aller Parteien und forderten die Wiedereröffnung des Parlaments, doch der plötzliche Tod von Kaiser Franz Joseph einen Monat später brachte den Prozess ins Stocken. Sein Nachfolger Karl I. wurde von seinen Ratgebern, Ottokar Czernin und Conrad Hohenlohe, davon überzeugt, am 13. Dezember ein neues Kabinett unter der Führung des blassen und unentschlossenen Heinrich Clam-Martinic einzuberufen – ein Kabinett, das eindeutig auf die nationalistischen Standpunkte der Österreich-Deutschen ausgerichtet war: Man hatte vor, ein octroi zu bemühen, das eine gewisse Lockerung der parlamentarischen Verfahren ermöglichen sollte, gleichzeitig aber Deutsch als offizielle Staatssprache (und nicht mehr nur als Amtssprache) festlegte und außerdem eine Schlichtung der böhmischen, ungarischen und polnischen Fragen vorsah. Dieser Vorschlag löste bei den verschiedenen noch existierenden politischen Gruppierungen eine heftige Debatte aus. Erst der Ausbruch der Revolution am 8. März 1917 in Sankt Petersburg und deren Folgen sollten die Haltung der Befürworter des octroi ändern, angefangen mit Czernin, der ab Januar neuer Außenminister war. Außerdem zeichneten sich weitere Entwicklungen ab: Conrad von Hötzendorf wurde im Februar gezwungen, vom Oberheereskommando zurückzutreten, auch wenn das die Kriegsführung nicht weiter verändern sollte; und obschon die Vorbereitungen für eine Verfassungsveränderung voranschritten und es sogar bereits eine Proklamation für den „Staatsstreich“ gab (dem nach wie vor viele Parteien zustimmten), gelangte Karl I. zu der Überzeugung, das Vorhaben sei nicht durchführbar. Vielleicht wurde man sich, wie der bekannte Verfassungsrechtler Redlich feststellte, darüber klar, dass angesichts des „großen Durcheinanders“ in der Regierung der parlamentarische Weg der einzig mögliche war, oder man hatte begriffen, dass eine parlamentarische Revolution mittels Staatsstreich in revolutionären Zeiten86 sehr gefährlich werden konnte. Fest steht jedenfalls, dass der Kaiser der Regierung zwischen dem 12. und dem 15. April kundtat, das octroi sei nicht mehr möglich und das Parlament solle im Mai wieder eröffnet werden (kaiserliches Patent vom 26. April 1917). John W. Boyer schrieb dazu: „Parliament, recalled for May 30 after three years of moral and physical exile, reassembled in the worst possible circumstances: it was decimated by deaths 86 Wie man weiß, fürchtete Karl von Anfang an einen Krieg, der einen negativen Verlauf nehmen könnte. So versuchte er, kaum auf dem Thron, mithilfe seiner Schwäger, den Prinzen Sixtus und Xavier, Offiziere im belgischen Heer, Verhandlungen mit den Alliierten anzustrengen. Ein linkischer Versuch, der zu keinem positiven Ergebnis führte, doch Czernin gab in seinen berühmten Erinnerungen bekannt, Karl habe auch an Kaiser Wilhelm II. geschrieben, dass Österreich allerhöchstens bis Jahresende in der Lage sei, den Krieg fortzusetzen. Vgl. L. Valiani, La dissoluzione dell’Austria-Ungheria, S. 266. Der Text des Briefes an Sixtus findet sich in: Die Doppelmonarchie, S. 157.

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and arrests (since 1914 twenty-five deputies had died, and nine, including Karel Kramář, were sitting in Austrian jails); led by Cabinets of mediocre, unimaginative bureaucrats; plagued by intransigent Slavic provocations and German counterprovocations; filled with politicians bereft of new ideas for the future; and set in a capital city suffering from hunger and disease. The possibility of constitutional reform by parliamentary action in the summer of 1917 was as utopian as the Octroi strategy that it was supposed to replace“87.

Die Wiedereröffnung des Parlaments hatte demnach keine tief greifenden Auswirkungen auf das politische Szenarium. Gewiss, der Sozialdemokrat Karl Renner konnte in seiner Rede vom 16. Juni darauf hinweisen, dass man nunmehr eher von „Nationen“ als von Volksstämmen reden sollte, denn die „Nation“ habe heute den Platz von „Land“ eingenommen. Das waren aber Worte, die kaum Gewicht hatten, auch wenn sich die nationale Frage sofort als Schlüsselproblem offenbarte, für das man zum einen keine Lösung hatte und das zum anderen jede positive Parlamentsarbeit blockierte. De Gasperi88 und Conci ergriffen die Gelegenheit, die parlamentarische Tribüne als Anklagebank gegen die Regierung zu nutzen, von der aus sie gegen die inakzeptable Behandlung der Trentiner Bevölkerung protestierten. Und als Verteidigungsbank für Einzelschicksale und Volksgruppen, die – wie schon wiederholt ausgeführt – von einer stumpfsinnigen Verwaltung und Militärjustiz gepeinigt wurden89. Die erste Stellungnahme des ehemaligen Direktors des „Trentino“ erfolgte am 6. Juni 191790. Es handelte sich um eine ausgesprochen harte Anklage gegen die Behandlung der italienischen Bevölkerung, gegen die „Proskriptionslisten“, die schon „vor Kriegsausbruch“ existiert hätten. Man war „auf 87

J.W. Boyer, Culture and Political Crisis, S. 400-408, zitiert auf S. 407-408. Natürlich setzte sich mit der Wiedereröffnung des Parlaments und seiner XXII. Session (30. Mai 1917 bis 12. November 1918) der übliche Mechanismus der Kommissionen in Gang. Der Abgeordnete des XXII. Wahlbezirks aus Tirol wurde zu Folgendem ernannt: Mitglied der Haushaltskommission (12. Juni 1917); stellvertretendes Mitglied der Kommission für Ernährung (27. Juni 1917); stellvertretendes Mitglied der Flüchtlingskommission (27. Juni 1917); stellvertretendes Mitglied für die Kriegswirtschaft (3. Juli 1917); Mitglied der Pressekommission (28. Juni 1917); stellvertretendes Mitglied der Kommission für Sozialhilfe (27. Juni 1917); stellvertretendes Mitglied des Komitees für Verhandlungen (26. Juli 1918). 89 Vgl. O. Überegger, Der andere Krieg; G. Pircher, Militär, Verwaltung. Es erstaunt, dass in Österreich keinerlei Anstrengungen unternommen wurden, den Krieg durch psychologische Propaganda und die positive Einwirkung auf die öffentliche Meinung zu unterstützen, wie es nach 1917 in allen kriegsbeteiligten Ländern üblich wurde. Natürlich bemühten die Österreichdeutschen die patriotische Mobilisierung in Vorbereitung auf den Kriegseintritt, doch waren das Aktionen, die die Brüche zwischen den nationalen Gruppen eher noch verstärkten. 90 Jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1928-1934 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 88

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ganz brutale Weise“ vorgegangen, indem man die Betroffenen in „sogenannte Konzentrationslager“ gebracht hatte. „Wie wahl- und ziellos hierbei vorgegangen wurde, möge auch nur daraus entnommen werden, daß unter anderen, nebst manchem Blödsinnigen und nebst Kindern, in ein Internierungslager allein auch ein Blinder und drei Taubstumme gebracht wurden, die wohl gewiss keine Gefahr für Staatsinteressen darstellen konnten“.

Nach der Feststellung, dass die Geschichte der Internierungslager „zu den traurigsten Kapiteln dieses Kriegs gehören“ und dass all das in Missachtung der Gesetze und des Respekts der Zivil- und Menschenrechte geschehen war (auch aufgrund der brutalen Willkür einzelner größenwahnsinniger Funktionäre), prangerte De Gasperi die untragbare Situation des Bischofs von Trient an, der fern von seiner Gemeinde nach Heiligenkreuz verbannt worden war. „Die Verfolgung des populären und um die Diözese hochverdienten Mannes … hat in der ganzen Bevölkerung den denkbar schlechtesten Eindruck gemacht und verlangt gebieterisch sofortige Genugtuung“.

Der Trentiner Abgeordnete schloss seine Rede mit einer drastischen Forderung: „Ist die Regierung geneigt, eine strenge, erschöpfende und unparteiische Untersuchung über die Art und Weise, wie die Internierungen beziehungsweise Konfinierungen so vieler österreichischer Staatsbürger italienischer Nationalität durchgeführt wurden, und über die Art und Weise, wie in den Internierungslagern und in den Konfinierungsstationen vorgegangen wurde, einzuleiten, und über das Ergebnis der Untersuchung sowie über die darauf zur Ahndung und Wiedergutmachung der begangenen Ungerechtigkeiten und Gesetzwidrigkeiten getroffenen Verfügungen dem Abgeordnetenhause zu berichten?“

Wie man sieht, waren das keine unbedachten Worte, sondern die Schilderung einer höchst komplizierten Lage, die die Trentiner Abgeordneten aus erster Hand kannten. So hatte de Gentili erfahren, dass das Oberkommando am 26. April 1917 einen „Geheimbefehl“ erlassen hatte, nach dem die Soldaten tschechischer, ruthenischer, rumänischer, serbischer und italienischer Nationalität die Truppen ablösen sollten, die aus den Kriegsgebieten abzogen91: Dabei wurde kaum verschleiert, dass man damit die „Treulosen“ den Gefahren auf den Schlachtfeldern auszusetzte. Dieses Vorhaben war von Conci im Parlament öffentlich angeprangert worden. De Gasperi setzte sich sehr für die Trentiner ein, die in die Fänge der österreichischen Militärregierung geraten waren. Das bezeugt ein interessanter Fall, der – nebenbei bemerkt – auch De Gasperis weiteren Werdegang bestimmen sollte. Im Juli 1917 hatte sich die Mutter einer jungen Trentiner Frau, der einundzwanzigjährigen Bice Rizzi, an ihn gewandt. Diese war am 3. Juli 1915 des Hochverrats und der Spionage angeklagt und verhaftet worden. 91

G. de Gentili, La deputazione trentina, S. 72.

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Nach langwierigen und verworrenen Ermittlungen und einem Prozess, der vom extremen Misstrauen Habsburger Militärbeamter geprägt war (nichts wies auf eine Spionagetätigkeit der Angeklagten hin und ihr „Hochverrat“ war die im Trentino übliche, harmlose Form des Irredentismus), verurteilte man Bice Rizzi am 27. Januar 1916 tatsächlich zum Tod durch Erhängen, wenngleich die Verurteilung direkt in 10 Jahre harten Kerker umgewandelt wurde. Die Amnestie vom 4. Juli 1917, die – so Kaiser Karl I. – nach dem repressiven Wahnsinn der vorausgegangenen „Militärdiktatur“ ein Versuch der Versöhnung des Landes sein sollte, gab den Betroffenen einen gewissen Auftrieb. So wurde auch die Familie Rizzi aktiv, die sich an die Abgeordneten de Gentili und vor allem De Gasperi wandte. Dass man sich bei diesem besonders schwierigen Fall ausgerechnet an den jungen Trentiner Abgeordneten wandte, zeigt, wie hoch sein Ansehen mittlerweile war. Allerdings konnte er nichts ausrichten, auch wenn er alles versuchte, was in seiner Macht stand. Doch ging es im Fall Rizzi nicht nur um „Hochverrat“ (ein politisches Vergehen, das unter die Amnestie fiel), sondern auch um „Spionage“ (in Kriegszeiten natürlich nicht „zu verzeihen“). In diesem Fall, für den sich selbst Bischof Endrici und sogar der apostolische Nuntius einsetzten, konnte man nichts anderes tun, als die Revision des Prozesses anstrengen, was aber auch nicht gelingen wollte. Somit kam die Arme erst am 8. November 1918 nach dem italienischen Sieg wieder frei92. Da sie in der Folge auch Gegenstand von Kritik wurde, ist diese Begebenheit ein bezeichnendes Beispiel für die Rolle, die der Abgeordnete der Volkspartei spielen konnte, da er eine Position gewählt hatte, die die Behörden zwang, seine Proteste – wenn auch nur minimal – zur Kenntnis zu nehmen, vor allem nachdem die Wiedereröffnung des Parlaments ihm einen gewissen Handlungsspielraum zugestand. Die Lage von Monsignore Endrici verschlechterte sich immer weiter (De Gasperi wusste davon, denn er besuchte ihn regelmäßig). Am 28. September 1917 hatte der Wiener Kardinal Piffl den Bischof von Trient aufgesucht und ihm eine Botschaft von Karl I. überbracht. Der Kaiser hatte der Front im Trentino einen Besuch abgestattet und dabei den Eindruck gewonnen, das religiöse Leben in jener Region sei „in die Brüche“ gegangen. Deshalb ersuchte er Endrici, auf seine Diözese zu verzichten, „da meine Rückkehr 92 Zu dieser Geschichte siehe P. Antolini, Vivere per la Patria, S. 17-106. De Gasperis Misserfolg ließ bei der Familie Rizzi – zwar ungerechtfertigt, aber nachvollziehbar – die Vermutung aufkommen, er hätte sich gar nicht mit dem Fall befasst. In einem Brief an Rizzis Mutter entschuldigte sich der Trentiner Abgeordnete Ende November 1917 für das Schweigen, das man ihm vorgeworfen hatte und fügte hinzu „wenn Sie wüssten, wie viele Briefe ich zu beantworten habe!“, was auch dafür sprach, dass er mit seinem Einsatz für den Schutz der Trentiner Bevölkerung für viele zu einem wichtigen Ansprechpartner geworden (S. 88).

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angesichts der herrschenden Feindseligkeit ausgeschlossen ist und eine Annäherung meinerseits eine Steinigung auslösen würde und einen Abfall von der Kirche, was dem Monarchen als Katholiken Sorge bereitet“93. Es war klar, dass dahinter die Machenschaften des nationalistischen Tiroler Katholizismus und der österreichisch-deutschen Kräfte steckten. Endrici widersetzte sich diesem Manöver, was ohne Folgen blieb (auch wenn es ihn, gemeinsam mit all den kleinen Schikanen, denen er ausgesetzt war, schwer belastete). Die Anklage De Gasperis, dass viele „in die Proskriptionslisten aufgenommen worden [waren], weil sie einem von der Regierung ausdrücklich genehmigten nationalen Verein angehört oder weil sie die nationalen Rechte der Bevölkerung verfochten“, fand ihre Bestätigung unter anderem in einer Veröffentlichung des österreichischen Polizeioberkommissars von Trient, Rudolf Muck vom April 1917, die den Titel „Die irredentistischen Vereine Welschtirols. Darstellung ihrer Tätigkeit auf Grund amtlicher Quellen“ trug94. Darin wurden alle irredentistischen Vereine „Welschtirols“ aufgeführt (die Bezeichnung „Trentino“ war vollkommen verbannt und die Bewohner wurden stets als „Welsche“ bezeichnet, nie als „Italiener“). In der Einführung wurde zunächst erklärt, dass man anlässlich des Kriegsausbruchs mit Italien endlich beschlossen hatte, den Irredentismus zu bekämpfen, der vorher nach Meinung „vieler Kreise nur ein Phantasiegebilde gewesen sei“, um dann zu behaupten, dass zu viele Vereine unter dem Vorwand erlaubter Aktivitäten in Wirklichkeit irredentistische Ziele verfolgten. Und zum Schluss hieß es: „Eine gesunde ruhige Entwicklung des öffentlichen Lebens nach dem Kriege ist in diesem Landesteile nur zu gewärtigen, wenn mit kräftiger Hand ähnliche Bestrebungen schon in ihren ersten Regungen niedergehalten werden. Dies zu erreichen, ohne die geistige und kulturelle Entwicklung des Volkes zu schädigen, dieses Volkes, das in seiner weitaus grösseren Mehrheit zum angestammten Reiche hält und von einer Vereinigung mit Italien nichts wissen will, den schädigenden Einfluss gefährlicher Agitatoren nicht aufkommen zu lassen und gleich mit der Wurzel auszurotten, wird die fürnehmste aber auch die schwerste Aufgabe der staatlichen Behörden sein“.

Diese Position hätte man noch nachvollziehen können, hätte sich der Kommissar hier nicht 30 Vereine vorgenommen (praktisch das gesamte Vereinsleben, das in Trient irgendeine Rolle spielte), wie etwa die Unione Ginnastica di Trento, Veloce Club Trentino oder zwei Società per l’Asilo 93

Zitiert nach S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 368-369. Le associazioni irredentistiche del Tirolo italiano. Illustrazione della loro attività sulla base di fonti dell’autorità pubblica, Trient 1917. De Gasperi kannte dieses Büchlein, das auch in seinem Archiv aufbewahrt ist (dt. Ausg.: Die irredentistischen Vereine Welschtirols. Darstellung ihrer Tätigkeit auf Grund amtlicher Quellen, hrsg. vom k.k. Polizeikommissariate in Trient, 1917). 94

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Infantile und weiterhin den Club Mandolinistico Armonia. Zur Zufriedenheit all jener, die über den „Loyalismus“ der Trentiner Katholiken geschrieben hatten, fanden sich sämtliche katholischen Vereinigungen in dieser Auflistung der Irredentisten. Der katholischen Studentenvereinigung unterstellte man, „das Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich sei ihr völlig fremd“. Man erinnerte unter anderem an das Grußwort von Giuseppe Mattei, des Vorsitzenden der Vereinigung, in einer Rede vom 22. September 1907, in dem er „das Nationalgefühl der katholischen Studenten besonders betonte“. Alle politischen Vereinigungen auch die UPPT wurden in einen Topf geworfen und es wurde ihnen unterstellt, sie seien gegen die Zugehörigkeit der Region zu Österreich. Dem politischen Jugendverein der UPPT, Il Giovane Trentino, warf man vor, die italienische Flagge zu verwenden und „nicht einmal den allerkleinsten Hauch von österreichischem Patriotismus“ durchsickern zu lassen. Das war ein weiterer Beweis für die Besessenheit, mit der der deutsche Nationalismus Tag für Tag daran arbeitete, den Trentiner Legitimismus gegenüber der Habsburger Monarchie zu untergraben, der sehr wohl existiert hatte, aber immer mehr in Form einer von den anderen innerhalb des Vielvölkerstaats abgegrenzten nationalen Identität. Zuletzt wurde dieser gänzlich vernichtet durch die Forderung, die politische Legitimierung und Teilhabe an der Zugehörigkeit zu „Österreich“ und nicht mehr zum „Habsburgerreich“ festzumachen. Diese Zuspitzung hatte Enrico Conci am eigenen Leib erfahren, als er sich nach der Freilassung aus der Verbannung durch den neuen Kaiser Karl I. umgehend nach Innsbruck begeben hatte, um seinen Posten als stellvertretender Landeshauptmann Tirols und seine Mitgliedschaft im Tiroler Landtag wieder aufzunehmen. Dort wurde ihm jedoch nahegelegt, die Stadt wieder zu verlassen, da seine Anwesenheit nur Anlass „zu feindseligen Kundgebungen“ geben würde95. Die parlamentarische Plattform blieb bei allem weiterhin entscheidend, gerade auch nachdem am 27. Juni 1917 eigens ein Gesetz verabschiedet worden war, das die Legislaturperiode – die sonst im Sommer 1917 zu Ende gegangen wäre – bis Ende 1918 verlängern sollte. So konnte De Gasperi am 12. Juli wieder eine ausführliche Rede zum Problem der Internierten halten, bei der er erneut die Übergriffe und Gesetzesbrüche ansprach, aber auch sehr geschickt einige Fälle erwähnte, bei denen er auf Verständnis für das Schicksal dieser Menschen gestoßen war. Vor allem hob er hervor, dass die Verabschiedung eines Gesetzes anstand, das festlegte, „dass die Flüchtlinge das Recht haben, frei zu wählen zwischen dem Flüchtlingslager und einem von der Regierung bestimmten Besiedlungsort in der Diaspora“96. 95

E. Conci, Memoria autobiografica, S. 68. Zu dieser Rede siehe A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 19441949 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 96

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Doch die engagierteste Rede, nahezu der Entwurf eines politischen Programms, hielt De Gasperi am 28. September 1917. Man diskutierte das Finanzgesetz für den Staatshaushalt 1917/18. Gleich zu Beginn der Rede schlug der Trentiner Abgeordnete einen harten Ton an97: „Wenn die Debatte sich nur mit dem Staatshaushalt befassen müßte, … so würde ich mich weigern, die Fiktion aufrecht zu erhalten, als ob ein Volk, das in der Praxis als ein feindliches, als ein erobertes Volk behandelt wird, gleichzeitig durch seine Vertreter als ein ebenbürtiger Teil über die Verwaltung des Staatsganzen mitzusprechen und mitzubestimmen könne. Aber diese Tribüne ist die letzte freie Stätte, die uns nach der Unterdrückung jeder bürgerlichen Freiheit zu Hause geblieben ist, und andererseits wäre es schade, der Regierung den Vergleich zwischen den schönen Leitsätzen ihres Programms und der Praxis ihrer Lokal-, Militär- und Verwaltungsbehörden vorzuenthalten.“

Die Rede von De Gasperi war kraftvoll, und leidenschaftlich klagte er die Zerstörung seines Landes durch den Krieg an. Er erinnerte an die Zerstörung Roveretos, „der schönen und reichen Stadt am Leno“, an die Situation Trients, wo bis zur Offensive im Mai 1916 „nicht viel vorgekommen [ist]“, während von da an „Diebstähle und Plünderungen an der Tagesordnung“ waren. All das, ohne dass es irgendeine der zugesagten Entschädigungen gegeben hätte, wohingegen die Schikanen durch die lokalen Militärbehörden unvermindert anhielten98. Auch griff er in der Rede erneut Tirol an, das als Kern allen Übels der Trentiner galt. „Es wäre naiv von mir, von der nationalen Autonomie zu sprechen oder von der Stellung, die unser Landesteil gegenüber dem deutschen Landesteile in der Zukunft haben wird, in einer Zeit, wo wir vollkommen der herrschenden Nation ausgeliefert sind, wo unser Landeshauptmannstellvertreter Dr. Conci noch nicht an der Landesverwaltung teilnehmen konnte, wo wir überhaupt ganz von der Mehrheit verwaltet werden, wir keine Stimme haben und kein Gehör finden“.

