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German Pages 221 Year 2017
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 188
Kants Stimme Eine Untersuchung des Politischen bei Immanuel Kant
Von Masataka Oki
Duncker & Humblot · Berlin
MASATAKA OKI
Kants Stimme
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 188
Kants Stimme Eine Untersuchung des Politischen bei Immanuel Kant
Von Masataka Oki
Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D 21 Alle Rechte vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-14906-3 (Print) ISBN 978-3-428-54906-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84906-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine teilweise überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im März 2015 von der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen wurde. Die Forschung wurde unterstützt von der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) und der Fakultät für Politikwissenschaft und Ökonomie der Waseda Universität. Der Dank, den ich meinem Doktorvater Otfried Höffe schulde, lässt sich nicht genug ausdrücken. Er hat mir nicht nur die Chance gegeben, meine Dissertation in Deutschland zu schreiben, sondern auch im Laufe der Promotionszeit durch Wort und Tat mir immer gezeigt, was es heißt, ein selbstständiger Denker zu sein. Mein Zweitgutachter Wolfgang M. Schröder hat mir in entscheidenden Phasen zur Ausgestaltung der Argumente weitergeholfen. Dafür möchte ich mich bei ihm herzlich bedanken. Seishi Sato, meinem Doktorvater in Japan, der mich zuerst in die akademische Welt eingeladen hat, gilt mein besonderer Dank. Er hat mich ständig motiviert, um des Weiterdenkens willen über die Staatsgrenzen sowie die sprachlichen Grenzen hinauszugehen. Viele haben die früheren Fassungen meiner Dissertation gelesen und mir mit ihren konstruktiven Bemerkungen geholfen, darunter die Diskussionsteilnehmer der Oberseminare von Otfried Höffe sowie die der Seminare von Seishi Sato; ihnen gilt mein großer Dank dafür. Ebenso danke ich Peter Protic, Jordi Ch. Mora, Tobias Bartneck, Mario A. Kühn ganz herzlich für die Korrektur und die freundschaftlich-philosophischen Gespräche, die ich mit ihnen geführt habe. Vladislav Chistruga und Francesca Zugno haben mich die einfache Wahrheit gelehrt, dass Freundschaft und Philosophie voneinander untrennbar sind. Ich bin mir ganz sicher, dass ohne dieses feste Vertrauen in die Welt und Sprache es mir unmöglich gewesen wäre, den Mut zu fassen, meine Dissertation auf Deutsch zu schreiben, d. h. in der Fremdsprache, die uns unsere Begegnung in Tübingen ermöglicht hat. Meinen Eltern Junji und Mieko Oki und meinen Schwiegereltern Koichi und Kazuko Suga danke ich für ihre umfassende Unterstützung und Geduld.
6 Vorwort
Dieses Buch ist meiner Frau Mai Oki-Suga gewidmet. Durch ihre Anwesenheit verwandelten sich alle Städte, in denen wir uns je zusammen befanden, in unsere Heimat. Aichi, März 2016
Masataka Oki
Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Grundfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Wovon anfangen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 III. Der aktuelle Forschungsstand zum Politikdenken Kants . . . . . . . . . . . 17 IV. Warum Kant heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 V. Der erste Umriss des Politischen bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 VI. Grundthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 VII. Die erste Erläuterung der These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 VIII. Kant und die überlieferte Bedeutung des Politischen . . . . . . . . . . . . . 35 IX. Aufruf zur Aufklärung als die Stimme der Menschheit . . . . . . . . . . . 38 B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst . . . 43 I. Die Frage nach dem Interesse der rechtlichen Vernunft . . . . . . . . . . . 43 II. Vorbemerkungen zu Prinzipien der Politischen Philosophie Kants . . . 47 III. Das Interesse der Rechtsvernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 IV. Die Priorität des Staats über Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 V. Die despotische Denkungsart als Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 VI. Glücksverlangen als Wunsch nach Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 63 VII. Beförderung der Glückseligkeit des Publikums als Kern des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 VIII. Öffentlichkeit oder der Ort des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 IX. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 C. Das I. II. III.
Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . 82 Ein Blick in das Gemüt des gemeinen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Das Gewicht des Selbst als Konstanz des Menschen . . . . . . . . . . . . . 85 Die Stimme der Vernunft als die Kehrseite des Gewichts vom Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 IV. Despotismus als Regierung der Kinder durch ein Kind . . . . . . . . . . . 96 V. Bedeutungslose Freiheit als Albtraum der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 100 VI. Glauben als Aussicht der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 VII. Die moralische Verachtung als negatives Signal der guten Gesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 VIII. Liebespflicht des Fürsten als Aufforderung des Muts zum Selbstlaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 IX. Schlussbemerkung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
8 Inhaltsverzeichnis D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I. Zur Aufklärung der Rechtslehre im Hinblick auf die moralische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Die Metaphysik des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 III. Das Juridische und das Ethische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 IV. Der apriorische Zweck der Rechtslehre und die Stimme der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 V. Die Rechtspflichten im Hinblick auf den Zweck der Rechtslehre . . . 144 VI. Das angeborene Recht als Ausführungsform der Rechtspflichten . . . 148 VII. Mitteilen des Gedankens als der Probierstein der Wahrheit . . . . . . . . 152 VIII. Erzählen und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IX. Erzählen als der Ruf nach der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 X. Versprechen als die Grundlage der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 XI. Schlussbemerkung: Politik als Selbstmanifestation des Weltbürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 E. Das I. II. III. IV.
moralische Erziehungsprogramm bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Erziehung im Hinblick auf die moralische Politik . . . . . . . . . . . . . . . 168 Anfang und Ende des Werdegangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Das Gefühl, „mehr als Mensch“ zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Ungesellige Geselligkeit als verkehrte Ausdrucksform des Anspruchs auf Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 V. Die Vorstufe zur Selbstaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 VI. Der Umweg der gebrochenen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 VII. Erziehung als eine menschliche Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 VIII. Spiel und Arbeit als Lernprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 IX. Spiel als Muster der geschichtlichen Bewusstwerdung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 X. Schlussbemerkung z um moralischen Erziehungsprogramm im Hinblick auf die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
F. Schlusswort: Kants Stimme und eine weitere Fragestellung für die gemeinsame Zukunft der politischen Lebewesen . . . . . . . . . . . . . 204 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
„Man muss lieben lernen. – So geht es uns in der Musik: Erst muss man eine Figur und Weise überhaupt hören lernen, heraushören, unterscheiden, als ein Leben für sich isolieren und abgrenzen; dann braucht es Mühe und guten Willen, sie zu ertragen, trotz ihrer Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck, Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben: – Endlich kommt ein Augenblick, wo wir ihrer gewohnt sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, dass sie uns fehlen würde, wenn sie fehlte; und nun wirkt sie ihren Zwang und Zauber fort und fort und endet nicht eher, als bis wir ihre demütigen und entzückten Liebhaber geworden sind, die nichts Besseres von der Welt mehr wollen, als sie und wieder sie. – So geht es uns aber nicht nur mit der Musik: Gerade so haben wir alle Dinge, die wir jetzt lieben, lieben gelernt. Wir werden schließlich immer für unseren guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit, Sanftmütigkeit gegen das belohnt, indem das Fremde langsam seinen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt: – Es ist sein Dank für unsere Gastfreundschaft. Auch wer sich selber liebt, wird es auf diesem Wege gelernt haben: Es gibt keinen anderen Weg. Auch die Liebe muss man lernen.“ Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Fragment 334.
A. Einführung I. Grundfrage Diese Untersuchung ist ein Versuch, das „Politische“ bei Immanuel Kant zu verstehen. Die gesamte Untersuchung wird durch die einzige und einfache Frage geleitet, nämlich: Was macht das Wesen der Kantischen Politik, d. i. das Politische bei ihm, aus? Dieser Frage liegt das Problembewusstsein des Verfassers hinsichtlich des aktuellen Forschungsstands der Philosophie Kants zugrunde, dass in der Literatur der Begriff der „Politik“ bei ihm selbst nur selten thematisch behandelt und so bisher nicht genug diskutiert bzw. verstanden wird. Dies gilt erstaunlicherweise, mit wenigen Ausnahmen1, auch für diejenigen Studien zu Kant, die Ausdrücke wie „Politik“ und „politisch“ im Titel tragen. Das rührt hauptsächlich daher, weil Kant selber bekanntlich nie in seinem Leben ein eigenständiges Werk geschrieben hat, das diese Ausdrücke im Titel hat. Zusammengenommen mit der begrifflichen Nähe der Politik zu dem „Recht“ einerseits und deren abwertenden Bezeichnung als das Handeln nach „Staatsklugheit“ sowie der negativen Konnotation ihrer attributiven Verwendung „politischer Moralist“ andererseits, hat diese Tatsache verhindert, die moralisch positive Bedeutung des Politischen bei Kant herauszugreifen. Dies hat zur Folge, dass bei der Analyse seiner Politischen Philosophie entweder die alltägliche Bedeutung des Politischen als selbstverständlich vorausgesetzt wird2 oder die eigenen Auffassungen der Interpreten stillschweigend in Kants Schriften hineingelesen werden, wobei sie wenig dem Aufmerksamkeit zu schenken pflegen, was genau Kant selbst unter dem Politischen versteht.3 Die Tatsache allein aber, dass Kant selbst den Begriff nicht so klar und deutlich bestimmt, wie etwa den des Rechts oder der Ethik, bildet kein Argument dagegen, dass man vorab eine Idee des Politischen als solches zugrunde zu legen hat, um eine systematische, statt einer bloß rhapsodischen Vorstellung des Begriffs zu gewinnen. Dies ist vielmehr unvermeidgehören etwa Sassenbach; Gerhardt (1995); Kater; Schröder (2014). ist die Tatsache, dass man in manchen Studien eine Interpretation derjenigen Textstellen vermisst, wo Kant das Substantiv „Politik“ und das Attribut „politisch“ explizit verwendet. Vgl. etwa Borries; Saner; Riley; Williams; Hutchings; Ellis. 3 Vgl. etwa Arendt (2012) und Lyotard. 1 Dazu
2 Ausschlaggebend
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A. Einführung
lich, sogar erforderlich. Denn ein systematisches Verständnis eines bestimmten Begriffs wird erst dann möglich, wenn man diejenigen Textstellen, wo der zu klärende Begriff selbst auftaucht, sowie Aussagen, die diesen weiter ausführen, auf das gedanklich vorweggenommene Ganze hin ausgelegt und umgekehrt dieses im Lauf der Lektüre vom Verständnis der einschlägigen Teile her – gelegentlich durch die aus der Perspektive der Teile her notwendigen Berichtigungen des Ganzen selbst – klarer und deutlicher bestimmt hat.4 Das Ganze darf freilich kein beliebig ausgedachtes sein. Ganz im Gegenteil muss man bei der Analyse von einem solchen Ganzen ausgehen, das von der Sache selbst für ihr einheitliches Verständnis verlangt ist. Der Interpret muss sich nämlich, bildhaft vorgestellt, gleichsam ein Begriffs auditorium aufbauen und sich in es versetzen, in dem sich alle einzelnen Teilaussagen miteinander harmonisieren, damit sie, trotz ihrer je verschiedenen Töne und Klänge, zusammen ein gemeinsames Thema bilden, wenn man da ihnen gegenüber ganz Ohr ist. Anders gesprochen müssen wir einen Standpunkt einnehmen, von wo aus sich eine Stimme aus der Polyphonie der Begriffsvielfalt heraushören lässt.5 Die erste und zugleich letzte, also die einzige Aufgabe dieser Untersuchung besteht darin, eine solche Stimme Kants zur Sprache zu bringen, die nach einer bestimmten politischen Einheit verlangt. Dies tun heißt nichts anderes als die existentielle Stimmung Kants gegenüber seinem ohne seine Einwilligung in diese Welt hineingeworfenen Selbst wahrnehmen. Indem wir dies tun, so hoffe ich, treten sowohl das Wesen der Politik, d. i. das Politische bei Kant wie die Gründe, warum er für eine bestimmte Politik plädiert bzw. nach dieser verlangt, deutlicher zutage als bisher.
II. Wovon anfangen? Wir betrachten Kant aus der Perspektive eines Kants, der einen systematischen Begriff des Politischen vor sich hat. Wir sind aufgefordert, uns durch diejenige Devise leiten zu lassen, die Kant gegenüber Platon sich stellt: Kant „besser verstehen, als er sich selbst verstand“ (A 314 / B 370). Aber wovon ausgehend, müssen wir uns fragen, können wir anfangen? 4 Ein solches Verfahren ist zumal nötig, da einige „Ausführungen Kants“ bezüglich des Politischen, wie wir sehen werden, „in sich“, mindesten auf den ersten Blick, „nicht widerspruchsfrei“ sind oder im Gegensatz zu anderen Textstellen“ stehen (Sassenbach, S. 4). 5 Wenn man umgekehrt diese Bemühung verabsäumt, so läuft man Gefahr, ein übereiltes Urteil, wie das folgende, sich verbreiten zu lassen: „Im Rahmen [der Praktischen Philosophie Kants] hat eine Politische Philosophie als ein eigenständiger Entwurf keinen Ort. Die Politik ist nichts anderes als der ‚Mechanismus der Rechtsverwaltung‘ “ (Vollrath, S. 92).
II. Wovon anfangen?13
Diese Frage können wir nicht umhin, weil die Hoffnung auf die Aufklärung des Politischen bei Kant offenbar auf einem Zirkel beruht. Denn diese muss von eben demjenigen Ganzen ausgehen, das man sich erst durch sie gewinnen zu können glaubt. Kant spricht von einer besonderen Schwierigkeit des Geschäfts des Philosophen gegenüber dem des Mathematikers: Während dieser, so Kant, „seine Begriffe, oder die Stellvertreter derselben (Größen- und Zahlenzeichen), in der Anschauung vor sich hinstellen, und dass, soweit er gegangen ist, alles richtig sei, versichert sein kann“, muss jener dagegen „seinen Gegenstand in der Luft vor sich schwebend erhalten“ und „ihn nicht bloß teilweise, sondern jederzeit zugleich in einem Ganzen des Systems […] sich darstellen und prüfen“ (Streit VII, S. 113). Diese Schwierigkeit lässt sich zwar nicht auf einmal vollständig überwinden. Es gilt hier aber, um die Brüchigkeit möglichst zu vermeiden, ein solches Zirkularitätsbedenken dadurch etwas zu mildern, dass hier der Gegenstand nicht aus der Luft herausgegriffen zu werden braucht; wovon man ausgeht und worauf man Erhellung erwartend hinsieht, also das Politische, ist uns nämlich so vertraut, dass es immer schon – sei es nun bei der Lektüre eines klassischen Textes, sei es beim alltäglichen Gespräch –, unsere Blickrichtung, obzwar meistens inkognito, derart bestimmt, dass kraft dessen mehrere Gegenstände und Themen in den Sinneshorizont des Politischen hineintreten, ohne dass wir dabei eigens auf das Kriterium dieses Hineintretens und umgekehrt das des Ausbleibens anderer Sachen reflektieren müssen. Wenn ein solches unreflektiertes alltägliches Verständnis einer Sache unmöglich wäre, so wäre es auch nicht einmal möglich, uns von einem Autor ansprechen zu lassen, d. i. uns auf ein Gespräch mit ihm über eine Sache einzulassen. Auf unser Interesse angewandt heißt dies: Wir vermöchten uns von Kant in Bezug auf das Politische ansprechen zu lassen, weil wir unbewusst glauben, dass wir mit ihm immer schon einen Sinneshorizont teilen, in dem allein wir uns mit ihm über irgendetwas verständigen können. Die formale Antwort auf die Frage: Wovon anfangen? lautet auch hier, wie bei allem Gespräch: „Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist […], dass etwas uns anspricht.“6 Umgekehrt kann man sagen, unser Verstehen eines Autors habe längst den Anfang gemacht, wenn wir mehr oder minder sicher sind, dass er uns anspricht, dass er uns zum Mitdenken bewegt. Dass wir uns immer schon in der Lage befinden, uns mit Kant über das Politische verständigen zu können, beweist paradoxerweise die eingangs erwähnte Tatsache, dass in der Literatur die präzise Bestimmung des Politischen bei Kant noch bei Weitem fehlt. Genauso ist das Politische uns allzu nah, wie die Brille oder unsere eigenen Augen es sind: Die Nähe ist uns zu vertraut. 6 Gadamer,
S. 304; Hv M. O.
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A. Einführung
Wir müssen aber zugleich sagen, dass dem, der nicht weiß, auch einen kritischen Blick auf die Vertrautheit selbst zu werfen, das Verstehen dessen verschlossen bleibt, wie genau ein Autor zur Erweiterung oder aber einer Gratwanderung des Sinneshorizont eines Begriffs, in unserem gegenwärtigen Fall, des Politischen, beigetragen hat. Ferner wenn man versucht, von dem ihm vertrauten, sozusagen alltäglichen Verständnis eines Begriffs ausgehend, doch über dieses gewissermaßen transzendierend einen ihm unvertrauten Aspekt dessen durch die Lektüre klassischer Texte zu beleuchten, muss man begreifen, inwiefern jenes Verständnis sich erstreckt und unseren Blick auf die Sache bestimmt. Kurz: Um die Stimme eines Autors klarer und deutlicher als bisher zu hören, bedürfen wir einerseits eines überlieferten Sinneshorizonts, innerhalb dessen wir uns durch den Autor sinnvoll ansprechen zu lassen vermögen, müssen jedoch andererseits zu ihm einen gewissen Abstand einnehmen. Dies gilt zumal, wenn der von dem Autor aufgebauten Denkrahmen selbst den Horizont mit formt. Eben dies trifft für unser Verhältnis zu Kant hinsichtlich des Politischen zu. Denn zahlreiche Begriffe, denen Kant neue Sinnrichtung und dergleichen Impuls gegeben hat, etwa Moralität, Freiheit, Republik usw., bestimmen mehrfach unsere auf die friedliche Koexistenz der Menschen hin gerichtete Debatte über Politik. Nun das alltägliche Verständnis eines Begriffs ist nicht nur durch alltägliche Praxis im engeren Sinne, etwa unsere Tischgespräche, tägliche Kontakte zu Medienberichten usw., mehr oder minder bestimmt, sondern gestaltet sich im gewissen Grad auch durch in Hörsälen und Seminarräumen sowie mit Büchern geführte akademische Gespräche ständig um. Es liegt nahe, dass die beiden Formen der Praxis Einflüsse aufeinander haben. Daher können wir bei einer philosophischen Analyse des Politischen bei einem Autor von denjenigen Aspekten des Politischen nicht absehen, welche in der akademischen Debatten besondere Aufmerksamkeit genossen haben. Im Deutschen z. B. ist der „Begriffe des Politischen“ durch die Bestimmung von Carl Schmitt als Freund / Feind Kategorie stark geprägt, die als eine eigenständige sich nicht auf Verhältnisse wie Gut / Böse oder aber Wahr / Falsch usw. zurückführen lässt. Ihm zufolge machen die Freund / Feind Gruppierungen nämlich das Politische schlechthin aus: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. Insofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist, entspricht sie für das Politische den relativ selbstständigen Kriterien anderer Gegensätze: Gut und Böse im Moralischen; Schön und Hässlich im Ästhetischen usw.“7 7 Schmitt,
S. 25.
II. Wovon anfangen?15
Auf eine ganz andere Weise hat John Rawls auch dem Politischen („the political“) erneut eine neue Wendung gegeben, indem er, die faktisch bestehende Pluralität verschiedener Weltanschauungen in der Spätmoderne berücksichtigend und um ihrer friedlichen Koexistenz miteinander willen, Politik als Ort der Gerechtigkeit konzipiert hat. Hier geht es nämlich primär um die Frage, wie wir angesichts der genannten Pluralität und trotz der in ihr enthaltenen einander ausschließenden Glauben, Wahrheitsansprüche und Weltanschauungen jeweils einen minimalen Konsens erreichen und nach diesem die soziale Welt auf- und umbauen können, ohne dabei keinem Mitglied oder aber keiner Gruppe arbiträre Gewalt antun zu müssen. Konkreter: Es geht um die Wahl derjenigen Gerechtigkeitsprinzipien, für die als Grundnormen einer möglichen Gesellschaft man seine Stimme geben kann. Gemäß dieser im Kern Kantischen Idee setzt Rawls „the domain of the political“ von anderen Bereichen der menschlichen Tätigkeit ab: „The political is distinct from the associational, which is voluntary in ways that the political is not; it is also distinct from the personal and the familial, which are affectional, again in ways the political is not“.8 Nur diejenigen Tätigkeiten zeichnen sich als „politisch“ im Rawlsischen Sinne aus, an denen man nicht willkürlich, sondern um der gerechten kollektiven Entscheidung über die Frage willen teilnehmen soll: „how is it possible for there to exist over time a just and stable society of free and equal citizens, who remain profoundly divided by reasonable religious, philosophical, and moral doctrines?“9 In dem gleichen Zeitraum, in dem Rawls mit seinen Werken seine Leser zur Rehabilitierung der Politischen Philosophie motiviert hat, hat sich Hannah Arendt mit der Frage nach dem Politischen beschäftigt. Arendt sieht Politik als eine ausgezeichnete menschliche Tätigkeit an, wodurch die Menschen einander ihre je singuläre Einzigartigkeit offenbaren10, damit sie sich wechselweise als eine mit anderem Menschen – hinsichtlich ihres jeweiligen Vermögens, etwas absolut neu anzufangen – unvergleichbare, einzigartige Person anerkennen und miteinander für das Fortbestehen der gemeinsamen Welt, statt für das ihres bloßen Lebens, zusammenarbeiten können.11 In nuce: Bei Arendt besteht das Politische primär in der Sorge für die Welt, in die neue Kinder („new comers“) ständig eintreten, wo diese für eine Weile bleiben, um, nachdem sie neue Anfänge gemacht haben – deren Gesamtgewebe „Geschichte“ heißt –, schließlich wieder zu verschwinden. Wie ihre Bezeichnung der altgriechischen Polis als ein „organisiertes Andenken“12 8 Rawls
(1996), S. 137. (1996), S. 4. 10 Arendt (2013), S. 214. 11 s. Arendt (1994), S. 201–226. 12 Arendt (2013), S. 248. 9 Rawls
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A. Einführung
deutlich macht, drückt das politische Handeln das Vermögen des Neuanfangs aus, das der bloß gegebenen Natur sowie der Welt als eine Geschichte erfassbare Sinnzusammenhänge verleiht. Was Arendt mit ihrem Begriff des Politischen zu bekämpfen versucht, ist das Vergessen oder aber die Verdrängung der Existenz bestimmter Menschen bzw. Gruppen, wodurch sie in der Welt „wurzellos“ bzw. bedeutungslos werden, was nicht nur ihre Tötung berechtigt, sondern sogar die Menschen dazu „auffordert“.13 Wir dringen hier nicht weiter in die zeitgenössischen, variantenreichen Debatten über das Politische ein, um etwa eine einzig richtige Bestimmung von diesem herauszufinden. Für unsere Untersuchung ist es viel wichtiger, diejenigen Elemente zu benennen, die sich als Kernelemente des Politischen ansprechen lassen, die trotz seiner Mehrdeutigkeit, die die erwähnten Ansätze schon genug andeuten, selbst diesen gemeinsam zugrunde liegen. Erstens geht es um eine gewisse Spaltung unter Menschen. Sie taucht bei Carl Schmitt als die zwischen Freund und Feind, bei Rawls etwa als die zwischen verschiedenen „values“ auf und entspricht bei Arendt im Wesentlichen der Welt selbst als dem Zwischenraum, der uns voneinander trennt. Zweitens markiert die Spaltung jeweils im gewissen Grad als Zentrum eines Konkurrenzverhältnisses unter Menschen um des Anspruchs verschiedener Wertvorstellungen auf ihre Existenz willen. Damit eng verbunden nimmt Politik drittens die Form eines Wettbewerbs um eine Position in der Gesellschaft an, welche für die verbindliche Entscheidung über kollektive Normierung sowie rechtliche Bestimmung gewisser Handlungen der Mitglieder zuständig ist. Bezüglich des ersteren Punkts hat Arendt Recht, wenn sie Politik die unleugbare „Pluralität“ der Menschen zugrunde legt. Es muss aber sofort hinzugefügt werden, dass nicht die Pluralität für sich alleine, sondern erst in Verbindung mit dem endlichen Raum, der den Kontakt der Menschen zueinander notwendig macht, Politik ins Leben ruft.14 Dass unterschiedliche Spaltung je nach Ansatz betont wird, wovon die jeweilige Politikkonzeption ausgeht, erklärt sich daher, dass die Spaltung für uns keine natürliche Vorgabe, sondern die Fragen von unseren jeweiligen kognitiven sowie volitiven Welt- und Wertvorstellungen abhängig sind, wo und ob sie überhaupt zu ziehen sei – etwa auf der Spaltungslinie zwischen Hautfärben, verschiedenen Sprachen usw. Umgekehrt: Weil wir auf diese Weise „weltoffene“ Wesen sind, müssen wir uns vorab eine veritable Spaltung in dem Menschenbegriff selbst anvisieren können, um sinnvollerweise von einer wünschenswerten Politik zu sprechen. 13 Arendt
14 Hierzu
(1986), S. 610. s. Höffe (1993).
III. Der aktuelle Forschungsstand zum Politikdenken Kants17
Dass dieser Sachverhalt auch für die übrigen Kernelemente des Politischen folgenschwer ist, liegt auf der Hand. Denn es ist die praktische Erkenntnis der Spaltung, die darüber entscheidet, welches Konkurrenzverhältnis und welcher Wettbewerb zu führen seien. Insofern sind wir eingeladen, bei der Frage nach dem Politischen darüber klar zu kommen, ob es eine der menschlichen Natur entstammende, apriorische Spaltung gibt, die eine bestimmte Form der Politik notwendig macht. Aus diesem Interesse wollen wir ein Gespräch mit Kant führen, in dem sich die sinnlich-vernünftige Doppelnatur des Menschen als eine solche Urspaltung erweisen soll, die den Menschen zum Praktizieren der Kantischen Politik notwendigerweise bewegt. Es soll sich damit zugleich erhellen, dass wir uns über die verschiedenen, jeweils als „politisch“ bezeichneten Verhältnisse zwischen Menschen hinaus das Grundverhältnis des Menschen zu sich selbst kennenlernen müssen, um das Wesen der Politik zu begreifen.15 Kant hat die Sache zwar selber nie so formuliert. Dennoch glauben wir in dieser Untersuchung zeigen zu können, dass anhand dieser Annahme die Kantische Konzeption der Politik sich als eine heute noch besonders prägnante rekonstruieren lässt.
III. Der aktuelle Forschungsstand zum Politikdenken Kants Nachdem wir die Konstellation der verschiedenen Begriffe des Politischen im vergangenen Jahrhundert als einen wichtigen Hintergrund der vorliegenden Untersuchung skizziert haben, gilt es an dieser Stelle noch den Forschungsstand zu Kants Politikdenken als einen engeren Denkhorizont für uns darzustellen. Wir wollen hier nämlich sehen, wie und aus welchem Interesse Kant heute als ein großer Politikdenker betrachtet ist. Daraufhin soll unsere im vorangehenden Abschnitt dargestellte Denkrichtung schrittweise konkretisiert werden. Kant stellte in den letzten vier Jahrzehnten, anlässlich der Erscheinung von John Rawls’ A Theory of Justice (1971), weltweit einen der größten Brennpunkte des Politikdenkens dar. Es wäre keine Übertreibung, wenn man sagt: „Der zeitgenössische Liberalismus ist das variantenreiche Werk 15 Diesem Ansatz liegt die ontisch-ontologische Differenz zwischen Politik und dem Politischen zugrunde, die Mouffe hervorhebt. Im Gegensatz zu dieser aber, die „the political“ als „the very way in which society is instituted“, wodurch die wirkliche Praxis der Politik bestimmt wird, mit dem „Antagonismus“ zwischen Menschen gleichstellt (Mouffe, S. 8 f.), wollen wir zeigen, dass man im Hinblick auf das Politische über die schlichte Alternative Konsens oder Konkurrenz hinaus gehen können, ohne dabei die „passions“ vom Menschen gegenüber der Vernunft unberechtigterweise herabwürdigen zu müssen, was Mouffe zufolge die „liberals“ zu tun pflegen (S. 28).
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einer Kantischen Erbengemeinschaft.“16 Das zunehmende Interesse an Kant reflektiert meines Erachtens das des Zeitalters: Die Überlegung über Politik ist angesichts der Pluralisierung der modernen Gesellschaften sowie der Globalisierung mit der Herausforderung konfrontiert, die minimal allgemeinen Handlungsnormen für eine gerechte Weltordnung herauszuarbeiten. Kants Moralphilosophie erscheint nämlich in den Augen vieler Liberalen als eine besonders reiche Quelle von Ideen, mit denen sie der Herausforderung des Zeitalters begegnen zu können glauben. Nüchternere Kant-Freunde machen angesichts dieses mit guten Gründen verbreiteten Interesses darauf aufmerksam, dass in der aktuellen Debatte der bei Kant entscheidenden Differenz zwischen Recht und Ethik immer noch zu wenig Gehör geschenkt worden ist.17 Nach dieser Warnung heißt es: Wer in Kants Lehre des ewigen Friedens Hoffnung sehe und an den Fortschritt des Menschen dahin glaube, der dürfe nicht einmal diese Hoffnung übereilt auf die erwünschte Besserung der Gesinnung der Individuen begründen. Es empfiehlt sich vielmehr, der Logik des Rechtsfortschritts bei Kant mit Sorgfalt zuzuschauen. Wer bereit ist dies zu tun, dem bietet sich eine größere Chance, in Kants Wegspur über eine bessere, gemeinsame politische Zukunft der ganzen Menschheit zu denken.18 16 Kersting,
S. 23. der politischen Philosophie der Gegenwart zeichnet sich allgemein die Tendenz einer Ethisierung ab, durch die die Grenzen zwischen Recht und Ethik verwischt werden und die die den genuinen Bereich des Rechts aufschließende Spezialfrage nach den Bedingungen legitimer Zwangsanwendung vernachlässigt.“ (Kersting, S. 27) Diese Tendenz ist schon bei Rawls (1971) präsent, dessen Bezug auf Kant sich hauptsächlich auf Grundlegung beschränkt. Hierzu vgl. auch Beyrau, S. 23 f. 18 Diejenigen, die sich heute angeblich gegen Kant sträuben, tendieren, die schlichte Alternative „allgemeine Gerechtigkeit oder kulturelle Besonderheit“ für selbstverständlich zu halten. Personifiziert heißt sie, mal „Kant oder Aristoteles“, mal „Kant oder Rousseau“ usw. Hinter dieser Alternative steckt das vorschnelle Bedenken, dass jedweder Anspruch auf Allgemeingültigkeit zwangsläufig allerlei Besonderheit untergraben müsse. In Wahrheit aber, lässt es sich einsprechen, wo es bloß um die äußere Freiheit des Menschen geht, d. i. im Gebiet des Rechts im Kantischen Verstand, bleibt das Innere des Menschen unberührt (hierzu weiter unten und noch ausführlicher im Kap. D.). Es ist zwar nicht selten der Fall, dass man persönlich, in letzter Instanz für welche kollektive aber doch gemeinschaftsspezifische Vorstellung des Guten auch immer, gegenüber der globalen Gerechtigkeit, Widerwillen hegt, da man es für notwendig hält und schmerzhaft findet, seine kulturelle oder religiöse Integrität der Durchsetzung dergleichen Gerechtigkeitsidee opfern zu müssen. Aber diese weitaus unbegründete Furcht darf uns davor nicht blind machen, dass die allgemeiner Gerechtigkeit konformen Gemeinwesen je nach dem kulturellen Unterschied unterschiedlich konkretisiert werden können (hierzu s. etwa Höffe (1981), S. 108 f.) Für diese Möglichkeit hält sich Kants Rechtsgedanke durchaus 17 „In
III. Der aktuelle Forschungsstand zum Politikdenken Kants19
Genau in dieser Hinsicht hat die Kant-Forschung in den letzten drei Jahrzehnten einen großen Fortschritt gemacht19, dass jenes übereilte Vorurteil Schopenhauers nunmehr in aller Ruhe zurückgewiesen werden kann, dass in Kants Alterswerk Rechtslehre nichts Innovatives zu finden sei.20 Eine der wichtigsten Botschaft der Forschungsliteratur in diesem Zeitraum besteht meines Erachtens in der Aufklärung der Logik des „Rechtsfortschritts“, die im Zusammenhang mit Stichwörtern wie „Rechtspflichten statt Tugendpflichten“, „Evolution statt Revolution“ ausgeführt worden ist; die Botschaft nämlich, dass der politische Frieden nicht vom guten Willen der Individuen abhänge, sondern sich durch die allmähliche Republikanisierung der Staaten ergebe. Kant zufolge heißt solche politische Körperschaft „Staat (civitas)“, welche aus drei auf dem einzigen „allgemein vereinigten Willen“ beruhenden, und doch jeweils für verschiedene Funktionen zuständigen Gewalten besteht – „trias politica“ (RL VI, S. 313), d. i. aus der Legislative, der rechtsvollziehenden Exekutive und der Judikative. Die drei Gewalten sollen nicht nur „einander, als soviel moralische Personen, beigeordnet“, sondern auch derart „untergeordnet“ sein, „dass eine nicht zugleich die Funktion der anderen, der sie zur Hand geht, usurpieren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet“ (S. 316). Damit nun ein Staat als „wahre Republik“ gilt, muss er ein „repräsentatives System des Volks“ sein, das „im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte“ besorgt (S. 341). Ein „repräsentatives“ System ist der Staat, wenn in ihm die „Regierung“ als „ausübend[e] Gewalt“ von der „gesetzgebenden“ abgesondert ist und doch nach dem durch die letztere geäußerten allgemein vereinigten Willen handelt – „wie etwa Friedrich II.“, der sagt, „er sei bloß der oberste Diener des Staats.“ (ZeF VIII, S. 352) Ferner, um noch eine weitere, entscheidende Eigentümlichkeit der Republik in ihrer Vollkommenheit zu nennen, zeichnet sie sich dadurch als eine moralische Person im vollen Sinne aus, dass in ihr nicht irgendwelche konkrete Person, sondern das „Gesetz“ herrscht (RL VI, S. 341; früher schon Idee VIII, S. 25), d. h., dass sie sich nach diesem allein bewegt. Weil offen. Zur Interpretation bezüglich des nicht widersprüchlichen Verhältnisses des Kosmopolitismus zum Patriotismus bei Kant, s. Kleingeld (2012), S. 13–39. 19 Dafür haben die Werke Höffes und Kerstings sowie die kooperativen Beiträge von der durch Höffe geleiteten, sich global erweiternden Forschungsgruppe eine unschätzbar große Rolle gespielt. 20 Studien wie Arendt (2012) und Lyotard (2009) lassen sich, trotz ihrer schätzbaren Anregungen, immer noch durch dieses Vorurteil leiten.
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nun jedem Bürger in ihr als „Mitgesetzgeber“ das Stimmrecht zukommt21, so ist die Person der Republik in dem Maß die aller Bürger, als ihr auf dem allgemeinen Willen des Volks beruhendes Gesetz ihrem vereinigten gesetzgebenden Willen entspricht.22 Die derart bestimmte Republik hat Kant zufolge eine innere Abneigung gegen Kriege. Diese lässt sich schließlich auf das Selbstinteresse der Bürger der Republik zurückführen, worauf sich der Regent bei der entscheidenden politischen Frage berufen soll, nämlich ob sein Staat zum Krieg geht oder nicht23: „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, „ob Krieg sein solle oder nicht“, so ist nichts natürlicher als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine den Frieden selbst verbitternde, nie [wegen naher, immer neuer Kriege] zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen […].“ (ZeF VIII, S. 351)
Es zeigt sich hier deutlich, dass es keine moralisch gute Gesinnung, sondern das gemeine Selbstinteresse in der Gestalt des Unwillens gegen den Krieg, das für den kriegsmeidenden und dagegen friedensfördernden Vorsprung der Republik gegenüber dem Despotismus als deren Gegenteil verantwortlich ist.24 21 Zum Gesetzgeber kann ein jeder sich dadurch qualifizieren, dass er sein „eigener Herr (sui iuris)“ ist, d. h., dass er irgendein „Eigentum“ hat, damit er „nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich dass er niemandem als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts“ dienen muss, um das Lebensnotwendige zu erwerben (Gemeinspruch VIII, S. 295). Diese Ungleichheit bezüglich des Rechts auf Gesetzgebung wird durch die Formel ausgeglichen: „Jedes Glied [des Gemeinwesens] muss zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können; und es dürfen ihm seine Mituntertanen durch ein erbliches Prärogativ (als Privilegiaten für einen gewissen Stand) nicht im Wege stehen, um ihn und seine Nachkommen unter demselben ewig niederzuhalten.“ (S. 292). 22 Dies ist für diese Untersuchung entscheidend. Wir kommen im Kap. A. über diesen Aspekt der Republik sprechen, um dessen Bedeutung für den Menschen hervorzuheben. 23 Hierzu ausführlicher im Kap. D. 24 Es folgt der angeführten Passage die folgende Bemerkung, die auf die gegenläufige Tendenz des Despotismus aufmerksam macht: „Dahingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, [der Krieg] die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. dgl. durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine
III. Der aktuelle Forschungsstand zum Politikdenken Kants21
Darüber hinaus sei an dieser Stelle betont, dass Kant keineswegs für den Frieden durch Republik nach Revolution verlangt noch diese als Mittel zur Machtergreifung der Vernunft zulässt, welche er als „staatliche Sünde par excellence“25 im Gegenteil schlichtweg verbietet. Kant zufolge muss man sich hinsichtlich des rechtlichen Fortschritts nach Frieden vielmehr damit zufrieden geben, dass einerseits die politische Reform allein durch den Fürsten einer bestehenden Monarchie durchgeführt wird, der seine Pflicht nach Reform beherzigt, und so andererseits die Bürger sich jeglicher revolutionären Handlung enthalten muss. Kersting hebt diesbezüglich zu Recht hervor: „Statt die Errichtung einer Republik zu fordern und damit notgedrungen der Revolution das Wort zu reden, begnügt sich der „freie Rechtslehrer“ Kant […], mit den Mitteln der Aufklärung, die dem Fürsten seine Reformpflicht vor Augen hält.“ „Jedoch“, setzt Kersting fort, „nicht mit der fordernden Geste dessen, der sich im Recht weiß, tritt der Kantische Aufklärer auf. Er klagt nicht ein, sondern er trägt ein Anliegen vor, eine Bitte, „ehrerbietig an den Staat gerichtet“, in der dieser des Volkes „rechtliches Bedürfnis zu beherzigen angefleht wird“. Überzeugend ist Kerstings Urteil allerdings nicht, dass „in dieser antichambrierenden Untertanensprache“ „die Ohnmacht der Vernunft“ am klarsten zum Ausdruck kommt.26 Ferner ist das Bedenken von Kersting nicht unbeArt von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen und der Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Korps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann.“ (ZeF VIII, S. 351 f.). 25 „Die Revolution bricht die Kontinuität der Rechtsordnung: Sie ist die staatsrechtliche Sünde par excellence. Dem revolutionären Pathos vom absoluten Neubeginn, vom notwendigen letzten Gefecht, der enthusiastischen Anmaßung, aus den Trümmern der alten Ordnung den neuen Staat als unbefleckte, von allen Bindungen an das korrupte alte Regime losgelöste Gerechtigkeitsschöpfung entstehen zu lassen, setzt Kant mit nüchterner Eindringlichkeit das unaufhebbare Recht eines jeden auf Frieden, Ordnung und Gewaltfreiheit entgegen.“ (Kersting, 370) Zum Widerstandsverbot bei Kant vgl. auch Maus (1994). 26 Kersting, S. 339; Hv M. O. Eine ähnliche Ansicht vertritt Williams, wenn er sagt: „Kant defends the freedom of expression as the right of the loyal citizen to criticize his own government. He defends it as a secure path to good government and an enlightened, harmonious society. But there is one important weakness in his argument which Kant tends to overlook.“ Williams weist anschließend zu Recht darauf hin, dass, wenn „a tyrant [has] no interest in changing the law to benefit the ordinary citizen“, „the public use of reason will, at best, be ineffective“, und dementsprechend, dass „Kant’s defense of the freedom of expression is only valid some of the time, and ultimately, only when the sovereign wishes it to be so.“ Es ist freilich wahr, dass Kant in Übereinstimmung mit seinem Revolutionsvebot die Redefreiheit der Bürger auf das Aufzeigen des Fehlers seitens des Staatsoberhaupts bei der konkreten Anwendung der Gesetze einschränkt. Ferner Kants Aussage, dass „dem Staatsbürger, […] mit Vergünstigung des Oberherrn selbst, die Befugnis zustehen [muss], seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein
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dingt schlagend, dass Kants Idee der gelungenen Republik ein „Gerechtigkeitsrisiko“ enthält, da in ihr das Parlament als der gesetzgebende Stellvertreter des Volks eine absolute Unwiderstehlichkeit zugesprochen wird und man es einer „Gerechtigkeitsaufsicht für unbedürftig erklärt“.27 Wiewohl Kants Rechtsgedanke und die Quintessenz des modernen Liberalismus darin miteinander übereinstimmen, dass die beiden bei der vernunftmäßigen Organisation des Staats vom Inneren des Menschen, dort von der Gesinnung, hier von der je nach der Person unterschiedlichen „Konzeption des Guten“28, abstrahieren, so sollen wir darauf nicht unaufmerksam sein, dass der Rechtslehrer Kant für die erfolgreiche moralische „Politik“ als „ausübend[e] Rechtslehre“ (ZeF VIII, S. 370) – die er auch „a priori erkennbare Politik“ nennt (S. 378) –, sich doch auf das tiefste Interesse des Menschen beruft, das über das oben erwähnte gemeine Selbstinteresse hi nausgeht und diesem zugrunde liegt.29 Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen“ (Gemeinspruch VIII, S. 304; Hv M. O.), weist darauf hin, dass die Ausgestaltung der Redefreiheit von deren Institutionalisierung durch den Regenten abhängt. Jedoch ist der Grund für dergleichen Einschränkung nicht in Kants Optimismus zu finden, wie Williams unterstellt: „Kant assumes the attitude of the sovereign towards his citizens is one of good will. He believes, in other words, that the sovereign would not consciously wrong the citizens of his State. Kant cannot be criticized for hoping this would be the case; however he is at fault in implying that we should assume it generally is so.“ (Williams, S. 156; Hv M. O.) Ich möchte in dieser Untersuchung dagegen zeigen (bsd. im Kapitel D.), dass Kant in Wahrheit sich nicht lediglich einer solchen Hoffnung überlässt, sondern vielmehr sein Vertrauen auf den aufklärenden Effekt der Praxis der Redefreiheit – obwohl der Spielraum für diese bei Kant in unseren modernen Augen dem Umfang nach auffällig klein erscheint – sowie auf die Gesinnung sowohl des Bürgers als auch des Regenten setzt, kraft dessen es der Folge nach einerlei wird, ob jener sich von vornherein und aus freiem Stück für die Reform interessiert oder nicht. 27 Kersting, S. 352. 28 Vgl. etwa Rawls (1971). 29 Diesbezüglich sagt Höffe: „Da Demokratien dem Selbstinteresse ihrer Bürger zur Wirklichkeit verhelfen, sind sie kriegszurückhaltend, kriegszörgerlich, denn wenige Kriege versprechen einen per-saldo-Vorteil. Grundsätzlich kriegsfeindlich und ebenso grundsätzlich friedfertig sind sie aber nicht. Soll es trotzdem zu einer grundsätzlichen Friedfertigkeit kommen, so reicht das aufgeklärte Selbstinteresse nicht aus. Es bedarf vielmehr eines genuin moralischen Moments, das freilich in der Integrität der demokratischen Bürger, in ihrem Rechts- und Gerechtigkeitssinn kaum beim überwiegenden Teil der Bevölkerung in einem hinreichend verlässlichen Maß gegeben ist, empfiehlt es sich, nicht auf die genannte Bürgertugend allein zu vertrauen, sondern eine internationale, letztlich globale Organisation zu erwägen“ (Höffe (2012), S. 259 f.; Hv M. O.). Obwohl es hier primär um die Notwendigkeit einer internationalen, friedfertigen Organisation geht und daher der Inhalt der genannten „Bürgertugend“ nicht direkt aus dem Kontext festzustellen ist, so scheint die angeführte Passage auch dasselbe Problem zu berühren, nämlich das Gerechtigkeitsrisiko
III. Der aktuelle Forschungsstand zum Politikdenken Kants23
Genau dieser Aspekt von Kants Politischer Philosophie entspricht meines Erachtens dem, was durch die augenscheinliche, heute so gut wie allgemein anerkannte Gemeinsamkeit undurchsichtig gemacht worden ist. Was sich nämlich durch die Nähe des liberalistisch geprägten Politikbegriffs zu uns nunmehr ausblendet, besteht darin, dass bei Kant in dem durch die Repu blikanisierung des Staats ins Werk setzende und sie am richtigen Gang haltende Stimme des Menschen – als die sich im einzigen vernünftigen Weltwesen erhebende – das tiefste, existentielle Interesse dessen zum Ausdruck kommt, durch welches die Vernunft ihre Macht auch im Bereich der Politik erweist. Dies zu zeigen versucht die vorliegende Untersuchung, die doch zugleich durchaus darauf bedacht ist, eine unangemessene „Ethisierung“ von Kants Politischer Philosophie nicht zu bewirken. Wenn wir uns nun dessen enthalten, übereilig davon auszugehen, dass Kants Idee des Rechtsfortschritts einzig und allein an den Fürsten als den alleinigen Träger der Reformpflicht im bestehenden Staat adressiert ist, sondern die Tatsache berücksichtigen, dass seine Schriften potenziell allen Menschen zugänglich sind, so liegt es nahe, es gebe einen Spielraum in Kants Republik, in dem ein jeder Mensch eine positive Rolle für die Friedensstiftung zu spielen – statt bloß passiv dem Fürsten maschinengleich zu gehorchen – aufgerufen wird durch jene Apostrophe: „Sapere aude!“ Was sich dadurch sichtbar macht, ist dies: Das Interesse des Menschen für die eigene, tätige Freiheit, oder genauer dafür, als der Würde eines einzigen Vernunftwesens auf der Erde gemäß zu existieren, welches sich zwar jeweils in unterschiedlichen Gestalten, jedoch überall in Kants Schriften wahrnehmen lässt, ist es, was als der veritable Motor der Kantischen Politik gilt30 und diese zugleich vor dem angeblichen Gerechtigkeitsrisiko schützt. Aus dieser Perspektive wird sich das Politische bei Kant uns in seiner einheitlichen Gestalt zeigen. Und die Stimme der Menschheit ist es – die als solche auch als die des Philosophen Kant als eines Liebhaber der Weisin Kants politischer Philosophie. Die auf diese Weise in groben Zügen bei KantInterpreten befindliche Warnung stellt meines Erachtens eine Forschungslücke dar, die die vorliegende Untersuchung möglichst zu schließen versucht. 30 Ellis macht auch in ihr Studie zur Politik bei Kant darauf aufmerksam, dass bei ihm das in der „public sphere“ sich artikulierende „pure interest of reason“ als der „motor“ der Republikanisierung fungiert, solange es von den zwei „dangers“, nämlich der Staatszensur einerseits und dem es unrein machenden, d. i. es durch Privatinteresse kontaminierenden Effekt der Macht andererseits, ferngehalten bleibt (s. bsd. Ellis, S. 155–180). Ellis tut dies jedoch, ohne zugleich den Sachverhalt dieses „Interesses“ ausführlich zu erläutern. Die vorliegende Untersuchung übernimmt die Absicht von Ellis, versucht doch in dem Maße über diese hinauszugehen, als sie dadurch diese um die Grundlage der Lektüre von Ellis ergänzt, dass sie den Sachgehalt des allem Menschen zugrunde liegenden Interesses aufklärt.
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heit, d. i. des Kosmopoliten Kant, der am Zweck der Menschheit zutiefst praktisch interessiert ist, gilt –, welche sich zwar in den modernen liberalen Politikbegriff nicht nahtlos einfügen lässt und doch genau daher uns aus der zeitlichen und begrifflichen Ferne anspricht und einlädt, über das Politische anders zu denken.
IV. Warum Kant heute? Es ist Kants tiefgreifende Einsicht in die existentielle Bedeutung des „Politischen“ für alle Menschen qua mit Vernunft begabte Weltwesen, die deutlich zutage tritt, wenn man es genauer betrachtet. Sie bietet ein Interpretationskriterium bezüglich der gemeinsamen Welt sowie eigenen Daseins des Menschen in ihr dar, das ihn zur Teilnahme an der kollektiven Hervorbringung einer gerechten sozialen Welt mit seinen Mitmenschen bewegt. Anders formuliert macht sie einen Leitfaden zum Denken darüber aus, wie ein jeder „Interesse“ an einer solchen gerechten Ordnung haben kann und welches er haben soll, damit der kollektive Versuch von Generation zu Generation überliefert werden kann. Man könnte nun meinen, das Recht auf Leben und Unversehrtheit des Körpers als Menschenrecht sei der allgemeine und hinreichende Grund dafür, dass jeder ausnahmslos daran interessiert wäre. Gewiss, aber das suspendiert das Problem nur, solange noch unbeantwortet bleibt, was am Menschenleben diesem einen so großen Wert verschafft. Das bloße Leben oder das schlichte Überleben ist an und für sich noch so unterbestimmt, dass es die Frage offen lässt, warum es angeblich unbedingt geschützt werden müsste.31 Wenn es nun überhaupt so etwas wie gemeinsame politische Warnungen der sogenannten postmodernen Philosophie gibt, so qualifiziert sich die Folgende gewiss als eine entscheidende: Wenn Politik sich das Leben im Sinne des Überlebens zum höchsten Zweck macht, so ist es unvermeidlich, das Leben eines Volks oder des Mitglieds eines bestimmten Gemeinwesens auf Kosten des Lebens der Fremden zu schützen. Dabei mag das fremde 31 Höffe sagt hierzu: „Das Leben ist ein elementares Interesse im strengen Sinn eines nicht substituierbaren, mehr noch: transzendentalen (transzendentalpraktischen) Interesses; es ist eine der Bedingungen dafür, dass der Mensch überhaupt ein handlungsfähiges Wesen sein kann.“ (Höffe (1988), S. 67 f.) Anders gesagt ist das Leben ein für den Menschen unverzichtbares Gut insofern, als jeder Mensch einen basalen Anspruch darauf hat, als ein freies begehrendes Wesen zu existieren. Das besagt aber, dass das bloße Leben nicht an und für sich ein Wert ist, sondern diesen erst aufgrund seines Verhältnisses zur Natur des Menschen als eines begehrenden Wesens bekommt.
IV. Warum Kant heute?25
zerstörbare Leben genannt werden, was es will.32 Sieht man das Recht auf Leben und Leib ohne weiteres als das Menschenrecht schlechthin an, welche Bestimmung doch eigentlich eine bloße Tautologie ist, die um nichts um den positiven Sinn des ersteren vermehrt, so führt man stillschweigend die negative Kehrseite desselben Begriffs ein; ein nichtmenschliches Leben, worauf kein Mensch als Mensch Recht hat. Dies ist eine Logik, die dem aktuellen militärischen Eingriff im Namen des Menschenrechts33, sei es nun bewusst oder nicht, zugrunde liegt34, der ein Leben auf Kosten dessen von einem anderen zu schützen trachtet.35 Konfrontiert mit dieser Problemlage drängt sich heute die politische Warnung von Carl Schmitt äußerst unheimlich auf: „Den Krieg als Menschenmord verfluchen und dann von den Menschen zu verlangen, dass sie Krieg führen und im Krieg töten und sich töten lassen, damit es „nie wieder Krieg“ gebe, ist ein manifester Betrug.“36 Damit dieser Betrug nicht zum letzten Wort der Menschheit wird, gilt es, Menschenrechte auf eine solche Idee der Menschheit zu begründen, die keinen Menschen als Nichtmenschen aus ihrer extensiven Größe ausschließt, sondern allen Menschen als Menschen umfasst. Der normative Hauptzweck dieser Untersuchung besteht darin, zu zeigen, dass Kants Politikdenken auf einer solchen Idee beruht und somit imstande ist, dieser Herausforderung des Zeitalters zu begegnen. Anders gesagt, wird diese Untersuchung sich nur dann als gelungen erweisen, wenn sie die 32 Um hier nur wenige Ausdrücke zu nennen: „Aufforderung zum Mord“ (Arendt (1986), S. 624) oder die zu vernichtende vernunftlose Natur (Horkheimer / Adorno) oder aber „nacktes Leben (homo sacer)“ (Agamben). 33 „Im Namen“ heißt nach Heidegger „Unter dem Geheiß, nach dem Geheiß“ (Heidegger (1985), S. 154). 34 Vgl. Maus (2011). 35 Carl Schmitt hat Recht, wenn er sagt: „Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. Der Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhört, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liegt. Dass Krieg im Namen der Menschheit geführt werden, ist keine Widerlegung dieser einfachen Wahrheit, sondern hat nur einen besonders intensiven politischen Sinn. Wenn ein Staat im Namen der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegsgegner einen universalen Begriff zu okkupieren sucht, um sich (auf Kosten des Gegners) damit zu identifizieren, ähnlich wie man Frieden, Gerechtigkeit, Fortschritt, Zivilisation missbrauchen kann, um sie für sich zu vindizieren und dem Feind abzusprechen. „Menschheit“ ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethischhumanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus.“ (Schmitt, S. 51). 36 Schmitt, S. 46.
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Kantische Politik als ein allen Menschen kraft der Menschheit in ihm zur Friedensstiftung einladendes Unternehmen zeigt.
V. Der erste Umriss des Politischen bei Kant So viel gesagt sei hier der erste Eingang in das Wesen der Politik bei Kant dargestellt, was der gesamten Untersuchung zugrunde gelegt wird. Dadurch wird zugleich der Denkrahmen umrissen, innerhalb dessen die gesamte Untersuchung sich bewegt. Wie bereits oben gesehen heißt „Politik“ nach Kant „ausübend[e] Rechtslehre“ (ZeF VIII, S. 370). Da diese immer noch „viel zu wenig beachtete Formel“37 bereits das Verhältnis der Politik zur Rechtslehre als das der „Praxis“ zur „Theorie“ ausdrückt (ZeF VIII, S. 370), kann die Frage nach ihrem Wesen einerseits nicht ohne das Verständnis des Rechts beantwortet werden. Als „Praxis“ d. i. Hervorbringung (prattein) zielt Politik eine Weltordnung nach dem apriorischen System des Rechts (ius) ab.38 Noch präziser lässt sie sich als eine solche Praxis begreifen, wodurch die größtmögliche kriegslose Harmonie der äußeren Freiheit aller in einer Föderation der Staaten geleistet wird, welcher Friedenszustand als das „höchst[e] politisch[e] Gut“ der Rechtslehre gilt (RL VI, S. 355). Die elementare Bestimmung der Kantischen Politik heißt somit durchgängige Verrechtlichung der mensch lichen Gesellschaft nach dem apriorischen System des Rechts. Da diese Bestimmung (destinatio) allmählich in der Zeit und nicht durch göttliche creatio ex nihilo, noch, wie gesagt, durch Revolution auf einmal erreicht werden darf, so heißt der ihr angemessene Gang „Reform nach Prinzipien“.39 Andererseits ist es auch klar, dass Kants Geschichtsphilosophie für das Verständnis des Politischen bei ihm unabdingbar ist. Denn es ist offenkundig, dass Politik als eine zielgerichtete Praxis eine gewisse Erfolgsaussicht, die den Leitfaden zu ihrem Zweck darbietet, vor Augen haben will. Kant stellt eben den Weg und Prozess der graduellen Annäherung der Menschheit dazu vor in seinen geschichtsphilosophischen Schriften aus der Kritischen Phase. Es wird z. B. in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) – einer dem Umfang nach bescheidenen, aber nichtsdestotrotz die Grundzüge der Geschichtsphilosophie Kants40 darstellenden Abhandlung – gezeigt, dass die Menschheit im Großen regelmäßig 37 Gerhardt
(1995), S. 152. Bedeutung von „Rechtslehre“ als „Ius“ s. Höffe (1999b). 39 So lautet der Titel von Langers Studie zu Kants Geschichtsphilosophie (Langer). 40 Etwa der Rechtsfortschritt nach dem Plan der Natur, Antagonismus unter Menschen als Motor dergleichen Fortschritts, die Steigerung der Naturanlagen der Menschen von Kultivierung über Zivilisierung bis hin zur Moralisierung. 38 Zur
V. Der erste Umriss des Politischen bei Kant 27
zu diesem Zweck fortschreitet. Genauer: Kant entwirft hier eine Perspektive, aus der her betrachtet der ganze zeitliche Lauf der Menschengeschichte so aussieht, als ob die menschliche Gesellschaft sich bisher nach dem verborgenen Plan der Natur auf den ewigen Frieden hin verrechtlicht hätte und ständig diesem annähern würde.41 Gemäß dieser teleologischen Auffassung der Geschichte könnte man etwa die in Was ist Aufklärung? (1784) dargestellte kritische Öffentlichkeit, d. i. das sich zum freien Urteil über die gemeinsame Welt entschließende Publikum als einen Beschleunigungsfaktor des Fortschritts der Menschheit zum Frieden ansehen. Es ist eben die auf den Frieden hin konstituierte Teleologie, die die drei Felder der menschlichen Praxis, Politik, Recht und Geschichte, vereinigt.42 41 Langer fasst die Rolle von Kants Geschichtsphilosophie im Hinblick auf Politik folgendermaßen präzise zusammen: „Bezugsrahmen für eine moralische Politik ist die Geschichtsphilosophie […], dann auf zweifache Weise. Sie gibt erstens punktuell richtigem Handeln den Ausblick auf ein Ziel, ergänzt also die Prinzipien politischer Praxis, die angeben, wie man zu wirken habe, durch den Prospekt auf das, wohin man wirke […]. Zweitens enthält Kants Geschichtsphilosophie, neben der Bestimmung des Zwecks der Geschichte, Hypothesen darüber, dass und wie er ausführbar sei, die den Charakter seiner politischen Philosophie entscheidend prägen.“ (Langer, S. 29) Nach diesem Verständnis muss das verbreitete Missverständnis wie das folgende zurückgewiesen werden: „Because Kant excludes prudence and deliberation from his concept of political right, he ist forced to fall back upon invisible processes of nature to realize absolute moral ends in the political world. A strict reliance upon morality is simply not sufficient to vindicate Kant’s hopes as a liberal. Consequently, Kant must look for support from outside his system of practical reason, and this extraneous guarantee of „progress“ clashes with his pure moral principles.“ (Beiner, S. 68) Es gibt erstens keinen Grund für die Behauptung, Kant habe gänzlich auf „prundence“ und „deliberation“ verzichtet. Ganz im Gegenteil lässt die Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität zu, dass man für die Ausübung des Rechts überlegt, wie und wann man, auch mit Blick auf die durch Teleologie erschlossene Erfolgschance seiner Handlung, etwas tun soll, solange man äußerlich nicht wider das Recht handelt (Zur weitaus unterschlagenen praktischen Urteilslehre Kants s. Höffe (2001), S. 63–88). Zweitens obliegt es allein dem Menschen, von der bislang dank des Antagonismus, jedoch durch die menschlichen Handlungen zustande gebrachten Rechtsordnung ausgehend, diese durch seine Handlung auf den Frieden hin zu reformieren. Dabei kann der Mensch sich aus dem bisherigen Verrechtlichungsprozess der Gesellschaft „Hypothesen“ ziehen und Hoffnung verschaffen, dass der Rechtsfortschritt auch ab jetzt durch die bewussten Reform nach Prinzipien möglich seien. Das bedeutet aber gar nicht, dass der Mensch für den letzteren eine positive Beihilfe von der Natur erwarten kann, ohne selber etwas zu tun. Nicht zuletzt spricht Kant ein explizites „Veto“ gegen Kriege aus, welches besagt: Der Krieg habe bisher wohl zur Etablierung der im gewissen Grad gerechten Staaten beitragen können, so dürfe der Mensch ihn auf keinen Fall als Mittel zu etwaigen Zwecken einschließlich des moralischen ansehen. Hierzu s. Gerhardt (1995), S. 14–23. 42 Hierzu s. Riley, S. 167; Kater, S. 20 ff. Man kann sogar sagen, dass der „Frieden“ nicht nur das Einheitsprinzip der Politik, Geschichte und des Rechts, sondern auch die ganze Philosophie Kants entscheidend prägt. So vertritt Kant schon in der
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Systematisch betrachtet ist die moralische Notwendigkeit sowie die recht liche Architektonik des ewigen Friedens durch die Rechtsphilosophie dar gestellt und seine Kompatibilität mit der Natur sowie Erfolgsaussicht in der Erscheinungswelt durch seine Geschichtsphilosophie. Aber genau an dieser Stelle drängt sich eine entscheidende Frage auf: Wenn der Zweck der Politik durch die Rechtslehre bestimmt und der planund regelmäßige Gang der Menschheit dazu durch die Geschichtsphilosophie dargestellt ist, bleibe dann noch irgendein Element, das sich weder durch den Begriff des Rechts noch durch die Idee der Geschichte erschöpfen, sondern als schlechthin politisch identifizieren lässt? Diese Frage muss vorab geklärt werden, um überhaupt von Kants Politischer Philosophie zu reden. Und weil es offenkundig ist, dass das Politische bei Kant sich nur über Rekonstruktion aus verschiedenen Werken erörtern lässt, um desto dringlicher wird die Aufgabe, eine Vorstellung von ihm zu haben. Die positive Antwort auf diese Frage ist nun nur dadurch zu gewinnen, dass man das herausgreift, was in der Ausübung der Rechtslehre, oder im Übergang von der Theorie zur Praxis, vorliegt und diese zur „Politik“ macht. Ein Blick in die Etymologie lässt darin hineinschauen, worin der grundlegende Unterschied zwischen Politik und Recht besteht. Während das Recht als ius sowohl den allgemein zustimmungsfähigen subjektiven Anspruch auf etwas wie die ihm zugrunde liegende Gerechtigkeit selbst betrifft, so bezieht sich Politik primär auf Polis.43 Diese ist eine Mehrzahl von den jeweils aus Familien bestehenden Dörfern umfassende Einheit, die über sie die oberste Herrschaft ausübt und durch ihre Gesetze das Verhalten ihrer den gemeinsamen Boden und dergleichen Schicksal teilenden Mitglieder gegeneinander auf ihr friedliches Zusammenleben hin regelt. Sie ist hinsichtlich ihrer Existenzweise nach außen hin zugleich eine Körperschaft, die sich gegen Feinde abwehrt.44 Kurz: Die Polis ist der Ort, wo die Gerechtigkeit sich konkretisiert und wider sowohl die innere wie die äußere Bedrohung durchsetzt. Als eine solche nennt sie Kant sich erhaltenden „Automa t[en]“ (Idee VIII, S. 25), die sich zugleich wegen ihrer moralischen Selbstständigkeit auch als eine moralische „Person“ bezeichnen lässt. Kritik der reinen Vernunft den „epistemischen Kosmopolitismus“, der den epistemischen „Frieden“ durch Republikanisierung der Menschenvernunft zum Zweck hat. S. Höffe (2003). 43 Zum Unterschied zwischen dem Politischen und dem Recht s. Strauss, S. 31 f. 44 Als eine solche lässt sich die Polis zwar sehr genau auf der Schwelle zwischen Feind und Freund beruhen. Ob nun der Begriff des Politischen sich, wie Schmitt glaubt, letztlich auf den realen Gegensatz Feind-Freund gänzlich zurückführen lässt, ist eine andere Frage, worauf diese Untersuchung mit einem Nein antwortet.
V. Der erste Umriss des Politischen bei Kant 29
Der eigentümliche Sinn der Politik gegenüber dem Recht ist hieraus ersichtlich. Kant bezieht sich sehr genau auf die skizzierten Züge der Politik, wenn er sie, mit Blick auf die entsprechende Theorie, „Praxis“ nennt. „Praxis“ ist von Durch- und Ausführung (prattein) abgeleitet. Ihr muss wesensgemäß die Möglichkeit der Ein-führung oder des Anfangs (archein) des Auszuführenden vorausgehen. Anfang bedeutet hier nichts als die Inkraftsetzung des Rechts durch Handlung. Praxis muss also das Vermögen eines Wesens, etwas anzufangen, zu ihrem Adressat haben. Das „Recht“ bei Kant als die „Befugnis“ andere zur rechten Handlung zu „zwingen“ (RL VI, S. 232) hat das mit Willkürfreiheit begabte Wesen zum Adressat in Hinblick auf seine äußere Handlung. Aber es ist dem Recht gleichgültig, aus welcher „Triebfeder“ als dem Inneren des Handelnden eine rechtmäßige Handlung hervorgeht. Daher kann beim Recht davon gar nicht die Rede sein, aus welchem subjektiven Grund jemand sich zur rechten Handlung entschließe. Das Recht gebietet lediglich diejenigen Handlungen, die mit jedermanns äußerer Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen können. Dabei beruht die äußerliche Erzwingbarkeit solcher Handlungen auf ihrer Verallgemeinerbarkeit nach dem allgemeinen Gesetz.45 Dies besagt nun auch, dass man, wenn vom Recht die Rede ist, nicht nachzufragen braucht, wann man rechtlich zu handeln anfangen soll, weil das Recht allgemein und notwendig gilt; es ruft gleichsam aus dem ewigen Jetzt, wo es kein Vorher noch Nachher gibt, zur äußerlich rechten Handlung auf. Wie der Titel Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre zu besagen vermöchte, fordert die Rechtslehre dezidiert auf, dass der Anfang unbedingt gemacht werden soll, als ob das Recht selbst verlangte46, durch Wort und Tat eines freien Wesens in Kraft gesetzt zu werden. Man kann zwar mit Recht sagen: Das Gleiche gelte für Politik, weil sie die ausübende Rechtslehre ist; jene dürfe nichts abzwecken als das, was in dieser als Gebot schon enthalten ist. Gewiss, aber man muss beachten, dass es bei der „Praxis“ ein besonderes Problem gibt: „[Es] ist in der Ausführung jener Idee [des Rechts] (in der Praxis) keinen anderen Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird; welches dann freilich (da man ohne dem des Gesetzgebers moralische Gesinnung hierbei wenig in Anschlag bringen kann, er werde, nach geschehener Vereinigung der wüsten Menge in ein Volk, diesem es nun überlassen, eine rechtliche Verfassung durch ihren gemeinsa45 Zur Begründung der Identifikation des strikten Rechts mit der Befugnis zu zwingen s. Mosayebi, bsd. S. 88–108. 46 Auch wenn man eigentlich nicht sagen kann, das Recht selbst verlange nach der Ausübung des ius, so ist es, wie wir sehen werden, doch die moralische Persönlichkeit im Menschen, die es will.
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men Willen zustande zu bringen) große Abweichungen von jener Idee (der Theorie) in der wirklichen Erfahrung schon zum voraus erwarten lässt.“ (ZeF VIII, S. 371; Hv M. O.)
In Wirklichkeit muss man immer davon ausgehen, dass der „Anfang“ schon durch „Gewalt“ gemacht ist und man den bestehenden rechtlichen Zustand immer nur „nachher“ durch gemeinsamen Willen legitimieren, bzw. verbessern kann.47 Aber es ist kaum zu erwarten, dass der Machthaber dieses dem Volk überlässt. Daher ist die „Ausführung“ der Rechtslehre verurteilt, von der Theorie abzuweichen. Das ist eben die Anfangslage, oder das factum brutum der „Politik“. Für Kant kann diese Lage nur natürlich sein, weil ihm zufolge „glücklich zu sein“ „notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens“ ist (KpV V, S. 45), sodass ein jeder Mensch „tritt auch in den bürgerlichen Bund in der Absicht, seine Glückseeligkeit zu befördern.“ (Reflexionen XIX, S. 535) Daraus folgt aber, dass der mit Willkürfreiheit begabte Mensch nicht automatisch um des Guten noch des Rechts willen handelt.
VI. Grundthese Aus der bisherigen Betrachtung sind die entscheidenden, konstitutiven Momente des Übergangs von der Rechtslehre zur Politik abzuleiten: Er setzt erstens den immer schon angefangenen Rechtszustand in der Erscheinungswelt voraus; zweitens kommt dessen Gelingen auf die Regulierung der Elemente, die die Praxis von der Theorie abweichen lassen, und die Orientierung der Gesetzgebung in der Erfahrung nach derjenigen Richtung an, die die Rechtslehre bestimmt; nicht zuletzt muss er durch die gemeinsame Handlung der Menschen ausgeführt werden, die doch zunächst und zumeist auf eigene Glückseligkeit aus sind. Dementsprechend besteht das eigentliche Politische Problem in der Beantwortung der folgenden Frage sowie der Orientierung der gesetzgebenden Handlungen an der Antwort darauf: Wie es in der Tat möglich sei, die stets schon von der Theorie abweichende Praxis mit ihr übereinstimmen zu lassen und den Menschen daran zu interessieren, dessen Natur doch den Grund der Abweichung (Glücksstreben) enthält? Es liegt nahe, dass das Politische Handeln moralisch und zugleich strategisch sein muss, um den natürlicherweise davon abweichenden Menschen zu einem solchen Handeln aufzufordern, nicht aber zu zwingen. Denn das Recht mag zwar den Menschen zur rechtmäßigen Handlung zwingen, aber nur äußerlich: Es hat keine Verbindlichkeit 47 „[Der Wille des Souveräns] ist aber in Facto nicht der Vereinigte Volkswille sondern der soll allmälig herauskommen.“ (Va Gemeinspruch XXIII, S. 134).
VII. Die erste Erläuterung der These31
gegenüber dem Interesse des Menschen für eine solche Handlung. Dass man hingegen nur erwarten dürfte, dass der Mensch sich aus freiem Stück an der Politik interessiert, ist an der Praxis der Aufklärung von Kant selbst zu erkennen: Er fordert nämlich einen jeden Menschen aus der nächsten Nähe, d. i. in der zweiten Person Singular, auf: „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (WiA VIII, S. 35). Das moralische Verständnis des Politischen bringt somit das erwartende Warten mit sich.48 Während nun der Zweck der Politik „Frieden“ a priori durch den Begriff des Rechts bestimmt ist, so lässt doch Kants Rechtsmoral offen, wie der Handelnde die subjektive Bedeutung seiner danach gerichteten Handlung betrachtet, was er daraus will, und warum er es tut. Der „politisch“ Handelnde darf also diese drei Fragen beantworten, wie er will, denn das „Recht“ ist dem Inneren des Menschen gegenüber wesensgemäß indifferent. Es ist aber klar, dass die friedensstiftende Praxis sich immer wieder auf das Interesse der möglichen Handelnden berufen muss, um sich immer weiter fortzubewegen. Das „Politische“ Handeln transzendiert das „Rechtliche“ insofern, wie es als ein dem objektiven Zweck nach moralisch und doch zugleich strategisches Handeln sich ständig auf das Interesse des Handelnden an dem Zweck als die Dynamik dieses Handelns berufen muss. Hieraus folgt, und das ist entscheidend, es sei bei Kant berechtigt, dass der Handelnde subjektiv um seiner eigenen Glückseligkeit willen an der kooperativen Praxis für Frieden teilnimmt. An dieser rechtsmoralisch berechtigten, sogar für die allmähliche Realisierung des ius in dieser Welt unverzichtbaren, strategischen Zulassung des Privatinteresses der Individuen am Frieden, so die Grundannahme dieser Untersuchung, lässt sich die oben erwähnte Einsicht Kants in die existen tielle Bedeutung des Politischen erkennen. So viel gesagt sei hier die Grundthese dieser Untersuchung genannt: Das „Politische“ im eigentümlichen Sinne bei Kant ist das Attribut solcher friedensstiftenden Praxis, deren subjektive Bedeutung darin besteht, dass er durch sie sowie den je subjektiven Entschluss zu ihr seiner eigenen Existenz in der Welt einen positiven Sinn verschafft.
VII. Die erste Erläuterung der These Die Eigentümlichkeit des Politischen gegenüber dem Recht drückt sich aus in der „eigentlichen Aufgabe der Politik“, die Kant gegen Ende der Friedensschrift bestimmt und aus der Rechtslehre selbst nicht analytisch 48 Dergleichen
Warten ist Thema vom Kapitel E.
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ableitbar ist. Sie taucht in der Begründung eines der gewichtigsten Theoriestücke der Politischen Philosophie Kants49 auf, nämlich des „transzendentalen Prinzips des öffentlichen Rechts“: „Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.“ (ZeF VIII, S. 386; Hv M. O.)
Und die darauf folgende Begründung lautet: „Denn wenn sie nur durch die Publizität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustand zufrieden zu machen), die eigentliche Aufgabe der Politik ist.“ (ZeF VIII, S. 386; Hv M. O.)
Es ist hier zweierlei zu beachten: Zum einen besteht der Zweck des Prinzips in der „Vereinigung“ von Recht und Politik miteinander. Das besagt, dass Politik für sich alleine nicht mit Recht übereinstimme; zum zweiten behauptet Kant in der Begründung, dass die Maximen der politischen Funktionäre mit der „Glückseligkeit“ aller übereinstimmen müssen, damit die genannte Vereinigung möglich wird. Was das erstere betrifft, so muss es gar nicht überraschen, dass die wirklichen menschlichen Handlungen stets von den rechtmäßigen abweichen. Denn, wie bereits gesehen, hat das Recht das mit Willkürfreiheit begabte Wesen zum Adressat. Und es ist Kant zufolge eben die Natur des Menschen als eines solchen Wesens, dass er nach dem zu streben stets schon geneigt ist, was ihm die Zufriedenheit mit sich selbst zu versprechen scheint. Aus diesem Streben geht doch die rechte Handlung nicht automatisch hervor. Dieser Sachverhalt ist es, was den negativen Grund ausmacht, warum Kant das „Recht“ als die „Befugnis zu zwingen“ bestimmt. Was nun das Zweite betrifft, so scheint die begründende Behauptung, die laut gewordenen Maximen der politischen Funktionäre seien rechtsmäßig, wenn sie mit der Glückseligkeit als dem Zweck des Publikums zusammenstimmten, nicht unmittelbar aus der Rechtslehre selbst ableitbar zu sein. Um folgerichtig zu sein, muss dieser Behauptung ein synthetisches Urteil50 zugrunde liegen, dass die Glückseligkeit als der „allgemeine Zweck des Publikums“ in dem idealen Rechtszustand bestehe. Aber von solchem Urteil ist und kann nicht einmal die Rede sein in der Rechtslehre, weil sie vom Zweck sowie der Triebfeder der rechten Handlung gänzlich abstrahiert (RL VI, S. 230). 49 So beruht etwa Ellis’ systematische Rekonstruktion von Kants Politischer Philosophie auf eben diesem Prinzip. Vgl. Ellis. Zur Rolle der Öffentlichkeit in Kants Philosophie s. Keienburg. 50 Kant selbst verwendet diesen Ausdruck zwar nicht. Achtet man aber darauf, dass Kant wie oben gesehen den ewigen Frieden das „höchste politische Gut“ nennt, so liegt es nahe, dass Kant hier an das ethische höchste Gut, d. i. die Synthese des Guten mit der Glückseligkeit, erinnern möchte.
VII. Die erste Erläuterung der These33
Dies ist ohne Weiteres durch Kants Bemerkung an der dem Prinzip des öffentlichen Rechts vorangehenden Stelle bestätigt: „Um die praktische Philosophie mit sich selbst einig zu machen“ – gemeint ist hier die „Einhelligkeit der Politik mit der Moral“ als „Rechtslehre“ –, sei es nötig, „zuvörderst die Frage zu entscheiden: ob in Aufgaben der praktischen Vernunft vom materialen Prinzip derselben, dem Zweck (als Gegenstand der Willkür), der Anfang gemacht werden müsse, oder vom formalen, d. i. demjenigen (bloß auf Freiheit im äußern Verhältnis gestellten), darnach es heißt: Handle so, dass du wollen kannst, deine Maxime soll ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher es wolle)“. Auf diese Frage antwortet Kant gemäß seiner Einsicht, nur die Form und nicht die Materie des Wollens sei verallgemeinerbar und folglich jene allein könne ein praktisches Gesetz abgeben (vgl. KpV V, S. 48): „Ohne alle Zweifel muss das letztere Prinzip vorangehen; denn es hat als Rechtsprinzip unbedingte Notwendigkeit“ (ZeF VIII, S. 376 f.). Hier scheint ein Dilemma zwischen Form und Materie zu bestehen, angesichts dessen man der Fragestellung kaum entgehen kann: Wie ist es denn zu verstehen, dass das „materiale“ Prinzip „Glückseligkeit“ wider alle Erwartung51 in der Begründung des Politik und Moral vereinigenden Prinzips auftaucht? Die Antwort kann nur sein: Weil Kant will, dass die politischen Subjekte, die über die Maximen der Politiker zu urteilen aufgefordert sind, daran tatsächlich interessiert seien. Denn nur dadurch, dass die Bürger am Prozess der Manifestation sowie Identifikation des möglichen Gemeinwillens tatsächlich teilnehmen, wird Friedensstiftung nach dem allgemeinen Willen der Menschheit in der Erscheinungswelt möglich. Indem Kant hier öffentlich erklärt, die „eigentliche Aufgabe der Politik“ sei die Übereinstimmung der Maximen der Machthaber mit der „Glückseligkeit“ aller, räumt er explizit ein, dass ein jeder für die „Ausübung“ der Rechtslehre um seiner Glückseligkeit willen den Frieden wolle. Kant beruft sich so auf das Interesse aller für die Stiftung desjenigen rechtlichen Zustands, in dem die Rechte aller gegen alle willkürliche Gewalt in Übereinstimmung mit dem Gemeinwillen gesetzlich geschützt sind, nämlich; der res publica, also der Verkörperung des „Gemeininteresses“ aller. Das ist eben Kants politische Strategie. 51 Ich sage: „wider alle Erwartung“, weil die „fremde Glückseligkeit“ kein Objekt der Rechts-, sondern der Tugendpflicht ist, (TL VI, S. 385), die selbst als Triebfeder vom Menschen aufgenommen werden muss, um als erfüllt zu gelten. Sie findet als solche im Rahmen der Rechtslehre keinen Platz, damit diese nicht unrein wird – das „strikte Recht“ ist „nämlich das, dem nichts Ethisches beigemischt ist, dasjenige, welches keine anderen Bestimmungsgründe der Willkür als bloß die äußeren fordert; denn alsdann ist es rein und mit keinen Tugendvorschriften vermengt.“ (RL VI, S. 232).
