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German Pages [310] Year 2020
Luis Placencia
Handlung und praktisches Urteil bei Kant Eine historische und systematische Untersuchung zu Kants Konzeption des absichtlichen Handelns und ihren urteilstheoretischen Voraussetzungen
BAND 94 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495820735
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Bert Heinrichs, Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 94
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Luis Placencia
Handlung und praktisches Urteil bei Kant Eine historische und systematische Untersuchung zu Kants Konzeption des absichtlichen Handelns und ihren urteilstheoretischen Voraussetzungen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Luis Placencia Action and practical judgement by Kant A historical and systematic investigation on Kant’s conception of intentional action and their theoretical conditions for judgement The majority of authors think within the framework of Kant research, that Kant merely focused on the »relationship between cause and effect « and that in its treatment of the concept of action he puts aside the differences between the concept of action and the concept of actio as producing an effect. Had Kant defended this concept, then he would most likely have argued for a »reductive « interpretation of the concept of action. This work will show that this traditional interpretation of the concept of action of Kant is at least incomplete.
The Author: Luis Placencia (1981). Licenciado en Filosofía (Pontificia Universidad Católica de Chile, 2005). Doctor of Philosophy (Martin-Luther-University of Halle-Wittenberg, 2014). Since 2014 Assistant Professor at the Universidad de Chile. Since 2005 teaching activity at numerous Chilean universities. 2011–2013 Lectureship at Martin Luther University Halle-Wittenberg. Publications about: Action theory, German classical philosophy and the philosophy of Descartes and Spinoza.
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Luis Placencia Handlung und praktisches Urteil bei Kant Eine historische und systematische Untersuchung zu Kants Konzeption des absichtlichen Handelns und ihren urteilstheoretischen Voraussetzungen Die Mehrheit der Autor*innen im Rahmen der Kant-Forschung denken, dass Kant Handlungen bloß als »Verhältnis von Ursache und Wirkung« aufgefasst und in seiner Behandlung des Handlungsbegriffs die Unterschiede zwischen dem Handlungsbegriff und dem Begriff der actio als Bewirken einer Wirkung aufgehoben habe. Hätte Kant diese Konzeption verteidigt, dann hätte er hochwahrscheinlich für eine »reduktive« Interpretation des Handlungsbegriffs argumentiert. In dieser Arbeit wird sich zeigen, dass diese traditionelle Interpretation der Handlungskonzeption Kants zumindest unvollständig ist.
Der Autor: Luis Placencia (1981). Licenciado en Filosofía (Pontificia Universidad Católica de Chile, 2005). Doktor der Philosophie (Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, 2014). Seit 2014 Assistenzprofessor an der Universidad de Chile. Seit 2005 Lehrtätigkeit an zahlreiche chilenische Universitäten. 2011–2013 Lehrauftrag an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen zu: Handlungstheorie, Deutsche klassische Philosophie und die Philosophie Descartes und Spinozas.
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Ruth Marcela Espinosa gewidmet. »Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht. Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Spieler hat uns in der Hand? O süßes Lied«. R. M. Rilke
Financiado por el Programa de Apoyo a la Productividad Académica, PROA VID 2016; Universidad de Chile (Academic Productivity Support Program, PROA VID 2016, University of Chile).
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48924-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82073-5
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Inhalt
Vorwort
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel I Methodische und hermeneutische Betrachtungen . . . . . . § 1 Was heißt und zu welchem Ziel studiert man Geschichte der Philosophie? Einige vorläufige Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . 1.a) Über den Unterschied zwischen Philosophie und Geschichte der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 1.b) Kritische Betrachtung des Unterschieds zwischen Philosophie und Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . 1.c) Geschichte der Philosophie sub specie veritatis . . . . § 2 Kant sub specie veritatis lesen . . . . . . . . . . . . . . § 3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel II Das Urteil als Leitfaden der Philosophie der Handlung bei Kant § 4 Handlungstheorie bei Kant? . . . . . . . . . . . . . . 4.a) Die Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.b) Handlungen und Ereignisse. Ein Blick auf die gegenwärtige Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 4.b.1) Davidsons kausale Theorie der Handlung . . . . 4.b.2) Schwierigkeiten des reduktiven Modells Davidsons 4.c) Die Annahmen der gegenwärtigen Strategie und Kants Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. 79 . 85 . 102 . 108
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Inhalt
§ 5 Das Urteil als Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.a) Kants Auffassung des Urteilsbegriffs . . . . . . . . . . 5.b) Praktische Urteile als Leitfäden für die Interpretation der Handlungskonzeption Kants . . . . . . . . . . . . . . § 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel III Hypothetische Imperative und praktische Überlegung . . . . . § 7 Hypothetische Imperative . . . . . . . . . . . . . . . . 7.a) Was ist ein Imperativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.b) Kants Begriff des hypothetischen Imperativs . . . . . . 7.b.1) Der Begriff der Nötigung und des Imperativs . . . 7.b.2) Die Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen und hypothetischen Imperativen als hypothetischen Urteilen . . . . . . 7.b.3) Die Einteilung der hypothetischen Imperative . . . 7.b.4) Analytische Sätze? . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Wille als praktische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . 8.a) Der Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zu einer Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . . . . . 8.b) Kants Charakterisierung des Willens als praktische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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150 164 169 179 180 186 201
Kapitel IV Maximen und absichtliche Handlung . . . . . . . . . . . § 10 Was sind Maximen? Interpretationsprobleme . . . . 10.a) Prinzipien, Regeln oder Gesetze? . . . . . . . . . 10.b) Mehrdeutigkeit der definierenden Begriffe . . . . 10.c) Beispiele und Maximensätze . . . . . . . . . . . § 11 Analyse der Bestandteile der Definition von Maximen 11.a) Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.b) Prinzip-Charakter (Allgemeinheit) . . . . . . . . 11.b.1) Aristoteles über den praktischen Syllogismus 11.b.2) Kant und der praktische Syllogismus . . . .
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Inhalt
11.b.3) Maximen, praktischer Syllogismus und nichtreduktive Interpretation intentionaler Handlung . 11.b.4) Maximen als Lebensregeln und Maximen zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zusammenfassung und Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . Bibliographie
244 260 267 268
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Die folgende Untersuchung wurde im WS 2013/2014 von der Philosophischen Fakultät I der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen und vor der Drucklegung an einigen Stellen überarbeitet. Viele Personen und Institutionen haben diese Arbeit ermöglicht. Ich möchte ihnen hier ganz herzlich danken. Der DAAD und CONICYT (Chile) haben mit ihren großzügigen finanziellen Förderungen meinen Aufenthalt in Deutschland unterstützt. Das Akademische Auslandsamt der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg (MLU) hat mich mit einem Einsatzstipendium gefördert und mir so die Möglichkeit gegeben, drei eng mit dieser Arbeit verbundene Proseminare am Philosophischen Seminar der MLU anzubieten. Der Universidad de Chile sei für die Gewährung des Druckkostenzuschusses gedankt. Einen besonderen Dank schulde ich vor allem meinem Betreuer Prof. Rainer Enskat, der mir mit Rat und Tat geholfen hat. In zahlreichen Gesprächen und Diskussionen habe ich sowohl von seiner Bereitschaft, Texte gründlich und sorgfältig zu analysieren, als auch von seinen anregenden Bemerkungen enorm profitiert. Apl. Prof. Robert Schnepf hat mit mir zu Beginn meines Aufenthaltes an der MLU einige Ideen dieses Textes diskutiert und mir damit ebenfalls sehr geholfen. Er hat das zweite Gutachten übernommen. Ich bedanke mich dafür herzlich bei ihm. Viele der in diesem Text vorgestellten Ideen sind anlässlich der Auseinandersetzung mit den Gedanken meines ehemaligen Lehrers in Chile, Prof. Alejandro Vigo, entstanden. Für zahlreiche und anregende Unterhaltungen bezüglich der Themen dieser Dissertation bin ich ihm sehr dankbar. Einen besonderen Dank schulde ich auch Jens Gillessen. Er hat die ganze Arbeit gelesen und sowohl unabdingbare sprachliche Korrekturen als auch sehr relevante sachliche Anmerkungen gemacht. Im Laufe meiner Promotion habe ich an verschiedenen Veranstaltungen in Halle, Leipzig, Pamplona, Pisa und Santiago de Chile Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Vorwort
teilgenommen, bei denen ich einige der in diesem Text präsentierten Ideen vorgestellt habe. Ich möchte hier den Teilnehmern dieser Veranstaltungen für Fragen, Kommentare und Kritiken danken. Mein Dank gilt auch vielen anderen, mit denen ich anregende Gespräche über kantische und handlungstheoretische Themen geführt habe. Hierfür danke ich Prof. Rainer Enskat, Ruth Espinosa, Jens Gillessen, Rodrigo Gouvea, Christian Kietzmann, Lars Osterloh, Apl. Prof. Robert Schnepf, Prof. Dieter Schönecker, Prof. Pirmin Stekeler-Weithofer, Prof. José María Torralba, Emilio Vicuña, Prof. Alejandro Vigo und Sebastian Wengler. Mit allen hier erwähnten Personen habe ich philosophische Gespräche geführt, die nicht nur hilfreich gewesen sind, sondern auch Spaß gemacht haben. Diese Arbeit ist meiner wunderbaren Frau Ruth Espinosa gewidmet. Ohne sie hätte ich diesen Text nicht schreiben können. Bonn, im Juli 2018.
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Einleitung
Seit der Veröffentlichung der in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von Anscombe und Davidson geschriebenen Arbeiten über das Problem der absichtlichen Handlung 1 ist das Nest von Problemen, dessen Untersuchung man heutzutage mit dem Titel »Handlungstheorie« zu bezeichnen pflegt, immer wieder von verschiedenen Philosoph*innen untersucht worden. Die »Handlungstheorie« (theory of action) oder die »Philosophie der Handlung« (philosophy of action) ist in der Folge eine wichtige Teildisziplin der Philosophie geworden. Dementsprechend haben sich viele der bekanntesten und renommiertesten Philosoph*innen ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts um die Untersuchung dieser Teildisziplin oder von Aspekten dieser Teildisziplin bemüht. Autor*innen wie G. E. M. Anscombe, R. Audi, R. Brandom, M. Bratman, R. Chisholm, D. Davidson, F. Dresdke, H. Frankfurt, A. Goldman, J. Kim, A. Kenny, C. Korsgaard, J. McDowell, A. Mele, T. Nagel, D. Parfit, T. Scanlon, J. Searle, B. Williams, G. H. von Wright u. v. m. haben sich für Themen wie den Status und die Struktur absichtlicher Handlungen, das Problem der Motivation und der sogenannten praktischen Gründe, das Problem der Individuation von Handlungen, die Ontologie der Handlungen, die logische Form von Sätzen über Handlungen, die Beziehung zwischen Gründen für Handlungen und Ursachen von Handlungen usw. interessiert und damit eine ungeheure Diskussion entfacht. 2 Dass die erwähnten Autor*innen, die in der Regel als wichVgl. (Anscombe 1963) und (Davidson 1963). Vgl. im Fall des Problems der Struktur und des Status absichtlicher Handlungen (Anscombe 1963), (Davidson 1963), (Davidson 1970), (Davidson 1971), (Davidson 1978), (Davidson 1987), (Frankfurt 1978), (Searle 1983), (Bratman 1987), (Mele & Moser 1994). Für das Problem der Motivation und der praktischen Gründe vgl. (Williams 1979), (McDowell 1995), (Parfit 1997), (Korsgaard 1986), (Korsgaard 2008), (Korsgaard 2009); für das Problem der Individuation und der Ontologie von Handlungen (Goldman 1971), (Thompson 1971), (Davidson 1971), (Davidson 1985), (Bach
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Einleitung
tigste Vertreter der verschiedenen Parteien im Rahmen der Diskussion in der Handlungstheorie ohne Ausnahme aus der angelsächsisch-analytischen Tradition entstammen, scheint die Vermutung nahezulegen, dass die »Handlungstheorie« eigentlich eine Teildisziplin der sogenannten analytischen Philosophie ist. Umso mehr hat man diesen Eindruck, wenn man feststellt, dass schon die Fragestellung der handlungstheoretischen Probleme stark von den Überlegungen von Philosoph*innen wie Wittgenstein abhängt (siehe unten S. 79). Man könnte daher die These wagen, erst mit der analytischen Philosophie und nur im Rahmen der analytischen Philosophie sei die Handlungsproblematik philosophisch behandelt worden. Wenn dies so sein sollte, dann liegt die Vermutung nahe, die Suche nach philosophischen Thesen über den Handlungsbegriff in den Werken der Philosoph*innen der Vergangenheit oder anderer Traditionen der Gegenwart sei abwegig. Aber der Schein trügt. Es ist zwar richtig, dass das philosophische Interesse am Handlungsbegriff in der analytischen Tradition besonders stark gewesen ist. Es ist wahrscheinlich auch richtig, dass vor der Geburt dieser Tradition das Thema »Handlung« nie so sehr im Zentrum des Interesses der Philosoph*innen lag wie heute. Dies ist mit Sicherheit ein Verdienst der Untersuchungen und Anstrengung der analytischen Philosoph*innen. Richtig ist jedoch auch, dass auch viele Philosoph*innen anderer Traditionen interessante Beiträge zur philosophischen Klärung des Handlungsbegriffs geleistet haben, obwohl im analytischen Milieu nur wenige Autor*innen zur Kenntnis genommen haben, dass es diese Beiträge gibt. Der Handlungsbegriff liegt z. B. im Zentrum des Interesses vieler Philosoph*innen hermeneutischer Ausrichtung. Dies ist z. B. der Fall bei P. Ricœur, besonders was seine Werke ab den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts angeht. 3 Auch bei Heidegger findet man sehr tiefe Überlegungen zu diesem Begriff. Denn Heidegger ist, worauf schon C. F. Gethmann aufmerksam gemacht hat, ein »Pragmatist«, nämlich 1980); für das Problem der logischen Form von Handlungssätzen (von Wright 1963), (Kenny 1966), (Davidson 1967a), (Davidson 1985); für die Beziehung zwischen Gründen und Ursachen (Davidson 1963), (von Wright 1971a). Für eine informative Zusammenfassung der verschiedenen gegenwärtigen Debatten im Rahmen der Handlungstheorie siehe (O’Connor & Sandis 2010). 3 Vgl. z. B. die Analyse P. Ricœurs in (Ricœur 1990, S. 73 ff.). Dort geht Ricœur kritisch auf die Diskussionen im Rahmen der analytischen Philosophie (besonders zwischen Anscombe und Davidson) ein.
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Einleitung
ein Autor, für den die Sphäre des Handelns »nicht ein abgeleitetes Phänomen darstellt […] sondern eher umgekehrt die Handlungssphäre das methodische Fundament für die Begründung anderer Sphären darstellt« (Gethmann 1988, S. 286). 4 In diesem Sinn spielt für ihn der Begriff der Handlung eine außerordentliche Rolle, wie Gethmann gezeigt hat (Gethmann 1988). Dies wird besonders klar in Sein und Zeit (SZ), wo er trotz zurückhaltender Verwendung des Wortes »Handeln« die Phänomene des »Zu-Tun-Habens« oder des »Umgehens mit« ins Zentrum seines Interesses stellt, die der Thematik der Handlung entsprechen. Dass dieser Themenkomplex seine Tragweite für Heidegger nach SZ nicht verloren hat, kann man anhand von Texten wie dem Anfang des Briefes über den Humanismus belegen, wo er sagt: »Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird nach ihrem Nutzen geschätzt. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten, producere« (GA 9 313). In diesem Zusammenhang ist auch die philosophische Bewegung zu erwähnen, die als »Rehabilitierung der praktischen Philosophie« bekannt geworden ist. Es handelt sich dabei um eine Tradition von in der Regel deutschen Autor*innen, die sich in verschiedenen Formen an einer Wiederaufnahme des Aristotelismus versucht haben. Besonders wichtig ist in diesem Rahmen der Begriff der prâxis gewesen, der eine entscheidende Rolle in den Arbeiten von Philosoph*innen wie H. Arendt und H. G. Gadamer gespielt hat. 5 Trotz der großen Verdienste vieler Autor*innen dieser Bewegung hat sie aber aus verschiedenen und nicht immer rein philosophischen Gründen im Vergleich mit der Diskussion im Rahmen der analytischen Tradition an Relevanz verloren. In der Tat ist die Rehabilitierung der praktischen Philosophie nicht auf so große Resonanz gestoßen wie die analytische Handlungstheorie. In der Folge hat es im Rahmen der ›Rehabilitierung der praktischen Philosophie‹ keine so differenzierte und spezialisierte Diskussion gegeben wie im Rahmen der analytischen Handlungstheorie. Dass dies nicht der gängigen Bedeutung des Ausdrucks »Pragmatismus« entspricht, hat Gethmann ebenfalls betont. (Gethmann 1988, S. 286). 5 Zum Zusammenhang zwischen der ›Rehabilitierung der praktischen Philosophie‹ und einer neuerlichen Aristoteles-Rezeption vgl. (Volpi 1999). 4
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Einleitung
Obwohl die Entwicklung der differenzierten analytischen Diskussion zur Folge gehabt hat, dass viele Philosoph*innen unkritisch angenommen haben, erst mit den Untersuchungen Wittgensteins, Anscombes und Davidsons hätte das Problem der Handlung das Interesse der Philosoph*innen gewonnen, hat sie in den letzten Jahrzehnten für die Behandlung der Geschichte der Philosophie auch fruchtbare Folgen gehabt: Sie hat das Interesse vieler Philosoph*innen und Philosophiehistoriker*innen für die Untersuchung der Gedanken und Meinungen der Philosoph*innen der Vergangenheit bezüglich der Frage nach der Handlung geweckt. Dementsprechend haben viele Autor*innen ab den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts versucht, die »Handlungstheorie« der Philosoph*innen der Vergangenheit zu untersuchen. Besonders relevant und erfolgreich sind diese Untersuchungen im Fall Aristoteles’ gewesen. 6 Ähnlich gerichtete Untersuchungen werden aber auch im Fall anderer Autor*innen bis heute durchgeführt, etwa in Bezug auf Platon, Thomas von Aquin, T. Reid, D. Hume, J. Locke, J. G. Fichte oder G. W. F. Hegel. In der Regel handelt es sich um Analysen, die sich an der Fragestellung der analytischen Philosophie orientieren, sodass sie versuchen, herauszufinden, ob die Ideen der Philosoph*innen der Vergangenheit im Hinblick auf die Fragen der Gegenwart fruchtbar gemacht werden können, oder ob jene den gegenwärtigen Stand der Forschung in irgendeiner Weise antizipiert haben. 7 In diesem Zusammenhang ist auch das Interesse an der mutmaßlichen »Handlungstheorie« Kants gewachsen. Seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Arbeiten L. W. Becks und F. Kaulbachs veröffentlicht worden sind, 8 hat sich die Kant-Forschung zunehmend für den Begriff der Handlung bei Kant interessiert. Während einerseits manche Autor*innen behaupten, dass bei Kant gar keine Handlungstheorie zu finden sei (siehe unten S. 21 Vgl. z. B. die Arbeiten von (Ackrill 1978), (Nussbaum 1978), (Charles 1984), (Vigo 1996) und (Natali 2004). Obwohl diese Arbeiten verschiedenen Interpretationsrichtungen entstammen, haben sie gemein, dass sie sich intensiv mit dem Handlungsproblem oder Aspekten dieses Problems bei Aristoteles beschäftigen. Aristoteles ist auch entscheidend für viele Handlungstheoretiker wie Anscombe, Davidson, Kenny, Mele oder von Wright gewesen. 7 Vgl. z. B. die Verteidigung von Lockes mutmaßlichem »Volitionalismus« bei Lowe (Lowe S. 119–141), die Lowe zugleich auch als eine Verteidigung des Volitionalismus vorbringt. 8 Vgl. (Beck 1975) und (Kaulbach 1978). 6
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Fn. 13), sind nach den Veröffentlichungen Becks und Kaulbachs viele Untersuchungen geschrieben worden, die der mutmaßlichen »Handlungstheorie« oder Aspekten der mutmaßlichen »Handlungstheorie« Kants gewidmet worden sind. Unter »Handlungstheorie« versteht man dabei in der Regel eine Untersuchung der Ansammlung von Problemen, die die analytische Tradition untersucht. Im Rahmen der Kant-Forschung ist es üblich geworden, Kants »Handlungstheorie« als eine »kausale« zu bezeichnen und sie mit den Ideen Davidsons zu identifizieren. Kant habe, so die dominierende Idee, einen »kausalistischen« Ansatz der Handlung vertreten. Diese Etiketten sind jedoch wenig informativ. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, das Problem der Gedanken über das Handlungsproblem bei Kant anders zu untersuchen. Eines ist klar: Kant hat wenig über den Handlungsbegriff gesagt. In der Regel führt er den Begriff thematisch ein, wenn er über seine Substanztheorie und über Kausalität schreibt. Daher ist die vielfach geäußerte These, dass Kant Handlungen bloß als »Verhältnis von Ursache und Wirkung« aufgefasst und in seiner Behandlung des Handlungsbegriffs die Unterschiede zwischen dem Handlungsbegriff und dem Begriff der actio als Bewirken einer Wirkung aufgehoben habe, berechtigt. 9 Wäre diese Interpretation richtig, dann hätte Kant den Unterschied zwischen der Wirkung der Substanzen in der Natur und den Handlungen der Menschen nivelliert. Auch Kant wäre dann der Auffassung, dass der Handlungsbegriff nur mit Bezug auf die Ursache-Wirkungs-Beziehung erklärbar ist. Hätte Kant diese Konzeption verteidigt, dann hätte er sehr wahrscheinlich für eine »reduktive« Interpretation des Handlungsbegriffs argumentiert. 10 Dass er so argumentiert habe, denkt die Mehrheit der Autor*innen im Rahmen der Kant-Forschung. In meiner Arbeit wird sich zeigen, dass diese traditionelle Interpretation der Handlungskonzeption Kants zumindest unvollständig ist. Folgt man den Gedanken Kants konsequent und vorsichtig, wird man finden, so meine These, dass die Dinge bei ihm nicht so einfach liegen, wie jene Autor*innen denken, die die traditionelle Interpretation verteidigen. Gewiss will ich nicht leugnen, dass es gute Gründe Vgl. z. B. die einflussreiche Arbeit von Gerhardt (1986). Für weitere bibliographische Hinweise siehe unten S. 73. 10 Für eine genauere Bestimmung der »reduktiven Interpretation« des Begriffs der Handlung siehe unten S. 79 ff. 9
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für diese Lesart gibt. Ich will aber versuchen, eine m. E. bessere Interpretation von Kants Handlungsbegriff vorzunehmen. Ich werde mich auf den Begriff der »intentionalen Handlung« konzentrieren und zu zeigen versuchen, dass man Kants Thesen bezüglich dieses Begriffs unabhängig von Kants Substanztheorie rekonstruieren kann. Und ich denke, auf diese Weise wird man Kant besser gerecht. Die traditionelle Lesart hat demgegenüber unkritisch angenommen, dass Kant im Rahmen der praktischen Philosophie mit dem Wort »Handlung« dasselbe meine wie in der zweiten Analogie der Erfahrung. 11 Rückt man von dieser Vorannahme ab, dann kann man, so meine Arbeitshypothese, Kants Gedanken über den Begriff des absichtlichen Handelns besser verstehen. Man wird dann herausfinden, dass Kant eine nichtreduktive, d. i. nicht »kausale« Handlungskonzeption dargelegt hat. Daher ist die in der gegenwärtigen Literatur zu Kants Handlungstheorie übliche Neigung, Kants Gedanken bezüglich des Begriffs des absichtlichen Handelns mit der Theorie Davidsons zu vergleichen, eigentlich irreführend. Das zweite Kapitel der Untersuchung dient unmittelbar der Prüfung dieser These. Ich versuche dort zu zeigen, dass Kants Annahmen und Davidsons Annahmen voneinander stark abweichen. Besonders wichtig ist, in diesem Rahmen darauf aufmerksam zu machen, dass Davidsons Fragestellung von Voraussetzungen abhängig ist, die Kant nicht teilen kann. Demzufolge wäre für Kant die für Davidson brennende Frage, ob »Gründe Ursache« sind, ohne Interesse. Mehr noch: Davidsons Projekt ist ein Versuch, eine reduktive Definition des Begriffs des absichtlichen Handelns ausfindig zu machen, während Kant sich selbst diese Aufgabe nicht gestellt hat. Es gibt sogar gute Gründe zu glauben, dass er diese Aufgabe als eine Aufgabe ansehen würde, die die Philosophie sich selbst nicht stellen darf. Hätten die reduktiven Analysen nicht so viele Probleme, wie sie tatsächlich haben, wäre dies vielleicht eine Tatsache, die gegen Kants Handlungskonzeption sprechen würde. Aufgabe des zweiten Kapitels ist auch zu zeigen, dass sowohl Davidsons Projekt als auch die reduktiven Strategien, die in den letzten Jahren verfolgt worden sind, eigentlich viel problematischer sind als früher angenommen. Dies spricht dann für alternative philosophische Untersuchungen bezüglich des Handlungsbegriffs. Kant bietet eine Alternative an. Dies behaupten Autor*innen wie Gerhardt explizit (Gerhardt 1986, 129), andere nehmen es implizit an.
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Es wurde oben gesagt, dass Kant wenig über den Begriff der Handlung sagt. Und dass, wenn er etwas sagt, er dies in der Regel im Rahmen der theoretischen Philosophie sagt, nämlich wenn er Begriffe wie »Ursache« oder »Substanz« untersucht. Deswegen könnte man sich fragen (wie die Kant-Forschung es schon getan hat), ob die Rede von einer kantischen Handlungstheorie sinnvoll ist, nämlich ob die Rede von einer Theorie des absichtlichen Handelns bei Kant gerechtfertigt ist, da er im Rahmen der praktischen Philosophie diesen Begriff nun einmal kaum untersucht. Nicht nur hat Kant wenig darüber gesagt. Mehr noch: Er hat, wie erwähnt, viele Annahmen nicht geteilt, die für die Fragestellung der relevanten Handlungstheoretiker der Gegenwart notwendig sind. Viele Autor*innen denken, dass es nicht angebracht ist, Autor*innen der Vergangenheit auf solche Themen hin zu befragen, die so, wie wir sie heute verstehen, nicht zum Horizont der Philosoph*innen der Vergangenheit gehörten. Es gebe Fragen, die einfach unzeitgemäß seien. Und als Leser von Texten der Vergangenheit tue man nicht gut daran, wenn man den Philosoph*innen der Vergangenheit solche unzeitgemäßen Fragen stelle. Denn wenn man Texte der Vergangenheit interpretiert, müsse man sich an das halten, »was im Text steht«, und es vermeiden, die eigenen Gedanken in die Gedanken des jeweiligen Autors hineinzuprojizieren. Das erste Kapitel dient der Aufgabe, eine abweichende Position zu verteidigen. Es ist zwar richtig, dass man nicht die eigenen Gedanken in die Gedanken anderer Philosoph*innen hineinprojizieren soll. Aber es ist durchaus sinnvoll, Autor*innen der Vergangenheit Fragen zu stellen, die erst in der Gegenwart in dieser Form aufgetaucht sind. Es ist auch sinnvoll, Autor*innen nach Problemen zu fragen, die sie nicht intentione recta thematisiert haben. Fragt man Kant oder besser Kants Texte nach der Struktur des intentionalen Handelns, wird man mit Sicherheit interessante Antworten finden. Darüber hinaus ist es eine wichtige Aufgabe der Geschichte der Philosophie, genau solche unzeitgemäßen Fragen zu stellen. Diese Auffassung von der Aufgabe der Geschichte der Philosophie ist im Rahmen der Kant-Forschung in den letzten Jahrzehnten von prominenten Autor*innen abgelehnt worden. Das erste Kapitel ist ein Versuch, die erwähnte Auffassung von der Aufgabe der Geschichte der Philosophie besonders im Rahmen der Kant-Forschung zu verteidigen. Stellt man Kant die Frage nach dem absichtlichen Handeln, wird man herausfinden, dass er, obwohl er wenig sagt, doch vieles zu sagen Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Einleitung
hat. In den Kapiteln drei und vier versuche ich, die Antwort Kants auf diese Frage zu rekonstruieren. Dazu muss man, so meine These, die kantische Theorie der praktischen Urteile untersuchen. Praktische Urteile sind für Kant Maximen und Imperative. Als Urteile sind sie Gebilde, die eine logische Form haben. Und als unterschiedliche Arten von Urteilen haben sie unterschiedliche Formen. Die Dinge liegen hier allerdings nicht so einfach. Denn Kant hat beide Ausdrücke, wie zu sehen sein wird, äquivok verwendet. Das dritte Kapitel handelt von den zwei Bedeutungen des Begriffs des hypothetischen Imperativs bei Kant und den Funktionen, die Imperativen in Kants Auffassung des absichtlichen Handelns zukommen. Ich werde diese Funktionen mit Hilfe der Struktur des sogenannten praktischen Syllogismus zu erklären versuchen. Das vierte Kapitel wird die Untersuchung des praktischen Syllogismus bei Kant vertiefen und die Ähnlichkeiten mit und Unterschiede zu Aristoteles’ Theorie des praktischen Syllogismus vorstellen. Dort wird auch der Begriff der Maxime untersucht. Es wird sich zeigen, dass Kant dieses Wort ebenfalls mehrdeutig verwendet. 12 Noch wichtiger: Es wird sich zeigen, dass im Begriff der Maxime der Kern der Antwort auf die Frage nach dem intentionalen Handeln bei Kant liegt.
Mehrdeutig können Wörter in zwei verschiedenen Formen sein, wie schon Aristoteles gesehen hat. Es gibt mehrdeutige Wörter, deren Bedeutungen keinen gemeinsamen Bezugspunkt haben (etwa »Bank« im Sinne von »Geldinstitut« und »Bank« im Sinne von »Gegenstand, auf dem man sitzen kann«). Es gibt aber auch andere mehrdeutige Wörter, deren Bedeutungen immer einen allgemeinen Bezugspunkt haben. Aristoteles’ Meinung nach war der dies bei »Seiend« der Fall, denn »Seiend« sage man immer mit Bezug auf die Substanz (Met. IV 2 1003a33 ff.). Dies ist, was die aristotelische Tradition als Homonymie pròs hén bezeichnet hat. Ob »Maxime« bei Kant bloß mehrdeutig ist oder die Bedeutungen von »Maxime« bei Kant immer einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, ist etwas, das ich hier nicht untersuchen kann. Ich vertrete aber die These, dass bei »Maxime« das letztere der Fall ist. Dies kann ich aber hier leider nicht begründen. Dies wäre eine Aufgabe, die den Rahmen dieser Arbeit überschreitet.
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Kapitel I Methodische und hermeneutische Betrachtungen
Die Gewinnung des Bewußtseins einer Situation ist aber in jedem Falle eine Aufgabe von eigener Schwierigkeit H. G. Gadamer Wahrheit und Methode, S. 307
§ 1 Was heißt und zum welchem Ziel studiert man Geschichte der Philosophie? Einige vorläufige Bemerkungen Jeder, der einen Text in Händen hält, in dem die Rede von »Handlungstheorie bei Kant« ist oder in dem ähnlichen Ausdrücke vorkommen, muss sich – unter der Annahme, dass er mit den Texten Kants gut vertraut ist – fragen, ob der Autor einer solchen Schrift den Texten Kants treu bleibt, wenn er solche Ausdrücke verwendet. Denn Kant hat offensichtlich nie solche Redewendungen gebraucht. Er hat auch der Frage nach dem Wesen der Handlung weder einen Traktat noch ein Kapitel irgendeines von ihm verfassten Werkes gewidmet. Freilich: Es gibt Stellen, an denen er das Wort »Handlung« ad hoc bestimmt. Dies ist aber ungenügend, um die Rede von einer »Theorie« oder vielleicht sogar von einer »Konzeption« des Begriffs der Handlung zu rechtfertigen. Deshalb ist es völlig verständlich, dass die Mehrheit der Gelehrten behauptet, dass Kant keine »Handlungstheorie« entwickelt hat. 13 Da Ausdrücke wie »Handlungstheorie« Vgl. z. B. Patzig: »Es kommt bei ihm [Kant, LP] nicht auf Handlungen, sondern auf Bestimmungsgründe unseres Wollens an« (Patzig 1965, S. 243, Fn. 10), Prauss: »Er [Kant LP] hat eine generelle Theorie des Handels […] nicht geliefert« (Prauss 1983, 10), Jaeschke: »Unter dem Titel ›Moralität‹ bietet Hegel somit – modern gesprochen – eine Handlungstheorie […], und zwar als Analyse der Relation zwischen Selbstbestimmung des Willens und der Handlung. Statt die erwartete Ethik zu liefern, entwirft er Grundzüge einer neuartigen Disziplin, die von Kants Ethik her nicht in den Blick geraten ist« (Jaeschke 2010, S. 382). Ähnlich Paton: »Kant unfortunately does not consider a philosophy of action to be necessary for ethics, and consequently he
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eher von Philosoph*innen des zwanzigsten Jahrhunderts verwendet werden, ist dieser Verdacht mangelnder Texttreue umso verständlicher. Trotzdem ist das Anliegen dieses Textes, zu beweisen, dass man eine vernünftige und plausible Rekonstruktion der Handlungskonzeption Kants leisten kann, wenn man auf die Signale achtet, die Kant selbst gibt. Dieser Text unterscheidet sich somit von anderen gegenwärtigen Versuchen, die mutmaßliche »Handlungstheorie« bzw. »Handlungskonzeption« Kants zu interpretieren, denn solche Versuche nehmen an, dass es eine solche »Theorie« gibt, bzw. in gewisser Form in Kants Texten vorhanden ist. 14 Hier wird nicht der Anspruch erhoben, dass das geschildert wird, »was Kant tatsächlich gesagt hat« oder sogar »gedacht hat«. Es geht vielmehr darum, Kants Behauptungen und die Ideen, die er durch diese Behauptungen mitgeteilt hat, fruchtbar zu machen. Gegen diese Strategie liegt aber der Einwand nahe, dass sie von der Verwechslung der »Geschichte der Philosophie« mit »der systematischen Philosophie« lebt. 15 Denn es sei offensichtlich, so sagt man heute, dass die »echte Philosophie« etwas ganz anderes als die »bloße Geschichte« der Philosophie sei. Man tut aber gut daran, wenn man die Dinge Schritt für Schritt analysiert. Es ist das eine, zu behaupten, dass ein Unterschied naheliegt, etwas anderes aber, diesen Unterschied auf den Begriff zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass die Philosophie eine besondere Beziehung zu ihrer Geschichte hat, und zwar eine Beziehung, wie sie wahrscheinlich keine andere Disziplin zu ihrer eigenen Geschichte hat. Auf diesen besonderen Sachverhalt haben schon viele Autor*innen aufmerksam gemacht (Vgl. z. B. Cramer 2013, Curley 1986, Donagan 1994, Gueroult 1969, Stekeler-Weithofer 2006, Wieland 1995). Aber die Meinungen der Autor*innen gehen auseinander, wenn sie die Gründe, die diesen Sachverhalt erklären, erläutern wollen. Meine erste These ist, dass die Besonderheit der Beziehung, die die Philosophie zu ihrer Geschichte hat, darin liegt, dass die Philosophie kein bloß archäologisches Interesse an ihren klassischen Texten hat; vielmehr fasst sie diese Texte auch als Quelle von philosophischen Wahrdoes not discuss these questions in any detail«. (Paton 1947, 83) Unten mehr dazu. Siehe Kap. 2 14 Etwa die Interpretation von Willaschek, die den Anspruch erhebt, keine »Rekonstruktion« zu sein. Vgl. (Willaschek 1992, S. 13). 15 Für Kritiken dieser Art siehe (Brandt 1984), (Puntel 2001), (Schönecker 2001) und (Damschen & Schönecker 2012).
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heiten auf. 16 Deswegen ist die Unterscheidung, die man z. B. sehr deutlich zwischen Physik und Physikgeschichte oder zwischen Mathematik und Mathematikgeschichte macht, im Fall der Philosophie nicht möglich, bzw. nicht möglich in derselben Form wie in den anderen Wissenschaften. Die Philosophiegeschichte ist deshalb auch Philosophie im systematischen Sinne – vorausgesetzt, dass sie sich für die alten Texte nicht als bloße Dokumente und als reine »historische Gegenstände« interessiert. Diese Auffassung des Zieles der Geschichte der Philosophie ist aber nicht unumstritten. Sie setzt eine Reihe von Thesen und Konzeptionen über die Philosophie und ihre Aufgabe voraus. Im folgenden Text werde ich zu skizzieren versuchen, welche diese Voraussetzungen sind und warum ich diese Konzeption mit ihren Voraussetzungen für richtig und sinnvoll halte. Eine vollständige und lückenlose Verteidigung dieser Auffassung kann hier jedoch nicht vollzogen werden, denn das ist nicht die Aufgabe meines Textes. Unternähme man hier eine solche Aufgabe, dann schriebe man eine ganz andere Arbeit als diejenige, die ich hier zu schreiben vorhabe. Deswegen ist es nicht meine Absicht, hier eine vollständige Verteidigung meines hermeneutischen Ansatzes zu vollbringen (angenommen, dass sie möglich wäre), sondern mein Ziel ist vielmehr, die meiner Arbeit zugrundeliegenden Prinzipien explizit und plausibel zu machen. Denn wenn man den Anspruch erhebt, dass es sinnvoll ist, eine Rekonstruktion dessen vorzunehmen, was Kant nicht sagt, was er jedoch mit Hilfe der von ihm entwickelten Ideen und Begriffe hätte sagen können, muss man dazu imstande sein, den Wert einer solchen Strategie zu verteidigen. Denn es ist offensichtlich, dass es um der reinen Wahrheitsliebe und Neugier willen interessant sein kann, die Ideen eines Philosoph*innen der Vergangenheit zu verstehen, egal ob sie richtig oder falsch sind. Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob es einen Sinn hat, zu verstehen zu versuchen, was er nicht gesagt hat. Diese Frage, so pointiert formuliert, wie sie hier formuliert wird, hilft, die Unruhe zu verstehen, die manche Autor*innen befällt, wenn die Rede von Rekonstruktion oder von einem »Dialog« mit einem Autor der Vergangenheit ist, mit dem Ziel, ihn nach etwas zu Diese ist »meine These« in dem Sinne, dass ich diese These verteidige. Sie ist aber sehr alt. Die Idee, in der Formulierung, in der ich sie hier verteidige, habe ich von W. Wieland übernommen (Wieland 1995). Man kann die These in einer anderer Form jedoch bei älteren Autor*innen wie Kant oder Hegel finden.
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fragen, worüber er tatsächlich geschwiegen hat. Denn es scheint auf den ersten Blick nicht sinnvoll zu sein, Texte mit dem Ziel zu lesen, das zu verstehen, was da nicht gesagt wird. Ein Beispiel dieser Unruhe, das aus der Feder eines Autors stammt, dessen Einfluss in der gegenwärtigen Kant-Forschung sowohl als Herausgeber von kantischen Texten als auch als Interpret dieser Texte groß gewesen ist, sind die Überlegungen von R. Brandt (Brandt 1984 und 1990, S. 365 ff.). Brandt unterscheidet zwischen zwei Interpretationsarten, die er mit den Adjektiven »subjektiv« und »objektiv« bestimmt und plädiert für die objektive Interpretation als die einzige kontrollierbare und wissenschaftliche Form der Auslegung philosophischer Texte. Da die Unterscheidung zwischen »subjektiven« und »objektiven« Interpretationen alle Interpretationen umfassen solle, so Brandt (Brandt 1994, S. 35), sei jede »nicht objektive Interpretation« eo ipso »subjektiv«. Die subjektive Interpretation sei aber unwissenschaftlich und nicht kontrollierbar: Sie »folgt in ausweglose Aporien und entspricht ungefähr den natur-›wissenschaftlichen‹ Versuchen, die Francis Bacon in seiner Idolenlehre auf ein Prinzip bringt: statt der Gegenstände selbst werden die eigenen Hirngespinste und Spekulationen betrachtet« (Brandt 1984, S. 44). 17 Wie erkennt man aber eine »subjektive InterBrandts Meinung nach seien auch die »subjektiven« Interpretationen durch die folgenden bezeichnenden Merkmale charakterisiert: Die subjektive Interpretation »subsumiert die fremden Gedanken unter eigene Ideen und stellt die empirische Untersuchung unter ein inhaltliches Apriori. Die andere versucht umgekehrt, methodisch von den eigenen Überzeugung zu abstrahieren und objektiv zu bestimmen, was eine andere Theorie sagt und wie sie es begründet. Dort [in der »subjektiven« Interpretation, LP] versteht der Autor notwendig besser oder anders als der Autor selbst, weil dem Autor der Zusammenhang unbekannt sein muss, innerhalb dessen der Interpret post festum über ihn reflektiert; hier [in der »objektiven« Interpretation, LP] vollzieht der Interpret die im Text schon vorgesehene Leserrolle, die ihm zum Verstehen des ursprünglich Intendierten und zum kritischen Prüfen der einzelnen Beweisstücke auffordert. Dort [im Fall der subjektiven Interpretation, LP] gelten für die Rede des Interpreten und des interpretierten Autors verschiedene Regeln: seine Äußerungen sollen als bewußte und bestimmte Handlungen für den Hörer oder Leser einen nachvollziehbaren eindeutigen Aussagewert haben, die des interpretierten Autors dagegen sollen sich nach den Vorstellungen richten, die der Interpret selbst mitbringt. Bei der objektiv bestimmenden Interpretation gelten für die Aussage mit Wahrheitsanspruch grundsätzlich die gleichen Regeln: Sie werden aus dem Gesichtspunkt ihrer ursprünglichen Intention verstanden und geprüft. Die erstgenannte Form [die subjektive Interpretation, LP] ist dogmatisch und skeptisch. Dogmatisch, weil je eigene Überzeugung und Tradition zur Grundlage des Verstehens anderer Theoreme gemacht wird, skeptisch, weil implizit oder explizit das Verstehen dessen, was objektiv im fremden Text gemeint ist, als nutzlos oder nicht möglich erscheint. Die zweite
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pretation«? Unter den vielen von Brandt angedeuteten bezeichnenden Merkmalen der von ihm so genannten »subjektiven« Interpretationen ist die folgende zu finden: »dort [in der »subjektiven« Interpretation, LP] sagen Interpreten nicht nur das, was nicht ihm Text steht, sondern das, was nicht im Text stehen kann« (Brandt 1990, S. 373). Meine Interpretation sollte man aus diesem Grund als einen Versuch verstehen, eben das zu tun, was Brandt an dieser Stelle und unter dem Titel der »subjektiven Interpretation« versteht, nämlich zu versuchen, in Kants Texten Antworten auf Fragen zu finden, die er sich als solche nicht hätte stellen können. 18 Ich wollte von Anfang an vor Augen führen, dass die vorliegende Arbeit u. a. ein Versuch ist, mit einem Autor der Vergangenheit Antworten auf Fragen zu finden, die in einer Form formuliert sind, die er selbst nicht stellen konnte. Das heißt aber natürlich nicht, dass ich vorhätte, Kants Gedanken unter meine Gedanken zu subsumieren. Auch will ich nicht meine eigenen Vorstellungen darstellen, als ob sie Kants Vorstellungen wären. Vielmehr will ich die Gedanken, die man in kantischen Texten finden kann, fruchtbar machen. Auf den folgenden Seiten versuche ich, meine hermeneutische Einstellung in dieser Schrift bezüglich Kants Philosophie und Texten zu rechtfertigen, indem ich zu zeigen versuche, dass dieser Ansatz nicht nur keiForm arbeitet mit einer skeptischen Methode, nämlich Einklammerung der eigenen Wahrheitsüberzeugung, um dem Dogmatismus und Skeptizismus zu entgehen und eine prozessuale Erforschung der tatsächlichen Theorien zu ermöglichen«. (Brandt 1984, S. 32). Exemplarisch versucht Brandt auch, den Unterschied, um den es ihm geht, zu charakterisieren, indem er Arbeiten wie Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik, Wielands Platon und die Formen des Wissens oder die AristotelesInterpretation Hartmanns und Hegels Interpretation Kants als »subjektive Interpretationen« bezeichnet und kritisiert (Brandt 1984, S. 11–29). Es ist m. E. offensichtlich, dass Brandt unter dem Titel »subjektiv« viele Strategien und mutmaßliche Fehler von Autor*innen subsumiert, die m. E. nicht derselben Klasse angehören. Ich kann dies hier aber leider nicht diskutieren. 18 Ich ziehe es vor, die Grundidee des von Brandt kritisierten Vorschlags anders zu formulieren, denn der Ausdruck »sagen, was im Text nicht steht« scheint mir in diesem Kontext allzu vage zu sein. In gewissem Sinne sagt jeder Interpret, der den Text nicht einfach wörtlich wiederholt, etwas, das im Text nicht steht. Es besteht aber immer die Möglichkeit, zu versuchen, den Text zu paraphrasieren, in der Hoffnung, nicht »mehr« als der Text zu sagen. Brandts Begriff der »objektiven« Interpretation scheint mir doch etwas anspruchsvoller zu sein: Es geht darum, die »ursprüngliche Intention« des Autors ausfindig zu machen und darzustellen. (Brandt 1984, S. 31–34). »Ursprüngliche Intentionen« »stehen« manchmal im Text als solchem nicht. Mehr dazu unten S. 46 Fn. 57. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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ne der von Brandt und anderen Kritikern behaupteten Nachteile hat, sondern auch, dass er uns vielmehr zu verstehen hilft, warum wir uns mit der Geschichte der Philosophie beschäftigen.
1.a) Über den Unterschied zwischen Philosophie und Geschichte der Philosophie Meine These, dass die Philosophie kein bloß »archäologisches« Interesse an ihren klassischen Texten hat, weil sie diese Texte auch als Quelle von Wahrheiten auffasst, legt die folgende Frage nahe: In welchem Sinne kann die Geschichte der Philosophie »Quelle« von Wahrheiten sein? Es liegt auf der Hand, dass man sich für die philosophischen Texte rein als historische Gegenstände interessieren kann. Denn man kann sich immer nach der Bedeutung eines Textes der Vergangenheit (im Sinne der Absicht, mit der ein Autor einen Text geschrieben hat), nach dem von diesem Autor intendierten Publikum, nach den Bedingungen, unter denen ein Autor einen Text geschrieben hat, nach den Autor*innen, die diesen Autor beeinflusst haben usw. fragen. Stellt man solche Fragen, dann fragt man nach bestimmten »Gegebenheiten«. Man spricht dabei von »Gegebenheiten« nicht in dem Sinne, dass die Antwort auf die Fragen dem Fragenden schon »gegeben« sind, sondern deshalb, weil dabei die Frage, um es plakativ auszudrücken, die nach »Geschehenem« (oder einer »Kette von Geschehenem«) ist, das in der Vergangenheit liegt. 19 Eine relevante Frage in diesem Zusammenhang ist die Frage nach den Erklärungen für solches »gegebene« Geschehen, die in der Vergangenheit liegen. Dann stellt man sich die Frage »warum?« in einer Form, die typischerweise von der Geschichtswissenschaft verwendet wird, etwa wenn sie fragt: »Warum hat Aristoteles die Kategorienschrift geschrieben?«, »Warum hat Spinoza den theologisch-politischen Traktat veröffentlicht, nicht aber die Ethik?« usw. Wenn man sich für die Dies ist eine plakative Darstellung der Dinge, die selbstverständlich nicht so einfach liegen. Die Metapher der »Kette« legt z. B. das Bild nahe, dass die erklärenden Ereignisse in der Geschichte in einer kausalen Reihe so angeordnet sind, als ob sie »Perlen auf einer Schnur« wären. Dies ist aber nicht so, jedenfalls nicht immer. Siehe zum Problem der zeitlichen und kausalen Anordnung von Ereignissen in Erklärungen im Rahmen der Geschichte die Bemerkungen von Schnepf (Schnepf 2011, S. 89 ff.). Ich verzichte hier dennoch zugunsten meines Zieles auf weitere Bemerkungen und Komplikationen.
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Texte der Geschichte der Philosophie auf diese Weise interessiert, dann ist dieses Interesse nicht mehr »philosophisch«; oder zumindest ist es nicht »philosophisch« im »eminenten Sinne«. Anders ausgedrückt: Liest man die Texte so, werden sie nicht mehr als Quelle von philosophischen Wahrheiten erfasst, weil man dem Text keine philosophischen Fragen stellt, jedenfalls intentione recta. Das philosophische Interesse an der Philosophiegeschichte setzt jedoch voraus, dass die Lektüre der Texte der Geschichte der Philosophie auf die Entdeckung »philosophischer« Wahrheiten abzielt. Dies ist die Form, in der man philosophische Untersuchungen üblicherweise von philosophiehistorischen Untersuchungen abgrenzt. Stellt man die Dinge so dar, drängt sich natürlich die Frage nach dem Kriterium auf, mit dem man eine Frage als »philosophische« identifiziert. Philosophische Fragen seien dadurch gekennzeichnet, so eine naheliegende Antwort, dass sie sich nicht auf vergangene »Ereignisse« beziehen, wie etwa die Veröffentlichung des theologisch-politischen Traktats, die Anfang 1670 in den Niederlanden stattgefunden hat. Nimmt man die Philosophiegeschichte als Quelle von philosophischen Wahrheiten, dann nimmt man sie daher nicht nur als Quelle der Wahrheit von Aussagen, die, grob gesagt, über bestimmte vergangene Geschehnisse und die Erklärungen solcher Geschehnisse berichten (etwa als Aussagen wie »Aristoteles hat die ›Kategorienschrift‹ geschrieben 20, weil er den Grundstein seiner Urteils- und Schlußlehre darzustellen vorhatte«, oder »Spinoza hat den theologisch-politischen Traktat für ein philosophisch unausgebildetes Publikum geschrieben, das aber an die Autorität der Heiligen Schriften glaubte, 21 weil im Text die potenziellen Philosoph*innen Es ist übrigens umstritten, ob dieser Satz wahr ist. Darüber hatten die Philologen seit dem Ende der Antike verschiedene Meinungen, die seit dem neunzehnten Jahrhundert besonders heftig diskutiert worden sind. In der Antike war die Mehrheit der Kommentatoren von der Authentizität des Textes überzeugt. Alle uns bekannten Kommentatoren der Antike haben aber das Problem der Authentizität des Werks zumindest diskutiert – wenn auch bloß pro forma, denn fast alle waren sich auch darüber einig, dass das Werk aus Aristoteles’ Feder stammt. Die einzige Ausnahme ist Pseudo-Olympiodoros. Dazu vgl. (de Rijk 1951, S. 129–129) und (Bodéüs 2002, S. XC). Seit dem neunzehnten Jahrhundert gilt dieser Konsens jedoch nicht mehr. Argumente für die Authentizität des Werks liefern (Husik 1904) und (Husik 1939), (de Rijk 1951) und (Frede 1983). Gegenargumente sind in (Dupreél 1909), (Mansion 1946, S. 352), (Jaeger 1948, S. 46) und (Dumoulin 1983) zu finden. 21 Diese ist die These von L. Strauss in seinem berühmten Aufsatz How to study Spinoza’s Theologico-Political Treatise: »The Treatise is addressed, not to actual phi20
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unter den Christen angesprochen werden«, oder »wenn Locke das Verb to signify in seinen Werken verwendet hat, hat er soviel wie significare in der scholastische Logik gemeint«) 22. Liest man die Texte der Geschichte der Philosophie als Quelle von »philosophischen Wahrheiten«, muss man nach etwas anderem fragen, nämlich nach Konzeptionen oder Theorien, die sich auf Strukturen oder begriffliche Zusammenhänge beziehen, die nicht in Raum und Zeit lokalisierbar sind und die deswegen nicht in der Vergangenheit liegen können. Wir suchen in der Philosophie nach Erklärungen, die nicht das Zustandekommen gewisser Geschehnisse der Vergangenheit darlegen, sondern eher zeitinvariante begriffliche Zusammenhänge auf den Begriff bringen. Die mit Hinblick auf philosophische Interessen getriebene Geschichte der Philosophie versucht daher die Texte dieser Geschichte als Quelle der Wahrheit von Aussagen zu interpretieren, in denen es nicht mehr um die Wirklichkeit vergangener Tatsachen und ihrer Erklärungen geht, sondern eher um die Antwort auf Fragen wie: »Was ist Zeit?«, »Gibt es Erkenntnis a priori?«, »Gibt es eine moralische Pflicht zum Rechtsgehorsam?« usw. Solche Fragen beziehen sich aber schon der grammatischen Form nach nicht auf in der Vergangenheit Geschehenes. Ganz anders liegen die Dinge dagegen bei Fragen wie z. B.: »Hat Aristoteles die ›Kategorienschrift‹ geschrieben?«, oder: »Warum hat Spinoza den theologisch-politischen Traktat veröffentlicht?« Bei solchen Fragen gehe es um die Wirklichkeit bestimmter Ereignisse, nämlich gewisser Handlungen, Denkakte usw., die Aristoteles oder jemand anderes vollzogen hat. Wenn diese Vorstellung vom philosophischen Charakter einer Frage richtig ist, drängt sich die Frage auf: Warum sollte man, um solche philosophischen Fragen zu beantworten, Texte von Philosoph*innen der Vergangenheit konsultieren, die vor allem Zeugnisse von Ereignissen oder Geschehnissen der Vergangenheit zu sein scheinen, nämlich davon, was diese Philosoph*innen gedacht haben? Und von daher wird die Frage virulent: Welchen Sinn hat die ständige Beschäftigung mit der »Geschichte der Philosophie«? Anders ausgedrückt: Welchen Sinn hat es, dass man im Rahmen der philosophi-
losophers, but to potential philosophers. It is adressed […] to a class of men which is clearly more comprehensive than, and therefore not identical with, the class of actual philosophers« (Strauss 1952, S. 162–163). Dies ist in der Spinoza-Forschung aber umstritten. Vgl. z. B. (Frankel 1999, S. 897–902). 22 Vgl. (Ashworth 1984).
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schen Forschung und Lehre immer wieder die Geschichte der Philosophie untersucht, wenn es in der Philosophie um etwas anderes als die bloße Geschichte von Ideen geht? Die Frage wird noch dringender, wenn man feststellt, dass sowohl fast jeder Student als auch die Mehrheit der Philosophiegelehrten in der Regel, zumindest in der sogenannten kontinentalen Tradition, den größten Teil seiner Zeit und Arbeit in die Beschäftigung mit Texten, Thesen und Fragen der Geschichte der Philosophie investieren muss. 23 Wie ist diese massive Präsenz der Geschichte der Philosophie in philosophischen Curricula an den Universitäten und in den wissenschaftlichen Arbeiten der Philosophiegelehrten zu rechtfertigen, wenn diese Rechtfertigung überhaupt möglich ist? Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Frage nicht um eine Frage nach den wissenschaftspolitischen Gründen, die eine solche Präsenz rechtfertigen könnten, sondern eher um eine (meta)philosophische Frage, nämlich: Wie lässt sich unsere ständige Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie sachlich bzw. philosophisch verfechten, wenn es in der Philosophie nicht darum geht, die Wahrheit bestimmter historischer Behauptungen zu untersuchen, die sich auf vergangene Sachverhalte beziehen, sondern eher um die Wahrheit von Behauptungen, die sich auf Zeitinvariantes und nicht historisch-bedingte Strukturen beziehen? Die oben erwähnte Auffassung, nach der auch die Philosophiegeschichte »Philosophie in systematischen Sinne« ist, gibt eine erste mögliche Antwort auf die letzte aufgeworfene Frage, nämlich die Frage nach dem Sinn der ständigen Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie. Um diese Auffassung plausibel zu machen, muss man aber erst auf einen Punkt aufmerksam machen, der bisher noch nicht erwähnt worden ist. Denn der Begriff der »Philosophiegeschichte« oder der »Geschichte der Philosophie« vereint in einem Begriff zwei verschiedene Termini, nämlich »Geschichte« und »Philosophie«, von denen man jeweils verschiedene Konzeptionen haben kann. Dass unser Verständnis der »Geschichte der Philosophie« vom Begriff abhängt, den man von der Philosophie hat, ist etwas, auf das schon Hegel aufmerksam gemacht hat. Es setzt übrigens auch voraus, dass es verschiedene Konzeptionen der Philosophie gibt. 24 »Verständnisse« Curley berichtet, dass die Dinge in der sogenannten angelsächsischen Tradition anders liegen. Vgl. (Curley 1986). 24 »Bei anderen Geschichten steht die Vorstellung von ihrem Gegenstande fest, wenigstens seinen Hauptbestimmungen nach, – er sei ein bestimmtes Land, Volk oder 23
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der Philosophie gibt es de facto viele und es ist keine leichte Aufgabe, eines davon zu verteidigen. Dasselbe gilt für den Begriff der Geschichte. Umso komplizierter wird die Lage, wenn man nicht aus den Augen lässt, dass der Ausdruck »Geschichte« sowohl die Gegenstände des Forschungsbereichs als auch die Wissenschaft oder Disziplin selbst bezeichnet. »Geschichte« ist demnach eine Wissenschaft, aber auch der Gegenstand dieser Wissenschaft. Außerdem bezeichnet »Geschichte« die Darstellung des Geschehenen, die Erzählung. 25 Ohne weitere Komplikationen einzuführen, gilt das folgende: Das Verständnis des Ausdrucks »Philosophiegeschichte« ist vom Vorverständnis der Ausdrücke »Philosophie« und »Geschichte« wesentlich abhängig, die wiederum Termini sind, die keine eindeutige Bedeutung haben. Aus den oben erwähnten Gründen liegt es auf der Hand, dass der Ausdruck »Geschichte der Philosophie« alles andere als univok ist. Ob er rein »äquivok« ist, oder ob es einen Sinn gibt, der die focal meaning des Ausdrucks ist, kann hier offen bleiben. Will man aber die Antwort auf die Frage nach dem Sinn finden, den es hat, die Geschichte der Philosophie zu untersuchen, und zwar: rekonstruktive Geschichte der Philosophie, dann muss man klären, was hier »Geschichte der Philosophie« heißt, oder zumindest in welchem Sinn dieses Ausdrucks es sinnvoll ist zu behaupten, dass die Geschichte der Philosophie auch systematische Philosophie ist.