Und um keine Zweifel aufkommen zu lassen, fügte er hinzu, diese Zustand hänge „vom Präsidium der Innsbrucker Statthalterei ab, das man eine Verfolgungszentrale nennen könnte, an deren Spitze eigentlich ein Mann steht, auf den der Spruch aus ‚Faust‘ angewendet werden könnte: ‚Ich bin der Geist, der stets verneint‘“. Eine Einschätzung, die er im Verlauf der Rede ein weiteres Mal mit denselben Worten wiederholen sollte. Weiterhin teilt De Gasperi mit, dass er „eine Zeit lang“ in seinem Land gewesen sei, wo er die Treue zu Bischof Endrici bestätigt gesehen habe: „Nie 97

Ebd., S. 1957-1962 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). Hier gilt es zu bedenken, dass die Situation der Nahrungsversorgung immer prekärer wurde, was unter den Truppen zu Plünderungen führte, während das Ausbleiben des von allen erwarteten schnellen Sieges über Italien den Hass gegen den Feind weiter schürte. 98

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war der Bischof Endrici dem Herzen seines Klerus und des Volkes so nahe wie jetzt, wo er verbannt ist“. Und „auch auf die Priester wird ein besonderes Augenmerk gerichtet“99, und weiter: „In meinem Wahlbezirke, wo ich während des ganzen Krieges nicht war, habe ich nach meiner Rückkehr keine einzige italienische Anschrift mehr gefunden, weder privat noch öffentlich“, und all das aus einem einzigen Grund: „… die Erbsünde, die uns allen anhaftet [war] die Erbsünde, als Italiener geboren zu sein“100. Der berühmte und oft zitierte Schlusssatz der Rede begann mit einem Angriff auf die „tirannucci“, die sich aufspielten und zu denen er auch denjenigen zählte, dessen: „Leistungen in dem schändlichen Totentanz [gipfeln], den er um einen Galgen herum inszenieren ließ“ (die Anspielung auf die Hinrichtung von Battisti ist mehr als eindeutig)101. So fand er zum Abschluss diese überaus deutlichen Worte:

99 Darüber hinaus ist dank der guten Quellenlage bekannt, dass die österreichischen Behörden den italienischen Klerus schon seit Langem für einen der maßgeblichen Drahtzieher beim Aufbau des „Nationalempfindens“, um nicht zu sagen des „Irredentismus“, hielten. 100 Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass De Gasperi in der urspünglich deutschen Version der Rede selbstverständlich immer das Wort „Italiäner“ verwendet und nie „Welsche“. 101 Zu diesem Aspekt gibt es unterschiedliche Standpunkte und Diskussionen in der Literatur, die sich mit De Gasperi befasst hat. Manche interpretieren den Satz als eine Verurteilung der Hinrichtung, andere meinen, De Gasperi habe sich auch in diesem Fall davor gedrückt, entschiedene Ablehnung zum Ausdruck zu bringen. Die Wirklichkeit ist wohl deutlich vielschichtiger. Es war De Gasperi gar nicht möglich, in jenem Moment und an jenem Ort die Hinrichtung eines Staatsbürgers zu verurteilen, der gegen seinen Staat zu den Waffen gegriffen und dessen territoriale Unversehrtheit bedroht hatte. Wie der berühmte Rechtsgelehrte Santi Romano über den „verfassungsgebenden Moment“ sagte, verhält es sich so, dass dieser im Falle des Misslingens zum Kapitalverbrechen gegen die bestehende Ordnung wird, gelingt er aber, kann er rückblickend als rechtmäßig betrachtet werden. So ähnlich verhält es sich auch in diesem Fall: In der Tat wurde De Gasperi ein Fürsprecher der „Heiligsprechung“ Battistis, als er 1921 zum Referenten des Gesetzesentwurfs Giolitti-Bonomi für die Errichtung des Battisti-Denkmals in Trient wurde. Im Anschluss an die Rede des Sozialisten Greppi anlässlich der Gedenkfeier am 7. Juli 1946 auf der verfassungsgebenden Versammlung zum vierzigsten Jahrestag der Hinrichtung Cesare Battistis hatte De Gasperi hinzugefügt: „Ich schließe mich den guten Wünschen und dem Einsatz für die Verteidigung des Italienischseins und der Einheit des Vaterlandes an, was heute zur Erinnerung und zum Vermächtnis von Cesare Battisti heraufbeschworen worden ist“; vgl. A. De Gasperi, Discorsi parlamentari, Rom, Abgeordnetenkammer, 1985, Bd. 1, S. 128-129. Anlässlich der Rede im Wiener Parlament, um die es hier geht, ging De Gasperi sehr geschickt vor, indem er sich mit seinen Angriffen auf ein für ihn vorteilhaftes Terrain begab, nämlich die Anklage des um die Hinrichtung inszenierten Spektakels, das – wie bereits erwähnt – auch Karl Kraus angewidert hatte, immerhin ein deutscher Autor mit eindeutig nationaler Haltung.

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„Wir können ruhig mit dem großen deutschen Dichter sagen: ,Laßt die Rechnung der Tyrannen anwachsen, bis ein Tag die allgemeine und besondere Schuld auf einmal zahlt‘102. [Bravo! Bravo!] Dieser Tag muß und wird kommen. Ein sicheres Ergebnis dieses Krieges steht schon fest, das der Entscheidung auf den Schlachtfeldern vorangegangen ist, es ist der Sieg des Prinzips der nationalen Demokratie [Beifall und Händeklatschen]“.

Wie man auch den Notizen des Stenografen entnehmen kann, war das österreichische Parlament inzwischen so weit, dass es Thematiken und Akzente dieser Art wahrnahm. Zugleich war es bezeichnend, dass die kriegsbedingte Zensur die Veröffentlichung der Rede in italienischer Sprache verbot, wohingegen sie von der deutschen „Reichspostkorrespondenz“ zitiert wurde. Auf jeden Fall stimmten die Trentiner Abgeordneten gegen den Haushalt, während die österreichfreundlichen Friauler Luigi Faidutti und Giuseppe Bugatto dafür stimmten (die Spaltung zwischen Friaulern und Trentinern hatte längst zur Auflösung des Club Popolare Italiano geführt. Im Oktober hielt De Gasperi, ebenso wie andere Parlamentarier, weitere Reden zur Frage der Internierten: Einige Beiträge betrafen eine Bluttat, die sich im Lager von Wagna bei Leibnitz in der Steiermark zugetragen hatte, wo man auf die Insassen geschossen hatte (ein Junge wurde dabei getötet)103. In einem weiteren Redebeitrag vom 16. Oktober 1917 protestierte er gegen die Art und Weise, auf die das Gesetz zur Unterstützung der Flüchtlinge verabschiedet worden war und gegen dessen Einsatz104. Im November brachte ein weiterer casus belli erneut Trentiner und Tiroler gegeneinander auf. Am 13. November wurden die österreichischen Mitglieder für die Delegationen gewählt. Da man länderweise wählte, entfielen auf Tirol zwei Abgeordnete, die aufgrund eines Übereinkommens von 1907 jeweils ein deutscher Christlichsozialer und ein italienisches Mitglied der Volkspartei waren. Bereits im Juli hatte der Vorsitzende der Tiroler Christlichsozialen, der Abgeordnete Schraffl, de Gentili wissen lassen, dass man bereit war, das Abkommen einzuhalten, solange unter den Kandidaten weder er selbst noch Conci oder De Gasperi aufgestellt wurden. Die Volkspartei ließ sich nicht auf diesen Erpressungsversuch ein und am 13. November wurde nach der alten Vereinbarung gewählt: mit 15 Stimmen gewannen Conci und der Christlichsoziale Schöpfer (statt des Deutschnationalen Kofler). Die Deutschnationalen waren aufgebracht und warfen in ihrer Zeitung „Innsbrucker Nachrichten“ den Christlichsozialen vor, für den „Ex-Internierten 102 Das Zitat stammt aus Schillers „Wilhelm Tell“ und ist natürlich bewusst polemisch eingesetzt, bezieht es sich doch auf den legendären Schweizer Freiheitskämpfer. 103 Redebeiträge vom 6. und vom 16. Oktober 1917, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1965-1970 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 104 Ebd., S. 1973-1974 (Originalzitat deutsch von De Gasperi).

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von Katzenau“105 gestimmt zu haben. Zwischen den Tiroler Zeitungen entbrannte eine Polemik, die das gegenwärtige fragile Gleichgewicht offenlegte, denn die Christlichsozialen, obschon sie ihre Stimmen für Conci verteidigten, schrieben in aller Eile in ihrem Presseorgan „Allgemeiner Tiroler Anzeiger“: „Wir können jenen, vor lauter Erregung aufgeblähten Herrschaften ein Geheimnis enthüllen: dass die Christlichsozialen nicht nur keine Allianz mit den italienischen Verrätern aushecken, sondern dass sie sich vielmehr an die Spitze der Agitation gegen diese Tendenzen gestellt haben“.

Das heizte die Polemik natürlich weiter an: Die Tiroler Zeitungen warfen de Gentili, Conci und De Gasperi vor, in ihren Reden „Groll“ gegen Österreich gezeigt zu haben, oder schlimmer noch, sie bezichtigten sie des „Hochverrats“, da sie Personen seien, die „weiter damit rechnen, dass das italienische Tirol an Italien übergehen würde“. Und die Tageszeitung der Deutschnationalen holte zum ultimativen Schlag aus: Der Aufhetzer sei Bischof Endrici, dem die Trentiner Volksparteil wie eine Herde Schafe gehorchten. Die Polemik wurde umgehend vom Sprachrohr der deutschösterreichischen Behörden in Trient, dem Wochenblatt „Il Risveglio austriaco“ aufgegriffen, das auf den österreichfreundlichen Patriotismus aller Trentiner pochte106 und diese dazu aufforderte, die angeblichen „Anweisungen“ des Bischofs nicht zu befolgen, da sie sonst „ein monströses Verbrechen“ begehen würden. Natürlich schrieben Conci und die anderen am 28. November 1917 einen Brief an die Tiroler Zeitungen, in dem sie sie baten, „unsere kategorische Versicherung zu veröffentlichen, dass wir vom Fürstbischof von Trient weder direkt, noch indirekt irgendeine Anweisung hinsichtlich unseres Verhaltens im Parlament erhalten haben“107. In der Zwischenzeit waren die parlamentarischen Arbeiten wieder vertagt worden und das wenige an politischer Aktivität, das man noch ausüben konnte, hatte sich auf den Innsbrucker Landtag verlagert. In der Haushaltskommission des Landtags brachte Conci im Januar 1918 weitere schwere Vorwürfe vor, die das Verhalten der österreichischen Behörden im Trentino betrafen, wobei er auch den mächtigen Hauptkommissar Rudolf Muck direkt angriff (ein weiteres Anzeichen dafür, dass das System auseinanderzubrechen drohte). 105 Das stimmt nicht, Conci war nach Linz konfiniert; doch im Konzentrationslager Katzenau befanden sich die aus politischen Gründen Internierten: Damit betonte man, dass er als „Verräter“ galt. 106 Was mit der Zeit für Spott in den „Innsbrucker Nachrichten“ sorgte, die die Zeitung „Il Risveglio austriaco“ dazu aufforderten, Propaganda für eine Volksbefragung pro Österreich zu machen, da sie sich dieses Ausgangs doch so sicher waren … 107 Die ganze Geschichte findet sich in: G. de Gentili, La deputazione trentina, S. 98-105 (die Zitate stammen aus dieser Quelle).

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Ein weiterer Ort für politische Aktivitäten waren die Kommissionen, die noch immer tätig waren. In einer dieser Kommissionen kam es am 23. Februar – so einige Zeitungen – zu einem vielsagenden Ereignis: Vor allen Anwesenden stimmte der slowenische Abgeordnete Benkovic der Annäherung zwischen jugoslawischen und italienischen Abgeordneten freudig zu und drei Tage später antwortete ihm De Gasperi, er würde jene Annäherung von Herzen und voller Überzeugung unterstützen in der Hoffnung auf den Triumph der „Welttendenz“ nach Freiheit und Demokratie108. Tatsächlich wurde die allgemeine Lage der Doppelmonarchie immer problematischer. Der März 1918 könnte dabei als eine Art Scheidepunkt betrachtet werden. In jenem Monat schrieb General Karl Tersztyànszky einem befreundeten General in Anspielung auf Hamlet: „Unfortunately, so much is rotten in the state of Denmark that the door stands wide open to pessimism“109. Was war geschehen? Zunächst einmal stand es allgemein schlecht um den Kriegsverlauf, ganz besonders aber an der Südfront, wo man es nicht geschafft hatte, Nutzen aus dem Erfolg von Caporetto zu ziehen, da die Gefechtslinie der Italiener am Piave standhielt und sogar Gegenangriffe bevorstanden. Vor allem aber hatte sich das Verhalten der Entente gegenüber dem Habsburgerreich verändert. Ab März lässt sich feststellen, dass die Entente – zuvor eher darauf bedacht, die Position Österreichs in irgendeiner Form zu wahren – nun die Nationalitätenfrage im Reich wieder ins Spiel brachte, wobei sie die separatistischen Bestrebungen der Kriegsflüchtlinge entschieden unterstützte: Man war mittlerweile davon überzeugt, dass ein Separatfrieden mit Wien nicht möglich war110. Ebenfalls im März hatte eine intensive Propagandaaktion begonnen, wobei mit Flugblättern von der italienischen Front aus hinüber zu den habsburgischen Truppen die Themen des radikalen Nationalismus der verschiedenen internen Minderheiten verbreitet wurden111. Das widersprach eigentlich der für viele gültigen Interpretation des Punktes 10 des 14-Punkte-Programms von Wilson (das im Januar 1918 108 Die Episode findet sich in: L. Valiani, La dissoluzione dell’Austria-Ungheria, S. 373, mit Bezug auf jugoslawische und Triestiner Zeitungen. 109 Zitiert nach M. Cornwall, Disintegration and Defeat, S. 167. 110 Man versteht diese Verhärtung nicht, wenn man nicht daran erinnert, dass in jener Phase des Krieges mit Deutschland – schließlich das eigentliche „core business“ der Alliierten – der Sieg in weite Ferne gerückt schien: Die Optimisten nahmen an, dass der Krieg gegen Mitte/Ende 1919 ein Ende finden würde, infolge der ganzen Kraftentfaltung der amerikanischen Truppen. Daher war die Vorstellung eines vorher erfolgenden Separatfriedens mit Österreich als eine durchaus vorteilhafte Lösung eingeschätzt worden; vgl. J.H. Johnson, 1918. The Unexpected Victory, London 1997. 111 Diese Information findet sich bei M. Cornwall, der über dieses Thema seine Doktorarbeit geschrieben hat: The Undermining of Austria-Hungary. The Allied Propaganda Campaign of 1918 against the Austro-Hungarian Army on the Italian Front, PhD Leeds, 1987.

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veröffentlicht worden war), das auf doppeldeutige Weise festlegte, dass „den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz wir unter den Nationen geschützt und gesichert zu sehen wünschen, die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden sollte“, was aber wie das Versprechen einer föderativen Entwicklung des Reichs interpretiert wurde. Zu dieser Schwierigkeit kamen immer größere Engpässe in der Lebensmittelversorgung: Der Hunger wurde in den Städten zum Dauerzustand, aber auch in vielen ländlichen Gebieten des Reichs, vor allem in den Gegenden, die den Kriegsschauplätzen am nächsten lagen. Daran erinnert sich Oskar Kokoschka, der Künstler der Wiener Session in seinen Memoiren: „In Österreich hatte bereits in den letzten Kriegsjahren Hungersnot geherrscht, dazu kam die schon erwähnte Grippeepidemie. Es gab infolge eines besonders strengen Winters eine katastrophale Missernte, auch in den Kronländern, die die arbeitende Bevölkerung in den Städten der Monarchie von der Aussichtslosigkeit einer Verlängerung des Kriegs gegen die Übermacht einer ganzen industrialisierten Welt überzeugte. Zum Ende trugen noch die nach der russischen Revolution heimkehrenden Soldaten die bolschewistischen Lehren unter die im Hinterland stationierten Reserveregimenter. Meutereien brachen aus in der österreich-ungarischen Armee … Aber die Front [hat] trotz ungenügender Verpflegung und schlechter Bewaffnung ausgehalten …“112.

Paradoxerweise war es das Heer, das noch „standhielt“. Auch zu diesem Aspekt gibt es in der Geschichtsforschung abweichende Beurteilungen. Auf der einen Seite mangelte es nicht an Fällen von Desertion (die sogar zunahmen), vor allem kehrten Soldaten nach Heimaturlauben nicht zur Truppe zurück (ein Anzeichen dafür, dass die Behörden die Situation nicht mehr unter Kontrolle hatten). Auf der anderen Seite wird aber die Tatsache zitiert, dass das Heer praktisch bis zum Ende kämpfte und als die Italiener im November, nach der Kapitulation, die habsburgischen Truppengefangen nahmen, die ihnen gegenüberstanden, handelte es sich um 350.000 bis 400.000 Mann, von denen nur ein Drittel „österreichisch-deutsch“ war, die übrigen waren 83.000 Tschechen und Slowaken, 61.000 Südslawen, 40.000 Polen, 32.000 Ruthenen, 25.000 Rumänen und sogar 7.000 Österreich-Italiener113. Die Situation wurde immer verfahrener, auch weil die Umstände des Jahres 1918 die Österreicher immer weiter in die Arme der Deutschen trieben. Am 12. Mai kam es zum fatalen Pilgermarsch Kaiser Karls I. und des Generaloberstabschefs Arthur Arz von Straußenburg zur Obersten Heeresleitung 112

O. Kokoschka, Mein Leben, München 1971, S. 179. Die Zahlen stammen aus A. Sked, The Decline and Fall of the Habsburg Empire 1815-1918, London 2001, S. 266. Sked beharrt darauf, auch anhand einer ganzen Reihe historischer Studien, dass die kaiserlichen Truppen „standhielten“. Allerdings berücksichtigt er auf der Grundlage der Arbeiten von Norman Stone auch, dass es sich um ein technologisch rückständiges Heer handelte, das außerdem unter militärstrategischen Gesichtspunkten schlecht geführt wurde. 113

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der Deutschen in Spa, wo Hindenburg mit Arz den berühmten Waffenbund schloss, bei dem er dem Österreicher Unterstützung beim nächsten entscheidenden Angriff auf Italien im Juni zusagte, dafür aber letztlich eine Unterwerfung Wiens unter Berlin erhielt. Wie schwierig es war, diese Situation richtig zu deuten, lässt sich einer privaten Notiz De Gasperis vom 5. April 1918 entnehmen. „Der Sturm des Weltkriegs hat uns wie auf gewaltigen Rössern emporgetragen, auf plötzlich auftauchende Berge, von denen aus die Sicht über uns zuvor unbekannte Weiten schweift. Wir sehen den historischen Sinn der Ereignisse weit voraus und es gelingt uns, die Beziehung zwischen Fakten zu erkennen, die voneinander nicht ein Jahrfünft, sondern Jahrhunderte entfernt liegen. Zuvor standen wir fast still und während unsere Generation Schritt um Schritt ihren Weg ging, fehlte uns die richtige Perspektive für die Geschichte der Menschheit. Wir werden es heute kaum wagen, an der Schnelligkeit des Fortschritts zu zweifeln, wenn wir daran denken, dass sich im Leben unserer Großväter die napoleonische Epoche vollzog und dass sich das Risorgimento der Nationalstaaten erfüllte, dass unsere Urgroßväter die Französische Revolution miterlebten und von ihren Vätern die Geschichte der englischen erzählt bekamen. Damals bedrohten die Freibeuter die Häfen Englands, das heute die Meere beherrscht. Diese dynamische Sicht macht uns vertrauensvoller und toleranter. Die nervöse Anspannung, die sich auf kleine Widersprüchlichkeiten hin immer gleich regt, lässt angesichts einer langen Sicht auf die Geschichte nach, der Geist ist bereit, sich selbst und den anderen eine längere Rast zuzugestehen. Über allem erkennt man in höchster Höhe den Schatten des Arms Gottes über der Geschichte, der sich zuvor in den Klüften der Zufälle verloren hatte“114.