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Hier stellt sich aber eine Reihe von Fragen auf. Warum könnte man sagen, das öffentliche, aber doch durch das Privatinteresse geleitete Denken über die Maximen der politischen Funktionäre bringe die Übereinstimmung der Politik mit der Moral hervor? Ist nicht das Denken für das Privatwohl doch letztendlich bloß parteilich? Was garantiert denn die Übereinstimmung des Friedens mit der Glückseligkeit des Publikums? Ist es nicht notwendig dafür, dass ein jeder so beurteilen kann, er werde im Friedenszustand glücklich, also nicht nur physisch und hinsichtlich seines äußeren Rechts vor Beeinträchtigung geschützt, sondern auch innerlich, d. i. mit seinem „ganzen Dasein“ zufrieden (KpV V, S. 45; Hv M. O.)? Mit anderen Worten muss nicht ein synthetisches Urteil im Menschen stattfinden, dass der Frieden auch für seine eigene Glückseligkeit wünschenswert sei? Wenn schon, was liegt im Frieden, das dem Menschen selbst ihn so glücklich zu machen scheint? Um diese Fragen zu klären, müssen wir den Menschen selbst befragen, was es für ihn bedeutet, im Frieden glücklich zu sein. Das besagt, dass das Wissen um das Politische als das Praktische die Erkenntnis dessen nicht ausweichen kann, was das politische Handeln für jeden möglichen Handelnden, d. i. den Menschen selbst bedeutet. Dies weist seinerseits daraufhin, dass das Politische bei Kant in dem Maße über das Recht hinausgeht, wie es sich auf das vermittelnde Dritte bezieht, konkreter; wie der „Übergang“ von der Theorie zur Praxis hinsichtlich der Friedensstiftung, um erfolgreich zu sein, sich benötigt zu finden scheint, sich auf den Anspruch des Menschen auf Glückseligkeit zu berufen.52 Nun der Bescheid des Menschen bezüglich der soeben gestellten Fragen kann nur darüber wahrgenommen werden, dass wir der inneren „Stimme“ des Menschen zuhören, die er mit allen anderen Mitmenschen teilt, d. h. die der „Menschheit“. Sie ist es, worum sich diese Untersuchung dreht. Und genau zur Wahrnehmung dieser Stimme orientiert uns die oben aufgestellte Grundthese der Untersuchung: Der Mensch verschafft seiner diesseitigen eigenen Existenz einen positiven Sinn sowohl durch die friedensstiftende Praxis als auch seinen Entschluss dazu. 52 Diese Annahme macht nun, wie ich glaube, den Schlüssel dazu aus, die Kantische Politik vor dem oben erwähnten Gerechtigkeitsrisiko-Vorwurf zu verteidigen. Denn, obwohl in der rechtssystematischen Hinsicht der Regent als der einzige Träger der Reformpflicht gilt, wenn dennoch das tiefste Interesse des Menschen, das im Grunde genommen dem apriorischen Rechtsgebot nicht widerspricht, sondern vielmehr mit diesem übereinstimmt, sich den Weg (nämlich die Praxis der Aufklärung) findet, Einfluss auf die Gesinnung des Regenten sowie, und noch wichtiger, die von allen seinen Mitbürgern zur rechtmäßigen Reform hin auszuüben, so wird das Risiko sich erheblich abmildern. Darüber hinaus, weil, wie wir (vor allem im Kapitel D.) sehen werden, das Bestehen eines solchen Wegs selbst den Menschen ständig zur Selbstaufklärung motiviert, so lässt es sich erwarten, dass der Fortschritt seiner inneren Dynamik nach kein Ende kennt.
VIII. Kant und die überlieferte Bedeutung des Politischen35
VIII. Kant und die überlieferte Bedeutung des Politischen Wo genau ist aber die Stimme der Menschheit zu finden? Der „Instinkt“ als die „Stimme Gottes“ (Anfang VIII, S. 111) schließt sich von selbst aus. Denn als eine solche ist der Instinkt die Stimme des Anderen im Menschen, als des Anderen der Menschheit. Die gesuchte Stimme der Menschheit lässt sich in Wahrheit fast überall vernehmen, wo Kant seine Einfühlung in die konative Gemütsbewegung des Menschen verrät. Ein ausschlaggebender Beispielssatz im politischen Zusammenhang lautet: Der Mensch müsse sich in einem Zustand, wo ihm die gesetzgebende Würde abgesprochen wird, als „das elendeste unter allen Weltwesen“53 beurteilen (ZeF VIII, S. 378). Dieses Urteil verrät ex negativo, dass der Mensch sich eigentlich anders existieren sehen möchte. Aber wie genau? Die Antwort liegt auf der Hand: Der Mensch möchte sich selbst seiner Würde des einzigen freien Vernunftwesens auf der Erde gemäß existieren sehen. Denn es ist diese Existenzweise allein, die von allen Menschen verlangt wird, welches Verlangen die „Stimme“ der Menschheit in ihm selbst genannt werden kann.54 Kant bietet zwar nirgends eine ausführliche Begriffsbestimmung von „Stimme“ an55. Aber ein Blick auf seine Verwendung des Worts legt nahe, der es als Wort zeigt für die Veranschaulichung der Grundstimmung des Menschen in der Gestalt der Stimme eines Anderen in ihm selbst56, der 53 Kants Verwendung des Worts „elend“ stimmt mit der von Rousseau („misérable“) überein, indem es ein Gefühl ausdrückt, das aus dem Wunsch nach einem anderen möglichen Zustand entsteht. Das ist insofern ein besonders menschliches Gefühl. Vgl. Rousseau (1995), S. 163 ff. Wir analysieren dieses Gefühl im Kapitel B. ausführlicher. 54 Das „Selbstverständnis“ des Menschen als ein vernünftiges Wesen, wie Gerhardt betont, „bedeutet, dass es mir – wie jedem anderen auch – nicht genügt, nur in meinem äußeren Dasein beachtet zu werden. Es verlangt vielmehr Respekt auch vor den mit seinen Einsichten und seiner Freiheit ernst genommen zu werden. Mit anderen Worten: Es genügt dem Menschen nicht, bloß in seiner physischen Wirksamkeit Beachtung zu finden, er dringt vielmehr darauf, auch als Person zur Kenntnis genommen zu werden. Dies ist eine Realität im gesellschaftlichen Leben – auch wenn sie nur auf eine Idee, die Idee der Person, gegründet ist. Ihr hat die Politik Rechnung zu tragen.“ (Gerhardt (1995), S. 163). 55 „Stimme“ ist sicherlich kein zentraler Begriff in Kants Gedanken. Dass sie kein großes Interesse selbst unter Kant-Freunden genießt, zeigt die Tatsache deutlich, dass sie sich weder in Eislers Kant-Lexikon (Eisler) noch im Sachregister der zahlreichen Ausgaben von Kants Werken findet. Wenn man aber ihre Rolle in der Geschichte der politischen Philosophie beachtet, so erweist sie sich, auch wenn nicht als ein zentraler, so doch als ein entscheidender Begriff. 56 „Jeder Mensch hat ein Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) ge-
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doch weder Gott noch Tier, sondern selber ein Mensch im Menschen ist. Sie ist die Stimme, die aller Mensch als Mensch mit sich zur Welt bringt.57 Das Wort „Stimme“ taucht bei Kant am häufigsten dort auf, wo er den Augenblick der Bewusstwerdung der Pflicht des Menschen darstellt. Die Stimme gilt als das Signal der Anwesenheit eines ganz Anderen im Menschen. Der letztere als ein normaler Mensch, der zunächst und zumeist seine Selbstliebe verfolgt, „vernimmt“ im moralischen Zweifelsfall nicht etwa ein Wort, sondern die „Stimme“ eines Anderen in ihm. Das besagt: Der Mensch erlebt seine moralische Orientiertheit zunächst nur als eine gewisse Stimmung, die erst durch Reflexion zur Sprache gebracht, d. i. in Form eines Imperativs ausgedrückt werden kann. Anders gesagt muss die Stimme einmal im Bewusstsein des Menschen erlebt werden, um erst danach von ihm artikuliert zu werden. Wenn nun unsere Annahme zutrifft, dass Kant für das Gelingen des Poli tischen, also die Ausführung der Rechtslehre, sich auf diese Stimme beruft, so erweist er sich in der großen Tradition der abendländischen politischen Philosophie stehend. Am Anfang dieser Tradition steht Aristoteles, der mit der folgenden Einsicht noch heute einen unvergleichlich großen Einfluss auf unser Denken über das Politische fortdauernd ausübt: Der Mensch sei das einzige unter allen anderen Lebewesen, das zur „Sprache“ befähigt ist und sich dadurch halten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es, in seiner äußersten Verworfenheit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden.“ (TL VI, S. 438; Hv M. O.) Diese Stimme macht „auch den kühnsten Frevler zittern“ und „ihn nötigt, sich vor seinem Anblick zu verbergen“ (KpV V, S. 80). Wir werden dieser Stimme erst im Kapitel C. näher zuhören. Wir werden da auch sehen, was es denn eigentlich bedeutet, dass die Vernunft überhaupt eine Stimme hat. 57 Ich versuche die Richtigkeit dieser Denkrichtung im Verlauf der Untersuchung wiederholt möglichst zu erweisen. Dies tun gleicht der Fortentwicklung einer Lesart, die bereits durch einige Exegeten vertreten wird. Horn behauptet, es sei bei Kants Geschichtsphilosophie ein „stoischer Gedanke“ am Werk, „wonach wir unserer Natur oder Vernunft nach dazu bestimmt sind, zu einer „allgemein fortschreitenden Koalition in eine weltbürgerliche Gesellschaft (cosmopolitismus)“ voranzuschreiten.“ Und für unsere Lektüre ist die anschließende Bemerkung Horns von folgenschwerer Bedeutung, dass es „die Vernunft selbst“ ist, „die uns diesen Gedanken aufdrängt.“ Denn in der Passage aus der Anthropologie, aufgrund welcher Horn so argumentiert, heißt, dass die Menschen sich von der Natur zu dergleichen Fortschritt bestimmt „fühlen“ (Horn, S. 118; Anthr. VII, S. 33; Hv M. O.). Dieses „Gefühl“ wird im Kapitel C. dieser Untersuchung ausführlich analysiert.
VIII. Kant und die überlieferte Bedeutung des Politischen37
als „mehr […] politisch“ als andere politische Lebewesen wie Biene und Ameise auszeichnet. Denn nur durch „Sprache“, eine gewisse Art von Verlautbarung, können das „Nützliche und Schädliche, und daher auch das Gerechte und Ungerechte“ dargelegt werden, während „Schmerz“ und „Freude“ wohl durch bloße „Stimme“ ausgedrückt werden können. Die „Gemeinschaft“ in den ersteren gleichsam höheren Empfindungen gegenüber den unmittelbaren „begründet“ den Haushalt und „Staatsverband“.58 Dieser ist eine Gemeinschaft, „die die oberste Herrschaft über alle (Gemeinschaft) ausübt, und alle übrigen in sich einschließt“59 und ferner die „aus mehreren Dörfern gebildete vollendete Gemeinschaft, die die Grenze erreicht hat, bei der […] vollständige Autarkie besteht.“60 Nur im Staat kann der Mensch über die Befriedigung seiner unmittelbaren Triebe hinaus, die er mit anderen Tieren teilt, den in seiner Natur einbeschriebenen Zweck, die Lebensführung nach „Gerechtigkeit“, verfolgen. Kurz: Das „Politische“ bezeichnet diejenige Eigenschaft des Menschen, dass er seine Handlung an der ihm eigentümlichen Empfindung der Gerechtigkeit im Staat mit seinen Mitmenschen gemeinsam orientieren kann, indem er eine solche Empfindung durch „Sprache (logos)“ artikuliert und seinesgleichen mitteilt. Später in der frühen Neuzeit hat Thomas Hobbes, der Begründer der modernen Politischen Philosophie gesagt, dass die „Sprache“ es ist, was den Menschen zum Krieg treibt – „homines autem lingua Tuba quaedam belli est & seditionis“61 –, was prima facie der Ansicht von Aristoteles geradezu zu widersprechen scheint. Man darf hier aber nicht von der Oberfläche verführt werden. Denn Hobbes’ Betonung liegt eigentlich darauf, dass die Sprache solange als Ursache des Kriegs fungiert, als die Verbindung von Worten und Gegenständen noch unbestimmt bleibt, so dass ein jeder mit ein und demselben Wort jeweils etwas anderes ausdrückt.62 Dagegen, würde jene eindeutig 58 Aristoteles
Politik, I-2 1253a. Politik, I-2 1252a. 60 Aristoteles Politik, I-2 1252b. 61 Hobbes (1646), S. 85. 62 Hobbes sagt: „It is true, that certain living creatures, as Bees, and Ants, live sociably one with another, (which are therefore by Aristotle numbred amongst Politicall creatures;) and yet have no other direction, than their particular judgments and appetites; nor speech, whereby one of them can signifie to another, what he thinks expedient for the common benefit“ (Hobbes (1996), S. 119). Hobbes sagt im Anschluss an Aristoteles, der Mensch habe im Gegensatz zu den genannten Tieren die Sprache, wodurch er sich von ihnen qualitativ differenzieren lässt. Bei dieser Behauptung hebt Hobbes hervor, dass der Mensch als das ehrsüchtige Tier kraft der Sprache seine Mitmenschen folgendermaßen zu betrügen tendiert: Durch Sprache, „some men can represent to others, that which is Good, in the likeness of Evill; and Evill, in the likeness of Good; and augment, or diminish the apparent greatnesse of Good and Evill; discontenting men, and troubling their Peace at their pleasure.“ (ebd.) 59 Aristoteles
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bestimmt, so würde die Sprache zum Vertrag für die Errichtung des Staats dienen, der die Individuen vor dem gewaltsamen Tod schützt. Hobbes ist der Meinung, dass der Mensch nur in einem solchen Staat, der durch den vermittelst des Wortes artikulierten allgemeinen Willen gestiftet ist, der gegen beständigen Krieg und für dauerhafte Sicherheit stimmt, seinen Naturzweck verfolgen kann, nämlich; die freie Selbsterhaltung. Obwohl Hobbes den Naturzweck des Menschen auf bloße Selbsterhaltung zurückführt, so bleibt doch das „Politische“ bei ihm der Form nach das Gleiche wie bei Aristoteles: Auch bei Hobbes besteht dessen Wesen darin, einen Staat mithilfe der Sprache aufzubauen, in dem der Mensch seinem eigentümlichen Zweck am besten nachstreben kann.63 So schildern Aristoteles und Hobbes jeweils die eine Seite ein und derselben Medaille, nämlich des wesentlichen Zusammenhangs von Logos- und Polisnatur des Menschen.64
IX. Aufruf zur Aufklärung als die Stimme der Menschheit Wenn man nun das Wort „Stimme“ bei Kant als den Platzhalter der den Menschen vom Innigsten aus bestimmenden, doch noch nicht zur „Sprache“ gebrachten Empfindung verstehen – was wir in dieser Untersuchung wiederholt feststellen werden – und die Politik bei Kant als Praxis nach dieser Empfindung begreifen kann, so wird ein Gesichtspunkt gewonnen, woraus her man erst recht den Wert seiner politischen Philosophie in der Tradition des abendländischen politischen Denkens beurteilen kann. Das Kriterium, woran der Wert einer Theorie eingeschätzt werden kann, besteht formaliter in der Allgemeingültigkeit ihrer Geltungsgründe. Auf den Gegenstand dieser Untersuchung angewandt, heißt dies: Der Wert von Kants Politischer Philosophie ist daran zu beurteilen, ob die Stimme der Menschheit in der Tat uns alle als Menschen unausbleiblich zur Handlung nach dem Endzweck der Rechtslehre bewegt, d. i. aufruft. Wir haben nun oben postuliert, dass Kants Berufung auf das Urteil des Publikums um der „Ausführung“ der Rechtslehre willen darauf basiert, dass der ideale Rechtszustand als objektiver Endzweck zugleich dem Menschen auch subjektiv als für das eigene Glücksstreben wünschenswert erscheinen 63 Diese Behauptung lässt sich der Zusammenfassung von Höffe bezüglich der Gemeinsamkeit zwischen Aristoteles und Hobbes hinzufügen: „Aristoteles wie Hobbes richten sich gegen die Ansicht, der Staat sei ein Ort, der den Menschen seinem Wesen entfremdet, sei es durch Luxus und Verfall (so Platon in der zweiten Polisstufe), sei es durch ungebührliche Freiheitseinschränkung (so die anarchistische Staatskritik). Für beide ist der Staat vielmehr eine Gesellschaftsform, die dem Menschen zugutekommt.“ (Höffe (2006), S. 243). 64 Aristoteles sagt allerdings auch, der Mensch „ohne Gesetz und Recht“ sei das schlimmste Lebewesen (Aristoteles Politik, I-2 1253a).
IX. Aufruf zur Aufklärung als die Stimme der Menschheit39
muss. Aber ist diese Übereinstimmung des objektiven mit dem subjektiven Zweck für den Menschen selbst so offensichtlich? Wenn nicht, so wird die Erfolgsaussicht für die Ausführung der Rechtslehre dadurch getrübt, dass die politischen Funktionäre nach dem „Prinzip des öffentlichen Rechts“ das Publikum über ihre Maximen urteilen lassen. Jean-Jacques Rousseaus skeptische Bemerkung macht die Schwierigkeit dieser Aufgabe deutlich: „Der Gemeinwille ist immer richtig, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt. Man muss ihm die Gegenstände zeigen, wie sie sind, manchmal so, wie sie ihm erscheinen müssen, ihm den richtigen Weg zeigen, den er sucht, ihn schützen vor der Verführung durch die Sonderwillen, seinen Augen die Orte näher bringen und die Zeiten verkürzen, die Anziehungskraft augenblicklicher und spürbarer Vorteile ausgleichen mit der Gefahr entfernter und verborgener Übel. Die Einzelnen sehen das Gute und weisen es zurück: Die Öffentlichkeit will das Gute und sieht es nicht. Beide bedürfen gleicherweise der Führung. Die einen müssen gezwungen werden, ihren Willen der Vernunft anzupassen, die andere muss erkennen lernen, was sie will. Dann führt die öffentliche Aufklärung [lumieres publiques] die Einheit von Urteilskraft und Wille im Gemeinschaftskörper herbei, was das reibungslose Zusammenspiel der Teile und schließlich die höchste Kraft des Ganzen ergibt. Daraus entsteht die Notwendigkeit eines Gesetzgebers.“65
Rousseau erkennt ganz richtig, dass die Übereinstimmung des objektiven Zwecks der Staatserrichtung mit dem subjektiven des Publikums selbst nicht ohne Weiteres durchschaubar ist. Aber diese Erkenntnis allein begründet nicht zwangsläufig die „Notwendigkeit eines Gesetzgebers“, der nach Rousseaus Auffassung ein gottähnliches Wesen ist, das durch seine der menschlichen unendlich überlegene Vernunft66 dem Menschen Gesetze nach dem Gemeinwillen gibt67, der dem Menschen wegen seiner Kurzsichtigkeit kaum erkennbar ist. Kant stimmt Rousseau teilweise zu, wenn er sagt, „keiner von allen“ vermöge über die „Verschiedenheit des partikularen Wollens aller noch eine vereinigende Ursache desselben“ d. i. „einen gemeinschaftlichen Willen“ herauszubringen (ZeF VIII, S. 371). Das schließt aber für Kant nicht aus, dass der Mensch doch imstande ist, sich allmählich der Idee des letzteren 65 Rousseau
(2010), S. 85 f.; Hv M. O. die Nationen besten Gesellschaftsregeln ausfindig zu machen, bedürfte es einer höheren Vernunft, die alle Leidenschaften der Menschen sieht und selbst keine hat, die keinerlei Ähnlichkeit mit unserer Natur hat und sie dabei von Grund auf kennt, deren Glück von uns unabhängig ist und die gleichwohl bereit ist, sich um unseres zu kümmern; schließlich einer Vernunft, die sich erst im Lauf der Zeit Raum erwirbt, in einem Jahrhundert arbeitet und in einem anderen genießen kann. Es bedürfe der Götter, um den Menschen Gesetze zu geben.“ (Rousseau (2010), S. 85; Hv M. O.). 67 Rousseau (2010), S. 87. 66 „Um
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anzunähern. Und genau hierin besteht die große Innovation von Kants Politischer Philosophie, nämlich in seiner Idee der Aufklärung bzw. Selbstaufklärung des Menschen. Beachtet man die Implikation des Begriffs „Aufklärung“, die Kant durch das Bild eines kraft des Muts zum Selbstdenken aus dem „Gängelwagen“ kaum aufstehenden Kindes – Selbstorientierung am inneren Licht – illus triert, so erhellt sich, dass die Aufklärung bei Kant solche Eigentümlichkeit hat; dass das Lichtende und das Gelichtete in ein und demselben Menschen so vereinigt sind, dass er zur Aufklärung über sein eigenes wahres Interesse keinen Fremden mehr benötigt. Anders formuliert ist hier dasjenige Selbst, das aufruft: „Sapere aude!“, kein anderer als „Ich“ selbst. Das Selbst, an dem als dem je seinigen ein jeder Teil hat, beruft jedes „Mich“ direkt vom Innen aus dazu, ein Mitglied der Menschheit zu sein. Dieser Aufruf ist, der keinen Grund für Selbstdenken bzw. -orientierung abgibt als die bloße Existenz des Ich als Mensch, eher eine Stimme als eine artikulierte Sprache. Diese Stimme gilt als der Ausdruck der existentiellen Befindlichkeit, ja der Grundstimmung des Menschen als eines endlichen Wesens68, die ihn vom Innersten aus zur Menschwerdung bestimmt. Sie lässt von meiner je meinigen Existenz heraus, jedoch in mir, widerhallen; „ich soll über meine bloß durch Geburt gegebene Existenz hinaus in eine andere durch mich erwählte und meiner Bestimmung angemessene hineingehen.“ Kants Politische Philosophie hebt Rousseaus Aporie auf, dass die Aufklärung eines göttlichen Dritten bedürfe, indem er die Möglichkeit der Synthese des Rechts mit der individuellen Glückseligkeit, wovon die „Ausführung“ der Rechtslehre abhängig ist, durch die Fähigkeit des Menschen zur Selbstaufklärung zeigt. Genau hierdurch erweist Kant der Menschheit größere Achtung als Rousseau, der bekanntlich nach Kants Selbstdarstellung ihn „zurecht gebracht“ hat (Bemerkungen XX, S. 44).69 Denn Kants Idee der Aufklärung stützt sich auf das Vertrauen in die menschliche Freiheit, die eine die Koexistenz des Plurals der Freiheit ermöglichende Welt ohne fremde Leitung hervorbringen kann und soll. An dieser Stelle muss ich es eigens betonen, was der oben genannten Grundthese dieser Untersuchung zugrunde liegt: „Politisch“ heißt bei Kant solches Handeln, das der Bedeutung der danach ausgerichteten Handlung für jeden aktuellen sowie potenziellen Handelnden selbst Rechnung trägt. Es ist die Praxis der Aufklärung, deren Wesen im öffentlichen Gebrauch der Vernunft besteht, welche diese Aufgabe erfüllt. Indem der Mensch seine „Meinung (doxa)“ über die soziale Welt öffentlich ausspricht, macht er seine An68 Hierzu 69 Zur
ausführlicher im Kapitel B. Bedeutung dieser Selbstdarstellung s. C. III. dieser Untersuchung.
IX. Aufruf zur Aufklärung als die Stimme der Menschheit41
sicht: „Es scheint mir (dokei moi), dass die gemeinsame Welt so und so sein soll“, nicht nur seinen Mitmenschen, sondern auch sich selbst, obzwar immer nur teilweise, durchschaubar. So gesehen ist der öffentliche Gebrauch der Vernunft nicht nur eine Darlegung des Grundes (ratio) durch Sprache (logos), sondern zugleich das Vernehmen (nous) der eigenen Stimme mittels der Sprache. Die Praxis der Aufklärung als Selbstaufklärung ist das Sich-Sprechen-Hören des Vernunftwesens. Sie ist das Medium, wodurch der Mensch zu jenem synthetischen Urteil gelangt: Dass die sich durch die öffentliche Debatte allmählich im Bewusstsein entwickelnde Idee des idealen Rechtszustands, die das Subjekt des Aufrufs zur Aufklärung im Menschen eigentlich verwirklicht sehen will, eben dem entspreche, was jeder als die Bedingung des freien und gerechten Glücksstrebens eines jeden anerkennen soll. Dieser Prozess kann darüber hinaus als eine graduelle Versöhnung des Menschen mit sich selbst verstanden werden. Es bestehen zwei Selbstheiten in ein und demselben menschlichen Ich; die eine will die eigene Moralität durch Selbstaufklärung und die andere die eigene Glückseligkeit. Dieser scheint die Aufforderung jener zu anspruchsvoll und mühsam, weswegen der Mensch unmutig zu bleiben geneigt ist.70 Aber wenn diese langsam dessen inne wird, dass die Botschaft von jener doch eigentlich die Aufklärung über den Weg zur mit der Moral übereinstimmenden Glückseligkeit enthält, so gelingt es der letzteren Selbstheit, an der ersteren eine moralische Widerspiegelung von sich zu erkennen. Dieser Lernprozess, „Aufklärung“ genannt, ist ein Wieder-Neu-Kennenlernen des Selbst, welches durch die Darlegung von der Bedeutung der den idealen Rechtszustand abzielenden Handlungen für jedes Selbst geschieht. Es ist nur durch diesen Prozess möglich, dass sich das Glücksstreben eines jeden in seinem Urteil mit dem Zweck der Rechtslehre vereinigen lässt, wovon das Gelingen der Kantischen Politik abhängig ist.71 Auf diese Weise, wie die gesamte Untersuchung beweisen soll, gehen Politik und Aufklärung bei Kant Hand in Hand. Ihr interner Zusammenhang darf nicht übersehen noch zerstört werden, indem man etwa die Aufklärung als einen der bloßen Beschleunigungsfaktoren des Rechtsfortschritts vernachlässigt. Eben dies zu zeigen ist Hauptabsicht des Verfassers, um schlussendlich behaupten zu können, dass das „Politische“ bei Kant besteht 70 Kant sagt: „Wir nennen jemanden einen Phantast bey dem der Verstand dem Gange der Phantasie unterworfen ist.“ (Anthr. Pillau XXV, S. 763) Ein Mensch, der sich nicht entschließen kann, sich seines eigen Verstands zu bedienen, kann insofern als ein „Phantast“ betrachtet werden, als er sich noch vor dem eingebildeten Hinfallen befürchtet und sich keine andere Welt durch Vernunft vorstellen kann. 71 In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung überzeugend und sehr wichtig: „Politik aus dem Geiste der Reform ist ohne ein moralisches Selbstverständnis der handelnden Personen gar nicht möglich.“ (Gerhardt (1995), S. 174).
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A. Einführung
im Werden eines jeden Menschen durch seine eigene freie Handlung zu dem, als was er wesensgemäß immer schon existieren will und das zu werden er sich bestimmt fühlt.72 Dies tue ich aufgrund der Überzeugung, dass dieser sozusagen existentielle Aspekt der Politik etwas ist, das selbst die angeblich nachmetaphysische Konzeption der Politik nicht endgültig wegtreiben kann noch darf, sondern ständig wiederkehrt und nach unserer Aufmerksamkeit immer wieder verlangt sowie diese verdient, solange Politik eine menschliche Praxis ist und es bleiben soll.73 Diese meine Überzeugung rührt einfach daher, weil der Mensch seine Freiheit qua metaphysische ratio essendi als ein „animal rationabile“ (Anthr. VII, S. 321) in seinem Leben im Diesseits, d. i. existierend auszuüben hat. So hoffe ich, dass es dieser Untersuchung gelingt zu zeigen, dass „Kants Stimme“ – als der Aufruf zur Aufklärung geäußert –, die mit der der Menschheit in uns übereinstimmt, eine Konzeption der Politik als die Sorge für die eigentümliche Existenzweise des Menschen, d. i. für seine „bürgerliche“ oder „zu öffent lichen Geschäften verpflichtet[e] Existenz“ – im Gegensatz zur bloß „animalischen“ – (Streit VII, S. 114) ausdrückt. 72 Dabei ist mit angesprochen, dass auch bei Kant, wie bei Aristoteles und Hobbes (s. oben), der „Staat“ kein Ort der Entfremdung, sondern vielmehr der für die Entwicklung seiner Natur ist. 73 Diese Ansicht entspricht, wenn ich recht sehe, in Grundzügen dem, was Höffe mit dem Ausdruck „persönliche Humanität als indirektes Ziel der Politik“ anspricht (Höffe (1981)). Nach ihm heißt „Humanität“ das Ideal eines „geglückten, vielleicht sogar eines besondern geglückten menschlichen Lebens.“ (S. 98 f.) Die Erläuterung zu seiner Behauptung, dass die Humanität indirektes Ziel der Politik sein soll, verdient hier angeführt zu werden: „Eine Rechts- und Staatsordnung findet erst dann unsere innere Zustimmung, wenn sie zunächst einmal unser Überleben sichert, darüber hinaus aber die humane Entfaltung und das Glück der einzelnen und der Gruppen zwar nicht selbst realisiert, wohl aber prinzipiell ermöglicht. So machen wir unsere Anerkennung des Politischen von seiner Humanität abhängig, also davon, dass wir durch die Rechts- und Staatsstrukturen nicht erniedrigt werden, vielmehr mit aufrechtem Gang, frei von elementarer Not und frei von Furcht vor unseren Mitmenschen und besonders den Staatsgewalten leben. Für die Forderung, die politischen Verhältnisse nach Humanitätsgesichtspunkten zu gestalten, spricht auch die Einsicht, dass das persönliche Leben sich nicht in einem politikfreien Raum abspielt, die Politik daher mitentscheidet, inwieweit uns persönlich eine humane Existenz gelingt. Wir alle leben in politischen Verhältnissen, und dies nicht bloß zufällig und vorübergehend, sondern mit einer gewissen Notwendigkeit […]. Deshalb kann es nicht darauf ankommen, die politischen Verhältnisse insgesamt abzuschaffen, wohl aber: Sie so einzurichten, dass wir eine humane Existenz führen können.“ (100 f.; Hv M. O.). Obwohl Höffe selbst hier keinen Bezug auf Kant macht, sondern der Sache nach eher an Aristoteles erinnert, so wird in der vorliegenden Untersuchung gezeigt, dass dieses Bild der politischen Humanität durchaus in Einklang mit Kants Politischer Philosophie steht.
B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst I. Die Frage nach dem Interesse der rechtlichen Vernunft Als erster Schritt in die Untersuchung des Politischen bei Kant wollen wir in diesem Kapitel dessen apriorische Prinzipien darlegen. Es wird dadurch das zum Vorschein kommen, wodurch das menschliche Handeln sich zum politischen im apriorischen Sinne qualifiziert, das sich gegen das sog. Machiavellianisch machtpolitische durch seinen moralischen Charakter abhebt.1 Es geht nämlich um die Prinzipien dessen, was Kant unter der „a priori erkennbare[n]“ und daher „moralischen“ sowie „wahre[n] Politik“ (ZeF VII, 378; 380) versteht. Da Kant aber, wie gesagt, das Konzept einer solchen Politik nie so systematisch und umfangreich wie das der Ethik oder aber Rechtsphilosophie konstruiert hat, so besteht unsere Aufgabe hier da rin, sie zu rekonstruieren. Wie kann man denn eigentlich etwas konsequent rekonstruieren, was doch in Wahrheit noch nie in einer durchschaubaren Gestalt konstruiert worden ist? Der einzig mögliche Weg kann nur darin bestehen, dass man sich in den Standpunkt eines Kants versetzt, der in der Tat eine konkrete, systematische Vorstellung des Politischen hat. Das bedeutet: Man muss die Prinzipien des zu Rekonstruierenden aus der Sicht der Vernunft in Kant vorweg anvisieren, die den ganzen Bau des Konstrukts bestimmen. Die Rekonstruktion kann nämlich, wie schon in der Einführung dieser Untersuchung behauptet, nur dadurch erfolgen, dass man einerseits die Teile des möglichen Konstrukts ständig auf das jeweils vorläufig vorweggenommene Ganze hin prüft und andererseits den Gehalt von diesem durch Einsichten in die Teile bereichert sowie konkretisiert, aber so, dass das Ganze und die Teile sich wechselseitig miteinander eng zusammenhängen lassen. Wie übermütig es auch klingen und fast an Naivität grenzen mag, so muss man sich durch das Motto „Kant besser verstehen als er selbst verstand“ ständig motivieren lassen, um Kants Stimme zu hören, d. i. seine Stimmung gegenüber dem Politischen vernehmen zu können. Diese interpretatorische Schwierigkeit hat nun zur Folge, dass sich die Bedeutung der politischen Handlung den Handelnden selbst nicht unmittel1 Dazu
s. Kater, S. 37–45.
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
bar zeigt, sodass zu beurteilen, welches seiner mehreren Interessen sich für die Dynamik der wahren Politik kandidieren dürfte, dem Menschen selbst eine schwierige Aufgabe wird.2 Ein Blick auf Kants Rechtslehre und seine teleologische Idee der Geschichte scheint uns dieses Problem umgehen zu lassen. Denn nach jener ist das „Recht“ dem Inneren überhaupt des Menschen gegenüber indifferent und nach dieser die Vernunft letztendlich das weltbürgerliche Ganze als ihr Ziel trotz, oder genauer, gerade wegen dem Antagonismus der Menschen gegeneinander erreicht sehen wird. Auf den zweiten Blick wird man aber inne, dass das genannte Problem dadurch sich nicht auflöst, sondern vielmehr über einen Umweg in der Gestalt des oben in der Einführung erwähnten „Gerechtigkeitsrisikos“ doch wiederkehrt. Wenn nun die Kantische Republik und der aus mehreren republikanischen Staaten bestehende Völkerbund für den dauerhaften, sogar ewigen Frieden verantwortlich sein sollen, so lässt sich natürlicherweise erwarten, dass Kant noch irgendein Mittel, das Risiko abzumildern, im Sinne habe. Das kann nichts anderes als die Aufklärung sein, die ihren politischen Ausdruck primär in der Praxis der Redefreiheit findet, die dann noch den Bürger für die tätige Mitgesestzgebung vorbereitet3, und mehr noch, wie wir sehen werden, selbst diesen dazu ständig motiviert. Die skizzierte Denkrichtung weist nun darauf hin, dass die erfolgreiche Politik, obzwar minimal, so doch in einer entscheidenden Hinsicht, sich auf das Innere des Menschen berufen muss, weil die Aufklärung bei Kant als Selbstaufklärung sich durch nichts als den „Mut“ des Handelnden selbst in Gang setzen lässt. Dieser Sachverhalt führt uns geradewegs zu dem Ab2 Sassenbach sagt zu Recht: „Erst als „wahre Politik“ wird [Politik] philosophisch: durch ihre Vereinigung mit der Moral, durch die stets notwendige Reflexion auf die moralischen und rechtlichen Pflichten eines zu freier Entscheidung fähigen Vernunftwesens.“ (Sassenbach: S. 17; Hv M. O.) Ich bin hierüber mit Sassenbach vollkommen einig. Aber wir müssen hier nicht nur von der „stets notwendigen Reflexion“ auf die Pflichten eines Vernunftwesens, sondern auch von der durch den Menschen selbst sprechen, damit die moralische Politik sich eine größere Erfolgsaussicht gewinnt. 3 Dass die Praxis der Redefreiheit diesen Effekt hat, behauptet Kant ausdrücklich: „Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszuarbeiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zu freien Denken, ausgewickelt hat: So wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.“ (WiA VIII, S. 41 f.).
I. Die Frage nach dem Interesse der rechtlichen Vernunft45
grund im Menschen, dessen Wesen durch Beantwortung der Frage ans Licht kommt: Woher rührt denn der Mut selbst? In diese Frage schließen sich die Frage nach dem Politischen mitsamt den Prinzipien dessen und die nach dem Interesse des Menschen dafür zusammen. Das will sagen: Indem man die Frage nach dem Mut zur Selbstaufklärung klärt, zeigt es sich zugleich, wie die zwei Prinzipien der Politik, „Gerechtigkeit“ und „Glückseligkeit“, miteinander auf solche Weise übereinstimmen, dass daraus die moralische Politik erfolgt. Denn gesetzt, es gebe etwas an der Idee des Rechts, das den Menschen Mut zu fassen bewegt, sich aus freiem Stück auf ein immerhin mühsames moralisches Unternehmen einzulassen, so muss das als das Vereinigungsprinzip beider Prinzipien fungieren. Ich führe an dieser Stelle eine besonders anschlaggebende Passage aus Gemeinspruch an, die auf die erstere Möglichkeit hinweist: „[W]enn neben dem Wohlwollen das Recht laut spricht, dann zeigt sich die menschliche Natur nicht so verunartet, dass seine Stimme von derselben nicht mit Ehrerbietung angehört werde“ (Gemeinspruch VIII, S. 306; Hv M. O.).
Man unterschätze diese Metapher des Hörens der „Stimme“ des Rechts nicht4, indem man etwa sie als eine bloße Metapher auffasst, durch deren Verwendung sich nichts an der Bedeutung der Sache vermehrt. Es gilt hier vielmehr, die Kantische Metapher zwar eben nicht als eine theoretische Erläuterung, so doch als eine „symbolische Darstellung“ zu deuten, die Kleingeld zu Recht als die „einzige Art und Weise“ betrachtet, „in der sich die Vernunft darstellen“ lässt, „durch eine Analogie zwischen der Struktur der Reflexion auf die Vernunft und der auf Menschen, die, in ihrer inneren Erfahrung, Bedürfnisse und Strebungen fühlen.“5 Was genau ist denn am „Recht“, vor dem sich die menschliche „Natur“ so unausbleiblich Achtung zu erweisen genötigt fühlt? Um diese Frage zu 4 Sie wird durch das anschließend im Klammer gesetzte Vergilzitat noch verstärkt: „Tum pietate gravem meritisque si forte virum quem Conspexere, silent arrectisque auribus adstant.“ (Gemenspruch VIII, 306). 5 Kleingeld (1995, S. 108). Die folgende Behauptung, die Kleingeld Kants symbolischer Darstellung unterstellt, halte ich für überzeugend und auch als für die Interpretationen in dieser Untersuchung besonders hilfreich: „Es lässt sich verteidigen, dass die Vernunft als Vermögen und Kraft selbst ein rationaler Begriff ist, der nicht durch ein Beispiel oder ein Schema sich darstellen lässt. Die Vernunft erscheint nicht für sich selbst; keine sinnliche Anschauung könnte je völlig mit ihrem Begriff übereinstimmen. Das würde aber heißen, dass auch sie, in ihrem reflexiven kritischen Unternehmen, auf symbolische Darstellung Rekurs nehmen müsse. Die Vernunft, die sich der Kritik unterzieht, kann sich selbst nicht in der Erfahrung darstellen und muss in ihrer Selbstthematisierung auf symbolische Sprache rekurrieren. Kants Vernunftbeschreibung könnte demnach tatsächlich als symbolische interpretiert werden.“ (Kleingeld (1995), S. 107).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
beantworten, muss man präzise verstehen, wie und aus welchem subjektiven Grund Kant zufolge sich der politisch Handelnde anhand der Interpretation der existentiellen Bedeutung seiner politischen Handlung für diese interessieren kann, welches Interesse dann als die Dynamik der wahren Politik fungiert. Es wird sich durch die Analyse nämlich zeigen, dass sich das jedem Menschen qua endlichem Vernunftwesen zugrundeliegende Glücksverlangen im Grunde genommen als ein solches allgemein dynamisches Inte resse begreifen lässt. Dies besagt, dass dieses Interesse eben dem entspricht, was sich als die erotische Stimme6 des endlichen und doch zugleich vernünftigen Wesens bezeichnen lässt. Wenn das Glücksverlangen nun, wie wir sehen werden, genau besehen nicht dem Rechtsgebot widerspricht, sondern vielmehr eigentlich auf dessen Befolgung hinweist, so erhellt sich, dass die „Übereinstimmung“ der politischen Maxime mit der Glückseligkeit als die „eigentliche Aufgabe der Politik“ nichts ist als die Übereinstimmung der Stimme des das Recht gebietenden Selbst mit der des Glück verlangenden in ein und derselben vernünftigen „Person.“ So verstanden, erweist sich das „Politische“ bei Kant als das Attribut derjenigen Handlung, wodurch der Mensch im Staat mit sich selbst in Übereinstimmung, zum eigentlichen Selbst kommen kann, als was er immer schon existieren wollte, will und wollen wird.7 Dies zu zeigen ist Aufgabe des vorliegenden Kapitels. 6 Yovel hebt hervor, dass „Kantian reason is not mere logos but a fusion of Platon’s logos and eros.“ (Yovel, S. 15) Aber eine ausführliche Analyse, warum die Kantische Vernunft so beschaffen sein muss, findet man in seiner Studie leider nicht. 7 Obwohl dieser Ausdruck, dessen ich mich in dieser Untersuchung wiederholt bediene, von Kant selbst nur sehr wenig verwendet ist (vgl. z. B. GMS IV, S. 457, hier im Sinne der „Intelligenz“), so halte ich ihn als den ultimativen Fokus des Politischen bei Kant und so als einen hermeneutischen Leitfaden für besonders brauchbar. Der Grund ist wie folgt. Kant spricht dem Menschen bekanntlich sowohl eine sinnliche als auch eine vernünftige Natur zu, nach der ersteren jener als eine „von physischen Bestimmungen unabhängig[e] Persönlichkeit (homo noumenon), nach der letzteren aber als ein mit ihnen behaftetes „Subjekt“ oder „homo phaenomenon“ angesehen wird (RL VI, S. 240). Nun noumenon leitet sich vom nous, d. i. dem „Geist“ oder dem belebenden Prinzip ab, und schließt das denkende Vermögen im weiten Sinn ein. Bei Kant gilt das Attribut als Nenner des reinen Willens im Menschen, der als solcher nicht unter Zeitbedingung steht und so der Veränderung überhoben ist, daher „weder frei noch unfrei genannt werden“ kann (S. 226). Da erst der reine Wille den Menschen im eigentlichen Sinne zum Menschen qualifiziert, so impliziert homo noumenon die Eigentümlichkeit des Menschen, die in seinem Vermögen besteht, sich selbst Gesetze zu geben, denen er sich unterwerfen soll. Jedoch mit dem Ausdruck „eigentlichem Selbst“ beziehe ich mich nicht allein auf den homo noumenon, sondern möchte zugleich diejenige Subjektivität bei Kant in Anspruch nehmen, die zwischen den zwei heterogenen „Triebfedern“, nämlich der sinnlichen einerseits und der vernunftgemäßen andererseits steht, und sich in der Tat entschlossen hat, nach der letzteren zu handeln. Denn erst dadurch existiert er in dieser Welt einerseits als mehr denn ein bloßes durch sinnliche Anreize hin und her getriebenes Tier, und ist andererseits nunmehr ein sich dem Ideal der reinen Vernunft unaufhör-
II. Vorbemerkungen zu Prinzipien der Politischen Philosophie Kants 47
II. Vorbemerkungen zu Prinzipien der Politischen Philosophie Kants Zu Beginn sei bemerkt, dass die Qualifikation „a priorisch“ an der „wahren Politik“ allein schon erahnen lässt, dass Kant einen Begriff von solcher Politik im Sinne hat, die von der Natur des Menschen als eines Vernunftwesens, in praktischer Hinsicht aus übersinnlicher Ursache freihandelnden Akteurs, ausfließt. Das „Politische“ Handeln bei Kant ist in seinem apriorischen Sinne diejenige Praxis, die Frieden nach apriorischen Rechtsprinzipien in der Erscheinungswelt stiftet. Dass Kant „Politik“, wie gesehen, in Zum ewigen Frieden als „ausübend[e] Rechtslehre“ bezeichnet (ZeF VIII, S. 370), weist ferner auf den systematischen Stellenwert der Politik hin: Sie ist erstens diejenige Praxis, die nach den Rechtsprinzipien a priori und um des in ihnen eingeschriebenen Zwecks willen ausgeübt werden soll. Dieser als das „höchste politische Gut“ besteht nämlich in der Hervorbringung des Friedens durch den Zusammenschluss der aus drei selbstständigen öffentlichen Gewalten bestehenden Staaten („trias politica“ – RL VI, S. 127) in einen „Völkerbund“. Das ist ein Zustand, in dem jedem Menschen das Seine gesetzlich, „peremtorisch“ zugeteilt wird. Die Kantische Politik spannt also drei politische Dimensionen über, nämlich die innen-, außen- und schließlich die handelspolitische. Demnach setzt sie sich zweitens durch drei Übergänge durch: Erstens durch den Übergang vom Naturzustand unter Individuen zum rechtlichen Zustand, zweitens durch den als die staatsrechtliche Republikanisierung, und schließlich durch den als Eintreten benachbarter Staaten in einen Völkerbund. Politik als „ausübende Rechtslehre“ im engeren, politologischen Sinne, d. i. als „Exekution“8 durchzieht die drei Dimensionen9, aber jeweils auf eine andere Art und Weise. lich annäherndes Selbst, die als solche lediglich immer von der mit Willkürfreiheit begabten Subjektivität des Menschen, dem sie einverleibt ist, die Befolgung der Pflicht verlangen kann (hierzu ausführlicher in Kapitel C.). Ob diese meine Wortwahl überhaupt angemessen sei, darüber entscheidet letzten Endes die ganze Untersuchung. An dieser Stelle danke ich Höffe, der auch hier wie andernorts durch seine Fragestellung mich meine Ausdrücke zu präzisieren motiviert hat. 8 Wenn Kant von der „ausübenden Rechtslehre“ spricht, so denkt er vermutlich an „potestas leges exsequendi“ (Achenwall / Putter, S. 222 f.) sowie „ausübende Staatsklugheit“ (Achenwall (1779), IX). Während diese Begriffe bei Achenwall noch mit der Idee eines Glücks im Sinne der Wohlfahrt der Bürger durch und im Staat eng verbunden sind, so trennt Kant sie stillschweigend von ihr ab, indem er den Begriff „Exekution“ stattdessen mit seiner Version der „Rechtslehre“ in Verbindung bringt. Allerdings, wie wir sehen werden, hat Kant dadurch zugleich dem Begriff ein neues, moralisches Verhältnis zur Idee einer Glückseligkeit durch Politik verschafft. Zum Einfluss von Achenwalls Naturrechtsgedanken auf Kant s. Byrd / Hruschka. 9 Vgl. Schröder (2014), S. 1037.
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
Bei dem ersten Übergang, wo noch keine Regierung besteht, ist einem jeden, der sich zum „Volk“ vereinigen will, nach der dritten „Rechtspflicht“ (S. 237) sowie dem „Postulat des öffentlichen Rechts“ (S. 307) erlaubt, denjenigen zum Übergang zu zwingen, der diesen nicht will. Dies ist nun erlaubt, weil der Rechtsbegriff selbst den „Widerstand“ gegen mögliche Hindernisse zu dem enthält, was „recht“ ist (S. 231).10 Bei dem ersten Übergang der Menschen vom Naturzustand zum rechtlichen Zustand sind sie also gleichsam zugleich Gesetzgeber und Regent, d. h. sie sind alle Urheber des Ius, der dieses unmittelbar ausübt, wo es noch keine statutarischen Gesetze gibt. In diesem Betracht gilt der erste Übergang als die politische Handlung par excellence, die in der Idee des ursprünglichen Vertrags eingeschrieben ist. Diese unmittelbare Identität des Gesetzgebers mit dem Regenten darf nicht mehr bei dem zweiten Übergang, nämlich der innerstaatlichen Republikanisierung sowie bei dem dritten vom zwischenstaatlichen Naturzustand zur internationaler Friedensordnung bestehen. Hier wie dort ist es das Staatsoberhaupt, das die vollziehende Gewalt besitzt. Jedoch ist es drittens allen drei Übergängen gemein, dass in letzter Instanz die jeweils zuständigen Menschen selbst – beim ersten Übergang alle im Naturzustand benachbarten Menschen, beim zweiten der Regent, und beim dritten die Regenten nebeneinander stehender Staaten – sich dazu nach dem allgemeinen Gesetz entschließen sollen. Das zeigt, um hier nur das Mindeste zu sagen, dass „Politik“ immer schon und letztendlich auf die tätige Freiheit ankommt, deren Wesen in der Übereinstimmung der äußeren Handlung mit dem apriorischen Rechtsgesetz besteht. Dabei darf die Übereinstimmung immer noch durchaus nur äußerlich bleiben, denn dies ist durchaus erlaubt und die rechtliche Vernunft gebietet nichts mehr. Aber es ist auch wahr, dass der Mensch durch die tätige „Ausübung“ seiner Freiheit nach dem Rechtsgesetz, immer wieder den Urvertrag („ursprünglichen Vertrag“), der nach Kant eine bloße „Idee“ ist und so nicht einmal in der Menschengeschichte hätte geschehen müssen (vgl. Gemeinspruch VIII, S. 297), jedoch als eine Idee die ewige Norm der rechtlichen Handlungen darstellt, erst kraft seiner Freiheit selber immer wieder ans Werk setzt, als ob er dadurch seine transzendentale Vergangenheit in der Gegenwart erweckte. 10 „Talk of a right is semantically nonsensical if one does not simultaneously connect to the right an authority to defend. Moreover, if our neighbor has a legal duty to move with us to a juridical state, then we have a corresponding right to have him make the move. We may enforce this right, because otherwise the „right“ would not be a right. Accordingly, the use of coercion to enforce a right is permitted to the extent it is required to defend the right.“ (Byrd / Hruschka, S. 189).
II. Vorbemerkungen zu Prinzipien der Politischen Philosophie Kants 49
Wir haben damit die unantastbaren Voraussetzungen für alle Untersuchungen zur Politischen Philosophie Kants11 genannt. Aus der ersteren Vo raussetzung (Politik als Praxis nach den apriorischen Rechtsprinzipien) erklärt sich nun, warum er sich primär auf die Konzipierung des „Rechts“ konzentrieren musste, statt etwa unmittelbar eine Theorie der Politik zu entwerfen12: Architektonik des Rechts muss begründungstheoretisch der Erläuterung zu dessen „Ausübung“, d. i. „Politik“ (ZeF VIII, S. 370), vo rausgehen. Denn das transzendental gegründete allgemein gültige System des Naturrechts allein kann der entsprechenden Praxis ihren Zweck sowie angemessene Handlungsnormen bestimmen. Analog zu Kants bekannter Aussage: „Anschauungen ohne Begriff“ seien „blind“ (A51 / B 75), wäre eine Praxis ohne Zweck aussichtslos und daher desorientiert. Mit einem Wort: Die „Politika beginnen als Meta-Politika.“13 Aber umgekehrt kann man sagen: Der Zweck ohne Einsicht in dessen Erreichbarkeit, genauso wie „Gedanken ohne Inhalt“, sei „leer“ (ebd.); der „Rechtsbegriff“ wird somit ein „sachleerer Gedanke“ (ZeF VIII, S. 372).14 Ist der Anwendungsbereich des Rechtsbegriffs zwar in der Rechtslehre vorweg bestimmt15, so muss dazu noch die Erkenntnis seiner tatsächlichen Praktikabilität in der Erscheinungswelt untersucht werden. Dies macht das Problem der Politischen Philosophie aus. Es obliegt ihr nämlich, die allgemeinen Hindernisse für die Ausübung der Rechtslehre zu identifizieren und überdies eine positive Methode16, methodus (Weg), darzustellen, wie es 11 So drückt „Frieden durch Recht“, der Titel eines von Lutz-Bachmann und Bohman herausgegebenen kooperativen Kommentars (Lutz-Bachmann / Baumann), das Wesen der Politischen Philosophie Kants aus. 12 Arendt hat 1970 zum Auftakt ihrer dreizehnstündigen Vorlesungsreihe über Kants „Politische Philosophie“ darauf hingewiesen, dass bei Kant eben eine solche Theorie der Politik fehlt, und betont, dass es bislang kaum lesenswerte Studie zur politischen Philosophie Kants gibt (Arendt (2012), S. 16). Daher konzentriert sie sich, statt sich mit der Rechtslehre auseinanderzusetzen, hauptsächlich auf die Kritik der Urteilskraft, um ein Portrait von Kant als politischem Denker zu skizzieren. Arendt zufolge kann man dadurch ein Bild von Kant gewinnen, der die faktische „Pluralität“ der Menschen auf Erden ernst nimmt, sowie eine Lehre der politischen Urteilskraft (dazu s. auch Arendt (1994), S. 277–304). Obwohl ihr Ansatz dabei problematisch bleibt, diese ihre Denklinie selbst ist nicht ohne Wert und der Absicht nach bestimmt im gewissen Grad die Argumentationsrichtung der vorliegenden Untersuchung. 13 Höffe (1990), S. 97. 14 Er wird nämlich dann als sachleer betrachtet, wenn „was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanismus der Natur ist“ (ZeF VIII, S. 372), d. h. wenn man von der Existenz der freien Wesen abstrahiert. 15 Vgl. Höffe (1999b). 16 „Vielmehr wird unter dieser Methodenlehre die Art verstanden, wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Ein-
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
möglich wird, die kooperative menschliche Handlung auf solche Weise ständig in Gang zu setzen und immer fortzubewegen, damit die Handlung nach Frieden wider alle Hindernisse durchgesetzt werden kann. Wenn Kant von der „wahre[n] Politik“ spricht, müsste er diese im Sinne einer „a priori erkennbare[n] Politik“ (S. 378) gedacht haben.17 Denn es wäre „praktisch unmöglich […], dem Objekt eines Begriffs nachzustreben, welcher im Grunde leer und ohne Objekt wäre“ (KpV V, S. 143). Als „Philosophie“ aber, d. i. „Erkenntnis aus Begriffen“ (A 837 / B 865), ist der Politischen Philosophie aufgegeben, nicht allein die Hindernisse, sondern auch ihr Erfolgsprogramm durch apriorische Begriffe zu erkennen; ihre Erkenntnisse müssen in zwei Richtungen hin allgemein gültig sein. Diese Aufgabe kann nämlich nur dadurch gelöst werden, dass erstens die Politische Philosophie ihre Einsichten aus apriorischen Quellen zieht. Was genau sind aber die Quellen? Die eine ist zweifelsohne die praktische Vernunft als Quelle des Rechtsbegriffs. Um dazu noch die andere Quelle zu identifizieren, müssen wir unser Augenmerk auf die negative Voraussetzung der Politik richten; dass der Mensch in Wirklichkeit zunächst und zumeist nach dem Prinzip „Klugheit“, politisch gesprochen: „Staatsklugheit“, d. i. im Grunde genommen aus „Selbstliebe“ handelt. Ich gehe in diesem Kapitel davon aus, dass eben diese die gesuchte andere Quelle ist. Dies tue ich, weil so verstanden nicht allein die wirklichen Hindernisse bei der Ausübung der Rechtslehre, sondern auch die positive und zugleich humanistische Strategie für sie sich aus „Prinzip“ erklären. Überdies führt diese Denkrichtung zum Verständnis der subjektiven, existentiellen Bedeutung der politischen Handlung für den Handelnden selbst.
III. Das Interesse der Rechtsvernunft Der Ausdruck „ausübende Rechtslehre“ akzentuiert das Moment „Freiheit“ an Politik im Gegensatz zum bloßen Naturphänomen. Das A Priori an der „wahren Politik“ bezieht sich auf ihren Freiheitscharakter. Ferner das, was an der apriorischen Politik diese als eine „wahre“, hier etwa für den Menschen authentische ansehen lässt, eben das Wesen des a priori Politischen, soll etwas sein, das dem wohlverstandenen, also aufgeklärten fluss auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die objektiv praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne.“ (KpV V, S. 151). 17 Mit anderen Worten: Es soll hier „die Apriorität der Prinzipien […] sichern, dass erstens mit dem Sollen und Wollen auch stets die Möglichkeit des Könnens gegeben ist und zweitens die subjektiven Grundsätze politischen Handelns den objektiven Grundsätzen der Moral und des öffentlichen Rechts untergeordnet sind.“ (Sassenbach, S. 27).
III. Das Interesse der Rechtsvernunft51
Selbstinteresse aller Menschen entspricht und wodurch er sich zur wahrhaft politischen Handlung motiviert. Diese Annahme rechtfertigt sich durch die folgende Logik. Formal betrachtet, diejenige Handlung, wodurch der Mensch seiner vernünftigen bzw. praktisch-freien Natur Gerechtigkeit geschehen lässt, indem sie Frieden in dieser Welt stiftet, d. i. die an sich seiende Welt in eine vernunftangemessene gerechte Ordnung umkonstruiert, muss für ihn wesensmäßig Quelle der Zufriedenheit mit seiner eigenen Vernunftnatur sein. Denn, gesetzt, die Stiftung des ewigen Friedens durch eigene vernunftgemäße daher rechtmäßige Handlungen entspreche dem eigentlichen Interesse des Menschen, so vermag er sich durch diese Leistung seines Vernunftgebrauchs in der diesseitigen friedlichen Welt einheimisch zu fühlen. Diese ist nun nicht als solche unmittelbar vorhanden, sondern kann nur durch die Zusammenarbeit der Menschen zustande gebracht werden – außer wenn der Mensch diese wegen der Mühseligkeit, die die Vernunft ihm aufbürdet, so durchgängig hasst18, dass er sich durch und durch nur für eine vernunftwidrige Handlung interessierte, dass er bloß in seiner diabolisch-zerstörerischen Handlung Zufriedenheit mit sich selbst fände. Obwohl Kant nun diese letztere Ansicht freilich nicht vertritt, so bleibt es doch wahr, dass nach Kant der Mensch wegen seiner venünftig-sinnlichen Doppelnatur nicht unmittelbar in der Lage ist, ohne alle Anstrengung sein aufgeklärtes Interesse aufzudecken sowie diesem automatisch pünktlich zu verfolgen. Es ist vielmehr so, dass man, um das System der friedlichen Koexistenz in dieser Welt aufzubauen, sich auf den a priori legitimierten, bzw. als einen solchen allgemein anzuerkennenden Zwang berufen muss. Um dies folgerichtig zu behaupten und als allgemeingültig anzuerkennen, braucht man, so Kant, weder den natürlichen Zustand, als das Gegenstück zum rechtlichen, sich nicht eigens als einen Schauplatz der nackten Gewalttätigkeit vorzustellen, noch die menschliche Natur als eine solche anzusehen, die die Menschen im rechtlosen Zustand unausbleiblich zur Schlacht führt: „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, dass, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten, niemals vor Gewalttätigkeit gegeneinander sicher sein können“ (RL VI, S. 312). 18 Kant spricht von „Misologie, d. h. Hass der Vernunft“ in der Grundlegung (GMS IV, S. 395).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
Einerlei, ob die Menschen sich von Natur aus gegeneinander feindselig verhalten oder nicht, so enthält die Vernunftidee des Naturzustands für sich alleine einen Widerspruch: Das selbst in diesem Zustand durchaus mögliche, allerdings vorläufige friedliche Nebeneinandersein muss in dem Maße instabil sein, als dieses in letzter Instanz von der Willkür des Menschen abhängt, da hier ein jeder über das Seine Richter sein will, sodass die „vereinzelte Menschen“ „niemals vor Gewalttätigkeit gegeneinander sicher sein können.“19 Hieraus folgt notwendig, dass „das Erste, was [dem Menschen] obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: Man müsse aus dem Naturzustand, in welchem jeder seinem eigenen Kopf folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwang zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten.“ (Ebd.) Dies macht den dem Menschen a priori gebotenen Ausgang aus dem Naturzustand als dem der „Abhängigkeit“ der Menschen voneinander aus, der zugleich als „Übergang“ in den rechtlichen Zustand, d. i. den der rechtlichen Selbstständigkeit, gilt.20 In diesem Zustand allein kann ein jeder Mensch im doppelten Sinne Subjekt seiner Handlung sein, d. i. einerseits der „Urheber“ der Gesetze seiner äußeren Handlungen und andererseits derjenige, der sich ihnen unterwirft. Anders gesprochen wird 19 Die beschriebene Beschaffenheit des Naturzustands ist an der folgenden Passage aus der Religion am deutlichsten erkennbar: „Hobbes’ Satz: status homunum naturalis est bellum omnium in omnes, hat weiter keinen Fehler, als dass es heißen sollte: est status belli etc. Denn wenn man gleich nicht einräumt, dass zwischen Menschen, die nicht unter äußeren und öffentlichen Gesetzen stehen, jederzeit wirkliche Feindseligkeiten herrschen: So ist doch der Zustand derselben (status juridicus), d. i. das Verhältnis, in und durch welches sie der Rechte (des Erwerbs oder der Erhaltung derselben) fähig sind, ein solcher Zustand, in welchem ein jeder selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von anderen hat, oder ihnen gibt, als jedes seine eigene Gewalt; welches ein Kriegszustand ist, in dem jedermann beständig gerüstet sein muss.“ (Religion VI, S. 97 Anm.). 20 Es könnte hier wohl eingesprochen werden, dass es Kant nicht gerecht sei, die „Selbstständigkeit“ allein als das Wesen des rechtlichen Zustands hervorzuheben, da sie eigentlich nur eine der insgesamt drei Merkmale von diesem, nämlich neben Freiheit und Gleichheit. Aber ich halte mich für nicht ungerecht, wenn ich dies tue, denn die Selbstständigkeit als „Unabhängigkeit, nicht zu mehreren vom Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“, ist bei Kant ein Aspekt des einen einzigen angeborenen Rechts (vgl. RL VI, S. 237). Hierüber kommen wir in Kap. D. VI. sprechen.
III. Das Interesse der Rechtsvernunft53
der Mensch erst im rechtlichen Zustand mit allen anderen Mitbürgern ein wahrhaft rechtliches Selbst, das seine eigene Handlung durch sich selbst bestimmt, d. h. ein selbstgesetzgebendes. Es sei nun an dieser Stelle betont, dass die mit allen anderen Menschen verträgliche rechtliche Selbstgesetzgebung im Gegensatz zu dergleichen Abhängigkeit das Wesen des Rechts bei Kant darstellt: Der Mensch lässt der Menschheit in sich allein durch die Realisierung jener Gesetzgebung Gerechtigkeit widerfahren. Dies wird dadurch augenscheinlicher, dass Kant bei der Begründung der Notwendigkeit der rechtmäßigen Staatserrichtung von der „Neigung der Menschen überhaupt, über andere den Meister zu spielen (die Überlegenheit des Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich, der Macht oder List nach, diesen überlegen fühlen)“, welche man „in sich selbst hinreichend wahrnehmen kann“, abstrahiert (S. 307). Dies tut Kant zwar aus seinem begründungstheoretischen Interesse, und nicht ohne einen guten Grund, also nicht willkürlich. Denn jene „selbstsüchtigen Neigungen“ im Verhältnis von Menschen zueinander können letztendlich für die Staatserrichtung so harmlos ausfallen, als wenn sie „gar nicht da wären“, wenn ihre Subjekte „nur Verstand haben“ und dementsprechend der Mensch, „wenngleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger“ wird (ZeF VIII, S. 366). Das will sagen: Aus der weltgeschichtlichen Per spektive her betrachtet, kann die Vernunft sich bestimmt sehen, auf Dauer ihr rechtliches Ziel zu erreichen, und dies nicht trotz der selbstsüchtigen Neigung, sondern kraft dieser in Kombination mit dem bloß kalkulierenden Verstand, der aufs Privatwohl aus ist. D. h. die Vernunft findet ihren Ersatz für die bisherige, an Beispielen von abschreckenden Gewalttaten nicht mangelnde Menschengeschichte in der Hoffnung – oder mit Kants Ausdruck gesagt: eine „tröstende Aussicht in die Zukunft“ (Idee VIII, S. 39) –, dass die „Natur“ im Großen durch ihre wohlüberlegte Allokation verschiedener Kräfte des Menschen der Gattung Menschheit den letzten Sieg garantiert habe – eine Kantische Version der Theodizee in nuce.21 Aber diese Denklinie zeigt, dass die Vernunft sich gegenüber der in der Idee des Naturzustands eingeschriebenen Abhängigkeit des Menschen vom anderen nicht stumm bleiben zu dürfen fühlt, während sie die faktische sowie zukünftige Feindseligkeit unter Menschen doch wegen ihrer Friedensfunktionalität noch zulässt. Anders formuliert: Der bloße Gedanke der Abhängigkeit stört die rechtliche Vernunft am meisten, widerspricht dieser am erheblichsten. Sie kann nicht einmal bei der bloß provisorischen Privat21 Der Ausdruck ist hier bloß um der Bildhaftigkeit willen verwendet. Denn, wie Horn bemerkt, geht es in der Kantischen Geschichtsidee nicht darum, „das Erreichen des menschlichen Bestimmungszustands „nur in einer anderen Welt“ zu erhoffen.“ (Horn, S. 104).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
rechtssicherheit mit sich zufrieden sein. Solange diese noch besteht, bleibt sie mit sich uneinig22, daher unglücklich. Aber warum genau? Dies erklärt sich nun, obwohl immer noch abstrakt, daher: Das Bestehen der selbstsüchtigen Neigung als Aspekt der menschlichen Natur kann sich vor der Vernunft noch dreierlei rechtfertigten, indem sie nämlich als solche einerseits nicht zu vertilgen ist, und andererseits, wie gesagt, mit der Hoffnung der Vernunft auf Frieden nicht unvereinbar, sogar in gewisser Hinsicht ihn fördernd ist. Nicht zuletzt ist der Versuch, jene Neigung im anderen aufzuheben, nicht nur nicht die Angelegenheit der Rechtsvernunft, sondern für diese schädlich, wirkt sogar der „Ethik“ entgegen: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen. – Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebende Befugnis des letzteren betrifft, völlig frei: Ob er mit anderen Mitbürgern überdem auch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im Naturzustand dieser Art bleiben wolle.“ (Religion VI, S. 96)23
Obwohl, worin genau der verderbliche Effekt besteht, wie es Kant sich hier vorstellt, sehr genau erläutert zu werden verdient – welcher Aufgabe wir uns daher weiter unten widmen –, ist es mindestens klar, dass die Vernunft die Korruption in beider Hinsicht gar nicht will. Dagegen ist der Gedanke der Abhängigkeit schlechthin unvereinbar mit der Vernunft: Sie lässt sich erstens durch die Kraftanwendung des Menschen überwinden; und noch wichtiger, zweitens, lädt sie von selbst die „Vormundschaft“ zu sich und verewigt sich daher. Ferner muss es dem Interesse der Vernunft entsprechen, dass die politische Verfassung sich für die Mög22 Es ist mit der Vernunft hier wie im Bereich des Theoretischen so bewandt, dass ihr die „Totalität“ – hier im Sinne der durchgängigen rechtmäßigen Ordnung der Welt, welche als solche der Abschaffung alles ungerechten Abhängigkeitsverhältnisses gleicht – äußerst am Herzen liegt, um nicht mit sich in Widerspruch zu geraten. „Auch die praktische Vernunft, so Kant in der Kritik der praktischen Vernunft, erstrebt das Unbedingte, und zwar sucht sie die unbedingte Totalität, die Kant als die Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit konzipiert, nennt er das „höchste Gut“ [KpV V, S. 108].“ (Kleingeld (1995), S. 97) Dass Kant, wie gesehen, den ewigen Frieden das „höchste politische Gut“ nennt, scheint zu besagen, auch das rechtliche Vernunft verlange nach der unbedingten Totalität. 23 Ohne sich einfach mit diesem Verbot zu begnügen, geht Kant sogar so weit, darauf hinzuweisen, es sei „Pflicht“ des Fürsten, „in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen“ (WiA VIII, S: 40). Dies tut Kant in der Überzeugung, dass die „Menschen […] sich von selbst nach und nach aus der Rauigkeit [herausarbeiten], wenn man nun nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.“ (S. 41) Die gedankliche Grundlage dieser Behauptung wird sich im Verlauf dieses Kapitels sowie der folgenden zwei Kapitel herausstellen.
IV. Die Priorität des Staats über Glück55
lichkeit offen hält, dass der in ihr lebende Bürger sich jeweils aus freiem Stück zu moralisieren entschließt, wobei niemand ihn dazu zwingen darf. Um darüber hinaus noch eine konkretere Darstellung der Unzufriedenheit der Vernunft mit ihrer Abhängigkeit von irgendeinem anderen Wesen zu gewinnen, gilt es, uns im Folgenden mit der Analyse der Darstellung dessen von Kant zu beschäftigen, was wiederholt bei ihm als der Gegenspieler der Republik auftaucht, namentlich der „Despotismus“. Im folgenden Abschnitt wird zunächst die Voraussetzung von Kants Despotismuskritik betrachtet.
IV. Die Priorität des Staats über Glück Wie wir gesehen haben, führt Kant neben der positiven Zwecksetzung der Politik auch ein negatives Moment ein, das seinerseits auch ein wesentliches Strukturmoment seines Politikdenkens ausmacht. Er wirft nämlich einem solchen Staatsoberhaupt vor, das die Glückseligkeit des Volks zu bestimmen trachtet, dass es ein „Despot“ sei (Gemeinspruch VIII, S. 302). Diese Auffassung mag wohl den Anschein erwecken, die Kantische Politik habe nichts mit der „Glückseligkeit“ des Volks zu tun, sondern beschäftige sich lediglich mit der gesetzlichen Rahmenbildung für die harmonisch zusammen bestehende äußere Freiheit aller Individuen. Aber die Betonung der Passage liegt eigentlich darauf, dass der Souverän seine Bürger nicht nach „seinen Begriffen“ glücklich machen dürfe (ebd.). Das besagt bei weitem keine pauschale Negierung jeglicher Beziehung zwischen der öffentlichen Macht und den Bürgern hinsichtlich ihrer Glückseligkeit. Diese Beschränkung lässt sogar vermuten, Kant habe auch eine positive, zu bejahende Beziehung im Sinn. In der Tat sagt Kant, wie wir gesehen haben, expressis verbis, dass die Beförderung der Glückseligkeit des Bürgers als „Zweck“, sogar als die „eigentliche Aufgabe“ der Politik gilt. Die Betonung „eigentlich“ legt nahe, dass diese Aufgabe eine aus dem Wesen des Politischen ausfließende, dem Menschen aufgedrängte ist. Wir sind durch diese Passage eingeladen, den eigentlichen Zusammenhang zwischen Politik und Glückseligkeit zu untersuchen. Um genau zu sehen, worin der Zusammenhang besteht, müssen wir verstehen, was er eben nicht ist. Kant ist offenbar nicht der Meinung, dass der Mensch durch politische Handlung unmittelbar jeglichen Glückszustand im Sinne des sinnlichen Genusses erreichen kann. Er ist nämlich kein naiver Liberaler, der auf dem individuellen Glück, oder aber „happiness“ größten Wert legt, noch vertritt er die wohlfahrtsstaatliche oder aber sozialistische Position, die den Staat als für dieses zuständig ansieht.24 24 Die letztere Position haben manche Staatsdenker vor Kant, um hier nur einige zu nennen, wie Wolff und Achenwall vertreten. Zur ausgewogenen Übersicht über
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
Bei Kant genießt die „Existenz“ mehr oder minder gerechter, schon bestehender Staaten Priorität über dem faktischen Glücksverlangen nach beliebiger Glücksvorstellung ihrer Mitglieder.25 Auch wenn „die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: So geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den rechtlichen Zustand, vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks, zu sichern.“ (Gemeinspruch VIII, S. 298; Hv M. O.) Die Glückseligkeit, die durch Erlangung dieses oder jenes Zustands realisiert werden kann, darf nicht die Stelle eines Zwecks der Staatserrichtung einnehmen. Sie kann nicht einen allgemein gültigen „Grundsatz für Gesetze“ abgeben. Denn „sowohl die Zeitumstände als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt […], macht alle feste Grundsätze unmöglich“ (ebd.). Weil die jeweiligen Objekte der Glückseligkeit nicht allein unter verschiedenen Menschen unterschiedlich ausfallen, sondern selbst intrasubjektiv, d. i. in ein und demselben begehrenden Subjekt, sich ständig abwechseln26, kann es – was die Materie betrifft, die den Gemütszustand eines Subjekts affizieren kann, sei es nun angenehm oder unangenehm – keinen allgemein begehrenswerten Gegenstand geben. Dementsprechend, auch wenn eine allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich des Gegenstands des Bedürfnisses stattfindet, so ist sie nach Kant bloß „zufällig“27 (S. 47) – es sei denn, dass das menschliche Begehrungsvermögen ausschließlich durch den Natur die verschiedenen Staatskonzeptionen in Deutschland im ausgehenden 18 Jahrhundert s. Beiser (zu Kants Stellungnahme gegenüber dem zeitgenössischen wohlfahrtsstaatlichen Gedanken s. besonders S. 27–56); Maliks, S. 16–32. Vgl. auch Höffe (2001), S. 132–137. 25 Dergleichen Priorität ist am deutlichsten an Konfliktfällen zwischen Staat und individueller Freiheit, z. B. an Kants eindeutiger Ablehnung des Rechts auf revo lutionäre Taten gegen den Staat zu erkennen, was ihn in den modernen, liberalen Augen konservativ erscheinen lassen möchte. Aber es ist genau an diesem Punkt, dass der Philosoph seine stringenteste Folgerichtigkeit erweist. Denn, wenn man den bestehenden Staat als die Realisierung der Freiheit der Bürger ansehen darf, so wäre es ein Widerspruch, dass der Staat in sich ein ihn auflösendes Recht zulässt, welcher Widerspruch auf den Willen der Bürger zurückgeführt werden muss. Alsdann muss der Mensch selbst als ein selbstwidersprechendes Wesen gedacht werden, das Bewusstsein worüber den Verdacht in ihm erregt, seine Existenz beruhe auf blindem Zufall und enthalte keine Notwendigkeit, was nach Kant den Menschen äußerst unglücklich macht. 26 Das „Gefühl der Lust und Unlust“ des Subjekts richtet sich nicht immer auf einen bestimmten Gegenstand. Vgl. KpV V, S 25. 27 Was dieser Ansicht zugrunde liegt, ist die folgende Voraussetzung: „Ein allgemeines materiales formales Kriterium der Wahrheit ist nicht möglich; es ist sogar in sich selbst widersprechend“ (Logik IX, S. 50; Hv M. O.). Zur ausführlicheren
IV. Die Priorität des Staats über Glück57
mechanismus bestimmt wäre, was doch für Kant nicht der Fall sein darf. Anders gesagt ist es durchaus möglich, dass man einen anderen materiellen Gegenstand als seinen Genuss befördernd anstelle dessen ansähe, den man hier und jetzt dafür hält. Insofern kann die Glückseligkeit qua „Wohlhabenheit“, die im Besitz von irgendetwas besteht, das das „Materiale“ des Begehrens ist, wohl ein „Mittel“ zur Erhaltung des Staats sein, nie aber dessen Zweck. Dass das Prinzip des Staats a priori durch Vernunft einzusehen und in ihr gegründet sei, gilt als die Grundvoraussetzung der Rechtsphilosophie Kants. Als ein solches gestaltet es sich als ein Pflicht gebietender Satz aus, d. i., mit Höffes Ausdruck gesagt, als der „kategorische Rechtsimperativ“.28 Dieser lautet: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“ (RL VI, S. 231). Genau in diesem Gebot gründet sich die Priorität der „Existenz“ eines Staates über dem individuellen Glücksstrebens. Denn, gesetzt, der Mensch ist ein der Willkür nach freies und zugleich körperliches Erdwesen und so seine Handlung hat Einfluss auf die äußeren Gegenstände, und das Nebeneinandersein der Menschen ist wegen der Kugelgestalt der Erde unvermeidbar, gibt es keine dauerhafte Sicherheit ihres Rechts auf das „Mein und Dein“ im Naturzustand, in dem keine öffentlich anerkannte und wirksame Gewalt vorhanden ist, die jedem das Seine zu erkennt. Die benachbarten Menschen sollen deshalb zusammen in einen Zustand übergehen („exeundum esse statu naturalis“), in dem ihre äußere Freiheit durch legitime Zwangsmacht so eingeschränkt wird, dass die des einen das Recht des anderen auf das Seine nicht verletzt.29 Diejenige öffentliche Institution, die öffentlich anerkannte Befugnis zu einem solchen Zwang hat30, heißt „Staat (civitas)“ (S. 313). Kurz: Die Existenz des Staats als Zweck seiner Errichtung ist daher a priori dem individuellen Glücksverlangen übergeordnet, weil sie es ist, die die reale Möglichkeit der friedlichen Koexistenz der Freiheit eröffnet.