1.b) Kritische Betrachtung des Unterschieds zwischen Philosophie und Philosophiegeschichte Wir haben zwei Erkenntnisse gewonnen, nämlich, dass es eine naheliegende Art gibt, in der man üblicherweise einen Unterschied zwischen »Philosophie« und »Geschichte der Philosophie« macht, und das Menschengeschlecht überhaupt, oder die Wissenschaft der Mathematik, Physik usf., oder eine Kunst, Malerei usf. Die Wissenschaft der Philosophie hat aber das Unterscheidende, wenn man will den Nachteil gegen die anderen Wissenschaften, dass sogleich über ihren Begriff, über das, was sie leisten solle und könne, die verschiedensten Ansichten stattfinden«. TA 18, 15. Wie sehr die Lektüre eines Autors von den Interessen des Lesers oder seinem Vorgriff auf den Gegenstand der Philosophie abhängig sein kann, zeigt sich exemplarisch in Schnepfs Analyse der Interpretationsgeschichte der Philosophie Spinozas. Vgl. (Schnepf 1996, S. 31 ff.) 25 Diesen Unterschied hat auch schon Hegel gesehen. »Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als subjektive Seite und bedeutet ebensogut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst«. Vgl. TA 12, 83.
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dass die Bedeutung des Ausdrucks »Geschichte der Philosophie« nicht univok ist, weil die Bedeutung der Teilausdrücke »Geschichte« und »Philosophie« nicht eindeutig ist. Was den ersten Punkt angeht, muss man aber sagen: Wenn die oben erwähnte Unterscheidung zwischen »Philosophie« und »Geschichte der Philosophie« auch naheliegend sein mag, so tut man doch gut daran, sie in Frage zu stellen. Denn sie mag richtig sein; trotzdem kann man aus ihr falsche Folgerungen ziehen. Will man verstehen, in welchem Sinne diese Unterscheidung berechtigt ist, muss man erst die Annahmen offenlegen, die man macht, wenn man sie akzeptiert. Der oben gemachte Versuch, die Philosophie von der Geschichte der Philosophie abzugrenzen, stützt sich auf den Unterschied zwischen zwei Frageklassen. Sehr verbreitet ist die Meinung, dass man entsprechend auch zwei Gebiete scharf trennen kann: nämlich das Gebiet der Geschichte der Philosophie und das Gebiet der sogenannten »systematischen« Philosophie. 26 Obwohl sich über die Unterscheidung zwischen »Philosophie« und »Geschichte der Philosophie« streiten lässt, ist es eine Tatsache, dass die Mehrheit der Autor*innen (oder zumindest viele Autor*innen) sie als sinnvoll betrachtet, und dass es sich eingebürgert hat, diese Unterscheidung als mehr oder weniger selbstverständlich zu verteidigen. 27 Denn selbst wenn es sinnvoll sein sollte, die Geschichte der Philosophie als Wahrheitsquelle zu akzeptieren, bedeutet die Tatsache, dass man die Geschichte der Philosophie als Wahrheitsquelle nehmen kann, nicht notwendigerweise, dass sie als Wahrheitsquelle genommen werden muss. Dies wäre nur der Fall, wenn man kein philosophisches Problem ohne expliziten Bezug auf seine Geschichte untersuchen könnte. Dies ist aber durchaus möglich. 28 Daher scheint der oben erwähnte Unterschied Man hat das letztere sogar das Gebiet der »eigentlichen« Philosophie genannt. Vgl (Damschen & Schönecker 2012, S. 207). 27 Autor*innen wie Schönecker (Schönecker 2001), Damschen (Damschen & Schönecker 2012) und Puntel (Puntel 1991, S. 150; auch ders. 2001) halten den Unterschied für sinnvoll. Dass er sinnvoll sei, liegt auch der oben geschilderten Auffassung Brandts über die Interpretation philosophischer Texte zugrunde. Andere Autor*innen, etwa Zwenger (Zwenger 2001) oder Collingwood (Collingwood 1978, S. 68 ff.) sind aber anderer Meinung. 28 L. Puntel meint, dass die »rein interpretative Beschäftigung mit philosophischen Texten« nicht nur möglich ist, sondern dass diese Möglichkeit de facto bewiesen worden ist, weil es solche »bloß historische[n] Untersuchungen« tatsächlich gibt. Da ab esse ad posse valet illatio, sei durch die Tatsache, dass es »bloß historische Untersuchungen« gibt, belegt, dass sie auch möglich sind. (Puntel 2001, S. 142). Leider gibt 26
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zwischen den Gebieten der Geschichte der Philosophie und der systematischen Philosophie prima facie gerechtfertigt zu sein, weil wir in den beiden Fällen verschiedene Fragen stellen. Im Rahmen der »systematischen Philosophie« interessieren wir uns, so sagt man, für die philosophische Wahrheit, während im Fall der Geschichte der Philosophie es uns bloß darum geht, zu verstehen, was Philosoph*innen der Vergangenheit gesagt haben und warum sie es gesagt haben. Obwohl man hier nicht selten »bloß« in einem gewissen abwertenden Tonfall verwendet, handelt es sich dabei eigentlich primär um eine rein »deskriptive« Bestimmung der Aufgabe der Geschichte der Philosophie, nämlich: sie beschäftige sich mit dem Verstehen von Autor*innen der Vergangenheit unabhängig von allem anderen. Damit ist in der Regel vor allem gemeint: unabhängig von der Wahrheit der Thesen oder Auffassungen, die man bei ihnen zu finden pflegt. 29 Dass es möglich ist, zu versuchen, philosophische Fragen ohne expliziten Bezug auf die Geschichte dieser Fragen oder auf die Auffassung anderer Philosoph*innen zu beantworten, kann man ohne Weiteres akzeptieren. Interessanterweise behandelt man jedoch philosophische Fragen in der Regel ohne expliziten Bezug auf ihre Geschichte, wenn man die vom Leser (und vielleicht sogar vom Autor) unkritisch angenommenen Vorentscheidungen nicht thematisieren will, die eben diese Fragen sinnvoll machen. So wird typischerweise Puntel aber keinen anderen Beweis dafür, dass es diese Untersuchungen gibt, als die bloße Behauptung einiger Autor*innen, dass ihre Arbeiten bloß historisch seien. Aber dies ist genau die These, die die Autor*innen, die die Dinge anders als Puntel sehen, verneinen wollen. Puntel scheint demnach schon damit zufrieden zu sein, dass es Autor*innen gibt, die ihre Untersuchungen als bloß historisch ansehen und schließt daraus, dass es bloß historische Untersuchungen gibt. Diese Behauptungen beweisen aber nur, dass die fraglichen Autor*innen sich selbst als ›bloße Historiker*innen‹ verstanden haben. Sie besagen nichts über die Möglichkeit oder die Wirklichkeit solcher Untersuchungen. Puntel mag inhaltlich Recht haben, aber sein Argument halte ich nicht für schlüssig. 29 Vgl. (Schönecker 2001), (Damschen & Schönecker 2012). Das Prinzip, nach dem man zugunsten des Verstehens zwischen den zwei erwähnten Fragen, nämlich Fragen nach dem Sinn und nach der Wahrheit, unterscheiden muss, gehört zu den ältesten Faustregeln der Hermeneutik. Vgl. G. F. Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Versuch 47. Übrigens: Der Unterschied zwischen Fragen nach dem Sinn eines Textes und Fragen nach der Wahrheit eines Textes kann nicht als Kriterium dienen, den Unterschied zwischen »Philosophie« und »Geschichte der Philosophie« zu ziehen, denn man kann auch gegenwärtige Texte lesen mit dem Ziel, diese Texte bloß zu verstehen, ohne primär ein Urteil über die Wahrheit der im betreffenden Text beinhalteten Aussagen zu fällen.
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verfahren, wenn z. B. in philosophische Probleme eingeführt wird. 30 Manche Philosoph*innen verfahren so auch in der Hoffnung, »zur Sache selbst« vorzustoßen und auf diese Weise unnötige »Ablenkungen« zu vermeiden. Geht man so vor, dann tut man jedoch so, als ob es die philosophischen Fragen als eine »Menge« von gegebenen Fragen mit einem bestimmten wohldefinierten Umfang gäbe; eine Menge von Fragen, die quasi »an und für sich« philosophisch seien, sodass man diese Menge von der Menge der Fragen nach der Geschichte der philosophischen Fragen ohne Weiteres abgrenzen könnte. Nach dieser Abstraktion von historischen Elementen habe man, so diese Position über die Geschichte der Philosophie, Zugang zu den »echten« philosophischen Problemen. Man trennt dann das Gebiet der »sachbezogenen Fragen« (Menge der philosophischen Fragen) und der »Geschichte« von solchen »sachbezogenen Fragen« (Menge der Fragen nach der Geschichte der philosophischen Fragen). Auf diese Weise versucht man die »Geschichte der Philosophie« von der »Philosophie« oder der »eigentlichen Philosophie« zumindest idealiter zu unterscheiden. Bei dieser Abgrenzung der »Philosophie« von der »Geschichte der Philosophie« handelt es sich also um eine Unterscheidung zwischen zwei Disziplinen, die, wie gesagt, nur ideell ist. Ich nenne sie ideell, weil sie davon abhängt, dass von einer ganzen Reihe von Variablen dabei abstrahiert wird. Die Kernidee der Unterscheidung ist, dass man Fragen stellen kann, die sich nicht auf bestimmte Geschehnisse in der Vergangenheit beziehen, dass man aber auch die »Geschichte« solcher Fragen untersuchen kann: etwa, wie diese Fragen entstanden sind, warum bestimmte Denker*innen sich solche Fragen gestellt haben, was andere früher auf diese Fragen geantwortet haben usw. Die ersteren Fragen seien die philosophischen, die letzteren die historischen. Man könne also von den historisch-bedingten Elementen der philosophischen Fragen abstrahieren, und erst nach dieser Abstraktion habe man den Kern der jeweiligen philosophischen Fragen vor sich. Dies spiegele sich auch in der Grammatik der jeweiligen Fragen. Man könne z. B. fragen: Was heißt es, »gut zu handeln«? Und dies heiße nicht: was haben »die Griechen« oder irgendein Autor, eine Kultur oder eine »Weltanschauung« unter »gutem Handeln« verstanden, sondern es heiße einfach: Was ist »gutes Handeln« überhaupt? Selbstverständlich kann man auch z. B. fragen: »Was hat Kant darüber 30
Ein eminentes Beispiel dafür ist (Nagel 1987).
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geschrieben?«. Aber diese Fragen hätten als Ziel nicht mehr, die Wahrheit zu eruieren – nämlich die Wahrheit der kantischen Theorie –, sondern sie zielten darauf ab, die Ideen Kants zu verstehen. Die Frage: »Was hat Kant über X gesagt?« sei also eine Frage einer anderen Disziplin: der Geschichte der Philosophie. Diese Darstellung des Unterschieds zwischen »Philosophie« und »Geschichte der Philosophie« funktioniert, wie gesagt, nur, wenn man kraft einer Abstraktion so tut, als ob es eine mehr oder weniger wohldefinierte Sphäre der »reinen« philosophischen Fragen gäbe. Doch diese Auffassung ist nicht leicht zu verteidigen. Es ist zwar richtig, dass in der Geschichte der Philosophie eine ganze Reihe von Autor*innen der Auffassung gewesen sind, die Fragen der Philosophie seien »ewig«, und zwar in dem Sinne, dass in der Philosophie dieselben Fragen immer wieder gestellt werden. 31 Kant behauptet z. B., dass die metaphysischen Fragen diejenigen sind, die die menschliche Vernunft von Natur aus belästigen, sodass sie diese Fragen »nicht abweisen kann« (A VII). Diese Behauptung Kants gründet sich jedoch weder auf eine dogmatische Annahme noch auf die Konstatierung eines bloßes Faktums, das sozusagen für jeden Mensch »evident« ist. Sie ist vielmehr ein Ergebnis seiner Theorie der Vernunft. 32 Gäbe es keine dialektische Struktur der menschlichen Vernunft, dann gäbe es nicht diese ewigen Fragen. Gäbe es nicht erfahrungsbezogene Fragen, die diese ewigen Fragen aufwerfen, dann gäbe es diese ewigen Fragen ebenfalls nicht. Dass die menschliche Vernunft im kantischen Sinne dialektisch ist, heißt, dass diese ewigen Fragen aus ganz bestimmten Gründen gestellt werden. Man könnte deshalb sagen, dass die Rolle, die eine Frage in einem System von Fragen spielt, viel wichtiger für den philosophischen Charakter dieser Frage ist als ihr eventueller Bezug auf die Vergangenheit.
Zwar kann man bestreiten, dass es »ewige Fragen« der Philosophie gibt. Gegen diese These haben sich Autor*innen wie Collingwood oder Brandt gewendet. Vgl. (Collingwood 1978, S. 59 ff.), (Brandt 1984, S. 44 ff.). Ich halte die Einwände von Collingwood und Brandt nicht für überzeugend, aber ich kann leider auf diese Fragen hier nicht eingehen. 32 Man darf sich von der Tatsache nicht beirren lassen, dass Kant seiner KrV mit der Behauptung anfängt, dass es solche ewige Fragen gibt. Dies heißt nicht, dass er die Existenz solcher Fragen als Faktum annimmt. Es ist aber so, dass er diese Behauptung erst in der Dialektik begründen kann. Es ist übrigens nicht selten, dass Philosoph*innen ein Werk mit einer Bemerkung anfangen, die erst später im Lauf des Werks rechtfertigt werden kann. 31
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Darüber hinaus setzt die oben erwähnte ideale Trennung zwischen »Philosophie« und »Philosophiegeschichte« ein Vorverständnis der Aufgabe der Geschichte als Disziplin voraus, das zumindest fragwürdig ist. Denn die Trennung zwischen Fragen im Rahmen der Philosophiegeschichte, die nach der Wahrheit von historischen »Gegebenheiten« fragen, und Fragen nach philosophischen Wahrheiten trägt auch dazu bei, die Unterscheidung von Fragen der Geschichte der Philosophie und Fragen nach der Wahrheit von vergangenen Geschehnissen zu nivellieren – gerade so als ob die Geschichte als Disziplin sich für die Wahrheit jeder Behauptung über vergangene Geschehnisse, für bloße »Erzählungen« oder für »Chronologien« interessiere. In Wirklichkeit gehen Historiker*innen jedoch sehr selektiv vor. Nicht jedes vergangene Geschehen ist für sie interessant, sondern nur sehr wenige. Dass die erwähnte Nivellierung berechtigt ist, ist daher alles anderes als klar (wie übrigens schon viele Autor*innen gesehen haben 33), denn sie hängt von einem zumindest fraglichen Verständnis der Aufgabe der Geschichte ab. Übrigens: Auch Kants Verständnis der Geschichte und folglich der Geschichte der Philosophie ist ein anderes. 34 Er hat z. B. für den Fall der Geschichte der Philosophie behauptet, dass »eine Geschichte der Philosophie von so besonderer Art [ist], dass darin nichts von dem erzählt werden kann was geschehen ist ohne vorher zu wissen was hätte geschehen sollen, mithin auch was geschehen kann. Ob dieses vorher untersucht worden sei oder man aufs Geratewohl vernünftelt habe. Denn es ist nicht die Geschichte der Meinungen die zufällig hier oder da aufsteigen sondern der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft« (Lose Blätter AA 20 343, 10–16). Wenn die erwähnte Charakterisierung der »Geschichte« als Disziplin, die sich bloß für »Fragen der Vergangenheit« interessiere, fragwürdig ist, dann ist diese Charakterisierung im Rahmen der Geschichte der Philosophie umso fraglicher, wie Kants Zitat zeigt. Es gibt schon in der von Philosophiehistoriker*innen verwendeten Grammatik ein Indiz, das im Fall der Geschichte der Philosophie eher gegen eine solche Charakterisierung spricht, nämlich, dass Philo-
Vgl. (Collingwood 1978, S. 58) und Hegel TA 18, 15. Entsprechend hat Hegel am Anfang seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie darauf aufmerksam gemacht, dass »notwendig die Geschichte eines Gegenstandes mit der Vorstellung aufs engste zusammen[hängt], welche man sich von demselben macht«. 34 Vgl. z. B. Briefwechsel AA 12 36, 22–35; Lose Blätter AA 20 343, 10–16. 33
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sophiehistoriker*innen sich in ihren Berichten über die Philosophiegeschichte häufig des Präsens statt des Präteritums bzw. Perfekts bedienen. 35 Selbstverständlich handelt es sich nur um ein Indiz, das für sich selbst nichts beweist. Es deutet aber auf etwas hin. Wenn man der Tatsache gerecht wird, dass der Anspruch der Philosophiehistoriker*innen häufig nicht bloß der ist, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr die Gedanken der Philosoph*innen der Vergangenheit richtig zu interpretieren, dann kann man besser verstehen, worum es ihnen mit ihrer Präferenz für Präsens und Perfekt geht: Denn diese Gedanken interessieren sie nicht als Vollzüge, die in der Vergangenheit liegen, sondern als Ideen, nämlich als zeitinvariante Positionen bezüglich bestimmter Probleme oder Fragen. Daher muss man die Konsequenz ziehen, dass die oben erwähnte Charakterisierung zu kurz greift. Denn die Philosophiegeschichte geht, auch in den Fällen, in denen sie »bloß interpretatorische« Ansprüche erhebt, d. i. wenn sie getrieben wird, ohne die Frage nach der Wahrheit der vergangenen Lehrmeinungen direkt zu stellen, über das Niveau der bloßen Erzählungen oder Berichte von vergangenen Sachverhalten hinaus. Schon in der Geschichte der Philosophie geht es darum, zu interpretieren, und nicht bloß darum, zu berichten, was in der Vergangenheit geschehen ist. Es ist zwar richtig, dass man z. B. im oben erwähnten Fall der »Kategorienschrift« des Aristoteles zwischen zwei Fragen sehr eindeutig unterscheiden kann, die auch klar verschiedene Ziele haben, nämlich der Frage nach der Autorschaft der »Kategorienschrift« und der Frage nach der Wahrheit der mutmaßlichen aristotelischen »Kategorienlehre«, wenn es diese »Lehre« gibt. Angenommen, dass die Autorschaftsfrage sich erledigt hat, sodass man mit Sicherheit behaupten kann, dass Aristoteles dieses ganze Werk geschrieben hat, so stellt man sich die Frage nach der Bedeutung der Aussagen des Textes als die Frage nach der Bedeutung von Aussagen des Aristoteles. Die Frage nach der Bedeutung des Textes, bzw. der Sätze des Textes ist aber sehr schwierig zu beantworten. Denn es ist das eine, zu Diese unscheinbare Bemerkung hat der Historiker J. G. A. Pocock mit einer eher kritischen Intention gemacht. Pocock behauptete auch, dass das, »was die Philosoph*innen als Geschichte der Philosophie bezeichnen, […] weitgehend ein Versuch [ist], Texte der wichtigsten Philosoph*innen in Texte unserer Zeit zu verwandeln«, zit. bei (Donagan 1994, S. 1). Der Sache nach hat Pocock m. E. völlig Recht. Nur ist es schade, dass er die Bemerkung als Kritik an den Philosophiehistoriker*innen vorgebracht hat.
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wissen, dass Aristoteles in der »Kategorienschrift« z. B den folgenden Satz geschrieben hat: δεύτεραι δὲ οὐσίαι λέγονται, ἐν οἷς εἴδεσιν αἱ πρώτως οὐσίαι λεγόμεναι ὑπάρχουσιν, ταῦτά τε καὶ τὰ τῶν εἰδῶν τούτων γένη (Cat. 2a14–16). Etwas anderes ist es, die Bedeutung dieser Worte zu verstehen. Und noch etwas anderes ist es, nach der Bedeutung solcher Aussagen im Rahmen des Opus Aristotelicum zu fragen. Diese Fragen sind zwar »bloß interpretatorisch« und auch »bloß historisch«, wie man häufig heutzutage im gewissen Zirkeln in eher abwertendem Tonfall zu sagen pflegt. Dies ist auch der Fall bei Fragen wie: »Welche Funktion haben die zehn Kategorien im Werk des Aristoteles?«, »Warum nennt Aristoteles in seinen Werk nur zweimal den vollständigen Katalog der Kategorien, die er in der ›Kategorienschrift‹ analysiert?«, »Welchen Sinn hat die im fünften Kapitel der ›Kategorienschrift‹ vollzogene Unterscheidung zwischen erster Substanz und zweiter Substanz?«, »Ist die Substanzlehre der ›Kategorienschrift‹ mit der Substanzlehre des Aristoteles im siebten Buch der ›Metaphysik‹ verträglich?«, »Wenn ja, wie?«, »Wenn nein und die beiden Lehren doch aristotelisch sind, welche hat er zuerst verteidigt?«, »Oder hat er diese Unverträglichkeit nicht gesehen?« Freilich: Bei solchen Fragen fragt man nicht nach der Wahrheit irgendeines Satzes oder einer Behauptung über zeitunabhängige Strukturen. Solche Fragen sind in diesem Sinne »historisch«. Aber daraus folgt nicht, dass sie bloß nach Gegebenheiten fragen oder dass sie systematisch unbeladen wären. Interpretatorische Fragen in der Geschichte der Philosophie haben einen seltsamen Charakter, weil sie die Antwort auf »systematische Fragen« voraussetzen. Dies gilt häufig selbst auf dem »bloß philologischen« Niveau, nämlich, wo man nach der Antwort auf Autorschaftsfragen sucht. Es ist keineswegs selten, dass die Unverträglichkeit der Thesen eines Textes mit den bekanntesten Werken eines Autors als Indiz dafür gilt, dass die beiden Texte nicht aus der Feder desselben Autors stammen. Eben dies ist der Fall bei der Frage nach der Autorschaft der »Kategorienschrift«: Eines der wichtigsten Argumente, die die Gegner der These von der aristotelischen Autorschaft dieses Textes immer wieder ins Spiel bringen, ist das Argument, die »Zwei-Substanzen-Lehre« sei unaristotelisch, d. h. sie stehe nicht im Einklang mit den anderen Texten des Aristoteles, in denen er sich über die Substanzlehre äußert. 36 Vgl. z. B. Met. VII 1038b ff. Für dieses Argument gegen die Authentizität der »Kategorienschrift« vgl. z. B. (Mansion 1946, S. 352).
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Aber dies setzt schon die Antwort sowohl auf die Frage nach der Bedeutung des Textes als auch auf die Frage nach der richtigen Interpretation der Substanzlehre des Aristoteles als auch auf Fragen bezüglich der allgemeinen Substanzlehre in der Philosophie voraus – wie etwa auf die Frage, welche möglichen Substanzlehren kompatibel bzw. inkompatibel sind. Die Behauptung, dass zwei Thesen inkompatibel sind, ist immer eine systematische Behauptung, jedenfalls ist sie systematisch beladen. Außerdem gilt: Nur wenn man zumindest über ein Vorverständnis der untersuchten Lehre und über gewisse Vorurteile bezüglich dessen verfügt, was in einer solchen Lehre möglich ist, kann man ein Urteil über die Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit zweier Positionen fällen. Das kann man sehr eindeutig feststellen, wenn man einen weiteren Schritt in der exemplarischen Analyse der Interpretation der »Kategorienschrift« vollzieht. Interessanterweise hat die Substanzlehre der »Kategorienschrift« bei den Kommentatoren der Antike keine Zweifel bezüglich der Authentizität der Schrift erweckt. Man kann diese Spannung zwischen der antiken und der modernen Interpretation des Textes nur verstehen, wenn man beachtet, dass die beiden Traditionen von Interpreten ein unterschiedliches Vorverständnis der Texte des Aristoteles hatten. Dementsprechend haben die Kommentatoren der Antike die Substanzlehre der »Kategorienschrift« nicht nur nicht als einen Beleg für die Nichtauthentizität des Textes interpretiert, sondern sie haben diese Lehre vielmehr als eine Bestätigung eines Prinzips gewertet, das für sie als eines der wichtigsten hermeneutischen Leitprinzipien in der Interpretation des Aristoteles galt: nämlich, dass Aristoteles sich in der platonischen Tradition bewege, die die Existenz einer Ordnung von abgetrennten, unbeweglichen und intelligiblen Substanzen annimmt (vgl. Bodéüs 2002, S. XCII). Aber nicht nur das: Viele Kommentatoren der Antike haben auch argumentiert, dass das Werk authentisch sein muss, weil andernfalls die ganze aristotelische Logik (Olimpiodoros In Cat. 24, 10) 37 oder sogar die ganze Philosophie des Aristoteles »ohne Kopf« bliebe (vgl. Simplikios In Cat. 18, 14–16). 38 Dies zeigt, dass sie eine Olympiodoros In Cat. 24, 9–11: εἰ μὴ δῶμεν γνήσιον εἶναι τοῦ Ἀριστοτέλους τὸ σύγγραμα, ἀκέϕαλος ἔσται ἡ λογικὴ πραγματεία. 38 Simplikios In Cat. 18, 14–16: πρὸς δὲ τούτοις μὴ τούτου προγραϕέντος τῷ Ἀριστοτέλει τοῦ βιλίου ἄναρχος ἄν ἦν καὶ ἀκέϕαλος καὶ πᾶσα μὲν ἡ Αριστοτέλους ϕιλοσοϕία, ἐξαιρέτως δὲ ἡ λογικὴ πραγματεία. 37
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Interpretation der ganzen Logik (Olimpiodoros) bzw. sogar der ganzen Philosophie (Simplikios) vorausgesetzt haben. Es liegt auf der Hand, dass die Argumente von Olimpiodoros und Simplikios eine Interpretation von essenziellen Aspekten der Metaphysik, der Logik oder sogar der ganzen Philosophie des Aristoteles voraussetzen. 39 Schon die Antwort auf die Autorschaftsfrage wird von dem philosophischen und interpretatorischen Vorverständnis der Leser geprägt. 40 Der Umgang der Kommentatoren der Antike mit der »Kategorienschrift« ist zugleich ein paradigmatisches Beispiel der Konzeption des Verstehens in der Philosophie Heideggers und Gadamers. Verstehen gibt es nur unter der Bedingung eines bestimmten Vorgriffs auf den verstandenen Gegenstand (vgl. Heidegger SZ § 32 Gadamer GW 1 270 ff. und GW 2 57 und ff.). 41 Diese Lehre entspricht der Heidegger’schen und Gadamer’schen Interpretation des sogenannten »Zirkels des Verstehens« oder »hermeneutischen Zirkels«, nämlich der Idee, »dass man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganze verstehen« müsse (vgl. Gadamer GW 2 57). Bekanntlich haben Heidegger und Gadamer dieses Motiv unterschiedlich fruchtbar gemacht und als Ausdruck des Vorrangs des produktiven Verstehens interpretiert. 42 Es ist kein Zufall, dass Gadamer anlässlich eines Beispiels aus der Philologie auf diese Struktur zu sprechen kommt. Er verwendet vorrangig die »Erlernung von fremden Sprachen« (GW 2 57) oder besser die »Erlernung von alten Sprachen« (GW 1 296) als Beispiel solcher »zirkulären« Strukturen. Denn beim Lesen von in alten Sprachen geschriebenen Texten müssen wir erst »einen Satz konstruieren«, bevor wir imstande sind, den Sinn des
Für eine Analyse der Meinung der Kommentatoren der Antike zur Authentizität der »Kategorienschrift«, siehe (de Rijk 1951) und (Bodéüs 2002). 40 Dass angeblich bloß »philologische« Interpretationen philosophischer Texte philosophische Vormeinungen im Hintergrund haben, die aber als solche in der Regel von den Philologen nicht erkannt werden, ist ein Punkt, den Wieland sehr gut am Fall der Aristoteles-Interpretation Werner Jägers zeigt. Vgl. (Wieland 1992, S. 28). 41 »Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht« (Gadamer GW 1 271). 42 Für die Unterschiede zwischen Heidegger und Gadamer in diesem Punkt siehe (Grondin 2002, S. 46–50) für die Ähnlichkeiten siehe (Vigo 2006 S. 171 ff.). 39
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Satzes zu verstehen, wobei diese »Konstruktion« von einer antizipativen Sinnerwartung abhängig ist. 43 Bei Texten von Autor*innen der Neuzeit wie Kant stellt sich die Autorschaftsfrage in der Regel nicht. Es gibt aber andere »bloß interpretatorische« und »historische« Fragen, deren Beantwortung ein Vorverständnis von der Philosophie des Autors und damit in der Re-
Auf die Idee des »Zirkels des Verstehens« haben verschiedene Autor*innen skeptisch reagiert. Dies ist z. B. der Fall bei W. Stegmüller, der die m. E. stärkste und bestbegründete Kritik an der Rede vom »Zirkel des Verstehens« geübt hat. Er begeht aber m. E. einige wichtige Fehler. In seinem lesenswerten Aufsatz »Der sogenannte Zirkel des Verstehens« analysiert er kritisch sechs verschiedene Bedeutungen, die dieser Ausdruck haben kann. Ich kann hier leider nicht auf jedes Argument Stegmüllers eingehen, obwohl ich denke, dass vieles zugunsten »der Hermeneutiker« und gegen die Argumente Stegmüllers gesagt werden kann. Hier muss aber zumindest das folgende gesagt werden: Ziel der gesamten Analyse Stegmüllers ist, die von ihm »den Hermeneutikern« zugeschriebene These anzugreifen, nach der die »Geisteswissenschaften« sich von den »Naturwissenschaften« kraft der methodischen Auszeichnung des hermeneutischen Zirkels unterscheiden (Stegmüller 1974, S. 64). Stegmüller bestimmt die Sphäre der Autor*innen, die seine Kritik betrifft, aber nicht genau genug. Denn man darf nicht vergessen, dass es Heidegger und Gadamer nicht um den Unterschied zwischen »Erklären« und »Verstehen« geht. Umso weniger interessieren sich diese Autor*innen für diesen Unterschied als Schlüssel der angeblichen besonderen Methodik der Geisteswissenschaften, wie Gadamer in seinem Fall mehrmals betont hat. Dies mag durchaus der Fall sein bei den Autor*innen der »romantischen Hermeneutik«, etwa Schleiermacher oder Dilthey, aber es gilt nicht für Heidegger und Gadamer. Sie sind vielmehr daran interessiert, zumindest was den »hermeneutischen Zirkel« angeht, die »antizipative« Struktur zu beschreiben, die ihrer Meinung nach jeder Form von Sinnkonstitution bzw. Sinnerfahrung zugrunde liegt. Die sogenannte »Zirkularität« des Verstehens betrifft nach diesen Autor*innen jede Form des Verstehens. Deswegen wiederholt Gadamer immer wieder, dass es hier um die »ontologische Struktur« des Verstehens geht und nicht um eine Art »Methodenbuch« für die Geisteswissenschaften. Auch deswegen ist es wichtig zu betonen, dass es diesen Autor*innen weniger um die »Zirkularität« geht, die hier keine logische Struktur ist, sondern eher um das erwähnte Phänomen des antizipativen Charakters des Verstehens. Vgl. Gadamer GW I 271. Ich will hier jedoch weder die »ontologische These« Heideggers und Gadamers verteidigen, noch die methodische Besonderheit der Geisteswissenschaften, sondern nur betonen, dass wir hier einen paradigmatischen Fall dieser Theorie finden, der für die These der beiden Autor*innen spricht. Zumindest das Verstehen von philosophischen Texten weist die antizipative sinnkonstituierende Struktur auf, um die es Heidegger und Gadamer ging, weil jede Interpretation eines Textes eine Antizipation des Sinnes des ganzen Textes, bzw. der Philosophie des jeweiligen interpretierten Autors und der relevanten systematischen Fragen, voraussetzt. Diese Antizipationen haben oft nicht den Status von »Hypothesen«, wie Stegmüller sie manchmal nennt, sondern vielmehr von Annahmen, die nicht Gegenstand der jeweiligen Untersuchung sind.
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gel systematische Entscheidungen oder Bewertungen voraussetzt. Im Fall von Kant wird dies deutlich an den endlosen Diskussionen bezüglich der Entwicklungsgeschichte seiner Ideen. Solche Diskussionen wurden in der Kant-Forschung besonders anläßlich der Reaktion von Autor*innen wie B. Erdmann auf die Kant-Interpretation Hegels ausgelöst, denn die Hegel’sche Darstellung Kants stütze sich auf ein falsches Verständnis der Aufgabe der Geschichte der Philosophie. 44 Autor*innen wie Erdmann sehen die Aufgabe der Geschichte der Philosophie in der »Reproduktion« der »kausalen Entwicklung der philosophischen Probleme« (Erdmann 1878, S. IV). Das Wort »Entwicklung« setzt aber in diesem Kontext voraus, dass man irgendwie weiß, welcher der Terminus ad quem ist; dass man also den Inhalt der vollständigen Form der Ideen oder Philosophie kennt, deren Entwicklung man erklären will. 45 Nur wenn man dies nicht vergisst, kann man verstehen, warum es in der »entwicklungsgeschichtlichen« Diskussion im Rahmen z. B. der Erforschung der Werke der sogenannten vorkritischen Periode so viele verschiedene Meinungen gibt wie Interpretationen des Kerns der kritischen Philosophie. Dies kann man sehr eindeutig im Fall der Interpretation der Dissertatio de Mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis von 1770 (Dissertatio) erkennen. Jede*r Kant-Forscher*in, die/der diesen Text interpretieren will, muss eine Antwort auf die schwierige Frage nach dem Bezug dieses Textes sowohl auf die früheren Texten der Philosophie Kants als auch auf die KrV geben. Hier findet man, dass fast alle möglichen Antworten in der Kant-Forschung gegeben worden sind. Während einige Autor*innen die Dissertatio als Frühform der KrV interpretieren (vgl. z. B. Paulsen 1878 und 1924, S. 92 ff.), 46 gibt es andere,
Siehe dazu die Bemerkungen von (Irrlitz 2010, S. 45 ff.). Erdmann war sich dessen bewusst: »Sie [die Geschichte der Philosophie, LP] soll nicht sowohl zeigen, was ein philosophisches System enthält, als vielmehr, wie dasselbe geworden ist. Eine solche Erkenntnis des Inhalts ist eine unter der Voraussetzung, nicht der Zweck der Rekonstruktion der philosophischen Entwicklung. Die systematischen Auszüge, aus denen nicht wenige Darstellungen der Geschichte der neueren Philosophie bestehen, geben deshalb nicht die Geschichte selbst, sondern nur die unbehauenen Bausteine derselben« (Erdmann 1878, S. IV). 46 »Die Kritik enthalte den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen anfingen, welche sie [die Dissertatio, LP] abdisputirt hätten« (Paulsen 1875, S. 101). Paulsen Meinung nach findet man in der Dissertatio »den Entwurf einer ganzen Erkenntnistheorie aus einem Stück. Der Ganze Gedankenkreis der Kritik ist hier vorgebildet«. (Paulsen 1875, S. 115). 44 45
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die nicht so weit gehen, aber behaupten, sie sei der Anfang der kritischen Philosophie (Schmucker 1974, S. 263 und ff.). Wiederum andere betrachten sie als ein Werk, das eher in den Dogmatismus zurückfalle (vgl. Beck 1969, S. 446) oder zumindest als ein nicht kritisches Werk (z. B. Reich 1958 oder Hinske 1970). Welche Antwort die richtige ist, hängt m. E. davon ab, wie man die »kritische Philosophie« interpretiert. Sieht man in der Scheidung von »Sinnlichkeit« und »Verstand« den Kern der kritischen Philosophie, der die gesamte spätere Entwicklung Kants bestimmt, dann ist man berechtigt, die Dissertatio als eine kritische Schrift zu bezeichnen, denn die erwähnte Scheidung wird dort vollzogen. Entsprechend leugnet z. B. Reich die These des »kritischen« Status der Dissertatio ab, weil der Kern der kritischen Philosophie, seiner Meinung nach, nicht in der Scheidung von »Sinnlichkeit« und »Verstand« zu finden ist sondern in der These, dass »Alle Erkenntnis von Dingen aus bloßem reinen Verstande oder reiner Vernunft […] nichts [ist] als lauter Schein, und nur in der Erfahrung […] Wahrheit [ist]«. (Reich 1958, XVI). Andererseits ist für Paulsen die Kritik der reinen Vernunft »nichts anderes als eine spätere Ausführung« des Gedankens der Scheidung von Sinnlichkeit und Vernunft (Paulsen 1875, S. 115), weil er genau in der erwähnten Unterscheidung den Kern der kritischen Philosophie sieht. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass jede entwicklungsgeschichtliche Interpretation wohlbegründet ist, weil man unter »kritisch« alles Mögliche verstehen kann. Natürlich gibt es zahlreiche Äußerungen Kants in seinen Werken, die die verschiedenen Thesen über den Kern des »Kritizismus« kontrollierbar machen. Wichtig ist hier, eines dennoch nicht zu vergessen: Jeder, der die Entstehung gewisser Gedanken erklären will, muss über eine inhaltliche Vorstellung von den Gedanken verfügen, deren Entstehung er erklären will. Ganz analog: Derjenige, der einem Autor ein zweifelhaftes Werk wie die »Kategorienschrift« zuschreiben will, muss in der Regel über eine Vorstellung von den übrigen Auffassungen des Autors verfügen. Noch wichtiger: Eine Position wie die Reichs lässt sich nur begründen, wenn man annimmt, dass die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand nicht die von ihm als wesentliche These des Kritizismus betrachtete Konsequenz hat: die These nämlich, dass »alle Erkenntnis von Dingen aus bloßem reinen Verstande oder reiner Vernunft nichts als lauter Schein ist, und nur in der Erfahrung Wahrheit ist«. Dies ist aber noch einmal ein Punkt, der von systematischen Annahmen abhängig ist, nämlich,
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dass man mehr als nur die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand braucht, um diese neue These zu verteidigen. 47 Daraus muss man den Schluss ziehen, dass Unterscheidungen wie die oben getroffene, die zwischen verschiedenen Frageformen unterscheiden, sich ideell und abstrakt ganz einfach treffen lassen. Wenn man im Anschluss aber den Sinn solcher Fragen zu interpretieren versucht, um sie zu verstehen, sieht man schnell ein, dass beide Frageformen im Fall der Philosophie stark miteinander verknüpft sind. Gewiss: Wenn man sich mit dem Werk eines Philosoph*innen der Vergangenheit beschäftigt, kann man die eine oder andere Frage akzentuieren. Wenn man sich Fragen wie die nach der Autorschaft der Kategorienlehre oder der Rolle der Dissertatio in der philosophischen Entwicklung Kants stellt, spielen die philosophischen Ideen des Fragenden in der Regel eine untergeordnete Rolle. Sie werden nur sichtbar, wenn man sich nach dem Hintergrund der Antworten erkundigt, die dieser Fragende auf seine Fragen gibt. Richtig bleibt: Diese philosophischen Ideen, egal ob sie im Hintergrund bleiben, spielen eine entscheidende Rolle in der Interpretation philosophischer Werke. Deshalb gibt es gute Gründe, die Modelle in Zweifel zu ziehen, die das Verhältnis der Philosophie zur ihrer Geschichte als ein Art von »Schichtkuchen-Modell« denken. Solche Modelle entsprechen eigentlich überarbeiteten Versionen der oben geschilderten ideellen Trennung zwischen Philosophie und Geschichte der Philosophie. Ein Beispiel dafür ist die von L. Puntel vorgeschlagene Theorie der Beziehung der Philosophie zu ihrer Geschichte (Puntel 2001). 48 Diesem Modell nach soll es sechs Ebenen des Verhältnisses der Philosophie zu ihrer Geschichte geben, die Puntel wie folgt bezeichnet: 1) »rein historiographisch« 49, 2) »philologisch-texthistorisch-editorisch« 50, Ein anderes Beispiel der Relevanz von systematischen Vorentscheidungen in der Geschichte der Philosophie ist das Buch von M. Lenz, das zeigt, wie solche Vorentscheidungen sich auf die verschiedenen Positionen in der Debatte über Lockes Sprachkonzeption ausgewirkt haben. Vgl. (Lenz 2011, S. 18–19). 48 Es ist auch kein Zufall, dass Puntel die Tradition Heideggers und Gadamers stark kritisiert Vgl (Puntel 2001, S. 137 ff.). 49 Hierher gehören, so Puntel, »rein historische Faktoren und Gegebenheiten, die die Gestalt einer bestimmten Philosophie in einer bestimmten Zeit bzw. der Philosophie im Ganzen ihrer Geschichte prägen […] das Leben eines Philosophen in einer bestimmten Zeit, sein Wirken, seine Bedeutung in vielfältiger Hinsicht, die vom ihm verfassten Werke, die von ihm gebildete Schule, usw.« (Puntel 2001, S. 133). 50 »Ebene der Quellen im umfassenden Sinne […] die sprachschriftliche Gestalt, in 47
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3) »rein interpretativ« 51, 4) »interpretativ systematisch« 52, 5) »selbstreferentiell-systematische Thematisierung des Verhältnisses der Philosophie zu ihrer Geschichte« 53, 6) die implizit bleibende Ebene 54. Puntels Meinung nach stehen die ersten fünf Ebenen in einer linearen Ordnung, in der jede höhere Stufe die vorhergehende Stufe voraussetzt, während umgekehrt die nachfolgende Stufe nicht von der vorhergehenden Stufe impliziert wird. Daher zieht Puntel den Schluss, dass »es möglich und sinnvoll [ist], sich in rein interpretierender Absicht und Hinsicht mit der Philosophiegeschichte zu befassen« (Puntel 2001, S. 140). Puntel sieht aber ein, dass dieses Modell ein idealisiertes ist. Deswegen gesteht er, wenn er z. B. die Beziehung zwischen der zweiten und dritten Ebene analysiert – d. h. dann, wenn bezweckt wird, philosophische Texte eines Autors als Texte dieses Autors zugänglich zu machen bzw. zu edieren –, »das Nicht-Implikationsverhältnis« gelte eigentlich nur im Idealfall. Auf der so verstandenen philologisch-texthistorisch-editorischen Ebene sei eine philosophische »Interpretation« eines Textes bzw. einer Textpassage und dgl. nicht nur nicht erforderlich, sondern auch nicht angemessen (Puntel 2001, S. 141). Dass »philosophische« Interpretationen in der Edition eines Textes nicht angemessen sind, kann durchaus richtig sein. Sicher ist aber, dass man bei solchen Gelegenheiten den Text interpretieren muss, zumindest »rein intern«, d. h., dass die dritte Ebene vorausgesetzt werden muss, was gegen die von Puntel vertretene These der »linearen Ordnung« spricht.
der die Konzeption(en) eines bestimmten Philosophen vorliegt (vorliegen) […] wie sich eine bestimmte Schrift in das Gesamtschaffen eines Philosophen einordnet […] in welchem Zustand die Schriften eines Philosophen vorliegen und in welcher Weise sie Lesern zugänglich gemacht werden können«. Vgl. (Puntel 2001, S. 134). 51 In dieser Ebene werden philosophische Werke »nur interpretiert«. (Puntel 2001, S. 134). 52 »Es handelt sich hier um Interpretationen in Verbindung mit der systematischen Perspektive«. (Puntel 2001, S. 135). 53 Diese ist die Ebene, in der »das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte selbstreferentiell wird […] diese Ebene beinhaltet die eigentliche philosophische Konzeption der Philosophiegeschichte«. (Puntel 2001, S. 136). 54 Diese Ebene ist diejenige, die, so Puntel, immer vorausgesetzt wird, wenn man systematische Philosophie treibt, denn »es liegt auf der Hand, dass einer der Hauptfaktoren, die das Umfeld eines Begriffs, einer Fragestellung, eines theoretischen Instrumentariums usw. bilden, der Bezug auf die Philosophiegeschichte [ist]« (Puntel 2001, S. 139).
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Das oben erwähnte Beispiel der Autorschaft der »Kategorienschrift« gibt auch ein eindeutiges Gegenbeispiel gegen die Theorie Puntels an die Hand. Denn der These Puntels zufolge setzt die Frage der Autorschaft grundsätzlich die Ebene der reinen Interpretation des Textes nicht voraus. (Vgl. Puntel 2001, S. 141–142). Aber genau dies ist der Fall in der Diskussion über die Autorschaft der »Kategorienschrift«, in der die Teilnehmer an der Diskussion interpretatorische Prämissen voraussetzen, wenn sie z. B. wie S. Mansion argumentieren, dass das Werk nicht aus Aristoteles Feder stamme, weil die in ihm vorliegende Substanzlehre nicht kompatibel mit den anderen Werken sei, von denen wir wüssten, dass sie authentisch seien. 55
1.c) Geschichte der Philosophie sub specie veritatis Aber kehren wir zur Frage nach der Bedeutung des Ausdrucks »Geschichte der Philosophie« zurück. Es wurde oben festgestellt, dass er mehrdeutig ist. Es wurde auch festgestellt, dass es fraglich ist, dass die Philosophiegeschichte lediglich aus Erzählungen von Gegebenheiten besteht, die in der Vergangenheit liegen, wie eine gewisse Interpretation des Begriffs der »Geschichte der Philosophie« anzunehmen scheint. Will man die ursprüngliche Frage beantworten, nämlich die Frage nach dem Sinn, den es hat, einen Autor rekonstruktiv zu interpretieren, tut man vielleicht gut daran, wenn man nach der Aufgabe der Geschichte der Philosophie als Disziplin fragt. Liest man die typischerweise von Philosophiehistoriker*innen gegebenen Beschreibungen der Aufgabe der Geschichte der Philosophie, wird man normalerEntsprechend argumentiert Mansion: »Malheureusement, nous ne pouvons plus avoir la même confiance que les anciens dans l’authenticité des Catégories. Celle-ci n’a guère été contestée dans l’antiquité, encore moins au moyen âge. Mais la critique moderne s’est montrée sévère à l’égard de cet opuscule. On attend encore, il est vrai, la preuve irréfutable de son inauthenticité, mais les raisons qu’on en apporte paraissent sérieuses. Elles sont tirées aussi bien du style et du vocabulaire de l’ouvrage, que de certains points de doctrine qu’on y trouve développé. Or l’une de ces particularités de doctrine, rarement relevée d’ailleurs, concerne précisément notre sujet. Les Catégories donnent de la substance une définition autre que celle qu’on trouve communément ailleurs et cette définition ne se retrouve pas en d’autres endroits de l’œuvre du Stagirite. Cela crée évidemment une difficulté à celui qui veut entreprendre l’étude de la substance selon Aristote. On ne peut pas tenir compte de l’enseignement des Catégories au même titre que de celui des ouvrages certainement composés par le Stagirite«. (Mansion 1946, S. 352).
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weise die folgende Antwort finden: Es gehe in der Geschichte der Philosophie darum, philosophische Werke zu interpretieren. Diese Antwort legt aber eine andere Frage nahe, nämlich die Frage nach der Bedeutung der Interpretation philosophischer Werke. Dass es in der Geschichte der Philosophie um die Interpretation von philosophischen Werken geht, legt den Schluss nahe, dass es sich in der Geschichte der Philosophie darum handelt, zu verstehen, was die verschiedenen Philosoph*innen im Sinn hatten, was sie also sagen wollten, als sie ihre Werke schrieben. Denn Texte sind Produkte von Autor*innen, die jemandem etwas mitteilen wollten. Texte setzen deswegen, so sagt man üblicherweise, Absichten voraus. 56 In der Tat haben viele Philosoph*innen und Philosophiehistoriker*innen die Aufgabe der Geschichte der Philosophie als Entzifferung oder Entdeckung der Gedanken der Philosophien der Vergangenheit verstanden. Ein bekanntes Beispiel dafür stellt R. G. Collingwoods Auffassung von der Aufgabe der Geschichte dar (Collingwood 1946, S. 217 ff.). 57 Collingwoods Interpretation nach handelt es sich beim »historischen Denken« um den Versuch, die Gedanken (thoughts), die andere in der Vergangenheit gedacht haben, nachzuvollziehen (re-enact). 58 Obwohl Collingwood seine Theorie Diese Annahme ist fraglich, wie die konventionalistische Bedeutungstheorie zu zeigen versucht. (vgl. von Savigny 1983). Ich will hier aber kein Urteil über dieses Problem fällen, denn dies ist nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit. Meine These lautet aber: Selbst wenn Texte Absichten voraussetzen, geht es in der Geschichte der Philosophie nicht um die Absichten der betreffenden Autor*innen. 57 Ähnlich geht es auch Dilthey beim »Verstehen« und deshalb auch in der Geschichte darum, »aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein inneres [zu] erkennen« (GS 5 318). In der Gegenwart haben viele Autor*innen ähnliche Ideen verteidigt. Ein Beispiel ist R. Brandt, der behauptet, dass der gute Interpret »die ursprüngliche Intention« des Autors verstehen solle. Der Ausdruck »ursprüngliche Intention« legt die Vermutung nahe, dass es Brandts Meinung nach auch andere »Intentionen« des Autors gibt, die aber der Interpret nicht notwendigerweise verstehen muss. Leider erklärt er nicht, um was für Intentionen es sich dabei handeln soll. Er erklärt auch nicht, wie man »die ursprüngliche Intention« eines Autors erkennen kann oder was genau dieser Ausdruck bedeutet. Denn »ursprünglich« kann eine Intention der Zeit nach, aber auch der Sache nach sein. Diese ganze Problematik bleibt bei Brandt aber ganz unberührt. Vgl. (Brandt 1984, S. 31–34). 58 »History, then, is not, as it has so often been misdescribed, a story of successive events or an account of change … Historical knowledge is the knowledge of what mind has done in the past, and at the same time it is the redoing of this, the perpetuation of past acts in the present«. Vgl. (Collingwood 1946, S. 217–218). »When a man thinks historically, he has before him certain documents or relics of the past. His business is to discover what the past was which has left these relics behind it. For 56
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als eine allgemeine Theorie der Geschichte entwickelt hat, ist die Geschichte der Philosophie in seiner Theorie eine Unterart der Gattung, die ihn interessiert. Deswegen kommen bei Collingwood gelegentlich Beispiele von der Interpretation philosophischer Werke vor (z. B. Collingwood 1946, S. 300). 59 Die Interpretation philosophischer Texte weist bei ihm also alle Besonderheiten der Praxis der Geschichtswissenschaften auf. Seiner Auffassung nach besteht diese Interpretation, wie gesagt, darin, die Gedanken des Autors beim Schreiben des Textes im eigenen Geist nachzuvollziehen (re-enact). Diese Idee hat jedoch viele Einwände hervorgerufen. 60 Erstens ist es eher unklar, ob es überhaupt möglich ist, denselben Gedankengang wie andere Menschen zu vollziehen. Selbst wenn, wäre es schwierig oder sogar unmöglich zu wissen, ob dies gelungen ist. Darüber hinaus hat man Auffassungen, wie Collingwood sie hegt, vorgeworfen, dass sie die sprachliche Dimension vernachlässigen, die jedem kommunikativen Akt (z. B. dem, einen philosophischen Text zu schreiben) zugrunde liegt. Denn jeder Autor verwendet eine Sprache, deren Struktur nicht durch den Autor bestimmt wird, sodass es nicht selbstverständlich ist, dass die Bedeutung des Textes mit der Intention des Denker*innens übereinstimmt. 61 Collingwood jedenfalls war sich solcher möglichen Einwände bewusst und hat entsprechend versucht, sie zu widerlegen (Collingwood 1946, S. 283 ff.). Er sieht m. E. richtig, dass die Einwände sich auf ein bestimmtes Verständnis von »Gedanken« stützen, example, the relics are certain written words; and in that case he has to discover what the person who wrote those words meant by them. This means discovering the thought […] which he expressed by them. To discover what this thought was, the historian must think it again for himself« (Collingwood 1946, S. 282–283). 59 Auch (Collingwood 1978, S. 72): »The study of Plato was, in my eyes, of the same kind as the study of Thucydides«. 60 Ich erwähne hier die Einwände von A. Wood (Wood 2001). Auch Schönecker & Damschen haben interessante Einwände gegen diese Idee erhoben, ohne sie als Thesen Collingwoods zu identifizieren. Diltheys und Schleiermachers Interpretation des Verstehens ist von Gadamer mit Argumenten kritisiert worden, die denen Damschens und Schöneckers ähneln. Gadamer wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die Idee, dass Verstehen »eine Reproduktion einer ursprünglichen Produktion« ist, die Produktion im Rahmen des seelischen Lebens der verstandenen Person ist (vgl. Gadamer GW 1 301). Daher wendet Gadamer sich auch gegen die Redeweise, »sich in das seelische Leben des Autors zu versetzen«, die z. B. im Umfeld von Schleiermachers Begriff der »subjektiven Interpretation« in Erscheinung tritt. Vgl. Gadamer GW 1 297. 61 Zu diesem Einwand siehe (Damschen & Schönecker 2012, S. 208–209). Ähnlich gegen Schleiermacher siehe Gadamer GW 1 297. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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nach der diese »psychische« oder »psychologische« Vorkommnisse (tokens) 62 seien, die deswegen nicht teilbar seien, weil sie zur privaten Domäne der Vorstellungen des Denkens gehörten. Gedanken könnten daher, so der Einwand, höchstens spezifisch identisch sein, nämlich, denselben Gehalt haben. Sie könnten jedoch nicht nummerisch identisch sein, denn zumindest als zeitlich verschieden lokalisierbare Entitäten seien sie niemals identisch. Collingwoods These scheint aber zu verlangen, dass man im numerischen Sinne denselben Gedanken denkt (Collingwood 1946, S. 293). Dies nimmt Collingwood an, verneint aus diesem Grund aber, dass Gedanken psychische Entitäten der Art sind, wie sein Gegner sie annimmt. Ob es Collingwood mit seiner Strategie gelungen ist, die oben erwähnten Einwände zu entschärfen, will ich aber hier nicht beurteilen. Ich brauche es auch nicht, weil ich denke, dass das Problem der Konzeption Collingwoods in einem anderen Punkt besteht. Der gravierendste Fehler der Auffassung Collingwoods ist m. E., dass sie den wesentlichen Gegenstand der Geschichte der Philosophie verkennt. Anders als Collingwood denke ich, dass die Geschichte der Philosophie sich primär für die Werke der Autor*innen interessieren muss und weniger für die von diesen Autor*innen vollzogenen Gedanken. Damit ist nicht gesagt, dass die Gedanken der Autor*innen unwichtig sind. Zwar sind die Werke der Philosoph*innen ein Produkt von Denkenden, die uns etwas mitteilen wollten und in diesem Sinne ist es nicht nur sinnvoll, sondern auch wichtig, sich die Frage zu stellen, was der Autor sagen wollte. Dies kann man aber nur erfahren – zumindest dann, wenn man Texte eines toten Autors liest, was in der Geschichte der Philosophie immer der Fall ist – indem man die Texte dieses Autors liest – vorausgesetzt natürlich, dass man über solche Texte verfügt. Andernfalls liest man die Berichte anderer, wie es z. B. bei vielen Philosoph*innen der Antike der Fall ist; etwa bei Pyrrhon von Elis oder Sokrates oder anderen. Gleichwohl lesen wir jedenfalls Texte und informieren uns durch diese Texte über die Meinungen des jeweiligen Philosoph*innen. Eine weitere These, die ich hier begründen möchte, lautet, dass die Gedanken von Philosoph*innen der Vergangenheit in systematischer Hinsicht weniger interessant sind als die Texte, mit denen sie ihre Gedanken mitteilen. Bei Collingwood ist nicht die Rede von tokens, aber dies ist m. E. eindeutig gemeint. Vgl auch (D’Oro 2000).
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Die These, dass Texte in systematischer Hinsicht interessanter sind als die Gedanken ihrer Urheber gründet sich erstens auf die erwähnte Idee, dass Texte »der Ort sind, an dem der Autor zu Wort kommt«. 63 Texte sind daher die einzigen Mittel, durch die wir »einen Dialog« mit Philosoph*innen der Vergangenheit führen können. Selbstverständlich handelt es sich hier bei dem Gebrauch des Substantivs »Dialog« um eine Metapher, denn Autor*innen von Texten, die wir als Texte der »Geschichte der Philosophie« bezeichnen, können eigentlich nicht mehr unsere Fragen beantworten – weil sie tot sind. Man verwendet aber das Substantiv »Dialog« in diesem Fall, weil man damit die Beziehung zu bezeichnen pflegt, die man mit dem Autor eines Textes der Vergangenheit eingeht, wenn man ihn nicht als absolut abwesend behandelt, sondern als durch seine Texte präsent. In diesem »Dialog« stellen wir deshalb Fragen, auf die der Autor als anwesende Person nicht antworten kann, aber auf die Antworten vielleicht mit Hilfe der in seinen Texten ausgedrückten Ideen zu finden sind. 64 Denn Texte sind Gegenstände, die unabhängig von den Absichten des Autors etwas bedeuten, und zwar, indem sie etwas zu verstehen geben. Und dies nicht nur deswegen, weil das, »was sich ein Autor oder eine Autorin bei der Verwendung von Sätzen denkt, […] immer nur ein Bruchteil dessen [ist], was durch den allgemeinen Sprachgebrauch an Bedeutungsinterpretationen und damit an Bedeutungszuweisungen möglich ist«, wie Damschen und Schönecker zu recht sagen (Damschen & Schönecker 2012, S. 209), sondern auch, weil die Texte Normen beinhalten, die Regeln für die Antwort auf Fragen bereitstellen, die der Autor nicht zu beantworten intendiert hat. Die Philosophie und ihre Geschichte sind schon seit langem mit diesem Phänomen vertraut. Ein Beispiel dieser Erkenntnis kann man in Spinozas Theorie der biblischen Interpretation finden. Spinoza hat die Bibel zu interpretieren versucht, indem er den Text analog den wahren Ideen als norma sui verstanden hat. Auf diese Weise vermeidet er die »Aporie der Methodologie«, auf die er schon in der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes aufmerksam ge»Le texte est le lieu même où l’auteur advient« (Ricœur 1970, S. 158). Es gibt übrigens mehrere Philosophiehistoriker*innen, die diese Strategie verteidigt haben und entsprechend die Aufgabe als ein Gespräch mit den Autor*innen der Vergangenheit verstanden, in dem man Fragen an einen Text stellt, während die mutmaßliche Meinungen des Autors des Textes sekundär oder im Hintergrund bleiben. Ich denke z. B. an W. Wieland und A. Wood. Vgl (Wieland 1992, S. 9–10) und (Wood 2001, S. 195).