Dies ist ein typisches Beispiel für die „historische“ Reflexion De Gasperis, auch wenn nichts über die Umstände bekannt ist, die ihn dazu angeregt hatten. Bekannt ist allerdings der Kontext, der zu einer zunehmenden Verschärfung der Lage führte, insbesondere des nationalen Konflikts in Tirol. Dazu trug möglicherweise das Klima bei, das sich durch die wachsende Abhängigkeit von Deutschland gebildet hatte und durch die Erwartungen an eine neue ItalienOffensive. „Wer in jenen Tagen zwischen Wien und Innsbruck unterwegs war“ – erinnerte sich de Gentili115 – „spürte, wie die Wahnvorstellungen von einer Weltherrschaft wieder wach wurden, wie sie die Gemüter im Sommer 1916 nach der Einnahme Warschaus erfasst hatten“. Die Auswirkungen dieses Klimas auf Tirol waren bedrückend, nicht nur aufgrund des Nationalismus und der Rolle von Erzherzog Eugen und seines vom Militär beherrschten Hofes, sondern auch aufgrund des Gewichts, welches 114 Ehrlich gesagt lässt sich dieser Text nicht leicht einordnen. Er ist mit Maschine auf Durchschlagpapier geschrieben und datiert auf „Cavareno [ein Ort im Nonstal], 5.4.18“. Es ist anzunehmen, auch anhand der Maschinenschrift, dass es sich um die Abschrift einer handschriftlichen Vorlage handelt, die aber so nicht im AMRDG vorhanden ist. Somit ist eine genauere Einordnung nicht möglich. 115 G. de Gentili, La deputazione trentina, S. 191-192.

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das Thema Tirol in den österreichisch-deutschen Führungsschichten hatte. Es überrascht nicht, wie sich Anfang April Edgar Meyer, der Anführer des Volksbundes, in der nationalistischen Tageszeitung „Innsbrucker Nachrichten“ über die Zukunft des südlichen Tirols ausließ, das zu germanisieren und von den Italienern zu säubern sei, und so fort (wobei er noch hinzufügte, dass die Italiener darauf abzielten, die Region „bis zum Brenner“ zu erobern). Bei dem Versuch, patriotische Kundgebungen zu organisieren, die den Glauben an den Sieg stärken sollten, lud man die Abgeordneten des Tiroler Landtags auf eine außerordentliche Tagung mit offiziellem Charakter ein, die am 26. April stattfand: Die Italiener waren in diese Einladung eingeschlossen und ihr folgten Conci, Tonelli und De Carli (Abgeordneter im Parlament, nicht im Landtag, aber ebenfalls eingeladen). Es herrschte eine ausgesprochen nationalistische Stimmung, sodass nach der Begrüßungsrede des Landeshauptmanns Schraffl, die er, wie es üblich war, sowohl auf Deutsch als auch auf Italienisch hielt116, die Nationalisten protestierten und auf dem ausschließlichen Gebrauch der „Staatssprache“ und nicht der Sprache der „Verräter“ beharrten. Die Randale nahm kein Ende, trotz der Darstellung einer höchst besorgniserregenden wirtschaftlichen Situation, sodass sich Conci und De Carli gezwungen sahen, unter entrüsteten Protesten den Versammlungssaal zu verlassen. Diese Begebenheit wurde folgendermaßen von der nationalistischen Zeitung der Tiroler Hauptstadt kommentiert: „Dr. Conci hat keinen Grund, sich so aufzuspielen. Er sollte sich klüger zeigen, bescheidener und besonnener, und froh sein, die Internierung so gut überstanden zu haben. Gebrüll und Arroganz von Personen seiner Couleur werden in Innsbruck nicht toleriert, und auch die Rolle des politischen Märtyrers macht keinen Eindruck“117.

Dieser Tagung folgte ein „Kongress des deutschen Volkes“ am 9. Mai 1918 in Sterzing (ein symbolträchtiger Ort, denn hier war der Volksbund gegründet worden). Auch bei dieser Gelegenheit zeigte sich das Triumphgebaren des radikalen Nationalismus in einem Tagesordnungsbeschluss, der sich unter „einem vernünftigen Frieden“ (!) die Ausbreitung der Grenzen Richtung Italien vorstellte, ebenso wie die Allianz und den Zusammenschluss mit Deutschland, und fortfuhr: „5) die Einheit und Unteilbarkeit Tirols von Kufstein bis zur Klause von Verona; entschiedene Verweigerung der Autonomie des südlichen Drittels der Provinz, des 116

Auch die offiziellen Protokolle des Landtags nahmen die Beiträge und Reden in der Sprache auf, in der sie gehalten wurden, ohne Übersetzung: die in italienischer Sprache mit runden Lettern, die in deutscher Sprache in gotischer Schrift, wie es damals üblich war. 117 Vgl. G. de Gentili, La deputazione trentina, S. 196-198, hier findet sich auch das Zitat aus den „Innsbrucker Nachrichten“. Die Begebenheit wird außerdem in den Erinnerungen von E. Conci, Memoria autobiografica, S. 88, wiedergegeben.

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sogenannten Südtirols; 6) unablässiger Kampf gegen den italienischen Irredentismus, einerseits durch den Schutz und die Begünstigung der Deutschen, und andererseits mit der Abschiebung aller irredentistischen Elemente, damit das italienische Tirol endlich wieder zu einem österreichischen Gebiet wird; 7) weder eine Amnestie, noch die Rückkehr der italienischen Verräter“118.

Bei dieser Gelegenheit hatte es natürlich auch Angriffe auf Bischof Endrici (dessen Absetzung immer wieder von den radikalen Nationalisten in Wien gefordert wurde) und den Trentiner Klerus gegeben. Endrici hatte auf diese Angriffe im „Foglio diocesano“ am 28. Mai in aller Schärfe reagiert. Er hatte auch versucht, den Heiligen Stuhl einzubeziehen, doch der nahm in dieser Angelegenheit – wie gleich zu sehen sein wird – eine gänzlich österreichfreundliche Haltung ein119. Man kann sich gut vorstellen, dass dieses Klima, das De Gasperi ebenso wie der gesamten Führung der Volkspartei und auch einem Großteil der Bevölkerung wohlvertraut war, nicht gerade dazu beitrug, das Vertrauen der Trentiner in das Haus Habsburg wieder aufzubauen. Während die Schließung der parlamentarischen Session die Italiener in der Tat auf der einen Seite um eine Plattform brachte, von der aus sie sich gegen diese Flut von Angriffen hätten wehren können, wurden auf der anderen Seite die Beziehungen zu den anderen Nationalitäten des Reichs, die gegen die österreichisch-deutsche Hegemonie kämpften, noch enger. Die Tschechen waren hier in einer günstigen Lage, denn sie waren zahlenmäßig sehr stark und unterstanden nicht der Militärregierung, sodass sie, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, die Erlaubnis bekamen, das fünfzigjährige Jubiläum ihres Nationaltheaters zu feiern. Conci, der als Vizepräsident des Reichsrats immer in guten Beziehungen zu den Tschechen und ihrem legendären Anführer Karel Kramar gestanden hatte, wurde zu den Feierlichkeiten eingeladen und trug am 16. Mai seinen Gruß (auf Italienisch) vor, in dem er sich den „Triumph“ ihrer nationalen Mission wünschte: „Dies ist der Wunsch eines Verfolgten für Verfolgte, des Vertreters einer unterdrückten Nation, die noch immer unter schwerer Bürde stöhnt. Auf dass sich der brüllende tschechische Löwe [so ist er auf dem böhmischen Wappen dargestellt] bald in aller Ruhe niederkauern kann, voller Zufriedenheit über seinen Triumph“120.

118 Der vollständige Text findet sich in: G. de Gentili, La deputazione trentina, S. 207-208. 119 Vgl. S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 371-374. Der Bischof war in der „Reichspost“ sogar von den deutschen Ordensbrüdern des Klosters, in das er verbannt war, angegriffen worden – ein Zeugnis des radikalen Nationalismus selbst unter den Christlichsozialen, die sich ganz offensichtlich nicht mehr daran erinnerten, dass sie Endrici um Unterstützung in Rom gebeten hatten. 120 Zitiert nach G. de Gentili, La deputazione trentina, S. 209.

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Diese Äußerungen brachten ihm die Empörung der Österreichdeutschen und vor allem der Tiroler ein: Die Bürgermeister von Innsbruck (22. Mai) und Bozen (2. Juni) verlangten, den erster Landeshauptmannstellvertreter von Tirol seines Amtes zu entheben; in den Tiroler Zeitungen gab es scharfe Kritik; ihnen folgten die offiziellen Blätter in den italienischen Gebieten, die ganz offensichtlich von den Militärbehörden manipuliert waren, im „adriatischen“ Teil kam es geradezu zur Kollision, denn dort dominierte eine stark antislawische Haltung. Angesichts der Hetze und der Stimmungslage entschied Regierungschef Seidler – während der Krise vom Juni 1917 zum Ministerpräsidenten ernannt und relativ nationalistisch gesonnen – Conci am 22. Juni 1918 seines Amtes zu entheben. Das ließ er zunächst die Presse und erst dann die Behörden und den Betroffenen selbst wissen. Am 10. Juli schrieb Conci in scharfem Ton an den Ministerpräsidenten, in dem er die „offenkundige Illegalität“ dieses Vorgehens anprangerte, und aus Protest gab er seinen durch Franz Joseph verliehenen Verdienstorden (Komtur) zurück121. In der Zwischenzeit ließ sich die Parlamentseröffnung nicht länger vertagen, nachdem sie im Mai noch einmal aufgeschoben worden war. Noch am ersten Tag, dem 16. Juli, legte De Gasperi dem Ministerpräsidenten eine Anfrage zur Untersuchung der Amtsenthebung von Conci vor. Mit dieser Amtsenthebung „wurde … die italienische Bevölkerung der Landes gekränkt, welcher gezeigt wurde, daß sie in keiner Weise berücksichtigt und daß nur aufs Diktat von Vertretern der deutschen Bevölkerung vorgegangen wird“122. In der Tat hatte Seidler auf Druck der Nationalisten noch auf eben jener Sitzung vom 16. Juli die entschieden „deutsche“ Ausrichtung der Habsburger Politik betont123. Auch vonseiten des Vatikans wurde diese Wende, wenn schon nicht begrüßt, so doch als Tatsache akzeptiert. Der Heilige Stuhl schien darum bemüht, dieser Ausrichtung entgegenzukommen, soweit sie die Tiroler betraf. So ist bekannt124, dass ab dem 8. Juli auf Bischof Endrici eingewirkt wurde, damit er als „Generalvikar in Vertretung … den Kanoniker Baldassar Rimbl, deutsch und der Regierung genehm“, ernenne – das hieß, einen der Gegner der italienischen Linie des – seines – Bischofs. In einem Brief vom 22. September 1918 brachte Staatssekretär Kardinal Gasparri erneut diese Aufforderung vor, begleitet vom Bedauern des Papstes, dass Rimbl stattdessen nur zum „Pro-Vikar in Bozen und ausschließlich für den deutschen Teil“ 121

Der Inhalt des Briefes ebd., S. 224-225. A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1975-1976 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). Die Anfrage wurde von 8 italienischen Abgeordneten und von 27 Abgeordneten weiterer „unterdrückter“ Nationalitäten unterzeichnet, darunter einige Vorsitzende ihrer „Klubs“ (parlamentarischen Gruppen). 123 M. Cornwall, The Dissolution, 1. Aufl., S. 136. 124 S. Benvenuti, I principi vescovi, S. 379-380. 122

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ernannt worden war. Man drängte daher weiter auf die Ernennung zum Generalvikar, „um mögliche Schwierigkeiten in der Verwaltung der Diözese von Trient zu vermeiden“. Ohne diesen Kontext vor Augen versteht man die bemerkenswerte Kraft und Entschlossenheit der Rede nicht, die De Gasperi am 4. Oktober im Parlament hielt125. Er stand natürlich noch in Kontakt mit dem Bischof, aber auch mit einer Gruppe von Trentiner Intellektuellen, die in der Zwischenzeit kulturelle Initiativen im „italienischen“ Sinne für die Nachkriegszeit vorbereiteten126. Auf jener Parlamentssitzung wurde auch die Erklärung der Regierung debattiert, die damit nach einer ersten Lektüre auf die Friedensvorschläge reagierte, das heißt, man behandelte die nicht mehr länger aufzuschiebende Kernfrage: die Zukunft des Reichs. Gleich zu Beginn stimmt die Rede mit einer rhetorischen Fragestellung auf ihre polemische vis ein: „Wie kannst du hier, indem du von der parlamentarischen Bühne aus das Wort ergreifst, dir den Anschein geben, als ob du ein freier Vertreter eines freien Volkes wärest, während in der Tat dein Volk in politischer Knechtschaft lebt und du selbst kaum die elementaren Rechte des Bürgers genießt?“

Doch bezog er sich diesmal nicht auf die übliche Problematik der schlechten Behandlung der Bevölkerung, sondern vielmehr auf die Frage der Neuordnung des Verfassungssystems des Reichs. „In der Tat, meine Herren, diese Debatte geht von einer falschen Voraussetzung aus, daß man nämlich über das Dilemma politische Freiheit oder Tyrannei eine Diskussion führen könne, während die erste die zweite in Ketten hält. Diese falsche Voraussetzung hat der Ministerpräsident127 genährt, indem er uns angelockt hat, über das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu diskutieren, als ob dieses Prinzip für die Regierung wirklich in Diskussion stünde, als ob die militärische Oligarchie sich in Abrüstung befinden würde und die Autokratie nur den konkreten Ergebnissen unserer Beratungen entgegensehen würde, um dann gleich abzutreten. Jeder weiß aber, daß es nicht so ist“. 125

Siehe dazu A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1985-1990 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 126 Diese Information stammt aus einem Brief vom 24. September 1918, den Pater Chiocchetti an den Bischof nach Heiligenkreuz zusammen mit Gino Onestinghel geschrieben hatte, einem der bedeutendsten Trentiner Intellektuellen im Kampf für die nationale Kultur; vgl. L. de Finis, Contributo per la conoscenza della vita e del pensiero di uno studioso trentino, in: Studi trentini di scienze storiche, 40 (1981). In diesem Brief, zitiert aus: S. Benvenuti, Emilio Chiocchetti e l’ambiente culturale, S. 182-183, zeigten sich die beiden überzeugt davon, dass De Gasperi ausführlich mit dem Bischof über ihre Forschungsprojekte gesprochen hatte. 127 In der Zwischenzeit hatte es wieder einen Wechsel gegeben, denn am 25. Juli war Max Hussarek von Heinlein zum neuen Vorsitzenden des Ministerrats ernannt worden.

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Der Trentiner Abgeordnete hatte nicht zu Unrecht den Verdacht, es handele sich um eine „sich der momentanen Lage anpassende relative Freiheit mit dem Vorbehalt des Absolutismus“, das heißt, mit dem Vorsatz, diese Ergebnisse im Anschluss wieder „mit allen Waffen der spezifisch ‚alten österreichischen Tradition‘“ zu annullieren. Im Weiteren analysierte er die Verhandlungen zwischen Österreich und Italien zur Zeit der Neutralität (über die man nach der Veröffentlichung des „Grünen Buches“ vonseiten der Italiener und des „Roten Buches“ vonseiten der Österreicher mittlerweile weidlich informiert war)128. Hier beklagte er, dass man dabei nicht nur die Bürger der betroffenen Gebiete nicht einbezogen hätte, sondern nicht einmal die von den Bürgern gewählten Abgeordneten: eine Tatsache, die dem amerikanischen Journalisten, der in jener Zeit ein Interview mit ihm führte, als „so unfassbar“ erschien, dass er sich darüber nur wundern konnte: „Zwei Epochen, zwei Welten standen sich hier eben gegenüber“129. Es folgte die bedeutsame Interpretation des Kriegs, der ein politisches Ereignis gewesen war: „Das Militär führte hier [im Trentino] systematisch ein bestimmtes Programm durch. Das Programm lautete: Ausrottung des italienischen Elements“. Man achte darauf, wie er fortfuhr: „Die Methoden waren militärisch, das Programm war aber alt; es ist das Programm der deutschradikalen Richtung im Tiroler Volke“. Diese Feststellung ist wichtig und wird für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung sein130. Nachdem De Gasperi allen die schwierigen Bedin128 So nannte man die beiden Sammlungen diplomatischer Akten und Schriftstücke, die von den beiden Staaten im Jahr 1915 veröffentlicht worden waren. 129 Man beachte, dass hier implizit die Ähnlichkeit mit den napoleonischen Kriegen angedeutet wird, was der Interpretation im Sinne Mazzinis entsprach, aber auch der für Wilson typischen These, nach der der Krieg die Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie war. 130 In der Tat muss die komplexe Problematik Südtirols, das nach Kriegsende an Italien abgetreten worden war, im Lichte dieser Wurzeln betrachtet werden. Bekanntermaßen ist die Geschichte sehr kontrovers: Ohne eine unparteiische Kenntnis dieser Vergangenheit ist sie nicht einzuordnen, wenn man den Versuch des Faschismus, alle nationalen Wesensmerkmale Südtirols zu tilgen, in Betracht zieht. Dann die problematische Zusammenführung durch das Gruber-De-Gasperi-Abkommen 1946 und die anschließenden Ereignisse in Südtirol als Ausdruck des schwierigen Verhältnisses zu Italien. Leider fehlte dieser Blickwinkel nicht nur dem radikalen Südtiroler Nationalismus, sondern auch den zahlreichen Historikern, die unter dem Eindruck der neuen, unzeitgemäßen Romantik der „unterdrückten Völker“ standen. Zu diesem Thema, das nur scheinbar von dem fortführt, was hier behandelt wird, sei der Hinweis erlaubt auf P. Pombeni, La storia come peso e come liberazione. Considerazioni sui contesti dei rapporti fra Italia, Sudtirolo e Trentino, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 32, 2006, S. 201-236; hier finden sich die Beiträge einer Tagung zum Gruber-De-Gasperi-Abkommen.