Deutung des Verhältnisses zwischen Materie und Form in Kants praktischen Philosophie s. Höffe (2012), S. 95–100. 28 s. etwa Höffe (1999b). 29 Das „Postulat des öffentlichen Rechts“, das diesen Übergang gebietet, lautet: „[D]u sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen Anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen.“ (RL VI, S. 307). 30 Mit anderen Worten ist der Staat „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“, die alle drei öffentlichen Gewalten, nämlich die „gesetzgebende“, die „vollziehende“ und die „rechtssprechende“ Gewalt, enthält (RL VI, S. 313).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
V. Die despotische Denkungsart als Widerspruch Dass die Existenz des Staats Priorität über dem Glücksverlangen ihrer Mitglieder hat, bedeutet aber nicht, dass Kant das Streben nach Glückseligkeit des Menschen etwa geringschätzt.31 In Wahrheit hat er außer dem begründungstheoretischen noch einen anderen Grund dafür, dass die Glückseligkeit als Zweck des Staats nicht gelten darf, welches, genau besehen, Kants Sorge für das Glücksstreben des Menschen zeigt. Eine positive, widerspruchsfreie Interpretationsmöglichkeit der Behauptung, es bestehe die „eigentliche Aufgabe der Politik“ in der Übereinstimmung der politischen Maximen mit der Glückseligkeit des Publikums, bietet sich erst durch das Verständnis dieser an Kants Despotismuskritik erkennbaren Sorge an. Kant sieht nämlich in dem angeblichen „Wohlwollen“ des Staatsoberhaupts, sein Volk „nach seinen Begriffen“ glücklich zu machen, einen der Folge nach gefährlichen Widerspruch liegen. Wir müssen zunächst diesen genauer betrachten. Rechtlich gesprochen heißt die Regierung „despotisch“, wenn sie kein „repräsentatives System“ ist. D. h. despotisch ist diejenige Regierung, in der die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt voneinander nicht getrennt sind. Sie ist laut Kant aber „eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens […] sein kann“ (ZeF VIII, S. 352). Als Unform gilt sie, weil bei ihr die Exekution der Gesetze, die eigentlich der Vernunft allein entspringen sollen, von dem Privatwillen des Regenten abhängt. Die folgende Kritik Kants soll vor diesem Hintergrund gelesen werden. „Der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen und wird Despot“ (Gemeinspruch VIII, S. 302). Nach Kant heißt eine solche Denkungsart „despotisch“ und ist deshalb unzulässig, weil sie dem Anspruch des Menschen auf Freiheit diametral entgegensteht. Kant veranschaulicht seine Kritik gegen sie durch den Vergleich des Despoten zu einem Vater gegenüber seinen Kindern: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu 31 Höffe pointiert zu Recht, dass Kant kein „weltfremder“ Moralist ist, der dem natürlichen Glücksverlangen indifferent ist, sondern dieses als beim Menschen für unvermeidlich hält. Dementsprechend erfolgt seine „Kritik an der Selbstliebe […] nicht uneingeschränkt“. D. h. seine Absicht besteht darin, die Selbstliebe mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen zu lassen, die alsdann „vernünftige Selbstliebe“ heißt (Höffe (2012), S. 95). Die „Glückseligkeit“, die wir in diesem Kapitel zum Gegenstand haben, wird gegen diesen Hintergrund ausgedeutet.
V. Die despotische Denkungsart als Widerspruch 59 verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteil des Staatsoberhaupts, und, dass dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann keine Rechte haben, aufhebt).“ (Gemeinspruch VIII, S. 290 f.; Hv M. O.)
Hier bezieht sich Kant auf den ursprünglichen Sinn des Worts „Despot“: „ὁ δεσπότης“ = „Hausherr“. Diese Gleichsetzung des Hausherrn mit einem Vater ist allerdings etymologisch und philosophiegeschichtlich nicht unproblematisch. Denn in der Tradition der Politischen Philosophie sind die despotische Herrschaftsform und die väterliche nicht ohne Weiteres zu identifizieren. Nach Aristoteles z. B. stellen sie jeweils eine der insgesamt drei Formen der Haushaltsführung dar (Aristoteles Politik, I-3 1253b). Aristoteles zufolge ist die Herrschaft von Hausherrn über Sklave „despotisch“, der von Natur belebtes „Werkzeug“ und als solches gleichsam ein „belebter“ und „losgelöster“ Teil des Körpers von seinem Herrn ist (I-6 1255b). Dagegen bei der „väterlichen“ Herrschaft über Kinder werden diese als von Natur „Freie“ behandelt (I-12 1259a). Hier herrscht der Vater über sie „wie ein König“, indem er „seine Herrschaft mit Liebe32 und aufgrund der Autorität des Alters“ ausübt (I-12 1259b; Hv M. O.). Für uns ist nun entscheidend, dass Kant trotz diesem Unterschied die beiden Herrschaftsformen miteinander gleichstellt. An Kants Gleichstellung der beiden genannten Herrschaftsformen ist zu erkennen, dass er dadurch stillschweigend eine radikale Herabwürdigung des klassischen Begriffs des Despotismus bewirkt, der sich auf die durch Natur bestimmte Ungleichheit unter Menschen stützt, die in den Augen des kritischen Philosophen nicht mehr fortbestehen darf.33 Der Despot qua Vater hat, außer seinem Alter, seiner Natur nach seinen Kindern nichts voraus. Vielmehr sind Kinder hinsichtlich ihres Anspruchs auf Freiheit vollkommen gleichberechtigt wie ihr Vater. Der selbstemanzi32 Es sei hier angemerkt, dass das Bild der Liebe eines Fürsten trotz der Ablehnung des politischen Eudämonismus durch Kant doch in seiner Politischen Philosophie eine Rolle spielt. So viel dürfen wir doch bereits annehmen, obwohl wir hier noch nicht darüber detailliert diskutieren können, da die Beförderung der fremden Glückseligkeit bei Kant als „Liebespflicht“ gilt. Dem müssen wir aber sofort hinzufügen, dass dergleichen „Liebe“ durch „Achtung“ wegen ihres die geistige Distanz zwischen freier Wesen abschaffenden Effekts gemäßigt zu werden braucht. Wie man es zu bewerten hat, dass die Liebe des Fürsten noch bei Kants Politischer Philosophie erforderlich bleibt, darüber kommen wir im Kapitel C. sprechen. 33 Hierzu sagt Kersting: „Das imperium paternale missachtet die bereits von Aristoteles gezogene Grenze zwischen der societas domestica und der bürgerlichen Gesellschaft; es dehnt die Sphäre des Hauses über den gesellschaftlich-staatlichen Gesamtbereich aus und versteht das Herrschaftsrecht als ein persönliches Recht dinglicher Art.“ (Kersting, S. 286).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
patorische Wille des Bürger-Kindes an der Despot-Vater Analogie, der dem Kind gegenübersteht, ist unverkennbar. Kants kritischer Blick auf den Despoten, der sich als ein Vater seiner Untertanen gebärdet, ist in seiner Überzeugung begründet, dass das menschliche Vermögen der Freiheit das Einzige auf der Welt sei, welchem „Würde“ zuerkannt werden soll. In diesem Betracht ist das oben angeführte Bedenken Kants, dass es in einer Verfassung unter einem despotischen Regenten „keine Freiheit“ und „keine Rechte“ mehr gibt, weder eine Übertreibung noch eine bloße Rhetorik, sondern muss wortwörtlich verstanden werden. Denn „Recht“ bedeutet nichts weniger als die „Freiheit als Menschen“, deren Prinzip durch die Formel ausgedrückt wird: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Weg suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zweck nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann (d. i. diesem Recht des anderen), nicht Abbruch tut.“ (Gemeinspruch VIII, S. 298)
Dem Menschen die Freiheit verweigern, eigenen Zweck rechtmäßig nachzustreben, heißt, ihm die Fähigkeit absprechen, der Würde eines freien Wesens gemäß zu existieren. Dies ist aber nichts als Verachtung der Menschheit in ihm. Früher hat Montesquieu gesagt, dass die despotische Regierung, die den Untertanen Freiheit abspricht, sie in eine bloß gehorchende Kreatur verwandelt.34 Dies entspricht auch Lockes Ansicht, die sich in der folgenden Darstellung der „absoluten Monarchie“ findet: „[N]ow whenever [a man’s] Property is invaded by the Will and Order of his Monarch, he has not only no Appeal, as those in Society ought to have, but as if he were degraded from the common state of Rational Creatures, is denied a liberty to judge of, or to defend his Right, and so is exposed to all the Misery and Inconveniencies that a Man can fear from one, who being in the unrestrained state of Nature, is yet corrupted with Flattery, and armed with Power. For he that thinks absolute Power purifies Mens Bloods, and corrects the baseness of Humane Nature, need read but the History of this, or any other Age to be convinced of the contrary. He that would have been insolent and injurious in the Woods of Ameri ca, would not probably be much better in a Throne; where perhaps Learning and Religion shall be found out to justifie all, that he shall do to his Subjects, and the Sword presently silence all those that dare question it.“35
Was sich an der Aussagen Montesquieus und Lockes zu erkennen gibt, ist die Vorstellung, dass die Menschen unter einem Herrscher, der im poli34 Montesquieu, 35 Locke,
S. 129. S. 327; Hv M. O.; Hv Locke getilgt.
V. Die despotische Denkungsart als Widerspruch 61
tischen Gemeinwesen eine absolute, unbeschränkte Gewalt genießt, in den Augen des Beobachters als ein unfreies Geschöpf erscheint. Das bedeutet aber, dass alle Menschen unter einer despotischen Regierung sich in ein bloßes Tier verwandeln. Kant sagt in Übereinstimmung mit Montesquieu und Locke, aber mit einer noch gesteigerten kritischen Schärfe, dass der Mensch in einem solchen Zustand „mit den übrigen lebenden Maschinen in eine Klasse geworfen wird, denen nur noch das Bewusstsein, dass sie nicht freie Wesen sind, beiwohnen dürfte, um sie in ihrem eigenen Urteil zu den elendesten unter allen Weltwesen zu machen.“ (ZeF VIII, S. 378; Hv M. O.) Die Widersprüchlichkeit der Denkungsart des Despoten spitzt sich durch die folgende Bemerkung Kants zu: „Man kann [den Menschen] in jedem Zustand für glücklich annehmen, wenn er sich bewusst ist, dass es nur an ihm selbst (seinem Vermögen oder ernstlichen Willen) oder an Umständen, die er keinem anderen Schuld geben kann, aber nicht an dem unwiderstehlichen Willen anderer liege, dass er nicht zu gleicher Stufe mit anderen hinaufsteigt, die als seine Mituntertanen hierin, was das Recht betrifft, vor ihm nichts voraus haben.“ (Gemeinspruch VIII, S. 293; Hv M. O.)
Die Bedingung der Zufriedenheit mit dem eigenen Zustand (der Glückseligkeit) ist das Bewusstsein des Menschen, dass sein gegenwärtiger Zustand Resultat seiner eigenen Handlung nach seinem Willen und nicht dem eines anderen ist.36 Solange er retrospektiv sagen kann, dass er selber die freie Entscheidung getroffen hat, oder dass er imstande war, den erzielten Zustand durch seine Kraftanwendung zu erreichen, kann der Mensch sich für glücklich halten. Das Glücksgefühl geht im Grunde genommen aus der Reflexion des Menschen über sich hervor, dass er kraft seiner eigenen Freiheit, sich zu dem von ihm selbst gewollten Zustand emporarbeiten kann. So gesehen muss eine wohlwollende Regierung, durch deren Existenz dem Menschen das unmöglich wird, was ohnehin „in jedem Zustand“ möglich ist, als widersprüchlich ins Auge fallen. In Kants Augen ist der Widerspruch ein doppelter: Die despotische Regierung trachtet erstens etwas theoretisch Unmögliches zu tun; zweitens ist dieses auch in moralischer Hinsicht verboten. 36 Das ist eine Ansicht, die schon in der vorkritischen Phase deutlich präsent war. Es heißt z. B. in der Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen: „Nichts kann aber wenn ich vorher frey war mir einen greislicheren Prospekt von Gram u. Verzweiflung erofnen als daß künftig hin mein Zustand nicht in Meinen sondern in eines andern Willen soll gelegt seyn.“ (Bemerkungen XX, S. 92 f.) Hierzu vgl. etwa Berlin, S. 127–164.
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Was das erstere betrifft, so sagt Kant: „[S]ich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Akt des Gemüts ist); obgleich äußere Handlungen geboten werden mögen, die dahin führen, ohne doch dass das Subjekt sie sich zum Zweck macht.“ (RL VI, S. 239) Es ist in der Tat unmöglich den anderen etwas wollen zu lassen, wofür und warum es auch immer sei, was er selber nicht will. Als ein „innerer Akt des Gemüts“ liegt das Begehren eines Menschen dem anderen nicht zur Verfügung. Man mag zwar durch seine Handlung das bewirken, was ein anderer sich zum Zweck macht. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass man dabei genau um des Zwecks des anderen willen das tut. Anders gesagt kann er immer dieses tun und doch zugleich etwas anderes als eben diesen Zweck wollen – als ob er da sagte: „[I]ch soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes will.“ (GMS IV, S. 441) Der Zugang zum Begehren eines Menschen ist dem anderen strukturell gänzlich gesperrt. Deshalb enthält die Denkungsart des Despoten, den anderen nach „eigenen Begriffen“ glücklich zu machen, einerseits einen theoretischen Widerspruch, indem er seine eigene Vorstellung des Glückszustands und somit auch die „Mittel“ dazu37 als begehrenswert verallgemeinern zu können meint, welche doch grundsätzlich bloß zufällig sein können – es sei denn, dass er die apriorische Allgemeingültigkeit seiner Glücksvorstellung behaupten könnte, anders gesagt; außer wenn er Gott wäre. Darüber hinaus behandelt der Despot seine Untertanen als ein „bloßes“ Mittel zu seinem Zweck. Das ist ohne Zweifel „ethisch“ unzulässig. Seine Handlung ist aber überdies auch „rechtsmoralisch“ äußerst „unrecht“. Dies folgt aus der Bestimmung der Freiheit als dem „angeborenen Recht“. In der Anmerkung zur „republikanischen Verfassung“ als der einzigen aus der Idee des „ursprünglichen Vertrags“ hervorgehenden führt Kant die Bedeutung der äußeren Freiheit aus, die zur Einsicht in den moralischen Grund der Unzulässigkeit des Despotismus führt: „Rechtliche (mithin äußere) Freiheit kann nicht, wie man wohl zu tun pflegt, durch die Befugnis definiert »alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem unrecht tut.« Denn was heißt Befugnis? Die Möglichkeit einer Handlung, sofern man dadurch keinem unrecht tut. Also würde die Erklärung so lauten: »Freiheit ist die Möglichkeit der Handlungen, dadurch man keinem unrecht tut. Man tut keinem unrecht (man mag auch tun, was man will), wenn man nur keinem unrecht tut«: Folglich ist es leere Tautologie. – Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: Sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“ (ZeF VIII, S. 350 Anm.; Hv M. O.) 37 In einem Willen muss das Mittel zu dessen Erfüllung zugleich gewollt sein muss. Ansonsten wäre der Wille ein bloßer Wunsch (GMS IV, S. 417).
VI. Glücksverlangen als Wunsch nach Unendlichkeit63
Die „Legalität“ eines Gesetzes ist daran zu beurteilen, ob ich meine „Beistimmung“ dazu geben kann, ihm zu gehorchen. Das „Können“ heißt hier, nach der inhaltlich das Gleiche behauptenden Stelle in Gemeinspruch, „Zustimmen-Können“ (vgl. Gemeinspruch VIII, S. 297). Das Kriterium besteht nämlich darin, ob der Untertan, „sofern er Bürger sein will“, dem „vereinigten Willen eines ganzen Volks“ zusammenstimmen können habe, der angeblich der Gesetzgebung des Souveräns zugrunde liegt (ebd.; Hv M. O.). Anhand dieses Kriteriums leuchtet nun ein, dass der Despotismus sich nicht einmal als „recht“ vorgeben kann: Indem die despotische Regierung als die „väterliche“ die Untertanen wie „unmündige Kinder“ behandelt (S. 290), untergräbt sie selbst die Grundlage der Politik nach dem Rechtsbegriff. Denn sie spricht den Untertanen dadurch ihr Recht ab, die Rechtmäßigkeit der Regierung selber zu beurteilen und das Urteil darüber zur Sprache zu bringen. Das heißt aber, dass eine solche Regierung davon absieht, ob ihr Untertan überhaupt „Bürger sein will“, geschweige denn, ob dieser das will, was das „ganze Volk“ will. Eine väterliche Regierung muss daher, um nochmals Kants Wort zu wiederholen38, als der „größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann keine Rechte haben, aufhebt)“ gedacht werden (S. 291; Hv M. O.). Das erklärt nun auch, warum Kant sagt, der Mensch in einer despotischen Verfassung sehe sich als das „elendeste“ Tier unter allen anderen Lebewesen an; weil ihm die Möglichkeit auf ewig abgesagt ist, nicht nur der Glückseligkeit auf dem Weg nachzustreben, „welcher ihm gut dünkt“, sondern selber seinen eigenen Zustand so zu verändern, dass das freie Glücksstreben möglich wird. Es ist eben sein „Bewusstsein“, dass er in der Tat nichts tun kann, um seine Lage durch und für seine Freiheit zu verbessern, obwohl er das Streben nach dem durch seine freie Handlung bewirkten Glück fühlt, das ihn so elend macht. Und dieses Bewusstsein ist, um vorwegzunehmen, was wir schließlich als das genaue Gegenteil von dem der „Glückseligkeit aus Freiheit“ begreifen werden, das Ziel der Kantischen Politik bildet. Um die Bedeutung der letzteren Art vom Bewusstsein genau zu verstehen, empfiehlt es sich, zunächst die formale Bestimmung des menschlichen Glücksverlangens genau zu betrachten.
VI. Glücksverlangen als Wunsch nach Unendlichkeit Kant bestimmt den Begriff „Glückseligkeit“ in der Kritik der praktischen Vernunft folgendermaßen: 38 s.
die Einführung dieser Untersuchung.
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
„Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewusstsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist“ (KpV V, S. 25; Hv M. O.).
Jedes menschliche Individuum verlangt nach der Glückseligkeit, solange seine Natur teils durch „Endlichkeit“ ausgedrückt wird. „Endlich“ ist ein Wesen, dessen Dasein sowohl zeitlich als auch räumlich begrenzt ist. Hinsichtlich der zeitlichen Begrenztheit hat sein Dasein einen Anfang und ein Ende. Innerhalb der Dauer seiner Existenz kann es nicht zugleich als all das existieren, was es war, was es ist und was es sein wird. Über die ganze Dauer seiner Existenz hindurch ist es der Veränderung seines Zustands ausgesetzt. Ein endliches Wesen ist also immer im Übergang. Was die räumliche Begrenztheit betrifft, ist es immer nur lediglich ein Teil der Welt und hat nicht alles in sich selbst, was es zur Erhaltung seiner Existenz braucht. Es ist von zahllosen anderen Wesen umgeben und so stets von etwas Anderem berührt, was dem endlichen Wesen den Anlass zur Veränderung seines Zustands gibt. Als ein so beschaffenes Wesen ist jeder Mensch zur Erreichung des gewünschten Zustands notwendigerweise auf etwas Anderes angewiesen, das ihm eventuell zum Mittel dazu dient. Das sind die faktischen Voraussetzungen der Endlichkeit. Um aber zu behaupten, das Glücksverlangen sei für das endliche Wesen „notwendig“ und so ein „unvermeidlicher Bestimmungsgrund“ seines Begehrens, brauchen wir uns über die beschriebene bloße Faktizität hinaus in sein reflexives „Bewusstsein“ über sich selbst zu versetzen. Dazu muss man nämlich sagen können, es fühle sich bedürftig und finde seine Bedürftigkeit problematisch. Für dasjenige endliche Wesen, das mit der Fähigkeit ausgestattet ist, über sich zu reflektieren, d. i. eine Vorstellung von „Ich“ zu haben (Anthr. VII, S. 127), ist die Glückseligkeit als die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein, oder damit, dass es überhaupt existiert, ein ihm „aufgedrungenes Problem“. Und dieses ist erst durch seine eigene Kraftanwendung zu lösen. Anders gesagt ist das Glücksverlangen immer schon im Menschen da, ganz unabhängig davon, ob er selber es wolle oder nicht, sobald er das Bewusstsein von seinem Selbst gewinnt. Die Entstehung des Problembewusstseins hinsichtlich seiner Glückseligkeit ist gleichzeitig wie die des Selbstbewusstseins. Insofern könnte man vielleicht sagen: Das Selbstsein falle dem Menschen schwer39, solange es die nie gänzlich stillbare Bedürftigkeit mit sich bringt. 39 Hierzu
s. Kapitel C. II. 1. ff.
VI. Glücksverlangen als Wunsch nach Unendlichkeit65
Dies bestätigt die folgende Darstellung: „Alle Gegenstände der Neigungen haben nur einen bedingten Wert; denn wenn die Neigungen und darauf gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne Wert sein. Die Neigungen selber aber, als Quellen der Bedürfnisse, haben sowenig einen absoluten Wert, um sie selbst zu wünschen, dass vielmehr gänzlich davon frei zu sein, der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens sein muss.“ (GMS IV, S. 428; Hv M. O.)40
Paradoxerweise äußert sich in dem notwendigen Verlangen nach Glückseligkeit der allgemeine „Wunsch“, vom Bedürfnis überhaupt „frei“ zu sein. Mit anderen Worten ist das Verlangen wesentlich selbstnegierend. Aber man beachte hier, dass dieses Verlangen doch zugleich etwas Positives behauptet. Sein „Wunsch“ – das „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts“, welches „leer“ und „müßig“ ist, wenn dessen Subjekt sich dazu „unvermögend fühlt“ (Anthr. VII, S. 251), – sich von seinem endlichen Dasein zu befreien, weist nämlich auf seinen Willen hin, als ein nicht-endliches Wesen zu existieren. Es lässt sich also das notwendige Verlangen nach Glückseligkeit als eines nach etwas für das endliche Wesen Unmöglichem verstehen, nämlich als ein Verlangen danach, sein endliches Dasein insgesamt zu verlassen. So betrachtet lässt sich die basale innere „Stimme“ des Menschen folgendermaßen zur Sprache bringen: „Löse mich aus meinem Selbst heraus, in das Ich ohne meine Einwilligung hineingeworfen41 und für dessen Erhaltung plötzlich verantwortlich gemacht worden bin, was ich doch alleine nicht leisten kann! Ich möchte, wenn ich kann, von der Schwere meines Selbst befreit werden!“ Genauso formuliert Kant zwar nicht, lässt sich aber eine solche Stimme an der folgenden Passage in der Anthropologie vernehmen: „Das Geschrei, welches ein kaum geborenes Kind hören lässt, hat nicht den Ton des Jammerns, sondern der Entrüstung und aufgebrachten Zorns an sich; nicht 40 Man könnte anhand dieser Behauptung von der Nähe Kants zu Stoizismus sprechen. Herman sagt z. B.: „Kant is close enough to stoic thought to regard the state of happiness as one in which we might approximate the state of non / finite beings: a state of Seligkeit: blessedness, or bliss […]; a state of not wanting anything.“ (Herman, S. 259) Gewiss, aber wir versuchen hier zu wissen, ob das Nichts-Wollen für Kant nichts als ein leerer Wunsch sei und in der Tat nichts als Nichts wolle. 41 Für diese Deutung besonders anschlaggebend ist die Aussage Kants in der Rechtslehre: „[D]a das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: So ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herübergebracht haben“ (RL VI, S. 280 f.; Hv M. O.).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
weil ihm was schmerzt, sondern weil ihm etwas verdrießt: vermutlich darum, weil es sich bewegen will und sein Unvermögen dazu gleich als eine Fesselung fühlt, wodurch ihm die Freiheit genommen wird.“ (Anthr. VII, S. 327 Anm.; Hv M. O.)42
Freilich ist diese Darstellung der Gemütsbewegung eines Neugeborenen ein Projizieren eines schon selbstbewussten Menschen.43 Jedoch erleuchtet sie Kants Ansicht über die Beziehung zwischen Freiheitsbewusstsein und Glücksgefühl um desto deutlicher in ihrer reinsten Form. Man kann nämlich an dieser Passage, dank der für das Projizieren nötigen Abstraktion des voluntativen Ich, die Stimme des reinen Strebens nach Freiheit in Kant hören. Aber nach Freiheit in welchem Sinne ist denn hier gemeint? Zunächst nichts als die „äußere Freiheit“. Dies lässt sich an einem anderen Paragraf aus der Anthropologie feststellen, der „Von der Freiheitsneigung als Leidenschaft“ überschrieben ist: „[D]as Kind, welches sich nur eben dem mütterlichen Schoß entwunden hat, scheint zum Unterschied von allen anderen Tieren bloß deswegen mit lautem Geschrei in die Welt zu treten: Weil es sein Unvermögen, sich seiner Gliedmaßen zu bedienen, für Zwang ansieht und so seinen Anspruch auf Freiheit (wovon kein anderes Tier eine Vorstellung hat) sofort ankündigt.“ (Anthr. VII, S. 268; Hv M. O.) 42 Das Wort „Fesselung“ und der Ausdruck „Joch der Unmündigkeit“ (WiA VIII, S. 36) erinnern unmittelbar an jene bekannte Aussage Rousseaus: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ (Rousseau (2010), S. 8 f.) Dass diese Assoziation keine beliebige ist, bekräftigt der Gedanke Kants, dass nur die in einer menschlichen Gesellschaft geborenen Kinder wegen des Gefühls der Unfreiheit schreien, sobald sie zur Welt kommen. Kant sagt: „Kein Tier aber außer dem Menschen (wie er jetzt ist) wird beim Geborenwerden seine Existenz laut ankündigen; welches von der Weisheit der Natur so angeordnet zu sein scheint, um die Art zu erhalten. Man muss also annehmen: Dass in der frühen Epoche der Natur in Ansehung dieser Tierklasse (nämlich des Zeitlaufs der Rohigkeit) dieses Lautwerden des Kindes bei seiner Geburt noch nicht war; mithin nur späterhin eine zweite Epoche, wo beide Eltern schon zu dergleichen Kultur, die zum häuslichen Leben notwendig ist, gelangt waren, eingetreten ist; ohne dass wir wissen: Wie die Natur und durch welche mitwirkende Ursachen sie eine solche Entwicklung veranstaltete.“ (Anthr. VII, S. 327 f. Anm.; Hv M. O.). Die Zeilen scheinen zu besagen, die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer eigenen Unfreiheit sei eine Konstanz in ihrem Gemüt. Zusammen genommen mit Kants Anschluss an Rousseau lässt diese Betrachtung sogar vermuten, dass der Mensch erst in der Gesellschaft, getrieben durch das Bewusstsein der Unfreiheit, „egoistisch“ wird. Und Kant sagt in der Tat, das Kind werde dies, sobald es eine klare Vorstellung von seinem „Ich“ bekommt (Anthr. VII, S. 127). Dieser Denkrichtung gehen wir durchgehender im Kapitel E. nach. 43 Über den Möglichkeitsgrund dieser Übertragung kommen wir unten im Kapitel D. sprechen.
VII. Beförderung der Glückseligkeit des Publikums als Kern des Politischen 67
Es ist hier wichtig, dass das Kind eine Vorstellung der Freiheit – so „dunkel“ wie sie noch im Geist des Kinds ist (S. 269 Anm.) – mit sich bringt (S. 270).44 Hingegen ist das „Gefühl der Unbehaglichkeit“ im Neugeborenen, das Kant zufolge nicht vom „körperlichen Schmerz“, sondern von einer „dunkeln Idee (oder dieser analogen Vorstellung) von Freiheit und der Hindernis [sic!] derselben, dem Unrecht“ herrührt (S. 269 Anm.), im Grunde genommen Folge der Blockierung seiner „Freiheitsneigung“. Das neu zur Welt gekommene Kind schreit also, weil es als „unrecht“ empfindet, dass es wahllos in einen Zustand der Unfreiheit hineingeworfen worden ist. Ist es nicht eben dieses Geschrei eines Neugeborenen, das in jenem „Wunsch“, von Neigungen überhaupt „gänzlich frei zu sein“, widerhallt? Und wenn die das Kind zum Schreien bewegende „Neigung“ zur äußeren Freiheit auf den Rechtsbegriff hinweist, gilt dies nicht gleichermaßen auch für jenen Wunsch? Diese Fragen sind, so scheint mir, zu bejahen. Denn sowohl der Wunsch nach Freiheit als auch die Freiheitsneigung drücken das Verlangen eines endlichen vernünftigen Wesens nach Unendlichkeit aus und der einzige Weg im diesseitigen Leben, sich als ein unendliches Wesen anzusehen, bzw. anzuerkennen, besteht in der Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung nach einem allgemeinen Gesetz. Denn dadurch ist der Mensch, zumindest dem Initiativ zur Ausrichtung seiner Existenzweise nach, nicht ein bloß endliches Wesen, d. i. keine durch ein von irgendwoher gegebenes Gesetz im Betrieb gesetzte Maschine mehr. Anders gesagt ist er dadurch etwas Anderes als ein bloß endliches Wesen. Der Mensch als ein nichtendliches Wesen lässt sich, formal logisch gesagt, ein unendliches Wesen nennen45, er ist so die einzige causa sui auf der Erde.46
VII. Beförderung der Glückseligkeit des Publikums als Kern des Politischen Diejenige Art der „Glückseligkeit“ als der „Zufriedenheit“ mit dem „ganzen Dasein“ des Selbst, wonach wir suchen, muss die mit der Existenzweise eines Selbst sein, das sich durch ein ebenso wie Naturgesetze durchgän44 „Der Einfältige Mensch hat sehr früh eine Empfindung von dem was Recht ist aber sehr spät oder gar nicht einen Begriff davon.“ (Bemerkungen XX, S. 26). 45 Das Urteil in der Form „A = non A“ lautet nach Kant „unendliches Urteil.“ Ihm zufolge zeigt ein solches Urteil nicht nur an, „dass ein Subjekt unter der Sphäre eines Prädikats nicht enthalten sei, sondern dass es außer dieses Urteils desselben in der unendlichen Sphäre irgendwo liege; folglich stellt dieses Urteil die Sphäre des Prädikats als beschränkt vor“ (Logik IX, S. 104). 46 Vgl. diejenige sehr berühmte Passage Kants in der zweiten Kritik, die mit „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt“ anfängt, um die Verwendung der Wörter wie „Unendlichkeit“ und „unendlich“ zu sehen (Kpv V, 161 f.).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
gig bestimmtes und die harmonische Koexistenz der äußeren Freiheit aller gebietendes Gesetz bestimmt. Man möchte vielleicht einwenden, weil die Selbstanerkennung des Menschen als ein noumenales Wesen nur durch die ethische Selbstgesetzgebung, d. i. die Willensbestimmung aus dem Pflichtbewusstsein geschehe, so ist es unangemessen im Bereich des Rechts darüber zu sprechen. Aber näher betrachtet trifft das Bedenken nicht zu. Ich möchte mich hier zunächst auf einen Satz von Kant beziehen, der einen Leitfaden zum Gegenargument auf die Hand legt: Kant behauptet, die „Gültigkeit“ der „angeborenen, zur Menschheit notwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte“, d. i. das Recht auf äußere Freiheit und das auf dergleichen Gleichheit, werde „durch das Prinzip der rechtlichen Verhältnisse des Menschen selbst zu höheren Wesen (wenn er sich solche denkt) bestätigt und erhoben, indem er sich nach ebendenselben Grundsätzen auch als Staatsbürger einer übersinnlichen Welt“ vorstelle (ZeF VIII, S. 350 Anm.; Hv M. O.) Diese Behauptung lässt sich folgendermaßen auslegen: Der Mensch sieht sich als „Staatsbürger einer übersinn lichen Welt“ an, wenn er sich entschließt nach denjenigen Grundsätzen zu handeln, die gegenüber der äußeren Freiheit sowie Gleichheit aller gerecht sind, und schon dadurch ist die „Gültigkeit“ dieser Rechte bewiesen, d. i. niemand darf ihn nunmehr als eine bloße Sache oder ein vernunftloses Tier behandeln, sondern jedermann muss ihm Achtung für seine Würde als ein übersinnliches Wesen durch Wort und Tat aufweisen. Und dem Menschen als einem solchen Wesen hat, hinsichtlich seiner Freiheit, selbst ein göttliches nichts voraus. Kant sagt: Was „meine Freiheit betrifft, so habe ich selbst in Ansehung der göttlichen, von mir durch bloße Vernunft erkennbaren Gesetze keine Verbindlichkeit, als nur sofern ich selber habe meine Beistimmung geben können (denn durchs Freiheitsgesetz meiner eigenen Vernunft mache ich mir allererst einen Begriff vom göttlichen Willen).“ (Ebd.; Hv M. O.) Dass der Mensch nun durch die Selbstbehauptung als ein selbstgesetz gebendes, und dem selbstgegebenen Gesetz aus freiem Stück gehorchendes Wesen47 tatsächlich eine sozusagen höhere Zufriedenheit mit seinem Dasein gewinnt, ist am Wort „Staatsbürger“ wahrzunehmen. Nach der Definition in den Vorarbeiten zum Gemeinspruch ist derjenige Bürger auch „Staatsbürger“, der sich nicht bloß über seine physische Erhaltung bekümmert, sondern vom „Boden“ unabhängig und einen gewissen „Überflus“ vom Eigentum hat, damit er etwas „zum Gemeinen Wesen beytragen“ kann (Va Gemeinspruch XXIII, S. 137). Demnach kann der „Staatsbürger einer übersinnlichen Welt“ als derjenige Mensch begriffen werden, der kraft seiner Freiheit zur gemeinsamen geistigen, bzw. sozialen Welt dadurch beiträgt, dass er ihrer möglichen gerechten Form seine freie „Beistimmung“ gibt – politisch gesprochen, durch 47 Hierzu
ausführlicher im Kapitel D.
VII. Beförderung der Glückseligkeit des Publikums als Kern des Politischen 69
„Stimmgebung“.48 Der gerechten Form des Zusammenlebens Beistimmung geben heißt nun Errichtung eines gerechten Staats sowie „Erhaltung“ des „Zustandes der Freiheit“ durch Freiheit, die Kant „salus publicum“ nennt (S. 129). Das bedeutet, der Mensch kann zugleich für das Wohl eines geistigen Wesens, d. i. des Staats, der die Gesellschaft der freien Menschen ist, sorgt, wenn er ernsthaft für seine eigene Freiheit sorgt. In diesem Sinne fungiert die wohlüberlegene, dem Staat zugrunde liegende Sorge für seine eigene Freiheit nicht nur als die für die eigene Wohlfahrt49, sondern zugleich performativ als die für die ganze Menschheit. Es ist an dieser Stelle zu bemerken, dass Kant von der „Zufriedenheit“ des Menschen mit der Verfassung, in der er lebt, zweierlei spricht. Zum einen sagt er in Gemeinspruch: „Nirgends spricht eine alle reine Vernunftprinzipien vorbeigehende Praxis mit mehr Anmaßung über Theorie ab, als in der Frage über die Erfordernisse zu einer guten Staatsverfassung. Die Ursache ist, weil eine lange bestandene gesetzliche Verfassung das Volk nach und nach an eine Regel gewöhnt, ihre Glückseligkeit sowohl als ihre Rechte nach dem Zustand zu beurteilen, in welchem alles bisher in seinem ruhigen Gang gewesen ist; nicht aber umgekehrt diesen Letzteren nach Begriffen, die ihnen von beiden durch die Vernunft an die Hand gegeben werden, zu schätzen; vielmehr jenen passiven Zustand immer doch der gefahrvollen Lage noch vorzuziehen, einen besseren zu suchen (wo dasjenige gilt, was Hippokrates den Ärzten zu beherzigen gibt: iudicum anceps, experimentum periculosum). Da nun alle lang genug bestehenden Verfassungen, sie mögen Mängel haben, welche sie wollen, hierin bei aller ihrer Verschiedenheit einerlei Resultat geben, nämlich mit der, in welcher man ist, zufrieden zu sein: So gilt, wenn auf das Volkswohl ergehen gesehen wird, eigentlich gar keine Theorie, sondern alles beruht auf einer der Erfahrung folgsamen Praxis.“ (Gemeinspruch VIII, S. 306; Hv M. O.)
Die „Zufriedenheit“ des „Volks“ mit der „lange bestandenen Verfassung“ besteht hier in der „Ruhe“, die die Verfassung ihm bisher angeboten hat. In ihr hat das Volk das Kriterium seiner „Glückseligkeit“ und des „Rechts“ auf den status quo angepasst, mit der Folge, dass es sich gar nicht mehr auf den gefahrvollen Versuch zur Reform nach Prinzipien eingehen lassen will. Kritisch gesagt hat es sich in dieser Hinsicht selber zum unmündigen, bzw. unmutigen Kind gemacht. Es hat nunmehr nichts der Sicherheit vorzuziehen. Dies gibt aber dem Regenten den Vorwand an die Hand, bei der politischen Praxis „alle reine Vernunftprinzipien“ zu umgehen. Kant spricht jedoch andernorts von einer andersartigen Zufriedenheit des Volks mit seiner Verfassung: 48 „Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus“ (RL VI, S. 313). 49 Kant sagt: „Der Staat soll [den Menschen] nur wieder Menschen sichern, die ihn in dieser eigenen Sorge für seine Glückseeligkeit hindern könnten.“ (Reflexionen XIX, S. 535).
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
„Autokratisch herrschen, und dabei doch republikanisch, d. h., im Geist des Republikanismus und nach einer Analogie mit demselben, regieren, ist das, was ein Volk mit seiner Verfassung zufrieden macht“ (Streit VII, S. 87 Anm.; Hv M. O.).
Warum dies der Fall bei dem Menschen sein soll, erklärt sich aus der unmittelbar vorausliegenden Textstelle: „Denn mit Freiheit begabtes Wesen genügt nicht der Genuss der Lebensannehmlichkeit, die ihm auch von anderen (und hier von der Regierung) zu Teil werden kann; sondern auf das Prinzip kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft. Wohlfahrt aber hat kein Prinzip, weder für den, der sie empfängt, noch der sie austeilt (der eine setzt sie hierin, der andere darin) […]. Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll also, im Bewusstsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Tier, nach dem formalen Prinzip seiner Willkür keine andere Regierung für das Volk wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses mit gesetzgebend ist“ (Streit VII, S. 87.; Hv M. O.).
Es zeigt sich hieran am deutlichsten, dass Kant denkt, auch die rechtliche Selbstgesetzgebung (hier: Mitgesetzgebung) nach dem „formalen“ Prinzip – das kann hier nichts als das apriorische Rechtsprinzip bedeuten – verschaffe dem Menschen „Zufriedenheit“ mit seinem Zustand. Ferner steht es hier im Klartext, es sei das „Bewusstsein“ seines „Vorzuges vor dem vernunftlosen Tier“, das dafür verantwortlich ist. Auf unseren Kontext angewendet heißt dies: Als Quelle der entsprechenden Zufriedenheit gilt das reflexive Bewusstsein des Menschen über die nichtendlichen Natur in sich, die er selber durch die rechtmäßige Gesetzgebung in seinen eigenen Augen zeigt. Dies halte ich für die entscheidendste Behauptung dieses Kapitels, die allen folgenden Kapiteln zugrunde gelegt wird. Sie ist in der Literatur meines Wissens kaum thematisiert. Aber ist sie um nichts minder für das Verständnis der Kantischen Politik entscheidend, weil diese Interpretationsmöglichkeit unser Augenmerk auf das Interesse des Menschen für die aktive Beteiligung an der wahren Politik lenkt: Es besteht nirgends anders als im basalen Verlangen des Menschen danach, als ein vernünftiges Wesen in dieser Welt zu existieren. Solange dieses Verlangen, wie gesehen, von der Endlichkeit selbst notwendigerweise herrührt und ihn ständig, auch wenn er sich des Grunds dafür nicht unmittelbar bewusst sein kann – denn dies setzt einen gewissen Grad von Reflexion auf sich selbst voraus –, zur Erlangung seiner Glückseligkeit bestimmt, liegt immer die Möglichkeit im Prinzip vor, dass der Mensch sich den „Mut“ fasst, gedanklich auf freiem Fuß zu gehen, d. i. zum Selbstdenken ohne die ihn leitende fremde Hand (Vormundschaft). Denn das Wofür der immer anstrengenden Mutfassung ist letztendlich nichts als die tätige eigene Freiheit.50 50 Freilich wird die Mutfassung durch die Existenz eines Despoten erschwert, zumal wenn dieser nach seiner väterlichen Denkungsart seinen Untertanen keinen Spielraum in der Regierung für diesen Mut erlaubt. Obwohl der Regent die Re-
VII. Beförderung der Glückseligkeit des Publikums als Kern des Politischen 71
Wenn man nun sieht, dass der Mensch auf die beschriebene Weise die Freiheit des Menschen im Staat durch die Ausübung seiner Freiheit fördern kann, so wäre es nur unnatürlich zu behaupten, dass der Mensch auch durch und bei der Ausübung seiner Freiheit auf diese Weise immer noch mit seinem Dasein gleichermaßen unzufrieden bleibt, wie das „kaum geborene Kind“, das nur schreien kann, um seinen Anspruch auf Freiheit auszudrücken. Hiermit erweist sich jene Aussage Kants, die eigentliche Aufgabe der Politik bestehe in der Übereinstimmung der Maximen der Politiker mit der Glückseligkeit des Publikums, als widerspruchsfrei. Der Terminus „Glückseligkeit“ hier freilich irritiert, weil er bei Kant normalerweise nichts als die bloß subjektive Lebensannehmlichkeit bedeutet, die folglich kein allgemeines Prinzip sowohl der ethischen als auch der rechtlichen Gesetzgebung abgeben kann. Jedoch ein Blick auf den dem Glücksverlangen zugrundeliegenden Wunsch nach Unendlichkeit lässt sich die formale Bestimmung der Glückseligkeit: „Zufriedenheit“ mit der eigenen Existenz, als mit der Existenz desjenigen Selbst, das seine Handlung durch das allgemeine Gesetz bestimmt, verstehen. So betrachtet hebt sich der scheinbare Widerspruch in der Behauptung auf, Glückseligkeit sei Zweck der Politik. Dieses Verständnis wird bekräftigt, wenn man ferner darauf achtet, dass Glückseligkeit an der entsprechenden Stelle als der allgemeine Zweck des „Publikums“ bezeichnet ist (ZeF VIII, S. 368). Denn „Publikum“ ist das ideal vorgestellte „weltbürgerliche Ganze“, das alle möglichen selbstdenkenden Subjekte der Aufklärung umfasst. All sie sind potenziell „Gelehrter“ qua „Philosoph“. Philosoph ist Kant zufolge derjenige, der durch „Liebe […] zu den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft“ (Opus XXI, S. 120) getrieben ist. Das legt nahe, dass das Publikum als die Gesamtmenge der möglichen Weltbürger sich seinen allgemeinen Zweck dann erreicht haben sieht, wenn all seine Mitglieder diese Liebe51 erfüllt haben. Dies formpflicht, die die rechtliche Sicherung des Raums für Redefreiheit mit einschließt, beherzigen soll, warum er dies tut, macht ein besonderes Problem aus. Problematisch ist auch, dass nach Kant der Regent für die Glückseligkeit des Publikums sorgen soll, welches eine „Tugendpflicht“ ist. Denn von ihm kann man nur hoffen, dass er dies als Tugendpflicht seinerseits aus freiem Stück leiste. Nicht zuletzt, warum Kant überhaupt von einer solchen Tugendpflicht sprechen müsste, ist nicht unmittelbar klar. All diese Probleme müssen geklärt werden. Aber verständnishalber lasse ich mich hier noch nicht auf sie ein, sondern ich setzte mich mit ihnen an der entsprechenden Stelle im Kapitel B. 51 Eine solche Liebe kann nach den folgenden Bemerkungen „vernünftige Selbstliebe“ genannt werden: „Alle Neigungen zusammen (die auch wohl in ein erträgliches System gebracht werden können, und deren Befriedigung alsdann eigene Glückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
kann, im politischen Kontext, allein durch die friedensstiftende Handlung der letzteren geschehen, deren Vollziehung als das „höchste politische Gut“ gilt. Diese formale Schlussfolgerung ist durchaus im Einklang mit unserer bisherigen Interpretation und gibt das Wesen des Politischen bei Kant erneut an die Hand: Das Politische besteht im „Übergang“ des Menschen von der bloß ihm von irgendwoher gegebenen endlichen Existenz in eine unendliche durch seine eigene Tat, im Bewusstsein über das eigene Vermögen dazu allein er mit seinem ganzen Dasein zufrieden sein kann. Denn dadurch, obwohl er dabei seine faktische Endlichkeit, in die er ohne seinen Konsens hineingeworfen ist, nicht verlassen kann, so verschafft er sich selbst durch seine Freiheit einen Zustand, in dem er seiner Würde als ein freies Wesen gemäß existiert, d. i. wie er immer schon eigentlich existieren wollte. Kurz: Das Politische bei Kant ist die selbstbewirkte Wiedergeburt52 in eine Welt, die er wiederum selber entwirft und er allein als das einzige vernünftige Erdwesen entwerfen kann.53 (philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst (arogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel. Die reine praktische Vernunft tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetz in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetz einschränkt; da sie alsdann vernünftige Selbstliebe genannt wird.“ (KpV V, 73). 52 Shell bemerkt, dass Herder, Kants ehemaliger Schüler, Kants Idee der Geschichte gegenüber gemeint hat, dieser habe versucht sich selbst zu gebären, indem er sich einen vernünftigen Grund für die Existenz der Menschheit in der Erscheinungswelt einbildete. Sie weist hierzu auf Herder, S. 220 f.; S. 226 f. hin (Shell, S. 189). Auch die folgenden Sätze treffen für den Gedanken zu: „Sowenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sich entspringt, sowenig ist er im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgeborener“, sowie: „Wo und wer du geboren bist, o Mensch, da bist du, der du sein solltest; verlass die Kette nicht, noch setze dich über sie hinaus, sondern schlinge dich an sie!“ (Herder, S. 225; S. 228) Zum Verhältnis von Kant zu Herder s. auch Zammito; Kühn, S. 339–345. 53 Rawls scheint sich dieses bewusst zu sein, wenn er sagt: „Mir scheint [I believe], nach Kant handelt jemand autonom, wenn er die Grundsätze seiner Handlung als bestmöglichen Ausdruck seiner Natur als eines freien und gleichen Vernunftwesens gewählt hat, nicht wegen seiner gesellschaftlichen Stellung oder seiner natürlichen Gaben oder wegen der Eigenart seiner Gesellschaft oder wegen seiner zufälligen Wünsche“ (Rawls (1979), S. 284 [ders. (1971), S. 252]; Hv M. O.), sowie; der „Wunsch, gerecht zu handeln, [leitet sich] von dem Wunsch her, möglichst vollständig das auszudrücken, was wir sind oder sein können, nämlich freie und gleiche vernünftige Wesen mit Wahlfreiheit.“ (288 [256]; Hv M. O.) Wenn Rawls sich hierbei in der Tat auf das oben genannte Streben nach der Unendlichkeit beziehen wollte – was sich wegen des wiederholten „I believe“ kaum feststellen lässt –, so können wir mit gutem Grund behaupten, dass die Politik bei Rawls im Grunde genommen nicht bloß als das Mittel zum Zweck, nämlich der Erreichung vom jedem unterschiedlich vorgestellten Guten, sondern auch als solche Praxis begriffen werden kann, die wegen der Natur des Menschen ihm obliegt auszuführen und ihn erst zum
VIII. Öffentlichkeit oder der Ort des Politischen73
Dementsprechend erweist sich die eigentliche Aufgabe der Politik als die Weg-Schaffung zum Selbstwerden des Menschen. Nachdem wir dies begriffen haben, sind wir aufgefordert zu betrachten, wie Kant diesen Weg an visiert. Wir wollen im Folgenden sehen, welche Methode der „a priori erkennbaren Politik“ er darstellt.
VIII. Öffentlichkeit oder der Ort des Politischen Der ideale Rechtszustand ist eben der Zustand, wo jedem sein apriorisches Recht, nach seiner eigenen „Glückseligkeit“ gemäß je eigener Vorstellung davon zu streben durch Zwangsgesetze gegen alle ungerechte Gewalt gesichert wird. Das „höchste politische Gut“ besteht in der Erreichung dieses Zustands. Politische Philosophie muss folglich zeigen, wie der Mensch als Träger dieses Zwecks sich an diesem interessiert, damit die Theorie (Rechtslehre) in Praxis (Politik) in der Erscheinungswelt übergeht. Dabei muss sie durch und durch darauf bedacht sei, den Menschen nicht bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck zu behandeln. Es mag prima facie so scheinen, dass die Antwort sehr einfach sei, wenn man die folgende Formel Kants liest: „»Trachtet allererst nach dem Reich der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen.« Denn das hat die Moral Eigentümliche an sich, und zwar in Ansehung ihrer Grundsätze des öffentlichen Rechts (mithin in Beziehung auf eine a priori erkennbare Politik), dass, je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem Vorteil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im allgemeinen zusammenstimmt“ (ZeF VIII, S. 378; Hv M. O.). Indem man von jeglichen Zwecken abstrahiert und nach dem apriorischen Rechtsprinzip allein handelt, wird der Frieden ohne weiteres zustande kommen. Dieser Weg scheint in der Tat einfach nur insofern, als man die Grundvoraussetzung der menschlichen Natur und so die der wirklichen Politik vergisst, nämlich; dass der Mensch zumeist aus der wesensgemäß parteilichen Selbstliebe handelt. In der politischen Grammatik Kants heißt dies Handeln nach „Staatsklugheit“, wogegen das nach dem Rechtsprinzip Handeln nach „Staatsweisheit“. Und es ist nämlich Aufgabe der Politischen Philosophie Kants zu zeigen, wie die Menschen im emphatischen Sinne macht, d. i. zum endlichen, aber zugleich vernünftigen Wesen. Diese Annahme kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit höchstens nur ein bloßer Interpretationsvorschlag bleiben. Jedoch wäre es in der heutigen Diskussion im Feld der normativen politischen Theorie nicht ohne Wert, wenn wir Rawls’ Blick auf die existenzielle Bedeutung der Politik sorgfältig zu beleuchten versuchen, um über die plane Alternative „Liberalismus oder / gegen Kommunitarismus“ dadurch hinausgehen zu können.
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
letztere gegenüber der ersteren in Praxis vorgezogen werden kann.54 Theoretisch gesprochen ist zwar die Abstraktion von der Staatsklugheit der einfachste Weg. Aber dass dies sich ohne irgendeine politische Maßnahme gar nicht erwarten lässt, ist offensichtlich. Es ist nichts anderes als jenes „transzendentale Prinzip des öffentlichen Rechts“, das die Lösung dieses Problems anbietet. Denn die Beseitigung aller Zwecke und das Berufen auf den allgemeinen Zweck des Menschen sind der Folge nach einerlei. Sie lautet nämlich; Einsicht in die Bedingung der friedlichen Koexistenz des Glücksstrebens aller nach einem apriorischen Gesetz. Anders gesagt sind die Maximen einerseits, die durch Abstraktion von jedweden Zwecken eingesehen werden, und die andererseits, die mit der Glückseligkeit des Publikums übereinstimmen, ein und dieselbe. Ist der ideale Rechtszustand als Zweck der Rechtslehre eben der Zustand, wo jeder nach eigener Glücksvorstellung seine Glückseligkeit anstreben kann, so hat die jegliche Zwecke ignorierende Handlung eine Welt zur Folge, wo jedem das Recht auf Glückseligkeit wirkungsmächtig gesichert wird. Und weil dieses angestrebte Ergebnis, solange jeder nach Glück strebt und diesen subjektiven Zweck nicht verfehlen will, für alle a priori wünschenswert ist, so gehört es zur Lösung der Wie-Frage bezüglich der Ausübung der Rechtslehre, für die Verwirklichung ihres Zwecks dem Publikum als einem Ganzen nachzufragen, ob die Maximen der politischen Funktionäre mit seinem „allgemeinen Zweck“, der „Glückseligkeit“ zusammenstimmen. Das bedeutet; ob sie nicht die Glückseligkeit aller nach einem möglichen allgemeinen Gesetz unmöglich machen. Daher beruft sich Kant, trotz seiner Empfehlung der Abstraktion aller Zwecke, auf das Privatinteresse des Menschen. Dies erklärt die Implikation vom transzendentalen Prinzip des öffentlichen Rechts sowie daran erkennbare Strategie Kants hinsichtlich der Ausübung der Rechtslehre. Um Kants Absicht in diesem Prinzip hervorzuheben, können wir ausführen: Die „eigentliche“ Aufgabe der Politik bestehe in der Übereinstimmung der Maximen der politischen Funktionäre mit dem „allgemeinen“ Zweck des Publikums, weil, das an den Glücksvorstellungen aller, was jeder als die minimale Möglichkeitsbedingung der allgemeinen Koexistenz des Glücksstrebens aller anerkennen und das Recht worauf jedem zuerkennen soll, im Begriff des idealen Rechtszustands enthalten ist. Kant beruft sich auf die Glückseligkeit des Publikums als eines Ganzen für die werktätige Ausführung der Rechtslehre, weil er überzeugt ist, dass die kollektive Reflexion über die Bedeutung des Zwecks der Rechtslehre in Bezug auf die individuelle Glückseligkeit zur allgemeinen Anerkennung dieses Zwecks führe. Ferner 54 „Politik ist […] Staatsklugheit unter der Leitung der Staatsweisheit.“ (Gerhardt (1995), S. 184).
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steht das auf diese Absicht hin gestellte Prinzip des öffentlichen Rechts einerseits durchaus im Einklang mit der Eigentümlichkeit des Rechts – d. i. der Indifferenz gegenüber dem Inneren des Menschen bei der rechtskonformen Handlung; andererseits behandelt Kant die Bürger bei der Aufforderung, dass sie die Maxime der Politiker zunächst am Kriterium „Glückseligkeit“ beurteilen, nicht nur als Mittel zum Zweck der Rechtslehre, sondern zugleich als Zweck, da er dadurch seine Bereitschaft erklärt, ihren Zweck auch als dem seinigen entsprechend anzuerkennen. Daher kann Kants politische Strategie als rechtlich erlaubt angesehen werden. Hieraus leuchtet ein, dass das „Politische“ bei Kant einerseits hinsichtlich des Zwecks nichts mehr als das enthält, was in der Rechtslehre vorliegt, andererseits jedoch für dessen Realisierung über sie hinaus geht.55 Genau aufgrund dieses Aspekts ist die Politik als die „ausübende Rechtslehre“ mehr als eine bloße Anwendung des Rechtsprinzips auf die jeweilige gesellschaftliche Lage. Und mit „mehr“ meine ich mehr an Bedeutung der politischen Handlung für jede Individuen. Denn, wenn Politik bloß in der Anwendung des Rechtsprinzip bestünde, so bräuchte man nicht einmal das in Erwägung zu ziehen, was die Erlassung jeglicher a priori rechtskonformen Zwangsgesetze für die Untertanen bedeutet. Man könnte erwidern, die Annahme einer solchen Anwendung sei von vornherein ausgeschlossen, da das überpositive Rechtsprinzip der Materie nach inhaltsleer und folglich kein positives Gesetz direkt aus sich selbst ableiten lasse. Aber diese Behauptung betrifft gerade meinen Punkt. Es klafft nämlich ein Abgrund zwischen dem überpositiven Rechtsprinzip und der positiven Gesetzgebung nach ihm auf, welcher die Reflexion über den 55 In diesem Zusammenhang ist Katers folgende Bemerkung ganz richtig: „Der Philosophie des Rechts ist es […] vorbehalten, die Begriffe begründend darzulegen, die dem Politischen je schon zugrunde liegen. Entsprechend werden in der Rechtsphilosophie die Grundlagen der politischen Philosophie formuliert. Wird dieser Sachverhalt übersehen, läuft man Gefahr, in der Analyse einen grundlegenden Kategorienfehlre zu begehen. Das aber heißt nicht, dass die politische Philosophie in der Rechtsphilosophie aufgehoben wird. Ihr kommt zwar auf der Ebene der Begründung der zentralen Begriffe die grundlegendere Funktion zu, ist aber zugleich nicht in der Lage, das originär Politische zu explizieren. Das heißt zugleich, zentrale Gegenstände der Philosophie des Rechts weisen über diese hinaus auf die Philosophie des Politischen, ohne dass man deswegen alles unter dem Begriff „politisch“ zusammenfassen kann.“ (Kater, S. 19) Jedoch, da seine Studie zur „Einheit“ der Politischen Philosophie Kants hauptsächlich, und zwar mit Recht, dem systematischen Verhältnis der Politik, des Rechts und der Geschichte zueinander gewidmet ist, lässt er sich nicht eigens auf die motivationale Dynamik des Rechtsfortschritts im Menschen ein. Das besagt allerdings nicht, dass die vorliegende Untersuchung mit dergleichen systematischen Rekonstruktion unvereinbar ist, sondern halte ich sie als ein Ergänzungsstuck zu einem solchen Versuch.
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
Geltungsgrund jedweder positiven Gesetze mit dem Rechtsprinzip übereinstimmen zu lassen notwendig macht.56 Dass Kant aber in der Zusammenstimmung der Maximen der Politiker, welche als ihre subjektiven Gründe bzw. Grundsätze57 für die Gesetzgebung sowie Anwendung des Gesetzes gelten, mit nichts anderem als der Glückseligkeit des Publikums die Garantie der Übereinstimmung des subjektiven Grunds der positiven Gesetzgebung mit dem Rechtsprinzip sieht, scheint außer der soeben vorgeschlagenen Interpretation noch einer weiteren Rechtfertigung zu bedürfen. Denn, auch wenn man zulässt, dass sich die gerechte politische Maxime in der Zusammenstimmung der politischen Maximen mit der allgemeinen Glückseligkeit offenbart, ist dies noch kein hinreichender Grund, warum die Bürger überhaupt den Anfang machen möchten an diesem kollektiven Reflexionsprozess zu beteiligen. Und es war kein anderer als Kant selbst, der sagt, dass man „Mut“ fassen muss, um ein an der öffentlichen Kritik als frei Denkender zu beteiligen, und dass es „bequem“ ist, unmutig bzw. „unmündig“ zu bleiben (WiA VIII, S. 35). Die Antwort, wie ich glaube, liegt schon in der bisherigen Betrachtung. Der Mensch interessiert sich dafür, selber erneut den Gang des Staats zum Frieden zu dynamisieren, weil dieses Interesse mit seinem grundlegenden Wunsch nach Unendlichkeit eng verbunden ist. Er mag zwar am gemeinsamen Reflexionsprozess zunächst aus dem parteilichen Selbstinteresse teilnehmen, was durchaus rechtlich erlaubt ist. Aber indem er dadurch langsam einsieht, dass sein Wunsch im Friedenszustand am besten erfüllt wird, so ist er imstande, ihn selbst auf Kosten der uneingeschränkten äußeren Freiheit als wünschenswert anzusehen. Er ist damit in eine Position versetzt, all seine Mitmenschen zu überzeugen, dass sie zumindest äußerlich nach einer Maxime handeln sollen, durch deren Verallgemeinerung der Frieden zustande kommt. Wie dies immer unbequem auch sein möchte, so würde das Bewusstsein ihn zur Fortsetzung ermuntern, dass er durch seine Freiheit und aus der Sorge für seine eigene Freiheit, d. i. von keinem Fremden gezwungen zu sein, so mit Seinesgleichen zusammenarbeiten kann. Gerhardt bezieht sich zu Recht auf die Idee der „Publizität“ Kants, um diese als das „Medium“ auszudeuten, worüber die gemeinsame Vorstellung von dem verschafft werden kann, was von allen als begehrenswert anerkannt werden kann. Es trifft auch zu, dass „ein vernünftiges Selbst“ für die Suche nach dem allgemeinen Wert verantwortlich ist.58 Diese Bemerkung 56 „Sowenig das Moralprinzip Kants als Quell eines positiven Pflichtenkatalog dienen kann, sowenig lässt sich aus der vernunftrechtlichen Gerechtigkeitsnorm des Vertrags ein geschlossenes Gesetzessystem herausrinnen.“ (Kersting, S. 275). 57 Dazu s. Höffe (2007), S. 191–193; ders. (2012), S. 121 ff. 58 Gerhardt (1995), S. 211.
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macht darauf aufmerksam, dass die Kantische Politik wesensmäßig mit der Öffentlichkeit verbunden ist. Es reicht jedoch nicht aus, das bloße „Streben nach sinnlicher Befriedigung und [der] Hoffnung auf Glück“59 als den Motor der Politik anzusehen. Was wir darüber hinaus zu betonen haben ist der Inhalt des Glücks, nämlich; dass die Menschen schon inmitten des Prozesses der Vermittlung, des Umtauschs, und der Ausgleichung ihrer Meinung imstande sind, sich als glücklich anzusehen. Denn, wenn ihm das Recht auf freie Meinungsäußerung zuerkannt ist, so ist er im Prinzip gerechtfertigt, sich mit anderen in dieser Hinsicht ebenso freien Mitmenschen über den allgemeinen Wert zu kommunizieren, ohne durch fremden Willen zur Zustimmung zu irgendwelcher fremden Meinung gezwungen zu sein. Nach dieser Betrachtungsweise lebt der Mensch zugleich vorweg in dem nachgestrebten Friedenszustand als Weltbürger, wenn er mit anderen freien Menschen über den möglichen Weg dazu kommuniziert.
IX. Zusammenfassung und Ausblick Durch die Analyse dieses Kapitels lässt sich die Bedeutung des Politischen bei Kant erneut zusammenfassen: „Politisch“ ist dasjenige Handeln, wozu der Mensch aufgrund seiner immer schon angefangenen Existenz auf der Erde verpflichtet ist und wodurch er seine Würde ausdrückt, der Pflicht zur Stiftung des Friedens gemäß existieren zu können. Insofern entspricht das Politische dem tiefsten Interesse der Menschheit in der Person jedes Menschen, sich nicht bloß als eine „Sache“ unter anderen, sondern als Mitglied solcher Gattung zu betrachten und tatsächlich darzustellen, deren Wesen in „Freiheit“ besteht. Um also wahrhaft Politisch zu handeln, reicht es nicht aus, lediglich rechtskonform zu handeln, sondern muss man darüber hinaus selber die Verantwortung gegenüber der Menschheit sowohl in sich wie in allen anderen übernehmen, durch Wort und Tat den Friedenszustand möglichst näher zu bringen, in dem allein jeder Mensch seine Freiheit in Harmonie mit der aller anderen zusammen bestehen lassen kann. Daraus leuchtet ein weiteres Wesensmerkmal des Politischen ein: Da es von der Überlegung über die friedensstiftende Praxis verlangt wird zu klären, wie die Ausübung der Rechtslehre in dieser Welt möglich ist, muss das Politische Handeln auf solche Weise strategisch sein, wie es rechtsmoralisch zulässig ist. Da der nach Frieden orientierte Rechtsfortschritt zu jedem gegebenen Zeitpunkt je schon am Gang gesetzt ist, so muss man jeweils die aktuelle Gesellschaftslage mit Blick auf die herbeizuführende ideale Zukunft beurteilen können. Ein jeder muss nämlich „im Namen seiner Person“ als ein „Gelehrter“, d. i. ein „Philosoph“ im Interesse der ganzen Menschheit, öffent59 Gerhardt
(1995), S. 208.
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
lich beurteilen können, was im aktuellen Zustand für den Frieden zu tun sei und was vermieden werden solle, damit er nicht rückgängig werde. Weil nun solche öffentlichen Urteile allen zugänglich und für ihre Verbesserung gegenüber der freien Kritik offen sein müssen, damit die gemeinsamen Urteile allgemein zustimmungsfähig werden, ist die kritische Öffentlichkeit unverzichtbar. Überdies ist es für die Stiftung des Friedens unabdingbar, der im Interesse aller Menschen steht, dass sich der politische Körper tatsächlich am in der kritischen Öffentlichkeit gebildeten Urteil orientiert. Die Dynamik, die eine solche Öffentlichkeit ständig ins Werk setzen soll, besteht nirgends als im Interesse des Menschen für seine eigene werktätige Freiheit. Anders gesagt, und das ist die Hauptbehauptung dieses Kapitels, ist es die Reflexion des Menschen über die Bedeutung des Freiheitsgebrauchs nach Rechtsprinzipien, dass er sich durch diesen, als Gesetzgeber qua Urheber einer möglichen gerechten Welt betrachtet, freier macht als durch die uneingeschränkte Freiheit im Naturzustand. Diese Reflexion fungiert als der Motor der moralischen Politik. Das Bewusstsein über die eigene, durch den rechtmäßigen, wiederum eigenen Freiheitsgebrauch geförderte Freiheit ist es, das Kant den Menschen selber erreichen sehen möchte, wenn er ihn zum Selbstdenken durch die explizite Formulierung einlädt, Glückseligkeit sei die eigentliche Aufgabe der Politik. Um diese Pointe nochmals zu verdeutlichen und zugleich die Perspektive für unsere weitere Untersuchung zu erschließen, schenken wir einer Bemerkung Kants aus Streit der Fakultäten unser Gehör: „Warum hat es noch nie ein Herrscher gewagt, frei herauszusagen, dass er gar kein Recht des Volks gegen ihn anerkenne; dass dieses seine Glückseligkeit bloß der Wohltätigkeit einer Regierung, die diese ihm angedeihen lässt, verdanke, und alle Anmaßung des Untertans zu einem Recht gegen dieselbe (weil diese den Begriff eines erlaubten Widerstand in sich enthält) ungereimt, ja gar strafbar sei?“ (Streit VII, S. 86 f. Anm.)
Kants Antwort lautet: Weil ein solches Wagnis „alle Untertanen gegen [den Herrscher] empören würde“ (S. 87 Anm.). Entscheidend für uns ist hier die Begründung dieser Antwort, die wir bereits oben gesehen haben: „Denn mit Freiheit begabtes Wesen genügt nicht der Genuss der Lebensannehmlichkeit, die ihm auch von anderen (und hier von der Regierung) zu Teil werden kann; sondern auf das Prinzip kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft. Wohlfahrt aber hat kein Prinzip, weder für den, der sie empfängt, noch der sie austeilt (der eine setzt sie hierin, der andere darin); weil es dabei auf das Materiale des Willens ankommt, welches empirisch, und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist. Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll also, im Bewusstsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Tier, nach dem formalen Prinzip seiner Willkür keine andere Regierung für das Volk wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses mit gesetzgebend ist“ (Streit VII, S. 87.; Hv M. O.).
IX. Zusammenfassung und Ausblick79
Es reicht für Menschen nicht aus, dass irgendjemand ihm „Lebensannehmlichkeit“ entgegenbringt. Denn in einem solchen Zustand der bloßen Passivität muss ihm die Vorstellung seiner eigenen Freiheit samt seinem „Bewusstsein seines Vorzuges60 vor dem vernunftlosen Tier“ fraglich werden. Dagegen muss jeder Mensch als mit Vernunft begabtes Wesen selber entscheiden sollen und können, an dem der Vernunft immanenten „Prinzip“ sich auf dem Weg zu seiner Glückseligkeit als Selbstwerden zu orientieren. Daher verlangt er nach einer Regierung, in der er „mit gesetzgebend“ und somit Urheber, causa sui, seines frei handelnden Selbst sowie des Staats sein kann. Solange er unter dergleichen Regierung als Gesetzgeber existiert, so ist er in der Lage, mit seinem eigenen Zustand zufrieden zu sein. Daher sagt Kant explizit: „Autokratisch herrschen, und dabei doch republikanisch, d. h., im Geist des Republikanismus und nach einer Analogie mit demselben, regieren, ist das, was ein Volk mit seiner Verfassung zufrieden macht“ (ebd.; Hv M. O.). „Autokratie“ hat hier nichts zu tun mit Despotismus, sondern ist Titel für die „Staatsform“, wo „Einer im Staat über alle anderen“ gebietet (RL VI, S. 338). D. h. sie betrifft lediglich die Anzahl dessen, der die „vollziehende Gewalt“ (S. 313) rechtlich besitzt. Dagegen betrifft „Republikanismus“ die Regierungsart, welche „allein die Freiheit zum Prinzip“ macht. Republik ist „ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.“ (S. 340 f.)61 In ihr besorgen die Menschen ihre Rechte, also ihre Freiheiten, kraft der Freiheit, wobei der Autokrat alles allein um der Sicherung und Entfaltung der Freiheit willen gebieten soll. Zur Zusammenfassung können wir sagen: Die Welt, die Kant durch wahrhaft politische Handeln realisiert sehen will, ist ein Zustand, innerhalb dessen der Mensch sich als dazu fähig fühlen kann, das immer schon gewollte Selbst zu sein. Mit einem solchen Zustand sowie der eigenen „Existenz“ in ihm ist der Mensch in dem Maße zufrieden, wie er sich als Urheber dieses Selbst betrachten kann. Dieser Zustand lässt sich demnach als einen Ort darstellen, in dem der Mensch sich selbst inmitten seiner körperlichen Existenz erneut gebärt, aber dieses mal als das eigentliche Selbst. Denn nur insofern kann der Mensch mit seiner Existenz zufrieden sein, als er seine eigene Existenz dem idealen Selbstbild gemäß aufs Neue zur Welt gebracht hat. Nur so kann jene Aufgabe der Politik gemäß der praktischen Vernunft erfüllt werden, die verlangt, mit sich selbst einig zu sein. Anders Anfang VIII, 112. dieser Behauptung Kants bezeichnet Kersting die Kantische vollkommene Republik als eine „parlamentarische Demokratie“ (Kersting, S. 337). 60 Vgl.
61 Aufgrund
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B. Glückseligkeit durch Politik oder der Weg zum eigentlichen Selbst
formuliert lässt die Kantische Politik jene am Geschrei des Neugeborenen vernehmbare Stimme: „Lass mich raus!“ mit derjenigen übereinstimmen, die längst vor seiner Kritischen Phase, anlässlich der Begegnung mit Rousseau, in einem unveröffentlichten Privatnotiz Kants niedergeschlagen wurde: „Ich habe gar nicht den Ehrgeiz ein Seraph seyn zu wollen mein stolz ist nur dieser daß ich ein Mensch sey“ (Bemerkungen XX, S. 47). Diese letztere Stimme weist auf eine andere Stelle in demselben Notiz hin, die ihrerseits Kants Absicht in seiner späteren Kritischen Phase verrät62: „Wen es irgend eine Wissenschaft giebt deren der Mensch bedarf so ist es die so ihn lehret die Stelle geziemend zu erfüllen welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist und aus der er lernen kan was seyn muß um ein Mensch zu seyn.“ (S. 45) Kants Politische Philosophie, die wir in diesem Kapitel skizziert haben, entspricht diesem Entwurf einer Wissenschaft, da sie den Menschen lehrt, wie er in dieser Welt ein Mensch, d. i. das einzige freie Wesen auf der Erde, sein kann und soll, damit er die Leerstelle in der Schöpfung erfüllt. Denn, indem er als causa sui eines gerechten Staats existiert, verschafft er eine moralische „Person“ von sich selbst im doppelten Sinne in der Welt, die zum Zweck „Frieden“ fortschreitet, der nach Kant auch als Zweck der Natur angesehen werden soll: Der Staat ist einerseits die Person des Menschen selbst, weil er eine Körperschaft ist, der sich nach dem Willen des Menschen bewegt; andererseits ist er die durch menschlichen Willen zustande gebrachte Gebärmutter des Menschen selbst in dem Sinne, dass erst durch seine Existenz dem Menschen seine angeborene rechtliche Freiheit statutarisch gesichert wird, als ob der Mensch sich im Staat durch seinen eigenen Willen ein neues, rechtmäßiges Leben gäbe.63 Das bios politikos des Menschen bei Kant besteht in diesem selbst bewirkten Geburtsakt. Aufgrund der 62 Seit seiner Begegnung mit Rousseau, sagt Ameriks in einer seiner jüngsten Studien zu Kant, „Kant’s main aim throughout was to show that what modern human beings have come to need above all is to be taught how to return to their pure moral vocation by reevaluating their fascination with the arts and sciences.“ (Ameriks (2012), S. 34) Diese Einsicht ist für unsere Rekonstruktion der Kantischen Politik als die geistige Neugeburt des Menschen anschlaggebend. 63 Kant vergleicht die „Republik“ mit „Mutter“ (RL VI, S. 343). Was darüber hinaus für unsere Interpretation noch entscheidender ist die Tatsache, dass er für sie auch den Ausdruck „mütterlichen Schoß“ (Gemeinspruch VIII, S. 291) verwendet. Es ist demnach nicht widersprechend zu sagen, dass die Republik qua Mutter ihre Kinder durch den Willen von Kindern selbst gebärt. So betrachtet ist die Republik bei Kant ebenso eine Person wie ein Ort, in dem sie sich selbst sowie den Menschen immer neu zur Welt bringt. In diesem Zusammenhag hat Shell Recht, wenn sie sagt: „The Rechtsstaat, or the intelligible world externally conceived, is described by Kant as a new „womb“, where all the inlaid human talents and dispositions squandered by nature can at last find the nurture that will permit them fully to develop.“ (Shell, S. 7).
IX. Zusammenfassung und Ausblick81
Möglichkeit einer solchen Existenzweise kann der Mensch, so lehrt Kants Politische Philosophie, auf sich „stolz“, d. i. „mit seinem eigenen Dasein“ zufrieden sein. Zum Schluss merke ich nur noch Eines an: Das Gefühl „Elend“, das wir wiederholt als das desjenigen Menschen bezeichnet gesehen haben, der sich dadurch als ein bloßes Tier fühlt, dass ihm seine Freiheit zur Selbstbestimmung vom Fremden abgesagt wird, bedeutet laut Kant „in der altdeutschen Sprache“ „Ausland überhaupt“, womit er im Kontext Exil meint (RL VI, S. 338). Das erinnert uns, wie mir scheint, an jenen alten Griechischen Gedanken, derjenige sei ein Tier oder Gott, der außerhalb von Polis lebt.64 Ich glaube, man dürfte sagen, dass der Gedanke in der Menschheit bei Kant noch atmet, dass der Mensch nur insofern im eigentlichen Sinne als Mensch existiert, als er inter homines im Staat lebt, und zwar so, dass er da als freier Bürger seiner Menschheit durch vernunftgemäße Ausübung seiner Freiheit Ausdruck gibt. Damit ist der Ausgangspunkt zum systematischen Verständnis der Kantischen Politik gewonnen. Als Nächstes wollen wir detaillierter sehen, wie Kant sich es vorstellt, wie der Staat durch politische Handlung des Menschen allmählich eine republikanische Form annimmt. Wir werden sehen, dass dieser Prozess sich als zu dem der Selbstaufklärung des Menschen analog begreifen lässt.
64 Aristoteles
Politik, I-3 1253a.
C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung I. Ein Blick in das Gemüt des gemeinen Menschen Politik bei Kant ist der Weg zum eigentlichen Selbst des Menschen. Das politische Handeln ist dementsprechend das selbstbewirkte Zur-Welt-Kommen des eigentlichen Selbst in die Republik hinein. Das sind die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung in nuce. Der Grundstein ist aber immer noch nicht fest genug, der das Gebäude „Politische Philosophie Kants“ unterstützen soll, deren (Re-)Konstruktion den Zweck dieser Untersuchung ausmacht. Überdies ist die Form des Gebäudes selbst, nämlich die „Republik“, wo das zoon politikon bei Kant wohnen soll, bislang weitgehend undeutlich. Aber unser Denken muss hier trotzdem etwas gebremst werden, um ab jetzt langsamer und sorgfältiger fortzuschreiten, bis wir so gut wie möglich den Grundstein, den Menschen bei Kant selbst kennengelernt haben. Es obliegt uns nämlich, mit Sorgfalt zu untersuchen, welche besonderen geistigen Charakteristiken der Mensch bei Kant hat und wie viel er zu tragen vermag, d. i. ob er wirklich die Aufgabe „Frieden durch Recht“ ertragen kann. Dies brauchen wir zu erläutern, um nicht nur zu begreifen, wie aus der Natur des Menschen die Pflicht zur Friedensstiftung durch Rechtsfortschritt herausfließt und ihm verschuldet wird, sondern auch, wie er so weit kommen kann, dass er diese Pflicht als seine eigene anerkennt und sich bereit fühlt, nicht ganz ungern sie zu befolgen. Bevor wir aber vorschnell anfangen, darauf das „erhabene“ Gebäude zu rekonstruieren, dessen Größe sich durch meine gemeine (common) Einbildungskraft nicht einmal mit einem Blick „zusammenfassen“ lässt. Es kann trotzdem nach Kant selbst ein gemeiner Mensch anlässlich des Scheiterns an der „Zusammenfassung“ einer übermäßigen Größe auf sich zurückgeworfen werden, wodurch er sich der „Unendlichkeit“ seines Vernunftvermögens bewusst wird. Ferner ist es durch das Scheitern an dem Versuch, einen keine feste Form annehmenden Gegenstand1 zusammenzufassen, die einen 1 Dergleichen sind: „Kühne, überhängende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen genherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen
I. Ein Blick in das Gemüt des gemeinen Menschen
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übersinnlichen Willen hinter sich ahnen lässt, dass sich dem Menschen seine Bestimmung als ein unendliches Wesen offenbart. Eine solche Bewegung stößt den Menschen zwar ab und doch zieht sie ihn ständig an.2 Und nach Kant war es ein in Hauptzügen ihr ähnliches, sich bewegendes Wesen3, nämlich der in seinem Nachbarland Frankreich erschienene, sich republikanisierende Staat4, der das Publikum, um das zu sein nichts als den gemeinen Verstand nötig ist, beinahe enthusiastisch gemacht und überzeugt hat, dass die Menschheit zum Guten immer weiter fortschreite, dass sie ihre Anlage dazu in dieser Welt langsam, aber doch eines Tages völlig aufkeimen lasse.5 Bestimmen wir unsere Denkrichtung in diesem Kapitel durch diese Darstellung von Kant, so bietet sich das an, was wir hier zu erläutern haben, um die theoretische Basis dieser Untersuchung fester zu machen: die Gemütsbewegung des „gemeinen“ Menschen in der Gesellschaft mit Blick darauf, wie er sich zum Selbstdenken sowie zur Selbstbestimmung nach dem apriorischen Rechtsgesetz entschließe. Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass das grundlegende Interesse des Menschen an seiner eigenen Selbstständigkeit die Dynamik der moralischen Politik ausmacht. Aufgabe des bevorstehenden Kapitels besteht darin, den Sachverhalt dieses Interesses noch deutlicher zu machen als bisher. Dieser wird sich dadurch heller darstellen, dass wir mehrere Darstellungen Kants von der Stimmung des Menschen sich gegenüber in Hinblick darauf analysieren, welches Grundverlangen des Menschen sie verrät. Wir werden Verwüstung, der grenzlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl.“ (KU V, S. 261). 2 Der hier geschilderten Gemütsbewegung des Menschen liegt die Darstellung in der „Analytik des Erhabenen“ in der Kritik der Urteilskraft (vgl. KU V, S. 244 ff.; aber vornehmlich 260–264) zugrunde. 3 Kant sagt: „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine, denn die hat lediglich bewegende Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert), also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanismus) nicht erklärt werden kann.“ (KU V, S. 374). 4 „Man kann umgekehrt einer gewissen Verbindung, die aber auch mehr in der Idee als in der Wirklichkeit angetroffen wird, durch eine Analogie mit den genannten unmittelbaren Naturzwecken Licht geben. So hat man sich bei einer neuerlichen unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und Funktion nach bestimmt sein.“ (KU V, S. 375 Anm.). 5 Die Logik des Rechtsfortschritts bei Kant wird in III. 8 f. detaillierter diskutiert.