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macht hatte. Die Aporie hat die folgende Form: Wenn man eine Methode sucht, darf man nicht vergessen, dass die Suche nach der richtigen Methode auch eine Methode vorauszusetzen scheint, so dass wir auch eine Methode für die Entdeckung der Methode bräuchten, und so ins Unendliche. Um diese Aporie zu vermeiden, schlägt er vor, anzunehmen, dass wir über eine wahre Idee verfügen, die kein anderes Kriterium als sich selbst voraussetzt, um zu beweisen, dass sie wahr ist (TIE § 30–34; G II, 13–15). Sie ist norma sui. Versuche man dies, so werde man tatsächlich eine Idee dieser Art finden, so Spinoza. Im theologisch-politischen Traktat versucht er für die biblische Interpretation eine Hermeneutik zu entwickeln, die die Anmaßungen der damaligen Standardlesarten mit Hilfe seiner Lösung der Aporie der Methode vermeidet. Anders als die damals vorherrschenden Lesarten verwendet er weder die Vernunft noch die Tradition als Maßstab der Interpretation der Heiligen Schrift. Zu diesem Zweck genügte es ihm anzunehmen, dass die Bibel als Text die Norm ihrer Interpretation in sich beinhaltet, sodass wir nicht mehr als eine sorgfältige Untersuchung des Textes benötigen, um die Norm der Interpretation des Textes herauszufinden, die im Text selbst liegt. (Vgl. TTP Kap. 7). 65 Unabhängig davon, ob Spinoza im Falle der Bibel Recht hatte, kann man anhand dieses Falles m. E. etwas wichtiges von ihm lernen: Bei Texten besteht immer die Möglichkeit, sie so zu lesen, als ob sie die Regeln ihrer Interpretation in sich beinhalteten. Nun ist es so, dass, wenn man die Texte so liest, man Zeichen finden kann, die Antworten auf Fragen geben, die der Autor selbst sich nicht gestellt hat – wie Spinoza selbst wusste. Daher ist es sinnvoll z. B. zu fragen, was Kant, also der Autor der Kritik der reinen Vernunft, z. B. über die seit dem 19. Jahrhundert entstandenen neuen Geometrien oder über die Grundlagen der Mathematik hätte sagen können, obwohl er nicht in der Lage war, sich selbst die Frage nach der Beziehung zwischen diesen Geometrien und seiner Theorie zu stellen. Jeder ernstzunehmende und erstklassige philosophische Text beinhaltet solche Regeln, die helfen, Fragen zu beantworten, die der Autor gar nicht gestellt hat. 66 Da wir durch den Text nur bedingt Zugang zur mens auctoris haben, können die Fragen, die wir einem Text stellen, nicht von den Für den Vergleich zwischen der wahren Idee als norma sui und der Bibel bei Spinoza siehe (Walther 1991, S. 69), (Klajnman 2009, S. 211 ff.) und (Placencia 2013a). 66 Diese Idee wird auch von A. Wood und W. Wieland verteidigt. Vgl. (Wieland 1992, S. 9–10) und (Wood 2001). 65
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Absichten des Autors beschränkt werden, denn wir kennen sie nicht als solche, sondern, wie gesagt, nur durch die von diesem Autor geschriebenen Texte, oder durch Texte, die andere Autor*innen geschrieben haben. Es macht dementsprechend wenig Sinn, ex ante eine und nur eine Strategie als die einzige »interessante« zu bestimmen, wenn es darum geht, Fragen an einen bedeutenden Text bzw. Autor der Geschichte der Philosophie zu richten. 67 Nach wie vor bleibt es interessant zu erfahren, was Kant »gedacht hat«. Nur darf man nicht vergessen, dass die »rein interpretativen« Strategien gelegentlich naiv annehmen, dass die Bedeutung bzw. Referenz des Namens »Kant« (oder »Aristoteles«, »Platon« usw.) eindeutig ist, wenn man z. B. über »Kants Theorie der Freiheit« spricht. Es ist aber eigentlich so, dass, wenn man über »Kants Theorie der Freiheit« redet, »fast jedes Wort unklar« ist, wie vor kurzem J. Bojanowski aufgezeigt hat (Bojanowski 2005, S. 17). Selbstverständlich kann diese Bemerkung Bojanowskis nicht darauf abzielen, Ausdrücke der Form »Kants Theorie von X« zu verbieten; schließlich trägt sein Buch den Titel »Kants Theorie der Freiheit«. Die Bemerkung ist aber wichtig, weil, wenn von »Kants Theorie« die Rede ist, man nicht automatisch unterstellen muss, dass es um die »Gedanken« geht, die Kant im Kopf hatte. Es sollte vielmehr angenommen werden, dass es um die Gedanken geht, die der Text zu erkennen gibt. Man muss deswegen zuerst den Text verstehen und dann im zweiten Schritt die mens auctoris als einen Fluchtpunkt rekonstruieren – falls man an der Frage nach der mens auctoris interessiert ist. Denn jeder Leser wendet sich an den Text mit bestimmten Fragen und Interessen, die nicht notwendigerweise mit den mutmaßlichen Interessen der Autor*innen übereinstimmen. Wir fragen aus unseren InW. Wieland hat auf diesen Punkt m. E. zu Recht aufmerksam gemacht: »Von jedem Interpreten eines klassischen Textes darf man verlangen, dass er über die seiner Arbeit zugrunde liegenden und sie leitenden Prinzipien Rechenschaft gibt; bei der Beurteilung der Resultate dieser Arbeit gilt es dann, die Konsequenz zu prüfen, mit der diese Prinzipien angewendet worden sind. Wenig fruchtbar scheint es mir dagegen zu sein, heterogene hermeneutische Konzeptionen gegeneinander in der Hoffnung auszuspielen, eine bestimmte derartige Konzeption als allein und einzig zulässige auszeichnen zu können. Niemand bestreitet, dass es immer eine wichtige Aufgabe bleiben wird, den Inhalt der von einem klassischen Autor vertretenen Lehrmeinungen festzustellen und die Intentionen zu erschließen, die dort zum Ausdruck kommen. Doch dabei handelt es sich um eine unter vielen Aufgaben, die sich ein Interpret stellen kann. Denn er ist es, der über die Fragen entscheidet, die er an den Text und an seinen Autor stellen wird« (Wieland 1992, S. 9).
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teressen heraus und vor dem Hintergrund unserer Vorurteile. Interessiert man sich dafür, die mens auctoris so gut wie möglich zu entziffern, dann muss man sich bemühen, die eigenen Vorurteile soweit wie möglich auszuschalten. Dies ist aber nur eine Möglichkeit, Texte der Vergangenheit zu lesen. Man kann dem Text auch fruchtbar Fragen stellen, die nicht zum Horizont der Fragen gehören, die der Autor mit diesem Text beantworten wollte. Wenn man so vorgeht, kann man, wie oben formuliert, einen Text etwas fragen, das der Autor nicht hätte beantworten können. Man fragt dann nach dem, was der Autor nicht gesagt hat und in gewisser Sinne nicht gesagt haben kann. Hier drängt sich jedoch die Frage auf: Warum richten wir Fragen der Gegenwart an Philosoph*innen der Vergangenheit? Der wichtigste Grund für diesen Sachverhalt liegt darin, dass die Philosophie nicht nur textfähig, sondern auch textbedürftig ist, 68 denn man kann Philosophie, so wie wir sie heute kennen, nur mit Bezug auf Texte betreiben. Die Textbedürftigkeit der Philosophie entsteht, wie W. Wieland sagt, insbesondere dadurch, dass der Philosophie für ihre Arbeit keine Erkenntnisquellen außer dem Nachdenken zu Verfügung stehen, sodass sie besonders auf Korrekturinstanzen angewiesen ist (Wieland 1995, S. 28–29). Da anders als in den Naturwissenschaften oder den Formalwissenschaften weder die Erfahrung noch formale bzw. mathematische Methoden als entscheidende Korrekturinstanzen helfen können, widmet sich die Philosophie dem Interesse an ihrer Geschichte in der Hoffnung, »dort den Mangel an Kontrollinstanzen wenigstens kompensieren zu können« (Wieland 1995, S. 29). Die Geschichte der Philosophie hat gezeigt, dass sie reich an Texten ist, die eine Musterfunktion haben können. Dass diese Texte als Muster gelten, heißt jedoch nicht, dass sie als Wahrheitskriterium fungieren. Es bedeutet eher, dass diese Texte hilfreich sind, wenn wir unsere Hypothesen überprüfen wollen. 69 Die Philosophie interesAuf diese Idee hat schon W. Wieland hingewiesen. Vgl. (Wieland 1995, S. 28–29). Die Geschichte der Philosophie ist nicht die einzige Instanz, an die sich die Philosoph*innen gewandt haben, um den Mangel an Korrekturinstanzen zu kompensieren. Diese Funktion haben auch Instanzen wie die sogenannte normale Sprache (ordinary language) in Fall von Autor*innen wie Wittgenstein oder Austin. Entsprechend behauptet z. B. Austin, dass die Analyse dessen, »was wir sagen«, eine philosophische Methode ist. Bei dieser Methode gehe es darum, sich der Untersuchung der »normalen Sprache« als philosophischer Feldforschung (so Austins metaphorische Redeweise) zu bedienen, sodass sie uns helfen kann, ausfindig zu machen, was wir sagen sollen (what we should say). Ähnlich wie die Geschichte der Philosophie hat auch die normale Sprache im Rahmen dieser philosophischen Methode nicht das letzte Wort,
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siert sich für die Autor*innen der Vergangenheit nicht um ihrer selbst willen, sondern vielmehr, weil sie einen Fundus an Musterbeispielen für Argumentationen und Orientierungspunkten liefert. Und dies gilt ganz besonders für die klassischen Autor*innen, die sich für das Denken seit Jahrhunderten als förderlich erwiesen haben. Welche Autor*innen als »klassisch« gelten bzw. gelten müssen, ist eine Frage, die keine endgültige Antwort erlaubt. Ein rascher Blick auf die Geschichte der Philosophie wird dies bestätigen. Obwohl es richtig ist, dass kaum jemand heute am klassischen Charakter der Werke des Aristoteles zweifeln würde, ist es eine Tatsache, dass sie Jahrhunderte lang in Vergessenheit geraten waren. Der Grund ist, dass unsere Interpretation der Tradition sich mit unserer Auffassung von der Philosophie und der für sie relevanten Fragen und Methoden verändert. Deswegen sind von Belang für die Philosophie nicht nur die Texte der Vergangenheit, die jeweils als »Musterbeispiele« des Philosophierens gelten. Da unsere Idee des Kanons »dynamisch« ist, können immer neue Texte als »Korrekturinstanzen« helfen, die vielleicht später in den Kanon integriert werden können, wenn sie die Bewährungsprobe der Analyse und Untersuchung der jeweiligen scientific community bestehen. Daher sind nicht nur diejenigen Texte der Vergangenheit interessant, die eine gewisse »Nähe« zu uns haben. A. Wood hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine der wichobwohl sie, wie Austin sagt, das erste Wort hat. (Austin 1956–1957, S. 181 ff.). Diese Interpretation der Funktion der normalen Sprache für die Philosophie stützt sich auch auf hermeneutische Annahmen bezüglich der Tradition. Daher behauptet Austin, wenn er diese Methode verteidigen will: »Our common stock of words embodies all the distinctions men have found worth drawing, and the connections they have found worth marking, in the lifetimes of many generations: these surely are likely to be more numerous, more sound, since they have stood up to the long test of the survival of the fittest, and more subtle, at least in all ordinary and reasonably practical matters, than any that you or I are likely to think up in our armchairs of an afternoon the most favored alternative method«. (Austin 1956–1957, S. 182). Abermals darf man nicht vergessen, dass dies nicht heißen soll, dass die Analyse der normalen Sprache ultima ratio rerum ist, sondern dass sie die Funktion einer Kontrollinstanz spielt, die uns hilft, unsere Hypothesen zu überprüfen, etwa wie die Daten der Feldforschung, um die Metapher Austins zu verwenden. Ob Austin dieser Vorstellung immer treu geblieben ist und sich ihrer Grenzen bewusst war, halte ich für fraglich. Das ist hier aber nicht wichtig. Ähnlich wie Austin hat Wittgenstein mehrmals die kontrollierende Funktion der normalen Sprache hervorgehoben (z. B. PU §§ 66; 116; Z 124; 448) Eine ähnliche Rolle als Kontrollinstanz spielen die Logik und die formale Analyse. Hier geht es besonders darum, die Konsistenz einer Theorie zu überprüfen, also eine minimale und basale Eigenschaft, die jede ernstzunehmende Theorie haben muss. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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tigsten Funktionen der Geschichte der Philosophie darin besteht, die Auslöschung von Ansätzen zu verhindern, die uns »veraltet«, »fremd« oder »sonderbar« erscheinen (Wood 2001, S. 279). Liest man Texte der Geschichte der Philosophie mit diesem Interesse, dann liest man sie als Korrekturinstanzen für die jeweiligen philosophischen Vorurteile, die jede Generation oder philosophische Tendenz pflegt. Die Geschichte der Philosophie als Disziplin spielt, so verstanden, eine distanzierende Rolle. Es handelt sich um eine Funktion, die zur Aufgabe hat, den »Abstand« zwischen uns und den Texten der Vergangenheit zu erhalten. Auf diese Weise hilft die Geschichte der Philosophie uns auch, uns selbst besser zu verstehen, und zwar in einer Form, die für die Geschichtswissenschaft typisch ist. 70 Wichtig ist hier aber, nicht zu vergessen, dass dieser Abstand nicht bloß darin besteht, die Gegenstände der Vergangenheit als different zu betrachten, sodass man ein Bild von dem gewinnt, was früher »anders« war. Ihm wohnt auch ein produktiver Aspekt inne, denn »er läßt nicht nur die Vorurteile, die partikularer Natur sind, absterben, sondern auch diejenigen, die ein wahrhaftes Verstehen leiten, als solche hervortreten« (vgl. Gadamer GW 1 304). Daher dient die Geschichte der Philosophie auch als Korrekturund Kontrollinstanz der Philosophie, indem sie uns vor unseren Vorurteilen warnt oder uns zur Bestätigung unserer Ideen und Hypothesen dient. Deswegen ist die Beschäftigung mit den Autor*innen der Vergangenheit nicht nur durch die historische Neugier gerechtfertigt. Es sprechen auch philosophische Gründe für sie. Denn die Philosophie zieht Wahrheit aus den Texten der Vergangenheit. Und wenn wir die Texte der Tradition auf brennende Fragen der Philosophie hin befragen, mit dem Ziel, vorbildliche Antworten auf diese Fragen Auf dieses Verdienst haben schon viele Autor*innen verschiedener Traditionen aufmerksam gemacht. Einer von ihnen ist B. Williams: »The point of any history, one might suppose, is to achieve some distance from the present which can help one to understand the present« (Williams 1994, S. 258). Williams nimmt diese Idee aus einer Bemerkung Nietzsches über die Philologie in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. Da sagt Nietzsche: »So viel muß ich mir aber selbst von Berufs wegen als klassischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüßte nicht, was die klassische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß – das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit – zu wirken« (NW III 1, 243). In ähnlicher Weise haben auch Autor*innen der hermeneutischen Tradition, etwa Gadamer und Ricœur, auf die distanzierende Funktion der Geschichte aufmerksam gemacht (vgl. Gadamer GW 1 304, 311; Ricœur 1975). Ähnlich (Cramer 2013, S. 48–49).
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zu gewinnen, tun wir nichts anderes als gemeinsam mit den Autor*innen der Vergangenheit zu philosophieren. Da die Texte der Gegenstand der Geschichte der Philosophie sind, liegt eine Antwort nahe auf die Frage, die am Anfang dieses Textes gestellt worden ist. Diese Frage war, ob man berechtigt ist, an einen Text Fragen zu richten, von denen man weiß, dass der Autor des Textes sie sich zumindest in dieser Form nicht hätte stellen können. Nun ist es so, dass die Leser der klassischen Texte der Philosophie, die sich von den Vorurteilen der vermeintlich »objektiven« Interpretationen befreit haben, immer wieder die Erfahrung machen, in solchen Texten Antworten auf Fragen zu finden, die die Autor*innen dieser Texte sich nicht stellen konnten. Denn die Texte und vor allem die klassischen Texte der Geschichte der Philosophie zeigen und geben uns mehr zu verstehen, als das, was der Autor sagen wollte. Sie geben uns immer auch, wie oben gesagt, Regeln an die Hand, mit denen wir neue Antworten auf neue Fragen generieren können. Indem die Texte uns gewisse Thesen, Methoden und Normen vorstellen, zeigen sie auch Möglichkeiten auf, über den Text hinausgehende Fragen zu beantworten. Texte können uns Ideen, Methoden und Fragen anzeigen, die vielleicht nicht im Sinne des Autors waren, und die er sogar aus verschiedenen Gründen gar nicht hätte mitteilen können. Dann ist es aber völlig unberechtigt, bestimmte Fragen an einen klassischen Text bloß deshalb als unangebracht abzulehnen, weil der Autor des Textes sich diese Fragen nicht stellen konnte, bzw. nicht gestellt hat. Man tut daher durchaus gut daran, sich an Texte eines Autors wie Kant mit Fragen zu wenden, die in der Form, in der man dies tut, nur in der Gegenwart aufgeworfen worden sind. Es wäre jedenfalls nicht erstaunlich, wenn wir interessante Erkenntnisse für die gegenwärtige Diskussion gewinnen, indem wir uns an kantische Texte wenden und sie als Quelle philosophischer Wahrheiten im oben erwähnten Sinne zu Rate zu ziehen – in der Hoffnung, einen angemessenen Gesprächspartner zu finden.
§ 2 Kant sub specie veritatis lesen Es wurde oben dafür argumentiert, dass man gut daran tut, wenn man die Texte der Geschichte der Philosophie zu Rate zieht, in der Hoffnung, Antworten auf relevante philosophische Fragen zu finden, Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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selbst wenn es sich um Fragen handelt, die der Autor des Textes sich überhaupt nicht gestellt hat bzw. hätte stellen können. Es gehört zum Wesen der Philosophie, zu versuchen, Wahrheit aus historischen Texten zu ziehen. Nun stellt sich die Frage, ob das heißt, dass jeder kraft dieses hermeneutischen Prinzips alles Beliebige in einem Text finden kann, weil diesem Prinzip nach die Leser berechtigt seien, ihre eigenen Ideen in Text hineinzuprojizieren? Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: nein. Mit dem erwähnten Prinzip ist natürlich nicht gemeint, dass die philologische Umsicht unwichtig wäre. Denn mit dem Versuch, Wahrheiten aus den historischen Texten zu ziehen, hat es eine besondere Bewandtnis, da die Entdeckung philosophischer Wahrheiten in den Texten der Vergangenheit eine Reihe von hermeneutischen, philologischen und historischen Voraussetzungen impliziert. Die Bemühung um die Entdeckung philosophischer Wahrheiten in den historischen Texten setzt die Bemühung um die richtige Interpretation des Textes voraus. Und die richtige Interpretation setzt voraus, die Distanz zwischen den eigenen Meinungen und denen der interpretierten Autor*innen zu beachten. Diese Distanz kann sogar, wie oben erwähnt wurde, eine produktive Funktion haben. Die Interpretation von Kants Philosophie hat wie kaum eine andere eine ungeheure Vielfalt von methodischen und hermeneutischen Diskussionen ausgelöst. Dafür gibt es mindestens zwei gute Gründe. Erstens ist es so, dass es sich im Rahmen der sogenannten Kant-Forschung zumindest seit der Geburt der Kant-Philologie eingebürgert hat, sehr raffinierte und hochentwickelte Methoden und Werkzeuge in jeder Textinterpretation mit einzubeziehen. Und dies auf einem so ungeheuren Niveau, dass, was die Komplexitätsgrade angeht, diese Verfahren und Interpretationsmittel im Rahmen der Deutung von philosophischen Texten nur mit den von der Altphilologie erfundenen Werkzeugen und Verfahren zu vergleichen sind. 71 Zu diesen Methoden und Werkzeugen gehören u. a. die Anfertigung von detaillierten Kommentaren und Lexika, die Entwicklung von genetischen Exegesen, die Analyse der mutmaßlichen historischen Es ist deswegen kein Zufall, dass z. B. Vaihinger in seinem immer noch lesenswerten Kommentar, der auch für viele Autor*innen im Rahmen der Kant-Forschung anhaltend als vorbildlich gilt, »de[n] Bonitz’sche[n] Kommentar zu des Aristoteles Metaphysik, de[n] Weitz’sche[n] zu desselben Organon« und die »von Zeller in unvergleichlicher, muster- und meisterhafter Weise gehandhabte philologisch-historische Methode als das auf unseren Gegenstand mutatis mutandis übertragbare Ideal« bezeichnet hat. Vgl. (Vaihinger 1881, S. IV).
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Quellen der Ideen Kants, die philologische Bearbeitung der ursprünglichen Texte, die Ausgabe und Vorbereitung von kritischen Editionen usw. 72 Hätten wir ein sehr beschränktes Corpus von kantischen Werken, wie es bei den meisten der antiken Philosoph*innen der Fall ist, würde die oben geschilderte Situation der Kant-Interpretation nicht notwendigerweise so schwierige Herausforderungen für die KantForscher*innen aufwerfen, wie sie sich schon seit langem tatsächlich stellen. An dieser Stelle kommt auch ein zweiter Faktor ins Spiel, der in der Interpretation der klassischen Autor*innen der antiken Philosophie kaum eine Rolle spielt. Es handelt sich bei diesem Faktor um den enormen Umfang und die Verschiedenartigkeit des Werkes Kants. Wenn man nur daran denkt, dass wir in der Akademie-Ausgabe nicht nur über neun Bände verfügen, die die Sammlung der zeitlebens von Kants veröffentlichten Texte beinhalten, sondern auch über weitere zwanzig Bände, die den Briefwechsel, den handschriftlichen Nachlass und die Vorlesungen versammeln, dann ist man erst in der Lage zu verstehen, warum die raffinierten Instrumente der Philologie die Kant-Forschung vor so erhebliche Schwierigkeiten stellen. Nicht nur die Quantität der Texte, sondern auch deren vielfältiger Charakter ist Anlass dafür gewesen, dass eine erstaunliche Menge von Sekundärliteratur interpretatorischen Fragen der KantForschung gewidmet worden ist. Diese besondere Lage der Kant-Forschung hat entsprechend eine ungeheure Diskussion hervorgerufen über Probleme wie z. B. die Gewichtung von Quellentypen in der Kant-Interpretation, die Notwendigkeit, Kants Werke »genetisch« zu analysieren, die Datierung der handschriftlichen Texte, die Berechtigung, Texte in der Kant-Interpretation zu verwenden, die, wie die Vorlesungen, nicht direkt aus der Feder Kants stammen usw. 73 Eine Liste solcher Werkzeuge findet sich bei (Vaihinger 1881, SS. IV und ff.) und (Schönecker 2001, S. 168–169). 73 Für eine Diskussion des Problems der Gewichtung der Quellen siehe z. B. (Hinske 1995), der sich kritisch gegen die intensive Heranziehung des Nachlasses als Quelle von größerer Bedeutung als die veröffentlichten Werke Kants wendet. Die Skepsis gegenüber den Texten des kantischen Nachlasses und seinen Wert als Interpretationsquelle hat einige Autor*innen dazu geführt, auf Referenzen auf diese Texte zu verzichten. Vgl. z. B. (Bojanowski 2005, S. 19). Dafür sehe ich keinen Grund. Wichtig ist aber zu beachten, dass diese Quellen nicht denselben Status haben wie die veröffentlichen Werke oder die Vorlesungsnachschriften. Gewiss haben Reflexionen und Vorlesungsnachschriften gemeinsam, dass sie nicht für den Druck bestimmte Texte sind. Reflexionen haben dennoch in der Regel, anders als Vorlesungsnachschriften, eine »Statthalterfunktion«, wie Hinske hervorgehoben hat (vgl. Hinske 2000, S. 89). In 72
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Eine notwendige Folge dieser schwierigen Lage ist, dass der Versuch, Wahrheiten aus den kantischen Texten zu ziehen, mit der Miteinbeziehung solcher Methoden und Instrumente massiv an Komplexität und Schwierigkeit gewonnen hat. Aber diese komplexe Lage ist nicht nur aus Gründen der Verfeinerung der Methoden der kantischen Philologie entstanden. Zugleich ist die Bemühung, Kants sub specie veritatis zu lesen, umso komplizierter geworden, je anspruchsvoller und komplizierter die Instrumente geworden sind, mit denen die Philosophie heutzutage versucht, systematische Probleme anzugehen. Man kann im Fall der Logik und der Sprachanalyse leicht erkennen, dass diese Teildisziplinen der Philosophie heutzutage über Instrumente verfügen, die viel raffinierter sind als diejenigen, die Kant zur Verfügung hatte. Dies macht die Aufgabe der Kant-Forschung noch schwieriger. Übrigens ist die Tatsache, dass Kant über diese systematischen Instrumente nicht verfügt hat, keine Ausrede, die von der gegenwärtigen Philosophie entwickelten Werkzeuge in der Analyse seiner Texte nicht anzuwenden, sofern man die oben angestellten Überlegungen über die Interpretation philosophischer Texte beachtet. 74 Vielmehr gilt: Wenn wir den von jedem erstklassigen Philosoph*innen erhobenen Wahrheitsanspruch ernst nehmen, müssen wir seine Texte mit Hilfe dieser
diesem Sinne kann man die Vorlesungen Kants in der Regel als Texte lesen, die Ideen der Reflexionen bestätigen oder zurückweisen. Auch die von Kant zu Lebzeiten veröffentlichten Werke sind Gegenstand der Skepsis der Kant-Forscher gewesen, wie das Beispiel der Jäsche-Logik zeigt (dazu mehr unten, vgl. S. 137 Fn. 216). 74 Andere Autor*innen meinen, dass man nicht gut daran tut, wenn man die neuen Methoden zu Rate zieht, um die Werke eines Autors der Vergangenheit zu interpretieren. Dies scheint z. B. bei Brandt der Fall zu sein, der behauptet, dass wenn man solche Mittel mit einbezieht, man sich der alten Autor*innen nur als »Übungsfeld« bedient, »um die Schärfe und Präzision der modernen Begriffsbildung zu demonstrieren« (Brandt 1984, S. 35). Ich verstehe nicht, warum es nicht eher umgekehrt sein kann: Warum schließt Brandt an dieser Stelle die Möglichkeit aus, sich der Autor*innen der Vergangenheit als Instrument zu bedienen, um zu zeigen, wie man mit Hilfe der Ideen des jeweiligen Autors der Vergangenheit unser Instrumentarium verbessern oder drängende Fragen der Philosophie der Gegenwart besser verstehen kann? Ein Beispiel dafür findet sich z. B. bei (Wolff 2009), die versucht hat, auf die Relevanz der aristotelischen Logik für das richtige Verständnis der gegenwärtigen Logik aufmerksam zu machen, oder bei (Enskat 2005), der mit Hilfe von Platons Ideen über den Wissensbegriff eine Wissenskonzeption zu entwickeln versucht hat, die die Aporien auflösen kann, in die die gegenwärtige ›Post-Gettier‹Erkenntnistheorie geraten ist. (Enskat 2005, S. 48–98).
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Instrumente analysieren – zumindest, wenn diese Instrumente dazu systematisch geeignet sind. Die oben erwähnten Faktoren haben nicht nur eine sehr nuancierte »philologische« Diskussion im Gang gesetzt, wie oben gezeigt worden ist. Sie haben auch »metainterpretatorische« Diskussionen im Rahmen der Kant-Forschung ausgelöst, die für jede Bemühung um die Deutung von Texten aus der Geschichte der Philosophie von Belang sind. 75 In diesem Rahmen ist, wie oben geschildert, die These immer wieder wiederholt worden, man müsse klar und scharf zwischen der Frage nach der Wahrheit eines Textes und der Frage nach dem Sinn eines Textes unterscheiden. 76 Die Autor*innen, die diese These vorbringen, werfen anderen Autor*innen vor, den Bezug zu den kantischen Texten verloren zu haben. Entsprechend haben einige Autor*innen im Rahmen der Kant-Forschung vor der »Textvergessenheit« gewarnt, die zur Folge gehabt habe, dass es einen status quaestionis im Rahmen der Kant-Forschung nicht mehr gebe, weil jeder Autor seine eigenen Ideen als »kantische« verkleide (vgl. z. B. Schönecker 2005, S. VI). Infolgedessen haben mehrere renommierte Autor*innen in den letzten Jahren immer wieder ihre Unzufriedenheit mit dem Zustand der Kant-Forschung geäußert, was ihre philologische Genauigkeit angeht. D. Schönecker gehört zu den Autor*innen, die der Kant-Forschung die heftigsten methodischen Vorwürfe gemacht haben. Er hat in den letzten Jahren einen Einwand immer wieder besonders energisch zum Ausdruck gebracht: In der Geschichte der Philosophie und in der Kant-Forschung herrsche »Textvergessenheit« (Schönecker 2001, S. 174). 77 Als eine Art von »Gegengift« gegen diese Textvergessenheit hat Schönecker für die von ihm so genannte »Kommentarische Interpretation« plädiert, die die Ideale der schon vor einhundert Jahren von H. Vaihinger in seinem klassischen Kommentar zur KrV vorgeschlagenen »Kant-Philologie« (vgl. Vaihinger 1881, S. IV) hinsichtlich historischer Genauigkeit und Texttreue erfüllen soll. Es gebe, so Schönecker, einen Mangel an derartigen Interpretationen der Texte Kants (vgl. Schönecker 2001, S. 165 ff.) und dieser Mangel sei selbst ein Ausdruck der Textvergessenheit (vgl. SchönSiehe z. B. die Aufsätze in (Schönecker & Zwenger 2001). Vgl. z. B. (Puntel 2001) und (Schönecker 2001). 77 Wie oft sich dieser Topos in der Kant-Forschung wiederholt hat, hat Schönecker selbst dokumentiert (Schönecker 2001, S. 174–176). 75 76
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ecker 2001, S. 163). Obwohl ich Schönecker in einigen Punkten zustimme – denn keiner kann verleugnen, dass die mikroskopische und philologisch sorgfältige Analyse der Texte hilfreich ist – denke ich, dass seine Diagnose zumindest übertrieben ist. Man muss zu bedenken geben, dass, wie gesagt, die Situation der Bearbeitung der kantischen Texte zumindest vergleichsweise viel besser ist als bei anderen wichtigen Philosoph*innen. Erwägt man z. B., dass wir bei Autor*innen wie Hobbes, Hume, Schelling, Hegel und Heidegger nicht einmal über eine so vollständige Ausgabe ihrer Texte verfügen, wie wir sie bei Kant haben, 78 dann muss man zugestehen, dass, wenn man die Situation der Kant-Forschung mit der Situation bei anderen klassischen Autor*innen der Geschichte der Philosophie vergleicht, man bei der Kant-Forschung zumindest unter Wahrung der Relationen kaum von »Textvergessenheit« sprechen kann. Hiergegen könnte man zwar einwenden, es verkleinere nicht die Mängel der Kant-Forschung, dass die philosophiehistorische Forschung im Ganzen ebenfalls an Textvergessenheit leide. Andererseits muss man aber zugestehen, dass allen Klagen über den »aktuellen Zustand der KantForschung« und über die Defizite der Kommentare und Ausgabe der kantischen Texte zum Trotz, selbst diese dauernden und immer wieder wiederholten Plädoyers für Akribie ein Symptom dafür sind, dass die Texte nicht vollständig vergessen worden sind. Anders als Schönecker denke ich darüber hinaus nicht, dass das Vorliegen einer Pluralität von Interpretationstraditionen ein Indiz für einen Mangel an philologischer Umsicht ist. Vielmehr ist die Mannigfaltigkeit von Kant-Deutungen und die immer komplexer werdende Diskussion über die richtige Interpretationsmethode im Rahmen derselben ein Zeichen dafür, dass trotz philologischer Bemühungen die Schwierigkeit der Untersuchung der kantischen Texte sich nicht allein mit Hilfe dieser Mittel überwinden lässt. Vielmehr ist es so, dass solche Mittel und Methoden oft neue Probleme schaffen, die u. a. dazu führen, dass die Interpretationsmöglichkeiten sich noch vermehren, was wiederum Ursache einer Form von »Textvergessenheit« sein kann. Dass Schönecker Vaihinger als Vorbild der vom ihm erwünschten philo-
Freilich: Die Akademie-Ausgabe ist eine Arbeit, die viele Mängel hat. Über diese Mängel hat die Kant-Forschung detailliert berichtet. Doch im Vergleich mit den Werkausgaben von fast allen anderen Philosoph*innen von Rang ist sie eine enorme Leistung. Zu Kritik an der Akademie-Ausgabe siehe z. B. (Hinske 1968, S. 410 ff.), (Stark 2000, S. 216 ff.)
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logischen Akribie nimmt, ist dabei symptomatisch. Denn Vaihinger und seine Interpretation der »transzendentalen Deduktion der Kategorien« mit der Hilfe der sogenannten patchwork theory haben für eine ungeheure methodische Diskussion über die Grenzen und den Nutzen der genetischen Analyse von Kants Werk gesorgt. Von dieser Diskussion und der Aufdeckung der irreführenden Schlußfolgerungen, die Vaihinger mit Hilfe der »kommentarischen Interpretation« gezogen hat, profitierte die Kant-Forschung bezüglich der Interpretation der Deduktion enorm. 79 Aus Fehlern lernt man. Ich will selbstverständlich nicht leugnen, dass es »Textvergessenheit« gibt. Noch weniger will ich bestreiten, dass es eine Mannigfaltigkeit von Kant-Interpretationen, und zwar auch von widersprüchlichen Interpretationen gibt. Aber der Zusammenhang, den Schönecker und andere (z. B. G. Damschen) zwischen diesen zwei Sachverhalten sehen, halte ich für alles andere als klar. »Textvergessenheit« in der Geschichte der Philosophie sei, so G. Damschen und D. Schönecker, »ein Faktum«, das durch die Vielfalt der Interpretationen demonstriert worden sei. (Vgl Damschen & Schönecker 2012, S. 210). Dass das Vorliegen von verschiedenen und zwar mitunter widersprüchlichen Interpretationen das »Faktum der Textvergessenheit demonstriere«, halte ich mindestens für fraglich. Ich denke eher, dass das Faktum der Vielfalt der Interpretationen als ein Indiz dafür gelten kann, dass die Texte nicht immer vergessen gewesen sein können. Im Fall der Kant-Forschung denke ich darüber hinaus, dass das Faktum der Mannigfaltigkeit von Interpretationen nicht nur ein Indiz dafür ist, dass die Texte nicht vergessen worden sind, sondern es ist auch ein Indiz dafür, dass die »kritische Philosophie« ein ungeheures Potenzial hat, neue Ideen zu inspirieren oder als Alternative zu neueren Ideen zu dienen. 80 Siehe dazu die aufschlussreiche Diskussion der Thesen Vaihingers in Patons Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. Vgl (Paton 1936, S. 38 ff.). 80 K. Ameriks hat dies ebenfalls gesehen und die Idee prägnant formuliert: »The lesson of all this for the Kant scholar should be the realization that the incompleteness and complexity of Kant interpretation need not be a sign of its weakness but rather an indication that the Critical philosophy, like other truly »classical« achievements, has an ever relevant potential, and that the significance of its main doctrines can be no more fixed in place than the significance of the best recent, and still controversial, ideas of contemporary philosophers. Just as we should give up the old analytic presumption that the past can be put completely behind us, we should also give up the schoolbook historian’s presumtion that there is a complete and final interpretation that scholars could settle on regarding the most important features of a philosophy 79
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Damit will ich nicht sagen, dass die Appelle an die philologische Genauigkeit unberechtigt sind. Schon gar nicht will ich die KantPhilologie für überflüssig erklären. Zumal es auch eine Reihe von Autor*innen gibt, die sich gegen die »bloß philologische Interpretation« der Werke Kants gewandt haben und damit meinten, dass die Philologie unnötig sei. Obwohl es wenige gibt, die dies deutlich sagen, gibt es viele Kant-Interpreten, die so tun, als ob es die Kant-Forschung und die Kant-Philologie nicht gäbe. Jeder, der sich für Kant interessiert mit dem Ziel, seine Texte als Wahrheitsquellen zu untersuchen, muss die Extreme der oben erwähnten Tendenzen als die Skylla und die Charybdis seines Vorhabens betrachten: einerseits, einen scharfen Unterschied zwischen »bloß historischer Interpretation« und »systematischer Interpretation« zu ziehen; andererseits die Neigung, philologische Umsicht als unnötig für eine »philosophische Interpretation« zu diskreditieren. Man darf also nicht vergessen, dass, wenn man eine rekonstruktive Interpretation eines Autors zustandebringen will, man immer darauf achten sollte, zumindest die folgenden drei Ebenen genau zu unterscheiden: erstens die Ebene der Aussagen des betreffenden Autors (hier: Kants), zweitens die Ebene der Aussagen über den betreffenden Autor, und drittens die Ebene der Aussagen über die vom Autor analysierten Gegenstände. Die Aussagen des Autors lassen sich noch relativ einfach kontrollieren. Anders liegen die Dinge bei den Aussagen über einen Autor. Solche Aussagen sollten sich in einer kontrollierbaren Interpretation auf Texte des Autors beziehen. Es ist nicht notwendig, dass »im Text« das steht, was man über den Autor sagt, denn man kann über den Autor immer etwas behaupten, das der Autor hätte sagen können. Diese Behauptung des »Hätte-SagenKönnens« muss man jedoch mit Bezug auf Texte des Autors begründen. Wenn man z. B. wie Russell behauptet, Kant habe seine Lehre der Anschauung entwickelt, weil er »beobachtet« habe, dass die Mathematiker ihrer Zeit die für sie interessanten Theoreme ohne die Hilfe von Konstruktionen und Figuren nicht beweisen konnten, 81 as central as Kant’s. Such presumption is unrealistic not because of confusions in Kant or weakness in his interpreters but simply because Kant’s philosophy is so inextricably intertwined with our whole tradition and its ongoing redefinition of itself«. (Ameriks 2001, S. 16). 81 »Kant, having observed that the geometers of his day could not prove their theorems by unaided argument, but required an appeal to the figure, invented a theory of
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muss man einen Beleg für diese These anführen, der zeigt, dass entweder die Texte Kants dies sagen, nämlich, dass Russell hier eine Aussage Kants schildert, oder, dass dies eine Aussage über Kant ist, dergestalt, dass Russell der Meinung war, dass Kants Anlass für seine Theorie der Geometrie die besagte Beobachtung war. Ist dies so, muss man dies natürlich mit Hilfe der Texte belegen können, die dies nahelegen, zeigen oder dokumentieren. Für die willkürliche Behauptung Russells gibt es natürlich keinen Beleg und kein Indiz bei Kant. Auch gibt Russell kein Argument für seine Behauptung an, sondern bringt sie vor, als ob es sich um eine Tatsache handle. Hier sind sogar die Grenzen einer sinnvollen rekonstruktiven Interpretation überschritten. Das Beispiel zeigt, dass auch rekonstruktive Interpretationen kontrollierbar sind. Man braucht daher nicht mit R. Brandt in Kauf zu nehmen, dass, wenn man eine ›nicht objektive‹ Interpretation vornimmt (um Brandts Termini zu verwenden) diese willkürlich und nicht kontrollierbar sei. Man braucht sich m. E. nicht an eine naive Konzeption von Objektivität zu klammern, um die Idee von Kriterien, aufrechtzuerhalten, die Interpretationen kontrollierbar machen. Es ist einfach nicht wahr, dass die Ablehnung des »objektiven« Ansatzes zur Folge hat, dass die Texte »Traum-Fabelwesen« sind und dass deswegen die Forschung im Rahmen der Geschichte der Philosophie nicht über einen »invarianten« Gegenstand verfügt. (Brandt 1984, S. 23 ff.). Texte sind zwar invariante Gegenstände, aber der Sinn der Texte kann weder ein für alle Mal herausgefunden werden noch ist er unabhängig von den Fragen, die der Leser dem Text stellt.
§ 3 Fazit Hier wurde der hermeneutische Ansatz verteidigt, nach dem es sinnvoll ist, an Texte Fragen zu richten, die der Autor der Texte sich selbst vielleicht nicht hätte vorlegen können. Diese Form, die Texte von Autor*innen der Vergangenheit zu lesen, habe ich »rekonstruktiv« genannt. Anders als andere Autor*innen, die im Rahmen der gegenwärtigen Kant-Forschung eine wichtige Rolle spielen (z. B. R. Brandt oder D. Schönecker), denke ich, dass es sich lohnt, Texte auf diese mathematical reasoning according to which the inference is never strictly logical, but always requires the support of what is called »intuition«.« (Russell 1919, S. 145). Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Weise zu lesen. Zugleich habe ich wenig Vertrauen zu sich selbst so bezeichnenden »objektiven Interpretationen«, die sich nicht darüber im Klaren sind, dass jede philosophische Interpretation ein philosophisches Vorverständnis des zu interpretierenden Textes mitbringt. Der wichtigste Grund für eine Verteidigung des rekonstruktiven Ansatzes ist, dass nur wenn sie möglich ist, man verstehen kann, warum die Geschichte der Philosophie nicht nur ein »archäologisches« Interesse verfolgt. Sie ist nicht nur deswegen interessant, weil sie uns Informationen über die Entstehung wichtiger Ideen oder über das Zustandekommen der Kerntexte der Philosophie liefert, sondern auch, weil wir mit ihrer Hilfe Wahrheit erzielen können, indem wir die Texte der Geschichte der Philosophie als Kontrollinstanzen nehmen, um unsere Vorstellungen zu überprüfen. Sollen die Texte der Geschichte der Philosophie in dieser Hinsicht fruchtbar sein, müssen sie sich dazu eignen, die Fragen zumindest partiell zu beantworten, die wir an sie richten. In meiner Arbeit will ich, wie gesagt, genau diese Strategie verfolgen, um Kants Ideen über praktische Urteile für Fragen der gegenwärtigen Philosophie der Handlung fruchtbar zu machen. Ich will daher nicht »die Handlungstheorie Kants« schildern. Vielmehr will ich mit den Mitteln, die Kant zur Verfügung stellt, Fragen zu beantworten versuchen, die zum Kern derjenigen Teildisziplin der Philosophie gehören, die wir heutzutage als »Handlungstheorie« bezeichnen.
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Kapitel II Das Urteil als Leitfaden der Philosophie der Handlung bei Kant
§ 4 Handlungstheorie bei Kant? 4.a) Die Schwierigkeiten Wie oben gesagt wurde, muss jeder, der die angebliche »Handlungstheorie«, bzw. »Handlungskonzeption« 82 Kants zu untersuchen vorhat, einen naheliegenden Einwand entkräften. Denn Kant hat der Untersuchung des Handlungsbegriffs weder einen Traktat noch einen Abschnitt irgendeines seiner wichtigsten Werken gewidmet. Er hat auch nicht die »Handlungstheorie« als eine Teildisziplin der Philosophie vorgesehen. Fragen wie: Was ist eine Handlung? Sind sie Körperbewegungen oder Verhalten unter einer Beschreibung? Sind sie eine Unterart von Ereignissen? Wie unterscheiden sich Handlungen von bloßen Geschehnissen oder Widerfahrnissen? Welche Beziehung gibt es zwischen Handlungen und den begrifflichen Mitteln, mit deren Hilfe wir sie üblicherweise erklären, z. B. als Meinungen, Wünsche, Absichten usw.? Sind solche Mittel Ursachen der Handlungen? Was für eine Erklärung ist die Erklärung einer Handlung? Ist die Erklärung einer Handlung eine Art von Kausalerklärung? Welche Rolle spielt die Vernunft im Vollzug der Handlungen?, sind in der philosophischen Szene im zwanzigsten Jahrhundert mit besonderer Intensität seit der Veröffentlichung von Anscombes bahnbrechendem Buch Intention (Anscombe 1963) und den Aufsätzen von Donald Davidson (Davidson 1980 und 2004) gestellt worden. Viele dieser Fragen hat Kant sich selbst jedoch anscheinend nicht gestellt. Da Kant sich diese
Ich spreche hier unterschiedslos von »Handlungstheorie« und »Handlungskonzeption«, obwohl ich mir darüber im Klaren bin, dass die beiden Ausdrücke nicht notwendigerweise Synonyme sind. Später werde ich zwischen beiden Ebenen differenzieren und argumentieren, dass Kant implizit eine Handlungskonzeption entwickelt hat, aber keine Handlungstheorie. Vgl. oben S. 21 Fn. 13.
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Fragen (zumindest in dieser Form) nicht stellt, liegt die Frage nahe, ob die Rede von »der Handlungstheorie Kants« berechtigt ist oder nicht. In seinem Buch Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant führt M. Willaschek ähnliche Fragen auf und behauptet, dies sei »eine Liste von Problemen, die in der Philosophie unter dem Thema »Handlung« bearbeitet werden. Deshalb würde man den Versuch, auf alle der genannten Fragen systematisch zusammenhängende Antworten zu geben, sicherlich eine Handlungstheorie nennen können. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung hat Kant einen solchen Versuch unternommen. Die einzelnen Teilstücke dieser Handlungstheorie finden sich bei Kant im Kontext ganz unterschiedlicher Themen: von der Kosmologie über die Moral bis zur Religion. Dennoch sind sie dem Anspruch nach immer Teile eines systematischen Entwurfs«. (Willaschek 1992 S. 13). 83 Dass »Kant versucht hat«, auf die von mir oder von Willaschek aufgelisteten Fragen systematisch zusammenhängende Antworten zu geben, ist m. E. alles andere als klar. Viele dieser Fragen werden mit Hilfe von Begriffen formuliert, die in Kants Theorie gar keine Rolle spielen oder die ihm fremd waren. Dies wäre natürlich kein Problem, wenn solche Begrifflichkeiten in der gegenwärtigen Diskussion nicht mit anderen Annahmen verbunden würden, von denen fraglich ist, ob sie mit der kantischen Fragestellung und Position in Einklang stehen. Dies scheint z. B. beim Begriff des Ereignisses der Fall zu sein, der in der aktuellen Debatte in der Handlungstheorie besonders wichtig ist im Rahmen der Diskussion der These, ob Gründe Ursachen sind. 84 Nun setzt diese gegenwärtige Diskussion in der Regel den Konsens über das sogenannte Hume’sche Modell der Kausalität voraus, in dem die Kausalität ausschließlich als eine Beziehung zwischen Ereignissen gedacht wird (siehe unten S. 79 ff.). Es ist aber fraglich, ob Kant diese These akzeptieren würde. Denn Kant scheint Hier ist die Liste Willascheks: »Was sind menschliche Handlungen? Körperbewegungen oder Interpretationskonstrukte, Verhalten unter einer Beschreibung, Ereignisse sui generis? Was ist das Spezifikum des menschlichen Handelns? Freiheit, Intentionalität, moralische Bewertbarkeit, Rationalität? Was ist »wollen« was ein »Wille«? Sind Absichten nur Gründe oder zugleich Ursachen des Handelns? Wie verhalten sich rationale Begründungen zu kausalen Erklärungen von Handlungen? Gibt es einen Widerspruch zwischen der Freiheit des Handelns und einer Determination der Natur? Was ist das Subjekt des Handelns? Was macht eine Handlung zu der eines Subjekts? Was ist die Bedeutung von Normen und Regeln für das Handeln? Was sind Imperative?« (Willaschek 1991, S. 13). 84 Für die Bedeutung dieser These siehe unten S. 79 ff.. 83
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eigentlich ein anderes Modell der Kausalbeziehungen zu haben, wie jüngst E. Watkins gezeigt hat (Watkins 2005, S. 230 ff.). Ich kann hier auf diese Diskussion nicht eingehen; dies wäre eine Aufgabe für eine eigenständige Untersuchung. Es scheint mir aber klar zu sein, dass es Watkins gelungen ist, zumindest die gängige These in Frage zu stellen, nach der Kant das von Hume verteidigte »Ereignis-Ereignis«Modell der Kausalität teilt. Ob es richtig ist, dass Kant das »EreignisEreignis«-Modell der Kausalität ohne Weiteres abgelehnt hat und nur ein »Substanz-Ereignis«-Modell der Kausalität vertreten hat, wie Watkins meint, oder eigentlich mehrere Modelle, wie jüngst B. Hennig argumentiert hat, kann hier offen bleiben. 85 Wichtig ist aber: Kant hat nicht wie Davidson oder die von Davidson angegriffenen Philosoph*innen die Annahme gemacht, die Kausalbeziehungen seien nur nomologische Beziehungen zwischen Ereignissen. Kant würde dann die Annahme bestreiten, die im Hintergrund der heutigen Debatte darüber steht, ob Gründe Ursachen sind. Offensichtlich hat Kant jedoch ziemlich viel über gewisse Begriffe gesagt, die für eine Antwort auf die oben erwähnten Fragen von Bedeutung sein könnten. Deswegen ist man vielleicht gut beraten, wenn man erst die Thesen der »verbreiteten Auffassung« unter die Lupe nimmt, die leugnet, dass Kant eine »Handlungstheorie« entwickelt hat. Es lohnt sich, wenn man zu verstehen versucht, wie man zu dieser Idee kommen kann. Es liegt auf der Hand, dass die von Willaschek bezeichnete »verbreitete Auffassung«, nach der Kant keine Handlungstheorie entwickelt habe, verschiedene Formen angenommen hat. 86 In der Regel aber meinen solche Autor*innen, dass Kant sich für das Phänomen der Handlung nicht interessiert habe, weil er seine Aufmerksamkeit primär auf die moralphilosophischen Fragen gelenkt habe, sodass er sich für Fragen bezüglich des Handlungsbegriffs nur interessiert habe, soweit sie für die Klärung von moralphilosophischen Problemen aufschlussreich sind. Dies hätte zur Folge gehabt, dass bei Kant viele interessante Fragen bezüglich des Handlungsbegriffs unberührt geblieben seien. Man könnte den Kern dieser Auffassung deshalb wie folgt zusammenfassen: Kant habe keine »Handlungstheorie« entwickelt, obwohl er sich für die Klärung von einigen für die Handlungstheorie relevanten Begriffen inFür die Kritik Hennigs an Watkins, siehe (Hennig 2011). Übrigens teilt auch Hennig Watkins Ablehnung der These, Kant teile das Hume’sches Modell. 86 Siehe auch unten S. 21 Fn. 13. 85
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teressiert habe, weil er sich nur für moralphilosophische Fragen interessiert habe. Die These, das Interesse bzw. Desinteresse an der Handlungstheorie sei von den moralphilosophischen Absichten der jeweiligen Autor*innen abhängig, bildet auch den Kern der Interpretation Donald Davidsons, der als der wichtigste Handlungstheoretiker des zwanzigsten Jahrhundert gilt. Dieser Interpretation nach sei es erstaunlich, dass kein Philosoph außer Aristoteles dem Handlungsbegriff eine von den ethischen Fragen unabhängige Analyse gewidmet habe (Davidson 2001, S. 277–278). Denn »Handlung« sei, so Davidson, eine grundlegende Kategorie für die praktische Philosophie, so wie »Wahrnehmung« für die Epistemologie. Der Grund für die angebliche Vernachlässigung dieses fundamentalen Begriffs sei vermutlich, so Davidson, dass die interessanten Beziehungen zwischen »Handlung« und »Ethik« das Interesse am Handlungsbegriff selbst überschattet hätten. 87 Die These, nach der die Konzentration auf Fragen der Ethik die Vernachlässigung des Handlungsbegriff zur Folge gehabt habe, liegt, wie oben gesehen, auch dem Vorwurf an Kant zugrunde, dass auch er dem Handlungsbegriff keine oder zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Aber ist diese These richtig? Man tut gut daran, die Hypothese Davidsons sorgfältig unter die Lupe zu nehmen. Denn es ist alles andere als klar, dass wir den Handlungsbegriff besser verstehen, wenn wir ihn unabhängig von den Interessen der Ethik untersuchen. Vielleicht verhalten sich die Dinge eher umgekehrt. Davidson scheint aber anzunehmen, dass, wenn ein Philosoph den Begriff der Handlung im Dienst der Klärung moralischer Fragen untersucht, dies zur Folge habe, dass die von ihm entwickelte Theorie sich notwendig als mangelhaft erweise. Denn Handlung sei, so Davidson, eine grundlegende Kategorie, die man nur verstehe, wenn man sie losgelöst von ethischen Fragen untersucht. Es ist aber schwierig, die Frage nach der Richtigkeit der von Davidson stillschweigend akzeptierten These zu beantworten, ohne zuvor die Frage nach den Ansprüchen beantwortet zu haben, denen eine philosophische Erklärung des Handlungsbegriffs gerecht werden muss. Dies ist aber eine Aufgabe, die eine separate Untersuchung verdienen würde, die ich hier nicht leisten kann. Deswegen habe ich vorgeschlagen, den Begriff der Handlungstheorie durch Rekurs auf »The reason may be that the connection of action with ethics has been so strong as to overshadow the interest in action for its own sake«. (Davidson 2001, S. 277–278)
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eine Liste von typischen Fragen zu fixieren, die in der Regel mit dem Begriff »Handlungstheorie« verbunden werden. Spricht man von der Handlungstheorie eines Autors, versteht man in der Regel ein Korpus von Antworten auf Fragen, wie die von mir oder Willaschek aufgelisteten (siehe oben S. 66 Fn. 83). Gewiss: Dies ist eine ungenaue Bestimmung. Aber mehr ist hier nicht nötig. Was die These Davidsons angeht, kann man aber zumindest versuchen, sie an Davidsons eigenen Behauptungen zu messen, also festzustellen, ob sie zumindest nach internen Kriterien wohl begründet ist, ob sie kohärent ist mit anderen Behauptungen Davidsons usw. Man kann also versuchen festzustellen, ob die These den minimalen Test der internen Kohärenz besteht. Davidson scheint aber ohne erkennbare Gründe die oben erwähnte These zu akzeptieren. Interessanterweise zitiert er die aristotelische Analyse »freiwilliger« (ἑκούσιος) und »unfreiwilliger« (ἄκουσιος) Handlungen als die wichtigste Leistung der Handlungstheorie des Aristoteles (Davidson 2001, S. 278), die der erste ernstzunehmende Beitrag zur Handlungsproblematik gewesen sei. Sie sei auch, wie erwähnt wurde, der erste und letzte Beitrag vor dem 20. Jahrhundert, der durch ein von der Ethik unabhängiges Interesse am Begriff der Handlung motiviert gewesen sei. 88 Deswegen kann Davidson auch sagen, dass Aristoteles die Handlungstheorie, so wie wir sie verstehen, erfunden habe (Davidson 2001, S. 277). 89 Nun weiß jeder, der nur einen einzigen Blick ins dritte Buch der Nikomachischen Ethik geworfen hat, dass Aristoteles die Analyse freiwilliger bzw. unfreiwilliger Handlungen weder um ihrer selbst willen betreibt, noch mit Hinblick auf eine Analyse des Handlungsbegriffs, sondern als notwendige Bedingung der Beschäftigung mit den Tugenden, wie er selbst am Anfang des ersten Kapitels explizit behauptet. 90 »Although Aristotle was interested in the connection of action with ethics, he treated it independently« (Davidson 2001, S. 278). 89 »Aristotle pretty much invented the subject as we now think of it«. 90 Vgl. EN III 1 1009b30–1010a4: Τῆς ἀρετῆς δὴ περὶ πάθη τε καὶ πράξεις οὔσης, καὶ ἐπὶ μὲν τοῖς ἑκουσίοις ἐπαίνων καὶ φόγων γιγνομένων, ἐπὶ δὲ τοῖς ἀκουσίοις συγγνώμης, ἐνίοτε δὲ καὶ ἐλέου, τὸ ἑκούσιον καὶ τὸ ἀκούσιον ἀναγκαῖον ἴσως διορίσαι τοῖς περὶ ἀρετῆς ἐπισκοποῦσι, χρήσιμον δὲ καὶ τοῖς νομοθητοῦσι πρός τε τὰς τιμὰς καὶ τὰς κολάσεις. δοκεῖ δὴ ἀκούσια εἶναι τὰ βίᾳ ἢ δι’ ἄγνοιαν γιγνόμενα. βίαιον δὲ οὗ ἡ ἀρηὴ ἔξωθεν, τοιαύτη οὖσα ἐν ᾗ μηδὲν συμβάλλεται ὁ πράττων ἢ ὁ πράσχων, οἷον εἰ πνεῦμα κομίσαι τοι ἢ ἄνθρωποι κύριον ὄντες. Die Mehrheit der Spezialisten im Rahmen der Aristoteles-Forschung scheinen auch anderer Meinung als Davidson zu sein. Vgl. z. B. die Bemerkungen von C. Natali: 88
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Die ganze aristotelische Untersuchung der oben erwähnten Handlungstypen dient der Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen unsere Handlungen gelobt oder getadelt werden und wann wir Verzeihung verdienen. Daher muss man konsequenterweise den Schluß ziehen, dass die historische Hypothese Davidsons, die übrigens der communis opinio entspricht, unverträglich ist mit Davidsons These über die Geschichte der philosophischen Untersuchungen des Handlungsbegriffs – der These nämlich, die Lehre von den freiwilligen bzw. unfreiwilligen Handlungen sei der wichtigste Beitrag des Aristoteles zur Handlungstheorie gewesen. Denn Aristoteles hat seine Untersuchungen freiwilliger und unfreiwilliger Handlungen mit Hinblick auf moralphilosophische Probleme entwickelt. Noch mehr: Davidson war der Auffassung, dass Anscombes Intention der wichtigste Beitrag im Rahmen der Handlungstheorie seit Aristoteles gewesen sei. Jedem informierten Leser Anscombes ist aber bekannt, dass es moralische Fragen waren, die Anscombe zum Schreiben ihres Buches bewegten. Das Buch Anscombes nimmt auf moralische Fragen zwar kaum Bezug; gleichwohl liegen sie im Zentrum von Anscombes Interesse am Phänomen der »Absicht«. 91 Wie bei Aristoteles oder bei Anscombe sind die für die Handlungstheorie mutmaßlich interessanten Überlegungen Kants im Zusammenhang mit Fragen der Ethik entstanden. Sie dienen der Analyse moralischer Probleme. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dieser Ursprung der Reflexion über den Handlungsbegriff ein Hindernis dafür gewesen wäre, dass Kant eine »Handlungstheorie« bzw. »L’approche aristotélicienne du concept d’action est différente de celle de la philosophie contemporaine: Aristote ne paraît pas particulièrement intéressé, ni à décrire les différences qu’il y aurait entre action humaine et mouvement physique, ni à prescrire un modèle d’action exemplaire qui vaille comme critère universel d’evaluation. Pour Aristote, le problème de l’action rentre dans le problème plus vaste de la recherche de la nature du bien humain et du bonheur« (Natali 2002, S. 137). 91 Vgl (Stoutland 2011, S. 4) und (Rayappan 2010, S. 17). Die moralphilosophische Motivation des Buches kann man besonders klar in der Analyse des von ihr genannten »Absicht mit welcher« (intention with which), vor allem in der Untersuchung des Problems der Handlungsbeschreibungen anhand des Beispiels des Mannes, der Wasser pumpt, und mit vergifteten Wasser ein Haus versorgt. Vgl (Anscombe 1963, S. 34 ff.). Die Diskussion des Beispiels erweist eindeutig Ähnlichkeiten mit den Argumenten, die im Rahmen der Diskussion an der Universität Oxford anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an H. Truman. Anscombe hat diese Entscheidung der Universität Oxford aufgrund der von Herrn Trumman in der Bombardierung Hiroschimas und Nagasakis gespielte Rolle abgelehnt und sie hat aus diesem Grund seinen bekannten Aufsatz Mr. Truman’s degree geschrieben. (Anscombe 1957).