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gungen, unter denen sein Volk lebte, mit deutlichen Worten vor Augen geführt hatte, brach es aus ihm heraus: „Seht, wie das vielumstrittene Trentino heute ist, seht ihr Deutschtiroler, wie das vielgehasste Welschtirol in Wirklichkeit ausschaut“. Verantwortlich dafür ist „die Innsbrucker Landeskanzlei – ich nenne so die Statthalterei – …, in welcher sich die Fäden der militärischen Willkür, der deutschnationalen germanisierenden Bestrebungen und der beschränkten Tiroler Kurzsichtigkeit zu einer konstanten politischen Richtschnur verknüpft haben“. Es fehlte auch nicht die leidenschaftliche Verteidigung seines Bischofs, an dessen ungerechtes Schicksal er den Ministerpräsidenten noch einmal erinnerte. „Er weiß, dass der Fürstbischof nur gelehrt hat: ‚Gebet dem Kaiser, was des Kaiser ist, und Gott, was Gott ist!‘ Eine evangelische Formel, meine Herren, zu welcher die Religionslehrer in der Zeit der politischen Umwälzungen, von der amerikanischen Revolution bis zu unseren Tagen, als einen Rettungsanker gegriffen haben, jedes Mal, wenn die Machthaber von den Völkern auch das, was Gott dem freien Menschen vorbehalten hat, verlangten“.

Die Rhetorik (aber es handelte sich hier nicht nur um Rhetorik) war zweifellos mitreißend. Dabei lag das politische Herz dieser Rede an anderer Stelle, nämlich in zwei Sätzen, die schon in vielen Arbeiten über De Gasperi hervorgehoben worden sind, aber, so die Einschätzung des Autors, zu sehr aus ihrem Kontext gelöst wurden, obwohl der Zusammenhang gerade hier entscheidend ist. Die erste Feststellung ist die folgende: „Und wenn wir aus diesem Staatsverbande scheiden sollten, so sollen die Regierung und die deutschen Parteien ihr Gewissen fragen, ob sie nicht alles Mögliche getan haben, um uns diesen Schritt leicht zu machen“. Noch bekannter ist die zweite Feststellung: „ob das Trentino zu einem oder dem anderen Staate angehören wird, das entscheiden nun einmal die Waffen. Wir ‚Nichtkombattanten‘ können darauf keinen Einfluss nehmen und was dabei im Gehirn eines Trientiners gärt, ist mindestens bis zum Friedensschlusse vollkommen irrelevant“ Wir haben es hier mit zwei Feststellungen zu tun, die für sich genommen doppeldeutig scheinen mochten (wobei man die erregte Stimmung berücksichtigen sollte, in der man darauf achten musste, nicht in den Verdacht des Hochverrats zu geraten)131, die aber sehr wohl verstanden wurden – „in dieser Atmosphäre von Hass und Unverständnis“ (um die Schlussworte 131

Einige Autoren, die in ihren Kommentaren zu diesen Standpunkten deutlich machen, wenig von Politik zu halten, berücksichtigen dabei aber beispielsweise nicht den Unterschied zwischen denen, die für die Schaffung von autonomen und unabhängigen Staaten im Vergleich zum alten Reich eintraten, und denen, die wie die Trentiner hätten fordern müssen, dass ein Stück des Reichs an den „Feind“, gegen den man Krieg führte, abgegeben werden sollte. Der Unterschied ist nicht unerheblich.

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von De Gasperis Rede zu verwenden). Zu diesem Zeitpunkt war für den Großteil der österreichisch-deutschen Politikerklasse die Frage des Trentino noch ungelöst. Das versteht man am besten, wenn man die letzte Rede von De Gasperi im Reichsrat am 11. Oktober liest. Auch hier begann er mit einem Protest gegen die illegale Inhaftierung von Trentinern ohne Prozess132, behandelt dann aber die Frage der Zukunft des Landes133. De Gasperi wies darauf hin, dass eine Wiener Zeitung über seine Rede vom 4. Oktober geschrieben habe, sie sei „ein Abschied von Österreich gewesen, aber doch nur die Tat eines einzelnen wankelmütigen Gewissens, nicht die Stimme des Trentino und seiner Abgeordneten“, und machte dann eine mehr als bedeutungsschwere Äußerung, und es lohnt sich, diese in ihrer Gesamtheit wiederzugeben. „Der Landeshauptmann von Tirol Schraffl hat nach seiner Unterredung mit Grafen Burián in den Tiroler Zeitungen erklären lassen, er sei nun vollkommen beruhigt, denn die definitive Entscheidung hinge von der Stellungnahme der italienischen Bevölkerung ab, und falls ein Plebiszit möglich wäre, so könne als sicher gelten, daß die Mehrzahl der Italiener Südtirols sich für ein Verbleiben bei Österreich aussprechen werde. Gegenüber diesen Erklärungen … sei hier, um auch jeden Zweifel betreffs der Erwartungen und Anschauungen der italienischen Bevölkerung in diesem Augenblick, wie man vielleicht aus der Rede des Abgeordneten Bugatto schließen könnte134 … feierlich und freimütig konstatiert: Die tridentinische Bevölkerung erwartet vom Friedensschlusse die Anerkennung des Nationalprinzips und dessen tatsächliche Anwendung auf die derzeit in Österreich lebenden Italiener. Sie ist auch überzeugt, daß die österreichisch-ungarische Regierung, indem sie den 14 Punkten Wilsons zugestimmt hat, auch ihrerseits diesen Standpunkt schon anerkannt habe. Falls aber ein Plebiszit vorgenommen werden sollte, so sei der Landeshauptmann von Tirol und mit ihm auch der Herr Abgeordnete Kraft beruhigt, daß die überwältigende Mehrheit der italienischen Bevölkerung – insofern ihre Willensäußerung frei von Zwangsmitteln erfolgen könnte – unbedingt diesen Standpunkt billigen und mit voller Überzeugung bestätigen würde. [Beifall]“

Der Beifall, den der Stenograf des Parlaments notiert, ist ein Hinweis auf die Situation, in der sich der Reichsrat mittlerweile befand. Wichtiger ist es, festzuhalten, dass De Gasperi hier die berühmte Annahme während der Verhandlungen um die italienische Neutralität umkehrte, nach der eine Volksbefragung im Trentino von äußerst ungewissem Ausgang gewesen wäre. In seinem klarsichtigen politischen Realismus hatte der Parlamentarier der 132 Das war bereits in einer Dringlichkeitsanfrage am Tag zuvor zur Sprache gekommen: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1993-1994 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 133 Siehe dazu den kurzen Text ebd., S. 1996-1997 (Originalzitat deutsch von De Gasperi). 134 Wie bereits erwähnt, handelt es sich um den friaulanischen Abgeordneten, der für eine Allianz mit den Habsburgern war.

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Volkspartei bestens begriffen, dass der Krieg eine radikale Wende mit sich gebracht hatte, und wie bereits gesehen, hatte er das auch immer wieder zu verstehen gegeben. Das berühmte „Manifest der Völker“, mit dem Kaiser Karl einige Tage später (am 16. Oktober) versuchte, zu retten, was noch zu retten war, und eine föderative Reform in Gang brachte, kam zu spät. Auf Vorschlag von De Gasperi hatten sich die italienischen Abgeordneten am 24. Oktober in der Wiener Kammer zu einem „fascio nazionale“ zusammengeschlossen, mit Ausnahme von Faidutti und Bugatto, die den Habsburgern treu blieben: Conci wurde zum Präsidenten gewählt, der Liberale Rizzi aus Istrien wurde Vizepräsident und De Gasperi Sekretär135. Im Namen der neuen Gruppierung stellte Conci tags darauf ihre Position offiziell vor: „Die italienischen Abgeordneten in der Kammer von Wien, die sich zum ‚Fascio Nazionale‘ zusammengeschlossen haben, erklären, dass aufgrund der Postulate von Präsident Wilson, die auch von den Mittelmächten anerkannt und akzeptiert worden sind, alle italienischen Regionen, die bislang der österreichisch-ungarischen Monarchie unterstanden, keine ausgenommen, als nunmehr getrennt von ihrem Territorium anzusehen sind, weshalb die italienischen Abgeordneten nun nicht die Aufgabe haben, sich Verhandlungen mit der österreichischen Regierung und mit den Vertretern der anderen Nationalitäten, die aktuell zu Österreich gehören, für eine Neuordnung des Staates zu stellen. Da alle italienischen Gebiete innerhalb der derzeitigen Grenzen der Monarchie von nun an virtuell dem italienischen Staat angehören, protestieren die Abgeordneten vor allem gegen die Sonderbehandlung, die man nach den Absichten der Regierung der Stadt Triest angedeihen lassen will“136.

Am 31. Oktober erhielten Conci und De Gasperi, Malfatti, der Istrianer Rizzi und der Triestiner Gasser die Erlaubnis, in die Schweiz zu reisen, um dort um Nahrungsmittellieferungen für ihre Landsleute zu bitten: Natürlich wussten alle, dass es um etwas anderes ging. Über Zürich setzten sie ihre Reise nach Bern fort, wo sich der diplomatische Vertreter Italiens, Marchese Ranieri Paolucci de Calboli, aufhielt, dem sie am 1. November folgenden Brief schrieb137. „Exzellenz, kaum dass wir die Grenze überschritten haben, ergreifen wir sogleich die Gelegenheit, Ihrer Exzellenz dem Vertreter der Regierung Italiens darzulegen, was der Abgeordnete Conci im Namen der Abgeordneten des ‚Fascio Nazionale‘ am 23. Oktober vor der fremden und unterdrückenden Regierung und den österrei135 Die weiteren Mitglieder waren: die Mitglieder der Trentiner Volkspartei De Carli, Delugan, de Gentili, Grandi, Tonelli; Spataro, der Volksparteiler aus Istrien; der Trentiner Liberale Malfatti; die Liberalen aus Istrien Gasser und Ussai. 136 Die Kopie dieser Erklärung befindet sich in: MSTF, Nachlass Conci, Umschl. 3, Bl. 33. 137 Kopie ebenfalls in: MSTF, Umschl. 2, Bl. 16.

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chischen Völkern erklärt hat, nämlich dass die italienischen Bevölkerungsgruppen innerhalb Österreichs – keine Region ausgenommen – in höchstem Maße ihr Recht einfordern, sich der Nation anzuschließen, und dass sie ihr in treuem Glauben die hohen Ziele Italiens anvertrauen, ihr eigenes Schicksal und die eigene Zukunft. Während unserer Mission vom schicksalsschweren Überstürzen der Ereignisse und von der glorreichen Aktion des Heeres und der italienischen Armee überrascht, die unseren Landen die ersehnte Freiheit und unseren leidenden Völkern das Leben zurückgeben, bitten wir Ihre Exzellenz, sich bei Seiner Majestät dem König, dem Oberkommando der Streitkräfte, zum Interpreten unserer Gefühle der Bewunderung und der höchsten Dankbarkeit zu machen, und bei der Staatsregierung zum Interpreten unseres Vertrauens in das Handeln und das Schicksal Italiens, mit dem die Zukunft der Bevölkerungen, die wir vertreten, nunmehr glücklich und unauflöslich vereint sind. Unter diesen Voraussetzungen und in diesem Sinne bitten wir Ihre Exzellenz, den zuständigen Autoritäten dieses Schreiben zukommen zu lassen, das wir für den Fall verfasst hatten, falls es vor der überwältigenden italienischen Offensive zum Waffenstillstand gekommen wäre. Heute empfehlen wir uns dem weitsichtigen Urteil der Königlichen Regierung, darüber zu bestimmen, wie und was seines Inhaltes unter den nunmehr veränderten Bedingungen noch in Erwägung zu ziehen wäre. Für weitere Klärungen und im allgemeinen für alle Handlungen im moralischen und praktischen Sinne, die in den unerlösten Provinzen umgehend notwendig werden könnten, stellen sich die unterzeichnenden Abgeordneten, auch im Namen ihrer Kollegen des Fascio Nazionale, zur kompletten Verfügung der Regierung Italiens. Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung“.

Diesem Brief war ein „Memorandum“ beigefügt, in dem man sich bemühte, wichtige Maßnahmen zu empfehlen, die im Moment des Waffenstillstands auszuhandeln waren (sofortige Entlassung der Italiener, die im österreichischen Heer dienten, Freilassung der politisch Verurteilten, Rückgabe der Kunstgegenstände, die während des Kriegs entfernt worden waren, usw.). Mit einem italienischen Passierschein, der bezeichnenderweise das Datum vom 4. November trägt, begeben sich die Trentiner Abgeordneten nach Rom, wobei sie in Mailand Station machen: In der euphorischen Stimmung des Kriegsendes wurden sie wie Helden empfangen, vertraten sie doch die endlich „erlösten“ Gebiete. In der Hauptstadt wird De Gasperi den König treffen, die Politiker Orlando, Sonnino, Salandra und weitere. Eine Epoche war zu Ende gegangen. Mit seiner Arbeit im Habsburger Trentino hatte sich Alcide De Gasperi von einem jungen Universitätsstudenten durch die neuen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten zu einer bedeutenden politischen Persönlichkeit entwickelt, die sich durch ihre Beharrlichkeit und Umsicht in schwierigen Jahren eine Führungsrolle erobert hatte. Er war ein Berufspolitiker geworden, im besten und vollständigen Sinne des Wortes.

Schluss

Lasten und Vorteile einer Habsburger Erbschaft Welche Erfahrungen aus den Bildungs- und Lehrjahren prägend für die Laufbahn eines Politikers sind, ist meist nicht leicht zu bestimmen. Einfacher ist es, wenn der Politiker selbst autobiografische Überlegungen angestellt hat, oder wenn sich in seinem Wirkungsfeld und in seinem Werk direkte Verweise auf jene frühen Phasen ausmachen lassen (natürlich ist die Erinnerung nicht immer unbedingt eine „historische“ Tatsache, sondern möglicherweise auch eine Interpretation, die von späteren Erfahrungen beeinflusst wird). Wenn es aber – wie im Fall von Alcide De Gasperi – quasi überhaupt keine persönlichen Verweise auf die eigene Vergangenheit gibt, ist die Rekonstruktion ein schwieriges Unterfangen. Die Gefahr ist groß, ein Gesamtbild zu konstruieren, dass so nicht exakt der Wahrheit entspricht. Oder man begibt sich auf das zweifelhafte Terrain der dilettantischen Psychologisierung. Hinzu kommt, dass De Gasperi aufgrund des kulturellen Klimas jener Zeit die Möglichkeit verwehrt blieb, sich öffentlich zu den frühen Jahren seiner Karriere zu äußern: Der Mythos vom „vierten Krieg des Risorgimento“, einschließlich der Befreiung der „irredenti“, beherrschte in Italien seit 1919 die gesamte öffentliche Meinung, so unterschiedlich die Standpunkte ansonsten auch sein mochten. Das machte es unmöglich, ein unvoreingenommenes Urteil über Vorgänge zu fällen, die sich noch zu Zeiten des Habsburgerreichs, des historischen Erzfeinds Italiens ereignet hatten. Italiens Selbstbild nicht nur als „Nation“, sondern auch als „Machtstaat“ hatte sich an diesem Gegensatz herausgebildet. Die Anklage des austriacantismo lastete auf De Gasperi von 1922 nahezu bis an sein Lebensende (zwischen 1919 und 1922 ruhte der Vorwurf dank seiner Rolle im letzten Kriegsjahr, als er, wie beschrieben, zu denen gehörte, die sich öffentlich dafür einsetzten, den Anschluss der Trentiner Gebiete an Italien vorzubereiten). Im heutigen politischen und geschichtswissenschaftlichen Diskurs mag es sinnlos erscheinen, die Polemik über die italianità De Gasperis1 wieder aufzurollen. Doch liefert sie nach wie vor einen interessanten Ansatzpunkt,

1 Zu diesem Thema gibt es eine genaue Analyse von S. Benvenuti, La polemica sulla „italianità“ di Degasperi, in: F. Simonetto / A. Vadagnini (Hrsg.), Alcide Degasperi. Un trentino nella storia d’Italia 1919-1954, Borgo Valsugana 1994, S. 121154.

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nämlich die Beziehung des Politikers zu dem historischen Kontext, in dem er wirkt und handelt, der ihn einschränkt, ihm aber auch Möglichkeiten eröffnet. Wie bereits im Vorwort zu dieser Arbeit angesprochen, gibt es – laut Max Weber – zwei Arten Politiker: solche, die nach der Gesinnungsethik handeln, und solche, die eher der Verantwortungsethik zuzuordnen sind. Erstere suchen nach Kohärenz zwischen ihrem Verhalten und ihrer Vorstellung davon, wie die Welt ihrer Ansicht nach „sein muss“, um sich als Vorbereiter dieses „Seinmüssens“ verstehen zu können; für Zweitere zählt die Pflicht, so zu handeln, dass nicht ihr persönliches Ansehen im Vordergrund steht, sondern das bestmögliche Ergebnis für die Sache, in deren Dienst sie sich gestellt haben. Beiden gemein ist die Vision eines Ideals, doch die Vorstellungen davon, wie dieses erreicht werden soll, sowie die Folgen, die der eingeschlagene Weg mit sich bringt, sind höchst unterschiedlich: Für den ersten Typus (den Weber auch als „Propheten“ bezeichnet) ist das Ziel die Ankündigung einer zukünftigen Welt, in der Überzeugung, allein die Verkündigung trage bereits die Kraft der Verwirklichung in sich, wofür es aber notwendig ist, dass er selbst als Zeuge für die „neuen Zeiten“ auftritt; der zweite Typus ist der „Staatsmann“, dessen Ziel die schrittweise Annäherung an das Ideal ist, wobei er – soweit möglich – zu verhindern versucht, die bereits erreichten Ziele aufs Spiel zu setzen (denn ihm ist bewusst, dass diese Ziele das Ergebnis großer Anstrengung und geduldiger Arbeit sind). Beide Figuren besitzen Führungsqualitäten, also die Fähigkeit, ihre Anhänger über die verschlungenen Pfade der Geschichte zu „führen“, wobei sie ihnen „Vertrauen“ (Glauben?) in die ungewisse Gegenwart und in die Realisierbarkeit des angestrebten Ideals vermitteln2. Alcide De Gasperi gehört zweifelsohne zum zweiten Typ. Wie man gesehen hat, beruft er sich selbst gern auf den „Realismus“ und er beharrt auf dem Vorwurf an seine Gegner, Liberale wie Sozialisten, dass diese es stets nur darauf anlegten, Prinzipien und „Martyrien“ zu proklamieren, ohne dass dies konkrete Ergebnisse zeitige. Das polemische Schlagwort „nullismo“, mit dem er die Taktik seiner politischen Gegner abstempelt und anprangert, spiegelt auch seine Auffassung von „politischer Aktion“ wider. Es wäre zu einfach, daraus abzuleiten, der Trentiner Politiker sei – wie er häufig charakterisiert wurde –, ein Pragmatiker, geschickt in der Kunst des Machbaren und bereit, die Umstände hinzunehmen; ein österreichischer Legitimist, der aus den genannten Gründen keine Schwierigkeiten hatte, sich 2 Zu diesem Thema erlaube ich mir den Verweis auf P. Pombeni, La questione della leadership nel pensiero e nella storia politica europea del XIX e XX secolo, in: Dal Mondo Antico all’Età Contemporanea. Studi in onore di Manlio Brigaglia, Rom 2001, S. 735-764.