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
feststellen, dass die Darstellungen gemeinsam auf das basale, von dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit herrührenden Verlangen des Menschen danach hinweisen, als ein unendliches, sich durchgängig durch Freiheitsgesetze bestimmendes Wesen zu existieren. Daraufhin werden wir Kants Idee der Reformpolitik aus der Sicht des Menschen selbst betrachten, um sie als die dem genannten Verlangen angemessene, für seine Erfüllung sorgende Praxis zu begreifen. Für den Argumentationsgang habe ich in diesem Kapitel (besonders in C. II. f.), muss ich einräumen, eine etwas ungewöhnliche Interpretationssprache gepflegt. Ich habe hier nämlich mitfühlende, bzw. -leidende Ausdrücke gebraucht, die ich als dafür angemessen fand, mit den von Kant geschilderten menschlichen Gemütsbewegungen zu sympathisieren. Ich halte dies aber als durch die Sache berechtigt. Denn, obwohl es naheliegt, dass das basale Interesse des Menschen an der eigenen Freiheit den Grundton der Kantischen Philosophie ausmacht, liegt es aber nicht auf der Hand, dass dieser auch an mehreren kleinen, anscheinend nicht bedeutsamen Aussagen Kants vernehmbar ist, auf die wir uns in diesem Kapitel aufmerksam machen.6 Um den Zusammenhang zwischen den Aussagen einerseits und dem grundlegenden Interesse andererseits erst recht zu begreifen, so scheint mir, müssen wir eine Sprache entwickeln, die ermöglicht, die beiden Seiten auf einer gemeinsamen Ebene aufeinander verweisen zu lassen. Gelingt dies uns einmal, so erhöht sich die Möglichkeit, die Kants Philosophie durchschießende Stimmung – das äußerst starke, daher manchmal für den Menschen selbst unerträgliche Verlangen nach der Unendlichkeit – uns Menschen nachvollziehbarer zu machen.7 6 Das will natürlich nicht sagen, alle Aussagen Kants seien Widerhalle des genannten Grundtons, welches zu behaupten „dumm“ wäre (vgl. A 134 / B 172 Anm.). 7 Dass bei Kant der Mensch, wie wir sehen werden, durch die Vorstellung in ihm auf die Zukunft hin ausgerichtet oder aber orientiert ist, anders gesagt, dass seine Stimmung sich von Hause aus durch die bloße Vorstellung bestimmen lässt, entkräftet Heideggers Kritik, dass bei Kant die Vorstellung überhaupt nach dem Muster des vorhandenen Objekts konzipiert sei, dessen Wesen sich lediglich durch seine raumzeitliche Eigenschaften erschöpfen lässt. Vgl. Heidegger (1965), S. 104–110. Die Entkräftung einer solchen Lesart ist insofern von Bedeutung, als diese stillschweigend das Bild eines transparenten, den Dingen in der Welt gegenüber gelassenen, auf das bloße theoretische Erkennen bedachten Erkenntnissubjekts als das Vorbild der modernen Philosophie nahelegt. Dies kann meines Erachtens zu einem folgenschweren Vergessen von dem bewirken, dass Kants Denken sich durch und durch um die Freiheit – nicht bloß im Sinne von der Freiheit von etwas, sondern vielmehr der zu der kooperativen Etablierung einer moralischen Welt – dreht (hierzu s. O’Neill, S. 3–27; Neimann (1994); Höffe (2001); S. 238–263; ders. (2003), S. 28–31, S, 70–73, S. 342– 346). Ausschlaggebend ist die krasse Aufklärungskritik von Horkheimer / Adorno (1988), welche dem genannten Vergessen entstammt. Das vorliegende Kapitel und ferner die ganze Untersuchung sind bestrebt, das Vergessene zu erwecken.
II. Das Gewicht des Selbst als Konstanz des Menschen85
II. Das Gewicht des Selbst als Konstanz des Menschen Kant sagt in der Pädagogik, dass „die Menschen nicht so leicht aufhören Kinder zu sein“ (Pädagogik IX, S. 471). Das ist eine Aussage, die so naiv klingen mag, dass sie eher ein bloßer Seufzer eines gemeinen Menschen als ein Wort eines Philosophen zu sein scheint. Allenfalls ist sie kein vollbrachter philosophischer Satz über etwa die transzendentale Synthese der Apperzeption oder aber das Faktum der Vernunft usw. Dass diese Aussage jedoch jedem von uns eine „gemeine“ zu sein scheint, bedeutet nicht, dass der Philosoph unfähig sei, in die Tiefe hinabzusteigen oder in die Höhe hinaufzuklettern, wo die dem gemeinen Menschen verborgenen, alle Phänomene transzendierenden Wahrheiten liegen. Anzunehmen ist vielmehr, dass Kant durch die Aussage uns etwas zu zeigen meint, was uns alle angeht und daher unvermeidbar ist: das Gewicht des Selbst. Wir haben nun im vorigen Kapitel gesehen, dass Kant zufolge ein Philosoph derjenige ist, der den Zweck der Menschheit liebt.8 Es wäre folglich nicht unnatürlich versuchsweise so anzunehmen, dass auch ein solcher Satz von Kant, der prima facie banal erscheint, sich auf den allgemeinen menschlichen Zweck beziehe. Nehmen wir also zunächst an, dass selbst das anscheinend allzu naive Wort von Kant als einem Philosophen doch gewissermaßen die Beziehung des Menschen auf diesen Zweck ausdrückt. Wenn man nun die Konnotation des „Gemeinen“ an der adjektivischen Verwendung dessen bei Kant – etwa an dem „gemeinen Verstand“ oder der „gemeinen Vernunft“ –, berücksichtigt, so darf man seine gemeine Aussage nicht mehr einfach als etwas Verwerfliches oder gar Überflüssiges vernachlässigen. Wenn Kant z. B. sagt, was gut sei, sei selbst der „gemeinen“ Vernunft fassbar, gilt das Gemeine als die Fähigkeit, das jedem Gemeinsame oder das, was alle angeht, nämlich das Gute sowie das Recht zu begreifen.9 Das Gemeine in diesem Sinne ist demnach eine Eigenschaft des Menschen, sich durch das betreffen zu lassen, was allem gemeinsam ist10 und woran jeder Interesse haben soll. Das ist also sensus communis. Dies erweckt die 8 s. oben
B. VII. Kants eigenen Worten heißt dies: Die „Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen“ sei „so deutlich, so unüberschaubar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich“ (KpV V, 35). 10 Im Grunde genommen ist es die Fähigkeit, eine Vorstellung von der „Form der Gesetzmäßigkeit“ überhaupt zu haben, was das Wesen dieser gemeinen Eigenschaft ausmachen. Dies wird durch die folgende Behauptung bestätigt: „Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, dass sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich unmöglich. So urteilt selbst der gemeinste Verstand; denn das Naturgesetz liegt allen seinen gewöhnlichsten, selbst den Erfahrungsurteilen immer zum Grunde.“ (KpV V, 69 f.). 9 Mit
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Vermutung, es liege in jener gemeinen Aussage etwas Interessantes vor, d. i. das, was zwischen uns allen liegt und uns alle in Anspruch nimmt. Mit aller Sorgfalt betrachtet stellt es sich, was Kant jenen Seufzer auszustoßen bewegt, in der Tat als das Interessanteste aller Interessen des Menschen heraus, d. i. als solches, das der res publica als dem Zwischenliegenden zugrunde liegt. Das „Gemeine“ mag demnach als das angesehen werden, was dem Menschen die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt bewahrt. Dank dem Gemeinen am Menschen qualifiziert er sich als Mitglied des Gemeinwesens. Noch zugespitzter: Schon durch die einfachste Tatsache, das Gemeinsamste aller Gemeinsamen unter Menschen, dass einer sich als einen Menschen, d. i. ein mit Vernunft begabtes Erdwesen ansehen kann, ist er bestimmt, für das Gemeinsame Interesse zu haben. Zunächst ganz einfach umformuliert, heißt „nicht so leicht aufhören Kinder zu sein“: Nur schwerlich aufwachsen können. Das Ausgesagte in der Aussage ist die Schwerigkeit des Aufwachsens, die eine Empfindung des Gewichts nahelegt. Schwer ist das, was sich nicht ohne Mühe beheben oder kaum tragen lässt. Was muss denn ein Erwachsener tragen, dessen Gewicht er als Kind anscheinend noch enthoben war? Kant zufolge markiert die Schwelle zwischen Kindern und Erwachsenen, zunächst was die körperliche Existenz des Menschen betrifft, das Vermögen, sich selbst zu erhalten. Um aber darüber hinaus auch hinsichtlich des Geistes, also im vollen Sinne erwachsen zu sein, muss der Mensch ein Selbstdenkender sein. Dies setzt den „Mut“ voraus, sich seines eigenen Verstands zu bedienen. Dergleichen Mut ist die Bereitschaft, sich ans Selbstdenken zu wagen. Hingegen wird der faule und feige Mensch, der diesen Mut nicht fassen möchte und so das Denken anderen überlässt, von Kant als ein „Kind“ dargestellt. Da hier das „Denken“ nicht nur das theoretische Urteil, sondern auch das praktische, d. h. das Denken über die Zwecke eigener sowie fremder Handlungen umfasst, so überlässt der Unmutige fremden Händen sein Schicksal, wenn er das Selbstdenken verabsäumt. Der Unmutige ist so ein geistig Unmündiger, der sich stets von einem Vormünder, d. i. einer vorschützenden Hand leiten lässt. Das Kind qua Unmündiger ist derjenige, der nicht ohne fremde Leitung leben will. Mit anderen Worten ist er seiner Meinung nach nicht bereit, das Gewicht des eigenen denkenden sowie wollenden Selbst gänzlich auf sich zu nehmen, das jedoch seiner Existenz als Menschen notwendig zukommt und was er daher nicht gänzlich beiseite lassen kann. Die gemeine Aussage: Die Menschen hören nicht leicht auf, Kinder zu sein, lässt sich hieraus folgendermaßen umschreiben: Für die Menschen ist das Selbsttragen zu schwer. Aber warum muss dieser Satz so gemein anmuten, dass man ihn lieber weghören möchte? Wir haben einen guten Grund, dass der Satz etwas berührt, was alle Menschen betrifft und folglich interessieren soll. Denn, wenn Kant den Menschen auffordert, Mut zu fassen, damit
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dieser zu einem Selbstdenkenden, d. h. Träger des Selbst, aufwächst, geht er nicht davon aus, dass das Gewicht des Selbst allen vertraut ist und jeder genau aufgrund der Schwierigkeit das Selbsttragen verabsäumen möchte, wenn er nur darf? Dass die Schwierigkeit allgemein vertraut ist, legt nahe, jeder Mensch möchte eigentlich das aufgeforderte Selbsttragen gerne leisten. Denn etwas wird erst dann als wahrhaft „schwer“ empfunden, wenn durch deren Behebung etwas Wünschenswertes sich anzubieten scheint, ansonsten könnte man das entsprechende Ding einfach auf sich beruhen lassen. Auch wenn das Ding nicht eigens als ein Hindernis zum erwünschten Ergebnis wahrgenommen ist, so ist es doch, wenn man es schwer findet, etwas, das ihm etwas bedeutet. Mit Kants Wort gesprochen heißt dieses: das „Kaum-Tunliche“, das von einem „Subjekt, das an dem Grad seines dazu erforderlichen Vermögens zweifelt, in gewissen Lagen und Verhältnissen desselben für subjektiv-untunlich gehalten“ wird (Anthr. VII, S. 147). Die Sprache, wie Heidegger sagt, lässt sich nicht durch die bloße Beschreibung der Realität, d. i. der Washeit (Qualität) der Dinge, erschöpfen, sondern verrät immer zugleich im gewissen Grad das Verhältnis des Sprechers zu oder aber seine Stimmung gegenüber den Dingen in der Welt.11 Demnach ist der Satz, der die Schwere von etwas ausspricht, nicht bloß eine objektive Proposition in der Form „S = P“, sondern entspricht dem Interesse des Sprechers, das sich, im gegenwärtigen Kontext, erneut wie folgt zur Sprache bringen lässt: Wäre mein Selbst nicht so schwer, so hätte ich mühelos es tragen können. Das besagt nun, dass das Selbst dem Sprecher als etwas Sperriges oder ein zu lösendes Problem gegenübersteht. Damit nun das Selbst erst zu einem Problem wird, müsste solche Diskrepanz im Menschen stattfinden, dass jeder Mensch so weit von seinem zu tragenden Selbst immer schon verschoben ist, dass er nicht ohne seine bewusste Handlung einmal zu seinem Selbst kommen kann. Der Mensch ist ein solches Weltwesen, das von Hause aus von sich entfremdet in sich verhaftet ist, weshalb der „Ausgang“ aus der Unmündigkeit, die immerhin ein Seinsmodus des Selbst ist, nirgendwo anders als wieder in sich hinein führt. Hieraus erhellt sich, warum jener Satz: Es sei schwer, aufzuhören Kinder zu sein, gemein klingt und die Leser bewegt, ihn wegzuhören: Weil die Schwere des Selbst nämlich jedem allzu vertraut ist, dass man den Satz lieber nicht wiederholt pointiert hören möchte, welche Einstellung doch im Grunde genommen den eigentlich unerwünschten Verzicht auf die Erfüllung des eigenen Willens zum Selbstwerden verrät. Die Anmerkung Kants zur „Maxime des Selbstdenkens“, oder aber der der „vorurteilsfreien“ Denkungsart, die er in der Kritik der Urteilskraft vorstellt (KU V, S. 294), scheint für diese Lesart zu sprechen: 11 Vgl.
Heidegger (2006), S. 153–160.
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„Man sieht bald, dass Aufklärung zwar in thesi leicht, in hypothesi aber eine schwere und langsam auszuführende Sache sei: Weil mit seiner Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein, zwar etwas ganz Leichtes für den Menschen ist, der nur seinem wesentlichen Zweck angemessen sein will und das, was über seinen Verstand ist, nicht zu wissen verlangt; aber da die Bestrebung zum letzteren kaum zu verhüten ist, und es an anderen, welche diese Wissbegierde befriedigen zu können mit vieler Zuversicht versprechen, nie fehlen wird, so muss das bloß Negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart (zumal der öffentlichen) zu erhalten oder herzustellen sehr schwer sein.“ (KU V, S. 294 Anm.)
Selbstdenken scheint dem Menschen insofern „leicht“, als er „nur seinem wesentlichen Zweck angemessen sein will“ und dabei dem Unerkennbaren gegenüber indifferent bleibt. Es ist hier leicht daher, weil es schon von selbst dem entspricht, was der Mensch immer schon will, d. i. causa sui seiner selbst zu sein. Hierzu findet er es unnötig, sich auf irgendetwas zu berufen, das über die mögliche Erfahrung hinaus liegt. Anders gesprochen würde er ohnehin nicht unwillentlich selber denken, wenn ihn nichts daran hindert.12 Sobald man aber zwei Hindernisse wahrnimmt, wird es als schwer empfunden; dass es einerseits in ihm einen Hang und andererseits Menschen außer ihm gibt, beider von denen den Menschen zum angeblichen Wissen des Unerkennbaren verführt.13 Sie beschweren das Selbstdenken, so dass dieses bloß „Negative“ dem Menschen eigens als eine Aufgabe erscheint. Wir möchten uns zunächst darauf konzentrieren, die Herkunft des inneren Hindernisses des Selbstdenkens zu identifizieren, um danach auch das äußere in Zusammenhang damit zu betrachten.
III. Die Stimme der Vernunft als die Kehrseite des Gewichts vom Selbst Damit die genannte Diskrepanz im Menschen als Konstanz und folglich der Satz: „Das Selbst ist schwer“, als allgemeingültig angesehen wird, muss jene in der menschlichen Natur eingewurzelt sein. Kant zeigt dies, indem er einen transzendentalen Unterschied in das menschliche Bewusstsein als den höchsten Möglichkeitsgrund der synthetischen Erkenntnis überhaupt einführt, d. i. den Unterschied zwischen dem transzendentalen einerseits und 12 Kant sagt in der Tat in der Moralphilosophie Vigilantius: Die moralischen Gesetzen sind „von der Vernunft so vorgezeichnet, dass, wenn sie allein Einfluss hätte, und sie allein den Grund der Wirklichkeit der Handlung enthielte, eine Abweichung von diesen Gesetzen nie erfolgen würde.“ (MS Vigilantius XXVII, S. 485). 13 Es gibt einen gemeinsamen Nenner für den verführerischen inneren Hang einerseits und dergleichen Menschen andererseits, nämlich „Dogmatismus“ qua „Despotismus“. Hierzu kommen wir in E. VI. ausführlicher zu sprechen.
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dem empirischen Bewusstsein andererseits. Kant zufolge ist einerseits das empirische Bewusstsein die Instanz der unmittelbaren Vorstellungen, die Ergebnisse des Affiziertwerdens des Subjekts sind. Hingegen ist das transzendentale „Ich denke“ ein solches Bewusstsein, das „alle meine Vorstellungen“ de iure „begleiten können“ muss (B 132; Hv M. O.). Anders gesagt ist das transzendentale Bewusstsein eine solche Vorstellung von mir selbst, welche, die Vielheit von den sukzessiven Vorstellungen in mir begleitend, diese als meinige mir zuspricht. Es ist demnach ein Aktus des Selbst, wodurch das Selbst sich selbst als das zeigt, wozu alle seinen Vorstellungen gehören: Er zeigt dem Selbst das „Innere“ von ihm. Damit aber dieses Innere für das Selbst überhaupt als das seine von ihm selbst angesehen wird, muss bei der Erschließung des Inneren das Äußere überhaupt zugleich mit beansprucht sein. Dies besagt nun, dass das Bewusstsein des diachron mit sich selbst immer identisch bleibenden Selbst nicht ohne ein solches Bewusstsein erfolgt, dass es etwas, das nicht es selbst ist, außer ihm und um es herum gibt. Daher, solange man sich das Selbstbewusstsein anhand des Bilds vom Haben der Vorstellungen denkt, erweist sich das Selbst als ein zeitlich14 und räumlich endliches Wesen in der Welt, d. i. als ein Seiendes unter Anderen.15 Als der das Innere und das 14 Es mag so scheinen, dass man aus dem bisher Gesagten die „zeitliche“ Endlichkeit dem Menschen noch nicht zusprechen könnte. Aber wenn man berücksichtigt, dass die meinigen Vorstellungen in der „Zeit“ geschehen, die die transzendentale Bedingung von dem „Nacheinander“ überhaupt ist, so wird man bald erfahren, dass die Vorstellungen immer zugleich auch auf das „Vorher“ hinweisen. Das über sich reflektierende Bewusstsein wird irgendwann das Ende, d. i. den Anfang der auf das Vorher hinweisenden Reihe der seinigen Vorstellungen erreichen (vgl. Anthr. VII, S. 128), der ankündigt, dass die Zeit in ihm nicht von Ewigkeit her da gewesen ist. So betrachtet könnte man sagen, mit dem Bewusstsein der Zeitlichkeit selbst gehe die Endlichkeit einher. 15 Das „Andere“ im weiten Sinne kann all diejenige Dinge enthalten, die der rezeptiven Sinnlichkeit des denkenden Ich als ein von diesem Separates erscheinen. Obwohl sie sich auch als denkende Selbste zeigen können, dass das mir jetzt gegenüberstehende Ding auch ein denkendes sei, kann streng genommen keine theoretische Erkenntnis sein. Daher spielen die denkenden Anderen in unserem jetzigen Kontext noch keine Rolle. Kant sagt im Übrigen zum Denken über die anderen denkenden Wesen: Es „können uns niemals unter äußeren Erscheinungen denkende Wesen, als solche, vorkommen, oder, wir können ihre Gedanken, ihr Bewusstsein, ihre Begierden usw. nicht äußerlich anschauen; denn dieses gehört alles vor den inneren Sinn.“ (A 357; Hv M. O.) Dieser Behauptung liegt die Tatsache zugrunde: Um sich überhaupt ein denkendes Wesen vorzustellen, muss man „sich selbst an seine Stelle setzen, und also dem Objekt, welches man erwägen wollte, sein eigenes Subjekt unterschieben“, das doch selber die bloße „Form der Apperzeption“ ist, die „jeder Erfahrung anhängt und ihr vorgeht, gleichwohl aber nur immer in Ansehung einer möglichen Erkenntnis überhaupt, als bloß subjektive Bedingung derselben, angesehen werden muss“ (A 353 f.). Dementsprechend, „ob ich als denkendes Wesen
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Äußere zugleich eröffnende Aktus ist das transzendentale Bewusstsein ein mentales Urphänomen, kraft dessen das denkende Ich sich als ein endliches Wesen betrachten kann. Das endliche denkende Wesen ist nun dasjenige, das sich durch das Andere so berühren bzw. affizieren lässt, dass dadurch ihm Zustandsänderungen geschieht, und erst vermittelst dieser in concreto über einen Gegenstand denken kann. Es muss sich also, um konkret zu denken, wesensmäßig aus sich heraus auf das Andere beziehen. Daher kann seine wahrhaft theoretische Erkenntnis nur synthetisch sein. Zum Denken ist es auf das Andere angewiesen. Die Sinnlichkeit bei Kant heißt dementsprechend, auf dem rein theoretischen Milieu, Angewiesenheit auf das Andere.16 Die Angewiesenheit verwandelt sich auf der praktischen Ebene in die Abhängigkeit oder die passive Bestimmbarkeit seines Selbst. Nach Kant macht das Bewusstsein davon die Quelle eines allgemeinen Wunsches des Menschen aus. Dieser Wunsch ist, wie im vorigen Kapitel gesehen, nämlich der, von „Neigungen“ überhaupt befreit zu werden, die den Menschen von anderen Dingen einschließlich anderer Menschen abhängig macht. Dergleichen Wunsch ist, so lässt er sich ausdeuten, im Grunde genommen einer, aus dem endlichen Selbst herauszugehen.17 Der einzige „Ausgang“ daraus besteht nun darin, die eigene Handlung durch ein selbstgegebenes Freiheitsgesetz zu bestimmen. Obwohl dies nicht bedeutet, dass der Mensch dadurch seine körperliche Existenz ablegt, so kann er sich dadurch als ein unendliches Wesen ansehen, das eine causa sui seiner moralischen Existenz ist. Die außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe“, ist keine anthro pologische, sondern eine metaphysische Frage (Anthr. VII, S. 130). All das schließt allerdings nicht aus, dass wir vermittelst der „Zeichen“ in der Erscheinung ein Ding als ein denkendes betrachten können (vgl. A 359 f.; Anthr. VII, S. 135). 16 Damit ist nicht gemeint, dass der Mensch sich zum erfolgreichen Denken auf das Mitdenken mit seinesgleichen berufen muss, sondern vielmehr, dass das theoretische Denken bei Kant nicht ohne die Rezeptivität der Sinnlichkeit erfolgt. Diesbezüglich pointiert Höffe zu Recht: „Im Theorem der zwei Erkenntnisstämme setzt Kant […] seine (unausgesprochene) Kritik an Platons Höhlengleichnis fort. Da die Sinnlichkeit, statt die Erkenntnis zu verdunkeln, diese in Wahrheit mit konstituiert, kann sie keine Gefangenschaft sein. Dass der Mensch zu Anschauungen allein durch die rezeptive Sinnlichkeit gelangt, macht vielmehr seine kognitive Endlichkeit aus, von der eine Befreiung weder möglich noch nötig ist.“ (Höffe 2003, 86) Kant sagt zwar, dass das Denken mit anderen Menschen den „Probierstein der Wahrheit“ (Anthr. VII, S. 128) ausmacht (hierzu ausführlicher in D. VII.). Dies gilt aber insofern, als man primär, die zwei Erkenntnisstämme berücksichtigend, selber denkt. Hierzu vgl. die Reihengfolge der drei „Maximen des gemeinen Menschenverstands“: „1. Selbstdenken; 2. an der Stelle jedes anderen denken; 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“ (KU V, S. 294). 17 s. Kapitel B. VI.
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Reflexion über diese Existenzweise macht ihn mit sich selbst zufrieden. Oder, mit Kant gesagt, ist die letztere ein Zustand der „Glückseligkeit aus Freiheit“ (Reflexionen XIX, S. 273). Aber das muss ein anspruchsvoller Weg für den Menschen sein. Denn er mutet ihm zuviel zu und das Gute und Recht gebietende Selbst in ihm ist schwer. Warum? Weil, ebenso wenig wie er jemals gefragt worden ist, ob er überhaupt in die Welt hineintreten wolle, es gar nicht seine Entscheidung gewesen ist, eine moralische Selbstheit in sich zu haben, um durch sie volitiv immer schon bestimmt zu sein.18 Diese Selbstheit, namens „homo noumenon“, hat keine freundlich anlockende „Stimme“, sondern nur eine „furchtbare“ eines „Richters“: „Jeder Mensch hat ein Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es, in seiner äußersten Verworfenheit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden.“ (TL VI, S. 438; Hv M. O.)
Durch diese bildhafte Darstellung der inneren moralischen Instanz bietet sich eine stärkere Interpretationsmöglichkeit zu der Grundstimme des Menschen an, als im vorigen Kapitel geschehen ist. Es reicht nämlich nicht aus zu sagen, dass das hier dargestellte innere Subjekt moralischer Stimme, wie Kant sagt, aus der Perspektive des endlichen Menschen her betrachtet diesem „unwillkürlich“ „enverleibt“ ist. Denn man kann nicht mit Gewissheit sagen, ob dieses noumenale Subjekt selbst nicht ebenso unwillkürlich vermittelst des Daseins des Menschen zur Welt gekommen sei. Anthropomor18 Es lässt sich zwar einwenden, dass das Bewusstsein einer moralischen Selbstheit keine einfache Vorgabe wie Dinge, Tiere, Pflanze usw., sondern das „Faktum der Vernunft“ als ein selbstgewirktes Bewusstsein ist: Wie das lateinische Wort „factum“ nahelegt, ist das Bewusstsein etwas, das vom Menschen „gemacht“ worden ist (vgl. Höffe (2012), S. 154). Aber die Zeilen über das Gewissen, die wir gleich im Haupttext sehen, zeigen, dass die moralische Selbstheit noch vor diesem Machen, obzwar durch eine noch unartikulierte „Stimme“, ihre Dasein gleichsam als eine gewisse Stimmung im Menschen wahrnehmen lässt. Das ist aber, wie mir scheint, nur natürlich. Denn woher anders kommt das Bewusstsein: „Ich soll X tun“, als vom Inneren des Menschen selbst heraus? Oder aber wie stellt sich der Mensch ansonsten fest, dass das Bewusstsein überhaupt stimmt? Anders gesprochen besteht das genannte „Machen“ in der Entsprechung des Selbst mit dem bloß stimmlich aber unüberhörbaren Ton in sich selbst. Wenn es mit der inneren moralischen Selbstheit nicht so bewandt wäre, so würden die Metaphern wie „Kompass“ und „Licht“ weniger schlagend.
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phisch gesprochen weiß es ja als die praktische Vernunft, wie und wozu die „Willkür (librum arbitrium)“ des Menschen zu bestimmen sei, um ihn den Ideen der Moralität und Legalität gemäß existieren zu lassen. Weil aber das Gesetz, das es als die reine praktische Vernunft dem Menschen vorstellt, nicht immer unmittelbar die menschliche Willkür bestimmen kann, sondern dergleichen Willkürbestimmung letztendlich auf den freien Entschluss des letzteren ankommt19, könnte man auch sagen, die Durchsetzung des Willens des inneren noumenalen Selbst davon abhängig ist, dass das bestimmbare Selbst die Gewicht des bestimmenden, gebietenden Selbst trägt.20 Insofern kann die reine praktische Vernunft qua „Wille (voluntas)“ nicht „frei“ genannt werden.21 Das erklärt nun, warum das innere moralische Selbst so stringent gebietet: Weil es nämlich einfach keine Wahl (arbitrium) hat22, als nach Gut und Recht aus dem Inneren des Menschen heraus auf ewig zu rufen. Was man ihrer Stimme entnimmt, ist dieselbe, aber viel klarere und deutlichere Stim19 Vgl. den folgenden Satz aus Religion: Die „Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst, im Urteil der Vernunft, Triebfeder und, wer es zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut. Wenn nun das Gesetz jemandes Willkür, in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Handlung, doch nicht bestimmt; so muss eine ihm entgegengesetzte Triebfeder auf die Willkür desselben Einfluss haben“ (Religion VI, S. 23 f.). 20 „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, sofern er zur Sinnenwelt gehört, und sofern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag vonseiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und womöglich auch eines zukünftigen Lebens zu machen.“ (KpV V, S. 61). 21 Diesbezüglich hat die Tatsache ein großes Gewicht, dass Kant spätestens in der Metaphysik der Sitten explizit sagt: Der „Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetze geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür kann frei genannt werden.“ (RL VI, S. 226; Hv M. O.) Ausführlicher zum Unterschied „Wille / Willkür“ bei Kant s. Kapitel D. 22 s. etwa die folgende Bemerkung: „[Das Faktum der Vernunft] ist unleugbar. Man darf das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlung fällen: so wird man jederzeit finden, dass, was auch die Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich selbst, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet.“ (KpV V, S. 32; Hv M. O.).
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me, als die, die man an jenem Wunsch nach Unendlichkeit wahrnehmen kann. Umgekehrt könnte man sagen, dass dieser Wunsch eigentlich nichts als die immer noch verworrene Artikulation der Stimme der reinen praktischen Vernunft sei. Wenn Kant sagt, der innere Richter folgt dem Menschen wie ein „Schatten“, so spielt dies, wie mir scheint, darauf an, dass die sinnliche Begierde und die reine Vernunft im Grunde genommen einen gemeinsamen Boden teilen, sprich, die Existenz als endliche Vernunft, oder umgekehrt, als vernünftige Endlichkeit. Welche Eigenschaft – Vernunft oder Endlichkeit – man auch immer betont, so teilen die zwei Seiten ein und dieselbe Existenz. Paradox formuliert teilen sie einen gemeinsamen Ungrund in dem Sinne, dass sie keinen hinreichenden Grund dafür haben, warum sie genau hier und jetzt diesem einen Ich vereinigt „einverleibt“ sind.23 Dergleichen Hinterfragen bekommt keine Antwort24 und wird lediglich mit Stille begegnet. Es ist als ob das endliche Vernunftwesen diese Stille mit seiner eigenen paradoxen Stimme erfüllen wollte: „Ich existiere, um als ein unendliches Wesen zu existieren!“ So betrachtet wird es klarer ersichtlich, dass die „Glückseligkeit aus Freiheit“ der sinnliche, aber doch reflexive Ausdruck der „Zufriedenheit“ desjenigen mit sich, oder des „Stolzes“25 desselben auf sich ist, der der Stimme seiner Vernunft zuhört und entsprechend gehorcht. Diese einzige Stimme klingt ein und demselben Ich anders je nachdem, welcher Grundeigenschaft, Endlichkeit oder Vernunft, es größere Aufmerksamkeit schenkt.26 So geschieht, dass „der Wille […] mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheideweg“ steht (GMS IV, S. 400; Hv M. O.). Die „gemeine Menschenvernunft“ hat zwar das apriorische Prinzip 23 Es ist klar, dass solcher Beweis ad infinitum geht: „Ich bin ein Kind von meinen Eltern, die ebenso endlich und vernünftig sind usw.“, weshalb er kein hinreichender Grund sein kann. 24 Die menschliche Vernunft weiß übrigens auch nicht, „wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist)“. Das ist selbst „ein für die menschliche Vernunft unauflösliche Problem und mit dem einerlei: Wie ein freier Wille möglich sei.“ Daher kann man „nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder“ abgeben, sondern hat lediglich das, „was, sofern es eine solche ist, sie im Gemüt wirkt (besser zu sagen, wirken muss), a priori anzuzeigen“ (KpV V, S. 72). 25 s. Kap. A, IX. 26 Wenn man z. B. das Primat der praktischen Vernunft als schon ausgemacht anerkennt und nachfragt, wie es möglich sei, das Gut in dieser Welt durchzusetzen, so erscheint die Selbstheit, die auf das Privatwohl aus ist und dieses zum Grundsatz seiner Handlung zu machen geneigt ist, als ein „sich hinter Vernunft verbergender Feind“ (Religion VI, S. 57; Hv M. O.). In diesem Fall ist dieser der „Schatten“ der Vernunft.
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seiner Handlung „wirklich vor Augen“ und kann „zum Richtmaß ihrer Beurteilung“ brauchen (S. 403), d. i. weiß „mit diesem Kompass in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid“, „zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht, und dass es also keiner Wissenschaft und Philosophie“ bedarf, „um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein.“ (S. 404; Hv M. O.) Trotzdem sich an diesem „Kompass“ festzuhalten und wirklich daran zu orientieren ist für den gemeinen Menschen nie leicht noch darf es sein27; es ist viel leichter, sich „in Schlaf“ zu bringen, wodurch er sich des Gewichts des Selbst für einen Augenblick enthoben, d. i. vor der bedrohlichen Stimme des inneren Richters sicher fühlen kann. Der Ausdruck „Schlaf“ ist nun für die Interpretation des inneren Hindernisses für das Selbstdenken ausschlaggebend. Denn er erinnert an jenen bekannten „dogmatischen Schlummer“, aus welchem Kant selbst nach seiner Selbstdarstellung durch Rousseau erweckt wurde. Die Geschichte dieses Aufstehens von Kant lautet: Er hatte zuvor den gemeinen Menschen gegenüber noch keine ihnen angemessene „Achtung“ gehabt – „Es war eine Zeit da [… ] ich verachtete den Pöbel28 der von nichts weis“ (Bemerkungen XX, S. 44): Aber Rousseau habe Kant „zurecht gebracht“ und der „verblendende Vorzug“ eines Forschers sei damit verschwunden (ebd.). Nach Kant hat diese Begegnung ihn dazu geführt: „[I]ch lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubte daß diese Betrachtung29 allen übrigen 27 Kant sagt in der Anthropologie, dass die Abgewohnheit an gute Handlung „benimmt“ dieser „ihren moralischen Wert“. Das ist der Fall, „weil sie der Freiheit des Gemüts Abbruch tut und überdem zu gedankenlosen Wiederholungen ebendesselben Akts (Monotonie) führt und dadurch lächerlich wird.“ (Anthr. VII, S. 149) Das scheint sagen zu wollen, dass die sonst gute Handlung nicht mehr als eine gute bezeichnet werden kann, wenn sie einmal automatisiert wird, dass ihr moralischer Wert gerade in der Freiheit besteht, wider ihre Schwierigkeit nach dem moralischen Gesetz zu handeln immer neu anzufangen. Kants eigene Worte stellen dies fest: „Die Ursache der Erregung des Ekels, den die Angewohnheit eines anderen in uns erregt, ist, weil das Tier hier gar zu sehr aus dem Menschen hervorspringt, das instinktmäßig nach der Regel der „Abgewöhnung“ gleich als eine andere (nichtmenschliche) Natur geleitet wird und so Gefahr läuft, mit dem Vieh in eine und dieselbe Klasse zu geraten.“ (ebd.; Hv M. O.) Hier wie überall in Kants Schriften gilt der Satz: Um kein Tier zu werden, muss der Mensch das Gewicht immer selber tragen. 28 „Pöbel“ als „ignobile vulgus“ ist Titel für diejenigen, die nicht denken (Anthr. VII, S. 144 f.). 29 Diese bezieht sich vermutlich auf den Satz: „Man muß die Tugend lehren den gemeinen Verstand in Ehren zu halten aus so wohl moralischen als logischen Gründen.“ (Bemerkungen XX, S. 44).
III. Die Stimme der Vernunft als die Kehrseite des Gewichts vom Selbst 95 einen Wert erteilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen.“ (Bemerkungen XX, S. 44.; Hv M. O.)
Diese Revolution in Kants Biographie entspricht jener „Revolution der Denkungsart“, namens „Aufklärung“, sehr genau. Die letztere vollzieht sich als die Reaktion auf die vom Innen her aus widerhallende Apostrophe: „sapere aude!“, nämlich als „Selbstdenken“. Und die erstere geschieht als Beachtung des „Werts“ der Menschheit in allem Menschen, ihre „Rechte“ herzustellen, d. i. Anerkennung des Anspruchs der Menschheit zur Selbstständigkeit. Der Mensch ist zwar in der Tat, wie Kant wiederholt betont, zunächst und zumeist dazu geneigt, seine Pflicht zu verabsäumen, ohne dabei zu wissen, dass er eigentlich dadurch auch auf seinen eigentlichen Wunsch verzichtet. Und dies tun bedeutet so viel als dem Anspruch der Menschheit auf Selbstständigkeit durch Unterlassung widersprechen. Dies ist nun zunächst und zumeist der Fall, weil die bloße Existenz von sich selbst dem Menschen kein hinreichender Grund dafür zu sein scheint, dass ausgerechnet er selbst, der irgendwann plötzlich ohne Einwilligung zur Welt gebracht worden ist, der Stimme der moralischen Selbstheit in ihm verantworten muss, von der er auch nicht wissen kann, woher sie kommt. Der Grund des Gewichts dieser Selbstheit lässt sich aus dem folgenden Satz sehr gut erklären, der die Natur der theoretischen Vernunft ausdrückt und zugleich auch für die praktische gilt: „Auf dieser Freiheit [der Kritik] beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto [Hv Kant], ohne Zurückhalten muss äußeren können.“ (A 738 f. / B 766 f.; Hv M. O.)
Die durch die „Kritik“ zu ihrer Reinheit gebrachte Vernunft existiert dank der „Einstimmung“ aller Bürger. Analogisch zur Beschaffenheit des „Faktums der Vernunft“ kann man sagen: Die Vernunft zeigt sich als solche in ihrer Reinheit immer schon als eine gewisse Stimmung, zur Entsprechung womit der Mensch sich selber bringen muss. Dadurch nimmt er seine eigene Vernunft als mit der aller anderen übereinstimmend wahr. Daraus wird ersichtlich, warum die Befolgung des Gebots der Vernunft für den Menschen als so schwer wahrgenommen werden muss. Denn die Befolgung bedeutet nichts minder als selber die Verantwortung für die ganze Menschheit tragen, obwohl er noch vor seiner Geburt keine Wahl gehabt hatte, entweder überhaupt nicht zu existieren oder als ein für die ganze Menschheit verantwortliches Wesen zu leben. Demnach lässt sich die Schwierigkeit in der Form eines allgemeinen Problems umschreiben: Der Mensch kann zwar die Stimme der Vernunft in ihm nie stillen, ist so vom Innigsten her immer aufgerufen, seine Pflicht
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zu erfüllen. Aber es fällt ihm schwer, auf demjenigen Weg zu gehen, den seine Vernunft zeigt, und dies um desto mehr, als er noch nicht sieht, dass dieser der einzige ist, der zur Erfüllung seines notwendigen Wunschs führt. Solange er aber dies nicht versteht, huldigt er jener Bestrebung nach dem Unerkennbaren, um in dem angeblichen Wissen davon seine „Zuflucht“ zu finden.30 So viel gesagt wollen wir ab dem nächsten Abschnitt detaillierter sehen, wie der Mensch trotz des Gewichts des Selbst und ferner angesichts der verführerischen fremden Hand sich entschließen kann, selbstständig auf diesem Weg zu laufen, d. i. zur Selbstaufklärung. Dabei halten wir uns an dem dargestellten Vorgang der Revolution der Denkungsart als Leitfaden fest.
IV. Despotismus als Regierung der Kinder durch ein Kind Im vorigen Kapitel haben wir das im Umriss rekonstruiert, was für eine Welt Kant durch gerechte Politische Handlungen realisiert sehen will. Sie ist nämlich, um hier erneut im Wesentlichen zusammenzufassen, eine Welt, in der ein jeder im doppelten Sinne mit sich selbst zufrieden sein kann: Einerseits ist der Mensch hier in der Lage, dank der wirksamen und gerechten Rechtsordnung nach seinem Glück auf dem Weg zu suchen, „welcher ihm gut dünkt“ (Gemeinspruch VIII, S. 298)31; andererseits kann er sich in ihr auch im reflexiven Sinne als glücklich betrachten, wenn er sich als einen tätigen Urheber einer solchen Welt selbst betrachten kann, d. i. wenn er in ihr ein Mitgesetzgeber ist neben allen anderen Mitmenschen.32 Wenn wir nun unter dieser Voraussetzung Kants Politische Philosophie als eine Überlegung über die Reform der Gesellschaft nach Prinzipien betrachten, so erweist sie sich im Ganzen als die über den rechtlichen Übergang der Menschheit von einem Extrem, nämlich dem Naturzustand, zum anderen, der Republik. Zwischen diesen zwei Zuständen steht der Despotismus. Aus dem bestehenden Staat her betrachtet, wo der Naturzustand, auch wenn noch nicht vollkommen, so doch durch faktisch geltende öffentliche Rechte entscheidend überwunden ist, ist der Despotismus der einzige Gegenspieler der Republik, der sich mit der Zeit in diese reformieren muss. Nach Kant lautet die Alternative der „Regierungsform“: entweder Despotismus oder Republik, während die beiden Formen jeweils entweder eine der drei „Staatsformen“ oder eine gemischte aus diesen annehmen können. 30 Vgl.
A VII. f. s. bsd. B. V. 32 Hierzu s. B. VI. ff. 31 Hierzu
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Rufen wir an dieser Stelle das Unrecht am Despotismus ins Gedächtnis, um näher zu sehen, gleichsam auf eine Platonische Art, was für Menschen da regieren und regiert sind. In Kants Augen ist jeder bestehende Staat, solange er noch am repräsentativen System mangelt, keine Republik im vollen Sinne, die eine Platonische Idee ist, nämlich: „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann“ (A 316 / B 373).33 Sie ist die einzige der Menschenvernunft angemessene Regierungsform, deren „Existenz“ daher rührt, dass ein jeder Mensch für sie als eine mögliche rechtmäßige seine „Stimme“ gibt. Dagegen ist der Despotismus eine Regierung, unter der die wahre Stimme des Menschen keinen ihr angemessenen Ausdruck findet, d. i. weder einen wörtlichen noch einen als die Regierungsform selbst, die eigentlich das Produkt der allgemeinen Menschenvernunft sein soll. Im entscheidenden Sinne ist aber ein jeder daran Schuld, dass eine solche Regierung unverändert fortbesteht. Denn es ist nach Kant für allen Menschen Pflicht, die Republik zustande zu bringen. Insofern kann der idealtypische Mensch unter dem Despotismus, hier verständnishalber ganz vereinfacht gesagt, als ein noch nicht zur Selbstaufklärung entschlossener angesehen werden. Derjenige also, der körperlich erwachsen, jedoch seinem Geist nach immer noch ein Kind ist, ist als der Untertan der despotischen Regierung am deutlichsten befindlich. Wir möchten diesen befragen, warum er noch nicht aufstehen und wie er es eventuell will. Wie bereits mehrmals gesehen, ist derjenige glückselig, wer mit seinem eigenen Zustand zufrieden ist. Da nun die Erreichung eines solchen Zustands von der je besonderen Verfassung des Subjekts abhängig ist, so kann der Gegenstand, der Zufriedenheit zu verheißen scheint, sowohl inter- als auch intrasubjektiv, in thesi, je nach der jeweiligen körperlichen sowie geistigen Verfassung des Subjekts verschieden ausfallen. Daher widerspricht die Denkungsart eines Despoten, der seine Untertanen „nach seinen Begriffen“ glückselig zu machen und sie durch Staatsgewalt dazu verpflichten zu dürfen denkt, der „eigentlichen Aufgabe der Politik“ geradezu. Denn es ist im Prinzip unmöglich, jemanden durch äußeren Zwang die Erlangung irgendeines Zustands als seine Glückseligkeit „wollen“ zu lassen. Und noch problematischer ist diese Denkungsart, da sie das Bewusstsein der Freiheit des Menschen untergraben muss, indem sie ihn ohne seine Einwilligung zu irgendeiner bestimmten Handlung zwingt. Sie hebt also die Grundlage einer Welt auf, die durch die Lösung jener eigentlichen Aufgabe der Politik rea33 Riley sagt, diese Darstellung sei vielleicht „Kant’s finest statement“ von seiner Ansicht, dass „[t]he crucial thing is a harmony of my external freedom with that of others according to a universal law.“ (Riley, S. 11).
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lisiert werden soll, weswegen sie für Kant notwendigerweise unzulässig ist.34 So ist der „Despotismus“ oder „Gesetz und Gewalt ohne Freiheit“ (Anthr. VII S. 330) beschaffen. Kant bezeichnet die despotische Regierung als eine „väterliche“, die ihre Untertanen als „unmündige Kinder“ behandelt; d. i. als solche Wesen, die angeblich „nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist“ und „sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteil des Staatsoberhauptes, und, dass dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten.“ (Gemeinspruch VIII, S. 290 f.; Hv M. O.) Diese Darstellung des angeblich unmündigen Kindes stimmt mit der eines Zustands der „Unmündigkeit“ überein, den Kant in Was ist Aufklärung? darstellt. In der Abhandlung heißt es, unmündig sei derjenige, der sich seines eigenen Verstandes, wegen Faulheit und Feigheit, ohne Leitung eines anderen nicht bedienen möchte. Er ist ein solcher, der über sich selbst und die Welt nicht selbstständig urteilen will. „Faul“ wird er genannt, weil er trotz seiner Fähigkeit zum Selbstdenken sich eher im „bequemen“ Zustand der Passivität erhalten möchte; und feig sei einer, der wegen der Furcht davor, dass er ohne fremde Leitung vielleicht in seinem Urteil irren könnte, sich nicht ans Selbstdenken „wagt (audere)“. Kurz: „Unmündigkeit“ ist der unehrenhafte Titel für denjenigen, der geistig unselbstständig ist, und in einem solchen Fall ist sie ihm „selbstverschuldet“ (WiA VIII, S. 35). Dagegen ist der Mensch in einer väterlichen Regierung im Zustand der Passivität unwillentlich gehalten. Aber dieses Unwillentlich-Gehalten-Sein muss ihn mit seinem Zustand unzufrieden, d. i. unglücklich machen. Das besagt: Es wäre für den Menschen unmöglich in einem solchen Zustand glücklich zu sein, weil ihm dort die Freiheit verweigert ist. Wie wir oben gesehen haben, behauptet Kant, jeder Mensch verlange notwendig nach Glückseligkeit und, obwohl er in diesem Verlangen zugleich wünscht, von allerlei Bedürfnissen frei zu sein, liege die Bedingung seiner Glückseligkeit im Bewusstsein seiner Freiheit vor. Nun wird nach Kant selbst ein Neugeborener, ein markantes Beispiel eines unfreien Wesens, „entrüstet“ und „zornig“, wenn er sich „gefesselt“, also im Zustand der Unfreiheit gehalten fühlt. Er ist entrüstet und zornig, vermutlich nicht nur deswegen, weil er selber dergleichen Zustand nicht 34 Dies erklärt auch, warum die dem bürgerlichen Zustand zugrundeliegenden drei Prinzipien, nämlich; Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit (Gemeinspruch VIII, S. 290), in der Rechtslehre als Aspekte ein und desselben „angeborenen Rechts“ (RL VI, S. 237 f.) umformuliert werden können. Zu diesem Recht kommen wir im Kapitel D. zurück.
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sofort verlassen kann, sondern auch, weil er in ihn hineingeworfen worden ist, ohne vorher gefragt zu sein. Er fühlt also zweierlei, d. i. immer schon und noch lange hin „unfrei“, trotz seines unwiderstehlichen Strebens nach Freiheit als Sich-Bewegen-Können oder Selbstständigkeit im buchstäblichen Sinne.35 In nuce weist diese Gemütsbewegung eines Kindes darauf hin, dass für Kant das Bewusstsein der Unfreiheit die größte Quelle der Unzufriedenheit ausmacht. Die väterliche Regierung spricht dem Untertan die Möglichkeit seiner Selbstbestimmung durch Tat ab, solange sie ihn im Zustand der Unzufriedenheit hält. Für Kant ist eine solche Regierung, da der väterliche Herrscher selbst sofern nichts anderes als ein Kind ist, desto unerträglicher, als er den Untertan wie ein bloßes Werkzeug, d. i. Mittel zu seinem Zweck behandelt. Diesbezüglich sagt Kant in der Pädagogik, dass „die Fürsten“ solche sind, die „ihre Untertanen nur wie Instrumente zu ihren Absichten“ betrachten. Nach Kant haben sie „nicht das Weltbeste und die Vollkommenheit, dazu die Menschheit bestimmt ist, und wozu sie auch die Anlage hat, zum Endzweck“ (Pädagogik IX S. 448; Hv M. O.), was als die negative Beschreibung ein und derselben Maxime der Fürsten gilt. Ferner sagt Kant, ein Kind würde „despotisch“ herrschen, wenn die Eltern immer auf sein Verlangen hineilten (S. 460). Und es seien die „Fürstensöhne“, die „das ganze Leben hindurch Kinder bleiben“, die zu denken pflegen, sie müssten nicht um ihren eigenen Unterhalt bekümmern, da die anderen es für sie tun würden (S. 454). Kant räumt zwar ein, dass „die Menschen nicht so leicht aufhören Kinder zu sein“ (S. 471), was nahelegt, dass sie die „Faulheit“ und „Feigheit“ nicht so einfach überwinden können. Aber um desto mehr müssen sie aufrecht erzogen werden, womit ihnen die despotisch väterliche Herrschaft als eine unbegründete entlarvt wird. Denn wie kann der Anspruch eines Kindes gerechtfertigt werden, alle anderen wie bloße Werkzeuge zu behandeln? So ist der despotisch väterliche Herrscher, als Kind, das Andere der selbständigen Vernunft des Menschen, auf welche jeder einen gleichberechtigten Anspruch hat. Als ein solches steht der ungerechtfertigte angeblich väter liche Herrscher jedem Menschen im Verlangen nach Glückseligkeit im Weg, welcher zurückgewiesen werden und selber zurücktreten muss, weil er selber nicht auf ewig ein Kind bleiben darf. 35 Kant geht in diesem Kontext so weit, dass er annimmt, es sei die dunkele „Idee“ oder die „Vorstellung“ von Freiheit in dem Neugeborenen, welche ihn zu schreien treibt (Anthr. VII, S. 269). Dies lässt uns verstehen, dass die Idee als Denkobjekt das Gemüt des Menschen schon am Uranfang seines Lebens berührt und ihn zur Handlung bestimmt. Kants Gedanke, dass die bloße Vorstellung und das Gemüt, auf welche verborgene Weise auch immer, in commercium stehen, ist sicherlich derjenige, der dem berühmten „Vernunftfaktum“ zugrunde liegt.
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Man übersehe aber nicht, dass es nicht nur der Souverän ist, wer auf die dargestellte Weise kindisch ist, sondern auch die Untertanen sind es. Denn es sind diese selbst, die sich als ein belebtes Werkzeug eines anderen behandeln lassen.36 Wir haben im vorigen Kapitel Kants Behauptung gesehen, dass kein Herrscher explizit herauszusagen wagt, alle Glückseligkeit seines Untertans sei von seinem Wohlwollen abhängig. Insofern tendiert der Despot, ein „guter König“ (Reflexionen XIX, S. 584) zu sein. Unter einer solchen Regierung aber verhalten sich auch die Untertanen selbst wie ein Kind, wenn sie um ihren Unterhalt nicht selber bekümmern zu müssen meinen, ganz abgesehen davon, ob sie die verborgene Maxime ihres Herrschers wissen oder nicht. Anders gesprochen handeln sie wider die Stimme ihrer Vernunft, die gebietet, sich selbst als ein selbstständiges Wesen zu behaupten37, indem sie sich hinsichtlich ihrer Glückseligkeit lediglich vom Wohlwollen eines anderen abhängig machen. Daher ist der idealtypische Charakter des Menschen unter dem Despotismus bei Kant kein anderer als der eines Kinds. Das gilt sowohl für den Regenten als auch für die Regierten. Der Despotismus ist daher eine Regierung der Kinder durch ein Kind. Damit erweist sich jene eigentliche Aufgabe der Politik erneut als eine doppelte. Indem Kant auffordert, dass die Glückseligkeit des Bürgers vom Politiker berücksichtigt und durch seine Handlung nach einer verallgemeinerungs- und zustimmungsfähigen Maxime befördert werden muss, verlangt Kant zugleich, dass einerseits der Politiker dabei den Bürger als ein freies Wesen und andererseits beider alle Menschen so betrachten. Das heißt: Alle müssen sich wechselseitig den freien Raum zulassen, in dem sie, sowohl physisch als auch geistig, frei handeln können. Soviel gesagt gehen wir nun darauf ein, das Bild des unter Despotismus leidenden Menschen näher zu betrachten, um zu sehen, wie er angesichts der ihn am erheblichsten demütigenden Macht aus dem Despotismus heraus sich emanzipieren wollen kann.
V. Bedeutungslose Freiheit als Albtraum der Vernunft Was die Beziehung zwischen Glückseligkeit und Bewusstsein der Freiheit als deren Bedingung betrifft, muss man darauf achten, dass dieses Bewusstsein das der eigenen tätigen Freiheit sein muss, die zur Realisierung des selbstgesetzten Zwecks ausgeübt werden kann. Es wäre zwar für Menschen unter einer despotisch väterlichen Herrschaft durchaus möglich, sich selbst 36 Insofern widersprechen sie der ersten Rechtspflicht: „honeste vive“. Hierzu s. D. V. dieser Untersuchung. 37 Hierzu s. Kapitel D.
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als frei einzubilden. Aber das genügt natürlich nicht. Um zu sehen, was dieser Unterschied für Kant bedeutet und warum er sich mit der eingebildeten Freiheit nicht zufrieden geben kann, betrachten wir diesen Unterschied aus der Sicht des in einem unfreien Zustand gehaltenen Menschen selbst. Kant behauptet, dass in der „verderblichen Theorie“ der „politischen Moralisten“, welche nur nach der Regel der Klugheit handeln wollen und somit der These der „moralischen Politiker“ entgegenstehen, dass der allgemein vereinigte Wille aller die gewollte Wirkung auch im Zusammenspiel mit dem bloßen Naturmechanismus hervorbringe, der Mensch „mit den übrigen lebenden Maschinen in eine Klasse geworfen wird, denen nur noch das Bewusstsein, dass sie nicht freie Wesen sind, beiwohnen dürfte, um sie in ihrem eigenen Urteil zu den elendesten unter allen Weltwesen zu machen“ (ZeF VIII, S. 378; Hv M. O.). Dieses Urteil entspricht eben der Entrüstung, die das Geschrei des Neugeborenen vernehmen lässt. Dies dürfte gar nicht verwundern, da es logisch betrachtet nur natürlich ist, dass das Bewusstsein der Unfreiheit den Menschen „elend“, d. i. äußerst unzufrieden macht. Es ist lediglich das genaue Gegenteil der „Glückseligkeit aus Freiheit“, sozusagen der Nullpunkt dieser. Aber etwas mehr ist an dem Superlativen „den elendesten unter allen Weltwesen“ abzulesen. Was genau liegt im Bewusstsein der Un-freiheit vor, den Menschen so miserabel macht? Zur Beantwortung dieser Frage bietet die Definition von dem Begriff „Bewusstsein“ einen Leitfaden an. Bewusstsein heißt nach Kant die „Vorstellung, dass eine andere Vorstellung in mir ist.“ (Logik IX, S. 33; Hv M. O.) Demnach lässt sich das Bewusstsein der Unfreiheit als eine solche Vorstellung begreifen, dass eine „andere Vorstellung“ in mir ist, welche die Vorstellung meiner Freiheit negiert. Das Präfix „Un-“ drückt also eine positive Vorstellung von Etwas aus, das das Selbst zwingt, sich seine Freiheit als nichtig, d. i. als einen Schein vorzustellen. Nun dieses Etwas kann alles sein, was der menschlichen Freiheit widersteht und deren Ausübung hindert – z. B. die endliche Natur des Menschen und der despotisch väterliche Herrscher usw. Anders gesagt ist es all das, was den Verdacht in dem Subjekt erregt, dass sein Begriff von Freiheit inhaltsleer, mithin bedeutungslos sei, welcher den Menschen zu „den elendesten unter allen Weltwesen“ macht. Daher scheint die Lage der anderen, bloß durch Instinkt geleiteten Tiere38, dem Menschen unter diesem Verdacht relativ besser zu sein, weil sie dergleichen Verdachts enthoben sein zu können scheinen. 38 Kant nennt den Instinkt „Stimme Gottes“ (Anfang VIII, S. 111), welches die Nostalgie des Menschen nach seinem immer schon verloren gegangenen Zustand der Unschuld nahelegt. Jedoch ist es wichtig anzumerken, dass Kant sich gar nicht nach
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Es genügt dem Menschen also nicht, dass er sich seine Freiheit bloß einbilden kann. Vielmehr ist es eben die bloße Vorstellung einer bedeutungslosen Freiheit, welche ihn elend macht. Was bedeutet aber die Bedeutungslosigkeit für den Menschen? Um auf diese Frage zu antworten, empfiehlt es sich, dass wir Kants Stellungnahme gegenüber der Kosmologie zu betrachten, die keinen Platz für zweckmäßige Auffassung der Welt zulässt. Im Siebenten Satz der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht stellt Kant die folgende Alternative vor: „Ob man es nun von einem epikureischen Zusammenlauf wirkender Ursachen erwarten solle, dass die Staaten, sowie die kleinen Stäubchen der Materie, durch ihren ungefähren Zusammenstoß allerlei Bildungen versuchen, die durch neuen Anstoß wieder zerstört werden, bis endlich einmal von Ungefähr eine solche Bildung gelingt, die sich in ihrer Form erhalten kann (ein Glückszufall, der sich wohl schwerlich jemals zutragen wird!); oder ob man vielmehr annehmen solle, die Natur verfolge hier einen regelmäßigen Gang, unsere Gattung von der unteren Stufe der Tierheit an allmählich bis zu höchsten Stufe der Menschheit, und zwar durch eigene, obzwar dem Menschen abgedrungene Kunst zu führen, und entwickele in dieser scheinbarlich wilden Unordnungen ganz regelmäßig jene ursprünglichen Anlagen“ (Idee VIII, S. 25).
Kant stimmt bekanntlich für die Vorstellung einer den „regelmäßigen Gang“ verfolgenden Natur und dabei zugleich gegen Epikureische Kosmologie39, die alles Weltgeschehen auf bloßem Zufall beruhen lässt. Die letztere gilt für Kant als eine Vorstellung, nach welcher es keinen Platz für die menschliche Freiheit geben kann.40 Obwohl die teleologische Perspektive letzten Endes eine bloß „regulative“ Idee für die reflektierende Urteilskraft ist, zeichnet Kants andauernde Kritik am blinden Atomismus einerseits und Fatalismus andererseits seine unverzichtbare Weltanschauung aus, die er der Natur unterlegt. In seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft setzt sich Kant erneut mit der Epikureischen Erklärungsart der Natur auseinander. Er kritisiert hier, dass sie an der Natur die „Intentionalität“ gänzlich leugnet, ohne dabei doch die Entstehung der Vorstellung von Intentionalität auf irgendeinen Grund zurückRückkehr in die tierische Natur sehnt, was prima facie etwa Rousseaus Blickrichtung zu bestimmen scheint. Dazu s. Anthr. VII S. 326 f. 39 Kant hält andernorts die „Epikureer“ für die „besten Naturphilosophen unter allen Denkern Griechenlands.“ (Logik IX, S. 30) Was Kant hier genau meint, ist nicht selbstverständlich. Aber für unsere Lektüre ist es entscheidend, dass er zum Behuf des Praktischen den Epikureischen Ansatz, den er sonst als wertvoll ansieht, kritisiert. 40 Schröder sagt hierzu ganz richtig: „Dieses vernunftwidrige „trostlose Ungefähr“ als Eindruck von Geschichte ist eigentlich das Gespenst, das Kants Idee bannen will.“ (Schröder (2011), S. 37).
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führen zu können. Kant sagt, dass durch die atomistische Kosmologie nicht einmal der „Schein in unserem teleologischen Urteil erklärt, mithin der vorgebliche Idealismus in demselben keineswegs dargetan“ (KU V, S. 392 f.; Hv M. O.) werden kann. D. h. wenn man einmal die atomistische Vorstellung der Welt als die einzig mögliche Erklärungsart des Weltgeschehens anerkenne, so würde hingegen die der reflektierenden Urteilskraft interne teleologische Vorstellung unerklärlich, nach der die Natur im Ganzen als zweckmäßig bestimmt angesehen wird. Dann würde die Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur grund- bzw. bodenlos und damit freischwebend, also gar überflüssig. Aus demselben Grund ist für Kant der Fatalismus ebenso bedenklich und daher unzulässig. Das Bedenken Kants ist an den folgenden Passagen aus der Kritik der praktischen Vernunft deutlich erkennbar: „In der Tat: Wären die Handlungen des Menschen, sowie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewusstsein würde es zwar zu einem denkenden Automat machen, in welchem aber das Bewusstsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.“ (KpV V, S. 101; Hv M. O.)
Genau diese Vorstellung, dass das Bewusstsein der Freiheit ein bloßer Schein sei, welche aus dem durchgängigen Atomismus und Fatalismus gefolgert wird, ist für Kant unerträglich.41 Sie macht mit einem Schlag, wodurch die Geltung der Vorstellung einer zweckmäßig geordneten Welt verschwindet, den Gedanken von dem Willen vernünftigen Gottes auch 41 Dass die Existenz der vernünftigen Natur in dieser Welt auf den geheimen Plan der Natur, also darauf hinweist, dass sie zweckrational bestimmt sein müsste, ist ein Gedanke, der Kants Philosophie so stark prägt, dass er sich fast überall in seinen Werken finden lässt. Kant befasst sich mit diesem in der Reihe von geschichtsphilosophischen Abhandlungen nebst Grundlegung (Grundlegung IV, 395) und Kritik der praktischen Vernunft, vornehmlich in der Postulatenlehre, der dann seine transzendentale Rechtfertigung in der letzten Hälfte der Kritik der Urteilskraft erfährt. Zum Einstieg in die Thematik s. Höffe (2011b). Neimann stellt Kants leitende Stimmung bei dieser Thematik bildhaft dar, die sich meines Erachtens als die Spannung oder seine Entzweiung zwischen der Erkenntnis, dass „we are never, metaphysically, at home in the world“ (Neimann (2004), S. 81), einerseits und dem Gefühl, dass „the world is a place where we feel at home“ (S. 82) andererseits, das durch die Erfahrung der Zweckmäßigkeit der Welt erregt wird, sehr gut bezeichnen lässt.
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nichtig – der als die aller Erscheinungen zugrunde gelegte „unbedingte Notwendigkeit, die wir, […] so notwendig bedürfen“, die wegen ihrer Unerforschlichkeit ohnehin der „wahre Abgrund für die menschliche Vernunft“ ist (A 613 / B 641). Der ganzen Welt wird dadurch der Boden entzogen. „Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: dass ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste, schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine sowie die andere ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen.“ (A 613 / B 641.)
Dieser Gedanke ist wie ein freischwebender Albtraum für die Vernunft, den sie nicht wegtreiben kann, oder ein Trauma, das trotz seiner Unerträglichkeit ständig wiederkehrt.42 Indem die menschliche Vernunft sich das unbedingt notwendige Wesen, den Schöpfer aller Dinge, so vorstellt, sieht sie sich selbst zur Überflüssigkeit verurteilt. Das höchste Wesen kann zwar alles tun; aber es weiß nicht, woher es kommt. Es ist der grundlose Grund aller Dinge. Wenn es aber den Grund seiner Kausalität nicht kennt, woher könnte es wissen, wozu es allerlei Dinge überhaupt hervorbringt? Wenn es nicht weiß, woher es kommt, was spricht gegen die Möglichkeit, dass noch ein anderes Urwesen hinter ihm steht und es über seine Kausalität täuscht? Kann es sich dennoch überzeugen, dass seine wirkende Ursächlichkeit keine bloße Einbildung sei? Wenn nicht, gibt es einen überzeugenden Beweis, dass die Freiheit seines Produkts, des Menschen, auch kein Schein ist? Sollte das höchste Wesen selbst diese Skepsis nicht aufheben können, wie wäre es für die menschliche Vernunft möglich, von der Bestimmung seiner Existenz in dieser Welt überzeugt zu sein?43 42 Was Comay bezüglich der Aussage Kants über die Hinrichtung des Ludwigs XVI. „Trauma“ nennt, trifft auch hier sehr gut zu: „What is required is not simply a purification, cancellation, or undoing of the deed, not a clearing of the slate or an effacement of traces, but rather a rewriting and even overwriting.“ (Comay, S. 28 f.). 43 Auf diese Weise führt der Verdacht hinsichtlich des Sinns der Existenz des Menschen leicht zu dem gegen Gott. Wir erkennen das extremste Beispiel von diesem Zusammenhang an Schellings Schöpfungstheorie, in der der rätselhafte, menschliche Willen in Gott selbst hineingelegt wird, der sich dann als der Wille, alles in sich zu haben, und zugleich als der Widerwille gegen alles außer ihm erweist, welcher als das „reale Zentrum“ oder dergleichen „Prinzip“ der Entstehung der Welt überhaupt gilt. Diese Denkrichtung scheint schon in dem soeben zitierten Passus von Kant ihr Vorspiel zu finden. Kant will diese Richtung allerdings nicht verfolgen, weil er weiß, dass sie schließlich zur Zurückführung der menschlichen Freiheit auf ein höheres Wesen führt. Dadurch wird aber die menschliche Freiheit zum Prädikat dieses Wesens. Deren Wert müsste somit im Vergleich zu dem des letzteren, das ohnehin nach Kant nicht erkennbar ist, relativ herabwürdigt werden.
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Die Beobachtung der Geburtsvergessenheit Gottes, die ihn zum SichFragen zwingt, erklärt ex negativo, warum die menschliche Vernunft ein Bedürfnis für eine unbedingte Notwendigkeit hat: Sie will nämlich überzeugt sein, dass die Ursache – bis hin zu der entferntesten – ihrer Existenz durch und durch notwendig ist, damit ihre eigene Existenz in der durchgängig systematisch geordneten Welt einen bestimmten Stellenwert bekommt. Dafür muss die menschliche Vernunft sich Gott als das allernotwendigste Wesen (ens realissimum) vorstellen und dessen Existenz als notwendig aller Erscheinung zugrunde liegend postulieren.44 Aber durch ein solches bloßes Denken kann der Mensch auf die Frage nach dem ultimativen Grund seiner eigenen Existenz leider keine theoretische Antwort bekommen. Dies war zwar für unseren kritischen Philosophen von vornherein offensichtlich. Denn spätestens seit der längst vor der Kritik der reinen Vernunft verfassten Abhandlung Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, in der Kant sagt, das „Dasein ist gar kein Prädikat oder Determination von irgendeinem Ding“ (Beweisgrund II, S. 72), ist es ihm klar gewesen, dass aus bloßen Begriffen das Dasein Gottes nicht einmal bewiesen werden kann. Und genau dies ist im Kern die Einsicht, die Kants Widerlegung aller drei Arten des Gottesbeweises – des ontologischen, kosmologischen, und physikotheologischen – zugrunde liegt. Da der Begriff „Dasein“ bzw. „Wirklichkeit“ bei Kant nicht mehr als eine „Qualität“ unter anderen – d. i. als eine Eigenschaft eines Dings – gilt, so kann das Dasein Gottes weder aus dem bloßen Begriff der Vollkommenheit gefolgert noch an der Harmonie in der Erscheinungswelt entnommen werden. Kant sagt: „Wie der Verstand auch zu diesem Begriff [von Gott] gelangt sein mag, so kann doch das Dasein des Gegenstandes desselben nicht analytisch in demselben gefunden werden, weil eben darin die Erkenntnis der Existenz des Objekts besteht, dass dieses außer dem Gedanken an sich selbst gesetzt ist. Es ist aber gänzlich unmögVgl. die folgenden Zeile von Schelling: „Nur der Mensch ist in Gott, und eben durch dieses in-Gott-Sein der Freiheit fähig. Er allein ist ein Centralwesen und soll darum auch im Centro bleiben […] Der Mensch ist der Anfang des neuen Bundes, durch welchen Mittler, da er selbst mit Gott verbunden wird, Gott […] auch die Natur annimmt und zu sich macht.“ (Schelling, S. 82) Man sieht leicht, dass der Mensch hier als das Moment der Selbstoffenbarung Gottes gilt, ein Gedanke, den auch Hegel übernimmt. Allerdings, inwiefern der Mensch bei Schelling und Hegel herabwürdigt wird, oder ob überhaupt es der Fall sei und man daher vielmehr die Sache folgendermaßen umgekehrt betrachten solle, dass der Mensch mit Gott gleichgesetzt wird, sind andere Fragen, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht behandelt werden können. 44 Zum Stellenwert des Ideals von Gott als ens realissimum s. Grier. Im Kontext, in dem die soeben zitierten Sätze auftauchen, ist Gott als der Inbegriff aller möglichen Prädikate vorgestellt. Er ist die Gesamtmenge aller Eigenschaften in der Welt, die einzelnen Dingen zugesprochen werden können.
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lich, aus einem Begriff von selbst hinauszugehen, und, ohne dass man der empirischen Verknüpfung folgt, (wodurch aber jederzeit nur Erscheinungen gegeben werden,) zu Entdeckung neuer Gegenstände und überschwenglicher Wesen zu gelangen.“ (A 639 / B 667; Hv M. O.)
Es kann weder die spekulative Vernunft für sich alleine noch die Natur außer uns – hier mangels der der Gottesidee entsprechenden Erscheinung in ihr – den theoretischen Aufschluss über den letzten Existenzgrund des Menschen geben. Positiv formuliert wird sie bei der Frage danach immer nur durch Schweigen begegnet. So betrachtet entpuppt sich die beschriebene Vorstellung vom Gott als eine auf sein Nichts-Sagen projizierte Furcht des Menschen vor der Unbestimmtheit hinsichtlich der eigentlichen Bestimmung seiner Existenz in dieser Welt.45 Wenn man nun die Wissbegierde für den letzten Existenzgrund im Zusammenhang mit jenem allgemeinen Wunsch des Menschen nach Unendlich-Werden zusammen betrachtet, so erhellt sich, dass der letztere eigentlich dasjenige Streben ist, ein solches Wesen zu werden, das in einer mit notwendigem Grund existierenden Welt eine ihm ebenso notwendigerweise zugesprochene Rolle spielen kann. Auch die zwei oben betrachteten Modi des Menschen, nämlich der Neugeborene einerseits und der unter despotisch väterlicher Herrschaft Lebende andererseits, müssen von eben diesem Streben als dem allgemeinen durchschossen sein. Der Neugeborene schreit, weil er sich zum Verfolgen dieses Strebens unvermögend fühlt, obwohl er nicht weiß, woher er kommt und wozu dieses Streben dienen soll. Aber für uns und den unfreien Untertan selbst, ist die Lage des Neugeborenen besser als die von diesem, solange wir unterstellen können, dass ihm noch seine Zukunft offen steht. Dagegen ist der unfreie Untertan um desto elender, je schmaler seine Aussicht zur Freiheit ist. Er ist dreifach elend; erstens wegen seiner Endlichkeit, zweitens auf45 Es möchte zwar auf den ersten Blick überraschen, dass Kant gegenüber der Geburtsvergessenheit Gottes, so gelassen bleiben kann, dass er eigens zur Sprache bringen kann: „Hier sinkt alles unter uns“ (A 613 / B 641; Hv M. O.). Denn es muss unmöglich sein, dass Kant als Glied der Gattung Mensch, wozu „wir“ alle gehören, von diesem Andrang vollkommen befreit ist. Woher erklärt sich dann Kants Gelassenheit? Und auf welchem Boden steht er dabei? Die Antworten sind aber verblüffend einfach. Die Vorstellung von einem wurzellosen Gott ist für Kant gleichsam ein Kindesalbtraum. In ihm liegt für die herangewachsene Vernunft nichts Furchtbares vor. Dementsprechend steht Kant der Gottesvorstellung gegenüber bodenfest, weil der eigentliche Existenzgrund seiner Vernunft von ihr unberührt ist, dessen eigentlichen Wohnsitz sie in der vereinigten Stimme der freien Bürger findet. Derjenige wäre ein Kind, der vor dem Sich-Fragen von dem angeblich allmächtigen aber trotzdem nicht allwissenden Gott zittert. All das erklärt sich daher, dass für Kant der Mensch nicht vom vermeintlich theoretischen Wissen um seine Bestimmung ausgehen und daraufhin gemäß dieser handeln soll.
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grund des Verdachts bezüglich der Bedeutung der Freiheit und drittens durch die tatsächliche ständige Verneinung seiner Freiheit durch den bestehenden Despotismus. Zusammengenommen ist er das „elendeste unter allen Weltwesen“ in dem Maß, als er trotz der tatsächlichen Unfreiheit immer noch das genannte Streben, hier als das Widerstreben gegen ungerechte Herrschaft empfunden, in sich fühlt, das ihm ohnehin letztlich bedeutungslos erscheint. Es wird dann leicht nachvollziehbar, dass der Mensch sich aus einem solchen nicht selbstverschuldeten Zustand eigentlich herausarbeiten will, was als die minimale Bedingung zur wahrhaften Glückseligkeit angesehen werden soll. Damit ist es schließlich vollkommen klar, warum für Kant Despotismus schlichtweg unzulässig ist: Zum einen, weil es widersprüchlich und selbst gar unmöglich46 ist, den Menschen durch fremde Handlung, auch nicht durch Zwang, etwas tatsächlich wollen zu lassen. Zum anderen soll man den Despotismus als „väterliche“ Behandlungsart der Untertanen nicht erlauben, weil er dem unwiderstehlichen Streben nach Selbstbestimmung des Menschen geradezu widerspricht und ihn somit zum „elendesten“ Wesen aller Geschöpfe macht. Nicht zuletzt haben wir auch gesehen, warum Kant einen Menschen, der im Zustand der Unfreiheit unwillentlich gehalten ist, für äußerst unglücklich hält; weil ihm nämlich dadurch der Verdacht verstärkt wird, dass seine zur Freiheit bestimmte Existenz vielleicht in der Welt gar überflüssig und mithin sein Streben nach Sich-Bewegen-Können letztlich ein bloßer Schein sein könnte. So würde es aber für Menschen äußerst schwer, den Mut zum Selbstdenken und der Selbstbestimmung fassen, da er sich als dazu unvermögend fühlt und um desto „feiger“ würde: „Die meisten Menschen […] fürchten sich vor einem eingebildeten Fall, und diese Furcht lähmt ihnen gleichsam die Glieder, so dass alsdann ein solches Gehen für sie mit Gefahr verknüpft ist. Diese Furcht nimmt gemeiniglich mit dem Alter zu, und man findet, dass sie vorzüglich bei Männern gewöhnlich ist, die viel mit dem Kopf arbeiten.“ (Pädagogik IX, S. 467; Hv M. O.)
Der Mensch unter Despotismus ist unwillentlich daran gewöhnt, lediglich über seine Freiheit zu „denken“, ohne jedoch sie ausüben, mithin ihr irgendeine tatsächliche Wirkung verschaffen zu können. Aber wenn dem so ist, wie kann er sich den möglichen Versuch, seine Freiheit auszuüben, als bedeutungsvoll denken? Würde er nicht ihn vielmehr als einen „Fall“ ins Nichts „einbilden“? So würden aber seine geistigen Glieder lahm und die Selbstaufklärung für immer unmöglich.47 46 Es bestehen in der Tat despotische Regierungen hier und da. Es gilt aber immerhin, dass ihr Seinsgrund eigentlich ein Ungrund ist. 47 Wer sich darüber freut, ist natürlich der väterliche Despot. Man höre Kants lauten Seufzer an der folgenden Passage, ohne dabei seine Warnung zu überhören:
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So verstanden lässt sich die oben als doppelt betrachtete eigentliche Aufgabe der Politik erneut genauer definieren: Indem sie den Despotismus gemäß einer Maxime zurücktreten lässt, der der Bürger zustimmen kann, die er also zugleich als seine annehmen darf, macht sie das Zurücktreten des despotisch väterlichen Herrschers und das Zurückweisen dessen durch das Aufstehen auf ein und derselben Maxime beruhen, die dem allgemeinen Bedürfnis der einzigen praktischen Vernunft, oder dem gemeinsamen Willen gemäß ist. Wenn dies dem Menschen als möglich erscheint, so hat er die Aussicht in seine Zukunft, den Zustand der Glückseligkeit aus Freiheit, wo seine tätige Freiheit sowohl für sich als auch für alle anderen bedeutungsvoll ist.