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Handlungskonzeption entwickelt hat, oder dafür, dass ihm eine relevante Rolle im Rahmen der Geschichte der philosophischen Analyse des Handlungsproblems zukommt. Während einerseits kein Philosoph oder Philosophiehistoriker*innen leugnen würde, dass Aristoteles einen relevanten Beitrag zur Analyse der Handlungsproblematik geleistet hat, 92 sodass es sich etabliert hat, von der »Handlungstheorie« oder »Handlungsphilosophie« des Aristoteles zu sprechen, würden andererseits wenige Philosoph*innen bzw. Philosophiehistoriker*innen dieses Urteil über Kants praktische Philosophie fällen. Warum ist das so? Es wurde schon gezeigt, dass die Davidson’sche Erklärung der Relevanz des Aristoteles in der Geschichte des Handlungsproblems eigentlich auf der falschen Annahme beruht, Aristoteles habe seinen wichtigsten Beitrag zur Handlungstheorie nicht im Dienst der Analyse von Problemen der Ethik geleistet. Versucht man, die Leistungen bezüglich des Handlungsproblems aufzulisten, die Aristoteles von der Tradition zugeschrieben werden, legt sich der Eindruck nahe, dass die positive Einschätzung seiner Wirkung gerechtfertigt ist, obwohl er sich für die Handlungsproblematik nicht um ihrer selbst willen interessiert hat. Bekanntlich hat Aristoteles sich schon im vierten Jahrhundert v. Chr. für die Erklärung der Begriffe der prâxis und poíesis interessiert, und als eine Folge dieses Interesses hat er die besonders wichtige und einflussreiche Unterscheidung zwischen prâxis und poíesis vielleicht zum ersten Mal auf den Begriff gebracht (EN VI 4– 5). Überliefert sind von ihm u. a. auch wesentliche Gedanken über die Theorie der Zurechnung (EN III), über den sogenannten praktischen Syllogismus (De Motu animalium 7, De Anima III 9–13) 93 und eine Deswegen kann z. B. D. Charles sagen, dass »In the philosophy of action Aristotle occupies a central position analogous to that of Frege in the philosophy of language« (Charles 1984, S. IX) oder Davidson sagen, wie oben erwähnt, dass »Aristotle pretty much invented the subject (Handlungstheorie LP) as we now think of it« (Davidson 2001, S. 277). 93 Bekanntlich sind die textuellen Belege für die Rede vom aristotelischen »praktischen Syllogismus« dünn (siehe unten S. 229). Wie auch immer: Will man wie Davidson eine aristotelische Überlegung zum Handlungsbegriff ausfindig machen, die unabhängig von ethischen Problemen entwickelt worden ist, könnte man sie eher an einigen der Stellen finden, an denen Aristoteles diejenigen Gedanken anführt, die man heute als seine »Theorie des praktischen Syllogismus« zu bezeichnen pflegt. Auf keinen Fall ist dies aber der Fall in seiner Behandlung des Begriffspaars »freiwillig« und »unfreiwillig«. Für eine Interpretation des »praktischen Syllogismus« siehe (Nussbaum 1978, S184–220) und (Vigo 2010a). Auch unten S. 229 ff. 92
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bis heute einflussreiche Auffassung der Willensschwäche (EN VII). All diese Gedanken haben einen ungeheuren Einfluss auf viele andere Autor*innen sowohl in der Tradition der Geschichte der Philosophie als auch im Rahmen der gegenwärtigen Debatten der praktischen Philosophie. Entsprechend liegt z. B. die Zurechnungsauffassung des Aristoteles, wie Loening verteidigt hat, der modernen Zurechnungslehre zugrunde. Sie stützt sich vor allem auf Pufendorf, der seinerseits von Aristoteles abhängig ist. (Loening 1903, S. XI). Außerdem sind die aristotelischen Überlegungen bezüglich des praktischen Syllogismus entscheidend für die gegenwärtige Handlungstheorie, wie jeder Leser von Davidson, Anscombe, Kenny, Mele oder von Wright weiß (dazu mehr unten S. 227). Vergleicht man diese Liste mit den Leistungen im Rahmen der Handlungstheorie, die man Kant in der Regel zuschreibt, muss man einfach einräumen, dass die communis opinio berechtigt ist. Denn abgesehen von seiner (umstrittenen) Theorie der Freiheit und der moralischen Motivation scheint Kant wenig über relevante Probleme der Handlungstheorie gesagt zu haben. Wichtig ist aber vor allem, darauf aufmerksam zu machen, dass Aristoteles Beiträge zur Handlungstheorie leisten konnte, obwohl er, wie Kant, weder die Handlungstheorie explizit als spezielle philosophische Disziplin anerkennt noch diesem Thema einen Traktat gewidmet hat. Derjenige, der die aristotelische »Handlungstheorie« rekonstruieren will, kann dies nur anhand von Auszügen der EN, EE, De Anima und De Motu Animalium tun, in denen Aristoteles in der Regel Fragen zu beantworten versucht, die nicht handlungstheoretischer Natur sind. 94 Die gängige Rede von einer Handlungstheorie des Aristoteles scheint sogar wenig begründet zu sein, wenn man beachtet, dass die Rede von »Theorien« bei Aristoteles das systematische Moment seiner Philosophie in übertriebener Weise zuspitzt. 95 Siehe z. B. (Corcilius & Rapp 2008, S. 9). Dies gilt auch für viele mutmaßliche Beiträge der aristotelischen Handlungskonzeption, z. B. im Fall des »praktischen Syllogismus«: »While Aristotle’s impact on contemporary theory of action and its use of practical syllogism is beyond any doubt, it is by no means clear how his own conception of the practical syllogism is to be described. This peculiar situation is mainly due to the tenuous textual evidence: nowhere in the corpus of Aristotelian works one can find something like a »theory« of the practical syllogism« (Rapp & Brüllmann 2008, S. 93). 95 Dass »systematische Interpretationen« von Aristoteles fraglich sind, wird von Wieland mit guten Gründen hinterfragt. Vgl. (Wieland 1992, S. 19–22). 94
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Tatsache ist jedenfalls, dass man die Ideen des Aristoteles bereits seit Hegel für die Handlungsproblematik fruchtbar macht – seit Hegel, der ebenfalls der Meinung war, Aristoteles sei die wichtigste Figur der »Handlungspsychologie« gewesen, wie man in seinen Vorlesungen über Geschichte der Philosophie lesen kann. 96. Den Bezugspunkt, den man fruchtbar machen will, hat man als Aristoteles’ Handlungstheorie bezeichnet, sei es, weil man annimmt, dass man eine implizite systematische Einheit in den verstreuten Überlegungen vermutet, die Aristoteles zu handlungstheoretisch relevanten Themen angestellt hat, sei es weil man die Hoffnung hegt, eine solche Einheit zu rekonstruieren. Jedenfalls hat man die Rede von einer »Handlungstheorie« des Aristoteles eingeführt, obwohl er 1) diesem Thema kein Werk gewidmet hat, 2) über handlungstheoretisch relevante Themen in der Regel im Dienst ethischer Fragen geschrieben hat, und 3) sich in seinen Werken nur wenige Indizien für eine mutmaßliche systematische Einheit seiner »handlungstheoretischen« Überlegungen finden lassen. Bei Kant indessen scheinen die Dinge völlig anders zu liegen. Die Mehrheit der Kant-Forscher*innen würde nicht verneinen, dass auch auf ihn die Beobachtungen 1) bis 3) zutreffen. Dennoch werden seine Überlegungen zu handlungstheoretischen Fragen völlig anders als die des Aristoteles behandelt. Wahrscheinlich ist der Grund dafür, dass seine Überlegungen bezüglich dieses Nestes von Problemen als weniger interessant gelten als die des Aristoteles. Was Kant Überlegungen uninteressant für diese Autor*innen macht, scheint dabei nicht so sehr zu sein, dass sie ihm als Antworten auf ethische Fragen dienen. Plausibler erscheint die Erklärung, dass sie in den Augen der Handlungstheoretiker systematisch einfach weniger wert sind. Im Hinblick auf die Rolle, die viele Handlungstheoretiker dieses Jahrhunderts Kant zuweisen, könnte man meinen, dass Kants Ideen in der handlungstheoretischen Debatte de facto nur eine sekundäre untergeordnete Rolle spielen – wenn sie darin überhaupt eine Rolle spielen. Auch andere Autor*innen, berühmte Autor*innen auf dem Feld der Kant-Forschung eingeschlossen, sind der Meinung Kant habe keine Handlungstheorie entwickelt oder er habe die Handlungsproblematik zugunsten der Analyse der moralischen Probleme eher vernachlässigt. Wieder andere sind der Meinung, Kant habe das Problem der 96 Vgl. TA 19, 221. »Das Beste bis auf die neuesten Zeiten, was wir über Psychologie haben, ist das, was wir von Aristoteles haben«
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Handlung zwar in Betracht gezogen, seine Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Handelns sei aber ähnlich wie die anderen Standard-Antworten seiner Epoche ausgefallen, sodass sein Handlungsbegriff demjenigen Baumgartens oder Wolffs gleiche. Sollte dies richtig sein, hätte das zur Folge, dass Kant keinen Beitrag zur Handlungstheorie geleistet hat. Wer dieser Meinung ist, muss selbstverständlich denjenigen zustimmen, die dem Interesse an der Handlungstheorie Kants, falls es sie geben sollte, bloß historische, aber keine systematische Bedeutung beimessen. Eben dies scheint die Meinung der Mehrheit zu sein. Entweder seien bei Kant gar keine Gedanken über das Handlungsproblem zu finden, oder sie seien uninteressant und den Gedanken der anderen Autor*innen seiner Epoche eng verwandt. Trotz dieser ungünstigen Lage hat die Erforschung einer mutmaßlichen Handlungskonzeption Kants in den letzten dreißig Jahren zunehmend das Interesse der Kant-Forscher*innen geweckt. Besonders seit der Veröffentlichung von Kaulbachs und Becks Arbeiten in den siebziger Jahren haben eine Reihe von Autor*innen sich bemüht, Kants Handlungsbegriff zu erläutern. 97 Den Tenor der Forschung bildet jedoch eine vielfach geäußerte Idee, die in den einflussreichen Arbeiten Kaulbachs und Gerhardts verteidigt wird: Kant hebe in seiner Behandlung des Handlungsbegriffs die Unterschiede zwischen dem Handlungsbegriff und dem Begriff der actio bzw. Wirkung auf. Belege für diese These gibt es in der Tat viele in Kants Werk (vgl. z. B. A 205/B 250; AA 28 564, 33–565, 1). 98 Gerhardt hat entsprechend gezeigt, dass Kant in zahlreichen Texten das Wort »Handlung« als Übersetzung des lateinischen Wortes »actio« verwendet. 99 Wenig erwähnt Siehe (Beck 1975); (Kaulbach 1978); (Gerhardt 1986); (Willaschek 1992); (Innerarity 1995), (McCarty 2009), (Torralba 2009), (Torralba 2011), (Greenberg 2016). 98 »Handlung bedeutet schon das Verhältnis der Kausalität zur Wirkung« (A 205/ B 250); »Die Handlung ist die Bestimmung der Kraft einer Substanz als einer Ursache eines gewissen accidentis«. In der Kant-Interpretation wurde diese Interpretationsthese zwar von den oben genannten Autor*innen eingeführt, sie ist aber außerhalb der Grenzen der Kant-Forschung schon viel früher von Heidegger verteidigt worden. Vgl. GA 31 S. 196 ff. »Handlung ist für Kant vielmehr der Titel für Wirken überhaupt (Hervorhebung M. H.). Handlung ist gar nicht primär und einzig bezogen auf sittliches Verhalten und moralisch-unmoralisches Tun, vielmehr auf das Geschehen der lebendigen und vor allem unlebendigen Natur«. Anders interpretiert den Handlungsbegriff Greenberg. Vgl. (Greenberg 2016), dessen Interpretation aber in vielen Hinsichten fragwürdig ist. Darauf hat Kohl aufmerksam gemacht, vgl. (Kohl 2018). 99 Dass Kant üblicherweise auf Lateinisch gedacht hat, ist auch die Erklärung für viele 97
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im Rahmen der Diskussion über die Handlungskonzeption Kants wird aber die Tatsache, dass Kant das Wort »Handlung« auch als Übersetzung des lateinisches Wort operatio verwendet. 100 Deswegen ist es üblich, dass er vom Urteilen als »Handlung des Verstandes« oder vom Urteil als einer »Handlung des Verstandes« spricht 101, was dem Gebrauch des Ausdrucks operatio intellectus entspricht, der bei den Logikern seiner Epoche und in der Scholastik üblich war. Wenn es richtig ist, dass Kant die Begriffe der Handlung bzw. des Handelns und der Wirkung bzw. des Wirkens ohne Weiteres nivelliert hat, dann folgt, dass Kant damit einen mutmaßlichen Vorteil des deutschen Wortes »Handlung« nicht genutzt hat, da letzteres in der deutschen Sprache einen menschlichen Vollzug bezeichnet, während »Wirkung« den Effekt einer causa efficiens in der Natur benennt. Sollte dem so sein, dann folgt daraus u. a., dass Kant etwas Wichtiges entgangen ist, wie eine Analyse des vorphilosophischen Verständnisses des Handlungsbegriffs schnell zeigt. Offensichtlich Fehler, die er beim Schreiben gemacht hat. Es gibt viele Stellen, an denen Kant z. B. das Genus der Relativpronomina falsch verwendet, weil er das Genus des deutschen Beziehungswortes mit dem des lateinischen Wortes verwechselt oder lateinische Strukturen wie die doppelte Verneinung verwendet (z. B. A 509/B 537 oder A 561/B 589). Der Fall der doppelten Verneinung und die zitierten Beispiele sind von Caimi (2010) ausführlicher analysiert worden. Man kann ohne Weiteres verstehen, dass Kant manchmal auf lateinisch gedacht hat, wenn man daran denkt, dass er in der Schule ca. 16–20 Wochenstunden Lateinunterricht, aber kaum Deutschunterricht hatte. Vgl. Vorländer (1924) Kap. 2. 100 Im Rahmen der Diskussion der Urteilslehre Kants haben allerdings viele Interpreten auf diesen Punkt aufmerksam gemacht: (Brandt 1991, S. 53–54); (Wolff 1995, S. 23–24) und (Zimmermann 2011, S. 80 ff.). 101 Z. B. R 2142 »Urteile sind Handlungen des Verstandes und der Vernunft«, auch AA 20 223, 24–26 »Urteilen (nämlich objektiv) [ist] eine Handlung des Verstandes«. Kant spricht auch von der »Funktion der Urteile« als einer »Handlung des Verstandes« (B 143). Auch frühere Belege existieren: »Ob in ihrem Innern diejenige Handlung der Erkenntniskraft vorgeht, da sie sich der Übereinstimmung oder des Widerstreits desjenigen, was in einer Empfindung ist, mit dem, was in einer andern befindlich ist, bewußt sind und also urteilen, das folgt gar nicht daraus« (Spitzfindigkeit AA 02 60, 33–35). In anderen Texten ist z. B. auch die Rede von der »Handlung der Einbildungskraft« (die figürliche Synthesis), der »eigentümlichen Handlung der Urteilskraft« (die Reflexion) oder der Handlung »der Apprehension«. Vgl. KrV B 154; Erste Einleitung AA 20 249, 6; Vorarbeiten zur Rechtslehre AA 23 221, 14. Siehe auch R 1790; 2550; 2878. Kant scheint Ausdrücken wie »Handlung des …« oder »Handlung der …« in einem doppelten Sinn zu verwenden. Manchmal bezeichnet er damit eine mögliche Aktivität eines Vermögens. Es gibt aber auch Stellen, in denen er mit dem Ausdruck »Handlung« die manifeste Tätigkeit eines Vermögens bezeichnet (vgl. z. B. Erste Einleitung AA 20 249, 6). Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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steht der Begriff der Handlung zum Begriff des Widerfahrens in einem Gegensatz. Handlungen scheinen vor allem Phänomene zu sein, in denen etwas, nämlich der Handelnde, aktiv ist, sodass er als Folge dieser Aktivität eine Veränderung in den Zuständen der Welt hervorbringt. Wenn ich über die Straße gehe, um in der Bäckerei Brot zu kaufen, dann handle ich, indem ich aktiv bin. Wenn ich aber über die Straße gehe, weil der Sturm mich »gegen meinen Willen« über die Straße schiebt, dann handle ich nicht, sondern ich bin passiv, zumindest was mein Überqueren der Straße angeht. Der grobe und mit Sicherheit ziemlich vage Unterschied zwischen aktivem und passivem Verhalten ist nicht der einzige, den wir bezüglich. des Handlungsbegriff machen müssen, selbst wenn man die Begrifflichkeiten explizit zu machen versucht, die man im Alltagsgebrauch des Handlungsvokabulars verwendet. Denn es gibt viele Formen von Aktivität und nicht alle verdienen den Namen »Handlung«. Wir sagen z. B. auch, dass eine Maschine, ein Vulkan oder ein Medikament aktiv ist, bzw. sein können, obwohl wir weder von Maschinen, Vulkanen oder Medikamenten sagen würden, dass sie handeln. Wenn mein Computer eine CD abspielt und Mozarts »Zauberflöte« erklingt, wirkt mein Computer auf meine Ohren. Er hat aber kein Bewusstsein davon. Auch will er nicht die Arie Sarastros wiedergeben. Anders gesagt: Er handelt nicht bzw. er handelt nicht »intentional«. Trotzdem wirkt er auf mich ein, sodass er Ursache von Wirkungen ist. Auch eine Aspirin wirkt auf mich, wenn ich sie nehme, und sie z. B. meine Kopfschmerzen eliminiert. Mein Hund wirkt auf mich ein, wenn er bellt. Und Karlchen wirkt auf mich ein, wenn er schreit oder »aua!« sagt. Solche Wirkungen sind aber keine »Handlungen«. Bloßes Wirken oder bloßes aktives Verhalten eines Gegenstandes reicht nicht aus, um von »Handlungen« sprechen zu können, jedenfalls im Sinne von »intentionale Handlung«. 102 Genau das ist es, was hinter der Tatsache steht, dass wir nicht sagen würden, Maschinen, Vulkane oder Fliegen handelten. Obgleich es sich um eine Besonderheit der deutschen Sprache handelt – denn man kann in anderen Sprachen ohne Weiteres z. B. von der »action of the drug« (Englisch) oder der »acción de un medicamento« (Spanisch) sprechen 103 – ist diese Besonderheit der deut102 Dies ist das, was man manchmal in der angelsächsischen Literatur full blown sense of action genannt hat. Vgl (Stout 2005, S. 2). 103 Kant verwendet auch solche Redeweisen, wenn er z. B. über die »Handlung« der »Materie« spricht (Prolegomena AA 04 344, 25).
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schen Sprache doch der Sache nach gerechtfertigt. 104 Denselben Unterschied macht auch das Altgriechische und dies ist genau das, was Aristoteles im Auge hat, wenn er zwischen poíesis und prâxis unterscheidet. 105 Entsprechend hat er behauptet, dass Kinder und Tiere in diesem emphatischen Sinne nicht »handeln« weil sie nicht über Proaíresis verfügen – also über die Fähigkeit, nach einer Vorstellung vom Leben als Ganzem zu handeln. Tiere und Kinder bewegten sich zwar »freiwillig«, so Aristoteles (vgl. EN III 4 1111b 6–8), aber sie handelten nicht. 106 Um diesen Unterschied geht es mir in dieser Arbeit. Daher werde ich mich nicht mit Kants Gebrauch des Wortes »Handlung« im uneigentlichen Sinn befassen, nämlich also als Übersetzung der lateinischen Wörter actio oder operatio. Mir geht es um »Handlung« als »intentionale Handlung«. Und mein Ziel ist, zu zeigen, dass Kant nicht nur die Begriffe der Handlung und des bloßen Wirkens keineswegs nivelliert, sondern auch, dass er über eine interessante Konzeption der intentionalen Handlung verfügt hat, die in manchen Punkten Vorteile im Vergleich mit den dominierenden Auffassungen der Gegenwart hat. Die Mehrheit der Kant-Forscher*innen, Gelehrten und Philosoph*innen denkt indessen durchaus, Kant habe den Unterschied zwischen »Handlung« und »Wirkung« aufgehoben. Wären Kants Gedanken über den Handlungsbegriff so einfach, wie diese Autor*innen denken, wäre dies mit Sicherheit ein schlagender Grund, Kant als eine Randfigur in der Geschichte des Problems der Handlung zu betrachten. Und mit Sicherheit ist es dies, was viele Autor*innen sagen wol104 Dass dies so ist, haben schon viele Autor*innen verteidigt. Vgl z. B. (Vigo 2008). Einer ähnliche Unterschied versucht z. B. P. M. S. Hacker in Englishen zu ziehen, ohne Referenz auf die Deutsche Sprache zu machen: »Inanimate substances and machines do not take action. In so far as to act is to take action, they do not act, even though they do things, act on things, and may, as chemical agents and machines do, have an action«. (Hacker 1996, S. 539). 105 Die Unterscheidung zwischen »Handlung« und »Wirkung« ist in anderen modernen europäischen Sprachen meines Wissens nicht zu finden. Zumindest darf man die Wörter »action«, »actión«, »acción«, »azione« sowohl im Rahmen der mechanischen Vorgänge in der Natur als auch im Rahmen des menschlichen Handelns benutzen. In den alten Sprachen hat es mit dem griechischen Verb pratteîn eine besondere Bewandtnis, da es so wie das Wort »Handlung« auf Deutsch prinzipiell nur auf menschlichem Gebiet anwendbar ist. Dazu Vigo (2008, S. 78–79). 106 Vgl. ἡ προαίρεσις δὴ ἑκούσιον μὲν ϕαίνεται, οὐ ταὐτὸν δέ, ἀλλ’ ἐπὶ πλέον τὸ ἑκούσιον. Τοῦ μὲν γὰρ ἑκουσίου καὶ παῖδες καὶ τἆλλα ζῷα κοινωνεῖ, προαιρέσεως δ’ οὔ. Siehe auch EE II 10, 1225b19–27.
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len, wenn sie behaupten, Kant habe keine »Handlungstheorie« entwickelt. Es gibt jedoch m. E. gute Gründe, diese Ansicht abzulehnen. Ich möchte die These verteidigen, dass die kantischen Gedanken über den Handlungsbegriff viel komplizierter und tiefer sind als üblicherweise angenommen wird. Damit will ich nicht behaupten, dass Kant eine »Handlungstheorie« in emphatischen Sinn entwickelt habe. Denn er hat nicht versucht, die von Willaschek oder mir aufgelisteten, die handlungstheoretische Sphäre umreißenden Fragen systematisch zu beantworten. Er hat sich sogar viele dieser Fragen in dieser Form gar nicht gestellt. Die Frage z. B., ob »Absichten nur Gründe oder zugleich Ursachen des Handelns [sind]?« ergibt nur dann Sinn, wenn man einen ganz bestimmten Konsens über die Bedeutung von Begriffen wie »Grund« und »Ursache« voraussetzt, der mit den Gedanken Kants über diese Begriffe schwer zu vereinbaren ist (siehe z. B. oben S. 67). Ich glaube aber, dass man zeigen kann, dass er über eine Handlungskonzeption verfügt hat, die inhaltsreicher und interessanter ist als üblicherweise angenommen. Man kann Kant eine ganze Reihe von Fragen der gegenwärtigen Handlungstheorie stellen und interessante Antworten erzielen. Kant hat bekanntlich zwischen zwei Formen des Bewirkens einer Wirkung unterschieden, nämlich nach Naturgesetzen und nach den Gesetzen der Freiheit. 107 Den Kern der kantischen praktischen Philosophie bildet der Unterschied der von Kant identifizierten Formen der Kausalität: Kausalität aus Freiheit und Kausalität nach den Gesetzen der Natur. Dieser Unterschied erklärt nicht nur, welches die Differenz zwischen menschlichen Bewegungen und der Form ist, in der etwa Maschinen wirken. Denn auch Tiere sind nicht frei, obwohl sie über »Begehrungsvermögen« verfügen, nämlich über das Vermögen eines Wesens, »durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein« (KpV AA 05 9, 16–18). Kant behauptet, dass die reine Vernunft uns Menschen zur Handlung bestimmen kann, während das Begehrungsvermögen der Tiere nicht vernunftgesteuert ist. Obwohl Tiere und Maschinen wirksam sein können, ist nur ein vernünftiges Wesen wie der Mensch fähig, frei zu sein. Entsprechend gibt es zwischen Menschen und Tie107 Kant stellt den Unterschied zwischen Gesetzen der Freiheit und Gesetzen der Natur schon in der KrV dar. Vgl. KrV A 802/B 830. Die Unterscheidung tritt schon auf der ersten Seite der Vorrede der GMS (GMS AA 04 387, 14–16) auf. Auch KpV AA 05 69, 5–11.
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ren eine »spezifische Differenz«, und nicht nur einen Unterschied des Grades. 108 Die Mehrheit der Untersuchungen über Kants Handlungstheorie hat auch tatsächlich nur diesen Aspekt analysiert. Kant charakterisiert jedoch Handlungen nicht dadurch, dass sie aus Freiheit zustande kommen. Das zentrale Merkmal einer Handlung ist, so Kant, dass ihr eine Maxime entspricht. 109 Maximen aber gibt es nur, wo ein Subjekt sich ein Prinzip seiner Handlung geben kann. Meine These ist also, dass Kant damit die Sphäre der prâxis anerkannt hat. Was heißt dies aber genauer? Im Verlauf meines Textes soll dies erklärt werden. Hier muss aber zumindest vorläufig bestimmt werden, welches die alternative und welches die klassische Interpretation der kantischen Handlungskonzeption ist und was sie impliziert. Außerdem muss eines von Anfang an hervorgehoben werden: Da es mir in diesem Text um den Begriff der Handlung als intentionale Handlung geht, interessiere ich mich hier nicht für die Texte, in denen Kant das Wirken einer Substanz oder die Operationen der Erkenntnisvermögen als »Handlungen« charakterisiert. Die kantische Strategie, den Handlungsbegriff zu untersuchen, unterscheidet sich, so eine andere These dieses Textes, von der Strategie, die die Mehrheit der Autor*innen in der gegenwärtigen Debatte im Rahmen der analytischen Handlungstheorie als selbstverständlich angenommen hat. Um diese klassische Strategie der Gegenwart richtig zu charakterisieren, muss man aber gewisse terminologische Unklarheiten aufheben, weil in der gegenwärtigen analytischen Diskussion über das Handlungsproblem leider terminologische Ungenauigkeit vorherrscht.
4.b) Handlungen und Ereignisse. Ein Blick auf die gegenwärtige Diskussion Die Debatte über den Handlungsbegriff, wie wir sie heute kennen, ist aus der sogenannten analytischen Tradition entstanden. In der analytischen Philosophie spielt die Frage nach den Grenzen zwischen Handlungen und Geschehnissen eine Kernrolle in der Debatte über den Handlungsbegriff, und sie wird in der Regel als die Kernfrage
108 109
Vgl. A 546/B 574; GMS AA 04 459; KpV AA 05 61. Auch (Bojanowski 2005, 35). Siehe die Text-Belege unten Kap. 4.
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der Handlungstheorie betrachtet. 110 Bekanntlich hat Wittgenstein durch seine Bemerkungen in den Philosophischen Untersuchungen diese Fragestellung maßgeblich beeinflusst. Wittgenstein fragt in den entsprechenden Texten nach dem, was übrig bleibt, wenn ich »von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die [Tatsache] abziehe, dass mein Arm sich hebt«. 111 Es ist dennoch nicht klar, ob Wittgenstein die Frage und das aus ihr entwickelte Forschungsprogramm als sinnvoll betrachtet hat. 112 Jedenfalls ist bekannt, dass die Überlegungen Wittgensteins nicht nur die gegenwärtige Fragestellung determiniert haben. Traditionell wird die Entwicklung der Handlungstheorie in der gegenwärtigen Philosophie folgendermaßen gesehen: Die Wittgenstein’schen Überlegungen hätten eine Reaktion gegen die sogenannte kausale Theorie der Handlung ausgelöst; entsprechend hätten Autor*innen der Wittgenstein’schen Tradition wie S. Hampshire, G. H. von Wright, G. E. M. Anscombe und andere die These zurückgewiesen, die besagt, dass »Gründe Ursachen« sind. Und später habe Davidson dann versucht, die kausale Handlungstheorie zu revidieren und damit einen neuen Anfang in der Handlungstheorie gemacht, der entscheidend für unser heutiges Verständnis dieser Disziplin ist. Diese »Geschichte« wird häufig erzählt, aber selten analysiert. Besonders heikel erscheint die Antwort, die sie auf die Frage nach der Bedeutung des gängigen Ausdrucks »kausale Handlungstheorie« gibt. Hier muss man besonders vorsichtig sein, weil die Rede von 110 Vgl. z. B. (Davidson 1971, S. 43) (Davidson 1987, S. 100), (Frankfurt 1978, S. 69), (Mele 1997, S. 1), (Mele 2003, S. 65), (Stout 2005, S. 1–14), (Horst 2012, S. 15–16). Darauf haben Autor*innen wie Natali (Natali 2002, S. 131 ff.) und Vigo (Vigo 2008, S. 78 Fn. 3) aufmerksam gemacht, die diese Annahme kritisch sehen. Innerhalb der angelsächsischen analytischen Tradition haben jüngst M. Thompson und A. Ford sich gegen diese Auffassung von der Aufgabe der Handlungstheorie gewendet. Vgl. (Thompson 2008, S. 90–91) und (Ford 2011, S. 76–80). 111 Der vollständige Text lautet: »Aber vergessen wir eines nicht: wenn ›ich meinen Arm hebe‹, hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrig bleibt, wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass mein Arm sich hebt?«. Diese Frage hängt mit der Bemerkung zusammen, in der Wittgenstein auf den Unterschied aufmerksam macht zwischen Dingen, die uns geschehen, und Dingen, die wir tun. PU § 621. Siehe auch Wittgenstein PU § 612 »Von der Bewegung meines Armes z. B., würde ich nicht sagen, sie komme, wenn sie komme, etc. Und hier ist das Gebiet, in welchem wir sinnvoll sagen, dass uns etwas nicht einfach geschieht, sondern dass wir es tun. ›Ich brauche nicht abwarten, bis mein Arm sich heben wird, – ich kann ihn heben‹. Und hier setze ich die Bewegung meines Arms etwa dem entgegen, dass sich das heftige Klopfen meines Herzens legen wird«. 112 Für solche Zweifel vgl. (Ford 2011, S. 77) und (Horst 2012, S. 16).
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»kausaler Handlungstheorie« so üblich wie vage ist. Einige Autor*innen verstehen unter »kausaler Handlungstheorie« den Ansatz, demzufolge Gründe Ursachen sind (im Folgenden: die »GU-These«). 113 Donald Davidson scheint diese Interpretation provoziert zu haben, als er in dem berühmten Aufsatz »Actions, reasons and causes«, der als Kernaufsatz der kausalen Handlungstheorie gilt, behauptet hat: »In this paper I want to defend the ancient – and commonsense – position that rationalization is a species of a causal explanation. The defence no doubt requires some redeployment, but it does not seem necessary to abandon the position, as has been urged by many recent writers« (Davidson 1963, S. 3). Diese »recent writers«, deren Werke Davidson ohne Seitenangaben zitiert, sind G. Ryle, G. E. M. Anscombe, H. L. Hart und A. M. Honoré, W. Dray, R. F. Holland und A. I. Melden. (Davidson 1963, S. 3 Fn. 1). So weit, so gut. Es ist aber m. E. nicht klar, ob all diese Autor*innen die GU-These verneinen würden. 114 Obwohl Davidson auf den übrigen Seiten seines Textes Belege dafür gibt, dass zumindest manche von ihnen die These ablehnen würden (z. B. A. Melden), ist die textuelle Basis bei den anderen Autor*innen entweder dünn oder sogar inexistent. Freilich: Autor*innen wie A. Melden weisen die GU-These zurück. Die Mehrheit der Autor*innen, die die GU-These kritisiert haben, haben dies aufgrund des sogenannten logical connection-Argument oder ähnlicher Argumente getan. Was ist das logical connection-Argument? Es handelt sich dabei eigentlich nicht um ein Argument (jedenfalls lassen sich die Strukturen eines solchen Arguments nicht ohne Probleme sauber identifizieren), sondern eher um eine Familie von Argumenten, die üblicherweise auf Bemerkungen Wittgensteins im Blauen Buch zurückgeführt werden. Wittgenstein soll dort die These verteidigt haben, Handlungsgründe setzten eine Art von Sprachwissen voraus, das nicht mit empirischem Wissen zu verwechseln sei, während Kausalerklärungen andererseits empirische Aussagen seien: induktiv gewonnene Hypothesen nomologischen Charakters. Zur Familie des logical connection-Arguments gehören 113 Dies scheint z. B. Willascheks Verständnis des Adjektivs »kausalistisch« zu sein, wenn er behauptet, dass Kants Handlungstheorie »kausalistisch« sei. Vgl. Willaschek (1992, S. 250): »Kants Handlungstheorie ist kausalistisch: Die Gründe des Handelns sind zugleich die Ursachen des beobachtbaren Verhaltens«. 114 Viele Autor*innen folgen trotzdem unkritisch den von Davidson gegebenen Referenzen und behaupten, dass die erwähnten Autor*innen die GU-These ablehnen. Vgl. z. B. Bratman (1985, S. 14).
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daher diejenigen Argumente, die die GU-These mit der Begründung ablehnen, Handlungserklärungen bestünden in logischen bzw. semantischen Zusammenhängen, während Kausalerklärungen in empirisch-induktiven Aussagen nomologischer Natur bestünden. 115 Das heißt, es sei nicht möglich, dass Gründe Ursache seien, weil die Relation »x ist Grund von y« inkompatibel mit der Relation »x ist Ursache von y« sei. Obwohl dieses Argument zwar von einigen der von Davidson zitierten Autor*innen verwendet worden ist (siehe Fn. 115), gibt es andere Autor*innen, die Davidson erwähnt und bei denen ein solches Argument keine Rolle spielt. Dies ist auch der Fall bei den anderen von Davidson diskutierten Argumenten, nämlich: 1) Gründe könnten keine Ursachen sein, weil sie keine Ereignisse seien und 2) Die Beziehung »Gründe-Handlung« sei, anders als die Relation »Ursache-Wirkung«, nicht nomologisch. 116 Anscombes Buch Intention, das von Davidson als Beispiel für einen anti-kausalistischen Ansatz, nämlich einen Ansatz, der die GU-These ablehnt, zitiert wird, scheint mir ein Beispiel eines Textes zu sein, der weder das logical connection-Argument noch irgendeines der von Davidson analysierten Argumente gegen die GU-These ver115 Siehe Wittgenstein Z. B. Blue book, 15: »The proposition that your action has such and such a cause, is a hypothesis. The hypothesis is well-founded if one has a number of experiences which, roughly speaking, agree in showing that your action is the regular sequel of certain conditions which we then call causes of an action. In order to know the reason which you had for making a certain statement, for acting in a particular way, etc. no number of agreeing experiences is necessary, and the statement of your reason is not a hypothesis. The difference between the grammars of »reason« and »cause« is quite similar to that between the grammars of »motiv« and »cause«. Of the cause one can say that one can’t know it but can only conjuncture it. On the other hand one can often says: »Surely I must know why I did it« talking of the motive. When I say »we can only conjuncture the cause but we know the motive« this statement will be seen later on to be a gramatical one. The »can« refers to a logical possibility«. Das logical conection-Argument ist tatsächlich bei einigen der von Davidson erwähnten Autor*innen zu finden, z. B. bei Melden. Vgl. Melden (1961, S. 89 ff.) und die von Davidsons zitierten Stellen (Davidson 1963, S. 13 ff.). Davidson erwähnt auch A. Kenny und S. Hampshire als Vertreter des logical connection-Arguments, aber gibt keine genauere Information über das Argument bei diesen Autor*innen. Er behauptet letztlich, dass Ryle eine der Quellen des Arguments sein soll. Wahrscheinlich denkt er in den Thesen die in Ryle (1949, S. 88) zu finden sind. Dies scheint mir aber unklar. Das logical connection-Argument wurde dennoch auch von anderen Autor*innen verteidigt, die Davidson nicht erwähnt. Vgl. z. B. von Wright (1971a, S. 93 ff.). Für die Argumente Davidsons gegen das logical connection-Argument siehe (Davidson 1963, S. 13–15). 116 Vgl. (Davidson 1963 12–19).
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teidigt. 117 Betrachtet man die Dinge genauer, lässt sich sogar bestätigen, dass Anscombe nicht nur kein Argument gegen die GU-These mit einbezieht, sondern dass sie auch nicht behauptet, jedenfalls nicht explizit, dass Gründe keine Ursache sind. Freilich: Sie hat sich als skeptisch gegenüber dem Erklärungspotenzial solcher Begriffe gezeigt, wenn es darum geht, den Begriff der »Absicht« (intention) zu erklären. Dies schließt aber nicht ein, dass sie die These ablehnt, Gründe seien Ursachen. 118 Wäre nicht z. B. möglich, dass sie die These für uninformativ gehalten hat? Auch triviale, wenig informative oder sogar mehrdeutige Thesen können schließlich wahr sein. Mehr noch: Dass Anscombe die GU-These geleugnet haben soll, scheint zumindest nicht leicht verträglich zu sein mit ihrer Behauptung, praktisches Wissen, nämlich das Wissen, dass wir über unsere absichtliche Handlungen haben, sei die Ursache dessen, was es versteht (Anscombe 1963, S. 87). 119 Die Relevanz der These über praktisches Wissen für Anscombe kann man kaum überschätzen. Gleichwohl scheint es richtig zu sein, dass Anscombe und andere Autor*innen eine bestimmte Form der GU-These abgelehnt haben bzw. ablehnen, nämlich die von Davidson verteidigte Form. Man muss in diesem Punkt aber vorsichtig sein, weil Davidsons einflussreiche, scharfsinnige und komplexe Handlungstheorie bekanntlich in mehreren Versionen vorliegt, weil er im Lauf der Jahre seine Meinung bezüglich dieses Themas in vielen Punkten geändert hat. Dementsprechend hat Davidson zwei Versionen seiner Handlungstheorie entwickelt. 120 Man wird gut beraten sein, wenn man die Kernthesen der zwei Modelle Davidsons analysiert und damit bestätigt, dass die 117 Was das logical connection-Angeht, hat auf dies Hursthouse früher aufmerksam gemacht. Vgl (Hursthouse 2000, S. 85 ff.). 118 »Why is giving a start or gasp not an ›action‹ while sending for a taxi or crossing the road is one? The answer cannot be »Because the answer to the question ›why?‹ may give a reason in latter cases … it will be hardly enlightening to say: in the case of the sudden start the ›reason‹ is a cause; the topic of causality is in a state of too great confusion; all we know is that this is one of the places where we do use the word ›cause‹« (Anscombe 1963, S. 10). 119 Vgl Horst (2012, S. 34 Fn. 46) und Thompson (2008, S. 96 Fn. 14), die auf diese Stelle im Rahmen dieser Debatte aufmerksam machen. Jüngst hat z. B. Rödl behauptet, dass Wollen und Handlung eine logisch-kausale Beziehung haben. (Rödl 2016, 49). 120 Siehe dazu der Bericht Davidsons in (Davidson 1978, S. 96 ff.), (Davidson 1985a, S. 195–197 und 220). Siehe auch (Bratman 1985, S. 13–18) und (Mele 2003, S. 79– 80).
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beiden Modelle mindestens eine Grundannahme teilen, die genau diejenige ist, die Autor*innen wie Anscombe ablehnen. Die fragliche Grundannahme hängt eng zusammen mit Davidsons Verständnis der GU-These. Wenn man die genannte Analyse vollzieht, wird die ziemlich vage Kennzeichnung »die kausale Theorie der Handlung« etwas informativer, sodass man besser verstehen kann, worin der Dissens zwischen den sogenannten kausalistischen und nicht-kausalistischen Ansätzen eigentlich besteht. Dies ist besonders wichtig für uns, weil die Kausalismus-Debatte die Versuche dominiert hat, die Thesen der Autor*innen der Vergangenheit bezüglich der Handlungsproblematik fruchtbar zu machen. Und zwar dergestalt, dass die Mehrheit der Versuche, die Ideen der Autor*innen der Vergangenheit sub specie veritatis zu lesen, das Modell Davidsons als dasjenige gesehen hat, das dem Modell des entsprechenden Autors am meisten ähnelt. Dies ist z. B. eindeutig der Fall bei Kant, dessen Ideen normalerweise à la Davidson interpretiert werden. Bald gilt Kant als Anhänger des »Kausalismus«, nämlich der Davidson’schen Interpretation der GU-These, bald wird er als Anhänger des belief-desire-Modells betrachtet. 121 Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass das bahnbrechende Modell Davidsons die Debatte in der gegenwärtigen Handlungstheorie wie kein anderes beeinflusst hat. Deshalb ist es für Autor*innen, die Philosoph*innen der Vergangenheit sub specie veritatis lesen wollen, attraktiv. Die Auffassung Davidsons hat auch die Besonderheit, dass er mit ihr den Anspruch erhebt, eine traditionelle These wiederaufgenommen zu haben, nämlich die These, die Handlungserklärung sei eine Form von Kausalerklärung. Dies hatte zur Folge, dass die Autor*innen, die die Ideen der Philosoph*innen der Vergangenheit fruchtbar machen wollten, sich besonders am Modell Davidsons orientiert haben: Dieses Modell habe nämlich die Thesen der Philosoph*innen der Vergangenheit vor Wittgenstein wieder aufgenommen. Betrachtet man aber die Dinge richtig und sorgfältiger, so meine These, dann wird man finden, dass die Ähnlichkeiten zwischen
121 Siehe z. B. (Meerbote 1982), (Willaschek 1992) und (Petersen 2009). Bei anderen Autor*innen der Vergangenheit gib es ebenfalls Beispiele für diese Dominanz der Davidson’schen Versuche, diese Autor*innen fruchtbar zu machen. Entsprechend hebt z. B. M. Quante mehrmals die mutmaßlichen Ähnlichkeiten zwischen Hegel und Davidson hervor, die, Quantes Meinung nach, so weit gehen, dass er in Hegel einen Vorgänger des »anomalen Monismus« sieht. Vgl. Quante (1993, S. 237). Zur These des anomalen Monismus, siehe unten S. 196 Fn. 141.
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Kant und Davidson viel geringer sind als üblicherweise angenommen wird. Und das aus gutem Grund. 122 4.b.1) Davidsons kausale Theorie der Handlung Als locus classicus der Handlungstheorie Davidsons gilt sein oben zitierter Aufsatz »Actions, reasons and causes«. Dort hat er die erste Version seiner Handlungstheorie verteidigt, die er später, wie gesagt, in Kernaspekten modifiziert hat. Das Kernmerkmal des Modells ist jedoch konstant geblieben, nämlich die Auffassung, dass der Begriff der absichtlichen Handlung durch einen Katalog von notwendigen und hinreichenden Bedingungen analysierbar ist, die logisch unabhängig voneinander sind. Um diese Interpretationsthese über Davidsons Handlungstheorie zu verteidigen, muss man die beiden Modelle Davidsons untersuchen. Dies ist es, was ich auf den folgenden Seiten vorhabe. Das erste Modell hat Davidson, wie gesagt, in seinem Aufsatz »Actions, reasons and causes« vorgelegt. Trotz gängiger Vereinfachungen des Arguments dieses inhaltsreichen Textes erschöpfen sich seine Thesen nicht in der Behauptung, dass Gründe Ursachen sind. Der Text identifiziert diese »Gründe-Ursachen« mit sogenannten primären Gründen (primary reasons), die Handlungen rationalisieren. Die GU-These bei Davidson lautet deswegen nicht so sehr »Gründe sind Ursachen«, sondern eher »primäre Gründe sind Ursachen« (Davidson 1963, S. 4). Diese These des Aufsatzes soll mit der These äquivalent sein, dass die Rationalisierung einer Handlung eine Form kausaler Erklärung ist. 123 Wie ist dies möglich? Hier drängen sich zwei Fragen auf: Was sind primäre Gründe? Und was sind Rationalisierungen? Die erste Frage läßt sich wie folgt beantworten: Ein primärer Grund bestehe, so Davidson, in einer Pro-Einstellung (pro-attitude) 124 und der ent122 Die Herausforderung, die übliche Davidson’sche Lektüre der Philosoph*innen der Vergangenheit in Sachen »Handlungstheorie« in Frage zu stellen, könnte man auch im Fall anderer Autor*innen der Vergangenheit annehmen. Dies ist aber selbstverständlich eine Aufgabe, die den Rahmen dieser Arbeit überschreitet. 123 Wie später gezeigt wird, sind diese Behauptungen (nämlich »Gründe sind Ursachen« und »Rationalisierungen sind einer Form von Kausalerklärung«) in der Tat zwei verschiedene Thesen, obwohl Davidson sie als austauschbare Behauptungen zu verstehen scheint. Vgl. unten S. 95 ff. 124 Davidson gibt keine Definition dieses Begriffs. Er beschränkt sich nur darauf, eine Auflistung möglicher Beispiele von »Pro-Einstellungen« zu geben. Vgl. (Davidson 1963, S. 4): »Under (a) (Pro-Einstellungen LP) are to be included desires, wantings,
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sprechenden Überzeugung (belief). 125 Diese Gründe »rationalisierten« die entsprechende Handlung. Wenn ich z. B. jetzt die Flüssigkeit trinke, welche Flasche beinhaltet, die gerade vor mir steht, kann die Zusammensetzung eines meiner Wünsche (z. B. Wasser zu trinken) und einer meiner Überzeugungen (z. B. die in dieser Flasche enthaltene Flüssigkeit ist Wasser) meine Handlung rationalisieren. Was heißt es aber, dass die erwähnten Einstellungen die Handlung »rationalisieren«? Der Begriff der »Rationalisierung« wird von Davidson wie folgt erklärt: »a reason rationalizes an action only if it leads us to see something the agent saw, or thought he saw, in his action – some feature or consequence, or aspect of the action the agent wanted, desired, prized, held dear, thought dutiful, beneficial, obligatory or agreeable« (Davidson 1963, S. 3). Die Pro-Einstellung und die Überzeugung rationalisieren die Handlung demnach, weil aus ihnen hervorgeht, was in den Augen des Handelnden für die Handlung spricht. Das heißt, dass Rationalisierungen Handlungen erklären, indem sie die Handlung verständlich machen. Meine Handlung, ›die Flüssigkeit in dieser Flasche zu trinken‹ wird mit Bezug auf a) meinen Wunsch, Wasser zu trinken und b) meine Überzeugung, dass die Flüssigkeit in der Flasche Wasser ist, rationalisiert. Dadurch dass a und b zusammentreffen, wird verständlich, dass ich die Flüssigkeit in dieser Flasche trinke und nicht z. B. die Flüssigkeit in der Tasse, die Kaffee ist. Es kann durchaus der Fall sein, dass ich mich irre, wenn ich denke, dass die Flüssigkeit in der Flasche Wasser ist. Nehmen wir an, dass ich mich tatsächlich irre, dass es sich in Wahrheit um Chlor handelt, und dass ich es getrunken habe. Es ist offensichtlich, dass mein Wunsch, Wasser zu trinken und meine Überzeugung, dass die Flüsurges, promptings, and a great variety of moral views, aesthetic principles, economic prejudices, social conventions and public and private goals and values in sofar these can be interpreted as attitudes of an agent directed towards actions of a certain kind«. Wie K. Glüer bemerkt, ist die gemeinsame Eigenschaft alle Pro-Einstellungen, dass sie sich auf Handlungen beziehen, die der Handelnde als vollziehenswert ansieht. (Glüer 1993, S. 88). 125 Davidson sagt, ein primärer Grund bestehe in der Konjunktion von (a) und (b), obwohl es in der Regel müßig sei, beide (a) und (b) zu erwähnen. Deswegen kann man verstehen, dass Davidson, wenn er die Idee des primären Grunds einführt, sagt, dass die Angabe des Grundes, aus dem jemand gehandelt hat, darin besteht, (a) und/oder (b) zu nennen (Davidson 1963, S. 4): »Giving the reason why an agent did something is often a matter of naming the pro attitude (a) or the belief (b) or both«. Obwohl die Angabe des Grundes üblicherweise darin besteht, (a) und/oder (b) zu nennen, bleibt die Konjunktion der primäre Grund.
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sigkeit in der Flasche Wasser ist, meine Handlung, Chlor zu trinken, nicht rationalisieren. Weder habe ich gewünscht, Chlor zu trinken, noch war ich der Meinung, dass die Flüssigkeit in der Flasche Chlor ist. Trotzdem ist Chlor zu trinken eine Handlung. Es ist etwas, das ich vollzogen habe und nicht etwas, das mir widerfahren ist (Davidson 1971, S. 45). Ich hätte es vermeiden können, Chlor zu trinken, z. B. wenn ich sorgfältiger überprüft hätte, was in der Flasche war. Wenn ich Chlor trinke und glaube, dass ich Wasser trinke, wird meine Handlung, Chlor zu trinken aber nicht dadurch erklärt, dass ich Wasser trinken wollte. Wie kann man diese Handlung »rationalisieren«? Oder lässt sie sich nicht rationalisieren? Hier tritt ein zentrales Element von Davidsons Handlungstheorie in Erscheinung. Meine Handlung, Chlor zu trinken, ist eigentlich ein Beispiel einer nicht intentionalen Handlung. Ich habe nicht intendiert, Chlor zu trinken. Gleichwohl gibt es einen Aspekt meiner Handlung, unter dem ich sie beabsichtigt habe, nämlich diese Flüssigkeit zu trinken, von der ich irrtümlich angenommen hatte, sie sei Wasser. Mein Trinken dieser Flüssigkeit kann ich aber rationalisieren, indem ich mich auf meinen Wunsch berufe, Wasser zu trinken und auf meine Überzeugung, dass die Flüssigkeit in der Flasche Wasser ist. Das heißt, ich habe die Handlung unter einem Aspekt intendiert, und deswegen ist sie unter diesem Aspekt absichtlich. Daher zieht Davidson die folgende Konsequenz: Handlungen werden immer unter einer Beschreibung rationalisiert und sie sind nur unter dieser Beschreibung intentional. Dies ist es, was Davidson in »Actions, reasons and causes« als den »quasiintentionalen« Charakter der Handlungsbeschreibungen in Rationalisierungen nennt (Davidson 1963, S. 5). 126 126 Vgl. (Davidson 1963, S. 5): »Since reasons may rationalize what someone does when it is described in one way and not when it is described in another, we cannot treat what was done simply as a term in sentences like ›My reason for flipping the switch was that I wanted to turn on the light‹ ; otherwise we would be forced to conclude, from the fact that flipping the switch was identical with alerting the prowler, that my reason for alerting the prowler was that I wanted to turn on the light. Let us mark this quasi-intensional character of action descriptions in rationalizations by stating a bit more precisely a necessary condition for primary reasons: C1. R is a primary reason why an agent performed the action A under the description d only if R consists of a pro attitude of the agent towards actions with a certain property, and a belief of the agent that A, under the description d, has that property«. Siehe auch (Davidson 1971, S. 46): »a person is the agent of an event if and only if there is a description of what he did that makes true a sentence that says he did it intentionally«. Davidson spricht von einem »quasi-intentionale[n] Charakter« der Handlungsbeschreibung,
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Man muss hier aber beachten, dass die Redeweise von Handlungen, die absichtlich unter einer Beschreibung sind, bestimmte Fehler nahelegt. Davidson hat dies klar gesehen und auf einige der Probleme dieses heutzutage im Rahmen der Handlungstheorie gängigen Ausdrucks aufmerksam gemacht. Der Grund dafür lässt sich anhand einer Analyse der folgenden Sätze nachvollziehen: I II III IV
Oedipus hat Iokaste geheiratet. Oedipus hat seine Mutter geheiratet. Oedipus wollte Iokaste heiraten. Oedipus wollte seine Mutter heiraten.
I und II sind wahr. Es ist außerdem klar, dass, wenn I wahr bzw. falsch ist, auch II wahr bzw. falsch ist und umgekehrt, weil die Ausdrücke »Iokaste« und »die Mutter Oedipus’« denselben Gegenstand bezeichnen. Deswegen kann man »Iokaste« durch »die Mutter Oedipus’« ersetzen (oder umgekehrt) ohne Veränderung im Wahrheitswert des Satzes. Dies ist aber nicht der Fall in den sogenannten »opaken Kontexten«, die man im Fall der Sätze III und IV vor sich hat. Obwohl »Iokaste« und »die Mutter Oedipus’« koextensionale Termini sind, kann man in III »Iokaste« nicht durch »die Mutter Oedipus’« ersetzen ohne Veränderung im Wahrheitswert des Satzes. Denn es ist klar, dass Oedipus Iokaste heiraten wollte, obwohl er nicht seine Mutter heiraten wollte. Daher ist III wahr und IV falsch, obwohl »Oedipus hat Iokaste geheiratet« und »Oedipus hat seine Mutter geheiratet« dieselbe Handlung bezeichnen. Oedipus hat in der Tat seine Mutter geheiratet, obschon er nur intendiert hat, Iokaste zu heiraten, d. h. die Frau, die er als Belohnung für die Befreiung Thebens von der Sphinx erhalten hatte, die ehemalige Frau Laios’ usw. Er wusste aber nicht, dass Iokaste oder die Frau, die er als Belohnung für die Befreiung Thebens von der Sphinx erhalten hat, die ehemalige Frau Laios’ usw. also seine Mutter war. Deswegen ist Oedipus’ Heiraten seiner Mutter nicht absichtlich, obwohl diese Handlung »identisch« mit Oedipus’ Heiraten von Iokaste ist. »Oedipus’ Heiraten von Iokaste« und »Oedipus’ Heiraten seiner Mutter« sind demnach zwei verschiedene Beschreibungen einer und weil die Handlungsbeschreibung bedeuten oder referieren (refer) muss, denn wenn es so nicht wäre, wäre es möglich, Handlungen zu rationalisieren, die tatsächlich nicht vollzogen worden sind.
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derselben Handlung. Wenn diese beiden Handlungen aber identisch sind, müssen sie auch dieselben Eigenschaften haben. Wenn zwei Gegenstände sich auch nur hinsichtlich einer einzigen Eigenschaft unterscheiden, dann sind sie numerisch verschieden. Dies ist das Prinzip (bzw. ein Aspekt des Prinzips), das man üblicherweise als »Leibnizens Gesetz« (LG) bezeichnet. Formal ausgedrückt lautet es: LG: 8 F (F x $ F y) ! x = y Die allgemeine Idee Davidsons ist folgende: Wenn »absichtlich« eine Eigenschaft von Handlungen wäre, dann hätte die Handlung a (»Oedipus’ Heiraten von Iokaste«) eine Eigenschaft, die die Handlung b (»Oedipus’ Heiraten seiner Mutter«) nicht hat (nämlich F: die Eigenschaft, von Oedipus beabsichtigt zu werden), obwohl a = b. Dies wäre deswegen problematisch, weil F kraft LG sowohl von a als auch b ausgesagt werden muss; schließlich sind a und b identisch. Daher behauptet Davidson mehrmals, dass er das Wort »absichtlich« ähnlich wie das Wort »möglich« als eine Bestimmung von Sätzen versteht (Davidson 1985, S. 297). »Absichtlichkeit« ist keine Eigenschaft der Gegenstände, in diesem Fall der Handlungen. Daher sagt man, wenn man eine Handlung als absichtlich bezeichnet, so viel wie: Es war absichtlich vom Handelnden h, dass p, wobei p ein Satz ist, der besagt, dass h etwas getan hat (Davidson 1967a, S. 122). So weit, so gut. Bisher ist aber nichts von der Redeweise gesagt worden, nach der Handlungen »absichtlich unter einer Beschreibung«« sind. Bis zu diesem Punkt wurde nur gesagt, dass »absichtlich« keine Eigenschaft von Handlungen ist. Davidson hat aber nicht nur dies behauptet, sondern auch, dass die Rede von »Absichtlichkeit unter einer Beschreibung« diesen Fehler begünstige. Entsprechend sagt er: »we have yet to elucidate sentences of the form, ›Action a is intentional under description d‹. It should be said at once that this way of speaking is misleading. It suggests that ›Fa‹ and ›a = b‹ may be true and ›Fb‹ false even though the position for a term after ›F‹ is a referring position; but of course this would be a contradiction. Perhaps there is also the implication that references within statements of intention need to be relativized to a description. But the implication must be wrong, since in whatever sense such relativization is called for it is already present. Part of the point then of speaking of an action or event ›under a description‹ is merely to make explicit the fact that some context is intensional. It is a context containing a position in Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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which normal substitutivity of identity appears to break down (though whether it actually breaks down depends on the final semantic analysis of such contexts), and in which the truth of a sentence can be affected by which of several (normally) coreferring descriptions is used«. (Davidson 1970a, S. 194–195).
Es ist schwierig diese Bemerkung zu interpretieren. Davidson scheint sagen zu wollen, dass es sein könnte, dass sich bezüglich Aussagen der Form »a ist absichtlich unter Beschreibung d« das folgende Problem ergibt: Auch unter der Annahme, dass F(a) und a = b kann F(b) falsch sein. Was heißt dies aber genau? Versucht man die von Davidson hier in den Blick genommene formale Struktur zu interpretieren, entstehen schnell Schwierigkeiten. Erstens ist nicht klar, welches die Bedeutung des Prädikats F ist. Davidson formuliert es als ein einstelliges Prädikat F(x). »Handlung a ist absichtlich unter Beschreibung d« scheint aber eine Relation zu sein. Um dieses Problem zu umgehen, kann man F aber auf eine von zwei Weisen interpretieren. Entweder, man definiert F als ein ›ostensives‹ Prädikat der Gestalt: »… ist eine Beschreibung, unter der diese Handlung absichtlich ist« (auf die Ereignisse zeigend, dass Oedipus Iokaste heiratet, bzw. dass Oedipus seine Mutter heiratet). Oder man interpretiert F als das Prädikat »… ist eine Beschreibung, unter der das Ereignis, dass Oedipus Iokaste heiratet, absichtlich ist«. 127 In beiden Interpretationen wäre F dann gewissermaßen die Eigenschaft einer Beschreibung, die aufgezeigte bzw. genannte Handlung absichtlich zu machen. Unklar bleibt aber selbst dann, wenn man einem dieser Vorschläge folgen möchte, die Bedeutung der Konstanten a und b. Davidson scheint zu meinen, dass diese Konstanten Handlungen bezeichnen. Man kann aber Handlungen ohne Handlungsbeschreibungen nicht identifizieren, geschweige denn auf Aspekte aufmerksam machen, unter denen man eine und dieselbe Handlung in unterschiedlichen Weisen betrachten kann. Diese Verschiedenheit der Betrachtungsweise einer und derselben Handlung wird aber durch die Bezeichnungen Davidsons (a und b) nahegelegt. Es sei a der Ausdruck »die Handlung des Oedipus, die Frau zu heiraten, die er als Belohnung für die Befreiung Thebens von der Sphinx erhalten hat« und b der Ausdruck »die Handlung des Oedipus, seine Mutter zu heiraten«. Es ist dann offensichtlich, dass a und b Beschreibungen desselben Ereignisses sind, 127 Den Hinweis auf die beiden Möglichkeiten, aus Davidsons Verwendung eines einstelligen Prädikats F Sinn zu schlagen, hat mir Jens Gillessen gegeben.