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im Inneren des Habsburger Systems zurechtzufinden, der sich zwar für den „autonomistischen“ Kampf seiner Region einsetzte, doch an einer „irredentistischen“ Lösung nicht interessiert war. Es sei erlaubt, diese Interpretationen als schlichtweg naiv zu erachten. Sie lassen die Besonderheiten außer Acht, welche die Position als „Berufspolitiker“ mit sich bringt (und im vorliegenden Fall, die eines noch in der Entwicklung begriffenen „Staatsmannes“). Und sie gehen von den Vorstellungen einer individualistischen und historisch-teleologischen Ethik aus, welche die Besonderheiten der realen „historischen“ Zusammenhänge nicht berücksichtigen. Im Folgenden wird noch deutlicher, dass De Gasperi kein „Pragmatiker“ im landläufigen Sinne war, denn er war eben doch nicht bereit, seine langfristigen Zielsetzungen für ein Linsengericht zu verkaufen. Das zeigte auf unmissverständliche Weise seine Opposition gegen den aufkommenden Faschismus und auch gegen den Faschismus nach seiner Machtergreifung: Gerade weil er Realist war, hatte er sofort die Kraft und die Erfolgsaussichten jener Bewegung erfasst. Doch er war nicht bereit, sich ihr zu unterwerfen, auch dann nicht, als der Faschismus zu einem Regime geworden war und es höchst unwahrscheinlich schien, dass dieses bald zu Fall kommen würde. Dies sei hier nur kurz erwähnt, da es ja nicht in die Zeit fällt, die im Mittelpunkt dieser Darstellung steht. Auch im Verhältnis des jungen politischen Führers aus dem Trentino zur Realität des Habsburgerreichs offenbart sich keinerlei „legitimistische“ Gesinnung: Nie hatte sich De Gasperi – wie die vorangegangenen Seiten bezeugen – jener Welt, sei es aus „wertbezogenen Überzeugungen“ oder aus grundsätzlicher Überzeugung, zugehörig gefühlt, noch hat er sie je als „Ideal“ interpretiert, mit dem er auf starke oder gar unauflösliche Weise verbunden gewesen wäre. Das Habsburgerreich war die historische Realität, in die De Gasperi hineingeboren worden war und entsprechend nahm er sie als „natürlichen“ Horizont an, innerhalb dessen er agierte. Doch je mehr dieser Rahmen unter dem Druck der historischen Wandlungsprozesse auseinanderzubrechen drohte, desto stärker engagierte sich De Gasperi als Anführer, der sein Volk aus diesem „hinaus“ führen wollte: zunächst durch Herausbildung einer „nationalen trentinischen“ Identität innerhalb der Möglichkeiten eines im „föderativen“ Wandel begriffenen, aber noch immer „dynastischen“ Systems. Später, da die erstgenannte Perspektive hinfällig war, durch den Versuch – soweit das in der schwierigen Zeit während des Weltkriegs möglich war –, seinem Volk zur Einbindung in die „Schwesternation“ zu verhelfen. Diese Dynamik darf nicht unterschätzt werden, und wir meinen, dass der junge politische Führer einer der wenigen war, der ahnte, in welche Richtung es gehen würde und dass es galt, die Marschrichtung immer wieder neu zu definieren und dem stürmischen Verlauf der Ereignisse anzupassen.

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Zunächst sei festgehalten, dass eine „Auflösung“ der Habsburger Macht welche die Anbindung des Trentino an Italien ermöglicht hätte, noch bis zur – unvorhergesehenen und unvorhersehbaren – Julikrise 1914 von allen für unwahrscheinlich gehalten wurde3. Ein passionierter, nicht unbedingt „objektiver“ Beobachter, mit herausragendem politischem Gespür, nämlich Benito Mussolini, veröffentlichte Ende 1910 einen Artikel in Prezzolinis „La Voce“. Darin maß er dem Trentiner Irredentismus keine Bedeutung bei und schloss auch die konkrete Perspektive einer Annexion des Trentino an Italien aus4: „Es ist sicher, dass es in Trient keine Irredentisten gibt – sollte es sie geben, zeigen sie sich nicht offen als solche –, auch wären sie, angesichts ihrer geringen Zahl, nicht in der Lage, irgendeine Vereinigung zu bilden“. Das Urteil war scharf und in „technischer“ Hinsicht übertrieben, wie gleich zu sehen sein wird, doch spiegelte es die Wahrnehmung eines Menschen wider, dessen politische Ansichten von der feurigen Glut des „Radikalismus“ durchdrungen waren. Mussolini sah im Trentiner Land „alle unter dem österreichischen Joch resigniert“, da „der Trentiner an sich nicht revolutionär, sondern konservativ ist“, seiner Meinung nach aufgrund von „zu viel deutschem Mischblut und zu viel Priesterblut“. Und natürlich ist „die ländliche Bevölkerung österreichfreundlich“. Über die Annexion sagte er, „diese Hypothese [sei] – beim aktuellen Stand der Dinge und vielleicht auch danach – die absurdeste“. Genauso wenig sei im Reich mit einem Wandlungsprozess in Richtung föderatives System zu rechnen, wofür man die kleineren Nationalitäten hätte ziehen lassen, denn „dieses Kalkül ist eine Fantasie. Der österreichische Staat wird mit dem Tod von Franz Joseph nicht auseinanderfallen, denn sein Nachfolger existiert schon, er steht bereit, und wenn er auch noch nicht auf dem Thron sitzt, so regiert er doch bereits und lässt von sich hören. Auch sind dies keine Zeiten, in denen die Frage der Nachfolge eines Herrschers eine schwere Staatskrise auslösen würde“. Interessant sind seine abschließenden Überlegungen. Zuerst hält er sich an ein damals gängiges Konzept: „Doch was ist der Staat in seiner direkten 3 Es stimmt schon, dass es viele Spekulationen über den bevorstehenden Ausbruch eines großen europäischen Krieges gab, doch handelte es sich um eher vage Vorahnungen. Kaum jemand sah voraus, dass dieser in jedem Fall zur Auflösung des Habsburgerreichs geführt hätte (und diese wenigen galten als Visionäre): selbst die Alliierten der Entente hatten noch bis Februar/März 1918 nicht auf die Auflösung des Reiches abgezielt. 4 Vgl. V. Calì, Mussolini, Prezzolini e la trentinità. Una vivace polemica di inizio secolo, in: Bollettino del Museo Trentino del Risorgimento, 35 (1986), S. 33-40. Hier wird im Anhang (S. 40-47) Mussolinis Artikel wiedergegeben, der am 15. Dezember 1910 in „La Voce“ erschienen war. Calì liefert eine interessante Analyse der Polemik, den der Artikel zwischen den Trentiner Liberalen, Mussolini und dem Direktor der „Voce“ ausgelöst hatte.

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materiellen Erscheinung? Der Staat ist das Heer und die Bürokratie. Heute ist der österreichische Staat, der über ein äußerst reichstreues Heer und über eine eher aus Gesinnung denn aus Pflicht am Reichsgedanken orientierte Bürokratie verfügt, der Staat par excellence“. Nachdem er die Hypothese „einer friedlichen Abtretung, eines Verkaufs“ für „absurd“ erklärt hat, da diese Abtretung auch nicht als Kompensation im Gegenzug zur Annexion Bosniens zustande gekommen war, schließt er wie folgt: „Die Zukunft des Trentino ist der statu quo mit seinen unvermeidbaren Aufs und Abs der Reaktion und der Freiheit, die für die Politik des bürgerlichen Regimes typisch sind“. Die Analyse ist sehr interessant, denn sie mischt Elemente der gängigen Standpunkte des politischen (auch Trentiner) Radikalismus mit einer realistischen Sicht auf die internationale Lage. Natürlich ohne sich dessen bewusst zu sein, war Mussolini sogar einer Meinung mit General Conrad, der am 6. April 1907 an Franz Ferdinand (den Nachfolger, der zwar noch nicht auf dem Thron saß, aber doch bereits regierte, wie auch der sozialistische Agitator wusste) geschrieben hatte: „Die Bedingungen für die Bewahrung der Monarchie sind: ein Gesamtstaatsgedanke und eine einzige Armee“5. Was aber all diesen Beobachtern entging, war die Tatsache, dass diese Bedingungen in Zeiten von Imperialismus, Machtpolitik und Nationalstaaten nicht mehr auf den „dynastischen“ Prinzipien der persönlichen Treue der Völker und Staatsdiener ihrem Souverän gegenüber nach dem antiken Typus der „patriarchal- und patrimonialstaatlichen“6 Beziehung basieren konnten. Die Bestrebung, diese Voraussetzungen zu verändern, sollte sich trotz all der Debatten und auch großzügiger Versuche unterschiedlicher Komponenten innerhalb dieses Völkermosaiks – als unmöglich erweisen, da die Führungseliten die Befürchtung hegten, sie könnten ihre Macht verlieren, wenn sie sich diesem Wandlungsprozess öffneten. Noch im November 1913 schrieb der Diplomat und Ratgeber Franz Ferdinands (und später Karls I.) Ottokar Czernin in einem Brief, das Parlament schiene ihm wie „eine Aktiengesellschaft für Raub und Diebstahl“ und dem Absolutismus als guter Regierungsmethode sei nachzutrauern7. So stand es um die Geisteshaltung eines großen Teils jener Führungsschicht, die das Reich hätte reformieren sollen. 5 Zitiert in: G. Frank, Erzherzog Franz Ferdinand und die Pläne zur Reform der Habsburger Monarchie (Südosteuropäische Arbeiten, 35), Brünn / München / Wien, 1943, S. 97. 6 Vgl. O. Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1973, vor allem das letzte Kapitel: Die Länder in der Österreichischen Monarchie, S. 441-463. 7 Es handelt sich um einen Brief vom 20. November 1913 an den Grafen Alexander Hoyos, zitiert aus R.A. Kann, Rat und Einfluß. Die Beziehungen zwischen

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Dass im Trentino nicht gerade eine revolutionäre Aufbruchstimmung herrschte, bezeugen auch die Memoiren Enrico Sestans, immerhin die Erinnerungen eines Autors, der bestimmt kein „Klerikaler“ war und der als Historiker das leidenschaftliche Engagement Cesare Battistis mit einem gewissen Wohlwollen betrachtet hatte. „Vor 1914 hatte es sehr wenige bewusste und aktive Irredentisten gegeben: Europa hatte dreißig Jahre Frieden genossen, nichts ließ – für den, der nicht tief in die Geheimnisse der hohen internationalen Politik eingeweiht war – die Erschütterungen vorausahnen, die, ausgelöst durch das Zusammenspiel der Ereignisse zu derartigen territorialen Veränderungen führen sollten, dass sie das Schicksal des Trentino auf den Kopf stellten. Dass man das herbeisehnte, war eine andere Sache, so wie man sich einem Traum, einer Utopie geradezu, hingeben kann, der in ferner Zukunft in Erfüllung gehen mag oder vielleicht auch nie“8.

De Gasperi handelte in diesem Kontext und ganz im Gegenteil zu dem, was Mussolini dachte, hatte sich gerade dank des „Priesterblutes“ die italianità des Trentino herausbilden können. Eine diffuse Konfrontation mit dem „Fremden“ war in eine „nationale“ Kultur umgewandelt worden, die es dem Trentino ermöglichte, als geschlossenes politisches Subjekt aufzutreten, sich in politischen Parteien zu organisieren, eine differenzierte Repräsentation aufzubauen, und das anstelle einer Vielzahl von Komponenten, mal soziokultureller Natur (das städtische Bürgertum, die ländlichen Schichten), mal territorialer Natur (Dorfgemeinschaften beziehungsweise „Kirchturmdenken“), die leicht von den Mechanismen der Einbindung in den Staat, wie man ihn damals auffasste, hätten absorbiert werden können: in eine Strukturierung der Gesellschaft durch die bürokratische Mediation der sozialen Anliegen etwa in apolitischen Interessenverbänden9 und durch die Homogenisierung mittels Militärdienst. Wie die Sozialanthropologie gezeigt hat, ist es zur Herausbildung von „Gemeinschaft“ (auch der weiter gefassten, politischen) notwendig, „Identität als Wechselspiel von Abgrenzung und Zugehörigkeit darzustellen“10, und dem Thronfolger und Graf O. Czernin, in: ders., Erzherzog Franz Ferdinand Studien (Veröffentlichungen des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, 10), S. 203-204. 8 E. Sestan, Memorie di un uomo senza qualità, S. 83. 9 Zum Beispiel die Gewerbeförderungsaktion, die eines der Mittel war, wie mir mein Freund Andrea Lombardi erklärt hat, dem ich an dieser Stelle danken möchte, um die sozialen Reibungen in Schach zu halten, wenn nicht sogar, ihnen zuvorzukommen. Dass der repräsentative Parlamentarismus als ein System der „Interessenvertretung“ aufzufassen sei, womit man ihn entpolitisierte, war eine unerschütterliche Überzeugung der deutschen Politikauffassung, der selbst Bismarck angehörte. 10 Vgl. U. Fabietti, La costruzione dei confini in antropologia. Pratiche e rappresentazioni, in: S. Salvatici (Hrsg.), Confini. Costruzioni, attraversamenti, S. 177-186, Zitat auf S. 181.

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entsprechend „Grenzen“ festzulegen. Der „öffentliche Diskurs“11, den De Gasperi aufbaut, ist dahingehend ausgerichtet. Darin geht er vor allem auf das Volksempfinden in seiner Gegenüberstellung mit dem deutschen Element ein: Dieser Aspekt wurde in vorangegangenen Forschungen oft vernachlässigen, da man sich stattdessen beharrlich mit den Quellen und den offiziellen Anlässe beschäftigte, bei denen De Gasperi und andere Vertreter der katholischen Bewegung dem Kaiser die Ehre erweisen beziehungsweise Grußtelegramme schickten (zu Geburtstagen, zur Inthronisierung des neuen Kaisers usw.). Solche Begebenheiten sind natürlich als Teil der „Liturgie“ im öffentlichen Umgang zu bewerten, bei den damit einhergehenden Grüßen usw. handelt es sich um symbolische Gesten der Konvention, die keineswegs zwangsläufig einer echten, tiefer gehenden Gesinnungsverbundenheit entspringen (in einigen Fällen war diese Ehrerbietung auch eine unumgängliche Pflicht, wie etwa bei der Inthronisierung von Karl I., wollte man nicht als Vaterlandsverräter im Gefängnis landen). Zustimmung ist im Kontext zu bewerten, doch dieser verweigert sie. Wie schon gesagt, wurde der Gegensatz wir/sie von Trentinern und Deutschen in der Regel sehr stark empfunden. Die Memoiren von Sestan geben Aufschluss darüber, wie es um das Klima zwischen den beiden Volksgruppen stand. Er erinnert sich an die Frage, die ihm ein Zeitungsverkäufer stellte, als er vier oder fünf Jahre alt war. „Der Besitzer des Zeitungskiosks, ein struppiger Herr Moser, überfiel mich mit der kategorischen Frage: ,Cossa set, talian o todesch?‘ (‚Was bist du, Italiener oder Deutscher?‘), und ich antwortete mit stolzgeschwellter Brust: ,Talian‘ (‚Italiener‘), und mein Vater freute sich darüber, als sei das ein früher Beweis meiner Intelligenz. … In der Familie, in der Schule, unter den Freunden – alles zielte darauf ab, den Unterschied zwischen uns und den Deutschen zu betonen, wobei das Urteil selbstverständlich und unanfechtbar zu unseren Gunsten ausfiel. Wir verachteten die ,toderli‘, so die spöttische Dialketbezeichnung für die Deutschen, zutiefst – dafür, wie sie sprachen, wie sie sich kleideten, wie sie sich verhielten. Die wenigen Familien, die einen Weihnachtsbaum aufstellten, um ihren Kindern eine Freude zu bereiten, und ihnen Weihnachtsgeschenke machten, betrachtete man ein wenig argwöhnisch, denn der Weihnachtsbaum galt als deutscher Brauch. Die trentinischen Kinder, ich eingeschlossen, erhielten ihre Geschenke von Santa Lucia (am 13. Dezember); noch schlimmer war es, ,San Nicolò‘ zu feiern, den Sankt Klaus der Deutschen. … Diese Aversion gegen die Deutschen war so selbstverständlich, dass in dem – äußerst seltenen – Fall einer Bluttat, der Verdacht zuerst auf die ,aisinponeri‘ 11 Zum Konzept „öffentlicher Diskurs“ im Verhältnis zur Ideologie siehe E. van Dijk, Ideology and Political Discourse, in: Journal of Political Ideologies, 11 (2006), S. 256-271.

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(= Eisenbahner), fiel, deutsche Arbeiter, die mit dem Bau und der Wartung der Bahnlinien beschäftigt waren … Diese Aversion wurde in der Schule noch bestärkt, als etwas völlig Natürliches, Offensichtliches, das keiner Erklärungen und keiner Argumente bedurfte: Der Unterschied war für alle sichtbar, kein Lehrer, der ihn betonte, hätte Ärger bekommen“12.

Sestan sprach gewiss über das Leben in der Stadt und man hätte vermuten können, in den „Tälern“ hätte es sich anders verhalten. Zum Teil war dem auch so, denn es kam seltener zu Kontakten mit den Deutschen, die in den meisten Fällen Regierungsbeamte waren. Auch konnten diese Deutschen in den verschiedenen Dorfgemeinschaften aufgrund ihrer geringen Anzahl weniger eine „Gruppe für sich“ bilden, doch wäre es falsch, anzunehmen, das Problem habe dort nicht existiert. Wie aus den vorherigen Kapiteln hervorgeht, gab es weder in den Zeitungen, die De Gasperi leitete, noch in der Propaganda, die in ihm einen ihrer Wortführer hatte, den Versuch, diese Spaltung aufzuheben. Immer wieder stößt man auf abfällige oder der Abgrenzung dienende Begriffe: „teutonische Dreistigkeit“, „moderner teutonischer Größenwahn“, „deutscher Frondienst“ sind häufige Ausdrücke. Dem stehen genauso häufig verwendete Begriffe gegenüber wie etwa „Reichsbrüder“, und immer wieder wird die Beziehung der Trentiner zu diesem „kulturellen Hintergrund“ hervorgehoben. Was die Kultur betrifft, und das ist ein entscheidender Punkt, gibt es keinen „Autonomismus“, sondern vielmehr die totale Identifizierung mit der „nationalen Kultur“, die durch die Sprache vermittelt wird. Der Satz von Gioberti, der auf den Streichholzschachteln stand, die die Trentiner Lega Nazionale verkaufte, um sich zu finanzieren („Si ricordi chiunque a cui cale che la morte della lingua è la morte della nazione“13), drückte eine Gesinnung aus, die De Gasperi in all seinen Texten der damaligen Zeit mit voller Überzeugung teilte. Es ist dem ideellen Werk dieses katholischen Agitators zu verdanken, der an der Spitze einer natürlich viel breiteren Bewegung stand – gemeinsam mit Bischof Endrici und weiten Teilen des Klerus, wie auch mit den neuen intellektuellen und sozialen Führungsschichten der Kleinbürger und des Bürgertums, die den katholischen Organisationen beitraten –, dass jene gemeinschaftsbildende Ideologie entstand, durch die sich ein neues und autonomes politisches Subjekt entwickeln konnte. Hierbei wurden Elemente des traditionellen religiösen Diskurses verknüpft mit neuen Anstößen, die von der Trennung der Identitäten durch die „internen“ Nationalismen innerhalb des Habsburger Mosaiks ebenso herrührten wie von den Anregungen, die die ideologischen Debatten um die Jahrhundertwende auslösten.

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E. Sestan, Memorie di un uomo senza qualità, S. 82-83. „Jeder, den’s kümmert, sei daran erinnert, dass der Tod der Sprache der Tod der Nation ist“. 13

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Um dieses Ziel zu erreichen, brauchte man einen „Feind“, anhand von dessen Andersartigkeit sich ein „Wir-Gefühl“ herausbilden konnte. Tirol wurde als dieser Feind identifiziert. Wie zu sehen war, ist der entscheidende Punkt die Weigerung, sich „italienisches Tirol“ zu nennen, wodurch die Provinz als Teil eines größeren Zusammenhangs definiert worden wäre, ebenso wie in der Verteidigung der Bezeichnung „Trentino“: Denn das machte das Gebiet zu einer „Region“, wenn nicht gar im vollständigen Sinne14 zu einer echten „Nation“. Wie zu erwarten, rief das unter den Tirolern zunächst abfällige, mit der Zeit aber immer wütendere Reaktionen hervor. Es soll hier nicht darum gehen, die „Guten“ und die „Bösen“ auszumachen. Aus historischer Sicht lässt sich die schwierige Situation der Tiroler durchaus nachvollziehen, auch sie bekamen, in nicht geringerem Maße als die Trentiner, die Herausforderungen durch den Wettstreit der Nationalitäten im Reich zu spüren. Natürlich ging es darum, historisch angestammte, soziale Privilegien zu verteidigen, aber es gab auch das objektiv nachvollziehbare Bedürfnis nach Identität, das letztlich allen gemein war. Heute unterschätzt man leicht, wie tief die Verunsicherung im Habsburgerreich saß, welche die militärischen Niederlagen und die weitgehende Erfolglosigkeit der Außenpolitik nach 1848 verursacht hatte – wenngleich dieses Klima der Unsicherheit doppelt verdeckt wurde: vom unbekümmerten Lebensgefühl im Walzerrhythmus und der dünkelhaften Selbstüberschätzung eines großen Teils der Führungsschichten. Diese waren davon überzeugt, dass man nun, im Lichte des neu aufsteigenden Sterns Deutschland die Rolle der Supermacht wiedergefunden hätte. Doch gab es sehr wohl einen schleichenden Vertrauensverlust, der den Wunsch schürte, jenes „nationale Bindemittel“ zu finden, das das Glück nicht nur der italienischen Parvenü gemacht hatte, sondern auch das der sehr viel gewichtigeren Deutschen des Zweiten Reichs. Wenn sich dieses nationale Bindemittel an einem Modell orientierte, konnte es nur das Deutschtum sein, die deutsche Identität, wobei sich Tirol als dessen Wiege und Bollwerk verstand, als ein in diesem Sinne völlig homogenes Gebiet, hätte es da nicht das Anhängsel der Welschen gegeben. Die Bedeutung des (zeitweiligen) Erfolgs des großen antimodernistischen Kampfes des Katholizismus für Tirol sollte nicht unterschätzt werden. Zwischen 1890 und 1907 (als sich das Phänomen erschöpfte) ausgetragen, hatte er die gesamte Gesellschaft durchdrungen. Er hatte die breiten Massen „politisiert“, weshalb die liberalen Eliten zu einer Minderheit wurden, und er hatte in 14 Zum komplexen Begriffskonzept „Region“ siehe M. De Nicolò, La storia regionale in Italia tra comparazioni, apporti pluridisciplinari e ricerca di definizioni, in: Memoria e Ricerca, 14 (2006), S. 5-22.