VI. Glauben als Aussicht der Vernunft Bevor wir sehen, wie der Mensch unter dem Despotismus sich zur Selbstaufklärung entschließt, wollen wir noch betrachten, was es bedeutet eine „Aussicht“ zu haben. Denn ohne diese wäre es zu schwer, das Selbst zu tragen und seinen eigentlichen Willen wider den angeblich wohlwollenden anderen durchzusetzen. In der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant anfängt, den Begriff der „transzendentalen Freiheit“ – „eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen“ (A 446 / B 474) – thematisch zu diskutieren, verwendet er eben die Figur eines aufstehenden Menschen zur Veranschaulichung des Begriffs: „Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den notwendig bestimmenden Einfluss der Naturursachen von meinem Stuhl aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist.“ (A 450 / B 478)
Dass Kant dies trotz der Unmöglichkeit der theoretischen Anwendung dieses Begriffs auf einen Gegenstand in der Sinnenwelt48 und ausgerechnet „Aber sich selbst unmündig zu machen, so herabwürdigend es auch sein mag, ist doch sehr bequem, und natürlicherweise kann es nicht an Häuptern fehlen, die diese Lenksamkeit des großen Haufens (weil er von selbst sich schwerlich vereinigt) zu benutzen und die Gefahr, sich ohne Leitung eines anderen seines Verstandes zu bedienen, als sehr groß, ja als tödlich vorzustellen wissen werden. Staatsoberhäupter nennen sich Landesväter, weil sie es besser als ihre Untertanen verstehen, wie diese glücklich zu machen sind; das Volk aber ist seines eigenen Besten wegen zu einer beständigen Unmündigkeit verurteilt“ (Anthr. VII, S. 209). 48 Sie ist unmöglich, „weil unter den Ursachen der Dinge als Erscheinungen keine Bestimmung der Kausalität, die schlechterdings unbedingt wäre, angetroffen
VI. Glauben als Aussicht der Vernunft109
in der Mitte der Kritik der theoretischen Vernunft tut, legt nahe: Kant könne durch kein anderes Beispiel den Sachverhalt der Idee „Freiheit“ bildhafter darstellen. Denkt man hier an Kants Behauptung, dass man wegen der „Bedingungen der Sprache“ auf einmal zwei Sachen ausdrücken kann49 (Logik IX, S. 109), so dürfte anhand Kants Sprachverwendung sein Gedanke, der hier stillschweigend am Werk ist, zum Ausdruck gebracht werden; dass für ihn der Mensch das einzige unter allen irdischen Seienden ist, der nämlich – obzwar nur in praktischer Hinsicht – Gegenstand vom Begriff eines freien Wesens sein kann. Das „Aufstehen“ als Übergang von einem Zustand zu einem anderen gilt als das beredteste Beispiel für seine freie Kausalität.50 Und dies trifft tatsächlich zu, weil der Mensch das einzige selbstbewusste Tier ist, d. i. eines, das über sich reflektieren kann, wozu er sein bloßes Dasein im Geist transzendieren können muss.51 Es ist Aufgabe der Kritik der praktischen Vernunft, dieses Bewusstsein der Freiheit zu begründen und die „Realität“ der Begriffe der praktischen Vernunft zu bestätigen (KpV V, S. 3; Hv M. O.). Sie soll nämlich zeigen, dass die Freiheit kein Schein, sondern deren Bewusstsein im Menschen ein Faktum sei. Dazu muss man sagen können, dass die praktische Vernunft selbst einen hinreichenden Grund zur Bestimmung des Begehrungsvermögens enthält.52 Für diese Beweisführung behauptet Kant, dass das Bewusstsein des Bestimmtseins durch das moralische Gesetz, d. i. ein in der Vernunft selbst enthaltener praktischer Grundsatz – dessen wir „bewusst werden [können], ebenso wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewusst sind“ (S. 53) –, „das einzige Faktum der reinen Vernunft“ sei (S. 56; Hv M. O.). Dies ist, wie oben gesehen, eine tatsächliche geistige Handlung (Faktum) in werden kann“ (KpV V, S. 48). Hieraus folgt, dass der freien „Willkür“ „keine Anschauung völlig korrespondierend gegeben werden kann“ (S. 65). 49 Vgl. KpV V, S. 59. 50 Zur ausführlicheren Deutung des Zusammenhangs von den zwei Modi der Freiheit, s. Höffe (2012), S. 130–145. 51 Gerhardt fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen sehr prägnant zusammen: „Warum ist meine »Entschließung und That« mehr als eine Folge vorausgehender Naturereignisse? Antwort: Weil mein Selbstbewusstsein – sit venia verbo – »dazwischen« liegt! Einfacher: Weil ich es bin, der vom Stuhl aufsteht. Genauer: Weil ich durch nichts anderes als durch meinen eigenen Willen ausschließe, den stets und auch in diesem Fall vorausliegenden Naturursachen »subordinirt [sic!]« zu sein ([Prolegomena IV, 347]). Ergo: Die Freiheit liegt nichts anderem als im eigenen, willentlichen Tun. Die eigene Entscheidung, und nur sie, überwindet die »subalternen« Naturursachen und setzt souverän – aus dem bloßen Bewusstsein, etwas »von selbst anzufangen« ([A 446 / B 474]) – ihren eigenen Anfang. Durch diesen Akt einer selbstbewussten Tat ist die Freiheit gesetzt. Und wer Selbstbewusstsein hat. der kann es in eigener Kompetenz auch für sich selbst beweisen.“ (Gerhardt (2002), S. 197). 52 Vgl. etwa Ameriks (2011).
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
dem Sinne, dass das Subjekt sich selbst dem ein und demselben Subjekt immanenten moralischen Gesetz unterwirft, das ebenso durchgängig bestimmt ist wie die sämtlichen Naturgesetzen, die sonst die menschliche endliche Natur bestimmen. Durch diese Handlung ist der Mensch von allen übrigen andersartigen Seienden (Tier, Maschine usw.) unterschieden. Er erkennt sich selbst als etwas über die ganze physikalische Natur „erhabenes“ dadurch an, dass er sich dem moralischen Gesetz unterwirft, gleichsam als ein Glied einer höheren Welt wie der sinnlich zugänglichen. D. h. in dem Augenblick, wo das Subjekt selber sein Begehren gemäß dem seiner Vernunft immanenten Gebot bestimmt, macht es sich selbst von der bloß endlichen Natur frei und ist kraft seiner dasjenige Wesen zugleich, als welches es immer schon existieren will. Kant zufolge signalisiert das „Gefühl der Achtung“, dass diese Handlung mit dem immerwährenden Willen im Einklang ist. Dieses Gefühl ist „lediglich durch Vernunft bewirkt“ (S. 135) – mithin ein „selbstgewirktes Gefühl“ (GMS IV, S. 402) – und als solches die „Wirkung vom Bewusstsein des moralischen Gesetztes“ (KpV V, S. 75). Wenn der Mensch sich nun als ein freies Wesen betrachtet, so kann er nicht umhin zu fragen, wie wir gesehen haben, ob seine Freiheit in der Welt doch nicht bedeutungsleer sei. Und dieser Zweifel stimmt mit der Absicht der ersten Kritik überein, dem „Glauben“ einen Platz bekommen zu lassen (B XXX), welchem die Möglichkeit des Vermögens der Freiheit vorausgehen muss, um erst ein wahrhafter Glaube statt eines bloßen Wunschs, also eine sichere Aussicht in die vorgestellte Zukunft zu sein. Was heißt es nun, nach Kant einen „Glauben“ zu haben? Glaube ist eine Art von „Fürwahrhalten“. Dieses enthält den zwar nicht objektiv, jedoch subjektiv zureichenden Grund, ein gewisses Objekt anzunehmen (A 822 / B 850; vgl. Logik IX, S. 67 ff.). Gesetzt, eine Handlung ist absolut notwendig, so muss der durch sie hervorzubringende Zweck (das Objekt) dabei als realisierbar angesehen werden. Der Handelnde hat so einen „Glauben“ an die Realisierbarkeit des Zwecks bzw. gewollten Objekts. Im Übrigen darf man niemanden zwingen etwas zu glauben, weil der Glaube als solcher durchaus nur subjektiv notwendig ist. So muss der wahrhafte Glaube immer ein „frei“ angenommener sein (Logik IX, S. 69 Anm.). Dem freien Menschen, der einen freien Glauben hat, steht die Aussicht zur Verwirklichung seines Zwecks offen, wonach er seine Handlung orientieren soll. Anders gesagt sieht er die Verwirklichung seines Zwecks aus der Ferne voraus.
VII. Die moralische Verachtung als negatives Signal der guten Gesinnung 111
VII. Die moralische Verachtung als negatives Signal der guten Gesinnung Bei der Frage nach dem Anfang des Politischen müssen wir davon ausgehen, dass der Mensch unter dem Despotismus seiner Mentalität nach wie ein Kind im „Gängelwagen“ ist, das lediglich träumt, wo seine Eltern oder aber Vormünder alles ihm entgegenbringen, was es zum Leben braucht. So überhört er aber die Stimme seiner Vernunft. Das ist aber der mentale Uraktus zum Tier-Werden. In diesem Sinne ist das Kind-Bleiben-Wollen der absolute, innere Feind der Politik als Mensch-Werden. Der Mensch soll sich vielmehr von der ihm von außen auferlegten „Fesselung“ befreien und auf freiem Fuß stehen, was als Merkmal der Gattung „Mensch“ gilt (Anfang VIII, S. 110).53 Diese Figur entspricht derjenigen, die Kant als die erste Gestalt des Menschen darstellt, der sich in der Gesellschaft zum freien Gebrauch der Vernunft entschlossen hat; eines aus dem „Gängelwagen“ kaum aufgestandenen Kinds (WiA VIII, S. 35). Das nunmehr auf freiem Fuß stehende Kind ist fähig, seinen Blick auf allerlei Richtungen zu werfen, auch auf seine eigenen Füße, die ihm nicht mehr von dem Gängelwagen verborgen sind. Das mag ihm die Überzeugung verschaffen, dass es wirklich steht, nicht nur dem subjektiven Gefühl, sondern auch der objektiven Tatsache nach. Darüber hinaus kann es seinen Blick auf den Weg werfen, der zu seiner Zukunft führt. Es hat sich nämlich eine „Aussicht“ gewonnen, weil das Aufstehen zugleich ein Zurückweisen der „Vormundschaft“ oder der vorschützenden „Hand“ des Staatsoberhaupts, die bisher die Sicht des Kinds auf den Zweck des letzteren eingeschränkt hat.54 Es steht so schon auf dem Weg, der zu ihm selbst in der Gestalt führt, zu der es werden will, obwohl er immer noch und für immer ein „Scheideweg“ bleibt, solange es ein Mensch ist. Obwohl das Stehen lediglich der Ausgangspunkt zum künftigen freien Laufen oder als das Noch-Nicht-Laufen Nullpunkt des Laufens ist, ist es doch, nach dem unendlichen Urteil, etwas an sich „Positives“, nämlich ein Aktus der Freiheit. Das Kind fängt damit an, die Gewicht des eigenen Selbst zu tragen. All das ist zwar eine Metapher und doch zugleich mehr als eine bloße. Denn inhaltlich betrachtet enthält der aufstehende Gestus des Kinds alle Mo53 Es gab im Achtzehnjahrhundert eine Debatte darum, ob die Vernunft die Gestalt und Funktion des menschlichen Körpers bestimmt, oder umgekehrt die Materie zur Vernunft geführt hat. Kant stimmt für das erstere, während Pietro Moscati (1739–1824), dessen Aufsatz Kant rezensiert hat, und Herder für das letztere stimmen. Hieran ist wiederum Kants absolute Wertschätzung der Vernunft zu erkennen. Dazu Brandt, S. 154 ff. 54 Zur Etymologie des Worts „Vormundschaft“ s. Sommer, S. 117–139.
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
mente in sich, die für das Glauben-Haben nötig sind. Bei Kant markiert die Reflexion über das Aufstehen-Können als die einfachste Tatsache der menschlichen Freiheit den ersten Übergang in seine kritische Überlegung über Freiheit und führt ihn zur Begründung des freien Glaubens. Wenden wir diese Denkbahn auf den Menschen unter dem Despotismus an, so lässt sich aus seiner Sicht her, wie er eine Aussicht in die Glückseligkeit aus Freiheit gewinnt, die ihn aufzufordern vermag, Mut zum Aufstehen zu fassen. So viel gesagt, gilt es hier noch einen Begriff zu klären, nämlich den der moralischen Verachtung, um schließlich eine Antwort auf unsere Frage zu bekommen: Wie fängt der Mensch an, politisch zu handeln, um jenen stets wiederkehrenden Verdacht bedeutungsloser Freiheit aufheben und darüber hinaus mit seiner eigenen Existenz zufrieden sein zu können? Denn wir haben Kant sagen gehört, ein jeder Mensch fühle einen „Widerwillen“ in sich gegen den Despotismus, oder genauer, die laut gewordene despotische Maxime. Obwohl Kant einerseits sagt, ein Despot könne auch ein guter König sein, so vergisst er andererseits nicht hinzuzufügen, dass kein Herrscher wagen würde, zu seinen Untertanen direkt zu sagen, alle ihre Rechte seien von seinem Wohlwollen abhängig, da er dadurch „alle Untertanen gegen ihn empören würde“ (Streit, VII, S. 87; Hv M. O.). Das legt nun nahe, dass ein angeblich absoluter, aber nicht a priori geltender Gehorsam für den Menschen unerträglich ist. Um folgerichtig zu sein, müsste Kant gemeint haben, dies gelte tatsächlich für „alle“ einschließlich der feigen und faulen Menschen, die normalerweise unter dem Despotismus geistig nur schlafen und so auf ewig träumen. Um erst sich des Widerwillens überhaupt bewusst zu werden, muss man etwas wollen können, auch wenn die Vorstellung des Objekts selbst noch verworren55 ist. Der phänomenologische Grund zu dieser Struktur ist schon an der Behauptung abzulesen: Die absolut freie Kausalität könne weder entstehen noch vergehen (A 539 / B 567). Diese Struktur ist analog zu der Sachlage, dass das „Ich denke“ de iure alle meine Vorstellungen begleiten können muss (B 131 ff.), damit überhaupt eine theoretische Erkenntnis möglich wird. Denn man kann von dem Willen als der freien Kausalität sagen: Um überhaupt ein voluntatives Bewusstsein hinsichtlich der Vorstellung irgendeines Objekts als „mein Bewusstsein“ zu haben, muss das „Ich will X“ 55 Nach Kant besteht das epistemische Merkmal des Neugeborenen in seinem Unvermögen, eine deutliche Vorstellung von sich selbst zu haben. D. h. ihm fehlt noch das Selbstbewusstsein. Bevor er durch das erste Person Singular Pronomen „Ich“ zu sprechen angefangen hat, „fühlte [er] sich selbst.“ (Anthr. VII, S. 127) Wie wir oben gesehen haben, heißt „Bewusstsein“ nach Kant die „Vorstellung dass eine andre Vorstellung in mir ist.“ (Logik IX, S. 33) Demnach ist klar, dass wer kein deutliches Selbstbewusstsein hat, auch keine deutliche Vorstellung von etwas anderem als sich selbst haben kann.
VII. Die moralische Verachtung als negatives Signal der guten Gesinnung 113
meinen sämtlichen voluntativen Vorstellungen – „das Mannigfaltige der Begehrungen“ (KpV V, S. 65) – zugrunde liegen können.56 Anders formuliert muss man dazu über seine jeweiligen partikularen, „leidenden“ (GMS IV, S. 451) Gemütszustände hinaus transzendieren können, aber so, dass man immer auf sie auf eine besondere, allerpersönlichste Art bezogen bleibt. Man muss nämlich dabei das unmittelbare Bewusstsein haben, dass sie „seine“ sind. Nur so, gewissermaßen von seiner unmittelbaren Empfindung distanziert und gleichsam über sich selbst stehend, kann man sich zu einer gewissen Handlung bestimmen – z. B. ob er in seinen jetzigen Zustand bleibe oder aus ihm herausgehe usw. Umgekehrt, wenn ein unerträgliches Gefühl – beispielsweise „Verdruss“ oder „Entrüstung“ des Neugeborenen oder des Zorns des Untertans – entsteht, so muss dabei eine bestimmte Kraft präsent sein, deren Verhinderung als die Ursache jenes Gefühls gilt.57 Kurz: Der Widerwille gegen Unrecht und Böse ist die Kehrseite des ewigen Willens zum Guten und Recht. Kants Auffassung, dass das Bewusstsein der Bestimmung des Begehrens durch das moralische Gesetz eine Wirkung auf das „Gefühl“ hat und als „Achtung“ für das moralische Gesetz besteht, entblößt den Widerwillen als das Bewusstsein der Hemmung ein und desselben immerwährenden Willens.58 Gerade durch diesen Gedanken wird die von Kant stets wiederholte Behauptung unterstützt: Was nämlich gut sei, könne wohl jeder und, was hier besonders ausschlaggebend ist, selbst ein „Kind“ sagen59, sowie die mitschwingende Behauptung: Was gut sei, dürfe nicht einmal gelehrt werden, sondern nur „aufgeklärt“ (GMS IV, S. 397), d. i. durch Wegräumung aller Faktoren, die das innere Licht verblendet. Stolzenberg. ich sehe hat auch Spinoza diese Struktur des voluntativen Bewusstseins im Wesentlichen expliziert, wenn er in Ethica sagt: „Es ist unmöglich, dass der Mensch nicht ein Teil der Natur sei, und dass er nur Veränderungen erleiden könne, welche aus seiner Natur allein verstanden werden können und deren adäquate Ursache er ist [Fieri non potest, ut homo non ist Naturae pars, et ut nullas possit pati mutationes, nisi, quae per solam suam naturam possint intelligi, quarumque adaequata sit causa].“ (Spinoza, S. 392 f. [Ethica, Propositio IV Pars III]) Aber für uns ist die Differenz zwischen Kant und Spinoza viel wichtiger als ihre Gemeinsamkeit. Während Spinoza die Struktur des menschlichen voluntativen Bewusstseins einzig und allein gemäß der ewigen Notwendigkeit der durch und durch mechanischen Natur denkt, versucht Kant dagegen die Freiheit des Willens unter dem von der physikalischen Natur unabhängigen moralischen Gesetz zu fassen. Zu Kants Stellungnahme gegen Spinozistischen Monismus s. Ameriks (2012), S. 120–142. 58 „Dasjenige aber, dessen Wegräumung die Wirkung einer bewegenden Kraft verstärkt, muss ein Hindernis gewesen sein. Folglich ist alle Beimischung der Triebfedern, die von eigener Glückseligkeit hergenommen werden, ein Hindernis, dem moralischen Gesetz Einfluss aufs menschliche Herz zu verschaffen.“ (KpV V, S. 156) 59 s. z. B. Gemeinspruch VII, S. 286 ff. 56 Vgl.
57 Soweit
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
Dies lässt sich durch zwei Beispiele für den Prozess der Bewusstwerdung der Freiheit begreifen: „Setzet, dass jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: Ob, wenn ein Galgen vor dem Haus, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde? Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte? Ob er es tun würde oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getreuen zu versichern, dass es ihm aber unmöglich sei, muss er ohne Bedenken einräumen. Er urteilt also, dass er etwas kann, darum weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ (KpV V, S. 30)
Kant will durch diese zwei Beispiele den Rangordnung unter den drei Arten vom Begehren – der sexuellen Neigung, der Liebe zum Leben und dem Befolgung des moralischen Gesetzes immer wieder gebietenden Willen60 –, hinsichtlich ihrer Stärke zeigen, wobei die dritte am unwiderstehlichsten und allein unbedingt ist. Was uns hier interessiert, ist das zweite Beispiel, das den Prozess zeigt, wie die Stärke der letzten Art den Menschen die zweite für überwindbar halten lässt. Empfindet der Mann hier nicht zunächst den Widerwillen in dem Bewusstsein gegen eine moralisch unzulässige Handlung („ein falsches Zeugnis“), dass er es leisten „kann“, was er wider diese eigentlich „soll“? Geht Kant hier nicht stillschweigend davon aus, dass sich das Gefühl der Achtung für das Gesetz anlässlich einer durch dieses verbotenen Handlung als Widerwille gegen sie erhebt? Wir haben einen guten Grund so zu verstehen, da Kant am ähnlichen Beispiel verdeutlicht, dass eine böse Handlung dem Menschen einen „Abscheu“ gegen sie, genauer, gegen die ihr zugrundeliegende Maxime hervorruft: „Wenn ein dir sonst beliebter Umgangsfreunde sich bei dir wegen eines falschen abgelegten Zeugnisses dadurch zu rechtfertigen vermeinte, dass er zuerst die seinem Vorgeben nach heilige Pflicht der eigenen Glückseligkeit vorschützte, alsdann die Vorteile herzählte, die er sich alle dadurch erworben, die Klugheit namhaft machte, die er beobachtet, um wider alle Entdeckung sicher zu sein, selbst wider die von Seiten deiner selbst, dem er das Geheimnis darum allein offenbart, damit er es zu aller Zeit ableugnen könne; dann aber im ganzen Ernst vorgäbe, er habe eine wahre Menschenpflicht ausgeübt: So würdest du ihm entweder gerade ins 60 Vgl.
Religion VI, S. 26.
VII. Die moralische Verachtung als negatives Signal der guten Gesinnung 115 Gesicht lachen oder mit Abscheu davon zurückbeben, ob du gleich, wenn jemand bloß auf eigene Vorteile seine Grundsätze gesteuert hat, wider diese Maßregel nicht das mindeste einzuwenden hättest.“ (KpV V, S. 35; Hv M. O.)
Der Abscheu gegen eine laut gemachte böse Maxime ist ebenso notwendig wie das Gefühl der Achtung: „Die alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft sind […] die vom Guten und Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen notwendigen Gegenstand des Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheungsvermögens, beides aber nach einem Prinzip der Vernunft“ (S. 58; Hv M. O.). Der reine Wille bezieht sich notwendig auf das Gute oder das, was das moralische Gesetz gebietet. Anders gesagt schließt der Wille von sich selbst das Nichtgute aus. Aber wie tut sich das Böse als solches hervor aus der unendlichen Sphäre des Nichtguten heraus, damit man folgendermaßen sagen kann?: „Was wir gut nennen sollen, muss in jedes vernünftigen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheus […]. So ist es mit der Wahrhaftigkeit im Gegensatz mit der Lüge, so mit der Gerechtigkeit im Gegensatz der Gewalttätigkeit usw. bewandt.“ (S. 60 f.) Genauer formuliert: Wa rum ist die Entstehung des Abscheus eben durch das moralische Gesetz notwendig und wie geschieht er? Obwohl Kant das „Verabscheungsvermögens“ nicht so ausführlich wie die Notwendigkeit des Gefühls der Achtung erläutert, so lässt sich doch der Entstehungsmechanismus des Abscheus anhand dessen der Achtung rekonstruieren. Er ist in der Tat, wie oben angenommen, die genaue Kehrseite des Gefühls der Achtung. Oder aber sind die beiden Gefühle zwei Seiten ein und derselben Medaille. Um dies zu bestätigen, betrachten wir an dieser Stelle die Wirkung des moralischen Gesetzes auf das menschliche Gemüt. Obwohl Gefühle insgesamt sich unmittelbar nur auf die Gegenstände der Sinne beziehen, schließt dies doch nicht aus, dass das Übersinnliche im Menschen doch eine Wirkung auf das Gemüt hat. Nach Kant bringt das moralische Gesetz in der Tat dadurch ein „negatives Gefühl“ hervor, dass es die Neigungen zurückweist, die die Befolgung dessen hindern. Genauer: Dadurch, „dass es allen unseren Neigungen Eintrag tut“, muss das moralische Gesetz ein Gefühl bewirken, das „Schmerz“ genannt wird (S. 73). Dieser ist die Folge der doppelten Negation oder die der Wegräumung des Hindernisses gegenüber dem reinen Willen, der als solcher immer nur das will, was das Gesetz gebietet. Um die Sache zu veranschaulichen, könnte man sagen, es tue dem sinnlichen Selbst Weh, dass ihm das habituelle Begehren nach dem beliebigen Gegenstand der Sinne durch das moralische Gesetz verboten wird. Dieser Schmerz geschieht dadurch, dass das Selbst zwangsmäßig von dem Gegenstand seines Beliebens abgerissen wird.
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
Das Gefühl der Achtung ist natürlich nicht mit Schmerz gleichzustellen. Um genau zu sehen, von welcher Beschaffenheit es denn ist, muss man vom Folgenden ausgehen. Kant zufolge hat alle Gegenstände der Neigung nur einen bedingten Wert („Marktpreis“). Solange aber ein Mensch sich bloß auf dem Streben nach der Erlangung irgendwelcher Gegenstände beharrt, so hat er selbst, obwohl er vor den „übrigen Tieren“ den „Verstand voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann“, bloß einen „äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d. i. einen Preis, als einer Ware, in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigen Wert hat als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird.“ (TL VI, S. 434) Mit einem Wort bleibt er trotz seiner äußeren Freiheit ein bloßes Gebrauchsmittel ebenso für sich selbst wie für alle anderen, d. h. sein Wert ist bloß relativ zu allerlei Zwecke sowie mit ihm vergleichbarer Brauchbarkeit anderer Sachen. Dagegen allein „der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“ (TL VI, S. 434 f.)
Die „Würde“ des Menschen, der sich selbst aus freiem Stück dem moralischen Gesetz unterwerfen kann und soll, ist kategorial ganz anders als der bloße „Wert“ seiner Brauchbarkeit, zeichnet sich diesem gegenüber als „absolut“ aus. Anders gesprochen kann kein Seiendes in der Welt dem Menschen als solchem in seinem Wert gleichkommen, der seiner Würde gemäß zu existieren fähig ist, d. i. allem Menschen, sondern ist der Mensch „an sich“ selbst solcher Zweck, dem gegenüber allerlei andere Zwecke auf ihre Ansprüche auf Absolutheit verzichten müssen. Keiner von ihnen darf an die Stelle vom absoluten Zweck treten. D. h. nichts rechtfertigt eine Handlung, die das Sich-Unterwerfen des Menschen unter das moralische Gesetz unmöglich macht. Vielmehr, dass jeder Mensch selber dies leiste, ist das absolute Gebot des reinen Willens in jedem Menschen, und genau in diesem Gebot schlechthin besteht das Ansehen des moralischen Gesetzes, welches „Achtung“ von allem Menschen abnötigt. Aber was geschieht dabei eigentlich, wenn der Mensch ein Gefühl der Achtung für das Gesetz empfindet? Kant sagt einerseits: „Die Achtung ist so wenig ein Gefühl der Lust, dass man sich ihr in Ansehung eines Menschen nur ungern überlässt.“ (KpV V, S. 77) Denn das Gebot der Moralität sagt immer nur dezidiert, „gehorche!“, was doch dem Menschen zugleich
VII. Die moralische Verachtung als negatives Signal der guten Gesinnung 117
seine „eigene Unwürdigkeit so strenge vorhält“ (ebd.), da er von Natur aus bestrebt ist, sich Genuss zu verschaffen, der dem moralischen Gesetz zuwiderläuft. „Gleichwohl“, sagt Kant, ist in der Achtung „doch wiederum so wenig Unlust, dass, wenn man einmal den Eigendünkel abgelegt und jener Achtung praktischen Einfluss verstattet hat, man sich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht sattsehen kann, und die Seele sich in dem Maße selbst zu erheben glaubt, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht.“ (ebd.; Hv M. O.) D. h. nachdem der Mensch jenen „Schmerz“ ausgehalten hat, der durch sein Abreißen vom Streben nach beliebten, sinnlichen Gegenständen geschieht, sieht er sich in der Achtung als ein ganz anderes, höheres Wesen als ein bloß endliches. Demnach ist das Gefühl der Achtung das der Erhebung oder aber des geistigen Aufschwungs des Menschen über sein sinnlich affiziertes Selbst sowie alle anderen dergleichen Erdwesen.61 Indem er sich geistig über die inneren Hindernisse der Befolgung des Gesetzes hinweg dorthin versetzt, wo der reine Wille in ihm aus der nächsten Ferne nunmehr ungehindert laut spricht, fängt er selber an, diesem zu entsprechen. Sich selbst in der Achtung als eine Intelligenz betrachtend, „eröffnet“ der Mensch sich so den Blick auf eine übersinnliche Welt (vgl. KpV V, S. 94). Nun enthält ein und dasselbe Gefühl der Achtung zugleich eine „intellektuelle Verachtung“ vor dem „vernünftigen von Neigungen affizierten“ Subjekt (S. 75; Hv M. O.). Dies macht Kant sehr klar, wenn er in Religion wie folgt ausdrücklich behauptet: „[D]as eigentliche Böse aber besteht darin, dass man jene Neigungen, wenn sie zur Übertretung [der Pflicht] anreizen, nicht widerstehen will, und diese Gesinnung ist eigentlich der wahre Feind.“ (Religion VI, S. 58 Anm.; Hv M. O.) Ferner in derselben Schrift heißt es: „Die Sinnesänderung ist nämlich ein Ausgang vom Bösen, und ein Eintritt ins Gute, das Ablegen des alten, und das Anziehen des neuen Menschen, da das Subjekt der Sünde (mithin auch allen Neigungen, sofern sie dazu verleiten) abstirbt, um der Gerechtigkeit zu leben. In ihr aber als intellektueller Bestimmung sind nicht zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Aktus enthalten, sondern sie ist nur ein einiger, weil die Verlassung des Bösen nur durch die gute Gesinnung, welche den Eingang ins Gute bewirkt, möglich ist, und so umgekehrt.“ (Religion VI, S. 74; Hv M. O.)
61 Diesbezüglich sind Heideggers folgende Zeilen über die Bedeutung der Achtung bei Kant zutreffend: „Als was oder genauer wer bin ich mir im Gefühl der Achtung offenbar? Dem Gesetz mich unterwerfend, unterwerfe ich mich mir selbst als reiner Vernunft. In diesem Mich-mir-unterwerfen erhebe ich mich zu mir selbst als dem sich selbst bestimmenden freien Wesen. Dieses eigentümliche unterwerfende Sich-erheben seiner selbst zu sich selbst offenbart das Ich in seiner ‚Würde.‘ “ (Heidegger (1965), S. 145; Hv M. O.).
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Der Feind des Guten, den der Mensch ständig zu bekämpfen hat, stirbt in demselben Moment ab, in dem dieser sich selbst aktiv durch einen geistigen Aktus zu dem eigenen Willen gehorchenden Subjekt macht. Es ist hier wichtig, dass dieses aktive Sich-Beugen vor dem eigenen Willen hebt den Menschen mit einem Schlag zu einer Position, wovon her betrachtet das alte, auf den bloßen Neigungen beharrenden Selbst verachtenswert erscheint. Kant sagt, das „Leben“ in „Vergleichung und Entgegensetzung“ mit der achtungswürdigen Subjektivität auch „mit aller seiner Annehmlichkeit gar keinen Wert“ (KpV V, S. 88). Die Verachtung, die hier unser Erörterungsgegenstand ist, ist nämlich auf solche Subjektivität gerichtet, die trotz der unvergleichbaren Würde der moralischen Persönlichkeit doch immer noch auf den Genuss des Lebens aus ist. Sie ist Folge des Bewusstseins der Wertlosigkeit, der moralischen Nullität des bloßen vegetativen Lebens. So betrachtet kann man sagen, die Verachtung sei primär auf die hinsichtlich der Willkür freie Subjektivität in sich selbst gerichtet, die gegen die Moralität und für die etwaige bloße Lebensannehmlichkeit zu stimmen tendiert. Dass aber diese Verachtung überhaupt als eine negative Stimmung sich gegenüber gilt, zeigt ex negativo, dass der Mensch eigentlich nicht bloß wie ein Tier existieren will, sondern sich bestimmt fühlt, seinem reinen Willen entsprechend zu leben. Verachtung signalisiert also die existenzielle Ungereimtheit in der bloß tierischen Existenzweise des Selbst. Sie ist aber für die moralische Politik äußerst bedenklich, weil sie den Menschen „demütigt“.62 Kant zeigt dies äußerst deutlich auf eine etwas skandalöse Weise an einer Stelle in der Tugendlehre unter der Rubrik: „Von der wollüstigen Selbstschändung“. Gemeint ist hier nämlich die Masturbation, die nach Kant ein solches „Laster“ ist, selbst dessen „Nennung“ „bei seinem eigenen Namen für unsittlich gehalten wird“ (TL VI, S. 425). Es seien hier trotzdem die entsprechenden Zeilen angeführt: „Dass ein solcher naturwidriger Gebrauch (also Missbrauch) seiner Geschlechtseigenschaft eine und zwar der Sittlichkeit im höchsten Grad widerstreitende Verletzung der Pflicht wider sich selbst sei, fällt jedem zugleich mit dem Gedanken von demselben sofort auf, erregt eine Abkehrung von diesem Gedanken in dem Maße, dass selbst die Nennung eines solchen Lasters bei seinem eigenen Namen für unsittlich gehalten wird, welches bei dem des Selbstmords nicht geschieht63, 62 Kant sagt: Eine „Lüge“, deren ein Mensch „bewusst gewesen wäre, hätte seinen Mut niederschlagen müssen“ (KpV V, S. 60). Dem ist so, können wir nunmehr ohne Weiteres annehmen, weil seine zur Lüge geneigte Subjektivität in seinen Augen seine Würde fraglich macht. 63 Dies ist Kant zufolge der Fall, weil der Selbstmord einen gewissen Grad von „Mut“ voraussetzt (S. TL VI, S. 425).
VII. Die moralische Verachtung als negatives Signal der guten Gesinnung 119 den man mit allen seinen Gräueln (in einer species facti) der Welt vor Augen zu legen im mindesten kein Bedenken trägt; gleich als ob der Mensch überhaupt sich beschämt fühle, einer solchen ihn selbst unter das Vieh herabwürdigenden Behandlung seiner eigenen Person fähig zu sein“ (TL VI, S. 425.; Hv M. O.)
Hier zeigt sich die extremste Form der Selbstverachtung, die sich als das Schamgefühl äußert. Dieses besteht in dem reflexiven Bewusstsein des Menschen, dass er sich „unter das Vieh“ herabwürdigt. Dies tun ist aber, wie es sich aus unserer bisherigen Analyse nunmehr deutlich herausstellt, schlechthin unmoralisch, steht der Sorge für die eigene Freiheit diametral entgegen. Rufen wir uns an dieser Stelle ins Gedächtnis, dass Kant zufolge selbst ein Despot hätte zu seinen Untertanen nicht sagen können, ihre Wohlfahrt von seinem Wohlwollen abhänge, weil das alle gegen ihn empören würde, so ist nunmehr der Grund dieses Gedanken vollkommen klar: Der Mensch verachtet eine solche Subjektivität, die ihn zum Tier herabwürdigt, auch wenn sie die seine ist. Man braucht sich nicht lange zu überlegen, um nachzuvollziehen, wie der Mensch sich fühlt, wenn ein anderer ihn wie ein Tier behandelt. Dieser macht sich in mindestens zweierlei Hinsicht der Verachtung schuldig. Denn zum einen können seine Untertanen einfach nicht erdulden, als ein bloßes Gebrauchsmittel zu seinem Zweck behandelt zu werden. Zum zweiten macht ein solcher Despot sich selbst zum bloßen Tier, wenn er dies tut, und so äußerst verachtungswürdig. Der ist gleichsam ein nackter Narzisst. Wie feig und faul der Mensch unter einer angeblich wohlwollenden Regierung auch immer sein mag, dass „alle“ sich über die despotische Maxime entrüsten, legt nahe, dass der Anlass zur gerechten Politik den Bürgern selbst unter der despotischen Regierung immer, jedoch auf eine negative Weise vorhanden ist. Aber genau an dieser Stelle kehrt das Grundanliegen, nämlich das „Gerechtigkeitsrisiko“ bei der Kantischen Politik, in einer zugespitzter Form zurück. Gesetzt, die zunächst und zumeist bloß träumenden Kinder gegenüber der auf es gerichteten Verachtung sehr sensitiv seien und sich keine Spur von auf ihn gerichteter Verachtung entgehen ließen,64 so wird die despotische Regierung immer vor der Gefahr des bürgerlichen Aufstands stehen müssen. Es liegt nahe, dass die Liebespflicht des Fürsten genau deshalb unverzichtbar ist. 64 Dies kann man meines Erachtens an Kants Aussage ablesen, dass der Egoismus des Kindes, sobald es sich ein Selbstbewusstsein gewinnt, nunmehr ständig fortschreitet, d. i. es versucht von dem Tag an immer, von allen anderen geschätzt zu werden (Anthr. VII, S. 127). Es wäre demnach nur natürlich, dass es umgekehrt die kleinste Spur der Beleidigung zu empfinden vermöchte.
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
Wir werden in dem folgenden Abschnitt sehen, dass diese Pflicht nicht einfach in die Brust des Fürsten derart hineingeschoben ist, dass die Bürger nichts gegen des Fürsten Unterlassung von ihr tun könnten, sondern es doch einen Weg gibt, den Fürsten zur Befolgung seiner Liebespflicht zu bewegen.
VIII. Liebespflicht des Fürsten als Aufforderung des Muts zum Selbstlaufen Wir haben in dem vorigen Kapitel festgestellt, dass Kants Politische Philosophie ein strategisches Moment enthält. An dieser Stelle sehen wir da rüber hinaus, dass dieses seine folgenschwere Anwendung bei dem politischen Schutz der Bürger gegen den Despotismus findet. Hier ist Kants Strategie doppelt: Sie ist einerseits auf die Selbstliebe des Fürsten und andererseits auf die der Bürger gerichtet. Beobachten wir hier zunächst die erstere. In dem Paragraph „Geheimer Artikel zum ewigen Frieden“ in Zum ewigen Frieden sagt Kant: „Ein geheimer Artikel in Verhandlungen des öffentlichen Rechts ist objektive, d. i. seinem Inhalt nach betrachtet ein Widerspruch; subjektiv aber, nach der Qualität der Person beurteilt, die ihn diktiert, kann gar wohl darin ein Geheimnis statt haben, dass sie es nämlich für ihre Würde bedenklich findet, sich öffentlich als Urheberin desselben anzukündigen.“ (ZeF VIII, S. 369)
Kant will hier sagen, dass der Gesetzgebungsprozess im öffentlichen Recht hinter der Tür geschieht, enthalte zwar einen Widerspruch, gebe es dennoch gewisse Angelegenheiten, als Urheber des Gesetzes bezüglich derer niemand gekannt werden möchte; daher sei es wohl psychologisch nachvollziehbar, dass es Gesetzgebungsfälle gibt, die man geheim bleiben lassen will, obwohl sie das öffentliche Recht betrifft. Was von Kant der „einzige Artikel dieser Art“ genannt wird, lautet: „Die Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Krieg gerüsteten Staaten zu Rat gezogen werden.“ (ebd.) Das besagt: Wenn der Regent einräumt, dass er sich von den Untertanen hinsichtlich politischer Entscheidungen beraten lassen muss, würde er sein Gesicht verlieren – nach Kant heißt dies „verkleinerlich“ für die „gesetzgebende Autorität“ (ebd.). Diese Besorgnis des Regenten berücksichtigend empfiehlt Kant ihm, dass er die Philosophen „stillschweigend“ auffordere, ihm über politische Entscheidungen Rat zu geben. Denn Kant zufolge tun sie dies ohnehin „schon von selbst“, wenn man dies ihnen nur nicht verbietet (ebd.). Ferner, so Kant, brauche der Regent die Meinungen der Philosophen nicht einmal zu bevorzugen, sondern bloß zu „hören“ (ebd.). Der Regent kann dadurch, so Kants stillschwei-
VIII. Liebespflicht des Fürsten als Aufforderung des Muts zum Selbstlaufen 121
gende Behauptung, die per definitionem unparteiliche Meinung der Philosophen hören, ohne dabei seine Selbstliebe zu verletzen, nur wenn er ihnen den öffentlichen Gebrauch der Vernunft erlaubt. Mit dieser Empfehlung versucht Kant, dabei völlig vor der Selbstliebe des Regenten wach bleibend, den Regenten dazu zu bewegen, dass dieser, mag es wohl zunächst aus Selbstliebe, die Philosophen über Politik miteinander reden zu lassen. Wenn nun der Regent in der Tat diese Pflicht beherzigt und ihr einen rechtlichen Ausdruck gibt, so müssen die Bürger sich zunächst damit zufrieden geben. Wie wiederholt angemerkt sagt Kant bei der Begründung des „transzendentalen Prinzips des öffentlichen Rechts“ wider alle Erwartung, dass die Maximen der Politiker mit dem Glück des Publikums übereinstimmen müssten, was nichts minder als Förderung der fremden Glückseligkeit, d. i. „Liebespflicht“ als „Tugendpflicht“, in Anspruch nehmen zu wollen scheint. Aber die Befolgung dieser Pflicht kann ebenso wenig von außen her dem Fürsten auferlegt werden, wie dieser den Inhalt des Glücks der Individuen nicht nach „seinen Begriffen“ bestimmen darf. Es dürfen beide Parteien im Staat im Rahmen der moralischen Politik auf das Innere der anderen nicht eingreifen. Ferner ist es auch nicht wünschenswert, dass die Bürger zu viele „Gunst“ von der Regierung erwarten, da sie doch „Abhängigkeit“ ihres „Wohls“ vom anderen zur Folge hat.65 Daher muss auch die Liebe des Fürsten, wie für Kant immer der Fall sein soll, durch „Achtung“ gemäßigt werden – es gibt keine „wahre Liebe“ ohne „Achtung“ (Ende VIII, S. 339) –, damit der für die Freiheit beider Seiten unverzichtbare geistige Raum zwischen ihm und seinen Untertanen nicht verwischt wird.66 Trotzdem schließt all das doch nicht aus, dass der Regent anlässlich äußerer Umstände tätlich seine Liebespflicht erfüllen will. Dies tun ist nun zwar nicht hinreichend für die Erfüllung der Tugendpflicht, aber doch ein Stück mehr als eine minimale Leistung dafür. Kant sagt: Es werden die „Pflichten gegen den Nebenmenschen aus der ihm gebührenden Achtung nur negativ ausgedrückt, d. i. diese Tugendpflicht wird nur indirekt (durch das Verbot des Widerspiels) ausgedrückt werden.“ (TL VI, S. 464 f.; Hv M. O.) Demnach heißt es: Wenn der Regent die Redefreiheit mit seiner „Vergünstigung“ (Gemeinspruch VIII, S. 304) gesetzlich institutionalisiert, so geht er über das bloße Verbot der Nichtachtung hinaus, weil der entsprechende gesetzlich gesicherte Rahmen und dessen Offenhalten als der Aus65 „[Wir werden] gegen einen Armen wohltätig zu sein, uns für verpflichtet erkennen; aber, weil diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meiner Großmut enthält, die doch den Anderen erniedrigt, so ist es Pflicht, dem Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohltätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demütigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten.“ (TL VI, 448 f.). 66 Hierzu s. etwa La Caze; Ferguson, S. 160 ff.
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
druck seiner Achtung mindestens für das Vermögen zum freien Gebrauch der Vernunft aller angesehen werden können. Die Frage ist nun, wie könne dies in der Tat geschehen?67 Werfen wir unser Augenmerk auf die Empfänger der stillschweigenden Aufforderung des Fürsten zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft, so zeigt sich, dass ein und dasselbe an den Fürsten adressierte Rat Kants in den Augen der Philosophen selbst, von denen nach Kant es immer eine gewisse Menge in der Gesellschaft gibt68, eine etwas, aber entscheidend andere Botschaft zu haben scheinen muss. Sie lautet sapere aude!, doch mit allen in ihr enthaltenen Erfordernissen, wenn der Regent aus welchem subjektiven Grund auch immer ihnen die Redefreiheit gesetzlich sichert. Sie werden sich auf keinen Fall die glückliche Gelegenheit entgehen lassen, ihre „Meinung über das, was von den Verfügungen“ des Fürsten ihnen „ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen.“ (Gemeinspruch VIII, S. 304) Ideal vorgestellt wird ihre Absicht bei dem nunmehr ihnen erlaubten öffentlichen Vernunftgebrauch nicht bloß auf Vermeidung der Kriegsgefahr eingeschränkt, sondern darüber hinaus immer zugleich auf den ewigen Frieden in Übereinstimmung mit den Rechtsprinzipien gerichtet, weil sie Philosophen sind. Sie werden zwar es weder als erlaubt noch möglich ansehen, Frieden über wörtlichen oder tätlichen Widerstand gegen die Regierung zu erreichen (S. 305). Denn so würde man lediglich dem „Oberhaupt“ „Besorgnis“ einflößen, „dass durch Selbst- und Lautdenken Unruhen im Staat erregt“ würden, was heißt, „ihm Misstrauen gegen seine eigene Macht, oder auch Hass gegen sein Volk69 erwecken.“ (S. 304) Sie gehen dennoch in aller Gelassenheit davon aus, dass das Oberhaupt weder „mit himmlischen Eingebungen begnadigt“ 67 Der entsprechende Verlauf, den ich hier skizziere, mag wohl die Einwände erregen, dass er allzu optimistisch sei und die „Philosophen“ dabei seien wie ein deus ex machina dargestellt. Aber an dieser Stelle lasse ich mich zunächst mit der Darstellung zufrieden geben, da sie durchaus im Einklang mit Kant steht und ich die ihr zugrunde liegende Logik in dem folgenden Kapitel noch ausführen werde. 68 Kant sagt: „Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden.“ (WiA VIII, S. 36; Hv M. O.). 69 Nach Kant ist „Hassen“ etwas weniger als „Verachten“. Um das „Laster“ sowie „alle Anreize dazu“ nicht „bloß als ein zu fürchtendes Wesen zu hassen“, sondern auch zu „verachten“, ist nämlich erforderlich, „dass die „Vernunft genugsam Stärke in sich fühlt“ (Religion VI, S. 58). Demnach wäre der bloße Hass in moralischer Hinsicht an und für sich bedeutungsleer, sogar schädlich.
VIII. Liebespflicht des Fürsten als Aufforderung des Muts zum Selbstlaufen 123
noch „über die Menschheit erhaben“, daher bei der Anwendung der Gesetze immer mit Irrtum bedroht ist (ebd.). Sie wollen der Regierung durch Wort und Tat zeigen, dass die Regierung die „Kenntnisse, die ihre eigene wesentliche Absicht befördern“ nur dadurch bekommen kann, dass „sie den in seinem Ursprung und in seinen Wirkungen so achtungswürdigen Geist der Freiheit sich äußeren lässt“ (S. 305). Mit anderen Worten sind sie bereit selber ein Beispiel davon abzugeben, dass die zum Ausdruck gebrachte Vernünftigkeit der Bürger für die salus publica als suprema lex civitatis in der Tat funktional ist und der Regierung nur zugutekommen kann. All dies tun die Philosophen, weil sie verstehen, was Kant mit der folgenden Aussage beabsichtigt: „Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: Räsoniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt, nur gehorcht! So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge, so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: So wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch diese der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.“ (WiA VIII, S. 41 f.; Hv M. O.)
In den Augen der Philosophen ist dieser Gang gar nicht „paradox“, sondern der Natur menschlicher Dinge angemessen. Denn das Gebot des aufgeklärten Monarchen: „Räsoniert und gehorcht“, ist erstens völlig im Einklang mit ihrer Vernunft; sie werden beides zugleich schon von selbst gerne tun. Sie empfangen es als die Stimme der eigenen Vernunft die hier durch den Regenten repräsentiert ist. Sie wissen zweitens, dass dieses Gebot und die ihm entsprechende Institution als die angemessene Art und Weise des Fürsten seine „Tugendpflicht“ zu erfüllen, d. i. den Menschen „mehr als Maschine“ und seiner „Würde“ gemäß zu behandeln. Die auf ihren Federn auferlegten „Schranken“ betrachten sie drittens als willkommen. Denn dieses außerparlamentarische, aber um nichts minder öffentliche Forum ist der eigentliche Ort der Selbstaufklärung des Menschen70, deren Schlüssel in der reflexiven Wirkung der Aufklärung auf sich besteht, welcher nicht durch etwaige andere Privatinteressen kontaminiert werden soll. 70 Vgl.
B. VIII.
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
Dies weist aber auch darauf hin, dass hier die größte Gelegenheit für die nicht eigens philosophisch gebildeten Bürger besteht, aus dem kindischen Schlummer herauszugehen. Nach Kant ist die „pflichtmäßig“ freie, nach dem moralischen Gesetz handelnde Person der Gegenstand der „Achtung“, da sie für den Zuschauenden aussieht wie eine Verkörperung oder ein „Beispiel“ des freien Willens selbst. Die Philosophen, die innerhalb des Schranken der erlaubten Redefreiheit öffentlich über Politik sprechen, machen Beispiele der achtungswürdigen Handlung aus. Aber der eigentliche Gegenstand der Achtung liegt in den Zuschauenden selbst: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt.“ (GMS IV, S. 402 Anm.) Worauf „geachtet (attentio)“ wird, ist hier das Gesetz in dem Zuschauenden selbst.71 Jene Person bewirkt dem Zuschauenden das Gefühl der Achtung, weil sie tut, was dieser selber eigentlich tun will (S. 411). Als ein Beispiel „erregt“ sie dem Zuschauer „den Wunsch […], auch so handeln zu können“, oder das immer schon gewollte Selbst zu werden. Und Kant fügt hinzu: „Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen Eindruck“ (ebd.).72 So wird das Kind dazu aufgemuntert, nunmehr in seiner entwickelteren Gestalt hervorzutreten, d. i. sich, aus dem mit ihm sympathisierenden Blick von Kant her betrachtet, auch wenn nicht völlig bewusst, durch seine eigentlich immer in ihm selbst bewirkende Kraft – den Willen –, zu bewegen. Indem es so die vorschützende Hand eines Anderen zurückweist, lässt es zugleich seinen Willen, das innere Licht73 sich ungehindert in ihre eigentümliche Richtung hineinstrahlen – weswegen dem Begriff „Aufklärung“ bei Kant das „Selbst“ (im Sinne von Reflexivum „sich“) hinzugefügt werden soll.74 Und dieses Licht beleuchtet den Weg, auf dem das Kind nunmehr in die Ferne hineinblickend steht. 71 Henrich zufolge verdankt das Wort „Achtung“ Kant die Sinneserweiterung um die Bedeutung von „reverentia“ (Henrich, S. 36). 72 Zu dieser reflexiver Wirkung des Beispiels noch ausführlicher im Kapitel D. 73 Kant vergleicht die Vorstellung des Ich(heit) mit „Licht“ (Anthr. VII, S. 127). 74 Dies besagt zugleich, dass jedem die Möglichkeit der Aufklärung offen steht. Höffe sagt diesbezüglich zu Recht: „Sobald das Wesen der Aufklärung nicht in einer intellektuellen, sondern einer charakterlichen Leistung besteht, sind nicht Scharfsinn, Brillanz, Kreativität und Originalität entscheidend, sondern geistige Anstrengung und geistige Courage. An die Stelle der im Französischen vorherrschenden Licht metapher tritt das Selbstdenken, das wiederum jedem offensteht“ (Höffe (2012), S. 19). Die gerade Kehrseite ein und derselben Sache schildert Foucault sehr präzise, wenn er folgendermaßen sagt: „Ich glaube, dass [Kant mit Faulheit und Feigheit] – man sollte darauf näher eingehen – nicht moralische Schwächen ‚gemeint‘ hat, sondern eine Art von Mangel im Verhältnis der Autonomie zu sich selbst. Die Faulheit und die Feigheit sind dasjenige, weshalb wir uns nicht selbst zu der Entscheidung, der Kraft und dem Mut durchdringen, mit uns selbst jene Beziehung der
VIII. Liebespflicht des Fürsten als Aufforderung des Muts zum Selbstlaufen 125
Konsequenterweise sieht Kant zwar den menschlichen Willen auf einem „Scheideweg“75 stehen (GMS IV, S. 400), da er von materiellen Gegenständen zum falschen Weg verführt wird, obwohl ein „Kompass“ – das moralische Gesetz – eigentlich immer schon zuhanden ist (S. 403). Der Mensch wird daher solange ständig desorientiert, wenn er sich nicht wiederholt am moralischen Gesetz in seinem Willen orientiert. Jedoch ist der Anlass zum Selbstdenken im Raum zum öffentlichen Vernunftgebrauch selbst auf die beschriebene Weise schon enthalten. Wenn dem so ist, bleibt nichts mehr übrig für die Regierung außer immer nach dem Prinzip des öffentlichen Rechts zu handeln. Wenn nach ein und derselben Maxime einerseits der despotisch väterliche Herrscher zurücktritt und andererseits der Bürger selbst aufstehend ihn zurückweist, so handeln beide Parteien schon pflichtmäßig frei. Dabei gelten sie alle als „Beispiele“ ein und desselben Gesetzes, das dem Willen aller innewohnt. Anders gesagt sind alle Handelnden im Staat Spiegelbilder voneinander, die jeden zur Nachahmung ermutigen. Die Nachahmung darf aber nicht eine bloße Kopie76, sondern muss selbst eine freie selbstgewirkte Handlung sein. Denn, was man am Spiegelbild seiner anerkennt, ist sein eigener Wille. Sie sind daher selber die belebten Beweise dafür, dass ihr Begriff der Freiheit in dieser Welt gar nicht bedeutungslos ist, sondern durch freie Handlungen selbst immer zuwachsende, praktische Effekte hervorbringt. In der Hervorbringung einer sich geografisch synchron sowie diachron erweiternden Welt durch freie Handlungen besteht die eigentliche Aufgabe der Politik, die jeder Mensch selber lösen soll.
Autonomie zu unterhalten, die uns erlaubt, uns unserer Vernunft und unserer Moral zu bedienen. Folglich besteht das Ziel der Aufklärung gerade in der Neuverteilung der Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen.“ (Foucault 2012, S. 53). 75 Vgl. TL VI, 380 Anm. 76 Kant sagt, dass die Welt nur mit Kopien erfüllt würde, wenn jeder im Urteil die anderen bloß nachahmt. Aber eine solche Welt wäre für Kant unerträglich: „Ein Vorurteil aus Nachahmung kann man auch den Hang zum passiven Gebrauch der Vernunft nennen, oder zum Mechanismus der Vernunft statt der Spontaneität derselben unter Gesetzen. Vernunft ist zwar ein tätiges Prinzip, das nichts von bloßer Autorität, auch nicht einmal, wenn es ihren reinen Gebrauch gilt, von der Erfahrung entlehnen soll. Aber die Trägheit sehr vieler Menschen macht, dass sie lieber in anderer Fußstapfen treten als ihre eigenen Verstandeskräfte anstrengen. Dergleichen Menschen können immer nur Kopien von anderen werden, und wären alle von der Art, so würde die Welt ewig auf einer und derselben Stelle bleiben.“ (Logik IX, S. 76; Hv M. O.) Die mit Kopien erfüllte Welt ist gleichsam eine Welt ohne Spur von Freiheit. In dieser Hinsicht ist der „Mut“ zum Selbstdenken für Kant unverzichtbar, wenn die Welt als ein „Schauplatz“ des Menschen (vgl. Geographie IX, S. 158), also als der Ort, wo die menschliche Freiheit sich darstellt, gelten soll. Zu Kants Gebrauch des Worts „Spiel“ s. Foucault (2010).
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C. Das Gewicht des Selbst und der Mut zur Aufklärung
IX. Schlussbemerkung und Ausblick In diesem Kapitel haben wir das Gewicht des Selbst zum Ausgangspunkt genommen. Wir haben den Menschen selbst befragt, wie er das Gewicht selber tragen wollen kann. Es wurde zunächst festgestellt, dass das Gewicht die Kehrseite des reinen Wollens im Menschen ausmacht, als ein freies, nichtendliches Wesen in einer zweckmäßig geordneten Welt eine Rolle zu spielen. Demnach kann das Positive an der Selbstemanzipation qua Aufstehen oder Ausgehen aus dem Gängelwagen nichts als dieses Streben, der Wille zum Mensch-Werden begriffen werden, der, aus Kants Sicht her betrachtet, eigentlich stets schon, auch wenn von dem gefesselten Menschen selbst unbemerkt, am Werk sein müsste. Erinnert man sich hier wieder an die Definition der Politik bei Kant, so wird die Art klar, wie Politik sich auf den Lebensweg des Menschen beziehen lassen soll. Politik als die „ausübende Rechtslehre“ darf sich nicht einmal direkt auf das innere Selbst des politischen Subjekts beziehen lassen. Vorausgesetzt, dass der Mensch nur selber den Weg zur Verwirklichung seines Willens herausfinden soll, so darf Politik ihn weder daran hindern noch äußerlich dazu zwingen danach zu streben, sondern höchstens lediglich dazu verhelfen: Sie kann nur den Weg zum Selbstwerden des Menschen auf eine solche Weise bearbeiten, die der praktischen Vernunft nicht widerspricht, die also jeden auf den inneren Kompass selber blicken und sich daran orientieren lässt. Es ist entscheidend für das Verständnis der Politik, die dem Verhelfen gewidmet ist, dass der negative Gestus des geistig ausstehenden Kindes, der die Fremdbestimmung zurückweist, ein positives Element in sich hat. Denn das Zurückweisen ist schon eine positive Handlung und setzt als solche die Spontaneität des Subjekts voraus. Um das Positive am Aufstehen zu erkennen, sei hier das vergegenwärtigt, was durch den negativen Gestus des Kindes zurückgewiesen wird. Nach Kant darf der Gehalt der Glückseligkeit des Untertans nicht vom Oberhaupt bestimmt werden. Kant verbietet damit, dass seine Blickrichtung von außen fixiert würde. Ein solcher Zustand wäre nichts anderes als der in einer Fesselung, was „Verdruss“ und „Entrüstung“ erweckt, mit der Folge, dass der Verdacht der Überflüssigkeit des Bewusstseins der Freiheit verstärkt wird, d. h. das Selbst wird dadurch immer schwerer. Hier hallt das Geschrei des Neugeborenen durch, das sich auf einmal als zweierlei behauptend vernehmen lässt: Er wolle keine Maschine werden, sondern ein Mensch. Politik darf den Menschen zu Selbstdenken und Selbstbestimmung lediglich ermutigen. Aber es gibt für Politik bezüglich ihrer Grundsätze eigentlich dafür nichts Weiteres zu tun, als jenes Prinzip des öffentlichen Rechts
IX. Schlussbemerkung und Ausblick127
streng zu beobachten.77 Denn alle Bürger können sich im durch dieses normierten öffentlichen Raum von selbst dazu aufmuntern, ihren Mut allen ihren Mitmenschen einschließlich des Fürsten als des primären rechtlichen Trägers der Reform nach Prinzipien zu zeigen, solange jener Raum durch Mitwirkung aller Menschen im Staat offen gehalten bleibt. Dies muss nun von allen Menschen im Staat als möglich gehalten werden, den Weg wozu wir oben dargestellt haben, wenn die eigentliche Aufgabe der Politik, wie Kant sie ausdrückt, in der Glückseligkeit des Bürgers bestehen soll. Denn unserer bisherigen Analyse zufolge wird der Mensch nicht erst nach der Errichtung eines vollkommen gerechten Gemeinwesens, sondern durch und gerade inmitten dieses Unternehmens in einem bestimmten, der Moral angemessenen Sinne glücklich. Damit ist der Ausgangspunkt des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit als zugleich den Eingang in die moralische Politik bildend im Grundriss dargestellt. Als Nächstes wollen wir detaillierter sehen, wie die „ausübende Rechtslehre“ in der Rechtslehre selbst gegründet ist. Dabei müssen wir diese Schrift als auf die Auflösung der Aufgabe der Politik hin strukturiert begreifen können. Daher sollten wir die Analyse am besten bei der Bestimmung des „Rechts“ überhaupt und der „Rechtspflichten“ ansetzen, um jenen Zweck der Politik als in ihnen schon eingeschrieben zu verstehen. Wir tun dies in der Hoffnung, dass dadurch sich der Gang der moralischen Politik noch verdeutlicht.
77 Das will natürlich nicht sagen, dass Politik sich bloß auf den gesetzlichen Schutz etwa der Drückerei einschränken darf.
D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung I. Zur Aufklärung der Rechtslehre im Hinblick auf die moralische Politik Wir haben bislang versucht, die Bedeutung des „Politischen“ bei Kant festzustellen. Wir sind zur Einsicht gekommen, dass eigentlich diejenige Praxis „politisch“ heißt, durch die der Mensch anfängt, in dieser Welt als das eigentliche Selbst zu existieren. Der Mensch soll sich dafür als das zur Freiheit im Sinne von Selbstständigkeit bestimmte Wesen einen Zustand verschaffen, den er als Leistung seiner eigenen freien Handlung anerkennt und in dem er als das freie, eigentliche Selbst existieren kann. Der Fokus der Analyse bestand darin, dass der Mensch nur in diesem von ihm selbst hervorgebrachten Zustand mit seiner eigenen Existenz zufrieden sein kann. Da wird sein Streben nach dem von ihm gewählten Zweck, der Glückseligkeit, nur durch die Gesetze eingeschränkt, deren Urheber er selbst ist. Er kann sich erst in einem solchen Zustand als wirklich seine Bestimmung erfüllend und daher glücklich ansehen. Nachdem das Politische bei Kant so als die der Moral angemessene Form des Hinstrebens nach Glückseligkeit für den Menschen verstanden worden ist, dem der Kontakt mit anderen unvermeidbar ist, drängt sich die folgende Frage auf, deren Beantwortung die Aufgabe des vorliegenden Kapitels ausmacht: Inwieweit lässt sich dieses Verständnis von der Kantischen Politik durch die Lektüre der Rechtslehre selbst bestätigen? Diese Frage können wir nicht umgehen, solange wir den Begriff des Politischen bei Kant verstehen wollen, weil Politik nach ihm „ausübende Rechtslehre“ heißt. Wir wollen in diesem Kapitel die These überprüfen, dass in Kants Rechtslehre die Form der Politischen Handlung qua Ausübung des Kantischen ius naturae – des Inbegriffs derjenigen natürlichen Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist (vgl. RL VI, S. 229) – im Wesentlichen als Pflicht zur Selbstaufklärung eingeschrieben ist1; mit anderen Worten, dass Kants Rechtslehre selbst den Menschen dazu auffordert.2 1 Bezüglich des Sinns des ius sei hier betont, dass es ursprünglich nicht die Implikation vom subjektiven „Recht auf …“ hat, sondern sie erst im Lauf der Zeit gewonnen hat. Dazu s. etwa Tuck. Dementsprechend darf man bei ius naturae nicht unmittelbar eine Lehre / Theorie des subjektiven Rechts erwarten. In Kants Rechts-
I. Zur Aufklärung der Rechtslehre im Hinblick auf die moralische Politik 129
Um diese These zu bestätigen, müssen wir die Rechtslehre als ein bestimmtes, und zwar rechtsmoralisches System der Pflichten begreifen. Dadurch wird sichtbar, dass die Rechtslehre – obwohl dem Recht im Kantischen Sinne der subjektive Grund ihres Adressaten zur Beobachtung der rechtsmoralischen Handlungsnormen gleichgültig ist –, doch schlussendlich von ihm eine minimale moralische Einstellung verlangt, wenn ihm der Kontakt mit seinem Mitmenschen unvermeidbar ist: Er wird nämlich verpflichtet, sich als ein Rechtssubjekt zu zeigen, d. i. als ein Subjekt, das sich den Zweck seiner eigenen Handlung setzt und die für es unzustimmbare fremde Intervention in sein Vermögen dazu ausschließt.3 Das dazu erforderliche moralische Minimum besteht darin, dass das mögliche Rechtssubjekt sich selbst als jemanden anerkennen muss, als wer er sich durch Wort und Tat zeigen soll. Anschließend werden wir danach fragen, was oder genauer, wer genau das Selbst sei, das dem Menschen vom Inneren her Selbstanerkennung gebietet. Wir werden hier wiederum feststellen, es sei niemand anderer als derjenige innere Mensch, dessen Verlangen man am von Kant beschriebenen Geschrei des Neugeborenen vernehmen kann, welches die Stimmung des letzteren immer schon bestimmt und so ihn nach seiner Bestimmung (destinatio), auf welche verborgene Weise auch immer, orientiert: Es heißt namentlich „Homo noumenon“. Damit soll durchsichtig werden, dass die rechtsmoralische Pflicht, ein Rechtssubjekt zu werden, als die Artikulation der Stimme desjenigen übersinnlichen Menschen in jedem angesehen werden kann, die das ursprüngliche Streben nach Selbstständigkeit ausdrückt. Nachdem dies bewiesen wird, bleibt kein Zweifel mehr, dass man Kants Rechtslehre als eine Aufforderung zur Selbstaufklärung betrachten soll. Denn der Weltbürger, welcher zu werden Ziel der Kantischen Aufklärung ist, gilt als die Erscheinung jenes Strebens nach Selbstständigkeit. Aufgrund dieses Verständnisses werden wir die Rechtslehre als explizit auf Handlungen hinweisend auszudeuten vermögen, die als Ausführungsform der Auflehre wird zwar das subjektive Recht thematisiert. Man soll aber nicht außer acht lassen, dass es im Rahmen der Rechtslehre als eines System der gewissen Pflichten konzipiert ist. 2 Ich halte diesen Ansatz als analog zu dem von Höffe, wie er vielerorts den Kosmopolitismus als das grundlegendste Motiv der gesamten Kantischen Philosophie schildert (exemplarisch in Höffe (2003)). Und ich sehe meinen Ansatz für gerechtfertigt insofern, als Aufklärung bei Kant, wie wir in diesem Kapitel näher sehen werden, im Grunde genommen als die Praxis des Kosmopolitismus gilt. 3 Kants Einsicht, dass zur Etablierung des Rechtszustands die Selbstanerkennung der Fremdanerkennung vorausgehen muss, ist eine Pointe, die Höffe (vornehmlich in: ders. (2001), S. 147–160) betont. Unser Versuch, darüber hinaus den wesentlichen Zusammenhang zwischen dieser Einsicht und Kants Idee der Aufklärung explizit zu machen, gilt als ein solcher, Kantische Politik als eine Art Selbstsorge herauszuarbeiten, der in der Regel übersehen wird, den wir doch für ihr Verständnis als unverzichtbar halten.
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
klärung verstanden werden können. Wir werden sehen, dass die Rechtslehre als der „Kompass“ für denjenigen begriffen werden kann, der auf dem Weg zur weltbürgerlichen Gesellschaft steht, und dementsprechend, dass die Kantische Politik, Rechtslehre, sowie Idee der Aufklärung nach einer gemeinsamen Richtung orientiert sind4, nämlich nach dem Mensch-Werden des Menschen in dieser Welt.
II. Die Metaphysik des Rechts In der „Einleitung in die Rechtslehre“ fordert Kant den „Rechtsgelehrten“ mit einer Fragestellung zu einem besonderen Übergang auf. Er stellt nämlich die Frage: „Was ist Recht?“ Diese Frage, so Kant, setzt den Rechtsgelehrten in „Verlegenheit“ (RL VI, S. 229). Denn, um sie zu beantworten, muss der Rechtsgelehrte das ihm wohlvertraute Feld des positiven Rechts verlassen und sich in das der Metaphysik hineinwagen. Er wird „verlegt“, weil hier im atopischen und atemporalen Feld des Transzendentalen keine Erfahrung ihn aufrechthalten kann, woran er sich im Feld der positiven Rechtswissenschaft noch orientieren könnte. Um die Frage: „Was Rechtens sei (quid sit iuris)“, zu beantworten, genügt es, dass man lediglich „was die Gesetze an einem gewissen Ort und 4 Habermas behauptet, dass es zwei Versionen von Kants politischer Philosophie gibt; eine „offizielle“ einerseits und eine „inoffizielle“ Version andererseits. Ihm zufolge ist die offizielle Version eine politische Philosophie, die die These vertritt; der Staat als Rechtsstaat setze seine öffentlichen Gesetze durch ihre Vermittlung durch das Prinzip der Publizität durch, damit die Herrschaft der Gesetze im Staat sich vollbringt. Die inoffizielle ist dagegen die, in welcher die kritische Öffentlichkeit eine zentrale, aber zugleich destruktive Rolle spielt. In dieser Version nämlich, so Habermas, solle das denkende Publikum durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft, d. i. durch den öffentlichen Diskurs über die Idee der Geschichte, die Gesetze allmählich gemäß dieser Idee verändern, welches doch den die bestehende Ordnung untergrabenden Effekt habe (Habermas, S. 192 ff.). Diese Behauptung ist, meines Erachtens, insofern bemerkenswert, als Habermas dadurch auf die entscheidende Rolle des Publikums hinsichtlich des Rechtsfortschritts bei Kant aufmerksam macht. Aber gibt es wirklich einen Grund, die politische Philosophie Kants, die das Publikum zur zentralen Figur hat, als die „inoffizielle“ Version zu betrachten? Müsste man darüber hinaus eigens den destruktiven Aspekt von ihr betonen? Wir werden in dem vorliegenden Kapitel sehen, dass bezüglich der ersten Frage, für Kant der Rechtsfortschritt durch Aufklärung im Zentrum seiner politischen Philosophie steht. Auf die zweite Frage werden wir mit der Behauptung negativ antworten: Wenn man sieht, dass Kant eigentlich auf die „Evolution“ der Verfassung, statt „Revolution“, Wert legt, so erweist sich, dass seine politische Philosophie ein Versuch ist, einerseits die staatliche Ordnung gegen den korrosiven Effekt der Tyrannei der bloßen „Meinung“ zu schützen, andererseits doch das Potenzial des Publikums hinsichtlich des Rechtsfortschritts zu befördern.
II. Die Metaphysik des Rechts131
zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben“ angibt (ebd.; Hv M. O.). Zur Entdeckung des „allgemeine[n] Kriterium[s] dagegen, woran man überhaupt, Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum), erkennen“ kann (ebd.), reicht die Kenntnis dessen nicht aus, was jeweils in der Erscheinungswelt de facto für rechtens gehalten wird. Man muss dazu vielmehr „die Quellen“ der Urteile über Recht und Unrecht in „der bloßen Vernunft“ suchen (S. 230). Dies legt nahe, dass die „Verlegenheit“ doch keine absolute Desorientierung bedeutet. Denn, wie wir gesehen haben, hat jeder Mensch einen „Kompass“ in seiner Vernunft. D. h. es muss hier wiederum der kategorische Imperativ sein, der auch bei der Frage nach dem Rechtsbegriff den menschlichen Gedanken orientieren soll. Damit man sich in dem logischen Raum des Rechtsbegriffs richtig orientiert, empfiehlt sich, vorab eine Übersicht darüber zu haben. Dazu sei zunächst die Charakteristik der Kantischen Rechtsmetaphysik durch Absetzung von der Tugendethik hervorgehoben, die zwar mit ihr zusammen zur Moral gehört, doch von ihr spezifisch unterschieden ist. Bevor wir uns aber auf den spezifischen Unterschied einlassen, muss hier der Oberbegriff „Metaphysik“ in diesem Kontext erläutert werden. Bei Kants theoretischer Philosophie heißt dasjenige Denken „metaphysisch“, dessen Gegenstände einerseits nicht selber aus den Erfahrungen ableitbar und doch andererseits entweder für diese „konstitutiv“ oder aber für unsere Stellungnahme gegenüber denen „regulativ“ sind. Zu der ersten Art gehören etwa Raum und Zeit als die apriorischen Anschauungsformen, die Kategorie sowie die sämtlichen Verstandesbegriffe, und nicht zuletzt das transzendentale Selbstbewusstsein. All diese gelten als diejenigen „Formen“, erst vermittelst deren wir als Menschen uns eine konkrete Erkenntnis von einem Erscheinungsgegenstand bilden können. Hingegen sind diejenigen Denkobjekte, namens Vernunftideen, die zwar aus lauter Begriffen durchaus denkmöglich sind, die aber keinen ihnen korrespondieren Gegenstand in der Erscheinungswelt finden, für die konkrete Erkenntnis bloß regulativ. Dergleichen sind bekanntlich: Gott, Seele, und Freiheit – die überlieferten Gegenstände der metaphysica specialis. Obwohl sie selber keine Rolle bei der Konstruktion einer konkreten Erkenntnis von einem Gegenstand spielen, so tragen sie zum Denken im weiteren Verstand, um hier nur das Mindeste zu sagen, dreierlei bei: Erstens, indem sie allesamt auf eine gewisse Leere hinsichtlich des konkret Erkennbaren hinweisen, weil in der Erscheinungswelt ihnen korrespondierende Anschauungen fehlen, lehren sie, wo das bloß theoretische Wissen halt machen muss. Zweitens bilden sie einen „focus imaginaruis“ (A 644 / B 672), woraufhin das Denken hinstrebt, um sich der Totalität der gesamten
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
theoretischen Erkenntnisse möglichst anzunähern.5 Drittens eröffnen sie zugleich die Möglichkeit, die Welt samt der inneren des Menschen anders als bloß theoretisch zu betrachten. So bilden die Vernunftideen gleich sam einen Wendepunkt des Denkens zu praktischen, d. i. auf Handlung bezogenen Erkenntnissen. Bei der praktischen Metaphysik betrifft „metaphysisch“ primär die Gedankenelemente, die, negativ gesprochen, nicht aus den Erfahrungsgegenständen abgeleitet werden können, sondern, positiv ausgedrückt, ihre Quelle nur in der praktischen, d. i. auf unser Begehrungsvermögen bezogenen Vernunft finden, wobei von allerlei Materie des Begehrens abgesehen wird. Dergleichen sind u. a. etwa der kategorische Imperativ als Prinzip der freien Handlung, der Begriff der Pflicht als Form der ihm angemessenen Handlung, die Willkürfreiheit als sein Adressat bzw. Agent der Handlung. Die „Metaphysik der Sitten“ als dogmatischer Teil – im Gegensatz zum heuristisch-kritischen – der Philosophie ist ein apriorisches System, der Inbegriff dessen, was der kategorische Imperativ zu tun gebietet. Als ein solches zerfällt sie gemäß dem Unterschied: äußerer / innerer Gebrauch der Willkür, in zwei Teile: in die Rechtslehre und die Tugendlehre. Die erstere hat die „Legalität“ der Handlung, d. i. die „Übereinstimmung“ der äußeren Handlungen mit den Freiheits gesetzen,(„Legalität“), zum Gegenstand. Hingegen fordert die „Moralität“ der Handlung als Gegenstand der Tugendlehre noch, dass die Gesetze selbst die „Bestimmungsgründe“ der Handlungen sein sollen (RL VI, S. 214). Mit anderen Worten müssen die entsprechenden Handlungen um des bloßen Pflichtbewusstseins willen geschehen, und nicht für irgendwelchen Zweck im Sinne des Gewinns oder Vorteils als Resultat der Handlungen. Diese Einteilung des Systems ist nun nach Kant analog zu einem grundlegenden Verhältnis beim theoretischen Gebrauch unserer Erkenntnisvermögen: „So sagt man in der theoretischen Philosophie: Im Raum sind nur die Gegenstände äußerer Sinne, in der Zeit aber alle, sowohl die Gegenstände äußerer, als des inneren Sinnes; weil die Vorstellungen beider doch Vorstellungen sind, und sofern insgesamt zum innern Sinn gehören. Ebenso mag die Freiheit im äußeren oder inneren Gebrauch der Willkür betrachtet werden, so müssen doch ihre Gesetze, als reine praktische Vernunftgesetze für die freie Willkür überhaupt, zugleich innere Bestimmungsgründe derselben sein: obgleich sie nicht immer in dieser Beziehung betrachtet werden dürfen.“ (RL VI, S. 214) 5 „Wie bei einem Gemälde der Fluchtpunkt außerhalb des Bildes liegt und doch seine Perspektive bestimmt, so ist die Wissenschaftliche Forschung auf die Vernunftideen verpflichtet, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt die absolute Vollständigkeit des Wissens zu erreichen […]. Die Vernunftideen sind wie der Horizont, der bei jedem Vorwärtsgehen zurückweicht, so dass man nie an seinen Rand, nie endgültig zum Stehen kommt.“ (Höffe (2007), 172).
III. Das Juridische und das Ethische133
Kant scheint durch diese Analogie den Sachverhalt vorstellig machen zu wollen, dass, obwohl ein und derselbe kategorische Imperativ zwei verschiedene Anwendungsbedingungen vor sich haben, seine innere Verbindlichkeit doch der bloßen äußeren vorausgeht. Sowohl die Rechtslehre als auch die Tugendlehre stellen zwar erst zusammen das Ganze eines Systems, namens Metaphysik der Sitten, dar. Dass der Wille als solcher aber a priori, d. h. wenn man einmal allen materiellen Einfluss auf die Willkür gedanklich wegschafft und ihn in seiner Reinheit betrachtet, also metaphysisch durchgängig von der ihm immanenten Gesetzlichkeit bestimmt ist, ist noch vor der entsprechenden Systematisierung bzw. Einteilung der Metaphysik der Sitten längst ausgemacht, und zwar durch die Grundlegung und die Kritik der praktischen Vernunft. Mit dem Ausdruck gesagt, den wir im vorigen Kapitel – um diese Bestimmtheit zu veranschaulichen – verwendet haben: Der Wille als solcher hat keine Wahl, als immer gemäß seinem Gesetz das zu sein, was er ist. In den folgenden vier Abschnitten (III. 3–6) setzen wir uns mit der Rechtslehre auseinander, um schrittweise den Zusammenhang von ihr mit Kants Idee der Aufklärung sowie seinem Politikdenken vor dem Hintergrund der Vorab-Bestimmung des Willens zu verdeutlichen.
III. Das Juridische und das Ethische Um das Rechtliche oder aber das Juridische von dem Ethischen abzusetzen, zeigt Kant zuerst ihre Gemeinsamkeit und daraufhin ihre Differenz auf. „Zu aller Gesetzgebung“, sagt er, „gehören zwei Stücke: Erstlich ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht“ (S. 218). Als Elemente des Praktischen stellen sowohl die juridische als auch die ethische Gesetzgebung das Sollen durch ihre Gesetze vor. Die Gesetze sind weder eine bloße Beschreibung noch eine Regel dessen, was in der Natur zwangsläufig geschieht, sondern drücken die Pflicht aus, die einzig und allein durch die frei handelnden Wesen geleistet werden soll. Anders gesprochen gelangen die einschlägigen moralischen Gesetze „im Unterschied zu Naturgesetzen nur mittels freier Anerkennung zur Wirklichkeit.“6 Da es aber diesen Gesetzen nicht um die bloße Natur, wo alles nach dem Naturmechanismus notwendigerweise geschieht, sondern das Sollen geht, zählt Kant ein anderes Moment zum Bestandteil der Gesetzgebung hinzu, nämlich die „Triebfeder“, „welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft“ 6 Höffe
(2012), S. 223.