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aber dass das Prädikat F (etwa: … ist eine Beschreibung, unter der diese Handlung absichtlich ist) die Werte wahr für a und falsch für b liefert. Unter der Beschreibung a ist die Handlung des Oedipus absichtlich, aber sie ist nicht absichtlich unter der Beschreibung b. Denn Oedipus wollte Iokaste heiraten, nicht seine Mutter. Iokaste war seine Mutter, obwohl Oedipus dies nicht wusste. Die Pointe der Bemerkung Davidsons ist dann, dass »Absichtlichkeit unter einer Beschreibung« keine Eigenschaft eines Ereignisses sein kann. Es gibt deshalb keine Klasse von Ereignissen, die absichtlich sind (Davidson 1971, S. 46). 128 Davidson will mit dem Ausdruck »absichtlich unter einer Beschreibung« vielmehr zu verstehen geben, dass in Rationalisierungen Handlungsbeschreibungen eine Rolle spielen, die in opaken Kontexten vorkommen, zumal sie im Skopus von Verben wie »wollen« oder »glauben« vorkommen, die propositionale Einstellungen zum Ausdruck bringen. Bevor wir zurück zu Davidsons Analyse in »Actions, reasons and causes« kommen, muss man hier ein weiteres und naheliegendes Missverständnis entkräften, das der Ausdruck »absichtlich unter einer Beschreibung« zur Folge gehabt hat. Obwohl es üblich und teils berechtigt ist, wenn der Ausdruck »absichtlich unter einer Beschreibung« fällt, um die Namen Davidsons und Anscombes in Verbindung zu bringen (vgl. z. B. Mele 2003, Ludwig 2009), sind die Dinge eigentlich komplizierter, als die Mehrheit der Autor*innen sie darstellt. Anscombe, die den Ausdruck als terminus technicus in die Hand-
128 Vgl (Davidson 1967a, S. 121): »This leaves the question what logical form the expression that introduces intention should have. It is obvious, I hope, that the adverbial form must be in some way deceptive; intentional actions are not a class of actions, or, to put the point a little differently, doing something intentionally is not a manner of doing it. To say someone did something intentionally is to describe the action in a way that bears a special relation to the beliefs and attitudes of the agent; and perhaps further to describe the action as having been caused by those beliefs and attitudes«. Vgl. auch (Davidson 1971, S. 61). Ähnlich bei Anscombe: »But »under the description ›putting the book down on the table‹ my action was intentional, though it was unintentional under the description ›putting the book down on a puddle of ink‹« has as subject simply »my action« and as predicates »intentional under the description« is qua, or Aristotle’s ἧ in modern dress. Aristotle too observes (3 chapter 8) that the phrase ›ἧ…‹ belongs to the predicate, not to the subject. There aren’t such things objects as an A qua B, though an A may, qua B, receive such and such a salary, qua C, such and such salary. In the view of (1) [nämlich dies, was gerade gesagt wurde, LP] the recognition that some single object may be φ qua B (or φ under the description »B«) and not φ qua C has nothing to do with Leibniz’ law« (Anscombe 1979, S. 208).
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lungstheorie eingeführt hat, 129 meint m. E. eindeutig nicht dasselbe wie Davidson, wenn sie sich des Ausdrucks bedient. Und dies schon aus dem Grund, dass für sie anders als für Davidson Handlungsbeschreibungen keine Beschreibungen von Ereignissen oder »nackten Einzeldingen« (bare particulars) sind. 130 J. Annas hat in seinem Vergleich von Anscombes und Davidsons Positionen zum Problem der Individuation von Handlungen auf wichtige Unterschiede zwischen diesen Autor*innen aufmerksam gemacht, was die These angeht, dass Handlungen absichtlich »unter einer Beschreibung« sind (Annas 1976). Diese Unterschiede sind von großem Gewicht, wenn es darum geht, die verschiedenen Ansätze dieser Autor*innen darzustellen. Obwohl Annas Interpretation Anscombes in einigen Punkten problematisch ist, hat sie zu Recht auf eine der wichtigsten Differenzen zwischen Anscombe und Davidson hingewiesen, die methodischer Natur ist und die m. E. massive Konsequenzen hat: Während Anscombe sich in ihrer Auffassung der Handlung nicht an der mutmaßlichen logischen Form der Handlungsätze (action sentences) orientiert, tut dies Davidson sehr wohl. 131 Der Punkt ist hier, dass diese methodologische Entscheidung wichtige Folgen für beide Theorien hat, wie man schnell sieht, wenn man die Dinge genauer betrachtet. 132 Davidson interpretiert die logische Form eines Satzes wie »Otto hat in der Nacht in der Küche mit einem Messer das Brot geschnitten« wie folgt: 9x [(Geschnitten, Otto, das Brot x) ^ (In der Küche x) ^ (mit einem Messer x)]. Und dies aus guten Gründen, weil es hilft, Probleme mit der Analyse bestimmter Schlüsse zu lösen. Wenn man den entsprechenden Satz so formalisiert, wie die Mehrheit der Autor*innen vor Davidson es getan hätten, nämlich mit einem fünfstelligen Prädikat, kann man nicht mehr die inferentiellen Vgl. (Anscombe 1963, S. 11–12) und (Anscombe 1963, S. 37 ff.). Vgl Anscombe (1979, S. 209). »I have on occasion stared dumbly when asked: ›if one action can have many descriptions, what is the action, which has all these descriptions?‹ The question seemed to be supposed to mean something, but I could not get hold of it. It ought to have struck me at once that here we were in ›bare particular‹ country: what is the subject, which has all these predicates? The proper answer to ›What is the action, which has all these descriptions?‹ is to give one of the descriptions. Any one, it does not matter which; or perhaps it would be best to offer a choice, saying ›Take whichever you prefer‹«. 131 Dies ist besonders klar in (Davidson 1967a) und (Davidson 1985). 132 Davidson hat z. B. explizit erkannt, dass diese Orientierung an der logischer Form der Handlungsaussagen entscheidend für seine Ereignisontologie gewesen ist. Vgl (Davidson 1993, S. 288). 129 130
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Beziehungen ausdrücken, die z. B. zwischen »Otto hat das Brot in der Küche geschnitten« und »Otto hat das Brot geschnitten« bestehen. 133 Da die Konjunktion die Wahrheit der Glieder des Satzes impliziert, löst Davidson dieses Problem elegant. Nun quantifiziert der Satz 9x [(Geschnitten, Otto, das Brot x) ^ (in der Küche x) ^ (mit einem Messer x)] auf der Ebene der Ereignisse (Davidson 1985, S. 294). D. h. sie sagt so viel wie: Es gibt mindestens ein Ereignis, und dieses Ereignis ist das Brotschneiden Ottos, das in der Küche stattgefunden hat und mit einem Messer geschah. Wenn Davidson sagt, dass eine und dieselbe Handlung absichtlich unter einer Beschreibung sein kann und unabsichtlich unter einer anderen, ist diese Behauptung immer vor dem Hintergrund seiner Theorie der logischen Form der Handlungssätze zu verstehen. Dies hat zur Folge, dass er die These vertritt, die Identität der unterschiedlich beschriebenen Handlungen sei eigentlich nur eine Identität von Ereignissen (Davidson 1985, S. 299). Wir beschreiben in unterschiedlicher Weise dasselbe Ereignis, und einige diese Beschreibungen sind intentionalen Charakters. Denn die Handlung, von der man verschiedene Beschreibungen geben kann, sei ein Ereignis. Und so gelangt man zu einer der wichtigsten Thesen der Handlungstheorie Davidsons, die auch von der Mehrheit der Autor*innen der gegenwärtigen Handlungstheorie geteilt wird: Handlungen seien Ereignisse. 134 Das Problem der Individuation und der Identität von Handlungen sei deshalb eigentlich das Problem der Individuation von Ereignissen, die wir in verschiedenen Formen beschreiben. Sagt man mit Davidson, dass mein Bewegen des Turms, mein Schachmatt-Setzen des Gegners, mein Nerven des Gegners und mein Gewinnen des Matchs eine Handlung und nicht vier Handlungen sind, dann sagt man, dass man sich mit diesen Beschreibungen eigentlich auf ein Ereignis bezieht: in diesem Fall auf die Körperbewegung, mit der ich die Figur bewegt habe. Deswegen sind das Be133 Auf dieses Problem hat A. Kenny hingewiesen, wie Davidson selbst bemerkt. Vgl. (Kenny 1963, S. 107 ff.) (Davidson 1967a, S. 197 ff.) auch (Ludwig 2009). 134 (Davidson 1971, S. 44): »there is a fairly definite subclass of events which are actions« und (Davidson 1985, S. 293): »actions are events«. Gegen diese These: (Bach 1980), auch (Stoecker 1993, S. 276 ff.). Deswegen verwendet Davidson auch manchmal die Ausdrücke »Handlung« und »Ereignis« als Synonyme. Vgl. z. B. (Davidson 1985, S. 298 ff.). Dies impliziert natürlich nicht, dass Davidson meinte, dass »Handlung« und »Ereignis« denselben Umfang haben. Er meint vielmehr, dass, obwohl jede Handlung ein Ereignis ist, die Umkehrung nicht gilt, denn Handlungen sind eine Unterart der Ereignisse, nämlich Ereignisse, die unter mindestens einer Beschreibung absichtlich sind (Davidson 1971, S. 61).
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wegen des Turms, Schachmatt-Setzen, das Nerven des Gegners und das Gewinnen des Matchs verschiedene Beschreibungen einer Handlung. Dies gilt, so Davidson, für jede Handlungsbeschreibung. D. h. es gilt für jede Handlungsbeschreibung, dass sie eigentlich die Beschreibung eines Ereignisses ist, nämlich einer Körperbewegung, die einer »irreduziblen Handlung« (primitive action) entspricht. 135 Alle Handlungen sind deswegen primitive Handlungen und daher Körperbewegungen, die wir vollziehen, ohne etwas anderes zu vollziehen (vgl. Fn. 135). Wir beschreiben solche Bewegungen unterschiedlich, und so entsteht der »quasi-intentionale« Charakter der Handlungen. 136 Nun kann dies, wie Annas bemerkt, nicht die Auffassung Anscombes sein und ich glaube, dass die späteren Bemerkungen Anscombes dies auch klar machen. Anscombes Problem ist nicht, den »quasiintentionalen« Charakter der Handlungen und die Form herauszufinden, in der man diesen Charakter formal ausdrücken kann. Ihr Problem ist auch nicht, die logischen Schlüsse zwischen Handlungsaussagen richtig zu formalisieren. Da sie sich diese Probleme nicht stellt, benötigt sie die These nicht, dass Handlungen Ereignisse sind. Mehr noch: Sie lehnt die These ab. Sie lehnt deswegen auch explizit die Idee ab, eine Theorie der Identität von Ereignissen sei notwendig, um ihren Gebrauch des Ausdrucks »unter einer Beschreibung« zu verstehen (Anscombe 1979, S. 210). Sie erweist sich vielmehr skeptisch gegenüber der Möglichkeit, ein Identitätskriterium für die Individuation von Handlungen zu finden (Anscombe 1979, S. 208–209). 137 Aus 135 Vgl. (Davidson 1971, S. 59): »We must conclude, perhaps with a shock of surprise, that our primitive actions, the ones we do not do by doing something else, mere movements of the body – these are all the actions there are. We never do more than move our bodies: the rest is up to nature«. 136 Diese Auffassung hat Folgen. Besonders kompliziert ist das Problem der sogenannten »produktiven Handlungen«. Hier geht es um Handlungen wie die folgenden: Die Handlung Ottos, Fritz zu töten, ist identisch mit seiner Fingerbewegung, als er Fritz erschossen hat. Ist Fritz aber vier Tage später gestorben, so könnte man sagen, dass Otto Fritz getötet hat, bevor Fritz tot war. Oder dass Otto Fritz im Krankenhaus besucht hat, weil er ein schlechtes Gewissen hatte und sich mit Fritz unterhalten hat, nämlich mit der Person, die er getötet hat. Davidson hat diese Probleme eingesehen und versucht, Antworten innerhalb seines Modells zu finden. Vgl. (Davidson 1971) und (Davidson 1985). Für eine rivalisierende Theorie der Individuation von Handlungen vgl. (Goldman 1971). 137 Leider hat Anscombe in ihrem Aufsatz (Anscombe 1979) auf die Unterschiede zwischen ihr und Davidson in diesem Punkt nicht aufmerksam gemacht, obwohl sie einige Ähnlichkeiten zwischen ihrer Position und Davidsons Auffassung erwähnt hat (Anscombe 1979, S. 211). Dies hat zur Folge gehabt, dass eine Reihe von Autor*innen
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diesem Grund spielt bei ihr auch das Problem der »irreduziblen Handlung« keine Rolle. Kurz und gut: Anscombe will keine Semantik der Handlungssätze entwickeln – wahrscheinlich weil sie denkt, dass die Prädikatenlogik erster Ordnung nicht genügt, um eine befriedigende Ontologie der Handlungen zu formulieren. Davidson denkt das nicht, und deswegen muss er zeigen, dass er eine Theorie der logischen Form der Handlungssätze hat. Interessant ist hier vor allem, dass die Entscheidungen dieser Autor*innen Folgen für die Ontologien der Handlung haben, die sie akzeptieren. Kehren wir aber jetzt zu Davidsons Text »Actions, reasons and causes« zurück. Rationalisierungen erklären Handlungen unter einer Beschreibung. Sie tun dies, indem sie uns Informationen über die Art und Weise liefern, in der der Handelnde der Handlung sie als vollziehenswert ansieht. Aber mit dem Gesagten können wir, so Davidson, keine befriedigende Theorie der Handlungserklärung entwickeln; und zwar meint er dies aus guten Gründen, denn mit der Rationalisierung leisten wir nur eine partielle Erklärung dessen, was an einer absichtlichen Handlung erklärt werden muss. Mit einer Rationalisierung ordnen wir die Handlung in ein umfassendes Muster ein, ohne damit klar gemacht zu haben, wie die Rationalisierung die Handlung erklärt. 138 Ein Beispiel kann dieses Problem verdeutlichen. 139 Stellen wir uns vor, dass Donald Davidson nach Hause kommt und vorhat, das Licht einzuschalten. Er kommt herein, zieht seine Jacke aus und schaltet, als er die Jacke gerade ausgezogen hat, zufällig mit dem Ellenbogen das Licht ein. Er wollte das Licht einschalten, und er war davon überzeugt, dass, wenn er den Schalter anknipst, er das Licht einschaltet. Nun erklärt dieses Paar aus ProEinstellung und Überzeugung hier nicht die erwähnte Handlung Davidsons. Davidson könnte das Licht angemacht haben, wie er es angemacht hat, ohne die Wünsche und Überzeugungen gehabt zu haben, über die er tatsächlich verfügt hat. Davidson will aber in »Actions, reasons and causes« zeigen, dass Handlungserklärungen die relevanten Unterschiede zwischen Anscombe und Davidson in diesem Punkt nicht gesehen haben. 138 Auf dienen Punkt macht Davidson aufmerksam in (Davidson 1963, S. 10), wenn er gegen die Theorie Meldens argumentiert. Siehe auch (Stoecker 1993, S. 267): »It is not obvious why fitting an event into a pattern should, in itself, give us any clue as to why the event had to happen. So more has to be said about the interrelation between primary reasons and actions to account for their explanatory power«. 139 Das Beispiel nehme ich von Stoecker. Vgl (Stoecker 1993). Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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aus Gründen oder primären Gründen nicht nur die Handlung in ein umfassendes Muster einordnen, sondern auch, dass sie eine species kausaler Erklärung sind. Gründe erklären, indem sie die Ursache eines Ereignisses angeben. Wie ist dies möglich? Wie man schon in der Diskussion des sogenannten logical connection-Argument sehen kann, hängen die Positionen der Autor*innen in dieser Debatte besonders stark von den Positionen ab, die sie bezüglich des Problems der Kausalität vertreten. Denn die Vertreter des logical connection-Arguments können ihre These nur unter der Annahme verteidigen dass Kausalaussagen nomologisch sind. Auch die Theorie Davidsons kann man nur verstehen, wenn man einige relevante Aspekte seiner Theorie der Kausalität versteht. Davidson interpretiert Kausalität, wie er selber sagt, extensional. Das heißt: Kausalbeziehungen sind für ihn Relationen zwischen Ereignissen. 140 Kausal verbundene Ereignisse sind zwar nomologisch verbunden, denn wo es Kausalität gibt, muss es ein strikt deterministisches Gesetz geben, so Davidson. 141 Dies könnte dann den Eindruck erwecken, dass er mit den Vertretern des logical connection-Arguments einer Meinung sein müsse. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Gesagt wurde bisher, Kausalbeziehungen bestünden nach Davidson zwischen Ereignissen. Nun muss man das folgende ergänzen, um die Position Davidsons richtig zu verstehen: Während die Kausalrelation zwei Ereignistokens involviere, seien die entsprechenden Gesetze Relationen zwischen Ereignistypen. Dies hat zur Folge, dass für Davidson Kausalrelationen beschreibungsunabhängig sind, während Gesetze be140 Vgl. (Davidson 1993, S. 288), (Davidson 1993a, S. 188) und (Davidson 1995, S. 203). Das ist das Hume’sche Verständnis der Kausalität, das Kant wahrscheinlich nicht teilt. Vgl. oben S. 67. 141 Vgl. (Davidson 1970b, S. 208) auch (Davidson 1993a, S. 188) und (Davidson 1995). Das ist das zweite Prinzip, aus dem Davidson den »anomalen Monismus« (nämlich die These, dass mentale Entitäten physisch sind, obwohl es keine mögliche Reduktion dieser Entitäten auf physische Entitäten mit Hilfe strikt deterministischer Gesetze gibt) abzuleiten versucht (Davidson 1993a, S. 185). Die anderen zwei sind: 1) Einige geistige Ereignisse (mental events) stehen in kausaler Wechselwirkung mit physischen Ereignissen und 3) es gibt keine strikt deterministischen psycho-physischen Gesetze. Vgl. (Davidson 1970b) und (Davidson 1993a). In diesen Texten verteidigt Davidson auch, dass strikt deterministische Gesetze nur in der Physik zu finden sind, und zwar »im günstigsten Fall«. Vgl (Davidson 1970b, S. 219) und (Davidson 1993a, S. 191). Dass es ein Gesetz geben muss, wenn zwischen zwei Ereignissen eine kausale Relation besteht, heißt aber nicht, dass das entsprechende Gesetz uns bekannt wäre. Vgl. (Davidson 1967, S. 160).
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schreibungsabhängig sind. Dass die Verursachung von B durch A ein Gesetz impliziert, heißt hier, dass es ein Gesetz gibt, das durch bestimmte Beschreibungen der jeweiligen Ereignisse instanziiert wird. Und das, obwohl der Zusammenhang zwischen den Ereignissen uns unter anderen Beschreibungen zugänglich sei bzw. sein könne, die als solche kein nomologisches Verhältnis ausdrücken (Davidson 1963, S. 14–17). Wichtig ist es deshalb, hier hervorzuheben, dass es sich bei Kausalität um eine Relation zwischen zwei Ereignisvorkommnissen (tokens) handelt, die zwar jeweils unter eine Ereignisbeschreibung fallen, wobei die kausale Relation zwischen diesen Vorkommnissen unabhängig von der Beschreibung vorliegt (Davidson 1993a, S. 189). Dies ist der entscheidende Punkt. Denn zu jedem Vorkommnis einer Kausalrelation gibt es eine Menge von Beschreibungen, die kraft koreferentieller Ersetzbarkeit wahr sein können. Wenn es wahr ist, dass Prostatakrebs die Ursache des Todes des Autors des Canto general war, dann ist es wahr, dass Prostatakrebs die Ursache des Todes des Literaturnobelpreisträgers von 1971 war. Davidsons Meinung nach gelten Gründe (oder besser »das Zustandekommen eines Wunsches und einer Überzeugung«) 142, als Beschreibungen mentaler Ereignisse. Auch die Beschreibungen von Handlungen sind Ereignisbeschreibungen. Infolgedessen könne man Rationalisierung als singuläre Kausalaussage verstehen (Davidson 1963, S. 11 ff.). Daher kann man sagen, dass Davidson in seinem ersten Modell nicht nur die ziemlich vage und nicht-informative These verteidigt hat, dass Gründe Ursachen sind, sondern dass er darüber hinaus den Begriff der »absichtlichen Handlung« auf die folgenden Bedingungen 142 »In many cases it is not difficult at all to find events very closely associated with primary reasons. States and dispositions are not events, but onslaught of a state or disposition is« (Davidson 1963, S. 12). Auch (Davidson 1993, S. 287–288): »But belief and desires are not changes. They are states, and since I don’t think that states are entities of any sort, and so are not events, I do not think beliefs and desires are events. So when we mention beliefs and desires to explain an action, we are describing key aspects of the circumstances under which the agent acted. Typically, in fact, the connection between an agent’s having certain attitudes and his acting is closer than these remarks suggest, for it is changes in the attitudes, which are events, and which are the often unmentioned causes. We actually mention an event if we give as reason someone acted a perceiving, a noticing, or a surge of a passion. And we can often turn a causal explanation which mentions beliefs or desires into an explanation which refers to an event or events by saying the cause of the action was the advent of one or both of the belief-desire pair«. Siehe auch (Stoecker 1993) und (Glüer 1993). Hier gibt es ein Problem für die Auffassung Davidsons, wie wir später sehen werden. Siehe S. 102.
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reduziert: a) die Handlung wir durch eine Pro-Einstellung und/oder eine Überzeugung erklärt, bzw. rationalisiert, b) die Handlung wird von Ereignissen, auf die dieser Pro-Einstellung und/oder Überzeugung sich richtet, verursacht. Obwohl Davidson später eingesehen hat, dass diese Bedingungen auch zusammengenommen nicht hinreichend sind, ist es richtig, dass es sein Ziel war, einen Katalog von notwendigen und hinreichenden Bedingungen anzugeben. 143 Er scheint sogar später durch ein entsprechendes Addendum versucht zu haben, seine Definition zu reparieren (siehe unten S. 104). Die ursprüngliche Einsicht Davidsons war daher, dass, wenn ich meinen Arm hebe, diese Handlung »absichtlich« ist gdw. a) es Pro-Einstellungen und/oder Überzeugungen gibt, die diese Handlung rationalisieren (etwa: ich will eine Frage stellen und ich denke, dass ich mich zu Wort melde, indem ich meinen Arm hebe) und sie b) meine Handlung verursachen. Es ist wichtig hervorzuheben, dass Davidsons reduktives Modell die Form einer Antwort auf die Wittgenstein’sche Frage nach dem hat, was übrig bleibt, wenn ich »von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass mein Arm sich hebt«. Die Antwort Davidsons ist, wie er selber sagt: Es bleibt nichts. Dem Ereignis, dass mein Arm sich hebt, werde nichts hinzugefügt, wenn es dabei um einen Fall geht, in dem ich meinen Arm hebe. 144 Das heißt: Obwohl selbstverständlich gewisse Bedingungen erfüllt werden müssen, wenn das Heben meines Arms als mein Heben meines Arms zählen soll, wird dies unserer Beschreibung des Ereignisses hinzugefügt, nicht dem Ereignis selbst (Davidson 1987, S. 101). Hier muss man aber berücksichtigen, dass die Antwort »es bleibt nichts« natürlich der ontologischen Ebene entspricht. Vom logischen oder definitorischen Standpunkt aus gesehen beinhaltet die Definition von »meinen Arm heben« mehr als das Ereignis »mein Arm hebt sich«, nämlich den primären Grund, der die Ursache des Ereignisses ist. Denn obwohl Davidson, wie gesagt, später abgelehnt hat, dass (a) und (b) zusammengenommen hinreichende Bedingungen sind, ist er bei der Meinung geblieben, dass sie notwendige Bedingungen sind, mit de(Davidson 1980, S. xvii) und (Davidson 1963, S. 12). »Let me begin by answering Wittgenstein’s famous question: what must be added to my arm going up to make it my raising my arm? The answer is, I think, nothing. In those cases where I do raise my arm, and my arm therefore goes up, nothing has been added to the event of my arm going up that makes it a case of my raising my arm«. (Davidson 1987, S. 100) 143 144
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nen sich der Begriff der absichtlichen Handlung analysieren läßt, und zwar so, dass das Verständnis beider Bedingungen logisch unabhängig voneinander ist. Wir können also eine Handlung rationalisieren, ohne zu verstehen, wie sie verursacht worden ist. Wir können auch Kausalerklärungen für Handlungen angeben, die nicht den Status von Rationalisierungen haben. 145 Davidsons reduktives Projekt schließt also ein, dass i) der Begriff der absichtlichen Handlung mit Hilfe des Paares aus Pro-Einstellung und Überzeugung auf die Begriffe der Rationalisierung und der Ursache reduzierbar ist. Das Paar aus Pro-Einstellung und Überzeugung und der Begriff der Ursache sind von logisch grundlegenderer Natur, denn wir können sie ohne den Begriff der absichtlichen Handlung verstehen, nicht aber letzteren ohne die ersteren; ii) dass diese Begriffe zwei logisch voneinander unabhängige Bedingungen darstellen. Er scheint darüber hinaus der Meinung gewesen zu sein, das reduktive Projekt sei sinnvoll (siehe unten S. 104). 146 Es ist dieses reduktive Modell der Erklärung des Handlungsbegriffs, was Anscombe zurückweist. 147 Es muss aber hinzugefügt werden, dass das Modell in »Actions, reasons and causes« trotz seines Einflusses in der späteren Handlungstheorie von Davidson selbst modifiziert worden ist. Davidson hat schnell die Grenzen dieses Modells eingesehen. Wesentlich ist hier aber, dass der reduktive Charakter des Modells bestehen geblieben ist. Um dies zu bestätigen, muss man einen Blick auf das zweite Modell Davidsons werfen. Das Verständnis des zweiten Modells setzt die Analyse der Schwierigkeiten voraus, die Davidson dazu geführt haben, dieses neue Modell vorzuschlagen. Besonders wichtig dafür waren zwei Pro145 Vgl. z. B. (Davidson 1974, S. 233): »Two ideas are built into the concept of acting on a reason (and hence, the concept of behaviour generally): the idea of cause and the idea of rationality. A reason is a rational cause. One way rationality is built in is transparent: the cause must be a belief and a desire in the light of which the action is reasonable. But rationality also enters more subtly, since the way desire and belief work to cause the action must meet further, and unspecified, conditions. The advantage of this mode of explanation is clear: we can explain behaviour without having to know too much about how it was caused. And the cost is appropriate: we cannot turn this mode of explanation into something more like science«. 146 Hier folge ich die Bemerkungen von D. Horst (Horst 2012, S. 28 ff.) und Moya (Moya 1998, S. 32). 147 Wesentlich für das reduktive Modell ist, dass man den Versuch unternimmt, notwendige und hinreichende Bedingungen für ein Phänomen zu finden, die logisch unabhängig voneinander sind. Siehe (Horst 2012, S. 28 ff.).
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bleme, nämlich das Problem der Willensschwäche und das Problem der sogenannten bloßen Absichten (pure intentions), d. h. nicht realisierten Handlungsabsichten. Die Theorie in ihrer ersten Form konnte, so Davidson, diese Phänomene nicht richtig erklären. 148 Im ersten Modell hatte Davidson sich auf das Problem der Beziehung zwischen intentionalen Handlungen und ihren Gründen konzentriert, weil er mit den (angeblichen) Gegnern der GU-These diskutieren wollte. Dazu hat er sich an der Struktur des »praktischen Syllogismus« orientiert, die er von Aristoteles übernommen haben soll. Davidsons Version dieser Struktur besteht, wie schon gesehen, in einem Paar aus a) einer Pro-Einstellung und b) einer Überzeugung. Dieses Paar rationalisiert eine Handlung, indem es die Handlung unter den Aspekten verständlich macht, die aus der Perspektive des Handelnden für die Handlung gesprochen haben. Die Beziehung zwischen Gründen und Handlung ist hier vor allem logisch, weil aus den Gründen die Handlung folgen soll. D. h. Davidson hat den praktischen Syllogismus bei Aristoteles als eine Art von Deduktion interpretiert und sich in seiner ersten Theorie an diesem Modell orientiert. 149 Davidson wird aber nach »Actions, reasons and causes« herausfinden, dass dieses Modell die Dinge allzu einfach darstellt. Denn Rationalisierungen stellen uns Handlungen als vollziehenswert aus einer gewissen Perspektive dar. Dies ist es, was Davidson später ein Prima-Facie-Urteil genannt hat. Prima-Facie-Urteile schließen aber in der Regel nicht aus, dass es andere Perspektiven gibt, unter denen die entsprechende Handlung als nicht vollziehenswert angesehen wird. Wenn Herr Dostojewski schnell ein Paar Kopeken gewinnen möchte und er davon überzeugt ist, dass er in den nächsten Spielen im Spielkasino von Roulettenburg gewinnen wird, dann rationalisiert dieses Paar aus Pro-Einstellung und Überzeugung das Roulettespielen Herrn Dostojewskis. Es ist aber denkbar, dass Herr Dostojewski es zugleich vermeiden will, in seiner Freundin den Eindruck zu erwecken, dass er spielsüchtig ist, und weiß, dass er dies nur vermeiden kann, wenn er nicht Roulette spielt. Es ist ein wohlbekanntes Phänomen, dass Menschen in solchen Situationen wider 148 Ich werde mich hier nur mit dem Problem der Untersuchung der »Willensschwäche« bei Davidson befassen, weil dies für meine Ziele hier reicht. Für das Problem der bloßen Absichten, siehe (Davidson 1978). 149 Siehe (Davidson 1985a, S. 195–196). Es handelt sich dabei übrigens um eine sehr umstrittene Interpretation des aristotelischen praktischen Syllogismus. Siehe unten S. 229 ff.
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ihr besseres Urteil oder unbeherrscht handeln können. Dostojewski kann einsehen, dass er unter Berücksichtigung aller Umstände nicht Roulette spielen sollte. Und er kann trotz dieses Urteils spielen. Davidson hat eingesehen, dass seinem ersten Modell etwas fehlt, um solche Situationen zu erklären. Denn aus den zwei Prima-FacieUrteilen Herrn Dostojewskis folgen zwei kontradiktorische Handlungen (»ich [Dostojewski] spiele« und »ich [Dostojewski] spiele nicht«). 150 Handlungen entsprechen in diesem neuen Modell Davidsons den sogenannten All-out-Urteilen (Davidson 1978, S. 99), nämlich unbedingten Absichten. Anders als Prima-Facie-Urteile sagen diese nicht aus, dass etwas für eine Handlung spricht, sondern vielmehr, dass die Handlung x die insgesamt richtige Handlung ist. Dies ist das, was Davidson auch unbedingte Absichten nennt. Diese Absichten können als Prämissen des praktischen Syllogismus à la Davidson fungieren, ohne die Probleme zu generieren, die das alte Modell hatte, zumal man hier nicht zwei Syllogismen bilden kann, die kontradiktorische Konsequenzen haben. Nun denkt Davidson, dass man die Meinung, welche Handlung die richtige ist, immer aus einem Alles-in-allem-Urteil (all things considered) gewinnen sollte, nämlich aus demjenigen Urteil, das sich nach Erwägung der verschiedenen Prima-Facie-Urteile als dasjenige herausstellt, das all die Eigenschaften hat, die für die Handlung relevant sind. Unbeherrscht Handelnde scheitern daran, das richtige All-out-Urteil aus ihrem Alles-in-allem-Urteil zu bilden. Sie handeln so, dass sie x absichtlich vollziehen, sie sind davon überzeugt, dass es eine mögliche Handlung y als Alternative besteht, und sie urteilen alles in allem, dass es besser wäre, y zu vollziehen (Davidson 1970, S. 22). Allen Veränderungen zum Trotz bleibt in diesem zweiten Modell das reduktive Verständnis intentionaler Handlung erhalten, d. i. die These, dass Handlungen intentional sind, wenn sie die Bedingung der logischen Abhängigkeit zwischen Gründen und Handlung erfüllen, und wenn die Handlung von den Gründen verursacht worden ist, wobei man diese Bedingungen unabhängig von einander verstehen kann. Dieses Programm einer reduktiven Analyse des Handlungsbegriff, die den Begriff in zwei Bestandteile zergliedert, nämlich einen logischen und einen kausalen – Bestandteile, die sich übrigens logisch unabhängig voneinander verstehen lassen – ist im Rahmen der analytischen Handlungstheorie dominant gewesen. Davidsons Modell ist 150
Vgl. (Davidson 1970, S. 33 ff.).
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das paradigmatische Beispiel dieses Programms, aber es ist nur das erste einer ganzen Reihe von solchen Modellen. 4.b.2) Schwierigkeiten des reduktiven Modells Davidsons Trotz der Veränderungen in der Theorie Davidsons bleibt das von ihm vorgeschlagene reduktive Modell mit vielen Problemen behaftet. Ich will hier nur zwei dieser Probleme erwähnen, obwohl es noch weitere gibt. Das erste Problem betrifft nur die Davidson’sche Theorie. Es ist ein internes Problem der Theorie, das von anderen Annahmen derselben abhängig ist. 151 Das zweite ist ein Problem, das die Schwierigkeiten der reduktiven Analyse im Allgemeinen belegt und auch andere reduktive Modelle betrifft. Das erste Problem ist das folgende: Obwohl Davidson sich bemüht, die These zu begründen, dass Gründe Ursachen sind, kann er dies unter seinen Voraussetzungen nur erreichen, wenn er sich auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Ursache stützt, wie er ihn versteht. 152 Wie oben gezeigt wurde, hat Davidson behauptet, die kausale Relation sei eine Beziehung zwischen zwei Ereignistokens. Nun hat Davidson selbst auf den folgenden Einwand gegen die GU-These hingewiesen: Da Gründe keine Ereignisse sind und nur Ereignisse Ursachen sein können, können Gründe nicht Ursachen sein (Davidson 1963, S. 12). Wie Stoecker gezeigt hat, kann man diesem Einwand nur entgehen, wenn man eine der zwei Annahmen des Einwands verneint: i) Primäre Gründe sind keine Ereignisse, oder ii) nur Ereignisse können Ursachen sein. Davidson will aber keine dieser Annahmen zurücknehmen. Zwar gilt für ihn, dass »Pro-Einstellungen« und »Überzeugungen« Zustände sind, deswegen keine Ereignisse. Sie sind daher non entities, denn Zustände gibt es für Davidson eigentlich nicht. 153 Es ist auch klar, dass Davidson nicht verneinen will, dass Kausalbeziehungen eigentlich nur zwischen Ereignissen stattfinden können. Wie ist es dann möglich, dass primäre Gründe Ursachen sind? Hier ist man gut beraten, die Antwort Davidsons auf den entsprechenden Einwand zu konsultieren: »Mention of a causal condition for an event gives a cause only on the assumption that there was also a preceding event. But what is the preceding event that 151 Auf dieses Problem hat schon R. Stoecker aufmerksam gemacht. Vgl. (Stoecker 1993, S. 265–276). 152 Vgl. (Rödl 2011, S. 77 Fn. 47). 153 Siehe die oben zitierte Stelle S. 97. Fn. 142.
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causes an action? In many cases it is not difficult at all to find events very closely associated with the primary reason. States and dispositions are not events, but the onslaught of a state or disposition is. A desire to hurt your feelings may spring up at the moment you anger me; I may start wanting to eat a melon just when I see one; and beliefs may begin at the moment we notice, perceive, learn, or remember something« (Davidson 1963, S. 12). Die Stelle legt die Interpretation nahe, dass Davidson eigentlich nicht behaupten kann, dass primäre Gründe Ursachen sind, sondern dass er sagen sollte, dass das Entstehen von primären Gründen oder der Erwerb von Pro-Einstellungen und Meinungen Ursachen sind. Davidson scheint zu verstehen geben zu wollen, dass Rationalisierungen helfen, Kausalerklärungen aufzufinden. R. Stoecker hat den Punkt wie folgt formuliert: »Reasons are not causes, but giving a reason explanation, a rationalization, gives an idea of what the causes look like« (Stoecker 1993, S. 276). Auf diesen Einwand hat Davidson wie folgt reagiert: Man müsse zwischen zwei Verwendungen des Wortes »Ursache« unterscheiden: einem beschränkten Gebrauch und einem gängigen Gebrauch. Im ersten Sinne kann man nur behaupten, dass Ereignisse Ursachen sind. Aber im gängigen Gebrauch sind auch andere »Ursachen« denkbar. Und er fügt dann hinzu: »So I quite concur that using the word »cause« as Stoecker does [nämlich als Ereigniskausalität, LP], and »reasons« as I did in »Actions, reasons and causes«, reasons are not causes« (Davidson 1993, S. 288). Davidson formuliert hier den Punkt, als ob er das Wort »Ursache« nicht wie Stoecker verwendete, was aber der Wahrheit nicht entspricht, wie oben gezeigt worden ist. Noch schlimmer: Die GU-These wird dadurch weniger interessant, wenn sie bloß besagt, dass es einen gängigen und weiten Sinn gibt, in dem Gründe Ursachen sind. Denn dies würden die von Davidson erwähnten Gegner der These ohne Weiteres annehmen können und trotzdem behaupten, dass Gründe eigentlich keine Ursachen sind. Dies ist aber nur ein internes Problem der Theorie Davidsons, das sich einfach reparieren läßt, wenn man den Slogan »Gründe sind Ursachen« besser spezifiziert und erklärt, zumindest besser als Davidson. Oder wenn man den Slogan opfert. Denn auch ohne den Slogan bleibt die Theorie interessant. Es kann sein, dass der Ansatz an Inhalt verliert, wenn man die erwähnten Reparaturen unternimmt; er kann aber weiterhin konsistent mit den anderen Aspekten der Theorie bleiben. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Die größte Schwierigkeit für die Theorie Davidsons tritt jedoch in Erscheinung, wenn man das Problem der »abweichenden Kausalketten« in Betracht zieht. Es handelt von Beispielen, in denen eine Handlung die Bedingungen (a) und (b) erfüllt, obwohl man nicht sagen würde, dass sie »absichtlich« getan wird. Obschon die ersten Gegenbeispiele von anderen Philosoph*innen vorgeschlagen wurden, hat Davidson später ebenfalls auf das Problem hingewiesen. 154 Als er dies getan hat, hat er die folgenden beiden Beispiele einer abweichenden Kausalkette vorgeschlagen: B1: »A man may try to kill someone by shooting at him. Suppose the killer misses his victim by a mile, but the shot stampedes a herd of wild pigs that trample the intended victim to death. Do we want to say the man killed his victim intentionally? The point is that not just any causal connection between rationalizing attitudes and a wanted effect suffices to guarantee that producing the wanted effect was intentional. The causal chain must follow the right sort of route« (Davidson 1973, S. 68) B2: »Let a single example serve. A climber might want to rid himself of the weight and danger of holding another man on a rope, and he might know that by loosening his hold on the rope he could rid himself of the weight and danger. This belief and want might so unnerve him as to cause him to loosen his hold, and yet it might be the case that he never chose to loosen his hold, nor did he do it intentionally« (Davidson 1973, S. 79). 155 Im ersten Beispiel will der Handelnde, nennen wir ihn Charlton Heston, eine Person töten. Charlton Heston ist auch davon überzeugt, dass diese Person zu erschießen ein Mittel ist, sein Ziel zu erreichen. Die Handlung Hestons wird deshalb rationalisiert, wenn man sich auf dieses Paar eines Wunsches und einer Überzeugung beruft. Dieses Paar ist auch die Ursache dafür, dass Heston schießt und dadurch die Flucht der Schweine verursacht, die die Person zu Tode trampeln, die Heston töten wollte. Davidson fragt sich, ob die Handlung, in diesem Fall die Tötung, intentional war. Und seine Antwort fällt negativ aus. 154 Diese Thematik scheint mit dem von Chisholm gegebenen Gegenbeispiel angefangen zu haben. (Chisholm 1966). 155 Siehe auch (Davidson 1978, S. 87).
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Denn dafür, dass die Handlung absichtlich ist, sei es notwendig, dass die Kausalkette in der richtigen Weise verlaufen ist. Ähnlich im Beispiel des Bergsteigers. Der Bergsteiger hat Wünsche und Überzeugungen, die die entsprechende Handlung rationalisieren. Diese Wünsche und Überzeugungen sind auch die Ursache der Handlung. Die tatsächlich vollzogene Handlung scheint aber nicht intentional zu sein, sondern eher ein Zufallsprodukt. Dieses Beispiel stellt für Davidson ein schwierigeres Problem dar als das erste, denn die kausale Abweichung ist in diesem Fall intern, sodass selbst die Körperbewegung des Bergsteigers nicht in der richtiger Weise verursacht wird. Bei Heston war dies nicht der Fall, denn sein Schuss war intentional (Davidson 1973, S. 79). Das Problem, das die Abweichung im Fall des zweiten Beispiels darstellt, kann man, so fügt Davidson hinzu, anscheinend nicht vermeiden. 156 Diese Klasse von Gegenbeispielen gegen die kausale Handlungstheorie werden häufig erwähnt und haben eine ungeheure Diskussion ausgelöst. 157 Verschiedene Lösungsvorschläge sind diskutiert worden. 158 Ich kann aber hier auf diese Diskussion nicht ausführlich eingehen. Es ist hier auch nicht nötig, denn manche Autor*innen haben m. E. schon den Kern des Problems getroffen und darauf aufmerksam gemacht, dass es für die reduktive Strategie unmöglich ist, das Problem zu lösen. Der Brennpunkt der Schwierigkeit ist, ähnlich wie in der Epistemologie beim »Gettier-Problem«, dass die vermeintlich notwendigen und hinreichenden Bedingungen eines Begriffs 156 Man kann immer sagen, wie Davidson selbst es tut, dass die Gründe die Handlung in der richtigen Weise verursachen sollen. Davidson fügt aber an dieser Stelle das folgende hinzu: »What I despair of spelling out is the way in which attitudes must cause actions if they are to rationalize the action« (Davidson 1973, S. 79). Es ist unklar, ob Davidson selbst aufgrund des Problems der abweichenden Kausalketten sein reduktives Modell als gescheitert betrachtet hat. Glüer behauptet, dass es deshalb für ihn keine Definition des Begriffs der intentionalen Handlung gebe (Glüer 1993, S. 111). Keil andererseits scheint zu meinen, dass Davidson trotz des Problems der abweichenden Kausalketten bei seiner Definition der Handlungsbegriffs geblieben ist oder besser, dass er die frühere Definition plus das Addendum »in der richtigen Weise« als Definition der intentionalen Handlung verstanden hat. (Keil 2002). 157 Für weitere Beispiele siehe (Harman 1976, S. 171), (Frankfurt 1978, S. 70), (Mele 1997, S. 6–8), (Keil 2007, S. 71 ff.). 158 Vgl. z. B. (Searle 1983), (Mele & Moser 1994), (Stout 2005). (Horst 2012, S. 47– 80) identifiziert zwei Lösungsstrategien, die entwickelt worden sind. Sie bestehen entweder in Spezifikationen einer der Bedingungen oder in Ergänzungen des Katalogs von Bedingungen. Horst versucht zu beweisen, dass die beide Strategien aussichtslos sind.
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(dort des Wissens, hier des absichtlichen Handelns) prinzipiell nicht immun sind gegen gewisse Gegenbeispiele, in denen die Bedingungen erfüllt sind, die die Definition aufstellt, während in den Beispielen eine der Bedingungen immer zufällig erfüllt wird. Was heißt das? Einen Blick auf die Beispiele kann es aufklären. Man kann die erwähnte Struktur im ersten Gettier-Beispiel sehr klar erkennen. Dort geht es um ein Gegenbeispiel gegen die traditionelle Definition des Wissens als »gerechtfertigte wahre Meinung«. Diese Definition ist reduktiver Natur: Sie versucht den Begriff des Wissens zu erklären, indem sie einen Katalog von notwendigen und zusammengenommen hinreichenden Bedingungen darstellt, die logisch voneinander unabhängig sind (z. B. hängt die Wahrheit der entsprechenden Aussagen nicht von der Rechtfertigung der Meinung des epistemischen Subjekts ab und auch umgekehrt hängt die Rechtfertigung nicht ab von der Wahrheit). Das erste Gettier-Szenario besteht darin, dass zwei Männer sich auf dieselbe Stelle bewerben. Einer davon, Smith, hat Indizien dafür, dass der andere, Jones, die Stelle bekommen wird. Smith weiß auch, dass Jones zehn Münzen in seiner Hosentasche trägt. Demzufolge ist er darin »gerechtfertigt« zu schließen, dass »die Person, die die Stelle bekommen wird, zehn Münzen in ihrer Hosentasche« hat (Gettier 1963). Nun trifft es sich, dass Smith letztlich die Person ist, die die Stelle bekommt. Und es trifft sich außerdem, dass er zehn Münzen in seinen Hosentasche hat. Dementsprechend erfüllt Smith alle Bedingungen der Definition, doch kann man ihm ein Wissen nicht attestieren. Der entscheidende Punkt ist hier, dass die Rechtfertigung der Meinung des epistemischen Subjekts unabhängig von der Wahrheit der Meinung des Subjekts ist: Rechtfertigung garantiert nicht die Wahrheit. 159 Smith hegt eine Meinung, die wahr ist, tut dies aber aus den falschen Gründen. Analoges ist der Fall bei den abweichenden Kausalketten: Der Bergsteiger aus Davidsons Beispiel erfüllt die Bedingungen (a) und (b), handelt aber nicht absichtlich. 159 (Zagzebski 1994, S. 207). Diese zufällige Beziehung hängt mit einem Punkt zusammen, auf den Enskat aufmerksam gemacht hat: Gettier-Szenarios leben von epistemischen Subjekten, die ihre Meinungen zufällig erworben haben. Vgl. Enskat (2005, S. 78) »die wichtigste Schwäche des klassischen Bedingungsgefüge […] zeigt sich in einem formalen Indiz: Die Berechtigung einer Person zum Hegen einer Meinung-dass-p ist verträglich damit, dass sie diese Meinung in einer zufälligen Weise erworben hat. Die Zufälligkeit dieses Erwerbs ist indessen unverträglich mit dem Wissenscharakter des Habitus, in dem eine Person über einen wahren Satz-dass-p verfügt«.
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Hier kommt die Tatsache, dass die entsprechenden Wünsche und Überzeugungen des Bergsteigers die Handlung verursachen, bloß zufällig mit der Tatsache zusammen, dass die Wünsche und Überzeugungen des Bergsteigers die Handlung rationalisieren. Dass die Wünsche und Überzeugungen die Ursache dafür sind, dass der Bergsteiger so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, fällt bloß zufällig zusammen mit der Tatsache, dass diese Wünsche und Ursachen die Handlung rationalisieren. So wie die Rechtfertigung eine zufällige Beziehung mit der Wahrheit hat, hat auch die Verursachung eine zufällige Beziehung mit der Rationalisierung. 160 Ist Kants Auffassung der Handlung eine »kausalistische«, wie Willaschek und andere meinen (vgl. oben S. 81 Fn. 113), dann kann sie sich diesem Problem nicht entziehen. Die erwähnten Autor*innen haben jedoch m. E. den Vergleich mit Davidson bzw. die Anwendung des Davidson’schen Apparats in einer ziemlich ungenauen und vagen Form vollzogen. Betrachtet man die Dinge genauer, sind die Ähnlichkeiten zwischen Davidson und Kant geringer als üblicherweise angenommen. Auf den folgenden Seiten soll deswegen gezeigt werden, dass Kants Auffassung weniger Berührungspunkte mit der Konzeption Davidsons aufweist als allgemein angenommen. Schlimm ist das aber nicht. Da Davidsons Ansatz, wie alle andere reduktiven Ansätze auch, das erwähnte Problem haben, kann es sogar ein Vorteil der Auffassung Kants sein, dass sie solche Berührungspunkte nicht hat.
160 Siehe dazu (Horst 2012, S. 77 und ff.). Horst lehnt deswegen alle reduktiven Strategien ab, die den Begriff des absichtlichen Handelns zu erklären versucht haben (vgl. Horst 2012, S. 44–80). Im Fall des Gettier-Problems gibt es ebenfalls viele Autor*innen, die die Strategie der reduktiven Analyse als nicht vielversprechend betrachten. Vgl. (Craig 1993, S. 9–43) und (Williamson 2000, S. 33 ff.). Will man im Fall des Wissens die Strategie der Begriffsanalyse retten, kann man eine Lösung finden, indem man eine kognitive Bedingung in die Definition des Wissensbegriffs einführt, die die Übereinstimmung zwischen dem, was die Person erkennt, und dem, was wahr ist, nicht dem Zufall überlässt. Man muss dann die Rechtfertigungsbedingung und die Meinungsbedingung fallen lassen und sie durch eine andere kognitive Bedingung ersetzen, nämlich das Wissen-Wie. Vgl. (Enskat 2005) und (Enskat 2011). E. Sosa verfolgt eine ähnliche Strategie. Vgl. (Sosa 2017). Ich bezweifle aber, dass Enskats und Sosas Kataloge sich als reduktive Analyse interpretieren lassen.
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4.c) Die Annahmen der gegenwärtigen Strategie und Kants Voraussetzungen Das Handlungsproblem, wie die gegenwärtige Tradition in Ausgang von Wittgenstein und seinen Fragen es versteht, setzt eine ganz bestimmte methodologische Entscheidung über die richtige Strategie voraus, den Handlungsbegriff zu verstehen. Diese von den Fragen Wittgensteins bestimmte Strategie begünstigt auch die Annahme, die die Handlungstheoretiker der Gegenwart in der Regel machen, nämlich, dass Handlungen Ereignisse sind. 161 Außerdem begünstigt sie eine Präferenz für die Untersuchung von Grenzfällen, die zeigen sollen, was eine Handlung ist, indem sie zeigen, worin der Unterschied zwischen Handlungen und Geschehnissen liegt. 162 Sie lässt sich nur durchführen, indem man einen Katalog von notwendigen und hinreichenden Bedingungen angibt, der zeigt, wie man den Handlungsbegriff erklären kann und seinen Umfang so bestimmen kann, dass diese Grenzfälle geklärt werden. Die Strategie wird motiviert durch die Hoffnung, dass, wenn man den Unterschied zwischen »Handlungen« und »bloßen Körperbewegungen« anhand dieser einfachen Beispiele herausfindet, die anderen, komplizierteren Fälle sich leicht erklären lassen – obwohl ihre Verfechter die Erklärung komplizierter Fälle faktisch nicht in Angriff nehmen. 163 Wie wir früher an161 Siehe dazu die Bemerkungen von A. Ford (Ford 2011, S. 77): »Indeed, some such thought is implicit in a question that was famously posed by Wittgenstein: »What is left over if I subtract the fact that my arm goes up from the fact that I raise my arm?« Wittgenstein’s question appears to be concerned with the first of the two now familiar divisions, but it is easily redeployed in connection with the second: »What is left over,« one might also ask, »if I subtract the fact that I raise my arm from the fact that I raise it intentionally— or whole- heatedly, or autonomously, or freely?« Of course, the idea of subtraction entails the idea of a corresponding addition. So Wittgenstein’s question appears to assume a certain conception of what it is to be an action, according to which an action is, as it were, the arithmetic sum of an event and something else. On the model of, for example, this equation: 7 + x = 12, we are led to imagine this one: event + y = action, and also, by extension, this one: action + z = intentional action«. 162 Daher kommt minimalen Bewegungen oder einfachen Handlungen, etwa den Arm zu heben oder den Finger zu bewegen, eine vorzügliche Rolle im Rahmen der gegenwärtigen Handlungstheorie zu. Vgl. (Natali 2002, S. 131). 163 Auf diese Idee hat früher C. Natali aufmerksam gemacht: »La thèse, parfois tacite et parfois explicite, est que si l’on arrive à établir ce qu’est l’action humaine dans des cas aussi élémentaires, les cas plus complexes seront résolus plus facilement; néanmoins, dans les faits, la discussion des cas plus complexes n’est presque jamais abordée directement«. (Natali 2002, 131).
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hand der Analyse der Theorie Donald Davidsons gesehen haben, gibt es Gründe zu bezweifeln, dass eine solche Strategie funktionieren kann. Wie oben ebenfalls angedeutet worden ist, gibt es auch Gründe, gegenüber reduktiven Strategien im Rahmen der Epistemologie und des Problems der Definition des Wissensbegriffs skeptisch zu sein. Wie C. Natali bemerkt hat, ist die oben erwähnte methodische Entscheidung zur Behandlung des Handlungsbegriff nur eine von vielen möglichen Strategien, das Handlungsproblem zu untersuchen. Historisch gesehen ist sie sogar etwas völlig Neues. Die hermeneutisch-phänomenologische Tradition hat z. B. versucht, einer holistischen Strategie zu folgen, derzufolge man den Begriff der Handlung nur verstehen kann, wenn man die eminenten oder paradigmatischen Fälle des Handelns untersucht (Natali 2002, S. 136). Natali und Vigo haben darüber hinaus geltend gemacht, dass auch Aristoteles der von der analytischen Tradition vorgezogenen »atomistischen« Methode nicht folgt, nach der man den Handlungsbegriff nur verstehen kann, indem man ihn von Geschehnissen abgrenzt. 164 In den alternativen Modellen geht es also nicht mehr darum, den Handlungsbegriff auf grundlegendere und logisch von einander unabhängige Begriffe zu reduzieren, die uns notwendige und hinreichende Bedingungen dieses Begriffs liefern, die wiederum zur Hilfe kommen können, um über Grenzfälle zu entscheiden, sondern vielmehr darum, Fälle zu untersuchen, in denen Handlungen in ihrer eminenten Form zu erkennen seien. Man kann sich auch noch andere Strategien denken, die uns zwar keinen Katalog von notwendigen und hinreichenden Bedingungen versprechen, die uns aber z. B. zu verstehen helfen, welche Rolle der Handlungsbegriff in einem umfassenderen Netz von Begriffen spielt. Fragt man sich z. B., warum es den Handlungsbegriff gibt und wie er in Verbindung mit anderen Begriffen wie »willkürlich«, »unwillkürlich«, »Lob«, »Tadel«, »Gut«, »Böse« usw. funktioniert, dann kann man eine alternative Strategie entwickeln, den Handlungsbegriff zu erklären. 165 Freilich: So gewinnt man weder eine Definition des Handlungsbegriffs noch ein Kriterium, um Grenzfälle zu beurteilen. Aber Definitionen aufzufinden ist nur eine mögliche Aufgabe der Philosophie. Es ist sogar eine Aufgabe, die der Meinung 164 Vgl. (Natali 2002, S. 137) und (Vigo 1996) und (Vigo 2008). Eine davon abweichende These über Aristoteles verteidigt Charles. Vgl. (Charles 1984). 165 Craig ist einer ähnlichen Strategie im Fall des Wissensbegriffs gefolgt. (Craig 1993).
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Kants nach in vielen Fallen unlösbar ist. 166 Es ist außerdem eine Tatsache, dass im Rahmen der reduktiven Analyse kein Konsens herrscht und dass man nicht sagen kann, sie hätte uns geholfen, eine Definition des Wissens oder ein Kriterium für Grenzfälle aufzufinden. Darüber hinaus kann man vielleicht mit Hilfe der nichtreduktiven Strategien zusätzliche Erkenntnisse gewinnen. Vielleicht ist dies auch der Grund, aus dem reduktive Analysen heute nicht mehr so beliebt sind, wie sie es früher einmal waren. Daher erweist sich der Versuch, einen neuen Weg in der Handlungstheorie zu gehen, nämlich den Handlungsbegriff nicht mit Hilfe einer reduktiven Analyse zu verstehen, als vielversprechend. 167 Stellt man dies fest, dann drängt sich die Frage auf, ob Kant der atomistischen Strategie gefolgt ist oder nicht. Im Laufe dieser Arbeit will ich zeigen, dass Kant, anders als die ganze Tradition der Interpreten der »Handlungstheorie« bei Kant gedacht oder stillschweigend angenommen hat, so wie Aristoteles auch diesem atomistischen Modell nicht gefolgt ist. Und deshalb kommt für ihn die Strategie der reduktiven Analyse nicht in Frage. So kann man auch die Irritation einiger Autor*innen nachvollziehen, die bei Kant eine »Handlungstheorie« gesucht haben. Denn eine reduktive Analyse, die den Unterschied zwischen »Geschehen« und »Handlung« im Sinne einer Antwort auf die Fragen Wittgensteins angibt, ist bei Kant nicht zu finden. Versteht man unter »Handlungstheorie« den Versuch, eine Antwort auf die klassische Interpretation der Fragen Wittgensteins mit Hilfe eines reduktiven Modells zu geben, dann gibt es bei Kant gewiss keine »Handlungstheorie«. Fragen wie: »Sind Absichten nur Gründe oder zugleich auch Ursachen des Handelns?« scheinen, wie sie heute gestellt werden, diese Fragestellung und ihre Annahmen vorauszusetzen. Bei Kant liegen die Dinge jedoch anders. Stellte man Kant die Frage: »Sind Absichten nur Gründe oder zugleich Ursachen des Handelns?«, wäre mit Sicherheit seine Antwort: Beides! Dies heißt aber nun nicht, dass Kant eine »kausalistische« Auffassung des Handlungsbegriffs à la Davidson verteidigt hat, wie die Mehrheit der Autor*innen angenommen hat, die Kants Gedanken über den Handlungsbegriff untersucht haben. Es heißt vielmehr, dass er schon Argumente wie das logical connection-Argument und ähnliche PosiSiehe unten S. 118 Fn. 183; S. 172 Fn. 285. In der Gegenwart gibt es zunehmend Autor*innen, die solche neuen Wege zu eröffnen versuchen. Vgl z. B. (Thompson 2008), (Ford 2011) und (Horst 2012). 166 167
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tionen ablehnen würde, weil er z. B. die Annahme zurückweist, dass Kausalbeziehungen nomologische Relationen zwischen zwei Ereignissen seien, während die Gründe nicht diesen Charakter hätten. Dass Kant diese Fragestellung ablehnen würde, heißt weder, dass Kant nichts Interessantes bezüglich des Handlungsbegriff zu sagen hätte, noch, dass er keine Antwort auf interessante Fragen der gegenwärtigen Debatten über den Handlungsbegriff geben könnte. Im Gegenteil: Wenn wir seine Texte sub specie veritatis lesen, finden wir, dass ein interessanter Dialog zwischen Kant und Autor*innen der Gegenwart stattfinden kann. Kant hat, wie gesagt, dem Thema »Handlungsbegriff« keinen Text gewidmet. Ebenso wenig finden wir eine Sektion oder ein Kapitel in Kants Werk, worin er die Fragen der Handlungstheorie intentione recta behandelt. Deswegen sind die ersten Fragen, die ein Interpret beantworten muss, wenn er die These verteidigen will, dass Kant uns Gedanken hinterlassen hat, aus denen man einen konsistenten Handlungsbegriff entwickeln kann, die folgenden: 1) Welches sind die von Kant entwickelten Mittel, mit denen man die Handlungsproblematik analysieren könnte? 2) Welche Texte Kants enthalten eine Analyse solcher Mitteln? Im Folgenden (§ 5) versuche ich eine mögliche Antwort auf die Frage nach Mitteln zu verteidigen, die Kant in seiner praktischen Philosophie entwickelt hat, und mit denen wir eine kantische Handlungskonzeption rekonstruieren können.