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der Folge die Region mit den modernen Methoden der Massenmobilisierung und der politischen Agitation, soweit sie der Konstitutionalismus erlaubte, in Berührung gebracht15. Diese Kämpfe hatten in Tirol jedoch das Problem der Wiederherstellung der „nationalen“ Einheit hinterlassen, was aus den hier bereits genannten Gründen ein ganz entscheidendes Thema werden sollte. Hier lässt sich der Übergang zum radikalen deutschen Nationalismus verorten, in dem die klerikalreaktionäre Ausrichtung, das christlichsoziale Element und der Liberalismus der städtischen Eliten zusammenfanden. Zu Recht hat man festgestellt, dass der Volksbund eine Reaktion und eine Antwort auf die Verletzungen war, die der sogenannte „Bruderkampf“ hinterlassen hatte. Diese Verteidigungslinie war bestimmt nicht die klügste Lösung, doch sie war der Weg, den man einschlug und auf dem man die Obsession von der Verteidigung der „regionalen Einheit“ mitschleppte, möglichst von Kufstein bis zur Veroneser Klause. Eine Vorstellung, die nicht nur dem Extremismus eigen war – der sie am verantwortungslosesten vertrat –, denn anders ließe sich das mangelnde Einverständnis hinsichtlich der Autonomie des italienischen Teils der historischen Grafschaft nicht erklären. Und auch wenn es innerhalb der Tiroler Führungseliten vereinzelte Stimmen der Vernunft gab, reichte das nicht aus, um diese weitverbreitete Überzeugung zu überwinden. Mit seinem Festhalten an der Gegenüberstellung Trentino/Tirol, seiner unermüdlichen Thematisierung der „Tiroler Kurzsichtigkeit“ und der „Rückständigkeit“ des Tiroler Katholizismus, in ständiger Polemik mit den Zeitungen jeglicher Couleur bereitete De Gasperi – stärker als jede andere Kraft – die „Ablösung“ seiner Region von der „Habsburger Einbindung“ vor. Während der Krise musste sich diese Ablösung natürlich weiterentwickeln, was für den, der sich mit Politikgeschichte befasst, der normale Lauf der Dinge ist. Der „Konsens“ ist die Normalität, wenn man es mit einem politischen System zu tun hat, das sich aufgrund normaler Mechanismen (mögen sie auch nur normal erscheinen) an der Macht befindet, das heißt, wenn der Grad der zivilen Freiheit für den größten Teil der Bevölkerung akzeptabel bleibt und es keine äußeren Elemente gibt, die eine Schwächung dieser Mechanismen der Teilhabe der Bürger am Staatsleben provozieren (Teilhabe im repressiven wie auch im integrativen Sinne, also Teilhabe an den Vorteilen, die die öffentliche Hand verteilen kann)16. Der lange Streit unter Historikern über gesellschaftlichen „Konsens“ in Faschismus und Nationalsozialismus hat all dies klar gemacht. 15 Vgl. L. Cole, The Counter-Reformation’s Last Stand; ders., Für Gott, Kaiser und Vaterland. 16 Vgl. P. Pombeni (Hrsg.), Crisi, legittimazione, consenso.

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In diesen beiden Fällen zeigte sich die Anfälligkeit dieses Konsenses, der eher dem „Staat“ als normaler Struktur des politischen Lebens als dem „Regime“ galt, was dadurch bezeugt ist, dass nach seinem Sturz seine Wiederauferstehung in keinem Moment mehr möglich war (etwas, das bei echter Legitimität sehr wohl der Fall sein kann)17. Ebenso offenbarte sich die Natur des Trentiner Konsenses mit dem Habsburger System als gewissermaßen aus der „Routine“ heraus, wenn man bedenkt, mit welcher Leichtigkeit er sich unter der Prüfung des Krieges auflöste, und das ohne nennenswerte Nachwirkungen. Im „nationalen Kampf“ benutzte De Gasperi natürlich alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel. So waren darunter auch Themen wie „Österreich, kein pangermanischer Staat, sondern der Staat vieler Nationen“ oder Polemiken gegen die Aneignung der österreichischen Staatsidee durch die Alldeutschen, ebenso wie positive Urteile zu bestimmten Strukturen innerhalb des Reichs, oder Gesten der Ehrerweisung dem Kaiser gegenüber. In jedem Fall gehört zur Interpretation dieser Positionen sehr viel mehr kluge Analyse als nur das Zitieren von Satzfragmenten, um die eigene These zu belegen. Quentin Skinner hat schon vor einiger Zeit die Studien zur politischen Rhetorik revolutioniert, indem er in die Interpretation das Begriffspaar „meaning“ und „intention“ eingeführt hat, das heißt „Bedeutung“ (der Wörter und der Sätze) und „Intention“ (dessen, der sie ausspricht)18. Dabei zeigt er, wie die Intention die Bedeutung der Wörter verändert. Es ist nicht De Gasperis Absicht, seinen Kampf zugunsten der Institutionen zu führen, auf die er sich bezieht. Vielmehr verfolgt er mit diesen Verweisen einen Zweck, nämlich zu zeigen, in welchem Maße die Werte dieser Institutionen verraten beziehungsweise aufgegeben wurden, auch wenn sie auf abstrakter Ebene die Grundlage dieser Werte weiterhin verkörpern. Und wie unmöglich es ist, diese Werte wieder aufleben zu lassen, solange sich nicht auch die Einstellung zu ihnen grundsätzlich ändert. Am Ende bleibt die Botschaft von einem „notwendigen Richtungswechsel“, die den Boden für das bereitet, was wir „Ablösung“ genannt haben. Letztendlich führt die Polemik über De Gasperis italianità nirgendwohin, will man nicht Gefahr laufen, in moralisierenden Interpretationen zu verharren, nach denen nur der ein „Italiener“ war, der eine Art aufgewärmte mazzinianische Politikvision hatte; war das nicht der Fall, fand man sich sofort auf der anderen Seite wieder, als „Österreichfreund“ oder als Habs17

Hierzu sei der Verweis erlaubt auf P. Pombeni, Fascismo e nazismo nella storia politica nazionale. Una svolta storiografica, in: Contemporanea. Rivista di storia dell’800 e del 900, 7 (2004), S. 491-503. 18 Q. Skinner, Hermeneutics and the Role of History, in: New Literary History, 7 (1975), 1, pp. 209-232.

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burger Legitimist – Polarisierungen, die auf Pseudokonzepten basierten und als solche keinerlei Geschichtssinn hatten19. Als Belege könnte man die paradoxe Beurteilung sowohl Enrico Concis als auch De Gasperis anführen: der erste trotz seiner starken Einbindung in die Habsburger Institutionen als „nationaler Katholik“ wahrgenommen, der zweite trotz der Vehemenz seiner antideutschen Polemik als „österreichfreundlich“ eingeschätzt20. In den hier behandelten Rahmen fügt sich auch De Gasperis Annäherung an die Außenpolitik ein, wie überhaupt an die „Interpretation der historischen Ereignisse“. Das war für De Gasperi eine prägende Phase: Denn in der Tat traf es sich, dass seine politische Erziehung beziehungsweise seine Lehrjahre in genau die Zeit fielen, in der alle unter dem Eindruck standen, etwas „Schwerwiegendes“ würde geschehen. Die Krise am Ende des Jahrhunderts hatte in allen europäischen Ländern, Großbritannien eingeschlossen, die Wahrnehmung für den bevorstehenden „epochalen Wandels“ geschärft. Auch ließ sich zur gleichen Zeit ein außerordentlicher Entwicklungssprung in der Technik verzeichnen (das, was als „zweite industrielle Revolution“ definiert wurde, angefangen bei dem massiven Einsatz von elektrischer Energie) sowie ein Infragestellen der verschiedenen Wertesysteme (vom Positivismus bis zum klassischen Liberalismus). Der geografische Horizont erweiterte sich, zunehmend achtete man – mal mehr, 19

Heute tendiert man manchmal dazu, die Frage innerhalb des Schemas der Gegenüberstellung von „kulturellen“ Grundlagen mit „vertraglichen“ Grundlagen der politischen Systeme zu verankern, anhand dessen das Habsburgerreich der zweiten Kategorie zuzuordnen und damit neu einzuschätzen wäre. Doch uns scheint, dass dieses Konstrukt – wenn überhaupt – nicht auf die hier behandelte historische Periode anwendbar ist (in Wirklichkeit haben die vertraglichen Grundlagen nur dann Erfolg, wenn sie in eine einigende „Kultur“ verwandelt werden können, und sie ist es dann, nicht die vertraglichen Vereinbarungen, die dem politischen Subjekt seine Form verleiht). Zum Thema siehe B.C.J. Singer, Cultural versus Contractual Nations: Rethinking Their Opposition, in: History and Theory, 35 (1966), S. 309-337. 20 Zu dieser unterschiedlichen Einschätzung hatte eine komplexe Vielzahl von Umständen geführt. Mittlerweile war Conci am 30. September 1920 zum Reichssenator in der „Kategorie 20“ des Albertinischen Statuts („Coloro che con servigi o meriti eminenti avranno illustrato la Patria“ / „Diejenigen, die sich mit herausragenden Diensten oder Verdiensten um das Vaterland bemüht haben“) ernannt worden. Das bedeutete eine Art „Lizenz“, die ihn vor Kritik an vergangenen Haltungen schützte. Vor allem, dass er 1915 für „politisch unverlässlich“ erklärt worden war, dass man ihn nach Linz konfiniert hatte und dass man ihn im Anschluss an die Ereignisse von Prag seines Postens als Tiroler Landeshauptmannstellvertreter enthoben hatte, hatte dazu beigetragen, ihn als „politisch Verfolgten“ hinzustellen, etwas, das De Gasperi aus den genannten Gründen nicht widerfahren war. Allerdings war er nach dem Anschluss des Trentino an Italien weitgehend von der nationalen Bühne verschwunden, womit er natürlich keinen Anlass mehr zu Polemiken bot. Dazu siehe man den Nachruf auf ihn im Parlament nach seinem Tod am 25. März 1960, in: E. Gentile / E. Campochiaro (Hrsg.), Repertorio biografico dei Senatori dell’Italia fascista, Neapel 2003, S. 703-708.

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mal weniger stark – auf das, was aus Amerika kam (man denke etwa an die Verbreitung der Verfassungskonzepte von James Bryce). Die Anzeichen einer Krise der traditionellen Verteilung der Gewichte (der russisch-japanische Krieg von 1904/05) machten sich bemerkbar, ganz zu schweigen von den internen sozialen Umwälzungen und vom Aufkommen des Sozialismus: ein „internationales“ Phänomen, das auch beunruhigte (die Revolution von 1905 in Russland hatte großes Aufsehen erregt). Ein junger Mann mit der Neugier De Gasperis mußte all diese Phänomene natürlich wahrnehmen, denn seine Teilnahme an einer politisch-religiösen Bewegung verlangte von ihm, „die Bedingungen einer militanten Epoche zu akzeptieren“21. Seine „Lesart der Geschichte“ war eng mit seiner Entwicklung innerhalb dieses ideologischen Horizonts verknüpft, auch wenn dieser nur die Ausgangsbasis bildete und keineswegs einen Käfig, aus dem man nicht hätte ausbrechen können. Denn sein natürliches politisches Geschick verhalf ihm dazu, dieses Gerüst zu überwinden und tiefer greifende Interpretationen zu wagen. Von dem Moment an, als seine Einbindung in die Politik des Habsburgerreichs immer „professioneller“ wurde, wurden die internationalen Problemstellungen und die Analyse der historischen Entwicklungen zu einem grundlegenden Element, für die Gestaltung wirksamen politischen Handelns. Dem jungen Journalisten und späteren Parlamentarier wurde immer deutlicher, wie eng die Entwicklung der internationalen Beziehungen und die Rolle Österreichs, mit der Zukunft dieses politischen Systems verknüpft waren. Seine Überzeugung wuchs, dass außenpolitische Kompetenz eine unabdingbare Voraussetzung für einen modernen Politiker war: Das wurde etwa in dem deutlich, was er über die Ernennung von Bethmann-Hollweg zum deutschen Kanzler schrieb, wie auch in seiner Beurteilung der Arbeit von Außenminister Aehrenthal. Diese Erfahrungen sollten ihn weiterhin begleiten: Sie wurden entscheidend für seine „Machtergreifung“ in den Jahren 1944/4522, auch darf man die Analyse der europäischen Außenpolitik nicht vergessen, der er sich in seinem vatikanischen Exil in den Dreißigerjahren widmete23. Die Fähigkeit zur Analyse, die De Gasperi auf diesem Gebiet bewies, ist bemerkenswert. Dabei half sicherlich nicht nur sein Interesse an Fremdspra21

Vgl. Il primo congresso cattolico trentino, in: La Voce Cattolica, 1.-2. September 1901, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 210-216. 22 Vgl. G. Corni / P. Pombeni, La politica come esperienza della storia, in: E. Conze / G. Corni / P. Pombeni (Hrsg.), Alcide De Gasperi, S. 7-61. 23 Vgl. G. Formigoni, L’Europa vista dal Vaticano: De Gasperi commentatore della politica internazionale, in: E. Conze / G. Corni / P. Pombeni (Hrsg.), Alcide De Gasperi, S. 169-193.

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chen, was ihm den Kontakt zur internationalen Presse ermöglichte, sondern auch – und das vor allem nach seinem Eintritt ins Parlament – sein privilegierter Beobachterposten, der ihm ermöglichte, sich mit der Entwicklung der internationalen Beziehungen auseinanderzusetzen, die genau zu jener Zeit (1911) erahnen ließen, dass eine schwere Krise im Anzug war. In diesem Kontext hatte die Befürwortung des Dreibunds durch den Direktor des „Trentino“ für lebhafte Diskussionen gesorgt. Aber auch hier verrät sein Standpunkt seinen politischen Realitätssinns. Wie bereits gesehen, sprach er offen aus, dass die Italiener in Österreich – als eine Minderheit und angesichts der drohenden Dampfwalze des Slawentums und dessen Konfrontation mit dem deutschen Element – nur dann erwarten konnten, eine größere Rolle zu spielen, wenn sie sich an Italien anlehnten. Doch dafür bedurfte es guter Beziehungen zwischen Rom und Wien, andernfalls wäre es bei der Illusion geblieben, dass die nationale Universität „vom Himmel fiele“ wie ein Geschenk ohne Gegenleistung. Es ist schwer vorstellbar, dass sich ein einigermaßen seriöser politischer Analyst in diesen Krisenzeiten ein anderes Szenarium hätte vorstellen können: Italien hatte ja – mehr oder weniger zögerlich – bis zum Vorabend des Krieges seine Zustimmung zur Erneuerung des Dreibunds gegeben und auch bei Kriegsbeginn war es eine Weile lang unsicher. Natürlich sagen diejenigen, die bei ihren Überlegungen eher zu Spekulationen neigen statt sich an historische Fakten zu halten, De Gasperi hätte sich, wäre er ein guter Patriot gewesen, einen Krieg zwischen Italien und der Doppelmonarchie wünschen müssen. Doch kann ein „realistischer“ Politiker wirklich so denken? Wer hier Kritik anmeldet, lässt außer Acht, dass eine Niederlage Österreich-Ungarns in diesem hypothetischen Krieg keineswegs als selbstverständlich galt: Dass sich Großbritannien an dem „europäischen“ Konflikt beteiligen würde, bezweifelten viele (an erster Stelle die Engländer selbst); Deutschland stand da als Supermacht, die nicht so leicht zu schlagen gewesen wäre. Schließlich war das Trentino ein stark befestigtes Gebiet, dass sich nicht so ohne Weiteres militärisch hätte erobern lassen (was auch tatsächlich erst mit dem endgültigen Zusammenbruch der Front gelang). Sein eigenes Land in dieses Abenteuer zu drängen wäre für einen „Berufspolitiker“ vollkommen verantwortungslos gewesen. Im Falle einer Niederlage hätte das Trentino alle Vorteile verloren, die über die Jahre mühsam errungen worden waren, und nichts mehr hätte die Übermacht des deutschen Elements eindämmen können. Außerdem wurde die Aussicht auf einen Sieg Italiens in einem normalen Krieg mit konventionellen Mitteln nicht besonders hoch eingeschätzt.

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Hinzu kam natürlich die traditionell katholische Abneigung gegen jeden Krieg, den man eher als die Ursache für soziale Erschütterungen begriff, denn als Quell der Erneuerung der Menschheit, was stattdessen Imperialisten und Revolutionäre in ihm sehen wollten. Auch hatte man De Gasperi als Mitglied der Delegationen das Waffenarsenal vorgeführt und damit eine Vorstellung davon vermittelt, was ein moderner Krieg anrichten konnte. Doch auch ohne all diese Elemente begann man die spezifische Beschaffenheit dieses neuen Krieges zu erahnen: Es darf nicht vergessen werden, dass der Schweizer Henry Dunat unter dem Eindruck der Schlacht von Solferino (1859) mit ihren zahllosen Toten und Verletzten das Rote Kreuz ins Leben gerufen hatte, und bei der Schlacht bei Königgrätz (1866) hatte es 35.000 Tote und Verletzte gegeben. Andere Gründe hat De Gasperis Befürwortung der italienischen Neutralität im ersten Kriegsjahr. Hier kam ins Spiel, dass er den Befürchtungen des Papstes zustimmte, der eine Begrenzung des Konfliktes wünschte (konnte man sich überhaupt einen kriegstreiberischen Papst vorstellen?), und dass er vorausahnte, wie es dem Trentino im Falle eines Krieges ergehen würde. Und im Nachhinein wird man nur schwerlich sagen können, De Gasperi habe mit seinen Vorahnungen nicht richtig gelegen. Wie es fähigen Politikern oft widerfährt, bringt ihnen ihre richtige Sicht der Lage kein Glück. Die Geschicklichkeit des jungen Parlamentariers ermöglichte es ihm wenigstens von einer Randposition aus an der großen Schachpartie um die Neutralität teilzuhaben. Das wurde ihm später nicht als Dienst an seinem Land angerechnet, sondern stattdessen zum Vorwurf gemacht. Dabei ließ man sich von der gewohnten Aversion lenken, die die Irredentisten dieser Politik gegenüber vorher wie nachher an den Tag legten, die sie als einen Verrat an der nationalen Sache interpretierten. Auch sollte es ihm schaden, dass es ihm gelungen war, der Internierung zu entgehen: Auch das wurde ihm nicht als intelligente Taktik zugutegehalten – immerhin hatte er so zur Unterstützung seiner Landsleute beitragen können –, vielmehr wurde es als Beleg dafür betrachtet, dass die Regierung den Abgeordneten schonte, da er ein Kollaborateur war. Erstaunlicherweise wurde auch seinen Stellungnahmen im wiedereröffneten Parlament, die sich durch bemerkenswerte Härte und zweifelsfreie Eindeutigkeit24 auszeichnen, nur wenig Beachtung geschenkt. Die Erklärung dafür ist sicher auch hier die für De Gasperi typische Haltung, die sein 24 Es sei denn, man würde die Tatsache als „zweideutig“ ansehen, dass sich diese Beiträge natürlich der Argumente bedienten, die im System eventuell etwas bewirken konnten, somit waren sie auch keine abstrakten Anklagen. Das ist aber die Technik jedes guten Anwalts oder Vermittlers, wobei auch hier die Unterscheidung zwischen meaning und intention stets zu berücksichtigen ist.