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
(ebd.). Sie ist es, kraft deren die Handelnden die Befolgung der durch Gesetze gebotenen Pflicht tatsächlich anfangen. Sie gehört insofern notwendig zur Gesetzgebung, als das praktische Gesetz die mit „Willkür“ begabten Wesen zu seinen Adressaten hat. Denn insofern kommt die Realisierung dessen, was nach dem praktischen Gesetz geschehen soll, auf die frei Handelnden an, genauer darauf, ob sie sich selbst dazu durch die frei von ihnen angenommene Triebfeder bewegen. Nach Kant ist nun die „Willkür“, die sich durch die Triebfeder bestimmen lässt, eine bestimmte Art von „Begehrungsvermögen“. Das Begehrungsvermögen im Allgemeinen ist „das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ (ebd.) Wenn ich z. B. jetzt eine Vorstellung habe, dass ich aus dem Stuhl aufstehe, und sodann nach der Realisierung dieses vorgestellten Zustands handle, so verdanke ich dies meinem Begehrungsvermögen. Bei dieser knappen Definition ist davon noch keine Rede, woher die Vorstellungen kommen, welche meine derartige Ursächlichkeit zur Handlung bestimmen. Noch ist die besondere Art der Vorstellungen bestimmt. Wenn ich mich daher bloß als mit dem Begehrungsvermögen in dieser Gestalt begabt wüsste, so weiß ich noch nicht, ob ich durch irgendeine Vorstellung zur Handlung bloß mechanisch getrieben bin oder selber mich in der Tat zur Hervorbringung des Vorgestellten entschließe. Das Begehrungsermögen wird sich erst zur „Willkür“ durch drei weitere Momente ausgestalten. Erstens ist sie das „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (S. 213; Hv M. O.), also Vorstellungen, die sich Allgemeinheit beanspruchen und so gewisse Gesetzlichkeit ausdrücken. Das zweite Moment besteht darin, dass „der Bestimmungsgrund [des Begehrungsvermögens] zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird“ (ebd.; Hv M. O.). Dies weist darauf hin, dass, wenn das Subjekt des Begehrensvermögens die Quelle der Vorstellungen, hier der Begriffe, durch die seine Ursächlichkeit zur Verwirklichung des Vorgestellten betätigt wird, d. i. „Verstand“ hat, es nicht mehr bloß durch eine von außen verursachte, okkasionelle Vorstellungen zwangsläufig zur entsprechenden Handlung determiniert wird. So heißt dergleichen Begehrungsvermögen ein „Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen“ (ebd.). Schließlich, wenn dieses Vermögen „mit dem Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt es Willkür“ (ebd.). Die Willkür ist also die subjektive konative Ursache einer Handlung, welche doch selbst durch Begriffe zur wirklichen Handlung bestimmbar ist. Sie allein ist es, die „frei“ genannt werden kann, während der „Wille“ als der Ursprung des Pflichtbegriffs unveränderlich bleibt (S. 226).7 Denn sie 7 Anhand dieses Unterschiedes können wir nun begreifen, dass es der „Wille“ ist, der als das im Menschen immer präsente Streben nach Freiheit betrachtet werden
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ist etwas, was zwar affiziert, aber dadurch noch nicht, wie die „tierische Willkür (arbitrium brutum)“ (S. 213), automatisch zur Bewegung bestimmt wird.8 Bei Menschen geschieht die Bestimmung zur Handlung nur durch den Entschluss des Subjekts der Willkür selbst, sich durch dieses oder jenes Ding bestimmen zu lassen. Der Mensch als das Subjekt der Willkür kann also in dem Maße „frei“ genannt werden, als er sich bewusst durch etwas bestimmen lassen kann; d. i. als er sich aktiv auf etwas passiv verhalten kann.9 Daraus können wir ersehen, warum die „Triebfeder“ den Scheidepunkt der zwei Arten von Gesetzgebung ausmacht. Die Willkür ist die den Menschen tatsächlich zur Handlung bestimmende innere Kraft, die durch Begriffe betätigt werden kann. Die Triebfeder kann nun zweierlei sein. Sie kann nämlich entweder die Vorstellung der Pflicht selbst oder irgendein Begriff sein, der selber keine Pflicht ausdrückt. In der Ethik muss immer das erstere, während in der Rechtsmoral auch das letztere der Fall sein darf.10 Aber wenn dem so ist, woher erhält die juridische Gesetzgebung das Kriterium ihrer Gerechtigkeit? Solange das gesuchte Kriterium „überhaupt“ Recht und Unrecht erkennen lässt (S. 229), mithin ein transzendentales Prinzip sein soll, so muss es durch und in der Vernunft aller entdeckt werden. Es kann, wie eingangs erwähnt, selber nichts anderes als der kategorische Imperativ sein. Aber auf welche besondere Weise, d. i. im Gegensatz zu dem rein ethischen, erfüllt er die Rolle als ein solches Prinzip? Die folgende systematische Vorstellung von dem Begriff „Recht“ zeigt die entsprechende Art auf: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imsoll, welches wir in dem letzten Kapitel als die Ursache der Entrüstung des Neugeborenen herausgegriffen haben. 8 Zur „tierischen Willkür“ vgl. Wood, S. 125 ff. 9 Man könnte meinen, dass es Kant erst spät gelungen, nämlich dank der ausdrücklichen Differenzierung der Willkür von dem Willen in Rechtslehre, den begriff lichen Raum für die Freiheit im Sinne der arbiträren Handlung zu gewinnen. Diesbezüglich behauptet Ameriks zu Recht: „When we have a feeling for something in line with an action that we later go on to take for that thing, it is never the case that the feeling is by itself sufficient to be a literal motive, a ‚mover‘. The feeling plays a key role in leading to the movement that takes place (if it does take place), but it is not yet that movement, even within the will, let alone in the world of behavior. As a mere feeling, the state is a present opportunity for action, a sign, as it were, that urgently says ‚go that way‘ “ (Ameriks (2006), S. 106). Zum Begriffspaar Willkür / Wille s. auch Beck; Allison, S. 129–145. 10 Schon Hobbes unterscheidet Moralität von Legalität, dazu Höffe (2010), S. 139.
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perativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.“ (RL VI, S. 239; Hv M. O.)
Einige wesentlichen Momente hinsichtlich des Rechtsbegriffs können aus diesem Zitat abgeleitet werden. Erstens, dass das Recht aus dem moralischen Imperativ als einem pflichtgebietenden Satz entwickelt wird, besagt, dieser Satz solle im Sinne der ratio cognoscendi des Rechtsbegriffs verstanden werden. Da aber der kategorische Imperativ bloß aus dem Bewusstsein der Pflicht zu handeln gebietet, ist es unmöglich, den Begriff des Rechts als das „Vermögen, andere zu verpflichten“, unmittelbar aus jenem Satz abzuleiten. Denn man kann nicht einmal bloß aufgrund des Bewusstseins seiner eigenen Pflicht andere äußerlich zwingen, ihrerseits dasselbe Bewusstsein zu haben und aufgrund dessen zu handeln. Ob sie es nämlich tun oder nicht, hängt von ihrer Entscheidung ab. Daher muss, zweitens, ein und derselbe Imperativ einen anderen Anwendungsbereich als das Innere des Menschen, welches der Fall bei der Ethik ist, vor sich haben, in dem seine verpflichtende Kraft um das äußere Verhältnis der Menschen zueinander erweitert werden kann. Kant bezeichnet den Anwendungsbereich, den Gegenstand vom Begriff „Recht“ durch drei Eigenschaften. Erstens betrifft das Recht „nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluss haben können.“ (S. 230) Gesetzt z. B., ich laufe jetzt von einem Ort zu einem anderen. Da nun zwei körperliche Wesen nicht gleichzeitig an ein und demselben Ort existieren können, so muss das „Faktum“, dass ich mich in einen Ort versetze, die Handlungsmöglichkeit der anderen so „beeinflussen“, dass sie nicht zu ein und demselben Zeitpunkt den exakt gleichen Ort einnehmen können. Das Recht setzt dergleichen Beschaffenheit der faktischen Handlungen voraus und bestimmt lediglich das äußere Wechselverhältnis zwischen Personen.11 Zweitens „bedeutet“ der Begriff des Rechts „nicht das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des Anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des Anderen.“ (ebd.) D. h. das Recht ist dem subjektiven Motiv (der Triebfeder) der Person bei der Entscheidung zu einer bestimmten Handlung völlig indifferent. Es bestimmt nur gewisse Handlungen als recht oder unrecht und lässt dabei die subjektive Einstellung der Personen, wonach sie so und so handeln und nicht anders, auf sich beruhen. 11 Vgl.
Höffe (2012), S. 225.
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Drittens: In dem „wechselseitigen Verhältnis der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung“ (ebd.). Es ist also für das Recht gleichgültig, „ob jemand bei der Ware, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vorteil finden möge, oder nicht“ (ebd.). Gefragt wird hier „nur nach der Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob die Handlung Eines von beiden sich mit der Freiheit des Anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse.“ (ebd.) Wenn Kant den Anwendungsbereich des Rechtsbegriffs auf die äußeren Handlungen der Menschen einschränkt, beruft er sich lediglich auf die verallgemeinbare Gesetzlichkeit des kategorischen Imperativs und lässt dabei das andere Moment dessen entfallen, dass das Pflichtbewusstsein selbst auch die innere Triebfeder der Handlung ausmachen soll. Kant gewinnt das folgende „allgemeine Prinzip des Rechts“ dadurch, dass er diese Gesetzlichkeit als das einzige Kriterium des Rechts auf das bloß äußere Verhältnis der Menschen anwendet: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.“ (ebd.) Formuliert man dieses Prinzip in einen Imperativ um, so gewinnt man sich den kategorischen Rechtsimperativ, der die Kompatibilität der äußerlichen Freiheit aller nach dem allgemeinen Gesetz gebietet: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“ (S. 231). Wie wir oben gesehen haben, Kant definiert nun das Recht als das „Vermögen, andere zu verpflichten“. Aber, müssen wir fragen, woher rührt diese Verbindlichkeit, wenn nicht die verallgemeinerbare Gesetzlichkeit des kategorischen Imperativs selbst die Triebfeder zur gerechten Handlung ist? Kant hat erstens dadurch, dass er im Bereich des Rechts sowohl von der subjektiven Haltung als auch dem Zweck des Handelnden absieht, den an und für sich gebietenden Charakter des kategorischen Imperativs neutralisiert, der bloß das Subjekt des Bewusstseins darüber verbinden kann. Da #raufhin leitet er die Notwendigkeit, dass das Recht als das Vermögen, andere zu verpflichten, vorgestellt werden muss, aus dem Rechtsprinzip selbst folgendermaßen ab. Zunächst die Voraussetzung: Was dem Recht, d. i. einer Handlung, die mit der freien Handlung nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, entgegensteht und sie hindert, heißt Unrecht. Nun „der Zwang […] ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht.“ (ebd.) Daher, „wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetze (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hin-
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
dernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht“ (ebd.). So beleuchtet Kant den Zwangscharakter des Rechts, der in ihm schon enthalten ist, durch eine doppelte Negation.12 Demnach „ist mit dem Recht zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut zu zwingen, nach dem Satz des Widerspruchs verknüpft.“ (ebd.) So viel vorausgesetzt lässt sich nun die oben betrachtete Behauptung von Kant, der Rechtsbegriff als das „Vermögen, andere zu verpflichten“ könne aus dem „Pflicht gebietenden Satz“ heraus entwickelt werden, als durchaus konsequent verstehen. Denn das „Recht“, im Sinne des subjektiven, aber nichtsdestoweniger allgemeinen Vermögens betrachtet, muss das Vermögen sein, das zu tun, was der kategorische Rechtsimperativ als der Pflicht gebietende Satz gebietet: Das Vermögen, auch andere zu gerechten Handlung zu verpflichten. Kurz: Das Recht im apriorischen Sinne ist das Vermögen, gemäß dem Prinzip des Rechts zu handeln und auch andere zu dergleichen Handlung zu zwingen, wobei die Triebfeder dazu darf sein, was sie will.
IV. Der apriorische Zweck der Rechtslehre und die Stimme der praktischen Vernunft Zum Schluss der formalen Bestimmung des Rechtsbegriffs macht Kant auf seine Modalität aufmerksam. Kant sagt, das Recht im strengen Sinne, d. i. wenn es durch das Ethische nicht kontaminiert ist, stelle die „Möglichkeit“ dar, dass das Zusammenbestehen der äußeren Freiheit aller nach dem allgemeinen Gesetz mit dem durchgängigen, wechselseitigen Zwang in Verbindung stehe (S. 232). Es mag wohl auf den ersten Blick so aussehen, dass Kant hier die bisher dargestellten Eigenschaften des Rechts bloß zusammenfasst. Tatsächlich aber, indem er erneut das Recht in seiner Reinheit betrachtet, führt er eine neue Perspektive ein, aus welcher einen Aspekt des Rechtsbegriffs sichtbar wird. Dadurch nämlich, dass hier das Recht als das objektive Kriterium der möglichen Form der Koexistenz der frei Handelnden unter einem reziproken Zwangsverhältnis dargestellt wird, erhellt sich, dass aus dem Rechtsprinzip gewisse Handlungsnormen abgeleitet werden können, die diejenigen Handlungen vorschreiben, die diese mögliche Koexistenz zur Wirklichkeit verhelfen. Diese Normen heißen nach Kant „Rechtspflichten“. 12 „Kant argumentiert hier lediglich mit den moralischen Begriffen von Recht und Unrecht sowie mit der logischen Operation, dass man mithilfe der doppelten Negation die Position wiedergewinnt. Genau deshalb folgt die Zwangsbefugnis unmittelbar aus dem Rechtsprinzip, weshalb Kant die Legitimation sogar für analytisch hält“ (Höffe (2012), S. 234).
IV. Der apriorische Zweck der Rechtslehre139
Der spezifische Charakter dieser Pflichten wird durch Kants systematische Vorstellung seiner apriorischen „Sittenlehre“ verdeutlicht, die er erst nachträglich in der Tugendlehre präsentiert: „Man kann sich das Verhältnis des Zwecks zur Pflicht auf zweierlei Art denken: entweder, von dem Zweck ausgehend, die Maxime der pflichtmäßigen Handlungen, oder, umgekehrt, von dieser anhebend, den Zweck ausfindig zu machen, der zugleich Pflicht ist. – Die Rechtslehre geht auf dem ersten Weg. Es wird jedermanns Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle. Die Maxime derselben aber ist a priori bestimmt: dass nämlich die Freiheit des Handelnden mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.“ (TL VI, S. 382)
Es ist zwar prima facie nicht ganz klar, was Kant hier mit der Behauptung meint, dass die Rechtslehre von dem „Zweck“ ausgehend die Maxime der pflichtmäßigen Handlung ausfindig mache. Denn diese Behauptung scheint erstens dem direkt anschließenden Satz zu widersprechen und ist zweitens in dem bisher betrachteten Vorgang der Einleitung in die Rechtslehre vom „Zweck“ des Rechts nicht direkt die Rede gewesen.13 Aber die Schwierigkeiten verschwinden, wenn man die Passage in vier Teile zergliedert. 1) Der erste Satz („Man kann sich das Verhältnis …“) stellt die zwei möglichen Verhältnisse zwischen Zweck und Pflicht als Voraussetzung vor. 2) Sodann kündigt der zweite Satz („Die Rechtslehre geht …“) an, dass die Rechtslehre von einem Zweck ausgeht, um sich daraufhin die angemessenen Pflichten herauszufinden. 3) Der dritte Satz („Es wird jedermanns Willkür überlassen …) identifiziert den „Zweck“, der als der systematische Ausgangspunkt gilt. Er ist nämlich der Zustand, in dem alle Zweckwahl der einzelnen Menschen jeweils ihrer eigenen Willkür überlassen ist, doch auf eine solche Weise – so Kants stillschweigende Behauptung –, dass dabei keiner von ihnen der Willkürfreiheit des anderen Abbruch zu tun befugt ist. Kurz: Der Zweck ist der Zustand der allgemein verträglichen äußeren Freiheit. 4) Schließlich lässt sich der letzte Satz („Die Maxime derselben aber …“), der unmittelbar lediglich besagt, die Maxime der einen beliebig gesetzten Zweck abzielenden Handlung sei „a priori bestimmt“, mithilfe der Voraussetzung präzisieren: Die Maxime, nach welcher „die Freiheit des Handelnden mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“, ist durch den Zweck – den Zustand der allgemein verträglichen Freiheit – bestimmt. Obwohl, wie gesagt, Kant bei der Aufklärung des Rechtsbegriffs den Zustand nicht ausdrücklich „Zweck“ nennt, so liegt aber nahe, dass der 13 „Von der reinen Rechtslehre wird niemand dies Bedürfnis bezweifeln; denn sie betrifft nur das Förmliche der nach Freiheitsgesetzen im äußeren Verhältnis einzuschränkenden Willkür; abgesehen von allem Zweck (als der Materie derselben).“ (TL VI, 375).
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Zustand dem Sachverhalt nach dem „höchsten politischen Gut“, dem „ewigen Frieden“ (RL VI, S. 354), entspricht, welche beiden Ausdrücke Kant erst ganz am Ende der Rechtslehre verwendet. Ferner ein Blick auf den Kontext, in dem sie auftauchen, lässt vermuten: Der Zweck, aufgrund dessen die rechtliche Maxime a priori bestimmt wird, sei selbst apriorischer Natur; und dass er mithin nicht nur denkmöglich, sondern darüber hinaus auch ein allgemein gültiges Objekt des Willens sei. Kant sagt dort zuerst: „Wenn jemand nicht beweisen kann, dass ein Ding ist, so mag er versuchen zu beweisen, dass es nicht ist. Will es ihm mit keinem von beiden gelingen (ein Fall, der oft eintritt), so kann er noch fragen: ob es ihn interessiere, das Eine oder das Andere (durch eine Hypothese) anzunehmen“ (RL VI, S. 354; Hv M. O.).
Kant will durch diese Fragestellung seine Leser sich selbst fragen sehen, ob es in ihrem Interesse liegt, etwas anzunehmen, „um einen gewissen Zweck zu erreichen […], den sich zu setzen die Maxime selbst Pflicht ist.“ (Ebd.) Und anschließend sagt er unverzüglich, als wollte er seine Leser hierin möglichst beeilen: „Es versteht sich von selbst“, dass „das Handeln nach der Idee jenes Zwecks, wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahrscheinlichkeit da ist, dass er ausgeführt werden könne, dennoch aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demonstriert werden kann, das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt.“ (Ebd.; Hv M. O.) Dasjenige Ding („etwas“), von dem hier gefragt wird, ob sein Bestehen die Menschen interessiert, ist die „Ausführbarkeit“ des Friedens, die „Handlung“ wonach „Pflicht“ ist: „Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen mir und dir im Naturzustand, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (in Verhältnis gegeneinander) im gesetzlosen Zustand sind; – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll.“ (RL VI, S. 354)
Aus der Sicht der praktischen Vernunft „in uns“, als deren Vertreter Kant hier spricht, ist von vornherein offensichtlich, dass es keinen Krieg geben soll. „Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urteil betrügen, wenn wir das Erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist“ (ebd.; Hv M. O.). Ganz gleichgültig, ob der Frieden nach dem bloßen Naturmechanismus eines Tages in dieser Welt zustande kommt oder nicht, spricht die Vernunft immer gegen allerlei Kriege. Es möchte zwar, so Kant, ein „frommer Wunsch“ bleiben, dass dem „heillosen Kriegführung, worauf, als den Hauptzweck, bisher alle Staaten ohne Ausnahme ihre inneren Anstalten gerichtet haben“, jemals ein „Ende“ gemacht würde, „so betrügen wir uns doch gewiss nicht mit der Annahme der Maxime, dahin unablässig zu wirken; denn diese ist Pflicht.“ (S. 355)
IV. Der apriorische Zweck der Rechtslehre141
Hier liegt eine interpretatorische Schwierigkeit: Die gerade angeführten Aussagen Kants irritieren nämlich, da sie allesamt darauf hinzuweisen scheinen, dass es eben Pflicht sei, bei der rechtlichen Handlung immer an die Ausführbarkeit des Friedens zu glauben. Ist es aber eben nicht das Charakteristikum der rechtlichen Maxime, dass sie zu nichts als der rechtmäßigen äußeren Handlung verbinden? Glaube ist aber kein äußere Handlung. Kann es sein, dass Kant plötzlich ganz am Ende der Rechtslehre diese Voraussetzung vergessen hat? Keineswegs. Denn „nach“ der Idee eines Zwecks handeln oder aber „dahin unablässig wirken“ besagen weder „aus“ Glauben noch Pflichtbewusstsein handeln. Vielmehr nimmt Kant hier mit „nach“ und „dahin wirken“ das in Anspruch, was geschieht, wenn man der rechtlichen Maxime gemäß handelt. Anders gesprochen ist die rechtliche Handlung performativ immer schon Handlung „nach“ Frieden. Im Kontext will Kant also danach fragen, ob die Menschen bei der rechtmäßigen Handlung auch die Ausführbarkeit des Friedens gerne annehmen möchten, worauf sie sich sowieso durch Tat emporarbeiten, indem sie so handeln; d. i., ob sie dabei zusätzlich ihre eigene Handlung nach dem Schema des Fortschritts nach Frieden betrachten wollen. Kant ist nun durchaus konsequent, wenn er so fragt, da das Recht nichts dagegen hat, dass der Handelnde sich genau den Zweck unter zahlreichen anderen setzt, der dem „Interesse“ der Vernunft entspricht. Dass dies sogar willkommen sei, macht Kant deutlich, wenn er hier wiederum jenen inzwischen uns vertrauten Gedanken zur Sprache bringt: Das „moralische Gesetz aber in uns selbst für betrüglich anzunehmen, würde den Abscheu erregenden Wunsch hervorbringen, lieber aller Vernunft zu entbehren, und sich, seinen Grundsätzen nach, mit den übrigen Tierklassen in einen gleichen Mechanismus der Natur geworfen anzusehen.“ (Ebd.; Hv M. O.) Lieber als Tier leben, als einräumen zu müssen, dass die Vernunft einen Widerspruch enthält. Hier manifestieren sich auf einmal a) der Status des Zwecks der Rechtslehre einerseits und b) die konative Stimmung des Menschen ihm gegenüber andererseits. Zunächst ad a): Das moralische Gesetz, wenn es auf den Willen selbst bezogen wird, gebietet schlechthin, Respekt vor der Persönlichkeit in allen Menschen zu haben. Es gebietet in der Rechtsmoral hingegen, wo es bloß um das äußere Verhältnis der Menschen zueinander geht, dass sie einen dauerhaften Zustand der allgemeinen verträglichen äußeren Freiheit stiften sollen. Dass es aber a priori einen Zweck vorstellt, gilt in beiden Bereichen. Da aber im Bereich des Rechts, wo vom Inneren des Menschen abgesehen wird, irgendwelchen Zweck zu haben, kann nicht selber Pflicht sein. So geschieht, wie oben gesehen, dass in der Rechtslehre zuerst der Zweck vorgestellt und erst danach die Maxime „ausfindig“ gemacht wird.
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Diese Reihenfolge legt nahe, dass, obzwar sowohl der Zweck als auch die Pflicht a priori durch die Vernunft vorgestellt werden, die Pflicht sich hier als notwendiges „Mittel“ zum Zweck begreifen lässt. Kant sagt, dass die „allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ausmacht (ebd.; Hv M. O.). D. h. der Frieden drängt sich dem Menschen auf und zwar bloß durch die Vernunft für sich alleine, ohne dass sie sich etwas von irgendetwas außer ihr, irgendwelchen sinnlichen Gegenstand, hernehmen muss. Das ist aber eigentlich nur selbstverständlich. Denn, was im Endzweck artikuliert zum Ausdruck kommt, ist das, was die Vernunft „in uns“, also die uns einverleibte, immer schon für sich alleine will. Obwohl ihr sich wegen dem Unterschied zwischen dem Äußeren und dem Inneren zwei Perspektiven darbieten und dementsprechend sich das Verhältnis des Zwecks zur Pflicht verdoppelt, bleibt die Vernunft selbst dabei eine einzige (vgl. RL VI, S. 207). Die Vernunft, die sich in allem Menschen jeweils als eine einzige befindet, ruft auf: „Gehorche mir.“ Es liegt nunmehr auf der Hand – ad b) die konative Stimmung des Menschen dem Zweck gegenüber –, warum der Zweifel an der Ausführbarkeit des Friedens im Menschen, wie gesehen, den „Wunsch“ erregt, „lieber aller Vernunft zu entbehren, und sich, seinen Grundsätzen nach, mit den übrigen Tierklassen in einen gleichen Mechanismus der Natur geworfen anzusehen“. Es ist nämlich für den Menschen unerträglich, sich bloß vorzustellen, dass die Idee des Endzwecks, den die Vernunft ihm so schwer aufdrängt, letztendlich ein bloßer Schein, d. h. in dieser Welt bedeutungsleer sei, so dass selbst sein Leben in Diesseits als Mensch ihm trostlos unsinnig erscheint. Diese Stimmung lässt sich nun durch das basale Streben des Menschen nach Unendlichkeit erklären, das wir in den ersten zwei Kapiteln als den „Motor“ der Kantischen Politik ausgelegt haben. Und das besagt, was für den Zweck dieses Kapitels, nämlich die Übereinstimmung der Rechtslehre mit der Idee der Aufklärung, entscheidend ist zu begreifen, dass das genannte Streben auch das ausmacht, was der Rechtslehre zugrunde liegt und sie orientiert. Begründungstheoretisch ist es zwar so, dass es Aufgabe der Rechtslehre ist, die apriorisch allgemeine Maxime der gerechten äußeren Handlung a priori zu konstruieren. Jedoch geht dem Bedürfnis für dieses Unternehmen das allgemeine Verlangen des Menschen voraus, in dieser Welt und zwar durch eigene vernunftmäßige Handlung als das eigentliche Selbst zu existieren. Dieser im Verlauf des Haupttexts der Rechtslehre nicht so ausdrücklich gemachte Sachverhalt lässt sich dadurch bekräftigen, dass man eine schwer auszulegende, in der Literatur wenig diskutierte Aussage Kants im Licht des allem vorhergehenden Interesses der Vernunft liest; dass „eine Metaphysik der Sitten“ zu haben, die „jeder Mensch“, „obzwar gemeiniglich nur auf
IV. Der apriorische Zweck der Rechtslehre143
dunkle Art, in sich“ hat, selbst „Pflicht“ sei (S. 216). Was hier als „Metaphysik“ zu haben geboten wird, ist die klare und deutliche, und ferner systematische Vorstellung von dem, das, auf welche dunkle Art auch immer, stets schon in uns ist. Dies erinnert uns unmittelbar an jene Behauptung Kants, die wir bereits zweimal gesehen haben14 und um welche sich diese ganze Untersuchung dreht; dass die „dunkele Idee“ von Freiheit etwas ist, das den Menschen immer schon auf dunkle Art konativ bestimmt (Anthr. VII, S. 269 Anm.). Das „Interesse“ nun, von dem in diesem Paragraph die Rede gewesen ist, entspricht eben diesem Immer-Schon-Bestimmt-Sein der menschlichen Stimmung. Denn wie sonst könnte es sein – gesetzt, es gebe nur eine Vernunft –, dass der Mensch sich bei der rechtlichen äußeren Handlung noch an die Ausführbarkeit des Friedens glauben will, wenn seine Vernunft als Grundkraft ihn dazu nicht stimmlich orientiert hätte? „Eine Metaphysik der Sitten haben müssen“ heißt dementsprechend, zuerst über diese Grundstimmung begrifflich klar kommen und daraufhin einschlägige moralische Begriffe, etwa Gesetz, Pflicht usw., auf zwei grundverschiedene Anwendungsbedingungen (das Äußere und das Innere) hin präzisieren müssen.15 Im Wesentlichen gleicht dieser Vorgang nun der Selbstaufklärung. Denn was sowohl bei der Metaphysik der Sitten als auch der Aufklärung erzielt wird, ist Handlung nach praktisch veritabler sapientia über das Selbst als ein mit Vernunft begabtes Wesen. Anders gesprochen bleibt das Verhältnis des Menschen zu der eigenen Vernunft in beiden Fällen dasselbe: Er soll ihr Stimme zuhören, um zu wissen, wozu sie denn eigentlich aufruft, das innere Licht ungehindert das beleuchten zu lassen, wozu sie den Menschen bestimmt: das eigentliche, d. i. allein nach dem Vernunftgebot handelnde Selbst.16 So gesehen wäre es kein Wagnis, zu behaupten, es liege eben jener Aufruf: „sapere aude!“, auch der Rechtslehre zugrunde. Ab dem nächsten Abschnitt wollen wir versuchen, den Widerhall des Aufrufs in der Rechtslehre noch deutlicher zu hören. Dazu werden wir uns mit den Rechtspflichten auseinandersetzen. 14 Hierzu
s. B. VI. und C. IV. betont mit Recht, dass die Pflicht, eine Metaphysik der Sitten zu haben, sich sowohl auf die Tugendlehre als auch die Rechtslehre bezieht (Sassenbach, S. 8). Dabei ist der Zusammenhang von diesem Haben mit der Idee der Aufklärung allerdings nicht deutlich gemacht. 16 „Du sollst, z. E. so und so handeln, dies setzt doch voraus, daß ich die Pflicht und Verbindlichkeit kenne, nach der ich handeln muß: diese Pflicht ist ihrer Natur nach absolut, unbedingt und nothwendig: was aber nothwendig ist […]: Ohne Kenntniß der Pflicht selbst sich der Freiheit einmal bewußt zu werden, würde sogar unmöglich seyn, man würde die Freiheit für absurd erklären“ (MS Vigilantius XXVII, S. 506). 15 Sassenbach
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
V. Die Rechtspflichten im Hinblick auf den Zweck der Rechtslehre Um die wesentliche Übereinstimmung der Rechtslehre mit der Idee der Aufklärung noch zu verdeutlichen, müssen wir Hinweise auf sie in dem tatsächlichen Vorgang der ersteren finden können. Genauer: Wir müssen annehmen können – da im Text, außer gegen Ende, nicht explizit vom Zweck der Rechtslehre die Rede ist –, dass Kant bereits bei der elementaren Bestimmung des Rechtsbegriffs performativ auf den Zweck hingewiesen hat. Dies liegt nun nahe, wenn man die folgende Aussage Kants über die oben betrachtete Schlussbemerkung zur Rechtslehre liest, welche ihrerseits sich gegen Ende der Vorrede findet: „Gegen das Ende des Buchs habe ich einige Abschnitte mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet, als in Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden konnte: teils, weil sie mir aus diesen leicht gefolgert werden zu können schienen, teils auch, weil die letzten (das öffentliche Recht betreffenden) eben jetzt so vielen Diskussionen unterworfen und dennoch so wichtig sind, dass sie den Aufschub des entscheidenden Urteils auf einige Zeit wohl rechtfertigen können.“ (RL VI, S. 209)
Der erste Grund für die Knappheit scheint zu besagen: dass der ewige Frieden zweifelsohne dem Interesse entspricht, aufgrund dessen Kant die systematische Vorstellung der Rechtslehre liefern wollte. Dies entspricht unserer Annahme bei der Lektüre der einschlägigen Textstelle. Der zweite Grund bezieht sich einerseits auf die Tatsache, dass Kant die Schlussbemerkung mit einer Frage an seine Leser anfängt, nämlich, ob die Annahme der Ausführbarkeit des ewigen Friedens sie interessiert; andererseits darauf, dass Kant, wie oben gesehen, das Zweck-Pflicht Verhältnis beim Recht erst nachträglich in der Tugendlehre deutlich macht. Es scheint, dass Kant sich selbst und seinen Lesern etwas Zeit lassen wollte, um das „entscheidende Urteil“ über das „höchste politische Gut“ mit Blick auf die Rechtslehre zu fällen; d. i. das Urteil darüber, ob der Friedenszustand als Zweck der Rechtslehre ihnen nicht „Glückseligkeit aus Freiheit“ verspricht, ob der erstere daher ihrem eigentlichen Interesse entspricht, ob sie nicht ihre Stimme dafür geben wollen, wenn sie auf ihr eigentliche Interesse ernsthaft reflektiert. Es scheint durchaus so, dass Kant hier seine Leser sich in der Zwischenzeit zur moralischen Politik, der Menschwerdung im emphatischen Sinne, entschließen sehen will. Es ist für uns entscheidend, dass Kant hier explizit darauf hinweist, dass die Rechtslehre unausbleiblich auf den ewigen Frieden Bezug nehmen muss. Aus dieser Perspektive her beziehen wir uns rückgängig auf den Haupttext der Rechtslehre.
V. Die Rechtspflichten im Hinblick auf den Zweck der Rechtslehre145
Wir richten unser Augenmerk zunächst auf Kants Aussage über die Modalität des strikten Rechts. Denn der hier diskutierte mögliche Zustand entspricht inhaltlich jenem Zweck, in dem jeder sich seinen eigenen Zweck setzen kann und unter dem wechselseitigen Zwang jedem diese Freiheit versichert ist, der seinerseits auf der Freiheit aller und dem Prinzip des gerechten Gebrauchs von ihr beruht. Es soll hiermit klar sein, was Kants Vorstellung des Vorgangs der Ausführung des Rechtsbegriffs als des Vermögens, andere zu verpflichten, genau behaupten will. Wir wollen hier nochmals die entsprechenden Sätze betrachten, um hier erneut ihre Bedeutung in Zusammenhang mit dem tatsächlichen Vorgang des Textes besser zu verstehen: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.“ (RL VI, S. 239)
Das Recht beruht auf unserer eigenen Freiheit als dessen ratio essendi. Die Willkürfreiheit aber, die in der Rechtslehre als deren Adressat gilt, enthält als solche auch den Grund der Abweichung von dem, was im Rechtsprinzip als Pflicht vorgestellt ist. Daher muss das Recht eine Form des Pflicht gebietenden Satzes annehmen. Sodann kann das Recht im Sinne eines subjektiven „Vermögens, andere zu verpflichten“, aus den Pflicht gebietenden Sätzen, den „Rechtspflichten“, abgeleitet werden. Das Recht als ein solches Vermögen ist die Befugnis, das zu tun, was man dürfen, um den Rechtspflichten treu zu sein, und setzt die subjektive Möglichkeit der Realisierung des Zwecks voraus, die die Rechtspflichten gebietet. Rechtspflichten sind die Ausgestaltung jenes „Pflicht“ gebietenden Satzes: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“ (S. 231). Sie finden ihre Eigentümlichkeit darin, dass sie die Handlung ausdrücklich als Pflicht gebieten, durch welche jener im Prinzip des Rechts eingeschriebener Zweck realisiert werden kann. Sie zeigen also den Weg, der zur Erlangung des Zwecks der Rechtsvernunft selbst führt. Wir wollen jetzt die Rechtspflichten selbst im Hinblick auf eben diesen Zweck betrachten. Kant bedient sich der drei pseudo-ulpianischen Formeln als Grundlagen zur Formulierung der Rechtspflichten. Kant gibt die erste Formel: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“, folgendermaßen wieder: „Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.“ (S. 236) Er erklärt diese Pflicht als die „Verbindlichkeit aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“ (ebd.). Die Menschheit in unserer Person ist die „von physischen Bestimmungen unabhängig[e] Persönlichkeit (homo noumenon)“ (S. 239) in einem handelnden Subjekt. Als solche ist sie den bestimmbaren Teil ein und desselben Subjekts da-
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
durch verpflichtende Subjektivität, dass sie ihr „Recht“ auf Freiheit als ein übersinnliches Wesen erhebt. Es ist die rechtliche Pflicht des Menschen, der Stimme seines inneren Selbst Gehör zu schenken und nach seinem Befehl äußerlich so zu handeln, dass das Recht des Homo noumenon in der Welt der Erscheinung durchgesetzt wird. Positiv formuliert ist diese erste Rechtspflicht für die Menschen, die diese Stimme in sich hören können, eine „Verbindlichkeit“, sich als ein Zweck setzendes, und „rechtsfähiges“ Subjekt zu behaupten, und negativ ein Verbot, sich nicht zum bloßen Mittel anderer zu machen, also sich nicht versklaven, oder gar verdinglichen zu lassen.17 Diese erste Rechtspflicht, die allen positiven Gesetzen de jure vorangeht, schreibt vor, „das basale Recht auf Recht“ zu behaupten. Da das Recht bestimmt das „Verhältnis“ von Personen, verlangt diese Pflicht, dass das Subjekt durch Selbstbehauptung von anderen als ein rechtsfähiges Wesen äußerlich anerkannt wird. Indem der Mensch sowohl von sich selbst als auch von anderen als ein „aktuales Rechtssubjekt“ angesehen wird, tritt die aktuale Rechtsfähigkeit aus der zuvor bloß möglichen zutage.18 Der Homo noumenon, für welchen der Mensch sich als ein Rechtssubjekt behaupten soll, ist nichts anderes als die praktische Vernunft selbst. Wie wir bereits mehrmals gesehen haben, ist sie es, deren Gegenwart sich an dem Geschrei des Neugeborenen vernehmen lässt; die Grundstimmung des Menschen als jener immer schon zuhandene Kompass. Man darf es zwar nicht einmal außer Acht lassen, dass es beim Urteil über Recht und Unrecht nicht verlangt wird, dass man die Rechtspflicht selbst auch als die „Triebfeder“ zu der Pflicht konformen Handlung annimmt. Ferner muss man sich dabei darum nicht kümmern, ob man sich selbst vom tiefen Herz respektiert oder nicht. Die erste Rechtspflicht verlangt einzig und allein, dass man durch Tat zeigt, dass er die Freiheit hat, sich seinen eigenen Zweck zu setzen, und so allerlei fremde Beeinträchtigung seiner Willkür ausschließt. Aber nichtsdestotrotz ist sie unverzichtbar, wenn das gerechte Verhältnis zwischen Personen praktiziert werden soll. Die Selbstbehauptung des Menschen als eines tatsächlich freien Wesens ist die minimale Bedingung eines gerechten Verhältnisses unter Personen überhaupt. Die zweite pseudo-ulpianische Formel („neminem laede“) soll nach Kant bedeuten: „Tue niemandem Unrecht (neminem laede), und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit anderen herausgehen und alle Gesellschaft meiden müssen“ (RL VI, S. 236). Es ist zu beachten, dass bei dieser zweiten Rechtspflicht über die Alternativen hinaus, ob man anderen Unrecht 17 Höffe 18 Höffe
(2001), S. 150. (2001), S. 150.
V. Die Rechtspflichten im Hinblick auf den Zweck der Rechtslehre147
tut oder nicht, noch eine dritte Option vorliegt, nämlich, die gänzliche Vermeidung der Gesellschaft überhaupt. Dem Menschen ist also das Fliehen aus dem gesellschaftlichen Leben durchaus erlaubt. Anders gesagt kommt dem möglichen Rechtssubjekt eine negative Freiheit zu, überhaupt kein Rechtssubjekt zu sein, solange es sich damit eines möglichen Unrechts gegen andere enthalten kann. Schließlich wird die dritte Formel („suum cuique tribue“) in den Imperativ umformuliert: „Tritt (wenn du [die Vermeidung aller Gesellschaft] nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit Anderen, in welcher Jedem das Seine erhalten werden kann“ (S. 237). Da der Satz „Gib jedem das Seine“ eine „Ungereimtheit“ sagen würde, muss sie wie folgt lauten, damit die Formel einen Sinn bekommt: „Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen anderen gesichert werden kann“ (ebd.). Das ist ein Gebot, einen Zustand zu stiften, in dem jedes frei handelnde Subjekt sich reziprok als ein Rechtssubjekt anerkennen kann. Diese drei Formeln sind nach Kant „Einteilungsprinzipien des Systems der Rechtspflichten in innere, äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Prinzip der ersteren durch Subsumtion enthalten“ (ebd). D. h. diese drei Formeln bilden einen Vernunftschluss, in dem die erste Pflicht die Rolle des Obersatzes spielt, unter welchen die zweite als Untersatz subsumiert wird und aus den beiden Prämissen die dritte als Schlusssatz folgt. Demnach wird die Notwendigkeit des Eintritts in den Zustand des gerechten Verhältnis unter Menschen so dargestellt: „Weil man anderen eine Rechtsperson sein soll und weil man niemandem Unrecht tun darf, muss man – vorausgesetzt, man kann nicht alle Gesellschaft meiden – mit jeder Rechtsperson einen Rechtszustand eingehen“.19 Spätestens hier lassen sich das immanente Ziel sowie die Grundausrichtung der Rechtspflichten dahin als mit denen jener „eigentlichen Aufgabe der Politik“ identisch begreifen.20 Denn das Anliegen der letzteren besteht, wie wir vorher festgestellt haben, in nichts anderem als der Stiftung des Zustands, wo jeder als der Urheber seiner Existenz als eines freien Wesens angesehen werden kann; dergleichen Zustand ist, so hieß es dort, die republikanische Verfassung, in der jedermann mit gesetzgebend ist. Man könnte zwar hier noch einwenden: Da die grundlegende erste Rechtspflicht („honeste vive“) an und für sich gar nicht gebiete, aus Respekt vor der inneren Persönlichkeit rechtmäßig oder aber um des Bestehens des 19 Höffe
(2001), S. 157. Vgl. auch Pippin. betont zu Recht, dass die drei pseudo-ulpianische Regel als Basis der ganzen Rechtslehre gelten. Wir wollen die Regel in den folgenden Abschnitten darüber hinaus auch als das Kernstück der Politischen Philosophie Kants begreifen. 20 Pinzani
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Rechtsverhältnisses überhaupt willen zu handeln, sei es falsch, ihr etwaiges moralisches Interesse zu unterstellen. Das Bedenken trifft aber nur insofern zu, als man hier das Interesse als eine unmittelbar bewegende Kraft in Anspruch nimmt. Das immer währende Verlangen nach Selbstständigkeit stammt zwar aus der Vernunft. Aber die Vernunft kommt durch die systematische Aufklärung der Rechtslehre darüber klar, dass sie bei der rechtlichen Handlung auf den Eingriff ins Innere nicht nur des anderen, sondern auch des Selbst, dem sie einverleibt ist, gerne verzichten muss. Dennoch – was das betrifft, was in diesem Kapitel bislang unser Argumentationsziel bildete – kommt das Verlangen in der Rechtslehre doch als grundlegendes „Interesse“ zum Ausdruck. Sie kann nämlich die Ungereimtheit nicht ertragen, dass das, was sie sich selbst als einen möglichen Zustand darstellt, in Wirklichkeit unmöglich sei. Anders gesprochen liegen der so starke innere Widerwille gegen das Tierwerden des Selbst und umgekehrt der Wille zum Mensch-Werden, der eben das Wesen des Politischen ausmacht, der Rechtslehre immer schon zugrunde. Noch zugespitzter: Die urpolitische Vorentscheidung der Vernunft dafür, in der Polis = Republik als Mensch zu existieren, ist längst vor der systematischen Darstellung der Rechtslehre getroffen, treibt die Vernunft ursprünglich zu diesem anstrengenden Unternehmen. Einem „Volk von Teufeln“, das sich, aufgrund des bloßen Wohlstandsprospekts, einen Friedenszustand gestiftet hat, möchte die Vernunft im Menschen vielleicht ihren Glückwunsch ausdrücken. Denn sie haben keine „Vernunft“, sondern nur „Verstand“ (ZeF VIII, S. 366); Frieden heißt für sie daher nichts mehr als Maximierung des Wohlfahrtsprospekts. Den Menschen fragt die Vernunft aber zusätzlich: „Ist das genug? Kommt es bei dir / mir nicht über die bloße Lebensannehmlichkeit hinaus noch auf das Prinzip deiner Wohlfahrt an?21 Frage mich in dir selbst, wie du denn eigentlich in dieser Welt existieren möchtest.“
VI. Das angeborene Recht als Ausführungsform der Rechtspflichten Nachdem die drei Rechtspflichten aus der reinen praktischen Vernunft selbst abgeleitet worden sind, obliegt es uns nur noch, daraus das Recht im Sinne des subjektiven Vermögens als angemessene Form der Befolgung der Rechtspflichten zu begreifen. Was hier als dieses Recht verlangt wird, ist ein solches Vermögen, kraft dessen der Zustand, der als Zweck in den Rechtspflichten eingeschrieben ist, verwirklicht werden kann. Nach Kant ist dergleichen Recht „nur ein einziges“ (RL VI, S. 237): 21 Dazu
s. B. VII.
VI. Das angeborene Recht als Ausführungsform der Rechtspflichten 149 „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“ (RL VI, S. 237.; Hv M. O.)
Die Betonung auf „Menschheit“ weist darauf hin, dass diese Freiheit den Grund ihrer Allgemeingültigkeit ebenso wie die Rechtspflichten in dem Homo noumenon findet. Rufen wir hier nochmals Kants Behauptung ins Gedächtnis, dass wir unsere Freiheit erst durch den „kategorischen Imperativ“ als einen „Pflicht gebietenden Satz“ kennen, so muss die praktische Erkenntnis der Rechtspflichten hier auch unserer negativen Freiheit qua Unabhängigkeit von fremder Willkür vorausgehen. Sie kann nun zwar nichts anderes als das „Vermögen, andere zu verpflichten“, d. i. „Recht“, sein (S. 239). Jedoch strukturell gesehen muss diese „Verpflichtung“ zuerst als eben für das meinige Selbst, den meinigen Homo phaenomonon, kategorisch gültig gedacht werden können, dem der Pflicht gebietende Homo noumenon innewohnt, um das Verhältnis zwischen den zwei Selbstheiten in mir auch für jeden anderen Menschen als gültig aussprechen zu können. Anders gesprochen fällt der meinige Homo phaenomenon als der erste Andere ins Auge des Homo noumenon, welcher für die Pflicht verantwortlich ist. So gesehen stellt sich die Freiheit qua einziges angeborenes Recht als für Selbstsorge des endlichen vernünftigen Wesens verantwortlich; die Sorge dafür, dass das Streben der inneren Menschheit nach Freiheit in der phänomenalen Welt nicht verfehlt, sondern durch die Ausübung der Willkürfreiheit des Menschen erfüllt wird. Auf diese Weise verantwortet jeder Mensch sich selbst. Und nur so kann er sich selbst gegenüber gerecht existieren. Das angeborene Recht ist die Freiheit, sich selbst zu hören und nach seiner innigsten Stimme zu handeln. Als eine solche kommt dieses Recht jedem Menschen für und um der auto-auditiven Anerkennung des Rechts des eigenen inneren Selbst willen zu. Sie ist so eine Re-aktion auf jenes ursprüngliche Faktum der praktischen Vernunft, oder den Aktus des inneren Selbst, das Geschrei eines Neugeborenen in jedem.22 22 Die so begriffene menschliche Freiheit könnte man auch als die Reaktion auf das immer schon begonnene Dasein des Selbst betrachten. Dergleichen Konzeption der Freiheit ist nun das, was dem politischen Denken von Arendt zugrunde liegt, die mehrmals behauptet, Kant und Augustinus seien die wenigen Ausnahmen in der Geschichte der Philosophie, die den Wert des menschlichen Vermögens, etwas Neues anzufangen, gehörig anerkannt hätten. Sie sagt: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierten, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür aus uns nehmen […]. Die Anwesenheit von Anderen, denen wir uns zugesellen wollen, mag
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
So verstanden erweist sich nun die Suche nach dem allgemeinen Recht des Menschen erneut als eine Form der Selbstaufklärung. Die Frage: „Was ist Recht?“, die anfänglich den Rechtsgelehrten in eine „Verlegenheit“ zu setzen scheint, kann dadurch beantwortet werden, dass ein jeder allerlei Formen der ungezügelten, wilden Willkürfreiheit, z. B. die zur Unterlassung der rechtsmoralischen Selbstbehauptung, dem Unrecht gegen andere, und dem Beharren auf Naturzustand, beiseite schiebt, und auf den immer schon in der eigenen Vernunft liegenden Kompass seinen Blick wirft, um sich daran zu orientieren. Mit anderen Worten, indem man sich von seinem zeitlich und räumlich bestimmbaren leidenden Selbst geistig distanziert, mithin gleichsam von seiner passiven, unmittelbaren Weltbezogenheit abstrahiert und so mitten in der Welt bodenlos wird – denn hier kann man sich nicht an der Erfahrung orientieren –, d. i. metaphysisch denkt, tritt paradoxerweise seine ursprüngliche Orientiertheit nach einer möglichen Welt hervor, in der die Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Kants Rechtslehre als „der Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist“ (S. 229), ist im wesentlichen nichts anderes als eine systematische Artikulation der Pflichten, durch Befolgung derselben sich die in eine unendlich entfernte Zukunft hinein entworfene Welt allmählich in dieser Welt realisiert sehen kann. Die Rechtslehre ist so ein zukunftsschwangerer Entwurf einer Welt, wo jedem Menschen sein angeborenes Recht zukommt, das durch seine Geburt, also die unwillentlich ihm aufgezwungene Annahme seiner Passivität, und das Geworfen-Sein in die menschliche Gesellschaft immer schon gefährdet ist.23 Die weiteren Artikulationen des einzigen angeborenen Rechts, die als „Befugnisse […] schon im Prinzip der angeborenen Freiheit“ liegen und „wirklich von ihr nicht […] unterschieden“ sind (S. 238)24, machen deutlich, dass die Ausübung dergleichen Rechts genau dem Vorgang der Aufklärung entspricht. Nach Kant kann das angeborene Recht auch als die „angeborene Gleichheit“ verstanden werden. Sie ist die „Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“ (S. 237). Dies besagt: Niemand soll im recht in jedem Einzelfall als ein Stimulans wirken, aber die Initiative selbst ist davon nicht bedingt; der Antrieb scheint vielmehr in dem Anfang selbst zu liegen, der mit unserer Geburt in die Welt kam, und dem wir dadurch entsprechen, dass wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen.“ (Arendt (2013), S. 215; Hv M. O.) Hätte Arendt sich intensiver mit Kants praktischer Philosophie auseinandergesetzt, so hätte ihre Ansicht über seine politische Philosophie anders ausfallen müssen, als die in ihr posthum veröffentlichter Vorlesung über Kant vorliegende (vgl. Arendt (1982)). Zu Problemen in Arendts Kant-Lektüre s. etwa Höffe (1993). 23 Dazu vgl. Religion, VI, S. 93 f. 24 Hierzu s. Byrd / Hruschka, S. 81.
VI. Das angeborene Recht als Ausführungsform der Rechtspflichten 151
lichen Verhältnis gezwungen werden in einem Zustand zu bleiben, als in demjenigen, in welchem zu leben sich alle Menschen, die miteinander im unvermeidlichen Kontakt stehen, wechselseitig zwingen können. Es gibt also kein natürliches, angeborenes Privileg, anderen einen Zustand von außen aufzuzwingen. Konkreter gesagt es darf keinen gebürtigen „Vormünder“ geben. Jeder hat also „die Qualität des Menschen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein“ (S. 237 f.). Damit ist gemeint, dass jeder Mensch, aufgrund seiner Menschheit, hinsichtlich der Bildung der gemeinsamen Welt vollkommen gleichberechtigt ist, selber über die mögliche, gerechte Bedingung, die alle betrifft, unter der zu leben jeder miteinander vereinbaren kann. Aus der angeborenen Freiheit wird ferner die Qualität eines „unbescholtenen Menschen (iusti), weil er, vor allem rechtlichen Akt, keinem Unrecht getan hat“, abgeleitet (S. 238). Diese Qualifikation macht darauf aufmerksam, dass niemand einen ungerechten Zustand verdient, der nicht die Folge seiner rechtlichen Handlung ist. Die bloße Existenz eines Menschen in der Welt bietet keineswegs einen zureichenden Grund dafür dar, dass er in dem Zustand für immer leben soll, in den er ohne Einwilligung bzw. Zustimmung hineingeboren ist. Es ist klar, dass all diese Befugnisse im Grunde genommen auf ein und dieselbe Zukunft hindeuten; den Ausgang aus dem Zustand, in dem der Mensch sich vor der Ausübung seines angeborenen Rechts unmittelbar findet. Alle angeborenen Befugnisse sind auf den Zweck des Homo noumenon, oder den Übergang in eine Welt hin gerichtet, wo alle drei Rechtspflichten erfüllt werden können. Mit Sorgfalt betrachtet ist die Tatsache, dass Kant mit der folgenden Befugnis die Einteilung des angeborenen Rechts vollendet, ein Hinweis darauf, dass die Rechtslehre von Hause aus als die Aufforderung zur Selbstaufklärung strukturiert ist: „[D]ie Befugnis, das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen; dergleichen ist: Ihnen bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig (veriloquium aut falsiloquium), weil es bloß auf Ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht.“ (RL VI, S. 238; Hv M. O.)
Diese letzte Befugnis stellt die jedem erlaubte Form der Ausübung des angeborenen Rechts dar, wodurch der in den Rechtspflichten eingeschriebene Zweck erreicht werden kann. „Mitteilen“, „Erzählen“ und „Versprechen“ sind Modi des rechtlichen Akts, durch welche der Mensch sich den anderen gegenüber als ein Rechtssubjekt behauptet und die Idee einer möglichen gerechten Welt, welche in seiner Vernunft liegt, auch ins Bewusstsein der anderen hervorgerufen wird. Dies wird erst sichtbar durch nähere Betrachtung der Funktion dieser drei Modi.
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
VII. Mitteilen des Gedankens als der Probierstein der Wahrheit Wir fangen mit „Mitteilen“ an. Kant ist von dem unschätzbaren Wert der Befugnis, anderen den eigenen Gedanken mitzuteilen, so überzeugt, dass er sich wie folgt erhebt: „[W]ie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, dass diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme“ (Orientieren VIII, S. 144; Hv M. O.).
Ohne Mitteilen des Gedankens gibt es kein veritables Denken. Kant nennt die so entscheidende Freiheit des Denkens, die auf dem Mitteilen des Gedankens beruht, „das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschaffen werden kann.“ (ebd.) Der Grund für den unüberhörbaren polemischen Ton von Kant ist in dem unauslöschlichen Zusammenhang von Mitteilen und Denken zu finden. Wenn sich die Menschen ihre Gedanken einander mitteilen, so machen sie nicht nur das bloße „Informieren-Über …“. Vielmehr prüfen sie auch dabei ihre Urteile „am Verstand anderer“ (Anthr. VII, S. 128). Das ist Kant zufolge der Probierstein der Wahrheit – „criterium veritatis externum“ (ebd.). Kant veranschaulicht die Unentbehrlichkeit dieses Schatzes durch eine alltägliche Erfahrung: „Gibt es doch auch manche Fälle, wo wir sogar dem Urteil unserer eigenen Sinne allein nicht trauen, z. B. ob ein Geklingel bloß in unserem Ohren, oder ob es das Hören wirklich gezogener Glocken sei, sondern noch andere zu befragen nötig finden, ob es sie nicht auch so dünke.“ (S. 129; Hv M. O.) Dieses Beispiel besagt, dass es auch mit dem Denken über solche Dinge, die nicht durch sinnliche Anschauung in uns vorgestellt sind, sondern von uns selbst heraus ins Bewusstsein kommen, ebenso bewandt sei – dergleichen Dinge sind Verstandes- und Vernunftbegriffe. Denn das „Hören“ der Stimme unserer inneren Menschheit, so subjektiv gewiss sie auch sein mag, kann doch nicht einmal bloß subjektiv gültig sein, wenn sie, als Rechtspflichten, die Stimme der Mensch-heit, d. i. die der gesamten Menschengattung in uns sein soll.25 Daher, wenn dieses Hören sich von der „Schwärmerei“, einem Symptom des angeblichen „Geistersehers“, unterscheiden soll, so muss der Mensch wissen können, dass alle anderen ebenso deutlich jene Stimme hören, und zwar als ihre innigste anerkennen können.
25 Zur
Mehrdeutigkeit vom Begriff „Menschheit“ bei Kant s. Ricken.
VIII. Erzählen und Geschichte 153
Diesbezüglich betont Kant konsequenterweise: „Dem Egoismus kann nur der Pluralismus entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: Sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einem bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ (Anfang VII, S. 130; Hv M. O.)
Indem die Menschen sich wechselseitig ihre Gedanken mitteilen, erkennen sie ihre innigste Stimme, das Streben nach Gerechtigkeit, an dem geäußerten Gedanken anderer wieder. Diejenigen, die bereit sind, durch Gedankenumtausch mit anderen – sei es nun im Gespräch oder schriftlich, allenfalls mittels der Sprache – reflexiv ihre eigene Stimme zu hören und nach ihr zu handeln, heißen „Weltbürger“. Anders formuliert, Weltbürger sind diejenigen, die sich auf die Polyphonie der menschlichen Welt hin eröffnen, um ihre eigene Stimme mit der aller anderen vereinigt, harmonisch widerhallen zu hören und daran ihren gemeinsamen „Beruf“ (WiA VIII, S. 41) zu erkennen. Anders gesprochen ist Weltbürger-Sein ausgezeichnete Existenzweise des Menschen als zoon politikon. Hiermit erweist sich die Befugnis, eigene Gedanken mitzuteilen, als die Befugnis, Weltbürger zu werden. Und zugleich offenbart sich das angeborene Recht als das subjektive Pendant zu der Pflicht, die praktisch reale Idee der gerechten Polis, oder der Republik, durch Sprache zur Welt zu bringen. Insofern geht die Pflicht dem Recht voraus. Jeder Mensch ist nämlich von der inneren Menschheit aufgefordert, dieses Recht auszuüben. Jedes Mal die Weltbürger performativ als Einwohner dieser atemporalen und atopischen Polis, also wenn sie sich einander als die gleichberechtigten, freien Bürger, sowie Fürsprecher ein und desselben Idealstaats, Republik genannt, anerkennend sprechen, beweisen sie durch ihre Tat, dass die Hervorbringung dieser Polis auch in dieser Welt praktisch möglich ist.
VIII. Erzählen und Geschichte Mit der Befugnis, etwas zu erzählen, ist es auch nicht anders bewandt. Der Zusammenhang vom Erzählen und Selbstaufklärung ist an der Praxis des Philosophierens, vornehmlich der Geschichts-Philosophie von Kant, selbst abzulesen. Die einführenden Bemerkungen von der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht machen die Funktion vom „Erzählen“ durchsichtig: „Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen [der Freiheit des Willens] beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen, lässt dennoch von sich hoffen: Dass, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Großen [Hv Kant] betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne; und dass auf die Art, was an einzelnen Subjekten
D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
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verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können.“ (Idee, VIII S. 17; Hv M. O.)
Kant, der hier als ein Weltbürger spricht, will sagen, die Wirkung der Erzählung der Erscheinungen der Freiheit bestehe darin, seine Zuhörer und Leser „hoffen“ zu lassen, dass die ineinander vernetzten freien Handlungen der Menschen wider allen Anschein der Zufälligkeit doch eine gewisse Regel verfolge. Um so zu wirken, muss die Menschengeschichte, die von den Weltbürgern denjenigen erzählt wird, die sich selbst durch das Hören und Lesen dieser Geschichte zum Standpunkt eines Weltbürgers erheben werden, eine solche sein: Einerseits, eine tief in die verborgenen Ursachen des Zusammenspiels der freien Handlungen hineinleuchtende Erzählung der Menschheit, welche die Gegenwart als die Folge einer immer schon angefangenen Kette der Erscheinungen erklärt, die eine freie Ursache hat; andererseits eine Erzählung, die zugleich die so erklärte Gegenwart als eine Zwischenstation auf dem Weg nach einer idealen Zukunft darstellt, die durch freie Handlungen verwirklicht werden kann. Nur eine solche Erzählung vermag ihren Adressaten Hoffnung zu geben, d. i. sie so glauben zu lassen, dass es immer noch nicht zu spät ist, sich zu entscheiden, für die Realisierung der idealen Zukunft zu handeln. Denn diese Erzählung sagt, dass die Menschheit im Ganzen, obwohl man alles in der Menschengeschichte aus „Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammen gewebt“ (S. 18; Hv M. O.) zu sehen meint, doch nicht im Ganzen fehlgetreten ist. Sie will vielmehr sagen, dass die Menschengattung, zwar auf Kosten unzähliger Fehler26, die von dem selbstsüchtigen Hang der Individuen herrühren, doch im Ganzen, bislang auf dem richtigen Weg fortgelaufen ist, und selbst in Übereinstimmung mit der „Naturabsicht“ (ebd.). Mit einem Wort kann man sagen, dass diese Erzählung den Glauben an und das Vertrauen in die letzten Endes barmherzige Natur, genauer, die vernünftige Natur in der Menschengattung erweckt. Diese Natur, so heißt es nach der Erzählung, verhält sich gegenüber ihren Kindern, Menschen so, wie Rousseau gegenüber seinem imaginären Schüler Emil: Trotz der zahlreichen Fehltritte ihrer Kinder, verlässt sie diese nie, sondern, obwohl sie ihre Kinder scheitern lässt, soviel sie wollen, leitet sie ihre Kinder zur Besserung, aber so, dass ihre Leitung doch von den Kindern selbst unbemerkt bleibt.27 26 Vgl.
Horn.
27 Diesbezüglich
behauptet Rousseau: „Lasst [den Zögling] immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. Ist das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und erkennt, euch nicht vollkommen ausgeliefert? Verfügt ihr nicht über alles in seiner Umge-
VIII. Erzählen und Geschichte 155
Nun aber, sobald die Zuhörer und Leser dieser Geschichte durch das Hören und Lesen derselben inne werden, dass die Natur die Menschheit durch ihre ganzen Kinderjahre hindurch vernünftig auf der richtigen Bahn gehalten hat, finden sie sich zugleich in eine Lage versetzt, den immer schon angefangenen Fortschritt ihrer Gattung bewusst zu beschleunigen. Sie finden sich plötzlich in der Mitte der Zeit, die aus der unendlich entfernten Vergangenheit in die ebenso fern vorstehende Zukunft hinein fließt, in der Gegenwart, dem „Zeitalter der Aufklärung“ (WiA VIII, S. 40), zu dem sie zusammengehören und wo sie, als „Wir“28, das sich selbst aufklärende „Publikum“, nunmehr zur Beschleunigung des Fortschritts aufgemuntert sind. Daraus wird ersichtlich, dass das Leitmotiv dieser Geschichte nichts anderes als jener „Wahlspruch der Aufklärung“ sein soll: „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (S. 35) Diese Erzählung ist zugleich eine Apostrophe, die sagt: „Jetzt ist die Zeit, Räsoniert und Handelt!“ Indem der Weltbürger eine kosmopolitische Weltgeschichte erzählt, verschafft er sich seinen Erscheinungsraum29, produziert er sich eine bung, was auf es Bezug hat? Seid ihr nicht Herr seiner Eindrücke nach eurem Belieben? Seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen und sein Kummer – liegt nicht alles in euren Hände, ohne dass es davon weiß? Zweifellos darf es tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne dass ihr wisst, was es sagen will.“ (Rousseau (1963), S. 255 f.) Man sieht leicht, dass diese Beschreibung des idealen Verhältnisses des Erziehers zu dem Kind stimmt fast vollkommen mit der Natur bei Kant überein, die hinter der Menschengeschichte steht. Zu Rousseaus Einfluss auf Kant hinsichtlich des Bildes der Natur, s. Shell, bsd. S. 81–105. 28 Foucault hat, in Bezug auf Kant, dieses Gegenwart herausarbeitende, sie zum Bewusstsein bringende Potenzial der Aufklärung begriffen. Er sagt hierzu: „Im Grunde, so scheint mir, ist die Frage [Was ist Aufklärung?], die zum ersten Mal in Kants Texten auftaucht […], die Frage nach der Gegenwart, nach der Aktualität. Es ist die Frage: Was geschieht heute? Was geschieht jetzt? Was ist dieses »Jetzt«, in dem wir uns befinden und das der Ort, der Punkt ist, von dem aus ich schreibe? […] Die Philosophie als Erscheinungsort einer Gegenwart, die Philosophie als Fragen nach dem philosophischen Sinn der Gegenwart, zu der sie selbst gehört, die Philosophie als Befragung dieses »wir«, dem der Philosoph zugehört und gegenüber welchem er sich verorten muss, das, scheint mir, zeichnet die Philosophie als Diskurs der Moderne, als Diskurs über die Moderne aus.“ (Foucault (2012), S. 27 ff.) Im Übrigen zur identitätsbildenden Funktion der „Öffentlichkeit“ s. Gerhardt (1995), S. 196. 29 Derrida macht auf diese Funktion der Erzählung, obwohl vorübergehend, mit der folgenden Aussage über Kants Darstellung der „Illusion“ aufmerksam: „[Die] Geschichte findet statt als eine Geschichte, die man sich erzählt. Sie ereignet sich, während man sie erzählt; man erzählt sie sich, um sie Ereignis werden zu lassen.“ (Derrida, S. 366).
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Gegenwart aus der trostlos verfließenden Zeit, in welcher er als ein zukunftsfähiges Subjekt hervortreten kann. Das „Erzählen“ gilt demnach als der Erscheinungsgestus des Weltbürgers. Durch es bringt er sich aus dem immer schon angefangenen Lebensgang heraus und hinauf, d. i. er erzieht sich dadurch.30 In diesem Betracht ähnelt er dem neugeborenen Kind, das durch Geschrei seine zur Freiheit bestimmte Existenz kundtut. Jedoch ist der Abstand zwischen dem Weltbürger und dem Kind unermesslich. Denn es geschah inzwischen eine geistige Revolution: Während das Kind lediglich zu schreien wusste, um seine Existenz kundzutun, hat der Weltbürger gelernt durch Sprache zu erzählen; er weiß auch, dass er sich dazu aus freiem Stück entschlossen hat; er hat auf die Stimme seiner inneren Menschheit frei reagiert, und so die Verantwortung für die gemeinsame Zukunft der Menschheit angenommen. Genau dies ist in der Tat es, was Kant selbst tut, wenn er sich mit der Menschengeschichte beschäftigt. Das vornehmste Beispiel dafür ist in dem zweiten Abschnitt von dem Streit der Fakultäten zu finden. Kant tritt dort vor das Publikum auf, um ein einmaliges Phänomen, ein „Zeichen“ für die Unhintergehbarkeit des Fortschritts der Menschengattung sogar aus der zeitgenössischen Gesellschaft herauszufinden. Was als ein solches Zeichen gilt, so Kant, ist hier das „Publikum“ selbst. Indem Kant so das Publikum als das Geschichtszeichen für den Fortschritt vor dem Publikum selbst identifiziert, wird seine Apostrophe zu allen Menschen um desto eindringlicher, als wollte er sagen: Es sei Jetzt, das Jetzt, zu dem das ganze Publikum zusammengehöre, und das es selbst durch eigene Tat hervorgebracht, und dadurch unvergesslich gemacht habe, die Zeit, den Mut zur Freiheit zu fassen! Weil die dort von Kant selbst praktizierte Erzählung für unsere Lektüre äußerst entscheidend ist, wollen wir bei dem einschlägigen Abschnitt länger verweilen und mit aller Sorgfalt ihn ausdeuten.
IX. Erzählen als der Ruf nach der Republik Mit einer erneuerten Fragestellung fängt der zweite Abschnitt „Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen“ an: „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“ (Streit VII, S. 79) Die Betonung ist hier explizit auf das „Fortschreiten“ gelegt und zwar, wie die Überschrift andeutet, im Sinne von „Rechtsfortschritt“. Tatsächlich macht Kant dies klar, wenn er sagt, es gehe ihm hier um die „Sittengeschichte, und zwar nicht nach dem Gattungsbegriff (singulorum), sondern dem Ganzen der gesellschaftlich auf Erden vereinigten, in Völker30 Hierzu
s. Kapitel E.
IX. Erzählen als der Ruf nach der Republik157
schaften verteilten Menschen (universorum)“ (ebd.). Es handelt sich also hier wiederum um den Fortschritt der Menschheit im Ganzen hinsichtlich der Form des Zusammenlebens, der rechtlichen Staatsform. Daraufhin stellt Kant sich eine methodische Frage: „Wie ist aber eine Geschichte a priori möglich?“ (S. 79 f.) D. i. wie ist eine „wahrsagende Geschichtserzählung“ oder eine „a priori mögliche Darstellung“ der Zukunft möglich (S. 79)? Auf diese paradox klingende Frage antwortet Kant mit knappen Worten: „[W]enn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt.“ (S. 80) Kant führt drei Fälle von einer solchen Geschichtserzählung ein, die er doch sofort ablehnt, da bei denen der angebliche Wahrsager jeweils nur sofern ihre Vorhersage verwirklicht gesehen hat, als er dem Subjekt der Geschichte, den Menschen, die hier als das Objekt der Erzählung gelten, ihre Eigentümlichkeit genommen hat; ihre Natur als ein frei handelndes Wesen (S. 80). Dergleichen Geschichtserzählung können so nicht derjenigen entsprechen, die Kant darstellen will. Eine wahrhafte Geschichte a priori muss vielmehr die Menschen als freie Wesen zum Gegenstand haben, „denen sich zwar vorher diktieren lässt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen lässt, was sie tun werden, und die aus dem Gefühl der Übel, die sie sich selbst zufügten, wenn es recht böse wird, eine verstärkte Triebfeder zu nehmen wissen, es nun doch besser zu machen, als es vor jenem Zustand war.“ (S. 83; Hv M. O.) Aber aufgrund eben dieser Natur des Menschen, der Unvorhersagbarkeit, scheint Kant in einen Engpass geraten zu sein. Denn es ist unmöglich für Menschen, sich in einen „Standpunkt der Vorsehung“ zu versetzen, „der über alle menschliche Weisheit hinaus liegt, welche sich auch auf freie Handlungen des Menschen erstreckt, die von diesem zwar gesehen, aber mit Gewissheit nicht vorhergesehen werden können“ (S. 83). Dergleichen Prospekt ist nur für das „göttliche Auge“ reserviert (S. 83). Der göttliche Weg ist aber dem Menschen versperrt.31 Kant weist beide Alternativen zurück: Weder die angebliche Wahrsage, die eigentlich die Menschen als Maschinen ansehen und daher keine wahrhafte Vorhersage über Menschen sein kann, noch die aus der göttlichen Perspektive, welche zu haben anzumaßen als schwärmerisch angesehen werden muss, bilden für Kant von vornherein keine Wahl. Er wählt sich vielmehr den dritten Weg, nämlich, aus der Sicht der inneren Menschheit 31 So heißt in Zum ewigen Frieden: „[D]ieser Standpunkt der Beurteilung ist für uns viel zu hoch, als dass wir unsere Begriffe (von Weisheit) der obersten uns unerforschlichen Macht in theoretischer Absicht unterlegen könnten.“ (ZeF VIII, S. 380).
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
her die Menschheit selbst zu betrachten. Dies wird nur dadurch möglich, dass man die menschliche Gesellschaft von innen her betrachtet, damit eine Erscheinung ins Auge fällt, die als das sinnliche Schema des Tuns der inneren Menschheit angesehen werden kann. Was in diesem Kontext als eine solche Erscheinung gilt, ist die Handlung nach „Rechtspflichten“. Sie heißt nach Kant „Geschichtszeichen“ und weist – wie dessen lateinische Übersetzung „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“ (S. 84) andeutet – auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit auf einmal hin.32 Dergleichen ist ein Zeichen pars pro toto für die Menschengeschichte im Ganzen als einen kontinuierlichen Fortschritt zum Besseren. Als ein geschichtliches, sinnliches Schemata beweist es die „Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen, d. i., nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern, wie es in Völkerschaften und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird“ (ebd.; Hv M. O.). Es ist leicht hieran zu merken, dass, was Kant hier tut, methodisch betrachtet im Wesentlichen eine Wiederholung seiner geschichtsphilosophischen Abhandlungen ist. Aber man beachte, dass in dem Streit seine Blickrichtung ein wenig verschoben ist als früher: Die Erscheinung, an der Kant hier das „Geschichtszeichen“ erkennt, wie oben erwähnt, ist das Publikum selbst; genauer, „die Denkungsart der Zuschauer“ (S. 86) der Französischen Revolution, während die Erscheinung, die früher in Was ist Aufklärung? als ein solches galt, die damalige Regierung war (WiA VIII S. 40), die für das Publikum zwar ein begünstigender, aber immer noch äußerer Umstand blieb.33 Aber jetzt, dank dieser Verschiebung von Kants Blickrichtung auf 32 Den Sachgehalt dieses Geschichtszeichens expliziert Foucault folgendermaßen sehr genau: „Das Ereignis, das uns folglich eine Entscheidung darüber gestatten könnte, ob es einen Fortschritt gibt, wird ein Zeichen sein, ein Zeichen, sagt Kant, ‚rememorativum, demonstrativem, prognosticon‘, d. h. ein Zeichen, das uns zeigt, dass es immer schon war (das Erinnerungszeichen); ein Zeichen, dass der Fortschritt sich gegenwärtig ereignet (das Hinweiszeichen); das Prognosezeichen schließlich, das uns mitteilt, dass es ständig so weitergehen wird. Und so können wir sicher sein, dass die Ursache, die den Fortschritt ermöglicht, nicht nur zu einer bestimmten Zeit gewirkt hat, sondern in einer Tendenz gründet und eine allgemeine Tendenz der gesamten Menschheit gewährleistet, in die Richtung des Fortschritts zu marschieren.“ (Foucault (2012), S. 33 f.). 33 „Das Unbehagen, das Kant offenbar verspürt hat, den König von Preußen als den Akteur der Aufklärung auftreten zu lassen, erklärt zweifellos zum Teil die Tatsache, dass das Agens der Aufklärung, der Prozess der Aufklärung selbst, in dem Text, von dem ich in der letzten Stunde gesprochen habe – der Text von 1798 [gemeint ist Der Streit der Fakultäten; M. O.] –, auf die Revolution übertragen wird. Oder genauer, nicht wirklich auf die Revolution, sondern auf jenes allgemeine Phänomen, das sich um die Revolution abspielt und in der revolutionären Begeisterung besteht. Die revolutionäre Begeisterung als Agens der Aufklärung, das ist in dem
IX. Erzählen als der Ruf nach der Republik159
das Publikum selbst, hat Kants Aufruf eine stärker aufmunternde Schubkraft gewonnen. Denn er kann jetzt zu dem Publikum sagen, es selbst sei das Geschichtszeichen des Fortschritts, habe sogar durch seine eigene Handlung bewiesen, einen „Epoche machenden Einfluss“ (Streit VII, S. 87) auf die Welt, also eine Gegenwart produziert. In dem sechsten Paragraf: „Von einer Begebenheit unserer Zeit, welche diese moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweist“ teilt Kant dem Publikum die Erhabenheit seiner eigenen Handlung mit, in der die Stimme der inneren Menschheit von allen widerhallt: „Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein, oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie, gleich als durch Zauberei, alte glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: Nichts von allem dem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiel großer Umwandlungen öffentlich verrät, und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der anderen, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen sehr nachteilig werden, dennoch laut werden lässt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter desselben, wenigstens in der Anlage, beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen lässt, sondern selbst schon ein solches ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht.“ (Streit VII, S. 85; Hv M. O.) „[D]iese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiel mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsch nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“ (Ebd.)
Kant fängt hier unmittelbar mit der Verneinung des Werts der revolutionären „Taten“ und „Untaten“, des „Spiels großer Umwandlungen“, an – mit welchen die politischen Aufstände gemeint sind, die in der Hinrichtung Ludwigs XVI gegipfelt haben34 –, um alsdann den Wert „der Denkungsart der Zuschauer“ dramatisch hervorzuheben und damit die Zuschauer zum eigentlichen Held des Spiels zu erheben. Kant macht so darauf aufmerksam, dass die „uneigennützige Teilnehmung“, d. i. Sympathie, oder die unparteiliche Parteilichkeit für die Revolutionäre, welche die Zuschauer trotz der Gefahr ihrer eigenen Sicherheit „laut“ und „öffentlich“ gemacht haben, das Text von 1798 der Ersatz oder der Nachfolger dessen, was der König von Preußen in dem Text von 1784 war.“ (Foucault (2012), S. 61). 34 Dass Kant durch die Hinrichtung sehr stark schockiert wurde, darf man nicht übersehen, wenn man Kants Politische Philosophie begreifen will. Er nennt die „formale“ Hinrichtung von Ludwig XVI, in einer unverhältnismäßig langen Fußnote zur Rechtslehre, „crimen immortale, inexpiabile“ und einen „vom Staat an ihm verübte[n] Selbstmord“ (RL, VI S. 322 f.) Hierzu s. Comey, S. 35–45.
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Zur-Sprache-Bringen ihres Beifalls für die Spieler eigentlich die erhabenste Tat bei diesem Spiel ist. Kant schaut und hört hier den Zuschauern zu, um ihr „Denkungsart“ nach dem Kriterium, das jeder Mensch in seiner Vernunft hat, d. i. nach den Rechtspflichten zu beurteilen. Und das Urteil, dass ihr geäußerter Beifall ihren „Charakter“ beweist, oder als das sinnliche „Geschichtszeichen“ für das „Fortschreiten zum Besseren“ gilt, ist ein Ausdruck von Kants Respekt vor dem Mut der Zuschauer, dass sie ihre unparteiliche Parteilichkeit für die Idee des Rechts, die auch Kant in seiner Vernunft hat, wider ihre Eigenliebe für sich tatsächlich geäußert haben. Indem Kant diese Geschichte so erzählt, wiederholt er selber, als „ein bloßer Weltbürger“, die erhabene „Epoche“ machende Tat der Zuschauer, d. i. er vergegenwärtigt die Gegenwart, die auf die Zukunft hinweist, wo diese Tat weiter wiederholt werden kann. Damit ist der Fortschritt nicht nur ein Objekt der „Hoffnung“, sondern schon ein „Faktum“.35 Auf diese Weise erweist sich Kants Wahrsage, die Menschengattung schreite zum Besseren unendlich fort, als wahr. Denn die „Geschichte a priori“ trifft zu, „wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt.“ (S. 80) Indem Kant das große Geschehen seiner Zeit erzählt, und sich selbst dadurch zum Glied des frei denkenden Publikums macht, so beweist er die Wahrheit seiner Wahrsage, da er alsdann selbst der „Urheber“ (S. 84) des Fortschritts ist. Aber ist das genug? Brauchen wir nicht auch einen Beweis dafür, dass das zum Besseren fortschreitende Menschengeschlecht „nicht gerade jetzt, vermöge der physischen Anlage unserer Gattung“, in eine „Epoche seines Rückgangs“ (S. 83) gerate? Kant behauptet, dass es in der Tat doch einen solchen Beweis gibt. Und zwar das „Phänomen“ selbst, jenes „Geschichtszeichen“, das unvergesslich ist (S. 88), ist eben der Beweis: „Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einfluss nach, auf die Welt in allen Teilen zu ausgebreitet, als dass sie nicht den Völkern, bei irgend einer Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte“ (Streit VII, S. 88; Hv M. O.)