§ 5 Das Urteil als Leitfaden 5.a) Kants Auffassung des Urteilsbegriffs 168 In der Absicht, das Denken und die Ideen eines großen Philosoph*innen zu verstehen, folgt man einer sinnvollen Strategie, wenn man sich an den Kernfragen orientiert, welche die allgemeine Problematik dieses Philosoph*innen enthalten. 169 Nun ist kaum ein Problem so 168 Für diesen Abschnitt ist die Arbeit Wolfgang Wielands (Wieland 2001) besonders wichtig gewesen. 169 Dies empfiehlt sich deshalb, weil »alle Philosophie darauf hinausgeht, Einheit in den Erkenntnissen hervorzubringen, und auf die wenigsten Principia zu reduzieren«. Kaehler Moral S. 17, 1–3; Moralphilosophie Collins AA 249, 31–32. Vgl auch B 19 »Man gewinnt dadurch schon sehr viel, wenn man eine Menge von Untersuchungen unter die Formel einer einzigen Aufgabe bringen kann«.
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wichtig für die Philosophie Kants wie die Frage nach dem Urteil. Kants Transzendentalphilosophie ist vor allem eine Theorie des Urteils. Wie W. Wieland gezeigt hat, kann man die Spuren dieses Interesses Kants an der Urteilstheorie und besonders an der Frage nach dem Ursprung des Urteilsvermögens schon in den vorkritischen Schriften finden. 170 Und man kann hinzufügen, dass Kant selbst das ganze kritische Geschäft als eine Untersuchung nach der Möglichkeit bestimmter Urteilen charakterisiert hat, nämlich, »synthetischer Urteile a priori«. 171 Diese Bestimmung der Philosophie Kants ist doch noch allzu vage. Die Frage drängt sich hier auf: Welche Art von Theorie des Urteils ist Kants? Kants Philosophie ist, so eine erste Antwort, vor allem als Transzendentalphilosophie zu verstehen, d.h eine Philosophie, in der es um gewisse Erkenntnisse bzw. Urteile geht, die sich mit den Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis der Objekte beschäftigen, d. h. unsere gegenstandsbezogenen Urteile (KrV B 25; A 56/B 80). 172 Wenn ich hier sage, dass es in der Theorie Kants um Vgl. (Wieland 2001, S. 15). Auch Spitzfindigkeit AA 02 60, 10–12 »Man kann hieraus die Veranlassung ziehen, dem wesentlichen Unterschiede der vernünftigen und vernunftlosen Tiere besser nachzudenken. Wenn man einzusehen vermag, was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird, so wird man den Knoten auflösen«. 171 Vgl. B 19 »Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nun in der Frage enthalten: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?«; »Die eigentliche, mit schulgerechter Präzision ausgedrückte Aufgabe, auf die alles ankommt, ist also: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?« (Prolegomena AA 04 276, 10–12), und Logik Dohna-Wundlacken AA 24 783, 37–784, 3: »Nun führte er [Kant LP] z. B. an, wie viel Mühe es ihm gemacht, da er mit Gedanken, die Kritik der reinen Vernunft zu schreiben, um ging, zu wissen, was er eigentlich wolle. Zuletzt habe er gefunden, alles ließe sich in die Frage fassen: Sind synthetische Sätze a priori möglich?« Die Frage nach der Möglichkeit der synthetischen Urteilen a priori steht nicht nur im Fall der theoretischen Philosophie im Kern des Interesses Kants, sondern auch im Fall der praktischen Philosophie. Denn der kategorische Imperativ ist ebenfalls ein synthetisches Urteil a priori. Vgl. GMS AA 420, 14; R 6352a. 172 Diese Erkenntnisse weisen »niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur auf Erkenntnisvermögen« auf (Prolegomena AA 04 293, 28–30). Kants Theorie der Urteile ist jedoch keine Theorie der transzendentalen Urteile, d. i. der Urteile, die die Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis von Gegenständen selbst fällt, sondern eine transzendentale Theorie des Urteils. Transzendental sind Erkenntnisse über die Möglichkeit unserer Erkenntnisse, die aber von der transzendentalen Philosophie nicht thematisiert werden. Kant scheint die Frage nach der Möglichkeit einer transzendentalen Strategie nicht beantwortet zu haben. Er versucht aber klarzumachen, dass die Transzendentalphilosophie eine bes170
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»Erkenntnisse bzw. Urteile geht«, meine ich aber nicht, dass »alle Erkenntnisse Urteile sind«; zumindest meine ich dies nicht in dem Sinne, dass Kant ohne Weiteres eine strikte Identitätsthese zwischen »Erkenntnis« und »Urteil« verteidigt hätte oder in dem Sinne, dass »Erkenntnisse« überhaupt (simpliciter) eine Unterart von »Urteilen« wären. Der Gebrauch der Ausdrücke »Erkenntnis« und »Urteil« bei Kant ist eher vieldeutig, und deswegen ist es nicht schwierig, Stellen sere Chance als andere Vorschläge bietet, menschliche Erkenntnisse erfolgreich zu analysieren. Deswegen formuliert er seinen klassischen Vorschlag, die sogenannte kopernikanische Wende, als eine Arbeitshypothese: »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ«. (B XVI). Das ist allerdings keine Rechtfertigung der Möglichkeit einer transzendentalen Untersuchung. Man kann sich auch fragen, ob diese Rechtfertigung notwendig ist, und ob diese Forderung nach einer Rechtfertigung der Methode einen regressus ad infinitum implizierte. Diese Fragen hat Kant sich anscheinend nicht gestellt. Ein solches Problem, das nicht nur die Transzendentalphilosophie betrifft, hat z. B. schon B. Spinoza in Betracht gezogen. Vgl. TIE 30; G II, 13. Kant war sich aber darüber im Klaren, dass die vom ihm vorgeschlagene transzendentalphilosophische Strategie für seine zeitgenössischen Leser alles anders als selbstverständlich war. Dies kann man deutlich in den Vorreden der KrV spüren. In diesen Texten bemüht sich Kant darum, die Leser davon zu überzeugen, dass die Transzendentalphilosophie der einzig mögliche und noch nicht gegangene Weg sei, der eine Lösung der Probleme der Metaphysik verspricht. Ob solche Versprechen erfüllt werden, kann man nur wissen, wenn man über eindeutige Erfolgskriterien verfügt. Kant erwähnt entsprechend mindestens ein Erfolgskriterium, das ein drohender regressus ad infinitum in der Rechtfertigung der transzendentalen Strategie ausschließen muss, nämlich die Vollständigkeit der Untersuchung. E. Förster hat m. E. deswegen völlig zurecht darauf Aufmerksam gemacht, dass dies der Grund ist, weshalb Kant sich in allen Sektionen der KrV so sehr bemüht, die Vollständigkeit der jeweils behandelten Prinzipien nachzuweisen (Förster 1998, S. 43). Nur wenn man darauf achtet, kann man einsehen, dass solche Bemühungen um Vollständigkeit nicht, wie man üblicher- und irrtümlicherweise in der Kant-Forschung annimmt, mit einer architektonischen Manie Kants zu tun haben, sondern systematisch begründet sind. Dies ist auch der Grund, weshalb die Kritiken, die schon Hegel gegen die Vollständigkeit der Kategorientafel vorgebracht hat, so gravierend sind. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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zu finden, an denen er das Wort »Erkenntnis« so anwendet, dass es unter keine Definition des Urteils zu fallen scheint. 173 Analysiert man aber die verschiedenen Charakterisierungen der Ausdrücke »Erkenntnis« und »Urteil«, die Kant gegeben hat, so lässt sich feststellen, dass zumindest im eigentlichen Sinn des Wortes jede Erkenntnis das Format eines objektiven Urteils hat. 174 D. h., in diesem eigentlichen Sinne ist jede Erkenntnis ein Urteil, aber nicht umgekehrt. Im eigentlichen Sinne ist Erkenntnis eine Unterart der »Urteile«. Kant war der Meinung, dass eigentliche »Erkenntnis« nur vorliegt, wenn der Verstand die Synthese der Einbildungskraft auf Begriffe bringt. Und »das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt« (vgl. A 78/B 103). Nun können wir »alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen« (A 69/B 94). Der Verstand ist deswegen »ein Vermögen zu Urteilen« (A 69/B 94). Der Verstand ist am Erkennen im eigentlichen Sinn also immer beteiligt (A 52/B 76; A 78/B 103), sodass Erkenntnis im eigentlichen Sinn den Verstand, d. i. das Vermögen zu urteilen, impliziert. Kant charakterisiert außerdem in mehreren Texten Erkenntnisse explizit als Urteile. 175 Diese Idee ist m. E. implizit auch an zahlreichen anderen Stellen zu finden, wo er Erkenntnisse als eine Zusammensetzung von Vorstellungen der Sinnlichkeit und des Verstandes charakterisiert (z. B. A 50/B 74) oder dort, wo Kant »Erkenntnis« eindeutig als Synonym für »Urteil« oder »Satz« verwendet. 176 Letztlich: Versteht man unter »Erkenntnis« im eigent173 Dies ist z. B. der Fall in A 320 /B 376. Auch Jäsche-Logik AA 9 36, 2 ff. Auch ist dies der Fall in der klassischen Definition des »Urteils« in der KrV als »die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen« (B 141). Denn diese »Erkenntnisse« mögen natürlich Urteile sein, was der Fall ist, wenn das Urteil hypothetisch oder disjunktiv ist, müssen diese Erkenntnisse aber nicht notwendigerweise Urteile sein. Verwendet Kant das Wort »Erkenntnis« auf dieser Weise, meint er in der Regel das, was er auch als »Vorstellung« bezeichnet. 174 Vgl. (Reich 1948, S. 32 und 40). Mit »objektives Urteil« bezeichne ich hier das, was wir mit Kant später »logisches Urteil« oder »Erkenntnisurteil« nennen werden (vgl. unten S. 92 Fn. 187). Kant hat das Wort »Urteil« aber manchmal so definiert, dass diese Definition nicht mehr oder nicht mehr ohne Weiteres mit der Charakterisierung des Erkenntnisurteils übereinstimmt. Vgl. (Stuhlmann-Laeisz 1976, S. 55 ff.) und (Wieland 2001, S. 93 ff.). 175 Vgl. z. B. Fortschritte AA 20 266, 11: »Erkenntnis ist ein Urteil, aus welchem ein Begriff hervorgeht, der objektive Realität hat«, auch R 4638: »Alle Erkenntnis besteht in Urteilen«. R 5923: »[…] Alles Erkenntnis, mithin auch das der Erfahrung, besteht demnach aus Urteilen«. 176 Z. B. Prolegomena AA 04 275, 8–19: »Es trifft sich aber glücklicher Weise, daß, ob wir gleich nicht annehmen können, daß Metaphysik als Wissenschaft wirklich sei, wir
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lichen Sinne Urteile, dann wird es leichter, bestimmte Ausdrücke nicht nur Kants, sondern auch anderer Autor*innen seiner Ära zu verstehen. Nicht nur Kant, sondern auch andere Autor*innen, die den damaligen philosophischen Wortschatz geprägt haben, haben die Ausdrücke »Urteil« und »Erkenntnis« oft als Synonyme gebraucht. Das ist der Fall z. B. an einigen Stellen in Meiers Auszug aus der Vernunft Lehre (im Folgenden Auszug), den Kant als Kompendium für seine Logik-Vorlesungen verwendet hat. Dort wird der irritierende Ausdruck »falsche Erkenntnis« eingeführt, der besser als »falsches Urteil« interpretiert werden sollte, damit die Verwirrung vermieden wird (Vgl. Auszug § 113). 177 Es liegt auf der Hand, dass sich die kantische Theorie vor allem mit Erkenntnissen im eigentlichen Sinne des Wortes beschäftigt, d. h. mit Gebilden, die die Form eines objektiven Urteils haben. Dies legt die Frage nach der Urteilskonzeption Kants nahe. Eine vollständige Analyse der kantischen Interpretation der Urteile übersteigt aber die thematischen Grenzen dieser Arbeit. Zumindest einige wichtige Bemerkungen müssen hier trotzdem exponiert werden. Jeder, der gut vertraut ist mit dem wichtigsten Text von Kants Werk, nämlich der KrV, weiß, dass Kant das Urteil dort in verschiedenen Formen charakterisiert. 178 Entsprechend bestimmt Kant am Anfang der »Transzendentalen Logik« das Urteil als »die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes« (A 68/B 93) und später in der »Transzendentalen Deduktion« (nach der zweiten Ausgabe) als »die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen« (B 141). Diese Definitionen des Urteilsbegriffs, die Kant im Rahmen der transzendentalen Logik gibt, sind aber komplementär, wie Londoch mit Zuversicht sagen können, daß gewisse reine synthetische Erkenntnis a priori wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft; denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der Erfahrung und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig anerkannt werden. Wir haben also einige wenigstens unbestrittene synthetische Erkenntnis a priori und dürfen nicht fragen, ob sie möglich sei (denn sie ist wirklich), sondern nur wie sie möglich sei, um aus dem Prinzip der Möglichkeit der gegebenen auch die Möglichkeit aller übrigen ableiten zu können.« Vgl. auch (Loebbert 1989, S. 35). 177 Vgl. z. B. R 2259: »Wahrheit und Falschheit liegt nicht in Begriffen, sondern in Urteilen« 178 Noch deutlicher wirkt diese Mannigfaltigkeit von Definitionen, wenn man die Werkstattreflexionen Kants konsultiert. Vgl R 3047, 3049, 3050, 3051, 3052, 3053, 3055, 3060. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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guenesse bemerkt hat (Longuenesse 1998, S. 81 ff.). Longuenesse hat sogar drei Definitionsmuster des Urteils identifiziert, nämlich 1.) die erwähnte Definition des Urteils als »die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen«, 2.) das Urteil als »die Vorstellung der Einheit des Bewusstseins verschiedener Vorstellungen« (vgl. Jäsche-Logik AA 09 101, 5–7) und 3.) Urteile als »Regeln«, die »als die Bedingung der Vereinigung gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein betrachtet werden« (Prolegomena AA 04 305, 15–16). 179 Longuenesse hat geltend gemacht, dass die drei Definitionsmuster nicht nur kompatibel sind, sondern auch unterschiedliche Eigenschaften der Urteilsstruktur erklären. Die erste Definition gilt, so Longuenesse, als Hintergrund der Rolle, die die Urteile nach der zweiten und dritten Charakterisierung spielen. Die zweite Definition erklärt die Aufgabe der Erkenntnisurteile als »Subordination der Begriffe«. Denn beim Urteilen geht es um Akte, in denen eine Subordination von Gegenständen unter den im Urteil vorhandenen Begriff zustande kommt. Das ist m. E. genau das, was Kant meint, wenn er im Fall des Erkenntnisurteils das Urteil als »die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes« charakterisiert. Denn in einem Urteil wie »Alle A sind B« werden die Gegenstände x, y, z, die den Umfang des Begriffs A ausmachen, dem Begriff B untergeordnet. 180 Die dritte Erklärung des Begriffs des Urteils bringt zum Ausdruck, dass im Urteil die erwähnte Subordination so zustande kommt, dass sie stets eine Regel voraussetzt, eine Beziehung zwischen einem ausgesagten Prädikat und dem Subjekt, das als Bedingung der Aussage fungiert (Longuenesse 1998, S. 97 ff.). Daher folgt: Jedes kognitive oder objektive Urteil ist mindestens unter diesen drei Aspekten zu charakterisieren. Hat man dies festgehalten, gilt es ein naheliegendes Missverständnis zu entschärfen. Dass Kants Philosophie vor allem als eine 179 Kant gibt noch mehr Definitionen des Urteilsbegriffs, die jedoch m. E. auf die schon erwähnten Definitionen zurückgeführt werden können. Vgl. z. B. KrV A 68/ B 93; Prolegomena AA 04 304, 30–31; R 3042; 3050; 3051; 3053; 3055; 3060. 180 »The definition of judgement in the Logic then becomes clear: the ›representation of the relation of various representations, insofar as they constitute a concept‹ means the subsumption of what is thought under a concept A, together with other representations of objects x, y and z, under a concept B which ›represents‹ all of them«. (Longuenesse 1998, S. 88). Vgl. auch R 3053 »Urteil ist das Bewusstsein, dass ein Begriff unter einem anderen enthalten ist«, R 3128 »Ein jedes Urteil will so viel sagen: alles, dem die Notion des Subjekts zukommt, dem kommt auch das Prädikat zu«.
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Theorie des Urteils zu interpretieren ist, heißt nicht, dass die Philosophie Kants die Methoden der gegenwärtigen »sprachanalytischen Philosophie« oder der sogenannten linguistic philosophy verwendet hätte, d. h. einer Philosophie, die die sogenannte Wende zur Sprache (linguistic turn) vollzogen hat (vgl. Rorty 1992, S. 3). 181 Man kann Kants Methode und die so verstandene »sprachanalytische« Methode nur mit erheblichem Schaden für die Interpretation Kants nivellieren; 181 M. Dummett hat behauptet, die analytische Philosophie sei eine Philosophieform, nach der eine philosophische Erklärung des Denkens durch eine philosophische Erklärung der Sprache erreicht werden kann, und zweitens, nach der eine vollständige Erklärung nur in dieser und in keiner anderen Form zu erreichen ist (Dummett 1993, S. 4). Dies entspricht der Idee, die die zentrale These des linguistic turn ist, nach der the problems of philosophy are problems of language (Rorty 1992). Der traditionellen Auffassung nach ist dies die ursprüngliche Einsicht der analytischen Philosophie. Es ist aber selbst unter bekennenden Analytikern umstritten, ob man die analytische Philosophie so charakterisieren kann. Jüngst hat z. B. P. Bieri behauptet, dass die analytische Philosophie nie ein Fach gewesen ist, nämlich eine Disziplin, die einen einheitlichen Themenbereich und eine einheitliche Methode hatte (Bieri 2007, S. 334 ff.). Sie sei, so Bieri, höchstens ein Stil (Bieri 2007, S. 342). Trotz der gängigen Rede über den linguistic turn gibt es tatsächlich in der gegenwärtigen Philosophie Teildisziplinen wie die Philosophie des Geistes und die Neurophilosophie, die zwar üblicherweise als Formen der analytischen Philosophie betrachtet werden, die aber »von Diskussionen um die Wende zur Sprache überhaupt keine Notiz mehr« nehmen (Gethmann 2006, S. 177). Noch wichtiger: Selbst viele derjenigen Autor*innen, die am meisten von der »Wende zur Sprache« begeistert waren, haben jetzt eine eher kritische Meinung über die mutmaßlichen Leistungen der linguistic philosophy, wie man bei der Lektüre der beiden von Rorty geschriebenen »retrospektiven Essays« zum Sammelband The linguistic turn ersehen kann (Rorty 1977 und 1992). Daher ist die manchmal verwendete Rede von »Paradigmenwechseln« im Bezug auf die »Wende zur Sprache« zumindest übertrieben, worauf Gethmann hingewiesen hat (Gethmann 2006, S. 175 und ff.). Übrigens: Wenn ich hier von der »Methode« der analytischen Philosophie spreche, meine ich nicht, dass es nur eine Methode gäbe, die »die analytische Methode« ist, sondern ich will damit bloß diejenige Philosophie bezeichnen, die in der Regel die methodische Annahme macht, dass die Kernfragen der Philosophie Fragen der Sprache sind, sei es in der Form der sogenannten linguistic philosophy, sei es in der Form der Tradition, die die Ungenauigkeiten der normalen Sprachen mit Hilfe der Entwicklung idealer Sprachen zu reparieren versucht hat. Schließlich: Wenn ich sage, dass Kant nicht als »Analytiker« interpretiert werden soll, will ich auf keinen Fall einen »Beitrag« zur Diskussion zwischen der »analytischen Philosophie« und der »hermeneutisch-phänomenologischen« bzw. »kontinentalen Philosophie« abliefern. Ich stimme P. Bieri, von dem keiner sagen könnte, er ein anti-analytischer Philosoph, völlig zu, wenn sagt, dass diese Unterscheidung »ein Ärgernis« ist. (Bieri 2007, 343). Dass die Philosophie sich mit »Begriffsanalyse« beschäftigt, ist etwas, das Kant schon in der »vorkritischen« Philosophie mehrmals behauptet (z. B. Deutlichkeit AA 02 281, 10 ff.). Nur als Begriffsanalyse kann man auch das begreifen, was Kant z. B. in der »metaphysischen Erörterung« des Raumes und der Zeit in der KrV tut. In diesem
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die Unterschiede sind in diesem Fall wichtig, wie wir sehen werden. Trotzdem ist die Tendenz, Kant als Vertreter der »Wende zur Sprache« oder als »Analytiker« avant la lettre zu interpretieren, sehr üblich. 182 Das beste Mittel gegen diese Nivellierung ist, einen weiteren Schritt in der Untersuchung des kantischen Begriffs des Urteils zu vollziehen. Dabei ist zunächst zu betonen, dass Kants Begriff des Urteils ein operationeller Begriff ist. 183 Das heißt, dass Kant unter »Urteil« bestimmte Akte versteht und nicht das Resultat dieser Akte, nämlich die Sätze. Im Gegenteil orientiert sich die gegenwärtige Philosophie besonders in der sogenannten analytischen Tradition an dokumentierten sprachlichen Gebilden (Sätzen) oder den von diesen sprachlichen Gebilden bezeichneten Sachverhalten (z. B. Gedanken à la Frege oder Propositionen), wenn sie die Struktur und Eigenschaften von »Urteilen« und »Aussagen« zu analysieren versucht. Dies tun die gegenwärtigen Philosoph*innen natürlich aus verständlichen Gründen. Denn der Begriff des Urteils sei »primär ein psychologischer Begriff« (Tugendhat & Wolff 1983, S, 17). Der Psychologismus ist aber in den Sinne ist Kant ein »Analytiker«, obwohl er kein Vertreter der »Wende zur Sprache« wahr. 182 Ein Beispiel dieser Tendenz kann man bei Kambartel & Stekeler-Weithofer finden. Vgl. (Kambartel & Stekeler-Weithofer 2005, S. 36 und 243 ff.). 183 Vgl. R 2142 »Urteile sind Handlungen des Verstandes und der Vernunft«. Vgl. auch die »Definition«, die Kant für den Begriff des Urteils in MAN gibt. MAN AA 04 474 Fn.: »Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden«. Wie Enskat bemerkt hat, braucht man sich hier nicht dadurch irritieren zu lassen, dass Kant von einer »genau bestimmten Definition eines Urteils überhaupt« spricht. Es ist einerseits richtig, dass Kant mehrmals sagt, dass Definitionen sensu stricto in der Philosophie nicht möglich sind. Vgl. KrV A 727/B 755 ff. Man darf jedoch nicht vergessen, dass sie vor allem deshalb unmöglich sind, weil die philosophischen Begriffe »gegebene« sind, was die Möglichkeit ausschließt, so Kant, dass man eine vollständige Definition erreichen kann. Vollständigkeit ist Kants Meinung nach eine notwendige Bedingung dafür, dass die Grenzen eines Begriffs als bestimmt gelten. Vgl. z. B. KrV 727/B 755; Jäsche-Logik AA 09 140, 21–23; 144, 19 ff.; Logik Blomberg AA 24 263, 18 ff.; Logik Pölitz AA 24 570, 27; Wiener Logik AA 24 916, 6–7; R 2911; 2913. Kant spricht aber besonders in den Vorlesungen mehrmals von Definitionen (in einem schwächeren Sinn des Wortes), die zwar unvollständig sind, aber »präzis« sein können. Dies ist genau der Fall der Urteilsdefinition in MAN, die übrigens eine außerordentlich wichtige systematische Rolle spielt. Vgl. (Enskat 2013) und (Enskat 2015, S. 11 106–111, 119 ff., 127 ff., 154). Zur Definitionslehre Kants vgl. (Beck 1956), der die Lehre sowohl der KrV als auch der Vorlesungen analysiert, und (von Wolff-Metternich 1995, S. 21 ff.) und (Rohs 1998, S. 561 ff.), die sich auf die KrV konzentrieren.
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Augen vieler, die nach Frege und Husserl gedacht haben, eine gefährliche Position. 184 In diesem Kontext ist es deswegen nicht überraschend, dass manche Autor*innen der analytischen Tradition Kant als Vertreter des Psychologismus betrachten, da er dem Begriff des Urteils, nämlich dem Begriff von einem geistigem Akt, den Vorzug in der Logik gegeben hat, statt sich wie Frege an Gedanken oder wie andere an Sätzen orientiert zu haben (Tugendhat & Wolff 1983, S. 18). Obwohl es zumindest fragwürdig ist, Kant sei als ein Vertreter der »extremen psychologischen Auffassung« der Logik zu interpretieren, wie z. B. Tugendhat und Wolff m. E. irrtümlich meinen (Tugendhat & Wolff 1983, S. 18) 185, ist es doch klar, dass für Kant Urteile Akte eines epistemischen bzw. handelnden Subjekts sind und nicht Gedanken im Sinne Freges oder Sätze, nämlich die sprachlichen Dokumente von Gedanken, bezeichnen. Will man Kant nicht als Vertreter eines »extremen Psychologismus« interpretieren, dann ist es einfach, den Fehler zu begehen, ihn als Vertreter des linguistic turn zu interpretieren. Diese Versuchung ist sehr groß, wenn man Kant sub specie veritatis lesen will und den von ihm erhobenen Wahrheitsanspruch ernst nimmt. Dazu genügt heutzutage die Meinung, dass es zwischen Psychologismus und der Wende zur Sprache keinen Mittelweg gibt. Hier tritt aber die wichtige Funktion der distanzierenden 184 Vgl. die Argumente Freges (Frege 1893, S. XIV-XVIII), (Frege 1894, S. 315 f.) und (Frege 1918). Bei Husserl siehe Hua XVIII 63 ff. Bekanntlich hat das Werk Freges (Frege 1894) auf Husserl eingewirkt, der am Anfang seines Philosophierens eine psychologistische Position vertreten hatte. 185 »Demgegenüber kann man von einer extremen psychologischen und ontologischen Auffassung sprechen, wenn die These vertreten wird, dass man das, was ein Urteil bzw. ein Sachverhalt sei, erklären könne, ohne auf Sprachliches zu rekurrieren […] Die extreme psychologische Auffassung war die im 18. Jahrhundert übliche; so vertritt sie z. B. auch Kant« (Tugendhat & Wolff 1983, S. 17–18). Dass Kant dieser Auffassung war, halte ich für falsch. Vielmehr ergänzt Kant, wie Enskat sagt, »seine Ausarbeitung der Logik stillschweigend durch ein Postulat […], das er selbst auf Schritt und Tritt befolgt und lediglich nicht expliziert formuliert. Man kann es in Analogie zu einem Prinzip in der Sprechakttheorie von John Searle als Kants linguistisches Expressibilitäts-Postulat umschreiben und so formulieren: Jede Vorstellung muss mit sprachlichen Mitteln – also mit Hilfe von Worten, Phrasen oder Sätzen ausgedrückt oder bezeichnet werden können« (Enskat 2007, S. 189). Es gibt in Kants Texten viele Indizien, die dafür sprechen, dass er dieses »Expressibilitäts-Postulat« vertreten hat. Vgl. z. B. Logik Blomberg AA 24 1001: »Da die Form der Sprache und die Form des Denkens einander parallel und ähnlich ist, weil wir doch in Worten denken und unsere Gedanken anderen durch die Sprache mitteilen, so gibt es auch eine Grammatik des Denkens«.
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Rolle der Geschichte der Philosophie in Erscheinung. Denn die Annahme ist fragwürdig: Es gibt durchaus einen dritten Weg zwischen dem »Psychologismus« und der »Wende zur Sprache«. Dies ist die Urteilstheorie Kants oder die auf diese Theorie zurückgehende Tradition (etwa die Transzendentalphilosophie Husserls). 186 Auf jeden Fall begeht man einen großen Fehler, wenn man Kant als Vertreter des linguistic turn interpretiert. Denn Kant ist gewiss kein Psychologist, aber er ist auch kein Vertreter des linguistic turn. Kant geht es um Akte des Verstandes, aber nicht um die konkreten Akte jedes epistemischen bzw. handelnden Subjekts, sondern um die Bedingung der Möglichkeit solcher Akte. Auch geht es ihm nicht um Sätze oder sprachliche Gebilde. Viele Missdeutungen kommen dadurch zustande, dass man unkritisch unser Verständnis der Sprache und der Methoden der Philosophie mit dem kantischen identifiziert. Denn man kann die Bedeutsamkeit solcher methodischen Entscheidungen, wie z. B. welchen Orientierungspunkt man als maßstäblich für eine Theorie ansieht, kaum überschätzen, wie anhand des oben analysierten Falls Davidsons festzustellen war. Dort hatte die Entscheidung Davidsons, sich an der logischen Form von Handlungsaussagen zu orientieren, wichtige Folgen für die Theorie. Denn Davidsons Idee, dass Handlungen »Ereignisse« sind, ist dadurch begünstigt worden, wie oben gesehen, dass er die methodologische Entscheidung getroffen hat, seine Handlungskonzeption abhängig zu machen von der Klärung der logischen Struktur von Handlungsaussagen und der deduktiven Beziehungen zwischen solchen Aussagen, wobei die logische Form der Handlungsaussagen mit den Mitteln der Prädikatenlogik erster Ordnung ausdrückbar sein sollte. Kants Entscheidung, sich in seiner Theorie an Urteilsakten zu orientieren, kann ebenfalls bestimmte Interpretationen gewisser Phänomene begünstigen. Ob dies so ist, werden wir im Fall der Handlungskonzeption erst am Ende der Arbeit sagen können. Der nächste Schritt besteht jedoch darin, genauer zu erklären, welche Fehler man begehen kann, wenn man nicht auf den Unterschied zwischen »Urteilsakten« und »Sätzen« achtet. W. Wieland hat u. a. mit Bezug auf den Unterschied zwischen »logischen« und »ästhetischen« Urteilen, d. i. Urteilen, die gegen186 Diese Verbindung zwischen Husserl und Kant kann man z. B. anhand der Rolle des Begriffs der »Operation« in der transzendentalen Logik Husserls erkennen. Hua XVII, 57 ff.
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standsbezogen (logische) oder subjektbezogen (ästhetische) sind, besonders klar gezeigt, dass die Nivellierung von Urteilen und sprachlichen Dokumenten von Urteilen der Interpretation der Philosophie Kants abträglich ist. 187 Viele Unterscheidungen, die eine enorme Tragweite für die kritische Philosophie haben, werden ohne die Unterscheidung zwischen logischen und ästhetischen Urteilen nicht verständlich. Man kann dies sehr klar anhand des Unterschieds zwischen »Erfahrungsurteilen« und »Wahrnehmungsurteilen« sehen, die erst in den Prolegomena eingeführt worden ist. Die Probleme und offenen Fragen in der Analyse dieses Unterschieds sind so alt wie die Kant-Forschung. Schon Schulz hat ihn 1785 in seiner Rezension der Institutiones logicae et metaphysicae in Frage gestellt (vgl. Pollok 2012, S. 117 ff.). Später hat der renommierte Kant-Forscher F. Paulsen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts behauptet, er glaube nicht, »dass ein Mensch sich rühmen kann, diese Gedanken wirklich zu verstehen, d. h. denken zu können« (zitiert von Prauss 1971, S. 139). Wie Prauss bemerkt hat, hat sich diese Diagnose und Kapitulation der Kant-Forschung als sich selbst erfüllende Prophezeiung erwiesen, sodass sie die Unterscheidung zwischen Erfahrungsund Wahrnehmungsurteilen wiederholt als nicht sinnvoll oder als in187 Vgl. (Wieland 2001, S. 78 ff.). Für den Unterschied zwischen »logischen« und »ästhetischen« Urteilen vgl. KU AA 05 203, 9 – 204, 3: »Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben. Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann. Alle Beziehung der Vorstellungen, selbst die der Empfindungen aber kann objektiv sein (und da bedeutet sie das Reale einer empirischen Vorstellung); nur nicht die auf das Gefühl der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt«. R 2127: »Ein Urteil ist logisch, wodurch ich eine Beschaffenheit des Objekts ausdrücke; ästhetisch: wenn es eine Empfindung enthält«. Siehe auch die Bemerkungen von Wieland (Wieland 2001, S. 46 und ff.). Es ist ein Verdienst Wielands, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass, da ästhetische Urteile eine wichtige methodische Rolle in der Philosophie Kants spielen, einem vieles entgeht, wenn man Kants Auffassung von ihnen nicht versteht. Sie sind, wie gesagt, sehr wichtig, weil sie unübersehbar machen, dass der Ort des Urteils das Bewusstsein ist und nicht die Sprache. (vgl. Wieland 2001, S. 92). Obwohl die Theorie Kants sich vor allem mit Erkenntnisurteilen beschäftigt, nämlich mit moralischen Urteilen und Urteilen über die Natur, beschäftigt sich die transzendentale Theorie als solche, also als Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit solcher Erkenntnisurteile, auch mit ästhetischen Urteilen.
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kompatibel mit der echten kantischen Lehre oder mit der Lehre der zweiten Aufgabe der KrV bezeichnet haben. (Ebd.). Diese Tendenz ist bis heute zu beobachten. 188 Da die Interpretationslage außerordentlich schwierig ist, will ich hier nicht eine vollständige Interpretation der Unterscheidung geben. Vielmehr habe ich vor, auf bestimmte Aspekte der Unterscheidung aufmerksam zu machen, die von Belang sind für das Verständnis der kantischen Auffassung des Urteils. Im Hintergrund steht natürlich die Überzeugung, die ich hier nicht begründen kann, dass die Unterscheidung nicht nur sinnvoll und verträglich mit der Lehre der zweiten Auflage der KrV ist, sondern auch, dass sie von Belang für die Transzendentalphilosophie ist. 189 Was sind aber Wahrnehmungsurteile? Es handelt sich um Urteile, die »keines reinen Verstandesbegriffs [bedürfen], sondern nur [der] logische[n] Verknüpfung der Wahrnehmung in einem denkenden Subjekt« (vgl. Prolegomena AA 04 298, 3–5). Bei diesen Urteilen »beziehe [ich] zwei Empfindungen in meinen Sinnen nur auf einander« (vgl. Prolegomena AA 04 299, 23). Das heißt, dass in diesen Urteilen weder »Wörter« noch »Begriffe« verknüpft werden, sondern die Wahrnehmungen oder die Empfindungen selbst. Gelegentlich hebt Kant dies auch ganz deutlich hervor, z. B. an der folgenden Stelle der Jäsche-Logik: »Ein Urteil aus bloßen Wahrnehmungen ist nicht wohl möglich als nur dadurch, daß ich meine Vorstellung, als Wahrnehmung, aussage« (Jäsche-Logik AA 09 113, 5–6). Die Tatsache, dass in diesen Urteilen weder Wörter noch Begriffe verbunden werden, macht Kant seine Aufgabe aber schwieriger, seine Lehre mit Beispielen zu illustrieren. Denn die Beispiele kann man nur mit Hilfe von Wörtern formulieren; Vorstellungen können hier nicht helfen. Vielleicht ist dies der Grund, aus dem er verhältnismäßig viele Beispiele gibt und immer wieder neue Formulierungen für die entspre188 Entsprechend haben jüngst K. Pollok und P. Guyer die These verteidigt, dass so zu unterscheiden eigentlich ein Fehler ist, sodass Kant die Unterscheidung später nicht mehr mache. Vgl. (Pollok 2012) und (Guyer 2012). Bereits zuvor haben andere prominente Autor*innen wie Ernst Cassirer oder Norman Kemp Smith die Unterscheidung mit sehr kritischen Augen betrachtet. Für weitere Angaben zur Geschichte des Problems (Prauss 1971, S. 139 ff.), (Caimi 1989), (Longuenesse 1998, 169) und (Pollok 2012, S. 112 ff.). Seit der Veröffentlichung von Prauss (1971) ist die Unterscheidung aber von einer Reihe von Autor*innen verteidigt worden. Problematisch ist allerdings, dass ihre Verteidigungsstrategien sehr unterschiedlich sind. Siehe z. B. (Prauss 1971), (Longuenesse 1998, S. 169 ff.) und (Wolff 2012). 189 So haben dies auch u. a. (Longuenesse 1998), (Wieland 2001), (Vigo 2006b) und (Wolff 2012) gesehen.
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chenden Urteile versucht. Auch in der Kant-Forschung zeigt sich diese Tendenz, immer wieder neue Formulierungen für Wahrnehmungsurteile anzuführen. 190 Die Versuche Kants, den Unterschied zwischen Wahrnehmungsund Erfahrungsurteilen mit Hilfe verschiedener Beispielen zu illustrieren, hat die Dinge aber z. T. unnötig verkompliziert, wie eine rasche Analyse der von Kant in den Prolegomena gegebenen Beispiele klarmacht. Kant erwähnt dort die folgende Urteile: »das Zimmer ist warm«, »der Zucker ist süß«, »der Wermut ist widrig« (Prolegomena AA 04 299, 10–11), »die Luft ist elastisch« (Prolegomena AA 299, 21–22) und »wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm« (Prolegomena AA 04 301, 30–31). Diese Beispiele haben den Text eher verdunkelt als erhellt. Die Kant-Forschung hat sich aus diesem Grund mit den erwähnten Beispielen intensiv auseinandergesetzt und versucht, ihre Rolle zu erklären. Erstens ist zu bemerken, dass die Beispiele eigentlich nicht dieselben Eigenschaften aufweisen. »Das Zimmer ist warm«, »der Zucker ist süß«, »der Wermut ist widrig« scheinen Beispiele für Urteile zu sein, die bloß subjektiv gültig sind. Solche Urteile können nicht, so Kant, Erfahrungsurteile werden (Prolegomena AA 04 299, 28–29). Besonders schwierig ist die Frage nach dem Status des Urteils »die Luft ist elastisch«, das für einige Autor*innen kein Beispiel eines Wahrnehmungsurteil sein kann. 191 M. Caimi vertritt sogar die These, dass es keinen Beleg im Text gebe, dieses Urteil als »Wahrnehmungsurteil« zu bezeichnen (Caimi 1989, S. 114 ff.). Bevor man solche Urteile über dieses Beispiel fällt, muss man sich aber im Klaren über der Zweck des Beispiels ist. Generell setzen Beispiele voraus, dass man eine gewisse Vertrautheit mit dem hat, wofür sie Beispiele sind. Deswegen sind sie, wie schon Kant gesehen hat, nicht immer hilfreich und manchmal sogar verderblich. Ziel der Stelle, in deren Rahmen Kant das Beispiel einführt, ist, zu erläutern, wie ein Wahrnehmungsurteil ein Erfahrungsurteil werden kann. Denn »alle unsere Urteile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurteile« (Prolegomena AA 04 298, 9). 192 Es geht deshalb darum, ein Beispiel zu geben, das eine Eigenschaft hat, die die früheren Beispiele 190 Besonders interessant sind in diesem Punkt die Überlegungen von Prauss. Vgl (Prauss 1971, S. 199 ff.). 191 Vgl. (de Vleeschauwer 1936, S. 475), (Prauss 1971, S. 177): »In dieser seiner Formulierung jedoch kann ›die Luft ist elastisch‹ allein ein Erfahrungsurteil sein«, und (Caimi 1989). Anders interpretiert dies M. Wolff (Wolff 2012, S. 132 ff.). 192 In einer Fußnote erklärt Kant, dass das Beispiel »wenn die Sonne den Stein be-
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(»der Wermut ist widrig« usw.) nicht haben. Wie kommt es dann dazu, dass ein Wahrnehmungsurteil ein Erfahrungsurteil wird? Eine Analyse des Textes, in dem Kant dies erklärt, wird Auskunft darüber geben, ob das Urteil »die Luft ist elastisch« ein Wahrnehmungs- oder Erfahrungsurteil ist oder vielleicht sogar beides. Die Analyse der Argumentation Kants wird auch bestätigen, dass es wesentlich ist, die Rolle des Urteils bei Kant und die Rolle von Sätzen in der analytischen Philosophie zu trennen. Der Text Kants lautet: »Es geht also noch ein ganz anderes Urteil voraus, ehe aus Wahrnehmung Erfahrung werden kann. Die gegebene Anschauung muß unter einem Begriff subsumiert werden, der die Form des Urteilens überhaupt in Ansehung der Anschauung bestimmt, das empirische Bewußtsein der letzteren in einem Bewußtsein überhaupt verknüpft und dadurch den empirischen Urteilen Allgemeingültigkeit verschafft; dergleichen Begriff ist ein reiner Verstandesbegriff a priori, welcher nichts tut, als bloß einer Anschauung die Art überhaupt zu bestimmen, wie sie zu Urteilen dienen kann. Es sei ein solcher Begriff der Begriff der Ursache, so bestimmt er die Anschauung, die unter ihm subsumiert ist, z. B. die der Luft in Ansehung des Urteilens überhaupt, nämlich daß der Begriff der Luft in Ansehung der Ausspannung in dem Verhältnis des Antezedens zum Konsequens in einem hypothetischen Urteile diene. Der Begriff der Ursache ist also ein reiner Verstandesbegriff, der von aller möglichen Wahrnehmung gänzlich unterschieden ist und nur dazu dient, diejenige Vorstellung, die unter ihm enthalten ist, in Ansehung des Urteilens überhaupt zu bestimmen, mithin ein allgemeingültiges Urteil möglich zu machen. Nun wird, ehe aus einem Wahrnehmungsurteil ein Urteil der Erfahrung werden kann, zuerst erfordert: dass die Wahrnehmung unter einem dergleichen Verstandesbegriffe subsumiert werde; z. B. die Luft gehört unter den Begriff der Ursache, welche das Urteil über dieselbe in Ansehung der Ausdehnung als hypothetisch bestimmt. Dadurch wird nun nicht diese Ausdehnung als bloß zu meiner Wahrnehmung der Luft in meinem Zustande, oder in mehreren meiner Zustände, oder in dem Zustande der Wahrnehmung anderer gehörig, sondern als dazu notwendig gehörig vorgestellt; und das Urteil: die Luft ist elastisch, wird allgemeingültig und dadurch allererst Erfahrungsurteil, dass gewisse Urteile vorhergehen, die die Anschauung der Luft unter den Begriff der Ursache und Wirkung subsumieren und dadurch die Wahrnehmungen nicht bloß respektive auf einander in meinem Subjekte, sondern in Ansehung der Form des Urteilens überhaupt (hier der hypothetischen) bestimmen und auf solche Art das empirische Urteil allgemeingültig machen« (Prolegomena AA 04 300, 18–301, 13). scheint, so wird er warm« (Prolegomena AA 04 301, 30–31) dies ebenfalls zeige. Dieses Beispiel sei sogar »leichter«, so Kant.
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Jedem Leser, der vertraut ist mit den Mitteln der gegenwärtigen sprachanalytischen Philosophie, muss an dieser Stelle das folgende auffallen: Kant bezieht sich hier auf ein »Urteil« wie »die Luft ist elastisch«, ohne es in Anführungszeichen anzuführen. Schon dies muss den Argwohn erwecken, dass er hier nicht den Satz »die Luft ist elastisch« bezeichnen wollte, sondern etwas anderes. 193 Es liegt selbstverständlich nahe, diese Situation als Ausdruck eines Mangels an sprachanalytischer Umsicht Kants aufzufassen. Denn Kant und die Autor*innen seiner Epoche haben nicht zwischen Gebrauch und dem Anführen eines Ausdrucks (use bzw. mention) unterschieden, jedenfalls nicht systematisch. 194 Dies alles mag sein. Kant geht es hier jedoch nicht um die Wörter, mit denen man einen bestimmten Gegenstand bzw. Sachverhalt bezeichnen kann, nämlich nicht um »die Luft ist elastisch« als Ausdrucks des Sachverhalts, dass die Luft elastisch ist. Der von Kant gebrauchte Satz »die Luft ist elastisch« bezieht sich hier auf das Urteil, das das epistemische Subjekt fällt. 195 Und in diesem Urteil wiederum geht es nicht um die Wörter, sondern um die Vorstellungen, mit deren Hilfe der Urteilende sein Urteil fällt (die Wahrnehmung wird ausgesagt, Jäsche-Logik AA 09 113, 5–6). Dennoch legen die Beispiele Kants leider den Schluss nahe, dass das urteilende Subjekt sich hier auf die Gegenstände bezieht, die die Ausdrücke wie etwa »die Luft«, »das Zimmer«, »der Zucker« oder »der Wermut« im normalen Gebrauch dieser Wörter bezeichnen. Es scheint so zu sein, als ob das Subjekt von diesen Gegenständen gewisse Eigenschaften prädizierte, etwa vom Zucker die Süße, von Wermut die Widrigkeit, von der Luft die Elastizität usw. Dies ist eben der Fall im Erkenntnisurteil. Da referiert der Urteilende mittels einer Vorstellung, die die Funktion des Subjekts im Urteil hat, auf einen Gegenstand und ordnet den Begriff des Subjekts dem Begriff des Prädikats unter. Im Fall der Beispiele in den Prolegomena referieren die Wörter aber weder auf die von den Wörtern »Zimmer«, »Zucker« usw. bezeichneten Gegenstände, noch auf die Begriffe, z. B. Zimmer, Zucker, süß, Luft, Elastizität, sondern sie beziehen sich auf nicht objektbe-
193 Z. B. »und das Urteil: die Luft ist elastisch, wird allgemeingültig« (Prolegomena AA 04 301, 7). 194 Für diesen Unterschied (Quine 1940, S. 23 ff.). 195 Die Abwesenheit von Anführungszeichen kann man deswegen als Hinweis auf die Tatsache interpretieren, dass, wie Wieland sagt, »Urteile sich, genau genommen, nicht zitieren [lassen]« (Wieland 2001, S. 87).
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zogene Empfindungen bzw. Vorstellungen. Es ist die Wahrnehmung der Luft, »[die] unter einem dergleichen Verstandesbegriffe subsumiert werde; z. B. die Luft gehört unter den Begriff der Ursache, welche das Urteil über dieselbe in Ansehung der Ausdehnung als hypothetisch bestimmt« (Prolegomena AA 04 301, 1–2). Daher kann Kant behaupten, dass das Urteil »die Luft ist elastisch« ein Wahrnehmungsurteil ist, in dem »ich zwei Empfindungen in meinem Sinne aufeinander [beziehe]« (Prolegomena AA 04 299, 21–23). 196 Demzufolge kann man verstehen, warum Kant den Satz »die Luft ist elastisch« als Beispiel sowohl eines »Wahrnehmungsurteils« als auch eines »Erfahrungsurteils« verwendet. Denn einmal ist er Ausdruck eines Urteilsaktes, der subjektbezogen ist, und an anderen Stellen eines objektbezogenen Urteilsaktes. Das eine Mal behauptet jemand, dass er die Vorstellungen »Luft« und »elastisch« assoziiert, wie man die Vorstellungen süß und Zucker assoziieren kann; das andere Mal wird eine Eigenschaft von einem Gegenstand ausgesagt, nämlich die Elastizität von der Luft. Kant hat bemerkt, wie schwierig es für ihn war, mit Hilfe seiner Beispiele die Idee mitzuteilen, auf die es ihm ankam. Die Beispiele legen, wie gesagt, die Idee nahe, dass die Urteile sich auf Gegenstände beziehen, was nicht der Fall ist. Die Sätze »der Stein ist warm« oder »dies ist schön« 197 geben uns als solche keine Informationen über den Akt, den das Subjekt vollzieht, das das Urteil »der Stein ist warm« oder »dies ist schön« fällt. Aber genau um diese Art von Akt geht es in der Urteilstheorie Kants, jedenfalls wenn er solche Unterscheidungen trifft. Kant hat deswegen immer wieder mit verschiedenen Beispielen sowohl in den Prolegomena als auch in den Vorlesungen über Logik und in den Reflexionen versucht, die Struktur der Wahrneh-
196 »Daher spreche ich alle dergleichen Urteile als objektiv gültige aus; als z. B. wenn ich sage, die Luft ist elastisch, so ist dieses Urteil zunächst nur ein Wahrnehmungsurteil, ich beziehe zwei Empfindungen in meinen Sinnen nur auf einander« (Prolegomena AA 04 299, 202–23). Übrigens zeigt diese Stelle, dass, anders als Caimi denkt (siehe oben S. 123), Kant das Urteil »die Luft ist elastisch« tatsächlich als Wahrnehmungsurteil bezeichnet hat. Die von Caimi verteidigte These, nach der es keinen Beleg im Text für die Behauptung gebe, dass Kant das Urteil »die Luft ist elastisch« als Wahrnehmungsurteil bezeichnet hat, ist deswegen falsch. 197 Das Urteil »das ist schön« ist eigentlich kein Wahrnehmungsurteil, sondern ein Geschmacksurteil. Für die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Wahrnehmungsurteilen und Geschmacksurteilen siehe (Fricke 1990, 34–35). Vgl. auch KU AA 05 204, 21 ff.
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mungsurteile sprachlich besser darzustellen. 198 Ein Beispiel dafür ist die folgende Reflexion: »Ein Urteil aus bloßen Wahrnehmungen ist nicht wohl möglich als nur dadurch, dass ich meine Vorstellung als Wahrnehmung aussage. Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe war. Ich kann aber nicht sagen: er ist rot; denn das wäre nicht bloß ein empirisches, sondern auch Erfahrungsurteil, d. i. ein empirisches Urteil, dadurch ich einen Begriff vom Objekt bekomme. Z. B. »Bei der Berührung des Steins empfinde ich wärme«, ist das erstere: aber »der Stein ist warm«, ist das Zweite. – Es gehört zum Letzteren, dass ich das, was bloß in meinem Subjekt ist, nicht zum Objekt rechne; denn ein Erfahrungsurteil ist die (g Wahrnehmung), woraus ein Begriff vom Objekt entspringt« (vgl. R 3145). 199
In diesem Beispiel kommen viele interessante Elemente vor. Hier ist vor allem wichtig, dass Kant hier explizit behauptet, dass in diesem Fall nicht vom Turm behauptet wird, er sei rot. Vom Stein behaupte ich auch nicht, er sei »warm«, sondern eher sage ich, dass ich Wärme empfinde, wenn ich den Stein berühre. Dieses Urteil ist also kein Erkenntnisurteil, oder kein Urteil, in dem ich mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes habe. Umgekehrt wäre ein Urteil, in dem ich die Vorstellungen im Gegenstand verbinde, ein Erfahrungsurteil. Dies und nur dies ist das, was Kant in der zweiten Auflage der Kategoriendeduktion als »Urteil« bezeichnet (B 141–142). Dass Kant aber in der zweiten Auflage der KrV von dem Ausdruck »Urteil« einen restriktiveren Gebrauch macht, heißt nicht, dass die in diesem Text beinhaltete Lehre unverträglich wäre mit der Lehre der Prolegomena. Es heißt nur, dass Kant das Wort »Urteil« anders als in den Prolegomena verwendet. 198 In den zeitlebens von Kant veröffentlichten Werken kommt die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen nur in der Jäsche-Logik (AA 09 113, 3–16) noch einmal vor. Da die Jäsche-Logik ein umstrittenes Werk ist (siehe unten S. 137 Fn. 216) haben aus diesem Grund einige Autor*innen behauptet, dass Kant die Unterscheidung nach der zweiten Auflage der KrV nicht mehr für korrekt gehalten hat, denn sie sei nicht verträglich mit der Lehre der Kategoriendeduktion dieses Textes. Vgl. z. B. (Pollok 2012). Es gibt aber eine andere und m. E. bessere Erklärung dafür, dass in den veröffentlichten Werken der Unterschied nur in den Prolegomena zu finden ist, nicht aber in der KrV: Wie B. Longuenesse und M. Wolff geltend gemacht haben, folgt die Prolegomena der analytischen Darstellungsmethode, die KrV der synthetischen. Vgl. (Longuenesse 1998, S. 170) und (Wolff 2012, S. 162). 199 Diese Reflexion entspricht, Adickes Datierung nach, der Phase »omega« (1790– 1804).
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Wenn man den besonderen Charakter des Urteilsbegriffs verkennt, versteht man viele andere Behauptungen Kants nicht mehr. Dies ist z. B. der Fall mit der folgenden Behauptung in der Anthropologie, auf die W. Wieland aufmerksam gemacht hat (Wieland 2001, S. 90–91): »Der Gedanke: ich bin nicht, kann gar nicht existieren, denn bin ich nicht, so kann ich mir nicht bewusst werden, dass ich nicht bin« (Anthropologie AA 07 167, 13–15). Zwar kann man die These Kants hier gar nicht verstehen, wenn man sie so erfasst, als ob sie eine Behauptung über die Aussage »Ich existiere nicht« beinhaltete. Denn das Urteil: »ich existiere nicht«, ist nicht widersprüchlich oder analytisch falsch wie das Urteil: »ledige Menschen sind verheiratet«, oder: »ich bin ledig und nicht ledig«. Es ist richtig, dass der Satz »ich bin nicht« kein analytisch falscher Satz ist, aber als Akt des Verstandes beinhaltet das Urteil »ich bin nicht« eine Inkonsistenz. Denn immer wenn ich etwas behaupte oder sogar denke, existiere ich, wie schon Descartes geltend gemacht hat. Man kann den Punkt besser verstehen, wenn man darauf hinweist, dass es hier um eine Inkonsistenz geht, die auf der Ebene der Äußerungen (utterances) und nicht der Sätze stattfindet, wie Hintikka in seiner Interpretation des Cartesischen cogito gezeigt hat (Hintikka 1962, S. 105). Dies kann man auch in der Formulierung Descartes spüren: »Adeo ut, omnibus satis superque pensitatis, denique statuendum sit hoc pronuntiatum: ego sum, ego existo, quoties a me profertur (Hervorhebung LP), vel mente concipitur, necessario esse verum« (AT VII 25). Diese Inkonsistenz bleibt aber nicht auf der Ebene der Kommunikation oder eines kommunikativen Sprechakts. Vielmehr ist der Vollzug des Gedankens mit dem Akt des Denkens inkonsistent. Es handelt sich dabei deswegen um eine Inkonsistenz auf der Ebene des Bewusstseins. Daher behauptet Wieland m. E. mit Recht, »bezöge man solche Thesen lediglich auf die sprachlichen Dokumentationen der einschlägigen Urteile, müßten sie gänzlich abwegig scheinen. Nur wenn man das Urteil nicht der Sphäre der Sprache, sondern der des Bewußtseins zuordnet, kann man mit Kant in dem Gedanken »ich bin nicht« eine Inkonsistenz finden« (Wieland 2001, S. 91). Die entscheidende Differenz zwischen der »sprachanalytischen« Methode und Kants Methode ist also, dass der natürliche Ort der Urteile für Kant nicht die Sprache ist, sondern das Bewusstsein. 200 Dies könnte den Argwohn erwecken, dass Kant naiv angenom200
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Vgl. (Schaper 1979, S. 31–32) und (Wieland 2001, S. 81).
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men habe, dass wir einen unmittelbaren Zugang zum Bewusstsein ohne Vermittlung der Sprache hätten. Die »Wende zur Sprache« ist eben als ein Gegengift gegen diese Naivität entstanden. Der Grund der methodischen Entscheidung, die Sprachanalyse als philosophische Methode vorzuziehen, liegt darin, dass »die Philosophie ihre wesentlichen Probleme nicht im direkten Sachbezug allein behandeln […] [kann], sondern vielmehr stets zugleich die Verwicklungen der philosophischen Probleme mit unseren Verständnissen und Missverständnissen der Sprache bedenken« muss (Kambartel & StekelerWeithofer 2005, S. 13). Daher räumt der »sogenannte Linguistic Turn der Philosophie […] einer kritischen Sprachanalyse den Platz der wichtigsten Methode philosophischer Überlegung ein« (Kambartel & Stekeler-Weithofer 2005, S. 13). Dass Kant jedoch nie naiverweise unterstellt hat, dass wir unmittelbaren Zugang zur Sphäre des Bewusstseins und daher der Urteile haben, zeigt sich in vielen Texten, in denen Kant hoch raffinierte Überlegungen über die Beziehungen zwischen Sprache, Urteile und Bewusstsein angestellt hat. 201 Er behauptet z. B. explizit, dass wir ohne Sprache sogar uns selbst nicht verstehen könnten. 202 Es ist genau dies, was Handlungen wie das Beten, Kants Meinung nach, sinnvoll macht. Denn Gott habe Zugang zu
201 Referenzen auf viele dieser Texte kann man in Wielands Buch finden. Vgl. (Wieland 2001, S. 82). Auch in (Wolff 1995, S. 24) und (Enskat 2013). Das von Enskats formulierte »Expressibilitäts-Postulat« ist auch ein Zeichen dafür, dass Kants Präferenz für Vorstellungen nicht die oben erwähnte naive Unterstellung impliziert, nach der wir unmittelbaren Zugang zur Bewusstseinssphäre haben. Vgl. oben. S. 119 Fn. 185. 202 Vgl. auch Über eine Entdeckung AA 08 194, 27–28 »denn wir müssen uns auch zu Urteilen, die wir nicht für Sätze ausgeben, in Gedanken der Worte bedienen«; Logik Pölitz AA 24 580, 3–4 »Die Logiker definieren einen Satz per judicium verbis prolatum, welches aber falsch ist, wir würden gar nicht urteilen, wenn wir keine Wörter hätten«; Logik Blomberg AA 24 1001 »Da die Form der Sprache und die Form des Denkens einander parallel und ähnlich ist, weil wir doch in Worten denken und unsere Gedanken anderen durch die Sprache mitteilen, so gibt es auch eine Grammatik des Denkens«; R 3444 »Wir bedürfen Worte, um nicht allein andern, sondern uns selbst verständlich zu werden. Dieses Vermögen des Wortgebrauchs ist die Sprache«; Wiener Logik AA 24 934, 21–23: »Wenn aber die Logici sagen: ein Urteil ist ein Satz in Worte eingekleidet: so heißt das nichts, und diese Definition taugt gar nichts. Denn wie werden sie Urteile denken können ohne Wörter«. Implizit ist dieser Gedanke auch in der folgenden Stelle A 312/B 368 »Bei dem großen Reichtum unserer Sprachen findet sich doch oft der denkende Kopf wegen des Ausdrucks verlegen, der seinem Begriffe genau anpaßt, und in dessen Ermanglung er weder anderen, noch sogar sich selbst recht verständlich werden kann«.