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politisches Handeln bestimmte: das Eintreten für eine „positive Politik“ und damit gegen den nullismo, also für eine Vision, die keinen Wert auf die beau geste legte, sondern vielmehr auf möglichst wirksame Taktiken, um konkrete Ergebnisse zu erzielen. Wie schon gesagt, handelte es sich hierbei um die für den „Staatsmann“ charakteristische Entscheidung, die von der Verantwortungsethik getragen war. Hier geht es nun darum, diesen Punkt noch zu vertiefen, denn er ist eine der wichtigsten „Erbschaften“ De Gasperis aus seiner Erfahrung dieser komplexen historischen Epoche. Wie man gesehen hat, verkörperte De Gasperi die neue katholische Bewegung, die in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts herangereift war. Schon einmal hatte er beim Nachsinnen über diese besondere Zeit diese Entwicklung mit dem „Optimismus Leos XIII.“ in Verbindung gebracht. Jene Wende hatte die Katholiken dazu gebracht, ihre Bastion zu verlassen, die Auseinandersetzung mit der Moderne nicht zu fürchten und sich dafür einzusetzen, die Grundlagen für ihr Selbstverständnis als „Gesellschaft“ (oder wenigstens als ein Teil der Gesellschaft) zu schaffen. Es ging eben nicht mehr nur um das Katholischsein des Individuums (mit den vom liberalen Konstitutionalismus garantierten Freiheiten, darunter natürlich auch der Religionsfreiheit). Wie man am Beispiel des Trentino sehen konnte, fiel diese Botschaft in eine ausgesprochen lebendige Phase des sozialen Wandlungsprozesses, in der vor allem die landwirtschaftlichen Gemeinschaften die Kraft der Organisation wiederentdeckten. Das war der Moment, in dem die Geistlichen als die natürlichen Anführer dieser kleinen Gemeinschaften ins Spiel kamen, und das oft direkt an der Spitze der neuen Organisationsformen (Agrarkonsortien, Genossenschaften, Landkassen), denn die „Volksbasis“ des Katholizismus lebte zum großen Teil in den Landgemeinden. In diesen Rahmen passte die Wende, die der neue Bischof Celestino Endrici dieser Aufbruchszeit geben sollte: nämlich mit der Zielsetzung, den kirchlichen Bereich vom politischen Engagement abzuspalten, für das man schließlich die Laien gewinnen wollte. Auch diese Wendung sollte De Gasperis Leben nachhaltig prägen. Bereits im April 1910 hatte er als polemische Antwort auf die Tiroler geschrieben, diese hätten sich auf Glaubensfragen berufen, um ihre internen politischen Konflikte zwischen Konservativen und Christlichsozialen beizulegen. Und sie hätten auch die Trentiner (natürlich im Namen der Glaubenseinheit) in ihren Kampf um die nationale Frage hineinziehen wollen: „Nichts verabscheuen wir mehr als diejenigen, die religiöse Ideen und Institutionen in einen Bereich hineinziehen, in den diese nicht hineingehören, und wir, wir hätten uns lieber darauf beschränkt, den nationalen Kampf im Namen der Naturrechte, der sozialen Gleichheit, der verfassungsrechtlichen Garantien zu führen“25. 25

Santo Tirolo, in: Il Trentino, 8. April 1910, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1080-1081.

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In diesem Punkt stand De Gasperi in völligem Einvernehmen mit seinem Bischof. In einem Schreiben an einen nicht näher genannten „Hochverehrten Professor“ hielt Endrici 1911 fest: „Ich halte es nicht für besonnen, offiziell und programmatisch die Abhängigkeit der Partei vom Episkopat zu verkünden. Das schadet sowohl der Kirche als auch der Partei. Es ist notwendig, dass zwischen den politischen Parteien und der Kirche ein spontanes Einverständnis und ein herzlicher Einklang bestehen, aber nicht aufgrund von satzungsmäßigen Paragrafen. Dieser Einklang, der den Einfluss der Kirche auf die sie betreffenden Anliegen sichert, lässt den Parteien ihre Bewegungsfreiheit in den weltlichen Angelegenheiten. Auf diesem Wege werden die Parteien den Rat der Kirche eher suchen, als wenn man es ihnen vorschriebe“26.

De Gasperi sollte an diese Stellungnahme auch noch vierzig Jahre später erinnern, als Beweis dafür, wie wichtig dieser Wandlungsprozess dank desjenigen war, den er als „einen sozialen Bischof nach belgischer Art“ beschrieb. „Das Hauptverdienst Monsignore Endricis war es, die politische Freiheit der Gläubigen zu respektieren und zu verteidigen, indem er im öffentlichen Leben die Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu unterscheiden wusste, derweil aber durch die ausdrücklich katholische Organisation darüber wachte, wodurch die vom Christentum inspirierten Konzepte und die soziale Gerechtigkeit stets zentral und aktiv berücksichtigt wurden“27.

Darüber hinaus hatte der junge Direktor des „Trentino“ – wie bereits angemerkt – in seinem Kommentar zur Generalversammlung der Katholiken Deutschlands 1907 in Würzburg beobachtet, dass es dort keinen Platz für die „Abweichung von der Orthodoxie“ gab, sondern viel eher die „Liebe … zu ihrer Freiheit in wirtschaftlichen und politischen Fragen. Verwirrungen in dieser Hinsicht, wie sie in Italien geschaffen wurden und geschaffen werden, kennt man dort nicht“28. Das wirkte sich bestimmt auf die Lebendigkeit der eigentlich theologischen Debatte aus: Nur hatte De Gasperi für diesen Bereich keinen Sinn und auch kein Interesse. Dabei war seine Unterstützung für die offizielle, nicht gerade aufgeklärte Glaubenslehre uneingeschränkt. Das trat offen in der Polemik über den Darwinismus zutage, zu der es mit den „laizistischen“ 26

Zitiert aus G. Vecchio, De Gasperi e l’Unione politica, S. 591. A. De Gasperi, Un grande vescovo sociale. Mons. Celestino Endrici, in: Studium, 49 (1953), S. 636. Nebenbei sei angemerkt, dass das Datum dieses Beitrags möglicherweise kein Zufall ist, wenn man bedenkt, welche Auseinandersetzungen im Jahr zuvor die berühmte „Operation Sturzo“ ausgelöst hatte; vgl. P. Craveri, De Gasperi, S. 542-551. 28 Vgl. Il Trentino, 31. August 1907, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 640-643. 27

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Studenten und Akademikern am Rande der Feier für den Wissenschaftler Giovanni Canestrini gekommen war; und wie bereits gesehen, äußerte er sich entsprechend auch bei der Diskussion über die Benennung einer Straße in Trient nach Baron a Prato. Allerdings wurde der „Fall Wahrmund“ noch nicht angesprochen, der den Katholizismus in Tirol und im Reich auf die Barrikaden bringen sollte. Es ging um Ludwig Wahrmund, einen Professor für Kirchengeschichte an der Universität Innsbruck, der in den Jahren 1907/08 im Mittelpunkt einer Polemik stand, denn er hatte Thesen vertreten, die mit der orthodoxen Glaubenslehre nicht konform waren, wobei sich Wahrmund dazu hatte hinreißen lassen, den Katholizismus auf recht niveaulose Weise anzugreifen. Ein klassischer Streitfall, bei dem die Proteste der katholischen Welt und die Verteidigung der Freiheit der Lehre durch die Liberalen einander gegenüberstanden, bis er schließlich dank eines Kompromisses beigelegt wurde. (Wahrmund willigte ein, Innsbruck, diese „katholische“ Stadt, zu verlassen, um an die Universität nach Prag zu gehen, wo die „hussitischen“ Traditionen einen größeren Toleranzspielraum gewährten29.) Dieser Fall rief natürlich auch im Trentino heftige Reaktionen hervor. De Gasperi und seine Zeitung verurteilten Wahrmunds Thesen scharf und sie unterstützten den Kampf der Kirche gegen diesen Dozenten, der es sich erlaubt hatte, auch für Österreich einen Kulturkampf 30 anzuzetteln. So verhielt er sich auch, wie bereits erwähnt, im Fall Murri, für den man sich zunächst als Leitfigur begeistert hatte, den man aber in dem Moment fallen ließ, als er sich von der Kirche entfernte: „Il Trentino“ griff ihn drastisch und ohne Rücksicht an, als der bereits exkommunizierte Murri nach Trient und Rovereto kam, um dort Konferenzen abzuhalten31. Aufschlussreich ist das, was De Gasperi 1936 in einem Brief schrieb, dem er ein Curriculum über seinen cursus honorum beigelegt hatte: 29 Dazu siehe H.J.W. Kuprian, „Machen Sie diesem Skandal ein Ende. Ihre Rektoren sind eine nette Gesellschaft“. Modernismusdiskussion, Kulturkampf und Freiheit der Wissenschaft: die Wahrmund-Affäre 1907/08, in: M. Gehler / H. Sickinger (Hrsg.), Politische Affären und Skandale in Österreich, Wien / München 1995. 30 Il Kulturkampf, in: Il Trentino, 20. November 1906, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 526-527; Note quaresimali, in: Il Trentino, 12. März 1908, jetzt ebd., S. 730-733; L’affare Wahrmund, in: Il Trentino, 21. März 1908, jetzt ebd., S. 743-744; Il pensiero dei liberali, in: Il Trentino, 3. Juli 1908, jetzt ebd., S. 810-812. 31 Un voto, in: Il Trentino, 14. März 1911, jetzt in: A. De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd. 1, S. 1235-1237; Clericalismo?, in: Il Trentino, 17. März 1911, jetzt ebd., S. 1238-1241.

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„Ich war in erster Linie ein Mann der katholischen Aktion, der bereits als Student gegen die Sozialisten und für die christliche Demokratie kämpfte: Die politischen Verwaltungsaufgaben, die ich später übernahm, galten für mich nur insofern, als sie dem katholischen Handeln dienten; im Trentino, wie auch nach wie vor in den deutschen Ländern, in Belgien usw., war das ein und dasselbe“32.

Diese Beobachtung ist keineswegs banal: Sie bezeugt die gegenseitige Durchdringung von religiöser Zugehörigkeit (subkulturelle Identität) und sozialer Positionierung des Individuums in einem politischen System, das, wenngleich gegen seinen Willen, auf Wettkampf ausgerichtet war, sei es, weil zumindest ein Hang zum liberalen Halb-Konstitutionalismus bestand, sei es, weil es dem Wettstreit der Nationen untereinander immer mehr Raum ließ – und das mit dem Einverständnis der politischen Führungskreise, die nicht merkten, dass sie mit dem Feuer spielten. Um diese Dynamik besser zu verstehen, muss man daran erinnern, dass die Herausbildung einer „Trentiner Identität“ alles andere als einfach war. Zum einen fiel diese Aufgabe historisch gesehen dem Bildungsbürgertum zu, das sich mit dem Liberalismus identifizierte und das daraus einen topos gemacht hatte, bei dem die „nationale“ Frage eng an die Risorgimento-Ideale angelehnt war. Zum anderen gab es im Trentino keine historischen Erinnerungen, die man mit dem Andreas-Hofer-Mythos oder mit der antifranzösischen (antibayrischen) Revolte in Tirol vergleichen konnte: Die symbolischen Bilder, die die gebildete Klasse hin und wieder vorschlug, waren zu abgehoben (oder zu zweideutig), um mehr als ein bestimmtes, eng begrenztes Milieu zu erreichen (das „römische“ Trentino und Ähnliches). De Gasperi verwendete zu diesem Zweck eine geschickte Mischung aus unterschiedlichen Zutaten: In einem Zeitalter, in dem man zu den Massen sprach, in dem „das Volk“ das entscheidende Subjekt der politischen Macht geworden war, wurde ein gewisser „Populismus“ unverzichtbar33. Dazu dienten ihm sowohl die religiöse Basis der Volkskultur als auch die Problemstellungen, die sich für sie in der Konfrontation mit der Moderne auftaten. 32 Ein handgeschriebener Brief an „Illustre e Caro Commendatore», Rom, 12.10.36, in: AMRDG. Ich danke Maurizio Cau, der mir eine Kopie des Briefes gegeben hat. Um die Anspielung vestehen zu können, muss man berücksichtigen, dass die Azione Cattolica in jener Zeit in Italien – 1931 im Anschluss an die Abkommen zwischen dem faschistischen Regime und dem Heiligen Stuhl – dazu verpflichtet war, sich auf die rein religiösen Aufgaben zu beschränken und sich aus dem politischen Geschehen herauszuhalten. 33 Ich erlaube mir, auf eine differenzierte Behandlung dieses Themas hinzuweisen: P. Pombeni, Typologie des populismes en Europe (XIXe et XXe siècle), in: J.-P. Rioux (Hrsg.), Les Populismes, Paris 2007, S. 85-129, 386-395; ders., Il populismo nel contesto del costituzionalismo europeo, in: Ricerche di Storia Politica, NF, 7 (2004), S. 367-387.

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Zunächst einmal gab es da die Religion als „Religion der Väter“, die als identitätsstiftendes Element in den privaten wie in den sozialen Lebensmomenten fungierte. In diesem Kontext und ein Stück weit auch im Einklang mit der weitgehend konservativen Haltung der offiziellen Kirche wurden Ansätze akzeptiert, zu denen auch ein gewisser traditioneller Antisemitismus zählte (die schwarze Legende des „Beato Simonino“). Doch auch diese Tradition fand Eingang in die neue Lehre, die vom sozialen österreichischen Katholizismus herrührte und die in den Dienst des zweiten, hier näher zu betrachtenden Aspekts der Identitätsbildung gestellt wurde: Die Klassenspaltung im Verhältnis zum herrschenden Bürgertum, das nach diesem Volksglauben durch die Juden verkörpert wurde, doch diese Verkörperung war eindeutig „unrechtmäßig“ da sie nicht zur christlichen „Koine“ gehörte. Es mag seltsam anmuten, dass ein Politiker, der für seine ablehnende Haltung gegenüber Rhetorik und jeder Art von Demagogie bekannt war, diese in seiner Jugendzeit sehr wohl einzusetzen bereit war. Man bedenke aber, dass zwischen ihrer frühen Verwendung und der antirhetorischen Haltung nach dem Zweiten Weltkrieg (ohne einen Mythos aus ihr machen zu wollen) der Faschismus lag: nämlich der totale Rausch der Demagogie, den De Gasperi selbst unzählige Male verurteilte. Wahrscheinlich hat ihn diese Zeit endgültig immun gegen jede Art von Exzess in der politischen Polemik gemacht. Einen weiteren Aspekt gilt es zu bewerten, und zwar den immer wieder zitierten Mythos vom sozialen Katholizismus, der, ebenso wie der Sozialismus, „international“ ausgerichtet sein sollte. Dabei stimmt das so für beide nicht: Angesichts des „großen Krieges“ hatten die Sozialisten mal größere, mal geringere Schwierigkeiten, sich mit den verschiedenen nationalen Kulturen, innerhalb derer sie jeweils agierten, zu identifizieren; dasselbe widerfuhr den Katholiken, und im hier behandelten Fall war es nicht einmal nötig, dafür die Kriegserfahrung abzuwarten. Trentiner und Tiroler gehörten zwar derselben religiösen Konfession an, die sie aber nicht „verbrüderte“, sondern ihnen im Gegenteil sogar so viel Freiraum bot, dass sich der Klerus an der Spitze der einen wie auch der anderen Nationalität als intellektuelle Kraft in den Dienst des Kampfes um die jeweilige Identität stellen konnte. In dieser Phase musste auch der junge politische Agitator sein „Heer“ zusammenstellen und ihm Gewicht verleihen: Dazu reichte es nicht, nur auf die Verteidigung, obschon von Bedeutung, der religiösen Identität zu bauen, die von einem Bürgertum angezweifelt wurde, das sie fast schon als Aberglaube ansah. Es wurde notwendig, den natürlichen Gegensatz zwischen der verstädterten Bürgerschaft und den valli, den Tälern, stärker zu betonen, also einer bäuerlichen, aber nicht unbedingt rückständigen Welt (die Schulbildung und die Modernisierung der Landwirtschaft machten damals erhebliche Fortschritte: Man denke nur daran, dass der „Almanacco Agrario“

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eine Auflage von 40.000 hatte), die sich aber dennoch in Reibung mit den Städten befand, mit denen sie sich nicht verbunden fühlte. So entwickelte sich die Polemik zum einen gegen die siori (die Herrschaften) und zum anderen zur Verteidigung der montanari, der Bergbewohner, einfache Menschen, aber mit ernsthafteren Werten als die Städter (auch wenn De Gasperi nach Erreichung der katholischen Vormachtstellung bekräftigen sollte, dass niemand der Stadt Trient, dem Bischofssitz, ihre Rolle als Provinzhauptstadt nehmen wollte). Es braucht nicht betont zu werden, da auf den vorangegangenen Seiten deutlich herausgearbeitet, wie erfolgreich diese außerordentlich „moderne“ Art der politischen Mobilisierung war: Die Liberalen hatten ihre Hegemonie eingebüßt und waren, bis auf ihre angestammte Domäne der Städte, an den Rand gedrängt, und auch dort mussten sie zu Kompromissen mit der katholischen Bewegung bereit sein. Mit dem Krieg sollte die Fähigkeit des Liberalismus, die politische Führung zu übernehmen, fast völlig verschwinden, denn es waren De Gasperi und Conci, die zu den Protagonisten des letzten großen Kampfes der Ablösung aus der „Habsburger Einbindung“ wurden34. Auch diese Erfahrung des Baumeisters einer „politischen“ und „nationalen“ Identität könnte eine Rolle in der entscheidenden Phase nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt haben: Sein Anliegen, in jedem Falle eine breite nationale Kultur zu fördern, die sich erneut mit dem „kulturellen“ Katholizismus (was etwas anderes ist als die religiöse Zugehörigkeit) des größten Teils des italienischen Volkes identifizierte, rührte höchstwahrscheinlich von der Überzeugung her, dass es in Übergangszeiten eines sozialen Bindemittels bedurfte, wollte man nicht Gefahr laufen, wie nach dem Ersten Weltkrieg mangels Rüstzeug demagogischen Versuchungen zu erliegen. Genauso gut kann es auch sein, dass sein unerschütterlicher Glaube an das parlamentarische System als notwendiger Raum der Auseinandersetzung und der Abklärung der politischen Kämpfe, der Erinnerung daran entsprang, wie hartnäckig man im Habsburgerreich das Parlament an den Rand des politischen Leben verbannt hatte. Alle werden sich daran erinnern, dass De Gasperi stets dagegen war, die kommunistische Partei Italiens für illegal erklären zu lassen, und sich stattdessen dafür einsetzte, dass die Partei, auch wenn er sie politisch konsequent bekämpfte, stets in den parlamentarischen Rahmen eingebunden bleiben sollte.

34 Das erklärt vielleicht auch, weshalb das Trentiner Bürgertum nach dem Ersten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht versucht war, sich zunächst auf den Nationalismus und dann auf den Faschismus einzulassen: vgl. F. Rasera, Dal regime provvisorio al regime fascista, in: Storia del Trentino, Bd. 4: L’età contemporanea. Il Novecento, Bologna 2006, S. 75-130.

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„Es könnte sein, dass …“: ein Ausdruck, den ein Historiker wohl niemals verwenden darf. Und dennoch, das Faszinierende an der Politikgeschichte liegt in der Hoffnung oder Illusion, die internen Dynamiken zu begreifen, die zur Legitimation von Systemen ebenso wie zu ihrer Aberkennung führen, zur Entstehung und zum Niedergang von politischen Führungen, zur Herausbildung und zum Verschwinden ihrer sozialen Akteure. Und wenn einem diese Fragestellungen bei der Erforschung der Biografie eines „Berufspolitikers“ begegnen, wird es fast unmöglich, dieser Versuchung zu widerstehen.