Die „Erinnerung“ der einmal ausgeführten gerechten Handlung der Zuschauer ist es, die für immer zur „Wiederholung“ dergleichen Handlung den Anlass gibt. Sie erweckt den Mut der Menschen, indem sie ihnen zeigt, dass die Eigenliebe überwindende Durchsetzung der Gerechtigkeit schon, zumindest einmal, in dieser Welt möglich gewesen ist. 35 Vgl.
Höffe (2011b).
IX. Erzählen als der Ruf nach der Republik161
Nun kann dieses Geschehen desto mächtiger im Gedächtnis des Publikums bleiben, als es die „Produkte“ der „Legalität in pflichtmäßigen Handlungen“ (S. 91) hervorgebracht hat; die republikanische, genauer, sich republikanisierende Verfassung. Die vollkommen republikanische Verfassung ist zwar „unter wilden Kämpfen noch nicht selbst errungen“ (S. 87), so doch haben sich die Menschen durch ihre unparteiliche Denkungsart als auf dem Weg dazu stehend bewiesen, indem sie ihre Stimme für diese Verfassung gegeben haben. Die Vervollkommnung dieser Verfassung ist durch die zweifache „moralische einfließende Ursache“ jenes Beifalls der Zuschauer angekündigt: „Erstens die des Rechts, dass ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt; zweitens die des Zwecks (der zugleich Pflicht ist), dass diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere, als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten, und so dem Menschengeschlecht, bei aller seiner Gebrechlichkeit, der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden.“ (Streit VII, S. 86)
Der erste Aspekt stimmt inhaltlich mit dem angeborenen Recht überein, das wir oben betrachtet haben – mit dem einzigen Unterschied, dass hier das Subjekt des Rechts das „Volk“ ist. Dies besagt: Der Grund der unparteilichen Parteilichkeit für die Spielenden auf einer Seite der revolutionären Bühne sei die Sympathie für die Gerechtigkeit der Tat der Revolutionäre: Diese Tat schien den Zuschauern eine solche zu sein, durch die das Volk sich selbst die Bedingung des Zusammenlebens mit den Mitbürgern zu geben, die es für gerecht – was in dem angeführten Satz unter „gut“ verstanden ist – hält. Kant macht durch diese Behauptung deutlich, die Verfassung, deren Hervorbringung die Denkungsart der Zuschauer leisten soll, sei eine solche, die das Volk sich selbst gibt, die als solche ein „Produkt“ der Selbstgesetzgebung des Volks ist. Der zweite Aspekt ist etwas problematischer. Denn der Ausdruck: der „Zweck“, der zugleich „Pflicht“ ist, sowie der Adjektiv: „moralisch-gut“, erinnern unmittelbar an die ethische Pflicht. Aber die Beschaffenheit der republikanischen Verfassung, die hier Kant darstellt, ist vielmehr eine rechtsmoralische. Denn der Zustand ohne Krieg heißt, nach der Rechtslehre, das „höchste politische Gut“ (RL VI, S. 355; Hv M. O.). Tatsächlich ist die Aussage von Kant bezüglich der Zweckursächlichkeit der Handlung der Zuschauer so zu verstehen: Die Krieg meidende, republikanische Verfassung als ein rechtliches Produkt habe eine minimale ethische Wirkung, dass die Menschen im kriegslosen Zustand vor dem moralisch schlimmsten Verderben, dem Homizid aus Selbstliebe, geschützt werden.
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Es ist diese Krieg entfernende Natur der idealen Verfassung, die, neben der Kraft der „Erinnerung“, die zweite Garantie der beständigen Besserung der Menschengattung ausmacht. Kant sagt daher: „Diese Begebenheit“, die Erscheinung des frei denkenden Publikums, „ist das Phänomen nicht einer Revolution, sondern […] der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung“ (Streit VII, S. 87; Hv M. O.). Das will sagen: Diese Evolution der Verfassung, die dem Naturrecht (ius naturae) gemäß ist, werde nie aufhalten, solange diese reflexiv auf sich selbst und dessen Urheber = Volk wirkende, immer neu eine Erinnerung verschaffende Verfassung in der Welt bleibt. Hiermit erweist sich Kants Wahrsage, „dass das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde“ – welches zu beweisen die Aufgabe von Kants Geschichtsphilosophie gewesen ist –, als ein „für die strengste Theorie haltbarer Satz“ (S. 88; Hv M. O.).
X. Versprechen als die Grundlage der Politik Wir haben damit festgestellt, dass das „Erzählen“ als ein Aspekt des angeborenen „Rechts“ eine die Rechtspflichten erfüllende Befugnis ist, und dass Kant selbst diesen Aspekt durch seine Praxis der Geschichtserzählung, wenn nicht ausdrücklich, so doch performativ beleuchtet. Unsere letzte Aufgabe in diesem Kapitel besteht darin, das „Versprechen“ als die Befugnis, d. i. einen Aspekt ein und desselben angeborenen Rechts hinsichtlich dessen Pflicht ausübender Kraft zu analysieren. Es ist ja nicht zu schwer, den Zusammenhang von Versprechen und der Rechtslehre sowie Politik als der Ausübung des Rechts zu sehen. Denn, wie wäre denn Politik im Sinne der gerechten Gesetzgebung, wozu aller gleichberechtigt und auf die gleiche Weise verpflichtet ist, überhaupt möglich ohne das Vermögen des Versprechens? Tatsächlich, seit Beginn der Neuzeit, haben sich die einflussreichsten politischen Denker, z. B. Hobbes, Locke und Rousseau, zur Darstellung ihrer Staatstheorie auf eben das menschliche Vermögen des Versprechens berufen, wenn sie nämlich den Staat als eine durch den Gesellschaftsvertrag fundierte Konstruktion verstanden haben. Das ist keine Überraschung, wenn man das Phänomen des Versprechens genau betrachtet. Versprechen ist eine menschliche Handlung durch Sprache. Es ist eine Art der Vorhersage der eigenen künftigen Handlungen, die den anderen glauben lassen will, dass der Versprechende so und so handeln werde unter diesem und jenem Umstand. Ferner ist es eine solche Vorhersage, deren Subjekt zugleich der Urheber der vorhergesagten Handlung ist. Nun, um dies zu sein, muss es erstens die diachrone Identität des vorhersagenden Subjekts, zweitens das sie begleitende Selbstbewusstsein dessen und nicht zuletzt die Willkür desselben voraussetzen können. Die Eigentümlichkeit des Versprechens als einer besonderen Art der Vorhersage besteht darin, dass dessen
X. Versprechen als die Grundlage der Politik163
Wahrhaftigkeit, genauso wie bei jener Darstellung der Geschichte a priori, grundsätzlich auf der Willkürfreiheit des Vorhersagenden selbst beruht. Anders formuliert ist das Versprechen eine menschliche Handlung, die sich dadurch von der bloßen Vorhersage differenzieren lässt, dass es seine Bedeutung von der künftigen freien Realisierung des Vorhergesagten erhält, die sich wider die mögliche Falsifikation dessen durch die wiederum freie Tat des Versprechenden durchsetzen muss. Sollte das Versprechen von den Versprechenden gebrochen werden, würde das erstere ein leeres Wort.36 D. h. das Versprechen macht Sinn nur sofern, als der Versprechende selbst auch wider das Versprochene frei handeln kann. Demnach verwundert die Tatsache gar nicht, dass all die oben genannten politischen Denker den Gesellschaftsvertrag zu ihrem Grundbegriff bezüglich ihrer politischen Philosophie genommen haben. Dass sie dies gemacht haben, ist ein Beleg dafür, dass sie die subjektive Freiheit, oder mit Kants Begriff ausgedrückt, die Willkürfreiheit als das Hauptmerkmal der Menschheit verstanden haben. Denn das Versprechen ist eine freie menschliche Handlung, durch die die Versprechenden sich in einen Zustand versetzen, wo ihre Handlungen durch ihren eigenen Sprechakt selbst geregelt sind. Es ist also eine politische Handlung par excellence, durch welche freie Wesen für sich eine Bedingung ihres Zusammenlebens frei produziert. Da aber der Sinn des Versprechens wesentlich auf der Willkürfreiheit beruht, so bringt es auch die Möglichkeit des Bruchs des Versprechens mit sich. Daher, wenn es nicht mit dem Ethischen gemischt werden und ein rein rechtlicher Begriff bleiben soll, so muss aus dem Versprechen selbst die Verbindlichkeit zum Einhalten des Versprechens, d. i. ein äußerlicher Zwang dazu, die Strafe gegen den Verbrecher abgeleitet werden. So verstanden erweist es sich als natürlich, dass Kant die Befugnis des Versprechens als den Aspekt des angeborenen Rechts eingeführt hat: weil es nämlich auch das Vermögen ist, das für die Befolgung jener Rechtspflichten geeignet ist. Was Kant von dieser Befugnis erwartet, ist nichts anderes als die Hervorbringung jener republikanischen Verfassung, die gesetzlich das Volk zur Beobachtung des Gesetzes, des Versprochenen zwingt und so, innerstaatlich es von der Verderbnis entfernt, und zugleich nach außen durch die Vermeidung des Kriegs die Menschheit vor derselben schützt. Das Versprechen als die rechtliche Befugnis neben den anderen, nämlich der zu „Mitteilen“ und „Erzählen“, ist also im Wesentlichen, dem 36 Z. B. das dritte Naturgesetz bei Hobbes bringt diesen Sachverhalt zum Ausdruck: „From the law of Nature, by which we are obliged to transferre to another, such Rights, as being retained, hinder the peace of Mankind, there followeth a Third [law of natur]; which is this, That men performe their Covenants made: without which, Covenants are in vain, and but Empty words“ (Hobbes (1996), S. 100).
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D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Zweck nach, auch die Ausübungsform der Rechtslehre: Es hat die Gemeinsamkeit mit den anderen Befugnissen darin, dass dessen Subjekt = Mensch sich durch es den sozialen Raum eröffnet, in den er als ein Weltbürger eintreten kann. D. i. indem er durch Versprechen und die Einhaltung dessen tätlich zeigt, dass er selber als die Verkörperung der gerechten Handlung existieren kann, so ist er – im Gegensatz zum bloßen „Cosmotheoros“37 – ein Weltbürger. Diese Leistung, als der Zweck der Rechtslehre, ist nichts anderes als das Ideal der Aufklärung: die Selbstmanifestation des Homo noumenon und die äußerliche Durchsetzung seines Willens.
XI. Schlussbemerkung: Politik als Selbstmanifestation des Weltbürgers In diesem Kapitel haben wir versucht, den inneren Zusammenhang zwischen Kants Rechtslehre und seinem Begriff der Aufklärung zu beleuchten. Zur Zusammenfassung können wir sagen, dass die Rechtslehre im Grunde genommen als die systematische Aufforderung dazu angesehen werden kann, wonach die Aufklärung hinstrebt. Wir möchten zum Schluss dieses Kapitels unser Verständnis dadurch bekräftigen, dass wir das Resultat unserer bisherigen Analyse an Kants Apostrophe in Was ist Aufklärung? prüfen. Wir wollen dazu den Weg nochmals näher betrachten, auf dem der Weltbürger geht. Kant fängt die Schrift mit jener bekannten Definition an: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (WiA VIII, S. 35) Es ist der „Unmündige“, dem Kant hier direkt zuruft: „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (ebd.) Kant ruft so dem Einzelmenschen persönlich aus der intimsten Nähe zu, d. i. spricht mit „Du“ die Menschheit in ihm an, nimmt seinen Homo noumenon in Anspruch. „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (ebd.) Die Unmündigkeit ist „selbstverschuldet“, wenn sie ihre Ursache „nicht am Mangel des Verstandes“ (ebd.), sondern an der „Faulheit“ und „Feigheit“ des Menschen selbst hat, für den ein anderer – das Buch sein Denken, die Kirche sein Gewissen, und der Arzt seine Gesundheit – sorgt (ebd.). „Es ist bequem“ sagt Kant aus der Sicht des Unmündigen, „unmündig zu sein“, im „Gängelwagen“ und geistig Unselbständig zu bleiben (ebd.), denn darin muss sich der Mensch das Risiko nicht nehmen, hinzufallen und sich zu verletzen. Mit einem Wort er kümmert sich nur um seine Sicherheit, d. i. sein Prinzip der Handlung ist Eigenliebe. Daher sagt Kant: Es gibt „nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene 37 Dazu
s. Höffe (2012), S. 55 und S. 61.
XI. Schlussbemerkung: Politik als Selbstmanifestation des Weltbürgers 165
Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ (S. 36) Freilich gibt es immer einen Menschen, der schon körperlich gewachsen ist und ein Geschäft für seinen Lebensunterhalt hat. Der mag wohl nicht die ganze Zeit zu Hause sein, sondern im Freien. Jedoch ist z. B. der Vernunftgebrauch eines „angestellte[n] Lehrer[s]“ immer noch ein „Privatgebrauch“, solange er „im Namen eines anderen“, etwa der „Kirche“ spricht und die „Gemeinde“, die er unterrichtet, nur eine „häusliche“ Versammlung ist, d. i. wenn die beiden sich daran nicht wagen, die Vernunft „öffentlich“ zu gebrauchen, und in ihrer „eigenen Person“ zu sprechen (S. 38).38 Hier bedeutet der „Privatgebrauch“ der Vernunft nichts als den passiven Gebrauch zugunsten des partikularen Willens des anderen. Die Passivität des Menschen als eines „Teil[s] der Maschine“ ist zwar für das „Interesse des gemeinen Wesens“ sowie den „öffentlichen Zweck“ notwendig (S. 37). Aber wer soll diesen öffentlichen Zweck bestimmen, wenn der Staatsoberhaupt – hier, Friedrich der Große, der sich als „den ersten Diener meines Staats“ bezeichnet hat – lediglich eine „künstliche Einhelligkeit“ zu besorgen zuständig ist (ebd.)? Hier besteht, so scheint es, ein Zirkel: Der Staatsoberhaupt ist ein Diener der Untertanen, die dem öffentlichen Zweck dienen sollen, den er künstlich verschafft. Aber ist es in der Tat eben der Zwecksetzer im Staatswesen, worauf Kant sich hier fokussiert. Er bringt das Prinzip der „Toleranz“ des Fürsten (bezüglich der Gewissensfreiheit) eindringlich vor das Auge des Fürsten selbst zurück. Und gleichzeitig ruft er das Volk auf, „durch Vereinigung ihrer Stimmen […] einen Vorschlag vor den Thron“ zu bringen (S. 39; Hv M. O.). Es versteht sich von selbst, dass mit der Metapher „Stimme“ der allgemeine Wille gemeint ist. Dementsprechend macht sich auch das Verhältnis von Aufklärung und der Rechtslehre deutlich: Ein sich aufklärender Weltbürger ist derjenige, der den durch jene Rechtspflichten ausgedrückten Willen des Homo noumenon vertritt, welcher als der apriorische Wille der Menschheit an und für sich als den allgemeinen gelten soll. Wir können dies am deutlichsten an Kants Behauptung über den öffentlichen Gebrauch der Vernunft hinsichtlich des Gewissensfreiheit erkennen – obwohl diese Freiheit im Wesentlichen die Sache der Religion ist, und daher hier ausschließlich von der im ethischen Sinne zu handeln scheint, werden wir sehen, dass, was Kant hier über sie behauptet, auch die rechtliche Freiheit abdeckt und die Betonung hier eigentlich darauf gelegt ist; hier geht es hauptsächlich um die Religion im politischen Kontext. 38 Kant spielt hier mit dem Gegensatzpaar privat (häuslich) / öffentlich auf den klassischen Unterschied zwischen Haushalt und Politik als „Republik (res publica)“, d. i. das „Öffentliche“ an. So verstanden, erweist sich Kant hier wiederum als in der Tradition der politischen Philosophie seit Aristoteles stehend.
166
D. Die Rechtslehre als Aufruf zur Aufklärung
Nun derjenige, der den öffentlichen Gebrauch von seiner Vernunft macht und so dem angestellten „Lehrer“ entgegengesetzt ist, heißt „Gelehrter“ und spricht als ein „Weltbürger“. Er spricht durch seine „Schrift“ vor dem „ganzen Publikum der Leserwelt“ (S. 37) – „nämlich der Welt“ (S. 38; Hv M. O.). Er fordert dadurch das Publikum auf, über die Lage der sozialen Institutionen zu urteilen, seine freie Meinung darüber zu erheben (S. 37 f.). Und er „genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.“ (S. 38) Aber die Kirche will dem Lehrer, der ihre offizielle Lehre vertreten soll, diese Freiheit nicht einräumen. Angesichts dieser Einstellung der Kirche behauptet Kant, dass der Lehrer sein Geschäft „niederlegen müsste“, wenn diese Lehre etwas „der inneren Religion Widersprechendes“ enthält (ebd.). Denn, wenn dies der Fall wäre, so kann der Lehrer „sein Amt mit Gewissen nicht verwalten“ (ebd.). Aber was bedeutet „Gewissen“ in diesem Kontext? Die folgende Behauptung verdeutlicht, dass hier unter „Gewissen“ nicht ein spezifisch Religiöses, sondern das Bewusstsein über die menschliche Bestimmung verstanden ist: „Aber auf eine beharrliche, von Niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgang der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Recht der Menschheit zu verletzen und mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, dass er den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt.“ (WiA VIII, S. 39 f.; Hv M. O.)
Es ist nicht zu übersehen, dass hier unter „Religionsverfassung“ die institutionalisierte Religion verstanden ist. D. h. es ist hier von der Religion nur sofern die Rede, als sie den „Fortgang der Menschheit zur Verbesserung“ hindern kann, für den das „Volk über sich selbst beschließen“ soll. So betrachtet lässt sich nun das „Gewissen“, nach dem der angestellte Lehrer die widersprüchliche religiöse Lehre der Kirche verlassen und sich zum Gelehrten machen soll, als eine solche innere Stimme des Menschen begreifen, der gemäß zu handeln eben die Versicherung der „heiligen Rechte der Menschheit“ bedeutet. Und sie ist es, woran der Monarch den „gesamten Volkswillen“ erkennen soll. Hier wiederum ist der Kompass die innere Stimme der Menschheit, der Aufruf zur Durchsetzung des angeborenen Rechts. Die Aufgabe des Weltbürgers besteht darin, durch das „Räsonieren“ das „Feld“ zu eröffnen
XI. Schlussbemerkung: Politik als Selbstmanifestation des Weltbürgers 167
(S. 40), wo der Mensch als Weltbürger qua Vertreter der Stimme des Homo noumenon frei handeln kann. Zum Schluss seien jene Worte von Kant, die wir bereits einmal in dem vorigen Kapitel gelesen haben, betrachtet, aber dieses Mal, um den engen Zusammenhang der Rechtslehre mit der Idee der Aufklärung festzustellen: „[N]ur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: Räsoniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: So wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.“ (S. 41 f.)
Wo der Mensch den öffentlichen Gebrauch von seiner Vernunft macht, so zeigt er seinen „Beruf“, sein Aufgerufen-Sein, seine Bestimmung (destinatio), zum freien Denken öffentlich. In dieser Manifestation tritt die reale Möglichkeit der Befolgung seiner Bestimmung, der Rechtspflichten, zutage. Diese Manifestation hat den Effekt, dass das Phänomen qua Sich-Zeigen des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft auf den Räsonierenden selbst so wirkt, dass er immer fähiger wird frei zu handeln – welchen Mechanismus man nunmehr aus der Wirkung der „Erinnerung“ erklären kann, die wir oben betrachtet haben. Darüber hinaus beeinflusst sie schließlich die „Grundsätze der Regierung“ so, dass die Regierung den Menschen „mehr als eine Maschine“, mithin als das Subjekt des allgemeinen Willens ansehen will. Dieser letztere Effekt stimmt mit dem der „republikanischen Verfassung“ in der Hinsicht überein, dass das einmal geleistete Produkt der Legalität so funktioniert, dass es an und für sich den Krieg von sich entfernt, was für die Regierung doch willkommen sein muss. Und dies ist nichts anderes als der Zweck der Rechtslehre, nämlich der ewige Frieden als das höchste politische Gut. Die Aufklärung als der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist zugleich der Eingang in die Republik, die nach dem Prinzip des Rechts aufgebaut ist. Die Aufklärung ist so das Zu-Sich-Kommen, das reflexive Sich-Zur-Welt-Bringen des Menschen, wodurch er selbst seine eigentliche Welt produziert und zugleich sich in sie hineinsetzt, in den von ihm selbst geschaffenen neuen Geburtsort des Menschen.
E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant I. Erziehung im Hinblick auf die moralische Politik Wir haben bisher versucht, die Bedeutung des Politischen bei Kant im Zusammenhang mit seiner Konzeption des Menschen zu verstehen. Zunächst haben wir uns auf Kants Aussage aufmerksam gemacht, die „eigentliche Aufgabe der Politik“ bestehe darin, die Maximen der Politiker mit Glückseligkeit als dem allgemeinen Zweck des Publikums zur Übereinstimmung zu bringen. Diese Aussage wurde als eine Behauptung ausgelegt, dass jedes politische Gemeinwesen die Selbstständigkeit der Bürger als die minimale Bedingung für seine Glückseligkeit ansehen muss und so jede Herrschaft dieser Voraussetzung gemäß etabliert bzw. reformiert werden soll. Denn jeder Mensch ist nach Kant immer schon an dem Verlangen nach Selbstständigkeit orientiert; er kann nur durch Erfüllung dieses Verlangens mit seiner Existenz zufrieden sein. Wenn der Mensch sich als von jeglichem Fremden überhaupt einschließlich seiner Neigungen unabhängig fühlt, so sieht er sich als sein ursprüngliches Verlangen erfüllend an. Dementsprechend ist es schlechterdings unzulässig, ihn ohne seine Einwilligung unter der Herrschaft von anderen zu halten. Positiv formuliert heißt eine solche rechtliche Praxis „politisch“, wodurch die Menschen das werden können, als was sie immer schon existieren wollen. In diesem Sinne kann das Politische als das Werden zum gewünschten Selbst des Menschen verstanden werden. Dies galt als der Ausgangspunkt des Kapitel D. In ihm haben wir zu zeigen versucht, dass das, dessen Ausübung bei Kant Politik heißt, nämlich die Rechtslehre, als eine Aufforderung zu solchen Handlungen verstanden werden kann, die das Selbstwerden des Menschen realisieren. Die Rechtslehre, so unsere Behauptung, soll als eine solche Pflichtenlehre verstanden werden, die die Selbstaufklärung des Menschen um der Sorge für seine innere Menschheit willen notwendig zu sein zeigt. Es gilt nunmehr näher zu sehen, wie denn der Mensch selbst die Bestimmung zum Selbstwerden als eben seine eigene anerkennen kann. Diese Frage drängt sich auf, weil der Mensch als sinnliches Vernunftwesen nicht immer schon in der Lage ist, aus der Fülle von Neigungen heraus eben jenes Verlangen nach Freiheit als Ausdruck seiner eigentümlichen Bestimmung zu identifizieren. Es besteht zwar kein Zweifel für Kant, dass das Verlangen nach
I. Erziehung im Hinblick auf die moralische Politik169
Freiheit absolut grundlegend, also mit den anderen Neigungen unvergleichbar ist. Für Kant, wenn es in der Welt keine „vernünftige Natur“ gäbe, so wären alle Neigungen und ihre Gegenstände ohne Wert (GMS IV, S. 428). Aber das alleine besagt längst nicht, dass dies jedem Individuum unmittelbar einleuchtet. Vielmehr, vorausgesetzt, dass die Neigungen sich nicht einmal endgültig erfüllen lassen, wäre es realistischer anzunehmen, dass der Mensch, von den Neigungen verführt, nicht unmittelbar zur Einsicht kommt, er solle sich an seinem inneren Kompass, dem kategorischen Imperativ, orientieren, damit er zu sich, dem eigentlichen Selbst kommt. Kant sagt ja auch vielerorts, selbst ein Kind wisse, was gut sei. Aber sein Gedanke, dass das „Faktum der Vernunft“, d. i. das Bewusstsein des Menschen, dass seine freie Ursächlichkeit selbst im Zweifelsfall durch den kategorischen Imperativ unmittelbar bestimmt wird, eben durch ein Denkexperiment zustande kommt (KpV V, S. 54), legt nahe, dass zur deutlichen Erkenntnis dieses Bewusstseins ein gewisses Maß von praktischer Reflexionsfähigkeit des Menschen erforderlich sei. Anders gesprochen muss man sich eine gewisse Distanz von sich selbst nehmen können, um aus einer allerlei Gemütszustände transzendierenden Perspektive her eben das gedanklich herausgreifen zu können, was seinem tiefsten Interesse entspricht. Ferner, auch wenn die erforderliche Reflexionsfähigkeit doch nicht allzu anspruchsvoll wäre, bleibt noch ein anderes Problem: Die Anerkennung der eigenen Bestimmung verspricht nicht, dass der Mensch den kategorischen Imperativ immer pünktlich beobachtet. Ein Blick auf Kants realistische Darstellung der menschlichen Natur macht deutlich, dass er vor dieser Schwierigkeit ganz wach ist. Und vor allem gilt die Tatsache, dass das moralische Gesetz für Menschen sich als ein Imperativ aufdrängt, als der beredteste Beleg dafür: Weil die menschliche „Willkür“ „sinnlich affiziert und so dem reinen Willen […] oft widerstrebend ist“, muss das Gesetz „kategorisch“ d. i. „unbedingt“ gebietend sein (vgl. RL VI, S. 221).1 In nuce könnte man sagen, dass – Hegelisch gesprochen – das Für-Sich-Werden der Moralität im Menschen den Menschen notwendig anstrengt. Er wird dafür in Anspruch genommen.2 1 „Der Imperativ ist eine praktische Regel, wodurch die an sich zufällige Handlung notwendig gemacht wird. Er unterscheidet sich darin von einem praktischen Gesetz, dass dieses zwar die Notwendigkeit einer Handlung vorstellig macht, aber ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob diese an sich schon dem handelnden Subjekt (etwa einem heiligen Wesen) innerlich notwendig beiwohne, oder (wie dem Menschen) zufällig sei; denn, wo das erstere ist, da findet kein Imperativ statt. Also ist der Imperativ eine Regel, deren Vorstellung die subjektiv-zufällige Handlung notwendig macht, mithin das Subjekt, als ein solches, was zur Übereinstimmung mit dieser Regel genötigt (nezessitiert) werden muss, vorstellt.“ (RL VI, S. 222). 2 Das ist Thema vom Kapitel C.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
Da es aber in der Moralität qua Autonomie per definitionem auf die freie Entscheidung des Menschen ankommt, wäre es ein Widerspruch, zu glauben, dass man andere pflichtbewussten Menschen zur Befolgung seiner Bestimmung zwingen dürfte. Das Gleiche gilt im Bereich des Rechts. Denn auch dort, obwohl das „Recht“ die Befugnis andere zur äußeren rechtmäßigen Handlung zu zwingen heißt, darf man sich durch nichts, sagt die erste Rechtspflicht3, zwingen lassen, außer wenn man selber dem Grund des Zwangs zustimmen kann. Die einzige plausible Einstellung eines fremden Menschen gegenüber der Anstrengung eines Menschen für das Für-Ihn-Werden der Moralität und Legalität heißt: den Menschen zur Selbstaufklärung aufforderndes „Warten“. Anders gesagt muss man einerseits dem Menschen Zeit lassen. Aber wir sollen dies andererseits in der Hoffnung tun, dass wir dabei zugleich den anderen Beihilfe zur Selbstaufklärung auf eine solche Weise leisten können, dass wir uns ihnen gegenüber nicht despotisch-väterlich verhalten.4 Wie genau ist dies aber möglich? Das ist die leitende Frage des vorliegenden Kapitels. Um sie zu beantworten, müssen wir uns mit derjenigen Kunst bei Kant, namens „Erziehung“, auseinandersetzen. Denn sie nimmt einerseits die zur Freiheit bestimmte menschliche Natur ernst und ist andererseits ein Versuch, den Menschen bei seinem zunächst schwankenden Schritt zur Freiheit aufrechtzuerhalten. Obwohl es eine schwierige Aufgabe ist, den Wert der Erziehung bei Kant genau zu erläutern5, sehen wir sie aus einem sehr einfachen Grund als für die Vollendung dieser Untersuchung unabdingbar an: Gute Erziehung gilt als die Vorbedingung der gerechten Politik. Das ist gewiss intuitiv naheliegend. Aber warum genau? Wir haben bisher wiederholt gesehen, dass die selbstgewirkte Über windung des Kindes in sich selbst einerseits und die Zurückweisung des vermeintlich väterlichen, aber im Grunde genommen kindischen Eingriffs des Despoten andererseits bei Kant als Muster der idealen Politik 3 Hierzu
s. D. V. s. besonders B. V. 5 Worin die Schwierigkeit besteht, macht Herman deutlich: „[T]he Kantian moral agent, qua rational agent, is one whose capacity for morality, for good willing comes with her autonomous nature. We are rational agents; insofar as we are rational, we are autonomous: able to act as morality requires – „from duty.“ Apart from training to make moral life easier, there does not appear to be much room to form or develop anything.“ (Herman, S. 255) Ich halte ferner ihre folgende Behauptung für unsere Analyse sehr wichtig: „We may have an innate predisposition to morality: a capacity to act from duty and for the sake of the moral law. But if the moral capacity is natural, its actualization in our lives is not“ (S. 258). Bedauerlich ist nur, dass Herman sich nicht explizit auf Kants Pädagogik noch die Erziehung von Kindern bei ihm bezieht. 4 Hierzu
I. Erziehung im Hinblick auf die moralische Politik171
gelten.6 Jedoch ist das „Kind“ in uns kein absoluter Feind, den wir jemals vernichten können noch sollen. Die moralische Politik bei Kant muss sich am kategorischen Rechtsimperativ orientierend um die „Glückseligkeit“ der Bürger sorgen. Das besagt, dass sie dem Kind in uns als Subjekt der immer noch rohen Willkürfreiheit den geistigen Raum verschafft, in dem es selber gemäß dem Rechtsimperativ nach Glück streben kann. Dies ist nun nur insofern möglich, als die für die Politik verantwortlichen Subjekte schon in dem Maße erwachsen sind, dass ihr Gebrauch des eigenen Verstands allein auf „Mut“ ankommt.7 Dementsprechend haben wir bisher zwar zu zeigen versucht, wie denn der Mensch sich Mut zum Selbstdenken fassen kann, ist aber dabei immer implizit vom Erwachsenen die Rede gewesen. Ein solches Verfahren tut zwar der Politik im engeren Sinne, die Exekution nach dem moralischen Rechtsbegriff durch schon erwachsene Bürger, keine Ungerechtigkeit. Wir dürfen jedoch die allzu einfachen Tatsachen nicht vergessen, dass niemand schon erwachsen zur Welt kommt und höchstwahrscheinlich kein Mensch sich noch an die frühsten Tage seines Lebens erinnern kann. Der Schritt zur Menschwerdung des Menschen ist in der Tat längst angefangen, bevor er so weit gekommen ist, dass ihm nicht mehr „am Verstand mangelt“ und daher das Selbstdenken allein auf seinen freien Entschluss dazu ankommt. Um also an die Möglichkeit der gerechten Politik zu glauben, müssen wir voraussetzen können, dass ein jeder bis dahin gesund aufgezogen werden kann, dass er sich als freier Bürger auf den öffentlichen Raum einlässt. Gute Erziehung macht auf diese Weise eine unabdingbare, ständig zu erfüllende Voraussetzung der gerechten Politik aus. Ständig zu erfüllen ist sie einfach daher, weil jeder Mensch zuerst als Kind, d. i. ein erziehungsbedürftiges Wesen, zur Welt kommt.8 Aus diesem Interesse möchten wir in diesem Kapitel ein Gespräch mit Kant über Erziehung führen. Dabei werden wir nicht nur die Pädagogik, sondern, wie die wenigen Interpreten, die sie analysieren, mit Recht tun, auch verschiedene Kantische Texte berücksichtigen9, soweit es für die Rekonstruktion seines Erziehungsprogramms im Hinblick auf die moralische Politik nötig ist. 6 Hierzu
s. bsd. C. V. wichtige Bemerkung, die Bewohner des Kantischen Reichs der Zwecke seien alle „adults“ (Schapiro, S. 715 f.), trifft für die Politik bei Kant noch stärker zu. 8 In dieser Hinsicht gelten die folgenden Bemerkungen genauso gut für „liberal participatory democracy“ wie für die Kantische Politik: „Nowhere is the philosophy of education more important, nowhere is education itself crucial […] than in a liberal participatory democracy whose egalitarian commitments make every individual both legislator and subject.“ (Rorty, S. 1). 9 Vgl. Munzel; Schapiro; Höffe (2012); LaVaque-Manty. 7 Schapiros
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
II. Anfang und Ende des Werdegangs Die Voraussetzungen für die Analyse im vorliegenden Kapitel sind folgende. Erstens müssen wir die sinnlich-vernünftige Doppelnatur des Menschen voraussetzen und sie nie außer Acht lassen. Denn dergleichen Natur ist das, was den Menschen derart bestimmt, dass er erst mit der Zeit das werden kann, als was er existieren will. Zweitens besteht das Ziel der Analyse der „Erziehung“ bei Kant darin, dass die Menschen sich am richtigen Gebrauch seiner praktischen Kräfte in dieser Welt orientieren lernen. Wir werden diesen Prozess als den einer langsamen Zurückweisung der ungerechten, kindischen Tendenz des Menschen, bloß aus und für die Selbstliebe zu handeln und dementsprechend alles bloß nach eigenem Sinn zu richten. Es empfiehlt sich hier, uns wiederum daran zu erinnern, dass Politik von Kant als „ausübende Rechtslehre“ bezeichnet ist und auch, dass es keine innere Unmöglichkeit in einer solchen Ausübung gibt. Will man daher von der Überforderung der politischen Vernunft sprechen, so soll man sie nicht hinsichtlich des Rechtsprinzips selbst, sondern vielmehr der Art seiner Ausübung ablesen: Der Mensch wird nämlich überfordert, wenn seine Vernunft die gerechte Ordnung der Welt im Augenblick, d. i. durch Revolution10, verwirklicht sehen zu können vermeint. Der Mensch als ein politisches Lebewesen muss also selber mit der Zeit lernen und sich überzeugen, dass die nebeneinander zusammenlebenden Menschen nur allmählich durch Evolution der Verfassung zum idealen Zustand der Koexistenz fortschreiten können. Um die Kunst richtig zu begreifen, den Menschen zur praktischen Selbsterkenntnis bzw. -anerkennung und der daraus folgenden Befolgung seiner Bestimmung zu bringen, muss man vorab den ganzen Prozess dazu umreißen. Es ist nötig, zunächst den Anfang als Ausgangslage und das Ende als Zielort zu kennen. Beide haben wir bisher schon mehrmals gesehen. Als Anfang gilt nämlich jene Urszene des menschlichen Lebens: die Geburt. Und das Ende ist nichts als die Erreichung des vom Neugeborenen gewollten Zustands: die eigene Selbstständigkeit und die ihr korrespondierende gesellschaftliche Rahmenbedingung, d. i. eine republikanische Verfassung. Ferner liegt die entscheidendste Zwischenphase bereits auf der Hand: das geistig selbständig gewordene Kind, das nunmehr selbstständig denkt. Da es dabei schon auf dem Weg zum Selbstwerden steht, kann diese Phase als der Anfang des Endes betrachtet werden. Oder genauer, ist sie im gewissen Sinne schon das Ende selbst. Denn, wie wir in den Kapiteln A. und B. gesehen haben, ist das geistige Aufstehen zugleich die Zurückweisung der Vormundschaft, d. i. 10 Hierzu
s. die Einführung dieser Untersuchung.
III. Das Gefühl, „mehr als Mensch“ zu sein 173
einer angeblich fürsorgenden fremden Hand. Was herausgesucht werden muss, ist daher die vorletzte Phase, die unmittelbar vor dem Aufstehen des Kindes, seinem Entschluss zum Selbstdenken, stattfindet. Da aber das Aufstehen aus freiem Stück in dem Sinne ein Ereignis ist, dass man nicht vorhersagen kann, wann und unter welcher Voraussetzung es geschehe, lässt sich die gesuchte Vorstufe des Aufstehens nicht identifizieren. D. i. der Mensch kann sich, solange er als frei angesehen werden muss und dementsprechend die Selbstaufklärung von seinem eigenen Mut abhängt, abgesehen von allen Umständen, in thesi immer zum Aufstehen entscheiden. Es klafft umgekehrt zwischen der freien Entscheidung und der Unterlassung dieser eine unermesslicher Kluft auf. Wenn der Mensch selber letzten Endes doch den ersten, die kausale Kette der Erscheinung suspendierenden Schritt nicht tut, wären alle günstigen Umstände11 vergebens. Um vorab im Groben zu sehen, ob, und wenn schon, wie die Kantische Erziehung trotz all dieser Schwierigkeiten erfolgreich sein kann, betrachten wir zunächst einmal den Gang der Menschengeschichte im Großen, in der Art, wie Platon den Staat als einen groß geschriebenen Menschen zergliedert, um den Menschen besser kennenzulernen.
III. Das Gefühl, „mehr als Mensch“ zu sein Wir beziehen uns hier zuerst auf die etwas rätselhafte Erläuterung zu einer der wichtigsten geschichts- bzw. politikphilosophischen Begriffe von Kant: die zur „ungeselligen Geselligkeit“. Als großgeschriebene Konstanz der menschlichen Natur, die für den Fortschritt der Menschheit in der Zeit funktional ist, verdient sie besondere Aufmerksamkeit. Denn es lässt sich erwarten, dass durch die Betrachtung ihres Sachverhalts sich ein Muster der Erziehung des Menschen darbietet. Im Vierten Satz der Idee stellt Kant die These vor, dass jeder Mensch eine „Neigung“ in sich hat, „sich zu vergesellschaften“ (Idee VIII, S. 20). Kant hält sie für eine allgemeine aufgrund der inneren, gleichsam transzendentalen Erfahrung, dass der Mensch in der Gesellschaft „sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen fühlt.“ (S. 20 f.; Hv M. O.) Der Ausdruck „mehr als Mensch“ ist grammatikalisch etwas verwirrend. Vermutlich daher gibt es z. B. in den englischen Übersetzungen zwei Versio nen der Wiedergabe. In Woods jüngsten Übersetzungen heißt es: „more a 11 Dazu gehört etwa die Regierung von Friedrich dem Großen, in der allen Bürgern die Redefreiheit zuerkannt wird.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
human being“12, während Yovel ihn mit „more than a man“ wiedergibt. Dieser fügt eine Fußnote hinzu, die lautet: „Kant is not saying that man becomes more than man through society (by itself), but rather that within society he feels more than an ordinary, given man“.13 Wir möchten hier die letztere Lesart bevorzugen, weil sie sowohl grammatikalisch als auch inhaltlich zutreffender ist. Zur Bekräftigung der letzteren Lesart sollen wir darauf achten, dass das genannte Selbstgefühl durch die Reflexion über die „Entwicklung“ eigener „Naturanlagen“ erregt wird. Die These lässt sich als so viel behauptend verstehen: Das Bewusstsein der eigenen, sich allmählich entwickelnden Vermögen erregt im Menschen das Gefühl, mehr als das zu sein, was er unmittelbar ist. Diese auf den ersten Blick etwa an Nietzsche erinnernde Behauptung erweist sich als durchaus in Übereinstimmung mit Kant, wenn wir nur ins Gedächtnis rufen, dass ihm zufolge der Mensch immer schon nach dem Unendlich-Werden verlangt. So gesehen lässt sich das Gefühl, „mehr als Mensch“ zu sein, als ein derart stimmliches des Menschen ausdrückend begreifen: Es signalisiert dem Menschen, dass er nunmehr gemäß seiner Bestimmung zu existieren angefangen hat.14 Anders gesagt ist es ein Gefühl einer subjektiven Gewissheit, dass er gut orientiert ist, d. h., dass er sich auf dem Weg befindet, der zu seiner destinatio, dem Leben in einer Republik als Gesetzgeber, führt.15 Indem der Mensch seine Naturanlagen kultiviert, die nach der These des Ersten Satzes der Idee von den Beobachtern der Geschichte nicht als zwecklos in einem Lebewesen angelegt betrachtet werden dürfen16, lässt er sich graduell auf eine mögliche, zweckmäßig geordnete Welt anpassen, deren Hervorbringung auf die Menschen als freie Wesen ankommt. Ob nun aber der Mensch eine solche Welt bewusst hervorbringen will, ist eine andere Frage. Und ferner ist es noch eine andere, die für uns hier 12 Kant,
S. 13. S. 146 f. 14 Dass ein solches stimmliches Signal überhaupt möglich ist, überrascht gar nicht, sobald man sich etwa an das Faktum der Vernunft oder aber das Gefühl am Schönen bzw. dem Erhabenen erinnert. 15 Inhaltlich betrachtet entspricht dieses Gefühl dem des dynamischen Erhabenen sowie dem der geistigen Orientiertheit. Zum ersteren s. KU V, S. 260ff; zum letzteren s. Orientieren. 16 „Alle Naturanlagen eines Geschöpfs sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. Bei allen Tieren bestätigt dieses die äußere sowohl, als innere oder zergliedernde Beobachtung. Ein Organ, das nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die ihren Zweck nicht erreicht, ist ein Widerspruch in der teleologischen Natur.“ (Idee VIII, S. 18). 13 Yovel,
III. Das Gefühl, „mehr als Mensch“ zu sein 175
wichtiger ist, ob der Mensch, wenn er sich „mehr als Mensch“ fühlt, zugleich weiß, warum er sich so fühlt. Die Antwort auf die erste Frage liegt auf der Hand, wenn man nur sieht, dass nach Kant der Plan einer zweckmäßigen Welt nicht von den Menschen selbst, sondern von der Natur entworfen worden ist. Kant sagt: „Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, dass, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den anderen, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt würde, ihnen doch wenig gelegen sein würde.“ (Idee VIII, S. 17; Hv M. O.)
Die „Weisheit“ der Natur besteht eben darin, die Welt so geschaffen zu haben, dass, auch wenn alle Einzelmenschen sich der Verfolgung ihrer eigenen Absicht gänzlich hingeben, ihre Handlungen doch am Ende solche Produkte hervorbringen, die zwar nicht das Wohl des Einzelmenschen, so doch das der ganzen Menschengattung befördern, als ob ihre Handlungen von Anfang an nach einem geheimen Plan auf dieses Ergebnis hin gesteuert wären.17 Demnach liegt es nahe, dass es der Natur gleichgültig sei, ob der Mensch ihren Plan kenne, und ob er willentlich die ihm von ihr zugesprochene Rolle erfülle: Die Geschichte fährt ohnehin mit ihrem Plan fort. Im Wesentlichen entspricht dies der Botschaft des Zweiten Satzes der Idee, der lautet: „Am Menschen (als dem einzigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“ (S. 18) Nun ist „die Vernunft in einem Geschöpf“ „ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe.“ (ebd.) Zusammengenommen besagen diese zwei Sätze, dass es für das Individuum unmöglich ist, innerhalb der Dauer seines Lebens sein Vermögen zur Erfüllung aller seinen „Absichten“ vollkommen zu entwickeln, sondern dies nur in der „Gattung“ stattfinden kann. Das ist doch wiederum nicht die selbstgesetzte Absicht der Gattung – denn es wäre ungereimt, ihr eine Absicht zu unterstellen, weil die Gattung eigentlich nur ein kollektiver Begriff ist –, sondern eigentlich die Absicht der Natur. Das bedeutet, dass nur der Natur 17 Dergleichen Auffassung des Laufs der menschlichen Handlungen ist nicht ein Beitrag, der ausschließlich Kant zuerkannt werden soll. Z. B. ist das ihr zugrundeliegende Prinzip der Sparsamkeit der Natur schon bei Aristoteles zu finden. Ferner die auf diesem Prinzip beruhende Betrachtungsweise der menschlichen Handlungen im Ganzen haben viele anderen Denker, von Machiavelli und Montaigne über Adam Smith bis zu Hegel und Marx, auf je unterschiedliche Weise vorgestellt. s. dazu etwa Schneewind.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
es obliege, was die Menschengattung als eine ganze leistet, aber nicht das, was das Individuum für sich will. Dessen ungeachtet ist es dem Menschen nicht gleichgültig, ob er sich in Übereinstimmung mit der Absicht der Natur zu stehen fühlt. Diese Annahme wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass Kant sagt, es würde den Menschen wenig bekümmern, auch wenn sie die Absicht der Natur kannten. Vielmehr wird unsere Vermutung durch die folgende Bemerkung von Kant im Sechsten Satz verstärkt. Sie taucht in der Fußnote auf, die als Erläuterung der bereits im Fünften Satz vorgestellten „Absicht der Natur“ gilt: der „Errichtung einer allgemeinen das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 22). Sie ist nach dem Sechsten Satz das schwerste Problem, das „von der Menschengattung am spätesten aufgelöst wird“ (S. 23). Die Schwierigkeit der Lösung dieses Problems beruht darauf, dass der Mensch ein „Tier“ ist, das, „wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat“, der dem Menschen seinen partikularen, selbstsüchtigen, tierischen Willen bricht und ihn nötigt, „einem allgemeinen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen“, wobei der Herr auch ein Mensch sein muss (ebd). Kant geht so weit, zu sagen, die „vollkommene Auflösung“ dieses Problems sei „unmöglich“ (ebd). Hierauf folgt die berühmte Schilderung des Menschen von Kant: Als „so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ (ebd.). Es wird der Eindruck erweckt, dass Kant diese Schilderung als eine Entschuldigung der menschlichen Natur gelten lassen wollte, wenn man auf den unmittelbar folgenden Satz achtet. Dieser stellt erneut eine etwas ermäßigte Forderung der Natur gegenüber dem Menschen vor: „Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.“ (ebd.) Die oben angeführte Fußnote ist genau diesem Satz hinzugefügt, in welcher es plötzlich um den „Rang“ der Menschengattung im Kosmos geht: „Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich. Wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschaffen sei, wissen wir nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmeicheln, dass wir unter unseren Nachbaren im Weltgebäude einen nicht geringen Rang behaupten dürfen. Vielleicht mag bei diesen ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben völlig erreichen. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hoffen.“ (Idee VIII, S. 23; Hv M. O.)
Wir haben vermutet, dass dem Menschen die Absicht der Natur nicht gleichgültig ist, obwohl die Natur, was ihre Forderung betrifft, dem Individuum gegenüber gewalttätig zu sein scheint. Die soeben zitierte Fußnote weist genau hierauf hin. Denn, warum will Kant so plötzlich den Menschen aus der Perspektive der Einwohner anderer Planeten einschätzen, welche als ein Anderer par excellence für Menschen gelten? Der Grund kann nur sein: weil Kant denkt, dass der Mensch trotz seiner Natur, die ihn als ein „krum-
IV. Ungesellige Geselligkeit als verkehrte Ausdrucksform177
mes Holz“ aussehen lässt, auf sich stolz sein, d. i. Respekt vor sich, also Selbstachtung haben wolle und dürfe, wenn er seine Bestimmung anerkennt und entsprechend handelt. Es liegt nun nahe, dass, um dies zu tun, der Mensch sich aus der Perspektive eines Anderen betrachten können muss. Es ist hier wichtig zu betrachten, wie Kant hier den Standpunkt eines Anderen einnimmt. Dies wäre überhaupt unmöglich, wenn der Mensch nicht selber ein Anderer seiner selbst wäre. Der Mensch hat eine solche Selbstheit in sich, die von allerlei unmittelbaren Gemütszuständen unberührt bleiben kann. Dies ermöglicht dem Menschen, denkend und bewertend über sich selbst zu reflektieren. Es ist diese doppelte Selbstheit des Menschen, worauf Kant sich beruft, wenn er den Menschen, welcher er auch ist, aus der Sicht eines Anderen betrachtet und bewertet: Er überträgt die Perspektive seines cogito18 auf einen Anderen, um imaginär der Bewertende und der Bewertete zugleich zu sein. Kant schaut also dem Menschen aus der Perspektive dessen zu, der eigentlich niemand anderer als sein denkendes Ich ist. Daher kann der Andere sein, dessen Standpunkt Kant einnimmt, was er will, sei es nun ein Einwohner eines anderen Planeten, oder die Natur, oder aber Gott, solange ihm ein cogito zuerkannt werden kann, d. i. solange er für den Menschen kein absoluter Fremder ist. Nun Kant tut dies vermutlich primär, weil er selbst als Mensch weiß, dass jeder Mensch ausnahmelos Selbstachtung haben will. Anders gesagt ist es Kant als einem Menschen allzu klar, dass es in ihm jemanden gibt, der ihn für seine eigene Würde interessieren lässt und nicht anders sein kann, der Homo noumenon heißt. Wir haben in den vorangehenden Kapiteln erfahren, dass dieser in jedem Menschen innwohnende, jedoch dem Individuum je seinige Mensch, diejenige Menschheit ist, welche den Menschen stets, ja von Anfang seines Lebens an nach äußerer Freiheit verlangen lässt. Wir wissen auch, dass der Mensch der wahren Stimme des Homo noumenon zunächst und zumeist nicht zuhört, auch wenn er nicht gänzlich überhört.
IV. Ungesellige Geselligkeit als verkehrte Ausdrucksform des Anspruchs auf Freiheit Die folgende Entwicklungsgeschichte des Menschen in seiner frühsten Lebenszeit macht deutlich, dass Kant die immer schon stimmlich nach Frei18 „Nun kann ich von einem denkenden Wesen durch keine äußere Erfahrung, sondern bloß durch das Selbstbewusstsein die mindeste Vorstellung haben. Also sind dergleichen Gegenstände nichts weiter, als die Übertragung dieses meines Bewusstseins auf andere Dinge, welche nur dadurch als denkende Wesen vorgestellt werden.“ (A 347 / B 405).
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
heit orientierte Daseinsweise des Menschen für allgemein hält. Als Auftakt dieser Geschichte gilt jene Urszene des Lebens: „[D]as Kind, welches sich nur eben dem mütterlichen Schoß entwunden hat, scheint zum Unterschied von allen anderen Tieren bloß deswegen mit lautem Geschrei in die Welt zu treten: weil es sein Unvermögen, sich seiner Gliedmaßen zu bedienen, für Zwang ansieht und so seinen Anspruch auf Freiheit (wovon kein anderes Tier eine Vorstellung hat) sofort ankündigt.“ (Anthr. VII, S. 268; Hv M. O.)
Sobald der Mensch gezwungen wird, mit eigener Mühe zu atmen19, fängt er an zu wollen, aus dem ihm aufgezwungenen Zustand der Unfreiheit auszugehen. Im Geschrei als dem Ausdruck des „Anspruchs auf Freiheit“, widerhallt schon jener Aufruf des Homo noumenon: „Exeundum e statu naturali“. Der Anspruch auf Freiheit ist gleichzeitig einer auf eine solche Welt, in der der Mensch sich frei fühlen kann. Aber die Freiheit, worauf der Neugeborene Anspruch erhebt, muss in dieser Welt, wo der Kontakt mit anderen gleich gesinnten Wesen auf ihn wartet, notwendigerweise eingeschränkt werden. Der Anspruch darf aber nicht einer auf eine uneingeschränkte Freiheit sein. Es ist jedoch, so Kant, in Wirklichkeit der Fall, dass der menschliche „Wille“ immer „in Bereitschaft, in Widerwillen gegen seinen Nebenmenschen auszubrechen“ und jederzeit strebt, den „Anspruch auf unbedingte Freiheit, nicht bloß unabhängig, sondern selbst über andere ihm von Natur gleiche Wesen Gebieter zu sein“, was man „auch an dem kleinsten Kind schon gewahr wird“ (S. 327; Hv M. O.). Der Neugeborene hört also die Stimme des Homo noumenon in ihm selbst nicht ganz deutlich noch richtig. Dies lässt sich auch an einer anderen Beobachtung von Kant ablesen. Er sagt, der Mensch kommt mit einem besonderen „Trieb“ zur Welt: „Der Trieb, sich mitzuteilen, muss den Menschen, der noch allein ist, gegen lebende Wesen außer ihm, vornehmlich diejenigen, die einen Laut geben, welchen er nachahmen und der nachher zum Namen dienen kann, zuerst zur Kundmachung seiner Existenz bewogen haben. Eine ähnliche Wirkung dieses Triebes sieht man auch noch an Kindern und an gedankenlosen Leuten, die durch Schnarren, Schrei19 Dieser Anstrengung war das Kind im Mutterleib noch enthoben: „Das Unvermögen der Menschen aber lange im Wasser auszuhalten, rührt daher, weil das Blut nur vermittelst der Lunge in die linke Herzkammer, die von der rechten durch eine Scheidewand abgesondert ist, kommen kann, aus welcher es sich durch die große Aorte in die übrigen Kanäle und Adern ergießt. Diese beiden Herzkammern haben im Mutterleib durch eine Öffnung, die das foramen ovale heißt, eine Verbindung mit einander. Sollte dieses erhalten werden können: so dürfte die Kinder denn auch in Mutterleib leben, ob sie sich daselbst gleich im Wasser befinden:“ (Geographie IX, S. 194 f.).
IV. Ungesellige Geselligkeit als verkehrte Ausdrucksform179 en, Pfeifen, Singen und andere lärmende Unterhaltungen (oft auch dergleichen Andachten) den denkenden Teil des gemeinen Wesens stören. Denn ich sehe keinen andern Bewegungsgrund hiezu, als dass sie ihre Existenz weit und breit um sich kund machen wollen.“ (Anfang VIII, S. 110 f.)
Was hier anzumerken ist, ist Kants Behauptung, dass allerlei Laute, die zur Kundmachung eigener „Existenz“ dienen, zunächst nach außen gerichtet sind, obwohl der Anspruch des Homo noumenon auf Freiheit primär an den Homo phaenomenon gerichtet ist, dem der erstere innewohnt. Denn, wie im letzten Kapitel gesehen, die erste, basale Rechtspflicht: „honeste vive“, ist eine Pflicht gegen sich selbst.20 Dass die Kinder und die sogenannten „gedankenlosen Leute“ trotzdem ihre Stimme an andere um sie herum richten, ist also ein Zeichen, dass sie die Botschaft ihres inneren Menschen verkennen: Während es eigentlich Selbst-achtung ist, nach welcher dieser primär verlangt, wobei das Selbst ein aus freiem Stück dem „Recht“ gehorchendes Wesen heißt, meinen diejenigen, die nicht ihrer inneren Stimme zuhören – was hier unter „Denken“ zu verstehen ist –, sie hätten das Recht, von anderen als ein freies Wesen anerkannt zu werden. Aber solange sie so vermeinen, müssen sie auf der Suche nach Freiheit einen langen Umweg gehen. Von dem Moment an, wo ein Kind durch „Ich“ zu sprechen angefangen und somit ein deutliches Selbstbewusstsein gewonnen hat, tendiert es, sich um das Urteil anderer über es zu kümmern. Das kennzeichnet den ersten Aufbruch des „Egoismus“. Denn von da an versucht es stets, sein Verlangen nach Freiheit und der damit eng verbundenen Anerkennung als ein freies Wesen dadurch zu erfüllen, dass es die Meinung anderer über es durch „Schein“ zugunsten seiner selbst manipuliert (S. 127 ff.). Das heißt aber: andere als bloßes Mittel zu seinem Zweck zu gebrauchen, was moralisch unzulässig ist. Denn es betrachtet so die anderen wie bloße Maschinen, die nur da sind, um es zu komplimentieren, obwohl es ein Widerspruch ist, von einem Wesen ohne Vernunft anerkannt zu sein. Es ist für uns wichtig, dass der Aufgang des Selbstbewusstseins bzw. Sich-Sprechen-Hören-Könnens als der Anfang des Egoismus den Moment markiert, wo der Mensch zum „Schauspieler“21 wird. Was nun die Menschen wie Schauspieler, und dementsprechend ihre Welt wie „Weltbühne“ aussehen lässt, ist nichts als die Tendenz des Menschen, so zu handeln, als wäre es ihm erlaubt, durch Schein die anderen zu täuschen, um von ihnen als ein freies, wertvolles Wesen anerkannt zu werden. Denn der Egoismus, 20 Hierzu
s. D. V. formuliert im Kontext die Sache zwar nicht genau so. Aber anhand seiner tatsächlichen metaphorischen Verwendung des Worts „Schauspieler“, die wir weiter unten (E. VII. ff.) sehen werden, liegt nahe, dass der Aufbruch des Egoismus im Kind, den Anfang seines verfälschten Lebens als Schauspieler markiert. 21 Kant
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
den er verbergen zu können glaubt, ist eigentlich jedem durchsichtig, weil er nämlich allgemein ist. Und diese Tendenz stimmt im Kern mit dem überein, was Kant unter ungeselliger Geselligkeit versteht. Aus diesem Gesichtspunkt wollen wir erneut die ungesellige Geselligkeit betrachten. Wie der Name deutlich macht, besteht sie aus zwei, scheinbar gegenläufigen Aspekten, die sich doch eigentlich nicht voneinander abtrennen lassen. Die Geselligkeit im Menschen, also die „Neigung, sich zu vergesellschaften“, wird stets von dem ungeselligen Hang, „sich zu vereinzelnen (isolieren)“ (Idee VIII, S. 20) begleitet oder sogar hervorgerufen. Dies zeigt Kants Wortverwendung: „Isolieren“ heißt ursprünglich Insel (insula), welche Bedeutung die Freiheit im Sinne der absoluten Unabhängigkeit (sowie Einsamkeit) nahelegt. Kant scheint mit diesem Sprachwendung die Einstellung des natürlichen Menschen pointieren zu wollen, dass er die Mitmenschen als Dinge ansieht, die ihm bloß als Mittel zu seinem beliebigen Zweck zur Verfügung stehen.22 Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch von Natur aus alle Gesellschaft gänzlich vermeiden wolle. Es ist vielmehr der Fall, dass er paradoxerweise zunächst und zumeist die Anwesenheit der anderen wollen muss, obwohl er von anderen „Widerstand“ (S. 21) erwartet, weil er weiß, dass sie auch Menschen sind, die ebenso egoistisch sind wie er. Denn es ist die Tendenz des Menschen, dass er sich zunächst den Zustand der Freiheit dadurch erlangen zu können denkt, dass er von anderen als ein freies und deshalb seinem Wert nach ausgezeichnetes Wesen anerkannt wird. Die Eigenschaft der Ungeselligkeit soll daher weder als eine einfache Misanthropie noch als eine nackte Gewalttätigkeit, sondern vielmehr als eine der menschlichen Geselligkeit inhärente Eigenschaft verstanden werden, die einen Aspekt des natürlichen Menschen in der Gesellschaft ausdrückt, dass er immer schon auf fremde Anerkennung aus ist. Kant weiß also genau was er will, wenn er die Doppeltendenz des Menschen ungesellige Geselligkeit nennt, und nicht etwa gesellige Ungeselligkeit, und sagt, dass die Geselligkeit „mit einem durchgängigen Widerstand, welcher [die] Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist“ (S. 20; Hv M. O.): Der Mensch benötigt eine Gesellschaft, um dadurch die Gewissheit seiner Freiheit zu fühlen, dass er von seinesgleichen als eine schätzungswürdige Person angesehen wird; dazu wird er aber durch die ungeselligen Eigenschaften „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“ (S. 21) bewogen, wobei er insgeheim es für erlaubt hält, dass er die anderen gleichsam als ein beseeltes Werkzeug betrachtet, das ihm den gewollten Respekt erweist, und im Vergleich zu welchem er sich als ein ausgezeichnetes Wesen 22 Vgl.
Höffe (2012), S. 416.
V. Die Vorstufe zur Selbstaufklärung181
fühlen kann. Und eben diese Eigenschaften sind es, obwohl sie die ungeselligen heißen, was den Menschen in der Gesellschaft bleiben und somit ihn dann und wann in ihr sich „mehr als Mensch“ fühlen lässt.
V. Die Vorstufe zur Selbstaufklärung Damit sind wir bereit, erneut das Gefühl, „mehr als Mensch“ zu sein, ausführlicher zu erläutern. Wir haben oben angenommen, dass es ein Signal dafür sei, dass der Mensch auf dem richtigen Weg zu der ihm eigentümlichen destinatio steht. Das folgende Plädoyer Kants für die Weisheit der Natur bekräftigt diese Annahme. Wir wollen es unbeschadet seiner Länge in seinem vollen Umfang zitieren, weil es zu zeigen scheint, dass Kant selbst, auch wenn nicht von dem Drama der menschlichen Geschichte berührt, so doch von dem genannten Gefühl betroffen ist. „[Der] Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien und so eine pathologisch=abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann. Ohne jene an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinem selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muss, würden in einem arkadischen Schärferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das [sic!] Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist“ (Idee VIII, S. 21; Hv M. O.).
Diese Lobrede für die Natur ist gleichzeitig eine Darstellung des Prozesses, in dem der zunächst sich um seinen „Rang“ unter seinesgleichen kümmernde Mensch zum Bewusstsein seines „Werts“ und des Sinns seiner Existenz kommt: Kraft der oben genannten drei ungeselligen Süchte ist der Mensch dazu getrieben, seine Naturanlagen zu entwickeln, die ansonsten unentwickelt geschlummert hätten; im letzteren Fall hätte seine Existenz in
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
der Welt keinen Wert mehr als die anderer Tierarten, weil er so nicht die „Leere der Schöpfung“ ausfüllen könnte. Das besagt: Die Natur hat dem Menschen die Rolle in dieser Welt zugesprochen, durch eigene Handlungen ein moralisches Ganze, d. i. jene durch die Idee des Rechts regulierte bürgerliche Verfassung hervorzubringen. Und auf dem Weg dazu wird der Mensch gewahr, auf welche verworrene Weise auch immer, dass seine nur mit Mühe allmählich zu entwickelnden Talente nicht ganz belanglos seien. Die Wahrnehmung oder die noch verworrene Ahnung ist ein Gefühl, dass er etwas für den bloß „arkadisch“ lebenden Menschen Unmögliches leisten könne. Es ist zwar nach Kant auch für den zivilisierten Menschen unmöglich, die bürgerliche Verfassung jemals vollkommen nach der Idee der res publica noumenon in dieser Welt zu realisieren. Jedoch sind die unendliche Annäherung dazu und deren Beschleunigung allenfalls nicht unmöglich. Wie wir oben gesehen haben ist es das Vermögen der Menschengattung, sich zu diesem Unmöglichen anzunähern, was ihren „Rang“ in den Augen der Einwohner anderer Planeten erhebt. Weil diese Andere eigentlich nichts als der Stellvertreter des Anderen im Menschen selbst sind, so erscheint der Mensch dabei in seinen eigenen Augen als ein erhabenes Wesen, das nunmehr gar nicht mit den konkreten Anderen, d. i. seinen Mitmenschen hinsichtlich seines Rangs verglichen zu werden braucht, weil sein Wert absolut ist.23 Das ist der eigentliche Standpunkt dessen, der sich „mehr als Mensch“ fühlt: der Standpunkt der praktischen Reflexion. Das bereitet uns vor, die zweite Frage zu beantworten, die wir oben (in IV. 3) gestellt haben, nämlich ob der Mensch selbst weiß, warum er sich in der Gesellschaft mehr als Mensch fühlt. Es ist zwar die Weisheit der Natur, die kraft der ungeselligen Geselligkeit den Menschen nolens volens dahin bringt. Der Mensch wüsste vielleicht inmitten seines Laufs, was die Menschheit in der Gesellschaft tun soll, spielte dennoch die von Natur ihr zugesprochene Rolle: Er verfolgt die Anweisung der Natur bloß „künstlich“, indem er sich so ausgibt, als ob er ganz ernsthaft versuchte, die ideale Verfassung durch Zusammenarbeit mit anderen hervorzubringen. Trotzdem sagt Kant, es sei gut so: „Denn dadurch, dass Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über.“ (Anthr. VII, S. 151; Hv M. O.) D. i. der Mensch wird irgendwann inne, dass er immer schon auf dem nicht ganz falschen Weg gelaufen ist. Alsdann ist er aber bereits in der Lage, die Ausgangstür selber zu öffnen. Denn er kann nunmehr über die Bedeutung seines Gefühls, mehr als Mensch zu sein, reflektieren. Das erfordert zwar „Mut“, 23 s. oben
C. VII.
VI. Der Umweg der gebrochenen Vernunft183
möchte aber die Reflexion über seine bisherigen Schritte ihn ermuntern, ab jetzt auf freiem Fuß ohne die Leitung der Hand der Natur fortzulaufen. Anders gesagt ist er dabei schon in der Lage, statt bloß durch die fremde Hand der weisen Natur oder die der konkreten anderen Menschen geleitet zu werden, sich an der inneren, vernünftigen Natur zu orientieren. Hier ist die äußere Natur durch die innere ersetzt und ist der Mensch zu sich gekommen. Die Antwort auf jene Frage lautet also: Auch wenn der Mensch noch nicht genau weiß, warum er in der Gesellschaft „mehr als Mensch“ fühlt, so ist er bereits in der Lage, wenn er dieses Gefühl hat, es als Signal dafür zu begreifen, dass das, was er als zivilisierter Mensch äußerlich tut, mit seiner Bestimmung als Mensch übereinstimmt. Diese Phase ist die gesuchte Vorstufe zur Selbstaufklärung.
VI. Der Umweg der gebrochenen Vernunft Es ist unsere Frage gewesen, ob der Mensch sich überhaupt von anderen dazu verhelfen lassen darf, zum Bewusstsein seiner Bestimmung zu kommen. Wir können hier die Frage in Übereinstimmung mit unserer bisherigen Analyse folgendermaßen präzisieren: Lässt der Mensch überhaupt zu, dass die anderen die Position der bisher betrachteten weisen Natur einnehmen, um ihn bis zu einem gewissen Niveau des Selbstdenkens zu führen, wo er selber über seine Bestimmung reflektieren kann? Wir dürfen leicht annehmen, dass eine solche Mithilfe erlaubt wird, wenn wir uns daran erinnern, dass die Natur als Schöpfer der Welt eigentlich nichts anderes als der Stellvertreter des Anderen im Menschen ist, welcher doch seinerseits der Homo noumenon qua eigentliches Selbst ist. Denn, warum dürften die Menschen das nicht tun, was die Natur tun darf, die nichts als eine Übertragung der Menschheit im Menschen ist? Es ist zwar eben Kants Strategie, dass er sich auf verborgene Weise hinter die Natur versetzt, um den Menschen die „Leere der Schöpfung“ selber ausfüllen zu lassen, d. i., damit er dem Menschen das Bewusstsein seiner Willkürfreiheit nicht benehme, oder damit Kant nicht hinterlistig erscheine. Aber das besagt lediglich, dass – vorausgesetzt, Kants Position dabei ist nichts als die, die alle Menschen selber durch ihre Vernunft entdecken und erlangen können – die zuständigen anderen die Freiheit des Menschen soviel wie möglich berücksichtigen und für sie sorgen sollen, damit er eines Tages selber die Entscheidung treffen kann, aus freiem Stück seine Bestimmung zu verfolgen. Wir haben damit das Denkmuster skizziert, nach dem wir Kants Erziehungsprogramm rekonstruieren können. Bevor wir uns aber mit der Pädagogik auseinandersetzen, wollen wir hier die besondere Struktur des
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
menschlichen Denkens genauer begreifen, aufgrund deren der Mensch sich Zeit in Anspruch nehmen muss, um erst zum Bewusstsein seiner Bestimmung zu kommen. Sie ist nämlich die „Gebrochenheit“ der menschlichen Vernunft. Wir werfen hier unseren Blick auf die Kritik der reinen Vernunft, in welcher sie deutlich zutage tritt, um dem Muster einen noch festeren gedanklichen Boden zu verschaffen. Die Vorrede zu der ersten Auflage der Kritik fängt mit einem schlichten Portrait der menschlichen Vernunft an, das den Lesern „das besondere Schicksal in ihrer Erkenntnisse“ (A VII) ankündigt. Es ist nämlich ihr Schicksal, „dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (A VII) Die menschliche Vernunft hat die besondere Natur, dass sie durch sich selbst überfordert wird. Sie wird nämlich durch sich aufgefordert, nach dem Unbedingten zu fragen, das jedoch – sei es nun Seele, Freiheit oder Gott – in der phänomenalen Welt nicht einmal zu finden ist. Angesichts der theoretischen Aufforderung der Vernunft, mit den „Grundsätzen“ der Erkenntnis „immer höher, zu entfernten Bedingungen“ zu steigen, wird die befragte Seite ein und derselben Vernunft inne, dass „auf diese Art ihr Geschäft jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören“ (VII f.). Demnach „sieht sie sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen“ (ebd.). Die Vernunft fängt an zu denken, dass die Welt so existiere, wie sie denkt, um die aus ihr selbst unaufhörlich herausfließenden Fragen zu überhören und sich so eine scheinbare Ruhe zu gewinnen. Das ist aber bekanntlich eine Verwechselung der der Vernunft immanenten bloßen Denkformen mit der Sache an sich selbst. Und da dies nichts als das Insistieren auf dem eigenen Denken bedeutet, wird Metaphysik zum „Kampfplatz“, wo jede Parteien ihre Wahrheitsansprüche verabsolutieren. Das ist die Anfangslage des Schicksals der theoretischen Vernunft. Die Vernunft wird dogmatisch, wenn sie die Gegenstände ihrer Grundsätze als in der Erfahrung befindlich denkt. Indem Kant den Dogmatiker als „despotisch“ bezeichnet, weist er auf die Verhaltensweise sowie das Schicksal von ihm hin. Despotisch ist der, wer das Innere der anderen von außen bestimmen zu dürfen denkt. Der Dogmatiker heißt despotisch daher, weil er versucht, seine Wahrheitsanspruch dadurch geltend zu machen, dass er die Meinungen der anderen, die er als seine „Bürger“ ansieht, unterdrückt. Er glaubt dabei, dass er dadurch seine Meinungsherrschaft auf seinem angeblich festen Grundstück, der dogmatischen Metaphysik, verewigen kann.
VI. Der Umweg der gebrochenen Vernunft185
Da aber die Verwechselung des Denkens mit dem Sein letztendlich unbegründet ist, d. i., weil der Dogmatiker eigentlich keinen veritablen Grund für seine Behauptung hat, so kann er höchstens die anderen mit anderen Ansichten zur Zustimmung nur zwingen. Aber widerspricht er sich dabei: Wenn er seine unbegründete Meinung für wahr halten zu dürfen glaubt, so kann dies doch nicht durch die innere Überzeugungskraft seiner Meinung, sondern bloß durch Gewalt geschehen. Es wäre aber ein performativer Widerspruch, wenn er auch den anderen genau das Gleiche nicht erlaubt – welche selbstwidersprechende Einstellung Kant als die „Spur der alten Barbarei“ bezeichnet (A IX). So betrachtet ist es nur natürlich, dass sich die Regierung des Dogmatikers notwendigerweise auflöst und schließlich „durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie“ (IX) ausartet. Damit ist die Bühne aufgebaut, auf der die andere Gestalt der Vernunft hervortritt, nämlich der Skeptiker. Kant nennt ihn „Nomade“ (A IX), welches den Kontrast zwischen ihm und dem Dogmatiker hervorhebt. Ein Skeptiker ist der, wer alles für „Schein“ ausgibt (Logik IX, S. 84). Als solcher verabscheut er „allen beständigen Anbau des Bodens“ und zertrennt „von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung.“ (A IX) Aber seine Einstellung enthält ebenso einen Widerspruch, wie Kant in der Logik betont: Damit der Skeptiker überhaupt etwas für „Schein“ ausgeben kann, muss er doch ein „Merkmal des Unterschieds haben, folglich ein Erkenntnis der Wahrheit voraussetzen“ (Logik IX, S. 84). Daher kann seine Position nicht konsequent sein, wenn er wirklich „alles“ für Schein erklären will. Wegen dieses inneren Widerspruchs kann sie nicht auf ewig durchhalten. In diesem Betracht ist der Skeptiker auch einer, der auf seiner unbegründeten Position insistiert. Dieses Insistieren, das von dem Wunsch nach einer Zuflucht herrührt, zeigt daher die egoistische Einstellung des Skeptikers genauso wie das des Dogmatikers auf seinem angeblich festen Boden. Der Wunsch des Skeptikers nach „Zuflucht“ entblößt sich durch Handlung als Eigendünkel genauso, wie es bei dem Dogmatiker der Fall ist. Dass die Vernunft sich auf diese Weise in zwei gegenläufige Positionen zerspalten muss, die jeweils einen Widerspruch enthalten, gilt als „Verlegenheit“ der Vernunft, in welche sie „ohne ihre Schuld“ gerät (A VII). Sie hat daran keine Schuld, weil sie sich ihre Natur nicht selber ausgewählt hat. Das Leben der menschlichen Vernunft als einer endlichen Vernunft ist immer schon angefangen und das Immer-Schon-Angefangen-Sein macht sie daran unschuldig, dass sie notwendigerweise den Irrweg betritt. Endlichkeit und Schuldlosigkeit an eigenem Schicksal gehen hier Hand in Hand. Höffe bezeichnet dergleichen Natur der Vernunft als „Gebrochenheit“ und behauptet: Die „natürliche Wissbegierde erscheint als aporetisch und der Mensch auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht ‚aus einem krummen Holz‘
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
geschnitzt“.24 Ihrer wilden Freiheit überlassen, d. i. ohne „Disziplin“, muss die theoretische Vernunft notwendigerweise sich selbst widersprechen. Wir können die Analogie zwischen der Vernunft und dem unbekannterweise nach dem Plan der Natur handelnden Menschen auch so weit erweitern, als zu sagen, dass beide durch ihre innere, widersprüchliche Natur dahin gebracht werden, wo sie anfängt, sich ihrer Bestimmung bewusst zu werden. Wenn diese Analogie nun zutrifft, so wird die Antwort auf unsere Leitfrage gegeben: Die Vernunft braucht Zeit, um zu sich zu kommen, weil sie sich zunächst über den Egoist in ihr gut auskennen und daraufhin retrospektiv entdecken muss, dass ihr bisheriger Schritt doch nicht ganz vergeblich war. Kant sagt in dem selben Absatz, wo er den Gegensatz zwischen Dogmatikern und Skeptikern darstellt, wie folgt: „Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruss und gänzlicher Indifferentismus, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften, aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung derselben, wenn sie durch übel angebrachten Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar geworden.“ (A IX)
Nach dem langen, scheinbar vergeblichen „Herumtappen“, wie es in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik heißt (B XV), befindet sich die Vernunft vor dem Ausgang. Das Zeitalter ist bereits reif für die Selbstaufklärung der Vernunft, also den Ausgang aus dem Zustand des Kriegs der Vernunft mit sich selbst, da sie sich durch den langen Krieg genug entwickelt hat: „Man hört hin und wieder Klagen über Seichtigkeit der Denkungsart unserer Zeit und den Verfall gründlicher Wissenschaft. Allein ich sehe nicht, dass die, deren Grund gut gelegt ist, als Mathematik, Naturlehre usw. diesen Vorwurf im mindesten verdienen, sondern vielmehr den alten Ruhm der Gründlichkeit behaupten, in der letzteren aber sogar übertreffen. Eben derselbe Geist würde sich nun auch in anderen Arten von Erkenntnis wirksam beweisen, wäre nur allererst für die Berichtigung ihrer Prinzipien gesorgt worden. In Ermanglung derselben sind Gleichgültigkeit und Zweifel und endlich, strenge Kritik, vielmehr Beweise einer gründlichen Denkungsart. Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss.“ (A XII; Hv M. O.)
Kant will hiermit zur Vernunft sagen: Es sei Zeit, sich mit sich selbst zu verständigen, die Zeit der Reflexion. Sie möchte sich bisher gegen ihre Bestimmung – zur unendlichen Annäherung zum systematischen Ganzen der theoretischen Erkenntnisse – gesträubt, um in Sache der Metaphysik, sich zu isolieren, sei es nun durch Insistieren auf einer scheinbaren Alleinherrschaft, oder durch Nomadenleben. Aber eben hierdurch sei sie nunmehr 24 Höffe
(2003), S. 32.
VII. Erziehung als eine menschliche Kunst
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bereit, den Egoist in sich frontal zu bekämpfen. Sie muss es tun, weil „die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto [Hv Kant], ohne Zurückhalten muss äußern können“, auf der Freiheit der „Kritik“ beruht (A 738 f. / B 766 f.; Hv M. O.). Hieran ist jenes Muster wieder zu erkennen, das wir vorher als das des Zu-Sich-Kommens des Menschen betrachtet haben: Die Vernunft wird sich erst dann der Bedeutung ihrer Existenz bewusst, wenn sie der vereinigten Stimme der gesamten Menschheit in sich zuhört, die als das Subjekt der vernünftigen Natur in allen anderen Menschen gilt. Es ist genau dieses Muster, worauf wir uns zum Rekonstruktion der Kantischen Erziehung berufen möchten, die den Menschen als ein freies Wesen zum Bewusstsein eigener Bestimmung zu verhelfen dient.