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allen unseren Gedanken, sodass es unnötig sei, unsere Gesinnung zu deklarieren, damit Gott sie erkennt. Obwohl Gott sowohl unsere Wünsche als auch unsere Gesinnungen »sieht«, können »wir Menschen […] unsere Begriffe« uns »nicht anders faßlich machen« als dadurch, dass wir »sie in Worte [einkleiden], wir kleiden also unsere fromme[n] Wünsche und unser Zutrauen in Worte ein, damit wir sie uns lebhafter vorstellen können« (Kaehler Moral 144, 4–7; Moralphilosophie Collins AA 27 323, 18–21; Moral Mrongovius AA 27 1465, 40–1466, 2). 203 Kant hat, wie die zitierten Texte zeigen, ohne Weiteres eingesehen, dass wir als Menschen zum Denken und Reden mit anderen auf Wörter angewiesen sind (siehe oben S. 229). Daher ist Kant auf die methodischen Leistungen der »Wende zur Sprache« nicht angewiesen. Seine Texte zeigen darüber hinaus den Irrtum von Autor*innen wie R. Brandt, die meinen, dass Kant »sich außer für etymologische Spielereien nie für Sprache interessiert« habe (Brandt 1999, S. 192). 204 Obwohl es völlig richtig ist, dass Kant Desinteresse an der Sprache als methodischem Leitfaden für philosophische Untersuchungen gezeigt hat, ist die Behauptung Brandts zumindest unvollständig, denn sie erweckt den Eindruck, dass Kant die Rolle der Sprache als notwendige Bedingung unseres Denkens bzw. GedankenFassens vernachlässigt hat. Und dies ist eindeutig nicht der Fall. Es ist eher so, dass Kant sein Desinteresse an der Sprache als Leitfaden philosophischer Untersuchungen mit methodischen Bemerkungen begründet hat. Kant wollte die Sphäre der den Sätzen und Aussagen zugrundeliegenden Akte nicht ausklammern, weil er gesehen hat, dass die Art und Weise, in der wir durch die Sprache Bezug auf die Welt nehmen, nicht erklärbar ist, ohne die Sphäre des Bewusstseins zu thematisieren (Vgl. Wieland 2001, S. 86). Dies heißt nicht, dass er nicht eingesehen hätte, dass wir diese Sphäre des Bewusstseins nur mit Hilfe der Sprache zum thematischen Gegenstand der philosophischen Überlegung machen können. Dies impliziert aber nicht, dass Siehe auch die folgende interessante Bemerkung in der Anthropologie: »Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken, und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, dieses größte Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer auf Otaheite nennen das Denken: die Sprache im Bauch), folglich sich auch innerlich (durch reproduktive Einbildungskraft) Hören«. (Anthropologie AA 07, 192, 29–34). 204 Diese Bemerkungen Brandts sind um so merkwürdiger, als er selbst auf manche dieser Stellen in anderen Werk aufmerksam gemacht hat. Vgl (Brandt 1991, S. 42). 203
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das Bewusstsein in Begründungsordnung die Sprache voraussetzt, obwohl es faktisch so ist. Wir können unsere Bewusstseinsinhalte ohne die Sprache nicht thematisieren; dies impliziert aber keine »ontologische« Priorität der Sprache. 205
5.b) Praktische Urteile als Leitfaden für die Interpretation der Handlungskonzeption Kants Kehren wir zum ursprünglichen Punkt zurück. Es wurde gesagt, dass Kants Philosophie eine Theorie des Urteils ist, dass Urteile Erkenntnisse sind und dass Kants Philosophie als Transzendentalphilosophie eine Philosophie ist, die von den Bedingungen der Möglichkeit der Urteile bzw. Erkenntnisse von Gegenständen handelt. Nun gliedert Kant die Philosophie als System in zwei Zweige: die theoretische und die praktische Philosophie (Vgl. Erste Einleitung AA 20 195, 18–19). Dieser in den Augen vieler trivialen Unterscheidung liegen interessante Ideen zugrunde, die hilfreich sein können, um die Handlungskonzeption Kants zu verstehen. Die Trennung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie gründet sich auf die Idee, dass die einzige Vernunft zwei Gestalten hat und dass jede dieser Gestalten spezifische Besonderheiten aufweist. Bei Kant, wie auch bei Aristoteles und in der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition, sind die praktische und die theoretische Philosophie die beiden Hemisphären des auf Prinzipien zielenden Wissens. Entsprechend ist die kantische Philosophie, wie die aristotelische, vor allem eine Philosophie der praktischen Erkenntnis. Sie orientiert sich an der Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Wahrheit auch im praktischen Verständnis zu erreichen. Obwohl sie diese Eigenschaft teilen, sind jedoch beide, praktische und theoretische Vernunft, als Vernunftgestalten gedacht, die nicht auf die jeweils andere Gestalt zurückführbar sind. Die Besonderheit jedes dieser Zweige ist an vielen Punkten zu erkennen. Erstens ist sowohl das praktische als auch das theoretische 205 Auf diesen Punkt hat auch Wieland hingewiesen: »Man kann das Verhältnis der Sprache zu den in ihr dokumentierten Denkstrukturen hinsichtlich einiger Merkmale mit der Beziehung zwischen der Welt der Erfahrung und den hinter ihr stehenden apriorischen Strukturen vergleichen. Nicht in der Begründungsordnung, wohl aber faktisch und genetisch geht auch der Weg zur Ebene des Apriorischen immer von der Welt der Erfahrung aus«. Vgl (Wieland 2001, S. 86).
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Gebiet, dem kantischen Begriff der Philosophie nach, eine durch Gesetze regulierte Domäne. Dementsprechend macht Kant den bekannten Unterschied zwischen Gesetzen der Natur und Gesetzen der Freiheit. Die Besonderheiten der praktischen Vernunft lassen sich aber nicht auf die ihr zugrundeliegenden besonderen Gesetzmäßigkeit reduzieren. Zwischen praktischer und theoretischer Vernunft bestehen auch methodische Unterschiede. Dies ist auch eine Idee, die auf die aristotelische Philosophie zurückzuführen ist. Entsprechend hat Aristoteles schon in der »Nikomachischen Ethik« angedeutet, dass man sich in der Ethik um Exaktheit in einer anderen Weise als in der theoretischen Philosophie bemühen muss (EN I 3 1094b12). Damit hat Aristoteles auf eine wichtige Eigenart der praktischen Philosophie hingewiesen, nämlich die, sich methodisch von der theoretischen Philosophie zu unterscheiden. Dieser Unterschied zwischen der theoretischen und praktischen Philosophie anhand der unterschiedlichen methodischen Orientierung der beiden Vernunftgestalten hat Kant auch eingesehen, obwohl er ihn anders interpretiert hat (wie man in der KpV erkennen kann). 206 So hat Kant in vielen Punkten die aristotelische Tradition der philosophia practica fortgesetzt und vertieft. 207 Da Kants Philosophie aber eine Philosophie des Urteils ist, liegt es nahe, dass einer der wichtigsten Beiträge Kants zur Tradition der praktischen Philosophie im Rahmen der Urteilstheorie liegt. Und es ist tatsächlich so, dass einer der wichtigsten Beiträge Kants die Anerkennung der Besonderheiten der praktischen Urteile und der Kriterien war, mit Hilfe deren wir die Rationalität solcher Urteile beurteilen können. Dies hat Kant mit Hilfe der von ihm im Rahmen der transzendentalen Logik entwickelten Mittel geleistet. Und das ist ein weiteres Indiz dafür, dass Kant sich in die Tradition der philosophie practica einordnet. Denn schon bei Aristoteles gibt es viele Stellen, die zeigen, dass er die An206 Ich denke hier an die »Paradoxie der Methode«, die Kant in seiner KpV thematisiert. Vgl KpV AA 05 62, 36 ff. 207 Für eine Analyse dieser Tradition, siehe (Wieland 1989, S. 5 ff.). Jüngst hat S. Engstrom auf die Verbindung zwischen Kant und der aristotelischen Tradition hingewiesen (Engstrom 2009, S. vii ff.). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Kant u. a. den alten aristotelischen Begriff der praktischen Vernunft (noûs praktikòs) wieder eingeführt hat, der im Rahmen der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts vergessen worden war. Vgl. (Beck 1960, S. 37) und Willaschek (2006, S. 126). Entsprechend hat auch Bubner behauptet: »Die praktische Philosophie soll dank der transzendentalen Wendung wieder auf eine Höhe mit der theoretischen Erkenntnis versetzt werden« (Bubner 1998, S. 551).
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wesenheit und Wirksamkeit der Vernunft in der praktischen Sphäre dadurch auszudrücken versucht hat, dass er verschiedene Strukturen der prâxis mit Hilfe von Begriffen der von ihm entwickelten Logik darzustellen versucht. 208 Diese Tendenz ist später auch bei anderen Autor*innen zu finden, z. B. bei Husserl und seiner Idee einer Logik der Praxis (Hua. XXVIII 37 ff.). 209 Kant ist jedoch der Autor gewesen, der den wichtigsten Schritt in diese Richtung vollzogen hat. Und dies wird besonders klar, wenn man seinen Beitrag zur Moraltheorie untersucht. Diese ist tatsächlich die Sphäre, die in der Regel untersucht wird, wenn man sich an Kant wendet mit der Idee, seinen Beitrag zur praktischen Philosophie zu untersuchen. Nimmt man aber seine Theorie der praktischen Urteile unter die Lupe, so wird man noch einen anderen interessanten Beitrag finden, den man bezüglich des Handlungsproblems fruchtbar machen kann. Denn Kant hat nicht nur die Besonderheit der praktischen Vernunft erkannt, sondern auch den besonderen Charakter der praktischen Urteile. Meine These ist im Folgenden: Obwohl Kant sich der Begriffe seiner logischen Theorie bedient (wie z. B. »Maxime«, »synthetisch«, »kategorisch«, »hypothetisch«, »analytisch«, »Widerspruch«), wenn er die elementaren Strukturen der prâxis analysieren will, hat er mit Hilfe solcher Begriffe zum Teil auch das Spezifische der praktischen Urteile erkannt. Denn obschon er in der praktischen und in der theoretischen Philosophie von »analytischen« und »synthetischen«, »kategorischen« und »hypothetischen« Urteilen spricht, hat es mit dieser Terminologie in der praktischen Philosophie eine besondere Bewandtnis. 210 So wie jeder Versuch der kantischen Theorie unserer Erfahrung von Gegenständen sich mit der Urteilstheorie Kants in der KrV, der Prolegomena und auch der KU auseinandersetzen muss, so muss sich auch jeder Versuch, die Kernstrukturen der kantischen Konzeption Dazu siehe Kap. 4. Z. B. Hua. XXVIII 37–38: »Man möchte vermuten, dass theoretische Vernunft ihr Analogon haben müsse in einer praktischen Vernunft und dass zum Wesen jeder Vernunftart bzw. ihrer Korrelate im analogen Sinn Unterschiede zwischen Form und Materie gehören müßten und dass, wie auf der einen Seite in der logischen Form möglicher Urteilsinhalte apriorische Bedingungen der Möglichkeit der Wahrheit liegen, so in der praktischen Form, in der Form möglicher Willensinhalte, Bedingungen der Möglichkeit des Analogons der auf Urteilsinhalte bezogene Wahrheit, also Bedingungen der praktischen Gültigkeit, praktischer Güte«. 210 Das hat Patzig besonders klar demonstriert. Vgl. (Patzig 1965). 208 209
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Das Urteil als Leitfaden der Philosophie der Handlung bei Kant
der prâxis zu beleuchten, mit seiner Theorie der praktischen Urteile beschäftigen. 211 Daher ist mein Vorschlag, Kants Handlungskonzeption zu rekonstruieren durch eine Untersuchung seiner Theorie der praktischen Urteile. Diese Urteile treten in zweifacher Weise in Erscheinung: als Imperative und als Maximen. In den folgenden Ausführungen werde ich eine Erklärung der Struktur dieser Urteile zu geben versuchen.
§ 6 Fazit In der Kant-Forschung hat in den letzten Jahrzehnten eine Debatte darüber stattgefunden, ob Kant eine »Handlungstheorie« entwickelt hat oder nicht. Die Mehrheit der Autor*innen meinen, Kant habe 211 Kant spricht normalerweise von »praktischen Sätzen« (AA 05 19, 7) statt von praktischen Urteilen. Er verwendet aber das Wort »Satz« nicht in demselben Sinne, wie wir verstehen. Sätze sind bei Kant assertorische Urteile. Vgl. Jäsche Logik § 30 AA 09 109, 12: »Im Urteile wird das Verhältnis verschiedener Vorstellungen zur Einheit des Bewußtseins bloß als problematisch gedacht, in einem Sätze hingegen als assertorisch. Ein problematischer Satz ist eine contradictio in adjecto.«; Über eine Entdeckung AA 08 193–194, Fn. »Ein assertorisches Urteil ist ein Satz«. Wiener Logik AA 24 934, 24–26 »ein Urteil betrachtet das Verhältnis zweier Begriffe, sofern es problematisch ist, hingegen durch Sätze verstehen wir ein assertorisches Urteil«. Patzig hat aber schon darauf aufmerksam gemacht, dass Kant beide Ausdrücke wechselt und ohne Unterschied verwendet (Patzig 1965, S. 237–238). Deswegen kann man verstehen, dass Kant z. B in der KrV von einem »problematischen Satz« spricht (B 101), obwohl er in der Jäsche-Logik behauptet, dies sei eine contradictio in adjecto. Deswegen verwende ich von hier an die Ausdrücke »Urteil« und »Satz« in der Regel als Synonyme, wie Kant selbst es tut. Unter »Urteil« bzw. »Satz« verstehe ich die oben im § 5 thematisierte Struktur des Urteils. Urteile thematisiert man in der Regel, indem man Beispiele gibt, die wiederum eine sprachliche Struktur haben. Denn wir haben keinen nicht-sprachlichen Zugang zu unseren Gedanken. Wenn man daher das Urteil, dass p, untersuchen will, kann man dies eigentlich nur indirekt tun, also mit Hilfe eines Beispiels, das nur die Form eines sprachlichen Dokuments haben kann. Was dann thematisiert wird, ist aber das Urteil, nämlich die Verbindung von Vorstellungen, die dem sprachlichen Dokument zugrunde liegt. Wenn ich in dieser Arbeit den Kontrast zwischen dem sprachlichen Dokument und dem Urteil betonen will, nenne ich das erste »Proposition«. Man kann gegen diesen Sprachgebrauch einwenden, dass das Wort »Proposition« (proposition) in der gegenwärtigen Philosophie vor allem in der analytischen Tradition eine andere Bedeutung hat bzw. haben kann. Und dies ist richtig. Aber man soll in der Philosophie nicht über Worte streiten. Wichtig ist nur, dass klar ist, welche Bedeutung die verschiedenen Ausdrücke im Rahmen einer Theorie bzw. einer philosophischen Analyse oder einer philosophischen Interpretation haben.
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Fazit
eine solche Theorie nicht entwickelt. Andere Autor*innen haben versucht, das Gegenteil geltend zu machen, also vor allem, dass Kant sich in der Tat die Kernfragen der gegenwärtigen »Handlungstheorie« (etwa: »Sind die Gründe von Handlungen auch Ursachen dieser Handlungen?«) gestellt habe. In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass die gegenwärtige Handlungstheorie sich an einer Fragestellung orientiert hat, die eine reduktive Strategie bei der Erklärung des Handlungsbegriffs begünstigt. Solche Strategien bereiten aber große und wahrscheinlich unüberwindliche Schwierigkeiten, wie man anhand des sogenannten Problems der abweichenden Kausalketten sehen kann. Kants Konzeption der Handlung dagegen ist nicht auf eine reduktive Strategie gestützt. Denn schon die Voraussetzungen, die die reduktive Strategie begünstigt haben, teilt Kant anscheinend nicht. Deswegen ist es irreführend, sich die Frage zu stellen, ob Kant sich diese Fragen, deren Voraussetzungen er für falsch gehalten hat, gestellt hat. Kants Handlungskonzeption liegen andere Annahmen zugrunde. Hier kann man noch einmal die distanzierende Funktion wahrnehmen, die die Geschichte der Philosophie ausüben kann. Denn wenn wir den Wahrheitsanspruch Kants ernst nehmen, können wir in seiner Ablehnung der Prämissen der reduktiven Modelle einen Anlass finden, Alternativen zu diesen Modellen zu untersuchen. Und wenn diese Untersuchung uns dann zu einer Lösung philosophischer Probleme führt, dann wird diese distanzierende Funktion der Geschichte der Philosophie auch systematisch produktiv. Es drängt sich also hier die Frage auf, wie eine kantische Strategie für die Erklärung des Handlungsbegriffs aussehen würde. Die hier vorgeschlagene partielle Antwort lautet: Eine solche Strategie muss sich an der kantischen Theorie der Urteile orientieren. Denn Kants Philosophie ist eine Theorie des Urteils. Unter »Urteil« darf man hier aber nicht »Sätze« verstehen, vielmehr geht es um Operationen des Verstandes. Kant hat nicht nur eine Theorie unseres konstativen Bezugs auf die Erfahrung entwickelt, sondern auch eine Theorie der praktischen Urteile vorgelegt. Darin identifiziert er zwei Formen von praktischen Urteilen: Maximen und Imperative. Die Untersuchung dieser Begriffe soll Kants Handlungskonzeption enthüllen.
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Kapitel III Hypothetische Imperative und praktische Überlegung
§ 7 Hypothetische Imperative Oben wurde gesagt, dass die Analyse praktischer Urteile die richtige Strategie ist, um die kantische Handlungskonzeption zu untersuchen. Kant teilt die praktischen Urteile in Maximen und Imperative ein (KpV AA 05 19, 9–12). In diesem Kapitel wird die kantische Konzeption der Imperative untersucht. 212 Imperative haben im Rahmen von verschiedenen Teildisziplinen der praktischen Philosophie und der Logik, z. B. der Metaethik oder der deontischen Logik, im Brennpunkt des Interesses der gegenwärtigen Philosoph*innen gestanden. Es ist aber alles andere als klar, ob Kants Auffassung im Einklang mit der gegenwärtigen Auffassung von Imperativen steht. Diese und andere Fragen sollen auf den folgenden Seiten geklärt werden.
7.a) Was ist ein Imperativ? Der Imperativ ist in unserem Sprachgebrauch ein Modus des Verbs. Das ist sicherlich das, was jeder unter diesem Ausdruck versteht oder zumindest zuerst mit diesem Wort assoziiert. Jeder von uns hat in der Schule gelernt, dass Imperative Befehle, Aufforderungen, Ratschläge, Drohungen usw. ausdrücken. Es liegt mithin auf der Hand, dass unter die Bezeichnung »Imperative« im grammatischen oder sprachlichen Sinne eine große und vielfältige Menge von Sprechakten fällt. Es ist auch klar, dass Imperative Formeln sind, mit denen man nicht etwas beschreibt, sondern etwas vorschreibt. Das entspricht nicht nur der klassischen Unterscheidung zwischen »präskriptiven« Sätzen und »deskriptiven« Sätzen, sondern auch der Unterscheidung zwischen zwei Modi der Verben, nämlich Indikativ und Imperativ. Einer be212
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Maximen werden im Kapitel 4 untersucht.
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stimmten sprachanalytischen Tradition zufolge soll die »Sprache der Moral« aus präskriptiven Sätzen bestehen (Vgl. z. B. Hare 1952, S. 1– 3 und 1963, S. 4). 213 Imperative gelten üblicherweise als präskriptive Sätze. Solche Sätze beschrieben nichts, im Gegensatz zu indikativischen Sätzen, die deskriptive Sätze seien; vielmehr schrieben sie Handlungen vor. Deskriptive Sätze seien, dieser Unterscheidung nach, diejenigen, die wahr oder falsch sein können, während präskriptive Sätze, d. i. Imperative, keinen Wahrheitswert hätten. Ein klassischer Vertreter dieser Position war z. B. Ch. Stevenson, der behauptet hat, Imperative hätten keinen Wahrheitswert (Stevenson 1944, S. 154). 214 Gegen diese Meinung haben sich andere Autor*innen wie G. E. M. Anscombe gewendet (Anscombe 1963, S. 3). 215 Trotz aller Kritik bleibt aber die Auffassung von Imperativen als nicht wahrheitswertfähigen Vorschriften sehr intuitiv und an vorphilosophische Vorstellungen gebunden. Kant selbst scheint eine »präskriptivistische« Deutung von Imperativen zu vertreten, wenn er in der Logik zwischen praktischen und theoretischen Erkenntnissen unterscheidet: »eine jede Erkenntnis also, die Imperative enthält, ist praktisch, und zwar im Gegensatze der theoretischen Erkenntnis praktisch zu nennen. Denn theoretische Erkenntnisse sind solche, die aussagen nicht, was sein soll, sondern was ist, also kein Handeln, sondern ein Sein zu ihrem Objekt haben« (Jäsche-Logik AA 09 86, 21–25). 216 213 Hares Meinung nach ist die »Sprache der Moral« eine Teilmenge der präskriptiven Sprachen. Zur präskriptiven Sprache gehören, so Hares These, sowohl Imperative als auch Werturteile. 214 Vgl. auch (von Kutschera 1973, S. 12). 215 Zu diesem Thema siehe jüngst (Parsons 2012), der weitere Literatur für diese These zitiert, obwohl er die traditionelle »nicht-kognitivistische Interpretation« verteidigt. 216 Die Kant-Forschung hat schon vor langem festgestellt, dass die Jäsche-Logik als eine teilweise nicht-kantische Quelle gelten muss. Diese Idee hat B. Erdmann 80 Jahre nach der Veröffentlichung des Textes verteidigt, was die Arbeit der Kant-Spezialisten stark beeinflusst hat (Hinske 1999, S. X-XI). Obwohl das Werk aus kantischen Texten besteht, wurde es nicht von Kant herausgegeben, sondern von Gottlob Benjamin Jäsche, der den Auftrag von Kant bekam, das Material der Vorlesungen als Handbuch zu editieren. Jäsche hat aber Material aus unterschiedlichen Phasen in Kants intellektueller Entwicklung vermischt, die einen Zeitraum von ca. vierzig Jahren umfassen. Das hatte zur Folge, dass es manche Stellen gibt, die untereinander unverträglich sind (vgl. z. B. die von Klaus Reich zitierten Stellen in seinem Werk über die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Vgl. [Reich 1948, S. 21–23 Fn.]). Darüber hinaus ist es nicht einfach, diese Unverträglichkeiten aufzulösen, da Jäsche keine genauen Hinweise auf die Quellen gegeben hat, die er bei der Herstellung des Textes verwendet hat. Gleich-
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Doch der Schein trügt. Kants Interpretation der Imperative ist viel komplexer. Eine einfache Analyse der Stellen, an denen Kant über Imperative spricht, macht klar, dass sie zumindest nicht immer die Form eines Imperativs im grammatischen Sinne des Wortes haben und dass dementsprechend die beiden Bedeutungen des Wortes »Imperativ«, nämlich die im sprachlichen Sinn und die im kantischen wohl haben die Kant-Philologen dieses Manko zu überwinden versucht (eine Liste der Stellen, die Jäsche aus den Reflexionen entnommen hat, ist in [Hinske 1999, S. XLVXLVIII] zu finden). Hinskes Liste schließt aber nur die Reflexionen ein, auf die Adickes in der AA als Quelle der Jäsche-Arbeit hingewiesen hat (Hinske 1999, S. XXXIV). Wegen dieser und anderer Mängel sind manche bedeutende Kant-Forscher der Meinung gewesen, dass die Jäsche-Logik nicht als Beleg benutzt werden dürfe. Klaus Reich hat z. B. behauptet, dass diese Version der kantischen Logik »aller Grundsätzlichkeit und Schärfe entbehrt«. Vgl. (Reich 1948 S. 21). Eine ähnliche Meinung hat Stuhlmann-Laeisz geäußert. Vgl. (Stuhlmann-Laeisz 1976, S. 1 Fn. 1). Für E. Adickes war die Jäsche-Logik nicht ein Werk Kants, sondern »das Machwerk […], das Jäsche unter dem Namen Kants Logik herausgegeben hat«. Vgl. (Adickes 1913, S. 48). Die Kritiken von Adickes und Reich sind m. E. aber übertrieben. Die Jäsche Logik wurde von Kant selbst als seine Logik akzeptiert (vgl. Nachricht an das Publikum AA 12 398, 6–8). Darüber hinaus stehen viele Thesen dieser Version der kantischen Logik völlig im Einklang mit anderen kantischen Texten, die als kanonisch gelten. Deshalb finde ich, so wie Longuenesse (Longuenesse 1998, S. 81), (Longuenesse 1998a, S. 158 Fn.) und Capozzi (Capozzi 2002, S. 154), dass man die JäscheLogik als Beleg benutzen kann, wenn die Texte der Jäsche-Logik im Einklang mit anderen Stellen in Kants veröffentlichten Werken stehen, oder wenn sie zumindest mit der Lehre der veröffentlichten Texte Kants kompatibel sind. Man muss gestehen, dass die Jäsche-Logik eine extrem interessante und wichtige Quelle ist, wenn man sie vorsichtig nutzt und die Spreu vom Weizen trennt, besonders weil Kant uns keine selbständige und umfassende Abhandlung über Logik hinterlassen hat, obwohl die Sache von Belang für die richtige Deutung der kantischen Philosophie ist. Zugleich muss man jedoch auch einräumen, dass es eine gewisse Spannung zwischen der Konzeption der Logik in der Jäsche-Logik und der Konzeption der Logik in den veröffentlichten Werken Kants liegt. Vergleicht man die Bestimmung der Logik in der KrV mit den Mitschriften von Kants Vorlesungen, muss man gestehen, dass Kant sich in seinen Logikvorlesungen und auch in der Jäsche-Logik immer wieder über die Grenze der Logik, so wie er sie in der KrV versteht, hinweggesetzt hat (vgl. Hinske 2000, S. 91). Dafür gibt es einen wichtigen Grund: Kants Wissen um die Wichtigkeit bestimmter Motive der Logik der Aufklärung, die nicht mehr der Logik, so wie Kant sie verstanden hat, angehören, die aber von enormer philosophischer Relevanz sind. Zu solchen Motiven gehören z. B. die Fragen nach dem Horizont der menschlichen Erkenntnis, nach der Unmöglichkeit eines totalen Irrtums usw. Vgl. (Hinske 2000, S. 91). Aus allen diesen Gründen benutze ich hier die Jäsche-Logik, und zwar immer dann, wenn sich die jeweilige Stelle im Einklang mit der Lehre der veröffentlichten Werke Kants befindet. In diesem Fall ist die Verwandtschaft klar, die die zitierte Stelle der Jäsche-Logik mit derjenigen hat, in der Kant die Gesetze der Natur von den Gesetzen der Freiheit unterscheidet, da die ersteren Gesetze diejenigen seien, nach denen
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Sinn, nicht koextensiv sind. Da ich der Meinung bin, dass die Bedeutung des Wortes »Imperativ« in der praktischen Philosophie Kants mit der Bedeutung des Wortes in der Grammatik und in der Alltagssprache nicht völlig übereinstimmt, nenne ich »kantische« Imperative diejenigen, die der Bedeutung des Wortes in Kants praktischer Philosophie entsprechen. Selbstverständlich meine ich damit nicht, dass es »kantische« Imperative gibt, die eine andere, besondere oder neue Art von Imperativen wären, als ob Kant ein neues Modus des Verbs oder einen neuen Gebrauch dieses Modus erfunden hätte. Wenn ich hier einen »grammatischen« Sinn und einen »kantischen« Sinn einander gegenüberstelle, meine ich nur, dass Kant das Wort »Imperativ« in einem Sinn verwendet, der nicht völlig mit dem Gebrauch des Wortes in der Grammatik übereinstimmt. 217 Damit will ich nicht sagen, dass der kantische Sinn des Wortes nichts mit dem grammatikalischen Sinn des Ausdrucks »Imperativ« zu tun hätte. Es liegt auf der Hand, dass Kant wahrscheinlich einen Anspruch bezüglich der Struktur der Sprache erhebt, wenn er seine Theorie der Imperative entwickelt. Übrigens hat er sich hoch wahrscheinlich an unserem alltäglichen Gebrauch des Wortes orientiert, als er seine Auffassung der Imperative entwickelt hat, hat ihm aber auch eine breitere Bedeutung verliehen. Genau deswegen hat das Wort ein großes Irritationspotenzial, wie sich an den ersten Lesern der GMS zeigt (vgl. Schwaiger 1999, S. 165). Die Verwirrung über den grammatikalischen und den kantischen Gebrauch des Wortes »Imperativ« ist nach wie vor dadurch begünstigt, dass Kant-Leser bis heute dazu neigen, die beiden Bedeutungen vorschnell zu identifizieren. Diesen Fehler begehen sogar ausgezeichnete Interpreten und Kenner der Philosophie Kants. J. Bojanowski z. B. hat in seinem überaus lesenswerten Text über Kants Theorie der Freiheit die Unterscheidung zwischen einem unvollkommenen Willen und einem heiligen Willen mit den folgenden Worten einführt: »Wäre unsere Wille ausschließlich durch Vernunft bestimmt, würden sich alle Imperative in Indikative verwandeln« (Bojanowski 2005, S. 38). Es liegt auf der Hand, dass Bojanowski damit die »Imperative« in kantischen Sinne mit der Bedeutung des Ausdrucks in der Grammatik verwechselt. alles geschieht, während die letzteren Gesetze jene seien, nach denen alles geschehen soll. Vgl. GMS AA 04 387, 14–388, 4. 217 Diese These haben schon viele vertreten, z. B. (Steigleder 2002, S. 24), (Horn, Mieth & Scarano 2007, S. 206 ff.), (Hare 1952, S. 31) und (Tugendhat 1993, 41). Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Hypothetische Imperative und praktische Überlegung
Wenn ich im Folgenden über »kantische Imperative« spreche, dann verbinde ich damit die These, dass Kant das Wort in einer künstlichen Bedeutung verwendet. Diese ist durchaus innovativ – obwohl er in Baumgarten schon einen Vorgänger gehabt hatte, der das Wort ebenfalls nicht in seinem grammatischen Sinn verwendet, sondern damit Verpflichtungen ausgedrückt hat. 218 Sprachliche Imperative wie »sieh!« oder »steh!« können keine kantischen »Imperative« sein, oder besser gesagt, sie könnten vom Standpunkt der kantischen Theorie des Handelns keine Imperative sein. Im Folgenden versuche ich, den Grund dafür zu erläutern und zu zeigen, was es bei näherer Untersuchung denn ist, das Kant einen »Imperativ« nennt. Im Fall des Begriffs »Imperativ« haben wir das Glück, dass es einen Text gibt, in dem Kant diesen Terminus mit einer gewissen Ausführlichkeit analysiert 219 und seine logische Struktur teilweise erklärt. Daher folgt man in der Interpretation dieses Begriffs am besten dem kantischen Weg, auf dem er diesen Begriff in praktischen Texten einführt und analysiert. Es handelt sich dabei um eine hochkomplizierte Stelle in der GMS 220, in der Kant den Begriff des Imperativs einführt, nachdem er den Willen als »praktische Vernunft« charakterisiert hat. Diese Stelle soll interpretiert werden, um den Begriff des hypothetischen Imperativs bei Kant zu klären.
7.b) Kants Begriff des hypothetischen Imperativs Kant hat den Begriff des hypothetischen Imperativs in vielen Texten eingeführt. Die detaillierteste Analyse befindet sich in der GMS. Ich folge der Darstellung des Begriffs in diesem Text und versuche von dort aus, die Unterschiede in der kantischen Konzeption des Begriffs der hypothetischen Imperative in anderen Texten zu erklären. Im Folgenden versuche ich entsprechend, die Stellen zu analysieren, an denen Kant 1.) die Unterscheidung zwischen hypothetischen und kateVgl. (Schwaiger 1999, S. 166–167); (Moritz 1960). Dieses Glück haben wir bei anderen Kernbegriffen der Moralphilosophie Kants, z. B. beim Maximenbegriff, nicht. Deswegen besteht bei solchen Begriffen nicht die Möglichkeit, ihre Bedeutung mittels einer Argumentanalyse einer bestimmten Stelle zu ermitteln; in diesen Fällen muss der Kant-Forscher mit den Materialien unterschiedlicher Stellen den Sinn des Begriffs zu analysieren versuchen. 220 Vgl. GMS AA. 04 413, 9–419, 12. In GMS AA. 04 421, 6–8 führt Kant die erste Formulierung des kategorischen Imperativs ein. 218 219
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gorischen Imperativen vornimmt, 2.) die Einteilung der hypothetischen Imperative in »Regeln der Geschicklichkeit« und »Ratschläge der Klugheit« einführt und 3.) die Frage nach der Möglichkeit des hypothetischen Imperativs zu beantworten versucht. Diese drei Stellen werden Informationen liefern, um die Struktur der hypothetischen Imperative zu rekonstruieren. Zuerst versuche ich aber den zentralen Begriff der »Nötigung« darzustellen, mit dem Kant den Begriff des Imperativs einführt. Es wird sich zeigen, dass der Begriff des hypothetischen Imperativs bei Kant mehrdeutig ist und dass man entsprechend zwischen verschiedenen Gebrauchsweisen unterscheiden muss. 7.b.1) Der Begriff der Nötigung und des Imperativs Kant führt in der GMS den Begriff des Imperativs ein, nachdem er den Willen als »praktische Vernunft« charakterisiert hat. In diesem Kontext stellt er fest, dass der Begriff des Imperativs auf einen vollkommenen Willen, d. h. einen Willen, der notwendig mit der Vernunft übereinstimmt, nicht anwendbar ist. Der Grund dafür ist, dass ein vollkommener Wille sich nur durch die Vernunft zur Handlung bestimmt, sodass es ihm unmöglich ist, der Vernunft zu widersprechen. Die Menschen haben jedoch keinen vollkommenen Willen, obwohl sie Vernunftwesen sind. Als Vernunftwesen haben Menschen zwar einen Willen, d. h. »praktische Vernunft«, und infolgedessen leiten sie Handlungen von Gesetzen der Vernunft ab, aber sie sind nicht nur vernünftige Entitäten, sondern auch endliche Wesen. Dies bedeutet, so Kant, dass die Beschaffenheit der Menschen nicht nur durch die Vernunft geprägt ist, sondern auch durch ein anderes Vermögen, nämlich die Sinnlichkeit, die zumindest bei Menschen von rezeptiver Natur ist. Eben deswegen werden Menschen nicht nur von der Vernunft, d. h. nicht nur von objektiven Gründen, sondern auch von subjektiven Bedingungen (d. h. gewissen Triebfedern) zur Handlung bestimmt. 221 Der menschliche Wille ist also nach Kant »nicht an sich völlig der Vernunft gemäß« (GMS AA 04 413, 1). Infolgedessen ist es möglich, dass Menschen die Notwendigkeit einer Handlung zur 221 Die Sinnlichkeit ist, uns Menschen wenigstens, nur möglich durch Affektionen (A 19/B 33; A 35/B 51; A 68/B 93). Das ist der Grund dafür, dass Kant, so wie viele Autor*innen der rationalistischen Tradition, die Sinnlichkeit als ein Indiz unserer Endlichkeit interpretiert. Vgl. B 72; KpV AA 05 76, 10–11. Aber anders als solche Autor*innen sieht Kant die Sinnlichkeit nicht per se als Quelle von falschen Urteilen oder Verwirrung. Vgl. z. B. Anthropologie AA 07 143, 15 ff.; R 204, 207, 217.
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Hypothetische Imperative und praktische Überlegung
Erreichung eines Zieles erkennen und diese aus bestimmten Gründen trotzdem nicht vollziehen. Ich mag z. B. erkennen, dass ich Obst und Gemüse essen muss, um gesund zu bleiben. Das hat dennoch nicht zur Folge, dass ich in der Tat Obst und Gemüse essen werde, auch wenn ich gesund zu bleiben wünsche. 222 Oder ich mag erkennen, dass ich meine Schulden bezahlen soll und bezahle sie doch nicht, obwohl ich von meinen Kunden erwarte, dass sie mir ihre Schulden begleichen. In beiden Fällen tritt eine gewisse Inkonsistenz auf, die die Handlung irrational macht. Natürlich handelt es sich bei den beiden erwähnten Fällen um unterschiedliche Formen der Rationalität bzw. Irrationalität. Dieser Punkt soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. Wichtig ist hervorzuheben, dass Irrationalität für Menschen immer eine Option ist, weil unsere Erkenntnis der Güte einer Handlung nicht garantiert, dass wir uns für diese Handlung entscheiden werden. 223 Kurz gesagt: Wir Menschen handeln nicht immer ver222 Bekanntlich hat Kant eine wichtige Unterscheidung zwischen »Wünschen« und »Wollen« vollzogen, die später in diesem Text in Erscheinung tritt. Mit der erwähnten Unterscheidung versucht Kant eine Verschiedenheit auf den Begriff zu bringen, die schon aus der Alltagssprache heraus nachvollziehbar ist. Kant führt die Unterscheidung z. B. in der GMS ein, indem er sagt, dass der Wille im Gegensatz zum bloßen Wunsch »die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind« einschließt. Vgl. GMS AA 04 394, 22–24. Vorläufig benutze ich hier die Ausdrücke »Wünschen« und »Wollen« als Synonyme, aber sie werden später unterschieden. Ich mache hier auch noch keinen Unterschied zwischen »Wille« und »Willkür«, obwohl er von Belang für die praktische Philosophie Kants ist. Kant hat diese Unterscheidung in späteren Texten eingeführt, aber er hat sie in der GMS und der KpV noch nicht in genügender Schärfe durchgehalten, sodass es Stellen in beiden Texten gibt, an denen Kant das Wort »Wille« im Sinne von »Willkür«, so wie er das Wort später versteht, verwendet. Ich führe den Unterschied erst auf den nachfolgenden Seiten ein, um die Diskussion hier nicht zu verkomplizieren. 223 Das Phänomen der Irrationalität der Handlung wurde schon im Altertum intensiv analysiert. Auch die zeitgenössische Philosophie hat diesem Thema große Aufmerksamkeit geschenkt. Es kann viele Gestalten annehmen; eine von ihnen, nämlich die sogenannte Unbeherrschtheit (akrasía), ist seit Aristoteles besonders intensiv behandelt worden. Vgl. EN VII 3 (siehe auch oben, wo wir kurz Davidsons Analyse dieses Problems unter die Lupe genommen haben). Obwohl Kant keine explizite Analyse des Problems der Unbeherrschtheit ausgeführt hat, gibt es genügend Raum in der Theorie, um es zu erklären. Kant gehört nicht zu denen, die die Möglichkeit der Unbeherrschtheit nicht zugegeben haben. Im Gegenteil, er hat die Möglichkeit dieses Phänomens derart bereitwillig zugestanden, dass sie als einer der Gründe für seine praktische Philosophie gelten muss. Wenn Kant die Möglichkeit der Unbeherrschtheit nicht akzeptierte, könnte er nicht behaupten, dass die Menschen trotz ihrer Erkenntnis der richtigen bzw. klugen Handlung die unrichtige bzw. unkluge Handlung vollziehen können. Trotzdem ist das Problem der Struktur der Unbeherrschtheit in Kants
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Hypothetische Imperative
nünftig, selbst dann nicht, wenn wir die Notwendigkeit einer Handlung erkennen. Was heißt es jedoch, »die Notwendigkeit einer Handlung« zu erkennen? Nehmen wir an, dass ich die Aeneis in der Originalfassung des Textes lesen will. Ich weiß, dass die Aeneis auf Latein geschrieben wurde, habe aber nie Latein gelernt. Ich erkenne also, dass ich Latein lernen muss, wenn ich die Aeneis in der Originalfassung lesen will, d. h. ich erkenne, dass es notwendig ist, Latein zu lernen, um die Aeneis in der Originalfassung lesen zu können. In unserem Beispiel wird eine Handlung (nämlich Latein zu lernen) als notwendige Bedingung erfordert, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, von dem ich behaupte, dass ich es erreichen will. Es gibt also im Beispiel mindestens zwei Momente: i) ich will x, ii) ich erkenne, dass ich y vollziehen muss, weil y notwendige Bedingung von x ist. Beide Momente scheinen notwendige Bedingungen der Forderung zu sein, die der folgende Satz ausdrückt: »Wenn du die Aeneis in der Originalfassung lesen (x) willst und du kein Latein kannst, muss du Latein lernen (y)«. Daraus ersieht man klar, dass es durchaus möglich ist zu erkennen, dass y eine notwendige Bedingung für x ist, es aber zugleich möglich ist, x nicht zu wollen oder sich x nicht als Ziel zu setzen, sodass man die Beziehung der notwendigen Bedingung zwischen y und x zwar wahrnimmt, aber ohne dass dies praktische Folgen hätte. Ich kann zwar erkennen, dass Latein zu lernen eine notwendige Bedingung der Aeneis-Lektüre in der Originalfassung ist; trotzdem kann es sein, dass ich kein Latein lernen werde, obwohl ich die Aeneis lesen möchte. Daher kann zwischen y und x eine Beziehung der notwendigen Bedingtheit bestehen, und ich kann sie wahrnehmen, und doch werde ich nicht genötigt, y zu tun, wenn ich x nicht will. Das heißt: Das Wollen von x ist notwendige Bedingung der Forderung, y zu vollziehen, während der Vollzug der Handlung y notwendige Bedingung für das Vorhandensein von x ist. Die Bedingung-Bedingtes-Beziehung zwischen dem Wollen von x und dem Vollzug der Handlung y ist die Texten bis heute etwas, das die Kant-Forscher kaum analysiert haben. Außerdem haben von den wenigen Autor*innen, die dieses Problem überhaupt analysiert haben, einige nicht bemerkt, dass Unbeherrschtheit nicht nur vorkommt, wenn ein Handelnder gegen den kategorischen Imperativ handelt, sondern auch, wenn er gegen einen richtigen hypothetischen Imperativ agiert. Deshalb macht man einen gewichtigen systematischen Fehler, wenn man, so wie (Broadie & Pybus 1982), das Problem der Unbeherrschtheit so behandelt, als ob die Unsittlichkeit der Handlung für Kant eine notwendige Bedingung ihrer Unbeherrschtheit wäre. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Hypothetische Imperative und praktische Überlegung
Umkehrung der Beziehung der notwendigen Bedingung zwischen dem Vollzug der Handlung y und dem Vorhandensein von x plus das Wollen x. Daraus scheint zu folgen, dass die hypothetischen Imperative einen Notwendigkeitstyp ausdrücken, der sich von bestimmten Formen der Beziehung der notwendigen Bedingung unterscheidet. Was für einen Unterschied gibt es, wenn überhaupt, zwischen dieser Beziehung der notwendigen Bedingung und der Notwendigkeit, die der Imperativ zum Ausdruck bringt? Wir können erkennen, dass etwas in der Art von x notwendige Bedingung für etwas in der Art von y ist, wenn wir wissen, dass : y hinreichende Bedingung von : x ist. Anders gesagt: Die Beziehungen zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung lassen sich wechselseitig definieren. 224 Wenn es wahr ist, dass eine Mannschaft, die kein Tor schießt, das Match nicht gewinnt, dann ist es auch wahr, dass ein Tor zu schießen notwendige Bedingung dafür ist, dass eine Mannschaft ein Fußballmatch gewinnt. Das heißt, wenn kein Tor zu schießen hinreichende Bedingung dafür ist, dass eine Mannschaft ein Match nicht gewinnt, dann gilt, dass ein Tor schießen notwendige Bedingung dafür ist, dass eine Mannschaft das Match gewinnt. Man kann die Beziehung der notwendigen Folge ebenfalls einschließen und sie mit Bezug auf die Beziehung der notwendigen bzw. hinreichenden Bedingung definieren. Sei nB (x, y) = x ist notwendige Bedingung für y, und hB (x, y) = x ist eine hinreichende Bedingung für y, und nF (x, y) = y ist eine notwendige Folge von x, dann gilt: α) β) γ) δ) ε)
nB (x, y) = hB (: x, : y) hB (x, y) = nB (: x, : y) nB (x, y) = nF (: x, : y) nF (x, y) = nB (: x, : y) hB (x, y) = nF (x, y) 225
Daraus lässt sich erkennen, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen den Beziehungen der notwendigen Bedingung, der hinreichenden Bedingung und der notwendigen Folge gibt. Wenn x notwendige Bedingung für y ist, gilt auch, dass aus dem Nicht-Vorhandensein von x das Nicht-Vorhandensein von y folgt γ. Kant deutet aber an, wie oben erwähnt, dass Imperative nicht beschreiben, was geschieht, 224 225
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Siehe (Stemmer 2008, S. 25–27). Für diese Tabelle siehe (Stemmer 2008, S. 26).
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sondern vorschreiben, was geschehen soll (KrV A 802/B 830). 226 Im Satz »wenn du x willst, dann y!« schließt das Nicht-Vorhandensein von x nicht das Nicht-Vorhandensein von y ein. Der wichtigste Unterschied zwischen Imperativen und der Beziehung der notwendigen Bedingung besteht dann darin, dass Imperative eine Forderung aufstellen, sodass es nicht der Fall ist, dass ich y notwendig vollziehe, wenn ich x will. Imperative besagen nicht, was folgt, wenn etwas der Fall ist, sondern stellen die »praktische Notwendigkeit« einer Handlung vor (GMS AA 04 414, 12) 227, obwohl diese Handlung nicht notwendigerweise vollzogen wird. Anders gesagt: Auch wenn ich erkenne, dass ich Latein lernen muss, wenn ich die Aeneis in der Originalfassung lesen will, lerne ich nicht zwar notwendigerweise Latein, obgleich i) ich die Notwendigkeit dieser Handlung erkenne und ii) ich die Aeneis in der Originalfassung lesen will. Jedoch fordert die Vernunft von mir, so Kant, dass, wenn i) und ii) der Fall sind, ich Latein lerne. Diese praktische Notwendigkeit heißt also, dass ich y vollziehe, wenn ich x will und die Vernunft vollständig meinen Willen bestimmt, angenommen, dass y notwendige Bedingung für x ist. Ich habe schon angedeutet, dass im Beispiel der Aeneis, obgleich ich die Aeneis in der Originalfassung lesen will und erkenne, dass Latein zu können notwendige Bedingung dafür ist, dass man die Aeneis in der Originalfassung lesen kann, es möglich ist, dass ich nicht Latein lerne. Dies verhält sich so, weil ich als Mensch nicht vollständig vernünftig bin. Wenn die Vernunft durchgängig meinen Willen bestimmen würde, wäre es mir unmöglich, anders als vernünftig zu handeln und diese Handlungen wären für mich notwendig, so wie das Schwerkraftgesetz notwendig ist. Für uns Menschen drückt der Satz: »Wenn ich die Aeneis in der Originalfassung lesen 226 »Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperative, d. i. objektive Gesetze der Freiheit, sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden«. Auch GMS AA 04 387, 21–388, 2: »Dagegen können sowohl die natürliche, als sittliche Weltweisheit jede ihren empirischen Teil haben, weil jene der Natur als einem Gegenstande der Erfahrung, diese aber dem Willen des Menschen, so fern er durch die Natur affiziert wird, ihre Gesetze bestimmen muß, die ersteren zwar als Gesetze, nach denen alles geschieht, die zweiten als solche, nach denen alles geschehen soll, aber doch auch mit Erwägung der Bedingungen, unter denen es öfters nicht geschieht«. 227 »Alle Imperative nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor«.
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will, soll[te] 228 ich Latein lernen« Kant zufolge eine Nötigung aus. Diese Nötigung wird »durch ein Sollen bezeichnet, und bedeutet, dass, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde« (KpV AA 05 20, 10–13; GMS AA 413, 12–13). Die Nötigung wird, so Kant, durch die Formel des Imperativs ausgedrückt, die »das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an[zeigt], der seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch nicht notwendig bestimmt wird« (GMS AA 04 413, 4–5). 229 Entsprechend charakterisiert Kant in diesem Rahmen den Begriff des Imperativs folgendermaßen: »Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ« (GMS AA 04 413, 9–11). Die Nötigung ist dabei nicht das, was Kant praktische Notwendigkeit nennt, obwohl beide Begriffe zusammenhängen. Kant selbst vollzieht diese Trennung klar in der Rechtslehre, wenn er sagt, dass »die Verbindlichkeit nicht bloß praktische Notwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nötigung enthält« (MS AA 06 223, 1–2). Er macht auch in den Vorlesungen auf diesen Unterschied aufmerksam, z. B. in der Moral Mrongovius II AA 29 611, 6–10: »Notwendigkeit und Nötigung sind unterschieden: das erstere ist objektive Notwendigkeit. Nötigung ist eine Beziehung eines Gesetzes auf einen unvollkommenen Willen. – Die Objektive Notwendigkeit der moralischen Gesetzen ist bei Menschen Nötigung. Nötigung ist Notwendigmachung«. Nötigung drückt also das Forderungsmoment aus, das bloße Notwendigkeit nicht mit sich bringt. 230 Praktische Notwendigkeit besagt, dass etwas notwendig ist, wenn ich vollständig vernünftig handle. Da Menschen Wesen sind, die nicht nur durch die Vernunft zum 228 Kant formuliert die Beispiele normalerweise mit Formen des Verbs sollen im Indikativ. Entsprechend behauptet er, dass die Notwendigkeit einer Handlung durch ein Sollen bezeichnet sei. Es ist aber zu bemerken, dass in der deutschen Sprache dieser Sprachgebrauch in Konditionalsätzen künstlich klingt, sofern er nicht im Konjunktiv steht. Dies gilt nicht für indikativische Gebote wie z. B. »Du sollst nicht lügen.«. 229 Vgl. auch Kaehler Moral S. 27, 24; Moralphilosophie Collins AA 27 255, 21–22: »Alle Imperative sind nur Formeln der praktischen Neceßitation«; Moral Mrongovius AA 27 1407, 1: »Alle Imperativi sind Formeln einer praktischen Necessitation«. 230 Schwaiger hat gezeigt, dass diese Unterscheidung schon bei Baumgarten zu finden ist. Vgl. (Schwaiger 1999, S. 167–168). Dass Kant den Begriff der Nötigung von Baumgarten übernimmt, zeigt sich in R 6458, wo Kant den Begriff wie Baumgarten in der Metaphysik charakterisiert (Necessitatio est mutatio in se contingentis in necessarium). Vgl. Baumgarten Metaphysica § 702.
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Handeln bestimmt werden, ergibt sich aus dieser Notwendigkeit für uns eine Forderung, die wir als Nötigung erfahren. 231 Damit zeigt Kant nicht nur, dass er eine Analogie zwischen den Modalitäten und praktischen Forderungen erkannt hat, ähnlich wie die gegenwärtigen Logiker im Rahmen der Entwicklung der sogenannten »deontischen Logik«. Er zeigt auch, dass er sich durch diese Analogie nicht hat irritieren lassen, weil er Notwendigkeit und Nötigung nicht identifiziert hat – was man von der gegenwärtigen »deontischen Logik« nicht durchweg behaupten kann. 232 Nötigung ausdrückende Urteile sind also, so Kant, keine anankastischen Sätze. 233 Allerdings hängt die Nötigung mit der Notwendigkeit zu231 Dieser Unterschied zwischen »Nötigung« und »praktische Notwendigkeit« ist, wie sich später zeigen wird, außerordentlich wichtig. Es ist deswegen erstaunlich, dass die Mehrheit der Kant-Forscher sie nicht beachten. Die einzige mir bekannte Ausnahme ist H. J. Paton: »It is very important in this connection to distinguish between ›necessity‹ and ›necessitation‹. A completely good or holy will would necessarily, although spontaneously, manifest itself in good actions. An imperfectly good will may, because of passion, feel reluctance and difficulty in following an objective principle of goodness, and the principle then seems to excercise pressure or constraint almost against our will. The principle, though recognised as objectively necessary, is not subjectively necessary, and the good action, even if we do it, seems to be not necessary, but necessitated«. (Paton 1947, S. 113). Vgl. auch (Schnepf 2006, S. 389–390). 232 Das bis heute gültige »(Standard-) System der deontischen Logik« (SDL) wurde zum ersten Mal im Jahr 1951 von G. H. von Wright dargestellt. Auch nach den von G. von Wright selbst angebrachten Korrekturen (von Wright 1971) ist SDL im Kern ohne größere Modifizierungen geblieben und ist noch immer das bekannteste und am häufigsten gebrauchte System der deontischen Logik. Im SDL geht von Wright von der Idee aus, dass deontische Operatoren eine Analogie mit modalen Operatoren aufweisen (vgl. von Wright 1951 und von Wright 1999), oder besser gesagt: Die modalen Operatoren sind »Modalitäten«, nämlich »deontische Modalitäten«, deren Gegenstücke »alethische« und »epistemische« Modalitäten sind (von Wright 1951, S. 1). Dass diese Idee immer noch eine entscheidende Rolle in der sogenannten deontischen Logik spielt, trotz von Wrights späterer Ablehnung der Analogie (von Wright 1999, S. 17– 18), kann jeder Leser der gegenwärtigen Einführungen in die deontische Logik bestätigen (McNamara 2006 und McNamara 2010). Obwohl einige dieser Analogien schon von Autor*innen des 14. Jahrhunderts und von anderen Philosoph*innen wie Leibniz (vgl. Elementa iuris naturalis A VI, 1, 460), Baumgarten oder Kant erkannt wurden, hat erst von Wright sie systematisiert und in Anlehnung an sie einen neuen Zweig der Logik begründet. Auf jeden Fall ist es ein Verdienst von Wrights, die Unterscheidung zwischen den »alethetischen Modalitäten« und den »deontischen« geklärt zu haben. Vgl. (von Wright 1951, S. 15). 233 Ich folge hier von Wrights Terminologie. Er nennt »anankastische Sätze« (anankastic sentences) diejenigen, die besagen, dass etwas notwendige Bedingung für etwas ist bzw. nicht ist (vgl. von Wright 1963, S. 10), was später Stemmer in seiner neuen Ontologie der Normativität »Müssen der notwendigen Bedingung« genannt
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sammen, die die anankastischen Sätze ausdrücken. Kehren wir noch einmal zum Beispiel der Aeneis zurück. Warum muss ich Latein lernen, wenn ich die Aeneis in der Originalfassung lesen will? Angenommen, ich weiß, dass die Aeneis auf Latein verfasst wurde, so ist die Antwort selbstverständlich: Ich weiß, dass Lateinkenntnisse eine notwendige Bedingung sind, um die Aeneis in der Originalfassung zu lesen. Dieses Wissen entspricht dem Erkennen einer Beziehung der notwendigen Bedingung, d. h. eine Beziehung, die durch einen anankastischen Satz ausgedrückt wird. Daraus folgt aber keine Nötigung. Die von einem hypothetischen Imperativ ausgedrückte Nötigung entsteht nur dann, wenn ein Handelnder eine Beziehung zwischen einer notwendigen Bedingung und einer notwendigen Folge erkennt und er das will, wofür die gebotene Handlung notwendige Bedingung ist. 234 Daran lassen sich interessante Eigenschaften der kantischen Imperative erkennen. Zuvor ist zu betonen, dass dem oben zitierten Text nach Imperative Sollenssätze bzw. Urteile zu sein scheinen. Diese Sätze sind Formeln der Gebote der Vernunft, die für uns Menschen eine Nötigung mit sich bringen. Die Imperative drücken Gebote der Vernunft aus, denen stets ein vernünftiger Grund zugrunde liegt, auf dem die Notwendigkeit des Prinzips beruht. Sprachliche Imperative wie »Steh auf!« sind deswegen keine kantischen Imperative, weil sie nicht notwendigerweise Gebote sind, die auf einem vernünftigen Grund beruhen. Sie setzen kein anankastisches Urteil voraus. Hypothetische Imperative dagegen setzen voraus, dass ein vernünftig Handelnder das Subjekt ist, das dieses Urteil fällt, und dass dieses Subjekt die Nötigung der Handlung erkennt, die der Imperativ beinhaltet. Sprachliche Imperative supponieren dies nicht. Es kann durchaus der Fall sein, dass eine Maschine, z. B. ein Computer, darauf programmiert wird, Gebote zu äußern. Diese können aber nicht als kantische Imperative betrachtet werden. Der Computer könnte jeden Morgen ein Pop-up-Fenster öffnen, das den Befehl »Steh auf!« oder irgendein anderes Gebot anzeigt. Niemand würde daraus den Schluss ziehen, dass der Computer praktische Vernunft besitzt und dass er die Not-
hat. Vgl. Stemmer (2008, S. 25–34). Von Wright selbst macht einen Unterschied zwischen »anankastischen Sätzen« und »bedingten Imperativen«. Vgl (von Wright 1963, S. 10). 234 Deswegen sind, wie Korsgaard und Stemmer gezeigt haben, solche Sätze nicht normativ. Vgl. (Korsgaard 2008a), (Korsgaard 2009) und (Stemmer 2008).
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wendigkeit einer Handlung erkannt hat. Der Computer öffnet das Pop-up, so wie Steine fallen. Überdies ist zu bemerken, dass die kantischen Imperative einen Adressaten voraussetzen, der rational genötigt ist, etwas zu tun oder zu unterlassen. 235 Einen Adressaten haben sprachliche Imperative jedoch nicht nötig. Wie gesagt versteht man im Prinzip unter »Imperativ« einen Modus des Verbs, der eine Rolle in einer großen Menge von kommunikativen Situationen spielt. Obwohl ich argumentiert habe, dass Kant zwischen den Imperativen als sprachlichen Gebilden und den Imperativen im technischen Sinne der Transzendentalphilosophie unterscheidet, ist es m. E. hoch wahrscheinlich, dass er sich zu Anfang an einer der kommunikativen Situationen orientiert hat, in denen man etwas mit einem Imperativ mitteilt. 236 Es liegt aber auf der Hand, dass nicht jede sprachliche imperativische Äußerung denselben Geltungsanspruch erhebt. Imperative wie »Steh auf!«, »Mach deine Hausaufgaben!« oder »Lüge nicht!« erheben unterschiedliche Geltungsansprüche, die vom Kontext und den Bedingungen des Befehls abhängen. Kant sieht also, dass diese Imperative den Adressaten unterschiedlich nötigen, sodass ein und derselbe Imperativ, wenn man ihn vom sprachlichen Standpunkt betrachtet, eine unterschiedliche Tiefenstruktur haben kann. Die durch einen Imperativ ausgedrückte Nötigung ist das Verhältnis zwischen einem unvollkommenen Willen und einem Gesetz (vgl. GMS AA 413, 3–8). 237 Was für ein Gesetz ist dies aber? Die Antwort auf diese Frage hängt von der Form des Imperativs ab. Auf den folgenden Seiten möchte ich die unterschiedlichen Nötigungsverhältnisse eruieren, die der wohlbekannten Unterscheidung zwischen zwei Formen von Imperativen zugrunde liegen. 238 Ich werde mich vor al235 Darauf haben nur wenige Kant-Forscher aufmerksam gemacht. Vgl. (Ludwig 1999, S. 106 Fn. 3), (Steigleder 2002, S. 24). 236 Moritz hat schon vor langem darauf aufmerksam gemacht, dass Kant leider nur wenige Beispiele gibt, in denen er hypothetische Imperative formuliert, obgleich er sie oft charakterisiert. Vgl. (Moritz 1960, S. 17). 237 »Die Bestimmung eines solchen Willens objektiven Gesetzen gemäß ist Nötigung; d. i. das Verhältnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist«. 238 Im Folgenden versuche ich nicht, eine vollständige Erklärung der Unterscheidung zu liefern, sondern nur anhand dieser Unterscheidung einige Eigenschaften hypothetischer Imperative darzustellen.