Personenregister Abram, S. 220 Adler, F. 242 Adler, V. 242 Aehrenthal, A.L. von 133, 143, 145, 157, 159-161, 189, 194, 277 Afflerbach 198 Agliardi, A. 47, 172 Agocs 139 Albani, M. 47 Albert von Österreich, Erzherzog 30, 181, 227 Albertario, D. 66 Allegri 24 Allmayer-Beck, J.C. 151 Ambrosi, C. 112 Andreatti, G.B. 69-71 Angelici, B. 112 Angell, N. 205 Antolini, P. 230, 246 Antonelli, Q. 112 Aomagyi, E. 194 Arcari, P. 66, 67 Ascoli, I.G. 96, 192 Avancini, A. 53, 136, 138 Badeni, K. 53-55, 69, 147 Bahr, H. 47 Ballini, P.L. 60, 67, 71, 84, 105 Barbacovi, G. 141, 192 Battisti, C. 12, 13, 21, 53, 63, 91, 102, 104, 117, 118, 128, 153, 167, 185, 187, 188, 193, 201, 208, 218-220, 229, 231, 234, 240, 241, 250, 270 Battisti, E. 229 Bauer (F. Salesley) Bischof von Brünn (Brno) 46 Bauer, O. 127 Bazzanella, E. 43-45, 48, 54 Bebel, F. 147 Beck, M.W. von 133, 134, 137, 145, 163 Bedeschi, L. 50, 73, 74, 87, 94, 86 Beethoven, L. van 79, 81, 82 Bellabarba, M. 23, 25

Benedikt XV. (Kardinal Giacomo Della Chiesa), Papst 225 Benetti, C. 63 Benkovic, I. Abgeordneter 253 Benvenuti, S. 44, 49, 51, 56, 90, 99, 100, 152, 185, 188, 199, 206, 207, 213, 238, 247, 257-259, 266 Berchtold, L. 159, 195, 201, 211, 228, 230 Bertoli, Anwalt 49 Bertolini, A. de 175 Bethmann-Hollweg, T. 167, 193, 277 Betta, G. 56, 91, 103 Bettini, N. 154 Bienerth, R. von 145, 147, 149, 174, 182, 187 Bigaran, M. 19, 29, 154, 199 Biliński, L. von 223 Bismarck, O. von 15, 50, 270 Bittanti, E. 241 Blackbourn, D. 50 Blanco, L. 25, 112 Bled, J.-P. 163 Böckh, K. 202 Böhm, A. 82 Bonfilioli-Cavalcabò, G. de 238 Borsieri, G. 192 Boyer, J.W. 47, 76, 171, 174, 182, 187, 207, 233, 243, 244 Bozza, T. 61 Braitenberg, K. von 49 Brauneder, W. 31 Bridge, F.R. 144, 160 Brockhausen, K. 148 Brugnara, L. 45 Brunner, O. 269 Brusamolin, A. 44, 45 Bryce, J. 277 Bugatto, G. 251, 262, 263 Bülow, B.H. von 167, 226, 228 Burian, P. 114 Burián von Rajecz, S. 230, 262 Calì, V. 48, 88, 268 Call, F. von 237

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Personenregister

Campanini, G. 49 Campochiaro, E. 276 Canavero, A. 41, 196 Canestrini, G. 95, 282 Canestrini, M. 38 Cappelletti, G. 175 Capraro, R. 53 Castagnetti, A. 23 Cau, M. 19, 177, 283 Cavaglion, A. 80 Cavazza, S. 232 Chiocchetti, E. 206, 213, 259 Ciani, R. 48 Clam-Martinic H. 243 Clark, C. 29 Cole, J.W. 38 Cole, L. 26, 28-30, 36, 38, 39, 89 152, 153, 274 Commer, E. 71-74, 79, 80, 84-87, 94, 96, 99, 107, 139, 142, 213 Conci, E. 47-49, 51, 54, 55, 57, 60, 65, 68, 89-91, 103, 105, 116-119, 123, 126, 130, 133, 136, 137, 145, 146, 175, 185187, 190, 200, 204, 205, 214, 217, 220, 232, 236, 238, 241, 242, 244, 245, 248, 249, 251, 252, 256-258, 263, 276, 285 Conrad von Hötzendorf, F.X.J. 151, 155, 158, 166, 189, 194, 202, 229, 243 Conze, E. 68, 277 Corni, G. 68, 277 Cornwall, M. 120, 158, 242, 253, 258 Corrà, P. 199 Corsini, U. 35, 54, 61, 127, 128, 229, 236 Craveri, P. 12, 177, 281 Czernin, O. 211, 243, 269, 270 Dal Pozzo, A. 192 D’Angeli, Anwalt 49 D’Anna, G. 102, 121 D’Annunzio, G. 93, 211 Dante Alighieri 92 De Carli, E. 51, 69, 185, 256, 263 De Gasperi, Amedeo 21, 64-66, 102 De Gasperi, Augusto 22, 236 De Gasperi, Luigi 21 De Gasperi, Luigi Mario 22, 62, 64, 65, 71, 73, 74, 84, 97, 98, 122, 123 De Gasperi, Marcella (Marcellina) 22, 123, 169 De Gasperi, Maria Romana 19, 21, 22, 59, 60, 123, 133 De Gubernatis, A. 97

Delugan, B. 98, 103, 117, 119, 136, 185, 263 Delugan, G. 59, 63, 100 Dematté, M. 59, 66, 69, 102, 229, 232, 238 De Nicolò, M. 273 Dijk van, E. 271 Di Pauli, J. 47 Di Pauli, J.N. 237 Donati, G. 121 Dordi, C. 40, 44 Dossetti, G. 12, 61 Dunat, H. 279 Eckert, W. 77 Edward VII., König von Großbritannien 159 Ehrhard, A. 78, 82, 94, 95 Elisabeth, Kaiserin 163 Endrici, C. 49, 51, 52, 56, 67, 72-74, 79, 84, 85, 87, 91, 93-95, 97-100, 102, 103, 107, 108, 114, 127, 128, 152, 155, 157, 173, 188, 199, 206, 207, 213, 232, 238, 246, 247, 249, 250, 252, 257, 258, 272, 280, 281 Engels, F. 80 Erler, E. 89, 111, 186, 191 Erzberger, M. 230 Esser, Pater 86 Eugen von Savoyen, Erzherzog 235, 255 Evans, R.W.J. 114 Fabietti, U. 270 Faggioli, M. 17, 19 Faidutti, L. 251, 263 Faustini, G. 52, 142 Ferrari Zumbini, M. 56, 173 de Finis, L. 61, 259 Fiorilli, don 99 Fogazzaro, A. 87 Fogazzaro, G.B. 87 Formigoni, G. 150, 277 Forni, M. 199 Förster, Feldmarschall, Baron 167 Fortis, G. (Pseudonym Alcide de Gasperi) 70, 71, 100 Franquinet de Saint-Remy 100 Franz Ferdinand, Erzherzog, Thronfolger 88, 90, 127, 133, 147, 151, 160, 166, 174, 211, 222, 269 Franz II., Kaiser 32 Franz Joseph I., Kaiser 8, 30, 33, 57, 148, 161-164, 241, 243, 258, 268

Personenregister

Franz, G. 128 Freshfield, D.W. 234 Freud, S. 83 Friedjung, H.162 Friedrich II., König 40 Funder, F. 64, 73, 87, 88, 108, 162, 166, 173, 193, 231-233 Garbari, M. 41, 136, 153, 175, 199 Garibaldi, G. 29, 30 Gasparri, P. 258 Gasser, E. 263 Gasser, V. 29 Gautsch, P. von 55, 114, 115, 123, 133, 187, 190, 192 Gehler, M. 26, 282 Gemelli, A. 142, 178, 213 Gentile, E. 276 Gentili, G. de 49, 51, 52, 87, 98, 103, 136, 161, 185, 193, 242, 245, 246, 251, 252, 255-257, 263 Gentilini, L. 43 Gessmann, A. 108, 173 Ghezzer, M. 47 Gioberti, V. 272 Giolitti, G. 161, 169, 230, 250 Gius, L. 70, 71 Gladstone, W.E. 77 Gluck, M. 83 Goethe, W. 109, 163, 191, 192 Goio, A. 140 Good, D.F. 147 Gottardi, A.M. 77 Gozzi, C. 109 Grabmayr, K. von 125, 198 Grandi, C. 41 Grandi, R. 185, 263 Gregor VII. (Hildebrand von Soana), Papst 132 Gregor IX. (Hugo, aus dem Haus der Grafen von Segni), Papst 132 Gregorini, G. 41 Griffo, M. 78 Grillparzer, F. 151 Grimm, J. 22 Grimm, W. 22 Grosoli, G. 97 Guadagnini, A. 206 Guasco, M. 95 Guazzaloca, G. 169 Guetti, L. 48, 53, 56 Guggenberg, O. von 194

289

Guicciardini, F. 161 Guiotto, M. 110, 187, 227, 230 Halévy, E. 78 Hall, R.C. 202 Hamisch, E. 147 Hartel, W.A. von 89 Haselsteiner, H. 34, 126 Heindl, W. 146, 148 Heine, H. 26, 75 Heinlein, M.H. von 259 Heiss, H. 26-28 Herzl, T. 47, 84 Hindenburg, P. von 255 Hinz, M. 22 Hitler, A. 55, 56, 173 Höbelt, L. 44, 47, 54, 120, 122, 133, 134, 137, 149, 187, 192, 214 Hofer, A. 27, 30, 64, 152, 153, 168-170, 188, 283 Hofmannstahl, H. von 194 Hohenlohe, C. 133, 219, 243 Hohenwart, K.S. von 36, 37 Hötzendorf, F.C. von 151, 202, 229, 243 Hoyos, A. 269 Hutter, J. 99 Inama, G.B. 56, 127 Innozenz II. (Gregorio Papareschi di Guidoni), Papst 132 Izvolskij, A. 159-161 Janik, A. 83 Johnson, J.H. 253 Joseph II., Kaiser 32 Kaiser, W. 29 Kann, R.A. 31, 34, 53, 55, 84, 151, 269 Kant, I. 93, 96 Karl I., Kaiser 241, 243, 246, 248, 271 Kathrein, T. von 100, 220 Ketteler, E. von 78 Kinz, F. 186 Kirsch, M. 17 Klaobouch, J. 33 Klimt, G. 79, 82 Klinger, M. 79-81 Kluge, F. 22 Kofler, A. 186, 251 Kokoschka, O. 254 Körber, E. 89-91, 105, 108, 113, 114 Kosfeld, A.G. 17

290

Personenregister

Kraft, E. 262 Kramar, K. 149, 244, 257 Kraus, K. 84, 94, 241, 250 Krauss, A. 236 Kronenbitter, G. 182, 189, 204, 223 Kuk, W. 129 Kuprian, H.J.W. 282 Lange, G. 50 Lanzerotti, E. 51, 56, 66, 137, 183 Le Bras, G. 42 Lecher, O. 54 Leo XIII. (Vincenzo Gioacchino Raffaele Luigi Pecci), Papst 15, 46, 50, 72, 84, 173, 174, 280 Leonardi, A. 41-43, 95, 184, 200 Leoni, D. 236 Lerch, Th. Edler von, Generalmajor 237 Lindström, F. 113, 114 Lloyd George, D. 169 Lorenzoni, G. 88 Lueger, K. 46, 47, 56, 67, 75, 76, 83, 108, 150, 171-174, 179, 187 Macchio, K. 228, 230-232 Maffei, A. 109 Magris, C. 8, 57, 109, 163, 189, 194 Mahler, G. 79 Malfatti, V. 49, 90, 102, 117, 136, 185, 263 Malfèr, S. 67, 115 Malik, R. 191 Manci, M. 181 Manzoni, A. 92, 163 Margarete von Tirol, Gräfin 26 Maria Theresia, Kaiserin 32 Marini, B. 45 Martini, C.A. 192 Marx, K. 78, 93 Masaryk, T.G. 160 Mason, J.W. 55, 143 Mattei, G. 59, 66, 69, 175, 178, 232, 238, 240, 248 May, A.J. 53, 101, 126, 133, 136, 147, 159, 162, 211 Mayr, M. 130 Mazzini, G. 29, 219, 260 Meda, F. 67 Melloni, A. 17 Menestrina, F. 89, 219 Menestrina, G. 218, 235 Mérey, K. von 228 Merler, V. 65

Merry del Val, R. 100, 108, 109 Merveldt, F. 90 Metternich, K. von 24, 28, 163, 164 Meyer, E. 135, 256 Michelangelo Buonarroti 92 Milojkovi’c-Djuric, J. 144 Minor, J. 109 Moioli, A. 41, 51, 196 Montalambert, C.F. 173 Montanari, I. 63 Monteleone, R. 53, 163, 185 Morandini, M. 21, 180 Muck, R. 114, 152, 247, 252 Musil, R. 34 Mussolini, B. 153, 268-270 Napoleon Bonaparte, Kaiser von Frankreich 33, 163 Nequirito, M. 23, 25, 26, 36, 38, 39, 112 Nicoletti, M. 95 Nietzsche, F. 82, 93 Nikolaus II., Zar 161 Nobili Schiera, G. 19 Olbrich, J. 79 Olmi, G. 23 Olszewski, J. 148 Onestinghel, G. 259 Orlando, V.E. 264 Oss Mazzurana, P. 41, 130, 199 Panizza, G.B. 56, 131, 183, 217 Paolazzi, B. 136, 184 Paolucci de Calboli, R. 263 Pasini, F. 51, 89 Pedrotti, G. 136 Perathoner, J. 49, 111, 130 Pertici, R. 80 Pfeifer, G. 26 Philippoff, E. 55 Piccoli, F. 103 Piccoli, P. 21, 87, 235 Piffl, F.G. 246 Pircher, G. 227, 236, 237, 240, 244 Piretti, M.S. 53 Piscel, A. 51 Pittoni, V. 219 Pius IX. (Giovanni Maria Mastai-Ferretti), Papst 72 Pius X. (Giuseppe Melchiorre Sarto), Papst 72, 100, 108, 139, 225 Pizzei 104

Personenregister

Pizzini, F. 69, 71 Plaschka, R. 32 Platon 77, 215 Pleterski, J. 158 Pombeni, P. 68, 78, 95, 148, 260, 266, 274, 275, 277, 283 Popovici, A. 126 Prampolini, C. 80 Prati, G. 192 a Prato, G. 23, 28, 36, 212, 282 Prezzolini, G. 268 Prinetti, G. 91 Prodi, P. 30, 192 Proudhon, P.J. 92 Psenner, L. 46 Quagliariello, G. 16, 78 Radetzky von Radetz, J.J.W. Graf 28, 151, 227 Ranke, F. 72 Ranzi, G. 40, 41 Raphael, Raffaello Sanzio 92 Rasera, F. 66, 77, 95, 239, 285 Redlich, J. 147, 243 Reinschedl, M. 202 Renner, K. 126, 244 Reut-Nicolussi, E. 26, 63, 88 de Riccabona, V. 54, 199 Riccardi, L. 226 Rimbl, B. 258 Rinder Schjerve, R. 72, 114 Rioux, J.-P. 283 Rizzi, B. 116, 263 Rizzi, Bice 229, 230, 245, 246 Rohmeder, W. 111, 112 Roller, A. 79, 82 Romanelli, R. 123 Romani, M.F. 107 Romani, P. 107 Rosmini, A. 36, 192, 212 Rossi, M. 98 Rothenberg, G.E. 151 Rudolf IV., Herzog 26 Rudolf, Erzherzog-Thronfolger 163 Ruggera, C. 35 Rumpler, H. 34 Rusconi, G.E. 19, 226 Rusinow, D. 120 Salandra, A. 225, 264 Salvadori, G. 45, 48, 54 Salvadori, R. 104

291

Salvatici, S. 46, 270 Salvotti, S. 35 Saurer, E. 46 Schell, H. 73, 139 Schiera, P. 17 Schiller, J.C.F. 29, 109, 191, 192, 251 Schlegel, F. 85 Schneider, E. 172 Schneller, Ch. 38, 39 Schober, R. 30, 47-49, 57, 90, 121, 127, 144, 157, 196, 197, 216, 220, 227, 241, 242 Schönborn, F. von 46 Schönburg, G., Fürst 230, 235 Schönerer, G. von 55, 56, 75, 84, 90, 172 Schöpfer, A. 111, 251 Schorske, C.E. Schraffl, J. 216, 220, 251, 256, 262 Schreiner, G. 137 Schrott, C. 130 Schwartzenau, E. von 90, 91, 94, 104, 121, 127 Segantini, G. 81, 192 Segatta, G. (don Bepo) 63, 67, 74, 85-87, 98, 239 Seidler, E. von 258 Semeria, G. 80 Sestan, E. 60-63, 212, 213, 225, 237, 270-272 Seton-Watson, R.W. 162 Sheehan, J.J. 32 Sickinger, H. 282 Sienkiewicz, H. 80 Sighele, S. 136 Silli, G. 102, 174, 179, 180, 188 Simon von Trient (Seliger Simonino) 76, 77 Simonetto, F. 265 Singer, B.C.J. 276 Sixtus von Bourbon-Parma, Prinz 243 Sked, A. 254 Skinner, Q. 275 Skrivan, A. 143, 189, 195, 204, 211 Sonnino, S. 161, 225, 232, 233, 264 Spataro, G. 263 Spencer, H. 77 Spiegelfeld, M.M. von 127, 133, 144, 157, 161, 180, 197, 204, 205, 237 Staffler, J.J. 28 Stefenelli, G. 153 Steinberg, M.P. 56 Steiner, M.P. 83

292

Personenregister

Stevenson, D. 157, 202, 204 Stirati, L. 87 Stone, N. 151, 254 Stourzh, G. 35 Strauss, J. 151, 171 Stuart Mill, J. 77 Stürgkh, K.G. von 192, 204, 207, 213, 214, 220, 228, 231, 242 Sturm, E. 35 Szabò, S. 72, 73 Taaffe, E. Graf 37, 45 Talamo, Monsignore 86 Tamanini, E. 140 Tambosi, A. 138, 175, 189, 200 Tegetthof, W. von 30, 227 Tersztyànszky, K. 253 Thomas von Aquin 93 Tisza, I. 230 Tittoni, T. 143-145, 160, 161 Todeschini, M. 132 Toggenburg, F. 205, 235, 240 Tolstoi, L.N. 78 Tonelli, A. 136, 185, 256, 263 Tonezzer, E. 19, 77 Toniolo, G. 47, 78 Traniello, F. 49 Trapp, G. 104 Treuinfels, L.M. 130 Trinchese, S. 132, 241, 242 Twain, M. 55 Überegger, O. 241, 244 Umberto I., König 85 Unowsky, D.L. 152 Urbanitsch, P. 32, 148 Ussai, D. 263 Vadagnini, A. 21, 86, 206, 235, 265 Valiani, L. 168, 226, 228, 230, 235, 243, 253 Valori, G. 13, 229 Valussi, C.E. 44, 45, 50, 74, 94, 96 Varanini, G.M. 23 Vareschi, S. 49, 50, 206

Vecchio, G. 85, 94, 103, 121, 128, 144, 173, 217, 281 Vigilius hl., San Vigilio 93, 171 Villari, P. 41, 85 Virchow, R. 50 Vittorio Emanuele II., König von Sardinien 85 Vogelweide, W. von der 40 Wackernell, J.E. 111, 130 Wagner, O. 84 Wahrmund, L. 212, 282 Wank, S. 158 Webb, S. 78 Weber, B. 36 Weber, C.M. von 109 Weber, E. 153 Weber, M. 7, 15, 18, 266 Wedekind, M. 68, 140 Weiss, A.M. 46 Wenin, H. 111 Widmann, A. 111 Wieser, Graf von 115 Wilhelm II., Kaiser 202, 228, 243 Williamson, S.R. 147 Wilson, W. 253, 260, 262, 263 Wittgenstein, L. 83 Wolf, E.R. 38 Wolf, K.H. 124 Wolff, A. 25 Xavier von Bourbon-Parma, Prinz 243 Zadra, C. 236 Zaffi, D. 110-112, 116 Zambarbieri, A. 73, 85 Zaninelli, S. 42 Zanolini, V. 154 Zeman, Z.A.B. 120 Zingerle, I. von 39 Zocchi, C. 40 Zola, É. 93 Zöllner, E. 32 Zorzi, B. 36 Zucchelli, E. 140