VII. Erziehung als eine menschliche Kunst Wir sind jetzt in der Lage, die gesuchte Kunst, welche den Menschen zum Bewusstsein seiner Bestimmung verhilft, aus Kants Gedanken herauszuarbeiten. Wir gehen davon aus, dass der Mensch von Natur aus Zeit braucht, um dahin zu kommen. Dementsprechend erfordert die Kunst, dass der Verhelfende eine wartende Einstellung hat. Die gesuchte Kunst, die dieses Erfordernis erfüllt, ist in Kants Pädagogik25 zu finden. Nach Kant ist die „Erziehung“ eine besondere „Kunst“, der die Natur des Menschen als eines mit Vernunft begabten Tiers bedarf. Die Erziehung ist wesentlich menschlich, weil sie durch und durch auf die zeitliche Dimension des Lebens eines Vernunftwesens achtet. Dass Kant sein Erziehungsprogramm tatsächlich aus dieser Perspektive aufbauen will, zeigen die allerersten Zeilen der Pädagogik ganz deutlich: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss. Unter der Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung.“ (Pädagogik IX, S. 441) Die ersten drei Begriffe gehören zusammen zu der „physischen Erziehung“. Und „Disziplin“ und „Unterweisung“ oder „Kultur“ sind, wie Kant zwei Seiten später sagt – trotz dem Ausdruck „nebst“ in der soeben angeführten Passage –, Unterbegriffe der Bildung (S. 443). Sie sind allesamt Verhaltensweise des Erziehers gegenüber Kindern, solange diese langsam 25 Zur Entstehungsgeschichte des Erziehungsgedankens Kants im Hinblick auf den zeitgenössischen Kontext s. etwa Munzel; Höffe (2012), S. 403 f.; LaVaqueManty.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
mit der Zeit aufwachsende Lebewesen sind. Um diesen Aspekt zu verdeutlichen, möchten wir vorab „Wartung“ und „Disziplin“ erläutern. Die anderen „Tiere gebrauchen ihre Kräfte, sobald sie deren nur welche haben, regelmäßig, d. h. in der Art, dass sie ihnen selbst nicht schädlich werden“ und brauchen daher „keine Wartung“ (ebd.; Hv M. O.). Bezüglich der Menschenkinder muss man dagegen durchaus dafür sorgen, dass „die Kinder keinen schädlichen Gebrauch von ihren Kräften machen“, und brauchen sie daher „Wartung“, worunter Kant „die Vorsorge der Eltern“ versteht (ebd.). Positiv genommen ist es zwar ein Zeichen für die Bestimmung des Menschen zur freien Handlung, dass die Kinder ihre Kräfte missbrauchen können. D. i. ihre Kräfte sind weder durch die physische Natur gänzlich zweckrational bestimmt, noch lassen sich durch die Erfüllung der natürlichen Zwecke, z. B. des Überlebens, ausschöpfen. Für uns bedeutet dies zwar, dass die Fähigkeit des Missbrauchs der Kräfte die Besonderheit des Menschen in der Welt auszeichnet. Aber genau dieses Missbrauchen-Können oder aber das Sich-Schaden-Können macht die wartende Vorsorge der Eltern notwendig. Die Eltern müssen immer darauf achten, dass die Kinder von ihren Kräften auf eine dem Zweck ihrer jeweiligen Handlung angemessene Weise Gebrauch machen. Ferner sollen die Eltern vorsichtig sein, dass ihre Kinder nicht etwas die Reichweite ihres Vermögens weit Übersteigendes begehren, sondern nur das zu begehren, was durch ihre Macht erreichbar und ihrem jeweiligen Alter angemessen ist. Kant sagt z. B., die Säuglinge sollten weder wollen noch lernen, durch Geschrei den anderen „despotisch“ manipulieren (S. 460), d. i. ihn nach ihrem eigenen Sinn handeln lassen. Eine solche ohnehin moralisch verdorbene Verhaltensweise ist in Kants Augen eine für Kinder besonders ungeeignete – und daher eine „lächer liche“ –, da es schwer ist, nachher sie wieder moralisch zu verbessern. Hieran ist zu merken, dass die „Wartung“ mit jener Einstellung von Kant übereinstimmt, die er in der ersten Kritik wiederholt betont. In der Kritik obliegt dem kritischen Philosophen, einerseits der Vernunft den überschwenglichen Gebrauch der Grundsätze abzusagen, der in dem Sinne für die Vernunft „schädlich“ ist, dass sie dadurch „schwärmerisch“, also außer sich wird. Das Gleiche gilt für die Kinder, die durch Geschrei alles nach ihrem Sinn richten zu dürfen trachten. Denn sie verhalten sich dabei wie ein „Despot“, der seine Bestimmung und den richtigen Gebrauch seiner Kräfte verkennen und somit die Sphäre der gerechten Handlungen übersteigen. Andererseits hat Kant in der Kritik zu beweisen, dass die Verstandesbegriffe nur für ihre Anwendung auf sinnliche Anschauungen geeignet sind. Auch dies ist zu der Aufgabe der Eltern gegenüber ihren Kindern analog: Die Eltern müssen den Kindern im Hinblick auf ihre jeweilige Entwicklungsstufe zeigen, wieweit und für welche Zwecke sie ihre Kräfte anwenden sollen.
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In diesem Betracht gilt Kants Theorie der Erziehung als ein ausgezeichnetes Muster für die gerechte Einstellung der Vernunft gegenüber Menschen, der erst mit der Zeit der Anforderung der Vernunft gewachsen sein kann. Diese Ansicht kann durch die Betrachtung der zweiten Phase des Kantischen Erziehungsprogramms, der „Disziplin“, bekräftigt werden. Zur Erläuterung dieser Erziehungskunst beruft Kant sich wiederum auf den Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren: „Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um. Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits Alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt und muss sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich imstande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es Andere für ihn tun.“ (Pädagogik IX, S. 460)
Man kann die „Instinktlosigkeit“ des Menschen auch, nebst der Möglichkeit des Missbrauchs seiner Kräfte, als den Ausdruck dafür verstehen, dass der Mensch nicht als das zur Welt kommt, was er sein kann und soll. Die unveränderliche Tatsache, dass der Mensch „roh“, d. i. unvollkommen zur Welt kommt, ist die Kehrseite seines Wesensmerkmals, der Perfektibilität.26 Sie macht ferner den Grund dafür aus, dass die anderen anfangs für ihn den Plan seiner Handlung entwerfen und dafür sorgen sollen, dass er diesen verfolgt. Die Disziplin verhütet, „dass der Mensch nicht durch seine tierischen Antriebe von seiner Bestimmung, der Menschheit, abweiche.“ (S. 442) Indem das Kind sich an Handlungen nach fremden Plan gewöhnt, bereitet es sich auf die kommende Zeit vor, wo es selber seinen eigenen Handlungsplan entwerfen und ihn pünktlich verfolgen kann. Daraus lässt sich begreifen, was die Aufgabe der Disziplin, „die Tierheit in die Menschheit“ umzuändern, heißt: Indem die Disziplin den Menschen den „Gesetzen der Menschheit“, und nicht den durch Instinkt bestimmten, unterwirft und „ihn den Zwang der Gesetze fühlen“ lässt (ebd.), bereitet sie den Menschen auf Selbstgesetzgebung vor, wodurch der Mensch erst Mensch qua vernünftiges Wesen wird – dessen Eigentümlichkeit darin besteht, dass es nach dem von der bloßen Natur unabhängigen, ihm durch sich selbst gegebenen Gesetz handeln kann. Anders gesagt ist das Fühlen des Zwangs der Gesetze der Anfang seines freien Lebens in dem Sinne, dass er nicht bloß als Tier, das ausschließlich durch die Naturgesetze bestimmt wird, sondern als Mensch zu existieren anfängt, der sich durch die selbstentworfenen Gesetze bestimmen lassen kann. Kant sagt, die Disziplin oder „Zucht“ sei nur „negativ“ (ebd.). Gemeint ist, dass sie lediglich dem Menschen die „Wildheit“, d. i. die „Unabhängigkeit von Gesetzen“, benimmt (ebd.). Dieses Negative ist jedoch, aus einer 26 Hierzu
s. Brandt, S. 182 ff.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
anderen Perspektive betrachtet, gleich der Negativität der Kritik nicht ohne positive Bedeutung: Durch die Einschränkung seiner Handlung auf Planund Gesetzmäßigkeit wird dem Menschen die Sphäre der freien Handlung eröffnet. Das ist nun wiederum analog zu dem Umstand, dass durch die kritische Einschränkung der Anwendbarkeit der Verstandesbegriffe auf sinnliche Anschauungen das empirische Denken innerhalb der Bedingung für seine freie Tätigkeit bleiben lässt, wo der Verstand und die Sinnlichkeit durch das gesetz- und zweckmäßige „Spiel“ miteinander wahre Erkenntnisse hervorbringen und so gemäß ihrer Bestimmung funktionieren können. Die Entfaltung der Potenz durch Einschränkung ist der sowohl der „Disziplin“ als auch der Kritik zugrunde liegende Gedanke. Nachdem nun die Analogie zwischen der Erziehung und der Kritik hinsichtlich ihrer Negativität und der darin enthaltenen Positivität klar gemacht wird, muss man fragen, wie man denn bei Erziehung den Menschen sich seiner Bestimmung bewusst machen soll. In der Kritik hat Kant die Spielregeln des Verstandesgebrauchs, nämlich die Kategorien deduziert und die Grundsätze ihres Gebrauchs aufgezeigt, damit der Mensch sich seines Verstandes in der phänomenalen Welt richtig bedienen kann. Kann man ein analoges Verfahren bei Kants Erziehungstheorie finden? Präziser: Kann man die Kinder durch Belehrung der Begriffe und Grundsätze zur Moralität erziehen? Die Antwort scheint auf den ersten Blick eindeutig positiv zu sein: Es lässt sich nämlich vermuten, dass die „moralische Bildung“, die zweite Phase von Kants Erziehungsprogramm, gewiss dafür verantwortlich sei. Das trifft zwar zu. Aber man muss auf die besondere Nuance der moralischen Bildung im Kantischen Sinne achten. Kants folgende Behauptungen weisen auf eine scheinbare Zweideutigkeit der moralischen Bildung hin: „Die moralische Bildung, insofern sie auf Grundsätzen beruht, die der Mensch selbst einsehen soll, ist die späteste“, mit einem Vorbehalt; „insofern sie aber nur auf dem gemeinen Menschenverstand beruht, muss sie gleich von Anfang, auch gleich bei der physischen Erziehung beobachtet werden“ (S. 455; Hv M. O.). Wie ist die Behauptung zu verstehen, dass die moralische Bildung erst „spät“ anfangen und doch „gleich von Anfang“ praktiziert werden soll? Einerseits soll sie nicht sofort anfangen, weil die Kinder nicht von Anfang an die moralischen „Grundsätze“ selber „einsehen“ können. Es gilt also, dass die Eltern die moralische Bildung, sofern sie durch Belehrung der Begriffe ausgeführt werden soll, eine Weile darauf wartend suspendieren, bis die zur Erkenntnis der moralischen Begriffe erforderlichen, praktischen Erkenntniskräfte der Kinder hinreichend entwickelt worden sind. Wenn z. B. die Eltern von der Unfähigkeit des Kindes zum Denken durch Begriffe
VII. Erziehung als eine menschliche Kunst
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absehen und versuchen, es durch Begriffe moralisch zu erziehen, so verursachen sie wider ihre gute Absicht das der Moralisierung nachteilige Gegenteil: „Gemeinhin ruft man den Kindern ein: Pfui, schäme dich, wie schickt sich das! usw. zu. Dergleichen sollte aber bei der ersten Erziehung gar nicht vorkommen. Das Kind hat noch keine Begriffe von Scham und vom Schicklichen, es hat sich nicht zu schämen, soll sich nicht schämen und wird dadurch nur schüchtern. Es wird verlegen bei dem Anblick Anderer und verbirgt sich gerne vor andern Leuten.“ (Pädagogik IX, S. 465; Hv M. O.)
Diese Darstellung macht klar, dass ein übereilter Versuch, die Kinder zur Moralität zu erziehen, mit einer moralischen Verziehung enden muss. Die Eltern müssen sich also geduldig auf die physische Erziehung beschränken, bis die richtige Zeit kommt. Aber andererseits sagt Kant, die moralische Bildung solle doch schon bei der physischen zugleich praktiziert werden. Die zu dieser Behauptung hinzugefügte Einschränkung: „insofern [die moralische Bildung] aber auf dem gemeinen Menschenverstand beruht“, besagt: Die moralische Bildung ist nicht unbedingt der physischen Erziehung zeitlich nachzustellen27, sondern kann auch mit ihr zugleich angestellt werden, solange das Objekt der Bildung für den „gemeinen“ Verstand, also alle Menschen einschließlich der Kinder zugänglich ist, obwohl es für die letzteren nicht begrifflich verständlich ist. Die entsprechende Sache ist die „Vorstellung des Rechts“, die nach Kant „tief in der Seele jedes, auch des zartesten Kindes“ liegt (S. 480). Aber das ist gar kein Wunder, weil diese Vorstellung als ein Aspekt, nebst der des Guten, des inneren Kompasses auf der Hand selbst eines Kindes liegt. Daraus erweist sich, dass die Aufgabe der moralischen Bildung darin besteht, Kinder zur Selbstaufklärung zu verhelfen, was Kant durch die folgende Aussage ex negativo klar macht: Wenn man durch den übereilten Versuch, das Kind moralisch zu bilden, es schüchtern macht; so wagt es, „nichts zu bitten und sollte doch um Alles bitten können; es verheimlicht seine Gesinnung und scheint immer anders, als es ist, statt dass es freimütig Alles müsste sagen dürfen.“ (S. 465; Hv M. O.) Es ist daher gar kein Zufall, dass für Kant der letzte Zweck der Erziehung im Wesentlichen der gleiche ist, wie der Zweck der Rechtslehre. Kant sagt, „[e]ines der größten Problem der Erziehung“ sei: „wie man die Unterwerfung [des Kindes] unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne.“ (S. 453) Dieses Problem lösen heißt für Kant, bei Erziehung gemäß dem „Prinzip der Erziehungskunst“ (S. 447) verfahren, das lautet: „Kinder sollen nicht nur dem gegen27 Vgl.
Höffe (2012), S. 412.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
wärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustand des mensch lichen Geschlechts, das ist: Der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden.“ (ebd.) Hieran ist der Kantische Gedanke des Rechtsfortschritts kaum übersehbar und die folgenden Zeilen bestätigen die Übereinstimmung: „[Bezüglich jenes Problems der Erziehung] muss man folgendes beobachten: 1) dass man das Kind von der ersten Kindheit an in allen Stücken frei sein lasse […], wenn es nur nicht auf die Art geschieht, dass es Anderer Freiheit im Wege ist […]. 2) Muss man ihm zeigen, dass es seine Zwecke nicht anders erreichen könne, als nur dadurch, dass es Andere ihre Zwecke auch erreichen lasse […]. 3) Muss man ihm beweisen, dass man ihm einen Zwang auflegt, der es zum Gebrauche seiner eigenen Freiheit führt, d. h. nicht von Vorsorge Anderer abhängen dürfe.“ (Pädagogik IX, S. 454)
Der erste Punkt stimmt im Wesentlichen mit der ersten (honeste vive) und zweiten (neminem laede) Rechtspflicht; der zweite bezieht sich auch auf die zweite sowie die dritte (suum quique tribue); schließlich der dritte auf die erste und die dritte.28 Hier gilt es nun zu fragen: Vorausgesetzt, dass weder die Kinder anfangs diese Pflichten durch Begriffe lernen noch sie ihnen von außen beigebracht werden können, was kann man denn tun, um sie zur Moralität zu erziehen?
VIII. Spiel und Arbeit als Lernprozess Wir haben gesehen, Kant sei der Meinung, dass die Eltern schon in der frühesten Phase der Erziehung, nämlich der „physischen“, immer auf die Möglichkeit der von der Moralisierung achten sollen, die Kinder selber leisten sollen. Zu fragen ist, wie denn dies in concreto geschehen könne. Die Antwort darauf muss unter zweifacher Voraussetzung gesucht werden, dass die Kinder noch nicht durch Begriffe denken können aber doch immer schon die „Vorstellung des Rechts“ in sich haben. Ferner sind wir davon ausgegangen, dass der Zweck des Kantischen Erziehungsprogramms die Selbstaufklärung der Kinder ist. Es liegt dann nahe, dass der Prozess der Erziehung, wodurch der Erzieher die Kinder zur Schwelle der Reflexion qua Selbstdenken bringt, ein autodidaktischer sein soll. D. h. der Prozess muss ein solcher sein, in dem die Kinder sich aktiv zum Menschen emporarbeiten können. Das Muster für einen solchen Prozess haben wir schon oben dargestellt. Es ist nämlich dasjenige, das dem Prozess der Bewusstwerdung eigener 28 Dass die Erziehungsziele an das „Prinzip der allgemeinverträglichen Freiheit“ erinnere, merkt Höffe an; Höffe (2012), S. 414.
VIII. Spiel und Arbeit als Lernprozess193
Bestimmung des Menschen in der Weltgeschichte zugrunde lag. In der Idee kam der Mensch zu der für die selbstbewusste weltbürgerliche Handlung erforderlichen Reflexion dadurch, dass er, durch die ungeselligen Eigenschaften getrieben, eine Rolle eines guten Menschen spielte. Die theoretische Vernunft erreichte die für die Selbstkritik nötige Schärfe der Einsicht dadurch, dass sie sich, das eine Mal als Dogmatiker, das andere Mal als Skeptiker verhielt, um endlich einzusehen, dass sie um des richtigen Gebrauchs ihrer Grundsätze willen ihr scheinbares Recht auf das eigentlich überschwengliches Wissen verzichten müsse. Was den beiden Prozessen gemeinsam ist, ist nämlich das Denkmuster: das Aus-Dem-AußersichseinHeraus-Zu-Sich-Zurück. Wir wollen sehen, dass es eben dieses Muster ist, was Kant auch der Erziehung zugrunde legt. Was bei der Erziehung als diesem Muster entspricht, heißt „Spiel“ und „Arbeit“. Beide sind Handlungsmodi des Menschen, welchen Kant als zur „Kultur“ – d. i. Bildung der „Geschicklichkeit“ zur Erreichung der Zwecke (S. 455) – der „Seele“ tauglich betrachtet. Es besteht zwar ein offenbarer Gegensatz zwischen Spiel und Arbeit.29 Wenn wir aber in ihre Gemeinsamkeiten blicken, so erhellt sich der Grund, warum Kant sie im Hinblick auf die moralische Bildung empfiehlt. Da Kant selbst den Grund leider nicht ganz explizit macht, wollen wir diese alltäglichen Phänomene selbst analysieren, um zu begreifen, warum Kant unter anderen zahlreichen Handlungsmodi des Menschen eigens Spiel und Arbeit empfiehlt. Der Klarheit halber konzentrieren wir uns zunächst auf das Phänomen des Spiels30, um den einschlägigen Grund sich hervorleuchten zu lassen. Der Grund ist vierfach: Zum einen das Strukturmoment des Spiels überhaupt, dass jedes Spiel Regeln und eine interne Absicht hat. Wenn ein Kind am irgendwelchen Spiel teilnimmt, so ist es im Prinzip dafür verantwortlich, unter den Spielregeln die dem jeweiligen Spiel interne Absicht zu verfolgen. Die Regeln und Absicht mögen je nach dem Spiel sein, was sie wollen. Im „Ballspiel“ z. B., das Kant für empfehlenswert erklärt, gibt es Regeln, etwa mit dem Fuß den Ball treten, ihn werfen usw., und Absicht, etwa möglichst viele Tore schießen usw. Das Wesentliche ist, dass das spielende Kind, es 29 „Bei der Arbeit ist die Beschäftigung nicht an sich selbst angenehm, sondern man unternimmt sie einer andern Absicht wegen. Die Beschäftigung bei dem Spiel dagegen ist an sich angenehm, ohne weiter irgendeinen Zweck dabei zu beabsichtigen.“ (Pädagogik IX, S. 470) Es gibt zwar regelentlastete Spielarten. Davon ist hier aber nicht die Rede, weil sie, obzwar für die Entspannung und Vergnügung der Kinder gewiss nötig, der Wirkung nach nicht direkt auf den Zweck der Erziehung bezogen sind. 30 Schapiro bezieht sich zu Recht auf „Spiel“ als einen wichtigen Lernprozess der Kinder. Es fehlt meines Erachtens bei ihr aber eine ausführliche Analyse des Phänomens, weshalb wir hier eine mögliche Interpretation vorschlagen.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
mag sich dessen bewusst oder nicht, sich im Spiel daran gewöhnt, unter gewissen Handlungsnormen, die zwar meistens nicht von ihm selbst entworfen sind, deren „Urheber“ es also nicht ist, doch dabei frei zu handeln. Wenn das Kind die Absicht des Spiels als seinen Zweck anerkennt und sie sich internalisiert hat, so kann es erfahren, dass seine Freiheit mit Zwang zusammen bestehen kann. Zweitens, indem das Kind so spielt, spielt es dabei eine ihm von dem Spiel zugesprochenen Rolle. Anders gesagt handelt es dabei als eine „Person“. Als Spieler / Person spielt es und wird erstens von der internen Grammatik des jeweiligen Spiels; zweitens von der dabei wirkenden Kräfte der Natur, etwa der Gravitation usw.; und drittens von seinen Mit- bzw. Gegenspielern mitgespielt. Auf diese Weise gehört das spielende Kind gleichsam zu zwei Welten zugleich, einerseits als Lebewesen zur durch Naturmechanismen durchgängig bestimmten Welt, andererseits aber auch zur nicht unmittelbar gegebenen, gewissermaßen von der bloß phänomenalen unabhängigen Welt des Spiels, die nur solange existiert, als ihre Mitglieder / Spieler nach den Spielregeln handeln, als nähmen sie auf sich eine zweite Natur als Person an. So betrachtet versetzt sich das spielende Kind über seine von Natur gegebene bloße Existenz hinaus in eine von Menschen gestiftete Welt. In Zusammenhang damit wird, drittens, das Kind im Spiel erfahren, dass die durch seine Willkür verursachte Handlung nicht ohne Wirkung auf die Welt ist. D. h. das Bewusstsein ist ihm zugänglich, dass auf eine solche Handlung von ihm, obwohl sie hinsichtlich deren Ursache ganz anderer Natur ist als das bloße Naturgeschehen, die Welt reagiert. Anders gesagt kann es lernen, dass die Welt eine Rezeptivität für die durch menschliche Willkür verursachten Handlungen und Plastizität hat, dank welcher sie sich auch nach menschlichen Handlungsgesetzen verändern kann. Hinsichtlich der anderen Seite ein und derselben Medaille belehrt diese Erfahrung, dass die menschliche Willkürfreiheit in dieser Welt nicht ganz fremd noch gar überflüssig ist. Und viertens kann das spielende Kind mit der Zeit seine Geschicklichkeit zu seiner Absicht im Spiel schrittweise kultivieren, damit er seine Freiheit im Spiel mehr und mehr fühlt. All diese sind Züge, die das Spiel auch mit Arbeit teilt. Auch die Arbeit als eine spezifisch, wie später Hegel betont31, menschliche Handlung erhebt den Menschen über sein bloß tierisches Dasein hinaus. Denn wer arbeitet, 31 „Dass der Mensch sich zu dem machen muss, was er ist, dass er im Schweiß des Angesichts sein Brot isst, hervorbringen muss, was er ist, das gehört zum Wesentlichen, zum Ausgezeichneten des Menschen“ (Hegel, 259).
IX. Spiel als Muster der geschichtlichen Bewusstwerdung der Freiheit 195
muss unter Regeln stehen, um seine Absicht zu verfolgen, wobei er als eine dafür verantwortliche Person handelt, wodurch er langsam Geschicklichkeit gewinnt. Mann könnte sagen, dass die Arbeit im Wesentlichen auch eine Art Spiel ist. Die Arbeit erfordert zwar Mühe, die das Gefühl der Unfreiheit erwecken mag. Das gilt aber auch für das Spiel zumal, wenn man sich nicht für das Spiel gut trainiert ist. So betrachtet ist Mühe nicht eine besondere Eigenschaft der Arbeit, sondern entspringt dem Zwang, der auch als ein Strukturmoment des Spiels gilt. Der wesentliche Unterschied besteht vielmehr darin, dass man meistens aus Not arbeiten muss32, was beim Spiel nicht notwendig der Fall ist. Das ändert aber nichts an der wesentlichen Verwandtschaft von Arbeit und Spiel.33
IX. Spiel als Muster der geschichtlichen Bewusstwerdung der Freiheit Bisher haben wir in abstracto betrachtet, wie sich der Mensch spielend allmählich an die seiner Bestimmung angemessenen Handlungsweise gewöhnt. Es obliegt uns jetzt zu beweisen, dass der bisher dargestellte Lernprozess der Kinder in der Tat mit dem Muster des Denkens von Kant über den Prozess der Bewusstwerdung der Bestimmung zur Freiheit des Menschen übereinstimmt. Auf den ersten Blick möchte dieses Beweisziel als arbiträr erscheinen. Wenn man aber das Phänomen des Spiels genau betrachtet, so wird klar, dass die oben exponierten Strukturmomente des Spiels auch als die der Geschichte ausmachend begriffen werden können. Wir können sogar sagen, es sei von der Natur der Sache so, dass sich der Verlauf des Spiels, solange es ein Handlungsmodus des Menschen ist, immer als Geschichte wahrnehmen lässt, die ihrerseits stets in den menschlichen Augen als ein „Spiel“, hier im Sinne eines Dramas34, erscheint. Wenn nun dieser Wechselverweis sich als logisch notwendig verstehen lässt, so können wir mit gutem Grund sagen, dass das Im-Spiel-Lernen sich in das In-Der-Geschichte-Lernen umschreiben lässt. Und sollte dieses Umschreiben zutreffen, wäre erlaubt, Kants Geschichtsphilosophie als eine Darstellung des Lernprozesses des Menschen überhaupt bezüglich seiner besagt freilich nicht, dass man bloß für das Überleben arbeiten muss. ist nicht gemeint, dass die Arbeit dem Spiel gegenüber etwa zweitrangig sei. Der Punkt besteht vielmehr darin, dass zur Diskussion in diesem und dem folgenden Abschnitt wohl auch die Arbeit statt des Spiels zum Teil als Leitfaden funktionieren könnte. Vgl. Kants Definition von Arbeit (Anthr. VII, S. 151 f.). 34 Das Drama unterscheidet sich zwar vom Spiel im Sinne des Ballspiels. Sie teilen jedoch die im vorigen Abschnitt dargestellten Strukturmomente miteinander. Ich halte daher das Drama auch für unsere hiesige Analyse geeignet. 32 Das
33 Damit
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
Freiheit und Bestimmung auszudeuten. Diese sind die Arbeitshypothesen des vorliegenden Abschnitts. Es lässt sich nun ohne Weiteres sehen, dass der genannte Wechselverweis Kant gar nicht fremd ist. Denn Kant sagt in der Idee, dass man an der menschlichen „Geschichte“ als der Erscheinung des „Spiels“ des menschlichen Willens einen regelmäßigen „Gang“, genauer, dergleichen „Fortschritt“ ablesen kann. Überdies hat Kant in Streit die Bedeutung der französischen Revolution mithilfe theatralischer Metaphern illustriert. Diese Tatsachen zeigen deutlich, dass die menschliche Geschichte in Kants Augen als ein Spiel erscheint, auch wenn er ihren inneren Zusammenhang nicht eigens betont. Nicht zuletzt ist es gewiss, dass Kant die wie ein Spiel aussehende Geschichte als den Prozess der Bewusstwerdung der Freiheit und Bestimmung des Menschen vom Menschen selbst betrachtet. So viel ist klar. Aber das stellt noch nicht fest, ob dieses Aussehen-Wie wirklich der Natur der Sache entspringe. Wir müssen daher fragen, ob dem logisch notwendig so sei, und, wenn schon, ob der als natürlich anzusehende Wechselverweis auch dafür spricht, dass für Kant die Geschichte gerade wegen deren Spielcharakters als ein Prozess der genannten Bewusstwerdung gilt. Was genau teilen das Spiel und die Geschichte miteinander, das sie sich wechselweise ineinander umschreiben lässt? Oder, was macht Kants Vergleich der Geschichte mit einem Spiel überzeugend? Erstens kann man sich relativ leicht auf die gemeinsame Struktur berufen, dass die beiden Phänomene einen Anfang und ein Ende haben. Weil sie eine bestimmte Dauer haben, können sie als ein in sich geschlossenes Ganzes betrachtet werden. Zweitens, da in beiden das Ende als das Resultat oder Ergebnis von den angefangenen Handlungen gilt, können sich das Spiel und die Geschichte als ein teleologisch strukturierter Sinnzusammenhang aus der von Ewigkeit zu Ewigkeit verfließenden Zeit herausgreifen lassen. Diese zwei Elemente, nämlich die Geschlossenheit und teleologische Struktur, machen gleichsam die Rahmenbedingung a priori sowohl des Spiels als auch der Geschichte. Daraus erweist sich die Tatsache nicht als zufällig, sondern sachgerecht, dass unter den zwei wichtigsten von Kants geschichtsphilosophischen Abhandlungen die eine, nämlich die Idee, sich auf das Ende der Menschengeschichte bezieht und die andere, der Anfang, den Anfang zu ihrem Hauptgegenstand hat. Drittens, was als die Kehrseite des zweiten Elements gilt, haben das Spiel und die Geschichte eine weitere Gemeinsamkeit, dass sich ihr Verlauf nach ihrem Ende als nach Regeln, also planmäßig bestimmt auffassen lässt, auch wenn er den Betroffenen selbst nicht als ein systematisches Ganze sichtbar ist. Ein solcher regelmäßiger Gang beruht auf den Regeln des jeweiligen Spiels und der Geschichte, die zwei Seiten haben; einerseits gibt
IX. Spiel als Muster der geschichtlichen Bewusstwerdung der Freiheit 197
es die dem Spiel und der Geschichte immanenten, menschlichen Handlungsregeln und andererseits die Naturgesetze, wodurch die Wirkungen der menschlichen Handlungen bestimmt werden. Das vierte und entscheidende Element heißt nun: Im Spiel sowie in der Geschichte spielen die Handelnden je eine Rolle, die ihnen etwa durch Geburt nicht unmittelbar gegeben ist: Man ist z. B. nicht als Darsteller geboren. In den Augen des Zuschauers sehen die Handelnden so aus, als ob sie um der Realisierung des geplanten Endzustands willen da wären. Wir haben mehrmals gesehen, dass Kants Betrachtungsweise der Geschichte diesem Element entspricht. Aber warum? Gibt es einen internen Grund dafür, dass es so sein muss? Um diesen zu begreifen, wollen wir das Phänomen des Im-Spiel-Eine-Rolle-Spielen ausführlicher analysieren. Wer eine Rolle spielt, ist dabei jemand. Als jemand ist man nicht ein bloßes Ding oder lediglich ein organischer Körper, in welchen hinein und gewissermaßen als welcher er geboren ist, sondern darüber hinaus ein Wer. Dass man von anderen Menschen als wer angesehen wird, hängt teils von seiner Selektivität ab, welche Aspekte von seinem Dasein er einerseits durch Wort und Tat nach außen hin zeigen und welche er andererseits in sich gerne verbergen will, und teils von denjenigen Elementen, die ohne seinen Willen erscheinen, etwa Gesichtsausdrücke, Handbewegungen usw. Nun das Wesen des Wer eines Menschen lässt sich nicht bloß durch Aufzählung und Ansammlung der Beschreibungen seiner körperlichen sowie geistigen Verfassungen komplett darstellen, das trotzdem in den Augen seines Gegenübers oder eines Zuschauers so präsent ist. Anders gesagt ist der Grund, warum jemand zu einem gegebenen Zeitpunkt und unter gewissem Umstand so und so handelt und so als eine besondere Person erscheint, ist der äußeren Beobachtung letzten Endes unzugänglich. Das beruht auf der einfachsten Tatsache, dass der Entschluss zu einer etwaigen Handlung letztlich auf die Willkür des Handelnden ankommt, deren Ursächlichkeit nicht auf materielle Gründe zurückführbar ist.35 Diese Tatsache ist nun das, was 35 Dies scheint daraus ableitbar zu sein, dass Kant in der Anthropologie sagt, der Mensch müsse sich selbst einen „Charakter“ verschaffen (Anthr. VII, S. 321 f.). Ihm zufolge „Charakter“ ist ein „Gesetz“ der Kausalität einer wirkenden Ursache (A 539 / B 567). Weil der Mensch eben ein mit Willkürfreiheit begabtes Wesen ist, ist es für ihn durchaus möglich, und es geschieht wirklich, dass er von etwaigen Gesetzen abweicht, nach denen er im Augenblick vorher noch gehandelt hat. Um daher überhaupt einen festen Charakter zu haben – was eigentlich ein Pleonasmus ist, wenn man seinen Wortursprung „Inschrift“ beachtet, das doch beim Menschen als krummem Holz unvermeidbar ist –, sich aus freiem Stück entschließen muss, immer nach einem gewissen Gesetz zu handeln. Aber bis dahin und auch danach, ist es sein Schicksal, dass seine Handlung einen Scheincharakter hat. Im Übrigen zur Mehrdeutigkeit des Begriffs „Charakter“ bei Kant s. Kain. Vgl. auch Allison, S. 29–53.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
der menschlichen Handlung einen Scheincharakter36 verleiht: Weil der hinreichende Grund zur Handlung nicht direkt sichtbar ist, so sieht die menschliche Handlung immer so aus, als ob sie aus einem ganz anderen Grund als dem in der phänomenalen Welt erscheinenden ausgeführt worden wäre. Wenn man z. B. einen Menschen beobachtet, einem anderen aus Notfall verhelfen, und annimmt, dass er aus Wohlwollen es tue, könnte man über diesen Menschen sagen, er sei ein guter Mensch. Aber das, was dieser Mensch zu sein scheint, ist eigentlich ein idealer Typus, der der Idee der ihm unterstellten guten Gesinnung korrespondiert. Dieser Typus wird vom Zuschauer dem Handelnden in dem Moment unterstellt, wo der erstere den inneren Grund im Handelnden zu der entsprechenden Handlung zu sehen glaubt. Die Aussage, der Handelnde sei ein guter Mensch, besagt eigentlich, dass er wie der ihm unterstellte ideale Typus aussieht. Aber es bleibt immer die Möglichkeit übrig, dass der Handelnde aus einem anderen Grund, etwa für einen guten Ruf usw., so handelt, wie er handelt. Wir können grundsätzlich nicht wissen, ob ein dem Aussehen nach gut Handelnder tatsächlich aus guter Gesinnung so handle oder nicht.37 Solange es um die menschliche Handlung geht, ist das Aussehen-Wie unvermeidbar.38 Eben darum ist es mit der menschlichen Handlung so bewandt, dass sie immer gewissermaßen wie ein Spiel erscheint, und zwar so, dass der Handelnde als ein Schauspieler wahrgenommen werden kann. Denn der Zuschauer kann nicht einmal von außen wissen, ob das Aussehen des Handelnden gänzlich mit seinem Inneren übereinstimmt. Genau dieser Sachverhalt liegt Kants Aussage zugrunde, die wir oben betrachtet haben: „Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler; sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der 36 „Der Schein ist der Grund zu einem irrigen Urteil aus subjektiven Ursachen, die fälschlich für objektiv gehalten werden“ (Anthr. VII, S. 142). Unser Urteil über den Charakter des Menschen, den wir dem äußerlichen Zeichen entnehmen, ist zwar nicht unbedingt ein „irriges Urteil“, weil wir davon eigentlich kein „objektives“ Wissen haben können. Ich sehe den Ausdruck „Scheincharakter“ genau daher nicht für unangemessen an, weil wir, wenn wir vom Charakter des Menschen sprechen, den ihm unterstellten Typus performativ als ein quasi-objektives Kriterium betrachten. 37 Zu diesem Sachverhalt s. B. V. Ferguson bezeichnet diese Unzugänglichkeit des Inneren des anderen Menschen in ihrem Aufsatz zur „ungeselligen Geselligkeit“ als ein Wesensmerkmal der Gattung Mensch im Unterschied zu anderen Tierarten. Ihr zufolge „[w]e are, despite our common humanity, strangers to one another.“ (Ferguson, S. 158) Diese Tatsache der menschlichen Pluralität macht gewiss einen entscheidenden sowie unveränderlichen Grund des sozialen Antagonismus. Wir werden gleich sehen, dass Kant sie nicht bloß bedauert, sondern darüber hinaus an diesem unvermeidlichen Scheincharakter der menschlichen Handlungen auch eine moralisch positive Wirkung wahrnimmt. 38 Man könnte von der Exzentrizität des Menschen als der Grundlage dieses Aussehens sprechen. Zur Exzentrizität s. Zupančič, S. 62.
IX. Spiel als Muster der geschichtlichen Bewusstwerdung der Freiheit 199
Uneigennützigkeit an, ohne irgendjemand dadurch zu betrügen, weil ein jeder andere, dass es hiemit eben nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständig ist“ (Anthr. VII, S. 151) Diese Schilderung ist nur möglich, weil Kant weiß, dass bei Menschen das Aussehen nicht natürlich mit dem Inneren übereinstimmen, sondern es zumeist zwischen ihnen eine Diskrepanz gibt. Es ist für uns aber wichtiger, dass Kant anschließend behauptet: Es „ist auch sehr gut, dass es so in der Welt zugeht. Denn dadurch, dass Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über.“ (ebd.; Hv M. O.) Die zuerst nur scheinbaren Tugenden gehen mit der Zeit, also zuletzt in die Gesinnung über, weil der Mensch, der eine „geraume Zeit hindurch“ nur die Rolle eines guten Menschen gespielt hat, anlässlich der Wirkung des Scheins, nämlich der Zivilisierung der Gesellschaft, lernt, dass das bloße Aussehen-Wie auch nicht ohne positives Ergebnis auskommt. Dieses Verständnis des Lernen-Im-Spiel bekräftigt, dass Kant die Geschichte aufgrund ihres Spielcharakters als einen langsamen Lernprozess des Gebrauchs der Freiheit für Menschen ansieht. So viel gesagt müssen wir zum Schluss nochmal pointieren, dass weder die „Tugenden“ durch diesen Prozess automatisch entstehen noch die Scheintugend sich allmählich in eine wahre Tugend verwandelt. Das ist nach Kant unmöglich: „Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewusst ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muss ihn jederzeit erworben haben. Man kann auch annehmen: dass die Gründung desselben gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche ihm unvergesslich mache. – Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruss am schwankenden Zustand des Instinkts auf einmal erfolgt, bewirken.“ (Anthr. VII S. 294; Hv M. O.)
Mit anderen Worten kann die Erwerbung eines wahrhaft guten Charakters, die einer „Neugeburt“ sowie „Explosion“ gleicht, nur durch den Entschluss des Menschen erfolgen. Jedoch schließt dies nicht aus, dass wir das Gefühl der Kinder, „mehr als Mensch“ zu sein – was sie irgendwann in der Gesellschaft haben würden und natürlich auch das Gefühl, mehr als ein bloßes Tier zu sein, enthält –, verstärken können, indem wir sie selber im Spiel langsam lernen lassen, wozu die Stimme der Vernunft in ihnen sie aufruft.
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E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
X. Schlussbemerkung zum moralischen Erziehungsprogramm im Hinblick auf die Politik Weil der handelnde Mensch nicht unbedingt und unmittelbar das ist, was er sein zu sein scheint, kann er einerseits mit dem „Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit“ spielen. Und er lernt sogar irgendwann dadurch zu profitieren. Nach Kant geschieht dies dem Menschen ziemlich früh. Von dem Tag an wird sein Aussehen von dem Inneren immer weiter getrennt. Die Trennung des Außen vom Innen hat Rousseau, Kants größter Lehrer, beklagt. In Rousseaus Augen kennt die Entfernung des äußerlichen Scheins von dem Inneren des Menschen in der Gesellschaft solange kein Ende, als er über sich hinaus zu gehen, sich zum imaginären Selbst emporzuarbeiten versucht. Dieser Versuch entsteht seinerseits dadurch, dass der Mensch anfängt das zu wollen, was die anderen wollen. Kants Begriff „ungesellige Geselligkeit“ ist durch diesen Gedanken Rousseaus stark geprägt. Wenn wir z. B. die ungeselligen Eigenschaften, Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, erneut aus Rousseaus Perspektive betrachten, so entblößen sie sich alle als das Streben nach dem, was alle besitzen wollen. Obwohl das Subjekt dieser Süchte Ego heißt, kann es auf die Fragen keine Antwort gegeben werden: Wer ist denn dieses begehrende Ego in mir? Denn die genannten Eigenschaften wohnen allen Menschen inne und das begehrende Ego ist insofern allen gemeinsam. Und dieses Ego ist gleichursprünglich mit der mensch lichen Gesellschaft. Dass Kant die Sache so betrachtet, zeigt die folgende Aussage in der Religion: „Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen als bald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nötig, dass diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, dass sie da sind, dass sie ihn umgeben, und dass sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen.“ (Religion VI, S. 94)39
Jenes Ego taucht in allen Menschen auf, sobald sie sich in einer Gesellschaft befinden. Das Ego in mir, das gleichzeitig ein Alter Ego ist, wird zauberhaft durch die Anwesenheit der Anderen erweckt. Von diesem immer schon vergangenen Tag an, der sich nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen lässt40, 39 Zum Begriff des „Hangs“ bei Kant, der der Oberbegriff von den in den Passus erwähnten Süchten ist, s. Frierson, bsd. S. 108. 40 „Die Erinnerung [der] Kinderjahre [eines Erwachsenen] reicht aber bei Weitem nicht bis an jene [frühste] Zeit, weil sie nicht die Zeit der Erfahrungen, sondern
X. Schlussbemerkung 201
ist dem Menschen unvermeidbar, durch die Begierde der anderen in sich hin und her getrieben zu werden. Rousseau nahm daran den Verfall der Menschheit wahr und konzipierte die ideale Republik nach dem Muster der immer schon vergangenen, idealen Vergangenheit und aufgrund nicht der Gesamtheit der faktischen Begehren, sondern des allgemeinen Willens, der der Wille aller sein soll. In Übereinstimmung mit diesem Ideal ruft er dem Menschen zu, dass er nicht mehr will, was die anderen wollen, und geht soweit zu sagen, dass der Mensch wie eine „Spinne“ werde: „Der Mensch ist sehr stark, solange er sich damit zufrieden gibt, zu sein, was er ist; er ist sehr schwach, wenn er sich über die Menschheit erheben will. Bildet euch also nicht ein, durch die Erweiterung eurer Fähigkeiten an Stärke zuzunehmen; im Gegenteil, ihr vermindert sie, wenn eure Vermessenheit größer ist als sie. Messen wir den Radius unsrer Sphäre und bleiben wir im Zentrum so wie die Spinne in ihrem Netz, und wir werden immer uns selbst genügen und nicht über unsre Schwäche zu klagen brauchen, da wir sie niemals empfinden.“41 Kant verabschiedet sich von Rousseau genau dort, wo er seinen Blick auf die Vergangenheit wirft. Kant träumt nicht von gestern, sondern versucht ganz im Gegenteil, das vorauszuschauen, was nach dem sittlichen Verderben der Menschheit kraft seiner immer schon zum Besseren bestimmten Natur zutage tritt. In unserem Kontext heißt dies, dass Kant sich wagt zu sagen, dass der Mensch eines Tages im gewissen Grad die Strömung seiner Begierden als der der anderen transzendiert, um zu wissen, wohin er eigentlich will und als was er immer schon existieren wollte. Dass Kant auf diese Weise jedem Menschen Zeit lässt, unterscheidet ihn von Rousseau und zeigt zugleich, dass Kant der Philosoph der Endlichkeit par excellence ist. Aber wir können uns nicht enthalten zu fragen: Wie könnte man ganz überzeugt sein, dass das Subjekt des eigentlichen Willens als das eigentliche Selbst angesehen werden muss? War es nicht Kant selbst, der in seiner Geschichtsphilosophie dieses Selbst als von der Natur in den Menschen hineingelegt gedacht hat? Dann heißt es nicht, dass das Wollen des angeblich eigentlichen Selbst letzten Endes das der Natur als der / des großen Anderen ist? All diese Fragen verfehlen den Punkt. Denn wir haben gesehen, dass die „Natur“ in Kants Geschichtsphilosophie eigentlich nichts als eine Übertragung des Ego im Menschen ist. Kant hat gleichsam durch die imaginäre Versetzung seiner Perspektive in die der Natur diese wollen lassen, dass der bloß zerstreuter, unter keinen Begriff des Objekts vereinigter Wahrnehmungen war.“ (Anthr. VII, S. 128). 41 Rousseau (1963), S. 189.
202
E. Das moralische Erziehungsprogramm bei Kant
Mensch existiere und wolle, dass er existieren will, wie er eigentlich immer schon existieren will. Kant tut dies eigentlich, so vermuten wir, weil er nichts anderes tun könnte, wenn es um seinen Willen geht. Denn selbst Kant hat auch keine andere Wahl vor seiner Geburt, oder paradox formuliert, bevor er überhaupt einen Willen hat, als denjenigen Willen zu haben, den er immer schon hat.42 Anders formuliert bedeutet die Tatsache, dass der Mensch überhaupt einen Willen hat, er könne höchstens nur bejahen oder verweigern, dass er in der Tat den Willen hat, und dasjenige als den Gegenstand seines Begehrens bewusst anzuerkennen, was der Wille will. Einen Willen haben bedeutet demnach: Einen Willen haben wollen, d. i. die Bejahung der Bejahung. Woher der zu wollende Wille kommt, wie wir im Kapitel B. gesehen haben, kann der von Kant geschilderte Gott auch nicht wissen, eben darum, weil Kant nicht weiß, woher der Wille in ihn hineinkam. Es ist die Eigentümlichkeit des menschlichen Willens, dass er immer schon in mir als der meinige ist, ohne dass ich dies jemals gewollt habe. Er bleibt mir in diesem Betracht immer gewissermaßen fremd. Kant sagt bezüglich des schreienden Neugeborenen, obwohl vorübergehend, dass das, was ihn zu schreien treibt, ein „Trieb, seinen Willen zu haben“, ist (Anthr. VII, S. 269). Und der folgende Passus in der Grundlegung scheint im Wesentlichen das Gleiche sagen zu wollen: [W]enn es einen kategorischen Imperativ gibt (d. i. ein Gesetz für jeden Willen eines vernünftigen Wesens), so kann er nur gebieten, alles aus der Maxime seines Willens, als eines solchen, zu tun, der zugleich sich selbst als einen allgemein gesetzgebend zum Gegenstand haben könnte; denn alsdenn nur ist das praktische Prinzip und der Imperativ, dem er gehorcht, unbedingt, weil er gar kein Interesse zum Grunde haben kann.“ (GMS IV, S. 432; Hv M. O.)
Dem Nebensatz: „weil er gar kein Interesse zum Grunde haben kann“, dürfen wir, „als der Wille, der sich selbst will“, hinzufügen. Dass das hiermit Gemeinte von unserem Verständnis nicht allzu entfernt sei, lässt uns Kants Grundgedanke vermuten: Die menschliche Freiheit ist das Vermögen, etwas absolut neu anzufangen. Weil die menschliche Freiheit keinen äußeren Grund außer sich selbst kennt, so muss deren Tätigkeit immer als ein ganz neues Ereignis angesehen werden. Aber genau das Gewicht des Neuanfangs um der ganzen Menschheit willen macht die Schwierigkeit der Selbstaufklärung aus. Kant sagt, oder so seine Stimme, dass „die Menschen nicht so leicht aufhören Kinder zu sein.“ (Pädagogik IX, S. 471). Die Verantwortung für ihre eigene Freiheit ist keine leichte, weil sie als die für die Freiheit der ganzen Menschheit gilt.43 Durch 42 s. oben 43 Hierzu
C. III. s. C. III.
X. Schlussbemerkung 203
ihre Faulheit und Feigheit machen die Menschen aber ihren inneren Raum den anderen Kindern, d. i. Despoten zugänglich. So lassen sie diejenigen zu, die bereit sind, alles nach ihrem eigenen Sinn zu richten, die Rolle eines Vormünders zu spielen. Sodann wird der Grund ihrer Freiheit durch andere okkupiert und ihre Handlung durch den Willen anderer bestimmt, welches doch ihnen selbstverschuldet ist. Aus der Analyse des moralischen Erziehungsprogramms bei Kant, das sich durchaus als eine auf die selbstbewusste Moralisierung der Kinder wartende Vorsorge ansehen lässt, können wir uns eine weitere Konnotation des Politischen ziehen. Durch den Blick auf die ständig und wiederholt zu erfüllende Aufgabe der Politik, namentlich Erziehung zeigt sich das Politische erneut als Attribut derjenigen Praxis, wodurch die Menschen die Faulheit und Feigheit, die zusammen dazu verführen, das Objekt der Begierde der Anderen zu begehren, sowie das ungesellige Ego, das zugleich das Alter Ego ist, überwinden, um zum eigentlichen Selbst zu kommen. Der Weg ist zwar schmal. Aber solange man die Rolle seines eigentlichen Selbst ernst spielen lernt, wird er nie versperrt, und am Ende, oder besser auf dem Weg dazu, wird man das eigentliche Selbst immer neu kennenlernen.
F. Schlusswort: Kants Stimme und eine weitere Fragestellung für die gemeinsame Zukunft der politischen Lebewesen Über die gesamte Untersuchung hinweg haben wir versucht, Kants Stimme möglichst zuzuhören, um darüber das Politische bei ihm zu verstehen. Hat sich nun, wie ich anfänglich versprochen habe, tatsächlich eine einzige Stimme Kants aus der Polyphonie der Begriffsvielfalt als ein gemeinsames Thema, das die verschiedenen Klänge und Töne seiner Sprache durchschießt, heraushören lassen? Ich würde gerne glauben, dass die nachgestrebte einzige Grundstimme von Kants Gemüt in uns einen Zusammenklang von zwei aufeinander hinweisenden Gefühlen hinterlässt: nämlich das Gefühl des Gefangenseins in dem eigenen Selbst einerseits und das der Hoffnung auf die Emanzipation von demselben und das gleichzeitige Eintreten in ein selbstgewähltes Selbst andererseits. Jenes hat sich deutlich gezeigt, bald an der Klage des Menschen um das Gewicht des Selbst, bald am Geschrei eines Neugeborenen, während dieses etwa am Verlangen des endlichen Vernunftwesens nach Unendlichkeit und vor allem an der Freude von Kant selbst an dem Erscheinen des kosmopolitischen Publikums.1 Dass diese zwei Gefühle zusammengehören, benötigt keine Erklärung mehr. Die jeweilige Sprache der verschiedenen Denkfiguren, die uns im Lauf der Untersuchung begegnet sind, stellt jeweils einen Versuch Kants dar, den unterschiedlichen Tönen einer einzigen Saite in ihm, seines Freiheitssinns, einen sprachlichen Ausdruck zu geben, oder aber ihnen durch die Sprache zu entsprechen. Wir haben durch die gesamte Untersuchung hindurch erfahren, dass, je größer und klarer die Aussicht auf die Verwirklichung der menschlichen Freiheit in dieser Welt ist, desto fröhlicher diese Saite klingt und umgekehrt. Als Schlusswort dieser Untersuchung möchte ich sagen: Das Politische bei Kant als das Wesen der Politik ist ein gemeinsamer Nenner derjenigen freien und gerechten Zusammenarbeit der Menschen, wodurch sie ein Gebäude für alle Menschen aufbauen, in dem sie alle den größten Grad der Freiheit genießen können und ihre Freiheiten im Plural am fröhlichsten Zusammenklingen. 1 Siehe
besonders B. IV.; C. II; D. VIII.
F. Schlusswort205
Aber ich muss zugestehen, dass wir mit dieser Zusammenfassung in ein neues Feld geraten, das wir in der vorliegenden Arbeit kaum untersucht, sondern nur gelegentlich gestreift haben, obwohl es uns die ganze Zeit vorgeschwebt hat. Wir haben nämlich das Politische bei Kant immer fast ausschließlich in Bezug auf das Verhältnis zwischen zwei Ichheiten in einem Menschen, d. i. das intrasubjektive Verhältnis untersucht. Dabei sind wir zwar stets auf das unvermeidliche Nebeneinandersein und insofern auf die zwischenmenschliche Beziehung als Voraussetzung der Politik aufmerksam geblieben. Jedoch, um unserem anfänglichen Vorhaben, den Stellenwert der Politischen Philosophie Kants im Hinblick auf die Tradition des abendländischen Politikdenkens zu bestimmen, treu bleiben zu können, vermissen wir noch eine durchgehende Betrachtung eines ganz entscheidenden Begriffs bei Kant, nämlich der Freundschaft (philia). Denn es scheint mir höchst unwahrscheinlich, dass Kant die enge Verbindung zwischen Polis und Freundschaft unbekannt war, welche bei den Griechen sowie bei den Römern so wesentlich war. Wenn Kant z. B. sagt, die „Freiheit der Feder“ sei „das einzige Palladium der Volksrechte“ (Gemeinspruch VIII, S. 304; Hv M. O.), ist seine Berufung auf Athena als diejenige Göttin unverkennbar, die – nach der von Euripides rekonstruierten Neubegründungsgeschichte der griechischen Demokratie – dem Held der Tragädie, Ion, die Redefreiheit (parrhesia) verlieh, die ihrerseits nur dann als Vereinigungsprinzip der Polis funktioniert, wenn man von seinen Mitbürgern als Freunden erwarten kann, dass sie bereit sind, seiner Rede zuzuhören und durch diese sich überreden zu lassen, wenn sie plausibel ist.2 Vielleicht scheint es ein Defizit zu sein, dass in dieser Untersuchung eine Analyse des Begriffs „Freundschaft“ bei Kant keinen Platz gefunden hat. Jedoch wäre es eine Übertreibung, wenn wir sagten, dass wir im Lauf der Untersuchung die Thematik nicht einmal gestreift haben. Denn der Versuch, Kants Stimme zu hören und darüber hinaus zu verstehen, wäre unmöglich, wenn wir nicht bereit wären, ihn uns ansprechen zu lassen. Und was wir in der Tat wiederholt erfahren haben, ist immer sein einladender Ruf „sapere aude!“ gewesen. Dieser ist, wenn man sich hier erneut darüber nachdenkt, eine paradoxe Einladung. Denn man kann erst dann mit Kant mitgehen, wenn man Selbstständig denkt. Aber ist die hier angedeutete gleiche Augenhöhe nicht ein Hauptmerkmal der Freundschaft unter freien und gleichen Menschen? Spricht Kant uns nicht immer als Freunde an? Ich neige dazu, zu glauben, dass wir nicht auf dem ganzen Weg umsonst herumgelaufen sind, sondern vielmehr, dass wir stets schon durch die an seine Zeitgenossen, uns und darüber hinaus alle noch nicht geborene Menschen gleichermaßen gerichtete Freundschaft berührt worden sind, und insofern auch, dass 2 Hierzu
s. Foucault (2012).
206
F. Schlusswort
die Beobachtung der Freundschaft bei Kant, sogar unsere Freundschaft mit ihm im gewissen Grad bereits angefangen ist. Als die letzte Einladung in dieser Untersuchung zum Mitdenken mit Kant, welche gleichzeitig einen Interpretationsvorschlag für die zukünftigen Forschungen des Wesens der Kantischen Politik bilden mag, möchte ich einen Gedankengang Kants anführen: „Welcher Mangel oder Verlust eines Sinnes ist wichtiger, der des Gehörs oder des Gesichts? – Der erstere ist, wenn er angeboren wäre, unter allen am wenigsten ersetzlich“ (Anthr. VII, S. 159).
Kant erläutert seine Antwort wie folgt: „[E]in im Alter Taubgewordener vermisst dieses Mittel des Umgangs gar sehr, und so wie man viele Blinde sieht, welche gesprächig, gesellschaftlich und an der Tafel fröhlich sind, so wird man schwerlich einen, der sein Gehör verloren hat, in Gesellschaft anders als verdrießlich, misstrauisch und unzufrieden antreffen. Er sieht in den Mienen der Tischgenossen allerlei Ausdrücke von Affekt oder wenigstens Interesse und zerarbeitet sich vergeblich, ihre Bedeutung zu erraten, und ist also selbst mitten in der Gesellschaft zur Einsamkeit verdammt.“ (Antr. VII, S. 160; Hv M. O.)
Dieser Passus besagt – zusammen genommen mit Kants Metapher, „völlig allein“ zu sein mit dem eigenen Gedanken sei wie im „Gefängnis“ zu sein (TL VI, S. 472) –, dass man nie „glücklich“ sein kann, wenn man keine Stimme der Mitmenschen mehr hören kann. Umgekehrt könnte man sagen: Egal wie planmäßig im Hinblick auf den äußeren Frieden das politische System aufgebaut sein mag, in dem man sich findet, wird das Glück, mit dem die politische Maxime übereinstimmen zu lassen, die „eigentliche Aufgabe“ der Kantischen Politik bildet, verfehlt, wenn man die bloße Stimme der Mitmenschen vermissen muss. Nach Kant heißt der Friedenszustand der „unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind“ (RL VI, S. 355; Hv M. O.). Wenn ein Mensch sich in einem Zustand findet, in dem er den stimmlichen Ausdruck der Interessen von seinen Mitmenschen für immer vermissen muss, d. h. sich in der Nachbarschaft bis zum Ende seines Lebens allein fühlt, also wenn ihm sozusagen das Recht auf ein gemeinsames Gespräch als sein entscheidendes „Mein“ fehlt, so ist das ein sicheres Zeichen, dass uns noch eine ernsthafte Aufgabe der Politik bevorsteht. Das Minimum, was wir für deren Auflösung gemeinsam tun können und sollen, ist sicherlich nicht, nur auf die Erhaltung eines geschlossenen Freundeskreises auf Kosten vom Leben eines zum „Feind“ erklärten Fremden bestrebt zu sein, sondern umgekehrt uns ständig auf ein neues Gespräch zu eröffnen, damit das „einzige Kleinod“ (Orientieren VIII, S. 144), die Redefreiheit, sich weiter verbreitet. Dies glaube ich in Übereinstimmung mit Kant behaupten zu können. Denn
F. Schlusswort207
es liegt nahe, dass bei ihm der Feind, den man zu bekämpfen hat, im Grunde genommen ein innerer ist. Der Versuch, Kants Politische Philosophie in die hier skizzierte Richtung weiter zu erforschen, soll damit anfangen, seiner Behauptung näher zuzuhören, dass „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrecht überhaupt“ (ZeF VIII, S. 360; Hv M. O.). Das „Weltbürgerrecht“ beschränkt sich zwar auf das bloße „Besuchsrecht“. Aber wenn wir anfangen darüber nachzudenken, dass dieses Recht nach Kant uns ermöglicht, „einen Verkehr mit den Einwohnern zu versuchen“ (S. 358), hören wir nicht Kants Stimme klingen, die auf einmal sein Mitleid für die Menschen, die auf der anderer Seite der Welt wie eine bloße „Maschine“ behandelt werden, und seine Hoffnung auf eine Welt, in der alle vernünftigen Erdwesen mit ihrer eigenen Existenz zufrieden sind, ausdrückt?
Literaturverzeichnis Zitierweise Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert, z. B. VII, S. 268 = Band VII, S. 268. Für die Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) und die der zweiten Auflage (= B) angegeben. Die Orthographie in Zitaten aus Kants Schriften, die in den Bänden I–IX der Akademie-Ausgabe enthalten sind, behutsam modernisiert. Aristoteles wird nach den Ausgaben der „Oxford Classical Texts“ zitiert, z. B. Politik, I-2 1253a = Politik Buch I, Kapitel 2, S. 1253a (der Bekker-Ausgabe). Auf andere Literatur wird durch Verfassername (bei Mehrfachnennung eines Autors auch das Erscheinungsjahr), und Seitenzahl Bezug genommen.
Abkürzungen der Werke Kants Anfang
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII, S. 107– 123)
Anthr.
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII, S. 117–334)
Anthr. Pillau
Die Vorlesung des Wintersemesters 1777 / 78 Nachschrift Pillau (XXV, S. 729–847)
Bemerkungen
Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (XX, S. 1–192)
Beweisgrund
Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (II, S. 63–163)
Ende
Das Ende aller Dinge (VIII, S. 325–339)
Gemeinspruch
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII, S. 273–313)
Geographie
Physische Geographie, hrsg. v. F. T. Rink (IX, S. 151–436)
GMS
Grundlegend zur Metaphysik der Sitten (IV, S. 385–463)
Idee
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII, S. 15–31)
KpV
Kritik der praktischen Vernunft (V, S. 1–163)
KU
Kritik der Urteilskraft (V, S. 165–485)
Logik
Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. v. G. B. Jäsche (IX, S. 1–150)
Opus
Opus postumum (XXI–XXII)
Literaturverzeichnis209 Orientieren Pädagogik Reflexionen Religion RL Streit TL Va Gemeinspruch
MS Vigilantius WiA ZeF
Was heißt: sich im Denken orientieren? (VIII, S. 131–148) Pädagogik, hrsg. v. F. T. Rink (IX, S. 437–500) Reflexionen (XIV ff.) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI, S. 1–202) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (VI, S. 203–372) Der Streit der Fakultäten (VII, S. 1–116) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI, S. 203– 372) Vorarbeiten zu Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (XXIII, S. 125– 143) Vorlesung über Metaphysik der Sitten Nachschrift Vigilantius (XXVII, S. 479–732) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (VIII, S. 33–42) Zum ewigen Frieden (VIII, S. 341–386)
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Sachwortverzeichnis Achtung 35, 40, 45, 59, 68, 91, 94, 110, 113–118, 121, 122, 124, 198, 200 – achtungswürdig 123 – Selbstachtung 177, 179 Anschauung 13, 45, 49, 90, 109, 152, 188, 190 – Anschauungsform 131 Arbeit 8, 155, 192–195 Aufklärung 7, 8, 21, 27, 31, 34, 38–42, 44, 45, 71, 82, 84, 88, 95, 98, 107, 108, 123–125, 128–130, 133, 142–144, 148, 150, 151, 153, 155, 158, 164–168, 170, 173, 181, 183, 186, 191, 192, 209, 212, 213 – Selbstaufklärung 8, 34, 40, 41, 44, 45, 81, 96, 97, 107, 108, 123, 128, 129, 143, 150, 151, 153, 170, 173, 181, 183, 186, 191, 192, 202 Autonomie, autonom, autonomy, autonomous 72, 124, 125, 170, 211 Bedürfnis 21, 45, 56, 65, 98, 105, 108, 136, 139, 142 Befugnis 21, 29, 33, 54, 57, 62, 138, 145, 150–153, 162–164, 170 Begehrungsvermögen 56, 64, 109, 115, 132, 134 Begierde 88, 89, 93, 106, 181, 185, 201, 203 Bestimmung (destinatio) 20, 25, 26, 40, 46, 53, 83, 105–107, 128, 129, 166–170, 172, 174, 176, 177, 183, 184, 186–190, 192, 193, 195, 196, 210 Bestimmungsgrund 33, 64, 93, 132–134 Bewusstsein 36, 41, 57, 61–64, 66, 70, 72, 76, 78, 79, 84, 88–91, 97, 99–101, 103, 109, 110, 112–114, 118, 119,
126, 131, 134, 136, 137, 151, 152, 155, 162, 166, 169, 174, 177, 179, 181, 183, 184, 187, 194 – Pflichtbewusstsein 68, 132, 137, 141 – Selbstbewusstsein, selbstbewusst 64, 66, 103, 109, 112, 119, 131, 162, 177, 179, 193, 203 Böse 14, 94, 113–115, 117, 157, 200 Bürger, bürgerlich 8, 19–22, 30, 33, 42, 44, 47, 52–56, 59, 60, 63, 68, 75, 76, 79, 81, 95, 98, 100, 106, 108, 119– 121, 123, 125, 127, 152, 167, 168, 171, 182, 184, 185, 187, 210, 211, 214 – Mitbürger 34, 53, 161, 205 – Weltbürger, weltbürgerlich, Weltbürgerrecht 36, 44, 71, 77, 102, 129, 130, 153–156, 160, 164–167, 193, 207, 208, 212 Demokratie 22, 79, 205, 213 Despot 55, 58–62, 70, 97, 100, 107, 112, 119, 170, 188, 203 Despotismus, despotisch 7, 20, 55, 58–63, 79, 88, 96, 98–101, 106–108, 111, 112, 119, 120, 125, 170, 184, 188 Egoismus, egoistisch 66, 119, 153, 179, 180, 185 Endlichkeit 64, 70, 72, 84, 89, 90, 93, 106, 185, 201 Erfahrung 30, 45, 51, 69, 85, 88, 89, 103, 125, 130–132, 150, 152, 173, 177, 184, 194, 200 Erkenntnis 34, 39, 49, 50, 84, 88, 90, 103, 105, 112, 131, 132, 149, 169, 172, 184–186, 190 Erscheinung 28, 33, 47, 49, 73, 89, 90, 104–106, 108, 129, 131, 146, 153–156, 158, 173, 196
Sachwortverzeichnis217 Erziehung, Erziehungsprogramm 8, 168–174, 176, 178, 180, 182, 184, 186–194, 198–200, 202, 203, 214 Ethik, ethisch 8, 11, 18, 25, 32, 33, 43, 54, 62, 68, 71, 133, 135–138, 161, 163, 165, 210, 211 – Tugendethik 131 Evolution 19, 130, 162 Faktum der Vernunft, Vernunftfaktum 85, 91, 92, 99, 109, 149, 169, 174 Feind, feindlich, feindselig 14, 16, 22, 25, 28, 52, 53, 56, 93, 111, 117, 118, 171, 200, 206, 207 Fortschritt 18, 19, 21, 25, 27, 34, 36, 141, 155–161, 173, 196, 212 – Rechtsfortschritt 18, 19, 23, 26, 27, 41, 75, 77, 82, 83, 130, 156, 192 Freiheit 7, 8, 23, 35, 38, 40, 42, 44, 48, 50, 52, 54, 56–63, 65–72, 76–81, 84, 90–92, 94, 95, 97–105, 107–114, 119, 121, 123, 125, 126, 128, 131, 132, 134, 135, 137–139, 143–147, 149– 154, 156, 163, 165–170, 177–180, 184, 186, 187, 191, 192, 194–196, 199, 202–204, 212, 214 – Gewaltfreiheit 21 – Redefreiheit, freedom of expression 21, 22, 44, 71, 121, 122, 124, 173, 205, 206 – Willkürfreiheit 29, 32, 132, 139, 145, 149, 150, 163, 171, 183, 194, 197 Freundschaft 5, 9, 205, 206, 210, 213 Frieden 18–21, 25–28, 31, 33, 34, 44, 47–51, 53, 54, 72, 73, 76–78, 80, 82, 120, 122, 140–144, 148, 157, 167, 206, 209–211, 213, 214 – friedensstiftend 31, 34, 72, 77 Gebot 29, 57, 95, 110, 116, 123, 147 – Rechtsgebot 34, 46 Gefühl 8, 35, 36, 56, 61, 66, 67, 81, 103, 110, 111, 113–117, 124, 157, 174, 175, 181–183, 195, 199, 204, 208 – Schamgefühl 119
Gemeinschaft 37, 39, 152 Geschichte 8, 15, 26–28, 35, 75, 94, 102, 130, 149, 153–155, 157, 160, 163, 174, 175, 178, 181, 195–197, 199, 208, 211–214 – Geschichtsphilosophie 26–28, 36, 162, 195, 201, 212, 214 – Geschichtszeichen 156, 158–160 – Menschengeschichte 48, 53, 154–156, 173, 196 – Weltgeschichte 193 Gesellschaft, gesellschaftlich 15, 18, 26, 27, 36, 59, 66, 69, 72, 83, 96, 122, 130, 147, 150, 156, 158, 173, 180– 182, 183, 199, 200, 206, 210, 211, 214 – Gesellschaftsform 38 – Gesellschaftslage 77 – Gesellschaftsregel 39 – Gesellschaftsvertrag 162, 163 Gesetz, gesetzlich 19–21, 28, 29, 33, 36, 38, 39, 46, 48, 49, 51, 52, 55–58, 60, 62, 63, 68, 69, 71, 72, 74–76, 88, 91–94, 97, 98, 109, 110, 113–117, 119, 120–125, 127, 128, 130, 132–141, 145, 146, 149, 150, 163, 169, 189, 191, 197, 202, 206, 213 – Gesetzmäßigkeit 85, 92, 190 – Naturgesetz 67, 85, 108, 110, 133, 163, 189, 197 – Rechtsgesetz 48, 57, 83 – Zwangsgesetz 73, 75 Gesetzgebung, gesetzgebend 19, 20, 22, 29, 30, 35, 39, 48, 51, 53, 54, 57, 58, 62, 63, 70, 71, 75, 76, 78, 79, 88, 92, 96, 120, 128, 133–135, 147, 150, 162, 166, 174, 202 – Gesetzgebungsprozess 120 – Mitgesetzgebung 70 – Selbstgesetzgebung, selbstgesetz gebend 53, 67, 68, 161, 189 Gesinnung 7, 18, 20, 22, 29, 34, 117, 182, 191, 198, 199 Gewalt, gewaltsam, Gewalttätigkeit, gewalttätig 15, 19, 29, 30, 33, 36,
218 Sachwortverzeichnis 38, 47, 48, 51, 52, 57, 58, 61, 73, 79, 82, 91, 98, 115, 152, 176, 180, 185 – Gewalttat 53 – Staatsgewalt 42, 97 Glück, glücklich, glückselig, Glückseligkeit 7, 20, 30–34, 39–43, 45–47, 54–58, 60, 61, 63–65, 67, 69–71, 73–76, 78, 79, 91–93, 97–101, 107, 108, 112–114, 121, 126–128, 144, 168, 171 – Glücksstreben 30, 38, 57, 58, 63, 74 – Glücksvorstellung 56, 62, 74 – Glückszustand 55, 62 Gott, göttlich 35, 36, 39, 62, 81, 101, 103–106, 131, 177, 184, 202, 208 – gottähnlich 39 Grundsätze 44, 50, 56, 68, 72, 73, 76, 109, 115, 123, 126, 141, 142, 161, 167, 184, 188, 190, 193, 199, 209, 214 Handlung 16, 18, 21, 27, 29–32, 37, 38, 40–43, 46, 48, 50–53, 55, 57, 61–63, 71, 72, 74, 75, 81, 85–88, 90, 92–94, 96, 97, 99, 100, 103, 107, 109, 110, 113, 114, 116, 124–126, 128, 129, 132–139, 141–143, 146, 148, 151, 154, 157–164, 168–170, 175, 182, 185, 188–190, 193, 194, 196–198, 203 – Handlungsgesetz 194 – Handlungsmodus 193, 195 – Handlungsnorm 18, 49, 129, 138, 194 – Handlungsweise 195 Homo noumenon 46, 91, 116, 129, 145, 146, 149, 151, 164, 165, 167, 177, 178, 183, 213 Homo phaenomenon 179, 213 Ideal 42, 46, 105, 164, 201, 212 Idee 11, 15, 18, 22, 23, 25, 28–30, 35, 39–41, 44, 45, 47, 48, 53, 62, 65, 67, 72, 76, 83, 84, 92, 97, 99, 102, 109, 129, 130, 133, 140–144, 151, 153,
160, 161, 167, 176, 182, 192, 196, 198, 207, 208, 211–214 – Gottesidee 106 – Vernunftidee 51, 131, 132 Interesse 7, 13, 17, 18, 22–24, 31, 33–35, 40, 44–46, 51, 53, 53, 70, 76–78, 83–87, 92, 140, 141–144, 148, 160, 165, 169, 171, 202, 206, 212 – Privatinteresse 23, 31, 74, 123, – Selbstinteresse 20, 22, 51, 76 Ius 26, 28, 29, 31, 48, 128, 131, 162 Kategorie 14, 131, 190 Kategorischer Imperativ 57, 131, 132, 133, 136–138, 149, 169, 171, 202 Kausalität 104, 108, 109, 112, 197 Krieg 20, 22, 25, 27, 37, 38, 120, 140, 161–163, 167, 185, 186, 214 – Kriegsgefahr 122 – kriegslos 26, 161 – Kriegszustand 52 Legalität 27, 63, 92, 132, 135, 161, 170 Maxime 32–34, 39, 46, 50, 51, 58, 71, 74–76, 85, 87, 90, 92, 99, 100, 108, 112, 114, 115, 119, 121, 125, 137, 139–142, 168, 202, 206 Mechanismus 12, 49, 57, 83, 101, 115, 125, 133, 140–142, 167 Menschheit 7, 18, 23–28, 33–35, 38, 40, 42, 53, 60, 68, 69, 72, 77, 81, 83, 85, 95, 96, 99, 102, 123, 145, 149, 151–160, 163–166, 168, 173, 177, 181, 183, 187, 189, 192, 201, 202, 211 Metaphysik 8, 92, 130–133, 142, 143, 184, 186, 208, 209, 211, 213 Moralität 14, 41, 92, 93, 116, 118, 132, 135, 169, 170, 190–192 Mut 5, 7, 31, 40, 44, 45, 70, 76, 86, 107, 112, 118, 121, 124, 125, 127, 155, 156, 160, 164, 171, 173, 183
Sachwortverzeichnis219 Naturzustand 47, 48, 52–54, 57, 78, 96, 150 Neigung 53, 54, 65, 67, 71, 90, 92, 114–118, 168, 169, 173, 180, 200 – Freiheitsneigung 66, 67 Öffentlichkeit 7, 27, 32, 39, 77, 78, 155, 211, 212 Person 15, 19, 20, 22, 28, 31, 35, 41, 46, 65, 68, 77, 80, 112, 116, 119, 120, 124, 136, 145, 146, 165, 166, 180, 194, 195, 197 – Rechtsperson 147 Persönlichkeit 46, 141, 145, 147 Philosoph, philosopher 13, 23, 56, 59, 71, 77, 85, 105, 120–124, 155, 188, 201, 211 – Naturphilosoph 102 Politiker 33, 71, 75, 76, 100, 101, 121, 168, 210 Praxis 14, 17, 22, 26–31, 34, 38, 40–42, 44, 47, 49, 69, 72–74, 77, 84, 128, 129, 153, 162, 168, 203, 208, 209 Prinzip 7, 19, 26, 27, 32, 33, 39, 43, 45, 46, 50, 57, 58, 60, 68–71, 74, 75, 77–79, 93, 94, 96–98, 104, 115, 121, 125–127, 130, 132, 135, 137, 138, 145, 147, 148, 150, 164, 165, 167, 175, 181, 186, 191–193, 202 – Gerechtigkeitsprinzip 15 – Moralprinzip 76 – Rechtsprinzip 33, 47, 49, 70, 73, 76, 78, 122, 137, 138, 145, 172, 211, 213 – Vereinigungsprinzip 45, 205 Publikum 7, 27, 32, 34, 38, 39, 58, 71, 74, 76, 83, 121, 122, 130, 155, 156, 158–160, 162, 166, 168, 204 Rechtslehre 8, 19, 21, 22, 26, 28–33, 36, 38–41, 44, 47, 49, 50, 65, 73, 74, 76, 77, 98, 126–132, 135, 139–145, 147, 148, 150, 151, 159, 161, 162, 164, 165, 167, 168, 172, 191, 209, 211
Reform 21, 22, 26, 27, 34, 41, 69, 96, 127, 212 – Reformpflicht 21, 23, 34 – Reformpolitik 84 Republik, republikanisch 8, 14, 19–23, 44, 55, 62, 70, 79–82, 96, 97, 148, 153, 161, 163, 165, 167, 172, 174, 201 – Republikanisierung, republikanisierend 19, 23, 28, 47, 48, 83, 161 – res publica noumenon 182 Revolution 19, 21, 26, 95, 96, 130, 156, 158, 159, 161, 172, 196, 210 Selbstliebe 36, 50, 58, 71–73, 120, 121, 161, 172 Selbstständigkeit, selbstständig 14, 47, 52, 83, 95, 96, 98–100, 128, 129, 148, 168, 172, 205 Souverän, Souveränität 30, 55, 58, 63, 100, 109, 209, 213 Spontaneität 103, 108, 125, 126 Staatsklugheit 11, 47, 50, 73, 74, 209 Staatsweisheit 73, 74 Teleologie, teleologisch 27, 44, 102, 103, 174, 196 Triebfeder 29, 32, 46, 92, 93, 133–138, 146, 157 Tugend 54, 94, 182, 199 – Bürgertugend 22 – Tugendvorschrift 33 Tugendlehre 118, 132, 133, 139, 143, 144, 209 Tugendpflicht 19, 33, 71, 121, 123 Ungesellige Geselligkeit 8, 173, 180, 182, 198 Unrecht, unrecht 22, 62, 67, 97, 113, 122, 131, 135–138, 146, 147, 150, 151 Verachtung 7, 60, 112, 117–119 Verbindlichkeit 30, 68, 137, 143, 145, 146, 163
220 Sachwortverzeichnis Verbot 54, 121, 146 – Widerstandsverbot 21 Verfassung 20, 29, 54, 56, 59, 60, 62, 63, 69, 70, 79, 97, 130, 147, 161–163, 166, 172, 182, 197, 206 Verpflichtung 149 Verstand 18, 31, 41, 53, 83, 85, 86, 88, 94, 98, 105, 108, 116, 131, 148, 152, 155, 164, 171, 190, 191 – Verstandesbegriff 188 – Verstandeskraft 125 Vertrag 38, 48, 62, 76, 181 – Gesellschaftsvertrag 162, 163, 214 Weltbürger, weltbürgerlich, Kosmopolit, kosmopolitisch, Kosmopolitanismus 8, 19, 24, 28, 36, 44, 71, 77, 129, 130,
153–156, 160, 164–167, 193, 204, 207, 208, 211, 212, 214 Wille 9, 19, 20, 30, 33, 38, 39, 46, 47, 56, 58, 60–63, 65, 68, 77, 78, 80, 83, 85, 87, 92, 93, 101, 103, 104, 108–110, 112, 113, 115–118, 124– 126, 133–135, 140, 141, 148, 153, 154, 164, 165, 167, 169, 176, 178, 196, 197, 201–203 – Volkswille 30, 166 Würde 23, 35, 44, 60, 68, 72, 77, 116–118, 120, 123, 177 Zuschauer 124, 158–161, 197, 198 Zwang 9, 29, 51, 52, 54, 57, 66, 97, 108, 137, 138, 145, 163, 170, 178, 189, 191, 192, 194, 195 – Zwangsanwendung 18