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lem auf die bedingten Imperative konzentrieren, die das eigentliche Thema dieses Kapitels sind. 7.b.2) Die Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen und hypothetischen Imperativen als hypothetische Urteile Den Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen macht Kant zum ersten Mal im folgenden Textpassus: »Alle Imperative nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, dass man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte« (GMS AA 04 414, 13–17) 239. Die Grundidee der Unterscheidung lautet: Hypothetische Imperative gebieten eine Handlung als Mittel zu einem Zweck, d. h., er ist ein bedingtes Gebot, das i. d. R. auch als 239 Dies ist die erste Stelle in den veröffentlichten Texten. In Kants Handschriften finden sich frühere Stellen, an denen man die Unterscheidung finden kann. Vgl. R 3115; R 6639; R 6805. Es ist außerdem zu beachten, dass die Unterscheidung zwischen zwei Arten der Notwendigkeit auf dem Gebiet der praktischen Philosophie schon viel früher als in der GMS zu finden ist, nämlich in der Preisschrift von 1764. Vgl. Deutlichkeit AA 02 298, 8 ff. Die Stelle entstammt dem einzigen veröffentlichten vorkritischen Text, in dem Kant zum Problem der Prinzipien der Moral Stellung nimmt. Obwohl viele Autor*innen der Meinung sind, dass Kant schon hier, zumindest der Sache nach, die Einteilung in hypothetische und kategorische Imperative eingeführt hat (vgl. z. B. Moritz 1960, S. 11), denke ich, dass der Text vorsichtiger interpretiert werden muss. Schwaiger hat ähnliche Vorbehalte; vgl. (Schwaiger 1999, S. 64– 65). Er betont m. E. völlig zu Recht, dass es, obgleich Kant hier Termini verwendet, die eine volle Übereinstimmung mit der Einteilung in der GMS zu haben scheinen, charakteristisch für den Reflexionstand in der Preisschrift ist, »dass die später fein säuberlich getrennten Elemente noch durcheinandergeworfen und vorbehaltlos miteinander gleichgesetzt werden«. Vgl. (Schwaiger 1999, S. 65). Auf jeden Fall ist die Unterscheidung zwischen kategorischer und bedingter Notwendigkeit in der Preisschrift nicht zu finden, da Kant in diesem Text nur zwischen necessitas problematica und necessitas moralis, d. h. der Notwendigkeit der Mittel (eine Notwendigkeitsform, die keine Verbindlichkeit impliziert) und der Notwendigkeit der Ziele (eine Verbindlichkeit implizierende Notwendigkeitsform) differenziert, und somit noch keine Unterscheidung zwischen kategorischer Notwendigkeit und hypothetischer Notwendigkeit trifft. Wie dem auch sei, es haben viele Autor*innen darauf aufmerksam gemacht, dass die kantische Terminologie über einen langen Zeitraum hinweg häufigen Veränderungen unterlag, sodass Kant erst in der ersten Auflage der KrV den Ausdruck »Imperativ« in einer Druckschrift benutzt hat. Vgl. (Schwaiger 1999, S. 165).
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Konditionalsatz formuliert wird. Im Gegensatz dazu gebieten kategorische Imperative unbedingt, d. h. unabhängig von unseren besonderen Zielen (auch GMS AA 04 416, 27 und 431, 45). Diese Grundidee bedarf jedoch vertiefter Analyse. Ich versuche deshalb im Folgenden zu erklären, welche Tiefenstruktur hypothetische Imperative aufweisen. Um die Idee des hypothetischen Imperativs besser zu verstehen, ist es nach wie vor hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, was der Text, in dem Kant den Unterschied zwischen den beiden Formen der Imperative einführt, nicht besagt. Auf diese Weise kann man viele Interpretationen der hypothetischen Imperative ausschließen, die in der Regel auf der oben behandelten Vernachlässigung der Besonderheit der kantischen Theorie des Urteils beruhen. Es liegt nahe, den Charakter hypothetischer Imperative in dessen Oberflächenstruktur zu suchen. Dieser Auslegung nach hätten hypothetische Imperative die sprachliche Form eines »wenn-dann«Satzes, während kategorische Imperative die Form eines einfachen Imperativs wie »Geh!« hätten. Diese Deutung haben die Kant-Forscher*innen jedoch mit Recht schon lange ausgeschlossen. 240 Es ist nämlich möglich, einen hypothetischen Imperativ in einer nicht hypothetischen Form auszudrücken, z. B.: »Tritt den Eckball selbst!«. Es ist auch möglich, einen kategorischen Imperativ in hypothetischer Form auszudrücken, z. B. »Wenn du gut sein willst, liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«. Daher liegt der Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen nicht in der sprachlichen Form der Sätze, also der sprachlichen Dokumente des Urteils. Eine andere denkbare Deutungsmöglichkeit liegt darin, dass man annimmt, der »hypothetische« bzw. »kategorische« Charakter der Imperative entspreche der Tiefenstruktur des Satzes: Obwohl z. B. der Imperativ »Tritt den Eckball selbst!« keine hypothetische Oberflächenstruktur hat, ergibt er doch als Imperativ erst einen Sinn, wenn man eine hypothetische Tiefenstruktur voraussetzt, wie etwa in der Form »Wenn du deinen Gegner überraschen willst, tritt den Eckball selbst!«. Diese Auffassung hängt mit der kantischen Interpretation des Urteils zusammen, nach der ein Urteil nicht ein sprach240 Siehe (Beck 1960, S. 88), (Patzig 1965, S. 242), (Steigleder 2002, S. 24), (Brinkmann 2003, S. 38), (Schönecker & Wood 2004, S. 111 Fn. 22), (Bojanowski 2005, S. 39), (Ludwig 2006, S. 140), (Horn, Mieth und Scarano 2007, S. 208), (Timmermann 2007, S. 63–64), (Allison 2011, S. 156).
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liches »Dokument«, sondern der Akt ist, durch den gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit des Bewusstseins gebracht werden. 241 Es gibt noch andere Gründe, die für diese Auslegung zu sprechen scheinen. Der kantische Gebrauch der Ausdrücke »hypothetisch« und »kategorisch« scheint auf die Kategorientafel der KrV zu verweisen, die als die Tafel der Regeln der Tiefenstruktur des Satzes interpretiert werden kann. Aus dem Vergleich zwischen den Bezeichnungen der Imperative und der Kategorientafel ergeben sich jedoch weitere Probleme, die die Kommentatoren schon seit langem aufgezeigt haben. Entsprechend hat z. B. B. Ludwig, der zwei einflußreiche Arbeiten dem Thema des hypothetischen Imperativs gewidmet hat (Ludwig 1999 und 2006), energisch gegen die These protestiert, dass es eine »logische Form der praktischen Sätze« bei Kant gebe. 242 Ludwig hat deshalb auch die Auffassung abgelehnt, es gebe hypothetische Imperative: »Die beiden Termini ›kategorisch‹ und ›hypothetisch‹ beziehen sich also bei der Anwendung auf Gebote grundsätzlich nicht auf eine mögliche Form des Imperativs als Urteil […] Es gibt daher weder ›hypothetische‹ noch ›kategorische Imperative‹ sensu stricto« (Ludwig 1999, S. 107). Jüngst hat auch der berühmte Kant-Interpret H. Allison die These zurückgewiesen, dass den hypothetischen Imperativen hypothetische Urteile zugrunde liegen (Allison 2011, S. 156). Es ist im Rahmen dieser Interpretation aber z. B. zu betonen, dass Kant nur die Kategorien der »Relation« und der »Modalität«, also die sogenannten »dynamischen« Kategorien, auf Imperative anzuwenden scheint. Außerdem komme nicht jedes Glied der Kategorie der »Relation« bei Imperativen zur Anwendung, weil es nur »kategorische« und »hypothetische«, aber keine »disjunktiven« Imperative gebe. 243 Dementsprechend bleibt die Interpretation, nach welcher der kantische Gebrauch der Termini »hypothetisch« und »kategorisch« in der praktischen Philosophie auf der Bedeutung dieser Wörter in der theoretischen Philosophie beruht, erklärungsbedürftig. Wenn sie sinnvoll ist, sollte es möglich sein, durch die Untersuchung der BeSiehe oben Kap. 2 § 5. Siehe (Ludwig 1999, S. 106–107). Damit wendet er sich eindeutig gegen den Titel des berühmten Aufsatzes Patzigs »Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik« (Patzig 1965). 243 Dies hat z. B. Moritz behauptet. Vgl. (Moritz 1960, S. 10). Diese These ist jedoch falsch. Dass Kant zumindest mit dem Gedanken gespielt hat, »disjunktive Imperative« in seine Theorie einzuführen, kann man anhand der nichtveröffentlichten Werke erkennen. Vgl. AA 29 1027, 32–38; R 1047. Vgl. (Schwaiger 1999, S. 170 FN. 624). 241 242
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deutung der hypothetischen und kategorischen Urteile in der Kategorientafel der KrV die Tiefenstruktur der entsprechenden Imperative zu erkennen. In diesem Sinne stellt sich die Frage nach der Struktur eines hypothetischen Urteils in der theoretischen Philosophie Kants. Ich werde auf diese Frage hier nur teilweise eingehen. Eine vollständige Analyse der kantischen Interpretation der hypothetischen Urteile übersteigt die thematischen Grenzen dieser Arbeit. * * * Unter einem »hypothetischen Urteil« hat Kant nicht dasselbe verstanden wie das, was wir heutzutage als Konditionalsatz auffassen. In der gegenwärtigen Philosophie ist bei der Deutung von Konditionalsätzen die sogenannte »materiale« Interpretation des Konditionals üblich, deren »Wahrheitstafel« besagt, dass eine Proposition nur falsch ist, wenn das Vorderglied wahr und das Hinterglied falsch ist (Frege 1879, S. 5). Die hypothetischen Urteile in Kants Philosophie weisen jedoch einen belangvollen Unterschied zur zeitgenössischen »materialen Implikation« 244 auf. Während die Bedeutung der materialen Implikation, wie gesagt, durch die Wahrheitstafel gegeben wird, hängt die Wahrheit eines kantischen hypothetischen Urteils nicht vom Wahrheitswert der Glieder des Urteils ab, sondern vom Vorliegen der Beziehung, die Kant »Konsequenz« (consequentia) genannt hat (vgl. Jäsche-Logik AA 09 105, 20–23; AA 24 766, 1; AA 24 934, 17). 245 Dieses Verhältnis besteht »aus zwei Urteilen, die mit einander als Grund und Folge verknüpft sind« (Jäsche-Logik AA 09 105, 16–17). 246 Das hypothetische Urteil ist nur wahr, sofern es eine Beziehung des Typs »Bedingung-Bedingtes« zwischen den Gliedern des Satzes gibt. Diese Interpretation hypothetischer Urteile hat, wie Longuenesse gesehen hat, zur Folge, dass »die Bedeutung des Junktors durch die Wahrheitsbedingungen nicht bestimmt wird, sondern die Wahrheitsbedingungen […] durch die Bedeutung des Junktors be244 Ich folge hier teilweise der Deutung von Longuenesse (Longuenesse 1998, S. 101– 104) und (Longuenesse 2005, S. 152–155). 245 »Und die Vorstellung dieser Art von Verknüpfung beider Urteile unter einander zur Einheit des Bewußtseins wird die Konsequenz genannt, welche die Form der hypothetischen Urteile ausmacht«. (Jäsche-Logik AA 09 105, 20–23). 246 Hier folgt Kant der Interpretation des hypothetischen Urteils durch Maier. Vgl. Auszug § 306.
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Hypothetische Imperative und praktische Überlegung
stimmt [werden]« (Longuenesse 2005, S. 152). 247 Longuenesse macht darauf aufmerksam, dass die Wahrheitsbedingungen des materialen Konditionals notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen der Wahrheit eines kantischen hypothetischen Urteils sind. Urteile wie »wenn Norden eine Himmelsrichtung ist, dann hat Cervantes Don Quijote geschrieben« (W-W) oder »wenn 2 + 2 = Julius Caesar, dann ist Michael Ballack ein bedeutender Philosoph« (F-F) oder »wenn der Sturm auf die Bastille in August stattgefunden hat, dann ist Vitamin C eine organische Säure« (F-W) sind lauter wahre »materiale« Implikationen, aber es kommt keine Konsequenz zwischen ihnen zustande. (Longuenesse 2005, S. 152–153). 248 So weit, so gut. Nun behauptet Kant in der KrV, dass es in hypothetischen Urteilen »nur die Konsequenz [ist], die durch dieses Urteil gedacht wird«. 249 Demzufolge würde in einem hypothetischen Urteil nur die »wenn-dann«-Beziehung behauptet. Patzig hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass eine abweichende Interpretation des Konditionals in der zweiten Anmerkung des § 25 der Jäsche-Logik zu finden ist. Es handelt sich dabei um einen Text, der die These zu plausibilisieren versucht, dass die Verwandlung eines kategorischen Urteils in ein hypothetisches unmöglich sei. Kant sagt darüber das Folgende: »Es ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Sätzen: Alle Körper sind teilbar, und wenn alle Körper zusammengesetzt sind; so sind sie teilbar. In dem ersteren Satze behaupte ich die Sache gerade zu; im letzteren nur unter einer problematisch ausgedrückten Bedingung« (Jäsche-Logik AA 09 106, 2–5). Patzig interpretiert den Text so: »Kritisch wird die ohnehin schon nicht sonderlich klare Sachlage in Kants Darstellung durch seinen Zusatz, der Satz ›Alle Körper sind teilbar‹ behaupte ›die Sache geradezu‹, während der Satz ›wenn alle Körper zusammengesetzt sind, so sind sie teilbar‹ dieselbe [Hervorhebung Patzigs] Sache (also
247 Andererseits behauptet Patzig, dass der Wahrheitswert des Urteils ›wenn p, dann q‹ ausschließlich von den Wahrheitswerten der Sätzen p und q abhängt. Dies kann aber nicht Kants Meinung sein. Siehe auch (Wolff 2009, S. 10–11). 248 Vgl. auch (Frege 1879, S. 6) »Die ursächliche Verknüpfung, die in dem Worte »wenn« liegt, wird jedoch durch unsere Zeichen nicht ausgedrückt«. 249 KrV A 73/B 98: »Der hypothetische Satz: wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der beharrlich Böse bestraft, enthält eigentlich das Verhältnis zweier Sätze: es ist eine vollkommene Gerechtigkeit da, und: der beharrlich Böse wird bestraft. Ob beide dieser Sätze an sich wahr sind, bleibt hier unausgemacht. Es ist nur die Konsequenz, die durch dieses Urteil gedacht wird.«
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doch offenbar die Teilbarkeit der Körper) nur unter einer vorausgesetzten ›problematisch ausgedrückten Bedingung‹ behauptet (Logik § 25 Anm. 2). Der hypothetische Satz »wenn p, so q« behauptet nach dieser (Hervorhebung Patzigs) These Kants durchaus nicht bloß die Konsequenz von p und q, also das Grund-Folge Verhältnis zwischen ihnen, sondern er behauptet q unter der Bedingung p. Aus dem Behaupten eines Bedingungsverhältnisses wird ein bedingtes Behaupten«. (Patzig 1965, S. 240). Daher zieht Patzig den Schluss, dass Kant zwei unterschiedliche Begriffe der konditionalen Urteile vertreten habe, von denen nur der zweite die kantische Interpretation der hypothetischen Imperative möglich mache. (Patzig 1965, S. 240–241).
Es ist zu bemerken, dass die Entdeckung von Aspekten der JäscheLogik, die nicht im Einklang mit anderen Werken Kants stehen, nicht ganz erstaunlich ist, zumal die Jäsche-Logik ein Werk ist, das nicht von Kant herausgegeben wurde (siehe oben S. 137 Fn. 216). Deswegen habe ich oben angedeutet, dass dieses Werk nur dann als Beleg verwendet werden kann, wenn es keine andere Stelle im veröffentlichten Werk gibt, die nicht im Einklang mit der Lehre der JäscheLogik steht. Nun behauptet Patzig, dass die oben erwähnte Stelle der KrV nicht in Einklang stehe mit der Stelle der Jäsche-Logik, wobei nur die Interpretation in der Jäsche-Logik verträglich sei mit der kantischen Auffassung hypothetischer Imperative. Betrachtet man die Dinge näher, spricht jedoch einiges dafür, dass Patzig an diesem Punkt zu schnell einen Widerspruch diagnostiziert. Der Widerspruch sei, so Patzig, dass Kant in der KrV beide atomaren Sätze des hypothetischen Urteils als problematisch bezeichnet, während er in der Jäsche-Logik behauptet, dass in einem Satz wie »wenn alle Körper zusammengesetzt sind, so sind sie teilbar«, die Apodosis unter der problematischen Bedingung behauptet wird. Dass die Materie hypothetischer Urteile in problematischen Urteilen besteht, wiederholt Kant auch mehrmals in den Vorlesungen über Logik, z. B. in den folgenden Passagen: S1: »[Hypothetische Urteile] enthalten das Verhältnis des Grundes zur Folge hwenn die Seele nicht zusammengesetzt, so usw.i […] Die Materie des hypothetischen Urteils besteht nicht aus 2 Begriffen, sondern aus zwei Urteilen, deren Verhältnis die Konsequenz ist [Ein hypothetisches Urteil besteht aus zwei problematischen – dies ist seine Materie. Die Folge des consequens aus dem antecedens heißt consequentia. Das hypothetische Urteil tut nichts, als dass es die KonHandlung und praktisches Urteil bei Kant
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sequenz aus den beiden problematischen Sätzen zieht]« (Logik Dohna-Wundlacken AA 24 763, 35–36; 766, 1–5). S2: »In allen hypothetischen Urteilen sind zwei Urteile, die problematisch, nicht assertorisch gedacht werden, und das Verhältnis eines Begriffes als Grund zur Folge ausmachen […] Bei allen hypothetischen Urteilen sind zwei problematische Urteile. Die Form derselben besteht in der consequenz, nach welcher das eine Urteil die folge des anderen ist. Der Grund im hypothetischen Urteile heißt antecedens, die Folge heißt consequens, folglich besteht die Materie der hypothetischen Urteile aus dem antecedente und consequente, hingegen die Form ist die consequentia, d. i. Was wie aus dem anderen folgt« (Wiener Logik AA 24 934, 3–5). Die Stellen zeigen, dass Kant eigentlich das Folgende zu verstehen geben will: Hypothetische Urteile wie wenn p, dann q enthalten als Materie zwei problematische Urteile p und q, d. h. zwei Urteile, deren Wahrheit bzw. Falschheit nicht behauptet wird. Das Urteil sagt aber, der Form der Konsequenz nach, dass, wenn p wahr ist, q wahr ist, d. h., dass q behauptet wird, aber unter der Bedingung p. Dies ist aber nicht unverträglich mit der Behauptung Kants in der Jäsche-Logik. Denn dort sagt Kant nur, dass in dem Urteil »wenn alle Körper zusammengesetzt sind, so sind sie teilbar« das Urteil »die Körper sind teilbar« prima facie problematisch ist, aber behauptet wird, wenn die Bedingung behauptet wird. Dies ist genau der Punkt Kants in der KrV, wenn er behauptet, dass im Fall des Urteils »wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der beharrlich Böse bestraft« es »unausgemacht« sei, »ob beide dieser Sätze an sich wahr sind«, weil »es nur die Consequenz ist, die durch dieses Urteil gedacht wird«, d. h. die Urteile sind »an sich« als problematisch genommen, es wird aber der Nachsatz unter der Bedingung des Vordersatzes behauptet. 250 Die oben erwähnten Bemerkungen müssen als Erinnerung dienen, wie wichtig es ist, die kantische Logik aus sich selbst heraus zu verstehen, bevor man mit den Mitteln der gegenwärtigen Logik die Gedanken Kants fruchtbar zu machen versucht. Besonders klar kann man dies im Fall der Debatte bezüglich der Beziehung zwischen Kant
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Vgl. auch die Kritik M. Wolffs an Patzig in (Wolff 2009, S. 17).
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und der »deontischen Logik« erkennen. Es wurde schon gezeigt, dass in kantischen Imperativen Notwendigkeit mit Nötigung zusammenhängt. Es wurde oben auch gesagt, dass das Thema »Imperative« in der gegenwärtigen Philosophie besonders wichtig ist, besonders seit der Entwicklung der sogenannten deontischen Logik. Im Rahmen der deontischen Logik ist die Debatte über bedingte Imperative besonders intensiv gewesen. Denn wenn man Nötigung mit einem deontischen Operator bezeichnet, könnte man sich fragen, auf welches Satzglied dieser Operator bezogen werden muss, wenn man eine »konditionale Norm« formalisiert. Es ist in der gegenwärtigen deontischen Logik nicht klar, wo der nötigende Operator, nämlich der deontische Operator in einem bedingten Gebot steht. Formal kann man dieses Problem so ausdrücken: Sei O = es ist geboten y, wobei y eine Handlungsproposition ist. 251 Dann kann man die konditionalen Gebote in Gestalt der folgenden beiden Formen interpretieren: Φ: O (x 252 ! y) oder φ: [x ! O (y)]. Es stellt sich dann die Frage, ob kantische hypothetische Imperative die Form Φ oder die Form φ haben. In diesem Rahmen hat B. Ludwig (Ludwig 1999) vorgeschlagen, die Nötigung im Imperativ als die Entscheidung der Alternative »Mittel oder Ziel« zu interpretieren. Er hat versucht, die Nötigung mit dem »Sollensoperator« (S) zu formalisieren und die These zu verteidigen, dass zum Zweck der formalen Darstellung der Nötigung die beste Möglichkeit darin besteht, den Sollensoperator auf die Disjunktion (M _ :Z) anzuwenden (M = Mittel und Z = Ziel). S (M _ :Z) wäre demnach die beste Formalisierung für die »Nötigung«, die Imperative ausdrücken. Da aus (M _ :Z) = (Z ! M) folgt, dass S (M _ :Z) = S (Z ! M), zieht Ludwig die Form Φ vor. Eine ähnliche Interpretation verteidigt W. Brinkmann, der ebenfalls die Form Φ vorzieht. Er interpretiert jedoch mit dieser Formalisierung nicht Imperative, sondern das, was ich später den »Zweck-MittelSatz« nennen werde (Brinkmann 2003, S. 61–66). 253 Der »ZweckMittel-Satz« ist aber kein Imperativ. Anders sieht die Sache bei Seel aus, der die Form φ vorzieht (Seel 1989, S. 160). Aus der Perspektive der deontischen Logik sind die beiden Formen mit jeweils unter-
251 Vgl. (von Kutschera 1973, S. 15) »Geboten, verboten oder erlaubt sind zunächst Handlungen. Sollen wir aber als Argumente der deontischen Operatoren Sätze wählen, die Handlungen ausdrücken« 252 Hier steht x für eine beliebige vollständige Proposition. 253 Siehe unten S. 171.
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schiedlichen Problemen behaftet, weil sie zu verschiedenen Paradoxien führen. 254 Anders als die erwähnten Autor*innen denke ich, dass man gut daran tut, wenn man die Frage der gegenwärtigen deontischen Logik und die Frage der Nötigung bei Kant getrennt behandelt, weil die deontische Logik sich an Propositionen orientiert, d. h. an sprachlichen Gebilden, und die Regeln des Kalküls der Logik erster Ordnung voraussetzt, während die kantische Logik und Theorie des Urteils bzw. der Sätze, wie oben gesagt wurde, auf Akte ausgerichtet ist. Noch wichtiger ist es, hier nicht zu vergessen, dass sowohl in Φ- als auch in φ-Modellen viele Paradoxien drohen, die aber klar mit den logischen, semantischen und syntaktischen Eigenschaften und Regeln des aussagenlogischen Kalküls zusammenhängen, z. B. mit der materialen Interpretation des Konditionals, die, wie oben gesagt, nicht mit Kants Interpretation hypothetischer Urteile zusammenfällt. Es scheint deswegen schwierig zu sein, mit Hilfe solcher Mittel den Begriff der Nötigung fruchtbar zu machen. Wichtig ist aber zu bemerken, dass dies umgekehrt nicht gilt. Man könnte mit Hilfe der Theorie Kants die Grundlagen der deontischen Logik vielleicht besser verstehen. Dies wäre aber eine Aufgabe, die über den Rahmen meiner Arbeit hinausweist. Hier wollte ich nur darauf hinweisen, dass dieser Weg offen bleibt. Noch wichtiger als die erwähnten Punkte ist das Folgende: Versteht man die Form hypothetischer Urteile wie oben vorgeschlagen, dann kann man vertreten, dass hypothetische Imperative mit der Form des hypothetischen Urteils zusammenhängen. Denn beide Formen bedeuten, dass, wenn etwas der Fall ist, nämlich die Apodosis, notwendig etwas anderes, nämlich die Protasis, der Fall ist. Anders als z. B. H. Allison denkt (Allison 2011, S. 156), hindert die Tatsache, dass »hypothetische Imperative« in Form eines nicht hypothetischen Satzes ausdrückbar sind, nicht daran, zu vertreten, dass hypothetische Imperative mit der Form des hypothetischen Urteils zusammenhängen. Es ist durchaus möglich, dass der Imperativ: »Lies den Zauberberg!« ein hypothetischer ist, wenn er für den Adressaten unter der Bedingung gilt, dass er z. B. alle Romane Thomas Manns lesen 254 Über dieses Problem in der deontischen Logik siehe (von Kutschera 1973, S. 24 ff.) und (von Wright 1968). Während von Kutschera die These vertritt, dass in den sogenannten »konditionalen Normen« der Operator O (obligatory) in die Apodosis fällt, verteidigt von Wright die Ansicht, dass er das ganze Gebilde als Umfang hat. Siehe auch (McNamara 2006) und (McNamara 2010), der die verschiedenen Paradoxien der konditionalen Normen zusammenfasst.
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will. Der Satz: »Wenn ich alle Romane Manns lesen will, dann sollte ich auch den Zauberberg lesen«, ist aber ein hypothetischer und drückt die Tiefenstruktur des Imperativs »Lies den Zauberberg!« aus. Auch die These Ludwigs, nach der es eigentlich keine hypothetischen Imperative gibt, ist dann abzulehnen. Ludwig behauptet m. E. zu recht dass »hypothetisch« kein Adjektiv ist, das das Substantiv »Imperativ« bestimmt, sondern es ist eher eine adverbiale Qualifizierung, die die Art und Weise bestimmt, in der das Gebot gebietet (Ludwig 1999, S. 107 und 2006, S. 152). Obwohl dies, wie gesagt, richtig ist, folgt daraus nicht, dass es keine »hypothetischen Imperative« gibt, wie Ludwig meint. Diesen Schluss kann man nur ziehen, wenn man, wie Ludwig, annimmt, dass alle Imperative »ein und dieselbe ›Form‹ haben: Tue X!« (Ludwig 1999, S. 107). Hier wird aber noch einmal klar, wie schädlich die Orientierung an der sprachlichen Form für die Interpretation der kantischen Imperative ist. Denn es ist richtig, dass allen Imperativen die sprachliche Form »Tue X!« verliehen werden kann, egal, ob es sich um hypothetische oder kategorische Imperative handelt. Auch ist richtig, dass »hypothetisch« eine Bestimmung des Gebots ist: Hypothetische Imperative gebieten hypothetisch, während kategorische Imperative kategorisch gebieten. Dies heißt aber, dass beide nicht dieselbe Form haben. Es wurde bisher viel darüber gesagt, was hypothetische Imperative nicht sind, und was Kant nicht im Auge hat, wenn er diesen Begriff einführt. Es ist jetzt Zeit, eine positive Bestimmung des Begriffs einzuführen. Man kann dies versuchen, indem man den Status der Protasis und den der Apodosis zu bestimmen versucht. Es liegt nahe, dass sie nicht dieselbe Struktur haben wie Protasis und Apodosis eines theoretischen hypothetischen Urteils. Imperative sind, so Kant, Wollenssätze, nämlich Sätze, die »eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten« (KpV AA 05 19, 7). Diese Sätze enthalten auch eine »Bestimmung der Handlung, die nach dem Prinzip eines in irgend einer Art guten Willens notwendig ist« (GMS AA 04 414, 21– 22). Hypothetische Imperative müssen demnach in der Protasis eine Willensbestimmung enthalten und in der Apodosis die Bestimmung einer Handlung. Wollen ist aber nicht bloßes Wünschen. Es impliziert »die Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind« (GMS AA 04 394, 22–24). Daraus und auch aus den oben zitierten Charakterisierungen hypothetischer Imperative können wir schließen, dass die folgenden Bedingungen erfüllt sein müssen, damit es sich bei einem Satz um einen hypothetischen Imperativ handelt: Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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B1) Ein hypothetischer Imperativ besagt, dass zwischen dem Zweck und dem Mittel (nämlich einer Handlung) 255, die in der Protasis und der Apodosis auftreten, ein Verhältnis besteht, nach dem das Erreichen des Zwecks nur möglich ist, wenn man das Mittel vollbringt, sodass die Handlung eine notwendige oder hinreichende Bedingung oder ein Teil des Erreichens des Zwecks ist. In der Zweck-Mittel-Beziehung spiegelt sich die Bedingung-Bedingtes-Beziehung des hypothetischen Urteils. Aufgrund dieser Bedingung ist der folgende Satz kein hypothetischer Imperativ: »Wenn 4 eine Primzahl ist, dann übe!«. Da er keine Zweck-Mittel-Struktur hat, drückt er kein Sollen und keine Nötigung aus (Ludwig 2006, S. 140). B2) Ein hypothetischer Imperativ besagt, dass etwas getan werden muss, wenn der Adressat einen Zweck verfolgen will, d. h. der Imperativ schließt ein volitives Element ein. B3) Daher drückt der Imperativ die Nötigung zur Handlung aus, die notwendige Bedingung des Erreichens des Zwecks ist. Im Prinzip kann man aus diesen Eigenschaften zumindest zwei Urteilsarten ableiten, die der Tiefenstruktur des hypothetischen Imperativs entsprechen können: 256 1) »Wer Schach spielen will, soll die Regeln lernen.« 2) »Wenn du Schach spielen willst, lerne die Regeln!« 257 Dass kantische Imperative sich, wenn man den Hinweisen Kants folgt, in verschiedenen Formen formulieren lassen, hat Moritz schon in den sechziger Jahren begründet. Er hat zu zeigen versucht, dass kantische Imperative zumindest in drei Satz-Formen ausgedrückt werden können:
255 Der Kürze halber formuliere ich den Satz mit Hilfe der Ausdrücke »Zweck« und »Mittel« nur im Singular. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass ein Imperativ mehrere Zwecke oder mehrere Mittel beinhaltet. 256 Ich folge hier teilweise der interessanten Darstellung Brinkmanns. Vgl. Brinkmann (2003, S. 28). 257 Unter dieses Modell fallen auch Imperativssätze wie »Lerne die Regeln!«, die, wie gesagt, eine hypothetische Tiefenstruktur voraussetzen.
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Zweck-Mittel-Urteile (z. B. »Ein geeignetes Mittel, den Patienten P zu heilen, besteht darin, das Medikament M anzuwenden«). 258 ii) konditionale Imperative, z. B. »Kaufe Butter, wenn du Sandtaler backen möchtest«. iii) nicht-konditionale Imperative, z. B. »Lüge nicht!«. 259 Bei Moritz ist jedoch nicht ganz klar, was genau er unter »ZweckMittel-Urteilen« versteht. Er scheint diese Urteile ausschließlich als theoretische Urteile zu verstehen, die eine Zweck-Mittel-Beziehung ausdrücken und nur Urteile der Form: »y ist ein geeignetes Mittel zu x«. Dies kann aber vieles bedeuten, z. B. »y ist eine hinreichende Bedingung für x« oder »y ist eine notwendige Bedingung für x« usw. Jedenfalls handelt es sich dabei um rein deskriptive Urteile, d. h. um Behauptungen, die als solche wahr oder falsch sein können. Bisher sind die Kant-Forscher*innen üblicherweise davon ausgegangen, dass hypothetische Imperative die Struktur des Satzes ii) haben. 260 Diese Sätze sind Urteile, die eine präskriptive Form aufzuweisen scheinen, da sie in der Apodosis ein Gebot enthalten. Es ist aber zu bemerken, dass Kant in den veröffentlichten Schriften niemals ein Beispiel für einen hypothetischen Imperativ gegeben hat, der eine solche »wenn-dann«-Struktur aufweist. 261 Deswegen bin ich der Meinung, dass es keinen Grund gibt, die Form ii) den anderen vorzuziehen oder zu behaupten, dass Imperative nur Form ii) haben können. Es hindert m. E. nichts, beide Schemata als Modelle der Tiefenstruktur der hypothetischen Imperative zu akzeptieren. Dieses Gefüge, das ausdrückt, dass eine Handlung darum notwendig ist, weil
258 Vgl. (Moritz 1960, S. 54). Moritz vertritt die These, dass Kant in den letzten Werken Imperative als »Zweck-Mittel-Urteile« interpretiert hat, während er sie in der GMS als »Befehle« verstanden hat. Vgl. (Moritz 1960, S. 68). Die These, dass Kant in späteren Werken wie der Ersten Einleitung Imperative als theoretische Sätze verstanden hat, die eine »Zweck-Mittel«-Beziehung ausdrücken, halte ich für richtig. Ich werde auf diese entwicklungsgeschichtlichen Komplikationen hier aber nicht eingehen. Jedenfalls setzen sie das Verständnis der Grundmotive und der Struktur der Theorie voraus. 259 Vgl. (Moritz 1960, S. 15 ff.). 260 Das hat schon Moritz in den sechziger Jahren betont. Vgl. (Moritz 1960, S. 20). 261 Ludwig hat bemerkt, dass Sätze der zweiten Form in Kants Schriften nicht zu finden seien. Vgl. (Ludwig 2006, S. 140). Es gibt jedoch Sätze der Form »wenn du x willst, sollst du y tun«, die Kant in den Vorlesungen über Moralphilosophie als Beispiele verwendet. Vgl. Kaehler Moral 9, 8–10.
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ich oder ein anderer Handelnder etwas tun will, nennt Kant »den hypothetischen Imperativ«. 262 Die beiden erwähnten Sätze setzen aber noch eine weitere Bedingung voraus, die in den Bedingungen i)–iii) nicht explizit dargelegt wird. Wer nämlich einen hypothetischen Imperativ äußert, gibt zu verstehen, dass er einen Bedingung-Bedingtes-Zusammenhang erkannt hat, der dem Imperativ zugrunde liegt. Wer z. B. die Sätze i) oder ii) äußert, nimmt für sich in Anspruch, erkannt zu haben, dass die Beherrschung der Regeln des Spiels eine notwendige Bedingung des Schachspielens ist. Hypothetische Imperative setzen demnach eine Menge von »technischen« Erkenntnissen voraus, die manchmal extrem komplex sein können. Die diesbezüglichen Gesetze sind deskriptive Korrelate der Imperative und haben die folgenden Formen (Ich nenne hier nur einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit): DKI: »Es ist nötig, die Regeln des Spiels zu lernen, um Schach spielen zu können.« DKI.1: »Man muss die Regeln lernen, um Schach spielen zu können.« DKI.2: »Es ist notwendig, die Regeln zu lernen, um Schach spielen zu können.« Es handelt sich hier um Gebilde, die notwendige Bedingungen für das Erreichen eines Zieles ausdrücken. Die deskriptiven Korrelate der Imperative schließen den volitiven Bestandteil aus. Sie sind deswegen »praktische Sätze« in einem schwächeren Sinn. 263 Die deskriptiven Korrelate sind Behauptungen 264, d. h. Sätze, die wahr oder falsch sein können. Sie haben Wahrheitsbedingungen. So sind DKI, DKI.1 und DKI.2 genau dann wahr, wenn es nötig ist, die Regeln zu lernen, um Schach spielen zu können. Dies ist aber anscheinend nicht der Fall bei Vgl. (Hill 1973, S. 18–19) und (Schönecker & Wood 2004, S. 116–117). Zu diesem »schwächeren Sinn« siehe die Jäsche-Logik AA 09 86, 21–25. 264 Siehe (von Kutschera 1973, S. 11–14). G. H. von Wright zeigt, dass die von ihm so genannten »technischen Normen« immer einen anankastischen Satz voraussetzen. Vgl. (von Wright 1963, S. 10). Eine ähnliche These ist auch von Stemmer verteidigt worden. Vgl. (Stemmer 2008, S. 47 ff.). Im Falle der kantischen Philosophie hat Brinkmann diesen Zusammenhang fruchtbar zu machen versucht. Vgl. (Brinkmann 2003, S. 28). Schon zuvor hat Moritz in seinem Buch angedeutet, dass die hypothetischen Imperative bei Kant immer eine »Zweck-Mittel Relation« voraussetzen. Vgl. (Moritz 1960, 32). 262 263
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Sätzen des Typs ii). Es gibt außerdem einen wichtigen Unterschied zwischen Sätzen des Typs i) und ii) einerseits und Sätzen wie den »deskriptiven Korrelaten« andererseits. Dieser Unterschied besteht darin, dass die »deskriptiven Korrelate« keinen normativen Druck ausüben. Sie sind daher keine normativen Sätze, oder wie Kant sagen würde, sie drücken keine Nötigung aus, obwohl sie die praktische Notwendigkeit einer Handlung behaupten. 265 Anders gesagt: diese Sätze sind nicht normativ, obwohl sie anankastische Sätze sind. 266 Daher liegt der Schluss nahe, dass »deskriptive Korrelate« keine kantischen Imperative sind: Sie behaupten die praktische Notwendigkeit einer Handlung, ohne eine Nötigung auszudrücken. Gleichwohl liefern die kantischen Beispiele auch Gründe für die Gegenthese. Kant nennt sowohl Sätze wie i) und ii) als auch die »deskriptiven Korrelate« »Imperative«, und betont manchmal das objektivierende und kognitive Moment eines Imperativs als das für einen Imperativ wesentliche Element. 267 Im Folgenden analysiere ich diesen Punkt, indem ich die kantische Einteilung der hypothetischen Imperative einer näheren Betrachtung unterziehe. Bevor ich dazu komme, fasse ich kurz die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung zusammen. Kant charakterisiert »Imperative« als »Formeln«, die eine Nötigung ausdrücken. Daher liegt der Schluss nahe, dass Imperative immer normativ (nötigend) sind. Wenn man sich die kantischen Beispiele anschaut, kann man aber erkennen, dass er auch deskriptive Sätze als Imperative bezeichnet. Diese sind Ge-
265 Wichtige Teilnehmer der gegenwärtigen Debatte über »Normativität« haben darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Ausdruck, dessen Bedeutung freilich nicht immer ganz klar ist, gleichbedeutend ist mit dem kantischen Ausdruck »Nötigung«. Vgl. (Stemmer 2008, S. 87) und (Korsgaard 2009, S. 3). 266 Im Rahmen der gegenwärtigen »deontischen Logik« ist eine Unterscheidung eingeführt worden, die Ähnlichkeit mit der Unterscheidung zwischen Sätzen des Typs ii) und den »deskriptiven Korrelaten« aufweist, nämlich diejenige zwischen »Normsätzen« (norm-proposition) und »Normen« (norms). Vgl. (Alchourrón & Bulygyn 1971, S. 121). Die »Normsätze« sind deskriptive Sätze, die besagen, dass gewisse Handlungen verboten, geboten oder erlaubt sind (vgl. von Kutschera 1973, S. 11). Andererseits ist eine »Norm« eine »sprachliche Form des Gebietens, Verbietens, Erlaubens, Aufforderns« (von Kutschera 1973, S. 12). Der Unterschied aber, um den es mir hier geht, ist der Unterschied zwischen dem, was von Wright »anankastische Sätze« nennt und dem, was er »technische Normen« nennt. Wichtig ist hier vor allem der von von Wright erkannte Zusammenhang zwischen diesen Gebilden: Technische Normen setzen anankatische Sätze voraus. Vgl (von Wright 1963, S. 10). 267 Das hat schon Moritz herausgearbeitet (Moritz 1960, S. 60 ff.).
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bilde, die die Form anankastischer Sätze haben. Dies werde ich im Folgenden noch näher untersuchen. Sollte dies richtig sein, so versteht Kant unter dem Namen »Imperativ« eine Menge von Gebilden, die unterschiedliche Strukturen aufweisen. Das kann man auch daran erkennen, dass Kant sowohl bedingte Forderungen als auch anankastische Gebilde als Imperative zu bezeichnen scheint. Es ist schwierig, die Frage nach der Struktur kantischer Imperative zu beantworten, weil es mehr als eine Antwort zu geben scheint. »Imperativ« ist demnach bei Kant ein mehrdeutiger Ausdruck. Meine These in Bezug auf diesen Punkt lautet, dass Kant als »Imperative« mindestens zwei Strukturen unterschiedlicher Form bezeichnet. Man kann sie als solche erkennen, indem man analysiert, welche Rolle sie in Kants Handlungskonzeption spielen. Diese Strukturen sind: a) normative Urteile, die eine Handlung gebieten, unter der Voraussetzung, dass sie Mittel zu einem gewollten Ziel ist und b) Zweck-Mittel-Urteile (von hier an ZMU), anankastische Urteile, sofern sie praktische Sätze sind, d. h. sofern in diesen Sätzen von einer Handlung ausgesagt wird, dass sie praktisch notwendig ist (JäscheLogik AA 09 110, 4–6). ZMU kommt, wie wir unten sehen werden, eine wichtige Rolle bei der Erklärung der Elemente zu, die die Ausführung einer Handlung hervorrufen. Auf den folgenden Seiten versuche ich zu zeigen, dass Kant bei der Einteilung der Imperative einen Raum für ZMU als Imperative offengelassen hat. Im Folgenden nenne ich die Form normativer Urteile die »normative Form«, und die Form von Zweck-Mittel-Urteilen die »ZMU-Form«. 7.b.3) Die Einteilung der hypothetischen Imperative Was die hypothetischen Imperative betrifft, hat Kant mehr als eine Einteilung vorgenommen. 268 In der GMS führt er eine Klassifizierung der hypothetischen Imperative ein, die er in den nachfolgenden Werken nicht mehr verwenden und später sogar teilweise kritisieren wird. Es ist jedoch die erste Klassifizierung, die er in den veröffentlichten Schriften einführt, sodass ich diese analysiere, um sie später mit den anderen zu vergleichen. Bei dieser Einteilung identifiziert
268 Zu einer genetischen Analyse dieser Einteilungen in der Philosophie Kants vor der GMS siehe (Schwaiger 1999). Leider gibt es bis heute keine befriedigende Untersuchung über die Entwicklung dieser Einteilung in der Moralphilosophie Kants ab 1785.
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Kant zwei Formen hypothetischer Imperative, die sich an die Kategorien der Modalität anschließen. Hypothetische Imperative haben, so Kant an der fraglichen Stelle, zwei mögliche Formen: die »assertorische« oder die »problematische« (GMS AA 04 414, 32 ff.). Es gibt auch, so Kant, einen »apodiktischen« Imperativ, nämlich den kategorischen Imperativ (GMS AA 04 415, 1–5). Der jeweilige Charakter eines hypothetischen Imperativs hängt dieser Klassifizierung nach vom Charakter der Bedingung ab. Wenn der Zweck ›bloß möglich‹ ist in dem Sinne, dass ihn zu verfolgen in das Belieben des Adressaten gestellt ist (GMS AA 04 415, 22), ist der Imperativ problematisch. Kant wertet als »problematische Imperative« Prinzipien, die er mit dem »praktischen Teil« aller Wissenschaften identifiziert. 269 Er gibt zwei Beispiele: Bsp. 1) die Vorschriften, die ein Arzt oder ein Giftmischer befolgt (GMS AA 04 415, 16–18). Bsp. 2) der Satz »Um eine Linie nach einem sicheren Prinzip in zwei gleiche Teile zu teilen, [muss] ich aus den Enden derselben zwei Kreuzbogen machen« (GMS AA 04 417, 18–20). 270
269 Bekanntlich leugnet Kant später, dass diese Prinzipien »praktische« sind. Er nennt sie stattdessen »technische Regeln« oder »theoretische Prinzipien«. Vgl. KpV AA 05 25, 37–26, 1: »Prinzipien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten, alsdann sind es aber bloß theoretische Prinzipien«; KU AA 05 172, 23–27 »Alle technisch-praktische Regeln (d. i. die der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der Klugheit, als einer Geschicklichkeit auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben), so fern ihre Prinzipien auf Begriffen beruhen, müssen nur als Corollarien zur theoretischen Philosophie gezählt werden«. Das Gleiche gilt auch für die »assertorischen« Imperative. Vgl. Erste Einleitung AA 20 200, 17–22: »Die pragmatische, oder Regeln der Klugheit, welche unter der Bedingung eines wirklichen und so gar subjektiv-notwendigen Zweckes gebieten, stehen nun zwar auch unter den technischen (denn was ist Klugheit anders, als Geschicklichkeit, freie Menschen und unter diesen so gar der Naturanlagen und Neigungen in sich selbst, zu seinen Absichten brauchen zu können)«. 270 Kant sagt nicht explizit, dass dieser Satz ein Beispiel für einen Imperativ ist. Ich denke jedoch, dass dieser Schluss dem Kontext nach naheliegend ist. Kant benutzt dieses Beispiel im Rahmen der Diskussion über Analytizität. Er sagt in diesem Kontext: »Dass um eine Linie nach einem sicheren Prinzip in zwei gleiche Teile zu teilen, ich aus den Enden derselben zwei Kreuzbogen machen müsse, das lehrt die Mathematik freilich nur durch synthetische Sätze; aber dass, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz« (GMS AA 04 417, 18–26).
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Es gibt, wie gesagt, auch andere hypothetische Imperative. Da alle Menschen nach Glückseligkeit streben, 271 gibt es, so Kant, andere Imperative, in denen der Zweck, nämlich die Glückseligkeit, »gegeben ist« (GMS AA 419, 5). Glückseligkeit ist außerdem ein Zweck, den man den Menschen a priori unterstellen kann. Da der Zweck dieser Imperative wirklich ist, nennt Kant diese Form der Imperative »assertorisch«. Die erwähnte Modal-Klassifizierung ist aber irreführend, was Kant auch erkannt hat. Dies hatte zur Folge, dass er sie später nicht mehr verwendet hat. Eben deswegen wird er später die Rede von »problematischen Imperativen« kritisieren, da der Ausdruck, so Kant, widersprüchlich sei. 272 Kant versucht mit dieser Korrektur m. E. klarzumachen, dass nicht der Imperativ selbst problematisch ist, sondern nur dessen Bedingung, d. i. der Zweck. Da der Imperativ das hypo271 GMS AA 04 399, 7: »alle Menschen [haben] schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit«; vgl. GMS AA 04 415, 33. Glückseligkeit ist, so Kant, der einzige Zweck, der bei allen endlichen vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden kann. »Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen (so fern Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, passen) als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit«. Vgl. GMS AA 04 415, 28; »Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens«, KpV AA 05 25, 11–12. In der GMS »definiert« Kant die Glückseligkeit als das »Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande«. Vgl. GMS AA 04 418, 8; KrV A 806/B 834. Er charakterisiert Glückseligkeit m. E. aber angemessener in der KpV, und zwar als »das Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet«. Vgl. KpV AA 05 22, 17–21; auch MS AA 06 387, 26–28. Diese Charakterisierung ist m. E. deshalb besser, weil sie darauf aufmerksam macht, dass Glückseligkeit ein Modus des Bewusstseins ist. 272 Vgl. Erste Einleitung AA 20 200, 11–17: »Hier ist der Ort, einen Fehler zu verbessern, den ich in der Grundl[egung]. Zur Met[aphysik] der Sitten beging. Denn, nachdem ich von den Imperativen der Geschicklichkeit gesagt hatte, dass sie nur bedingterweise und zwar unter der Bedingung bloß möglicher, d. i. problematischer, Zwecke geböten, so nannte ich dergleichen praktische Vorschriften problematische Imperativen, in welchem Ausdruck freilich ein Widerspruch liegt. Ich hätte sie technisch, d. i. Imperativen der Kunst nennen sollen«. Patzig hat schon darauf hingewiesen, dass die Modal-Prädikate »problematisch« und »assertorisch« bei hypothetischen Imperativen deswegen schwer begreiflich sind, weil hypothetische Imperative nach Kant »analytische« Urteile seien. Da jeder analytische Satz eo ipso apodiktisch ist, d. h. notwendig wahr, ist dann nicht leicht zu verstehen, wie diese Sätze auch »problematisch« bzw. »assertorisch« sein können. Vgl. (Patzig 1965, S. 274).
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thetische Gefüge als Ganzes ist und nur die Bedingung problematisch ist, ist es in der Tat irreführend, Imperative als »problematisch« zu bezeichnen. Es gibt dann gute Gründe, diese Modal-Einteilung, wie Kant, nicht mehr zu verwenden. Kant führt noch andere Bezeichnungen für die zwei Formen hypothetischer Imperative ein. Er bezeichnet die beiden Formen auch als: 1.) Regeln der Geschicklichkeit (problematische Imperative) und 2.) Ratschläge der Klugheit (assertorische Imperative). 273 Von den Ratschlägen der Klugheit wird Kant selbst in der GMS später behaupten, dass sie eigentlich keine Imperative sind (GMS AA 04 418, 29 ff.), und zwar deshalb, weil Glückseligkeit zwar ein Zweck ist, den man a priori bei allen Menschen annehmen kann, der Inhalt dieses Begriffes jedoch »unbestimmbar« bleibt. Seit Aristoteles haben viele Philosoph*innen darauf hingewiesen, dass es zwischen den Menschen keine Einigkeit über den Inhalt der Vorstellung der Glückseligkeit gibt, obwohl jeder der Behauptung zustimmt, dass er glücklich sein will. 274 Kant akzeptiert dies und ist außerdem der Auffassung, dass es uns unmöglich ist, den Inhalt des Glückseligkeitsbegriffs in allgemeingültiger Weise zu bestimmen. Es sei sogar, so Kant, für jeden Menschen unmöglich, »einstimmig [zu] sagen […], was er eigentlich wünsche und wolle« (GMS AA 04 418, 4–5). Diese zunächst einmal kontraintuitive These bedeutet vor allem, dass das Erfassen der Glückseligkeit »Allwissenheit« voraussetzt (GMS AA 04 418, 24), sowohl um die richtige Kalkulation der Zweck-Mittel-Beziehungen vorzunehmen, als auch um vorauszusehen, ob das, was man zu wollen glaubt, nicht auch Übel mit sich bringen wird. 275 Wenn man 273 AA 04 416, 19 ff. Kant gibt diesen Imperativen in der GMS auch noch andere Namen. Vgl. (Moritz 1960, S. 21–22). Er wird später nicht mehr von »Ratschlägen der Klugheit« sprechen, obwohl er Ausdrücke wie »Regeln der Klugheit« verwendet. 274 Vgl. EN. I 4 1095a 20–22. Dieser Dissens war schon im Altertum so groß, dass M. Terentius Varro 288 Ansichten über den Inhalt der Glückseligkeit zählte. Vgl. (Spaemann 1978, S. 80). 275 »Nun ist’s unmöglich, dass das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, dass es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie
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also bestimmen will, worin die eigene Glückseligkeit bestehen würde, muss man dem Begriff einen Inhalt geben, den man nur aus der Erfahrung gewinnen kann. Indem man dies tut, ersetzt man den »wirklichen« Zweck der Glückseligkeit durch andere, »problematische« Zwecke. Deswegen führt Kant an der oben zitierten Stelle der Ersten Einleitung die »Ratschläge (Regeln) der Klugheit« auf die »Imperative der Geschicklichkeit« zurück. 276 Auf diese Weise wird deutlich, dass hypothetische Imperative in ihren beiden Formen Sätze sind, denen die Erkenntnis von Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen zugrunde liegt, nämlich deskriptive Sätze wie die oben erwähnten DKI, d. h. ZMU. Es gibt gewichtige Gründe für die Ansicht, dass Kant hypothetische Imperative manchmal mit Sätzen des Typs der »deskriptiven Korrelate«, d. h. mit ZMU, identifiziert. An diese Struktur denkt Kant, wenn er Beispiele gibt wie die »Vorschrift für den Arzt« oder die »Vorschrift für Giftmischer«. 277 Klarer ist dies in Bsp. 2), also im Satz »Um eine Linie nach einem sicheren Prinzip in zwei gleiche Teile zu teilen, [muss] ich aus den Enden derselben zwei Kreuzbogen machen«. Eine solche Interpretation der Struktur der hypothetischen Imperative stimmt mit der These überein, dass »hypothetische Imperative« bloße »technische« Sätze seien. Diese Interpretation hat Kant nach der GMS in mehreren Texten vertreten. Dies wiederum macht klar, dass Kant mehr als eine Antwort auf die Frage nach der Struktur hypothetischer Imperative gegeben hat und dass er mehrere Urteilsformen als »Imperative« im klassischen Sinne bezeichnet hat, die trotzdem alle die folgenden Bedingungen erfüllen müssen: a) sie müssen hypothetische Urteile sein, b) sie müssen sich auf eine Handlung beziehen, d. h. sie müssen Sätze sein, die eine Handlung zu ihrem Gegenstand haben (vgl. Jäsche-Logik AA 09 86, 21–25), d. h.
oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen usw. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgendeinem Grundsatze mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde«. GMS AA 04 418, 10–24. Damit hängt auch die kantische These zusammen, dass die Erkenntnis der Pflicht einfacher als die Erkenntnis der Mittel zur Glückseligkeit ist. Vgl. KpV AA 05 36, 28 ff.; UG AA 08 287, 10–15. 276 »Die pragmatischen, oder Regeln der Klugheit, welche unter der Bedingung eines wirklichen und so gar subjektiv-notwendigen Zweckes gebieten, stehen nun zwar auch unter den technischen«. Vgl. Erste Einleitung AA 20 200, 16–19 FN. 277 Ich folge hier der Interpretation von Moritz. Vgl. (Moritz 1960, S. 61–62).
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»praktische Sätze« in einem schwächeren Sinne. Diese Bedingungen beziehen sich auf die Bedingung, die ich oben als B1 bezeichnet habe: B1: Ein hypothetischer Imperativ besagt, dass zwischen dem Zweck und dem Mittel (nämlich einer Handlung), die in der Protasis und der Apodosis auftreten, ein Verhältnis besteht, nach dem das Erreichen des Zwecks nur möglich ist, wenn man das Mittel vollbringt, sodass die Handlung eine notwendige Bedingung des Erreichens des Zwecks ist. Solche Sätze, die die Struktur der anankastischen Sätze aufweisen, sind für Kant Imperative, indem sie objektiv-praktische Gesetze bzw. Vorschriften sind (vgl. KpV AA 05 19, 13–14). Dies ist, wie gesagt, nur ein Sinn, den der Ausdruck »Imperativ« bei Kant hat. In Beispielen wie Bsp. 2) ist dennoch kein Wollensbezug zu erkennen, den ich in B2 eingeschlossen habe. Deswegen drücken solche Urteile keine Nötigung aus, obwohl sie eine »praktische Notwendigkeit« artikulieren. Dies ist der Grund, weswegen diese Urteile Imperative in einem schwächeren Sinn sind, obwohl Kant in seiner späten Philosophie diese Gebilde als den eminenten Fall eines Imperativs zu betrachten scheint. Wenn man schon festgestellt hat, dass Kant dem Begriff des Imperativs diese zwei Bedeutungen gibt, kann man sich die Frage nach der Rolle von Imperativen bezüglich intentionalen Handlungen stellen. Auf den folgenden Seiten möchte ich der These nachgehen, nach der Imperative »analytische Urteile« sind, weil sie uns eine Antwort auf diese Frage liefert. Es wird sich u. a. zeigen, dass Kant bei dieser These an eine Imperativ-Form denkt, die nicht die ZMU-Form ist. 7.b.4) Analytische Sätze? Oben habe ich als eine Orientierungsthese über die Philosophie Kants die Behauptung aufgestellt, dass Kants Philosophie wesentlich eine Lehre des Urteils ist. Es handelt sich bei der Transzendentalphilosophie um eine Theorie, die die Ansprüche gewisser Urteile auf Allgemeingültigkeit zu untersuchen versucht. Der Ausgangspunkt der kritischen Philosophie ist die Tatsache, dass wir sowohl in unserer »theoretischen« als auch in unserer »praktischen« Beziehung zur Welt rechtfertigungsbedürftige Ansprüche mittels Urteilen erheben. Kant untersucht, ob diese Ansprüche rechtfertigbar sind. Da nicht jeder Anspruch auf Allgemeingültigkeit rechtfertigungsbedürftig ist, Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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ist es nötig, die Urteile bzw. Vorstellungen zu identifizieren, die Gegenstand einer transzendentalen Deduktion sein müssen, um sie von solchen zu trennen, die keiner Rechtfertigung bedürfen. Deswegen betont Kant am Anfang des ersten Abschnitts der transzendentalen Deduktion in der KrV, dass z. B. empirische Begriffe keiner Deduktion bedürfen: »Wir bedienen uns einer Menge empirischer Begriffe ohne jemandes Widerreden und halten uns auch ohne Deduktion [für] berechtigt, ihnen einen Sinn und eine gültige 278 Bedeutung zuzueignen, weil wir jederzeit die Erfahrung bei der Hand haben, ihre objektive Realität zu beweisen« (A 84/B 116). Es gibt auch Vorstellungen, die keiner Deduktion bedürfen, obgleich sie sich a priori auf Gegenstände beziehen, z. B. die Vorstellungen der Zeit und des Raumes. 279 In einem ähnlichen Zusammenhang stellt Kant in der GMS die Frage nach der Möglichkeit der Imperative, sowohl der hypothetischen als auch der kategorischen. Diese Frage ist gleichbedeutend mit der Frage nach der Möglichkeit der Nötigung, die in einem Imperativ ausgedrückt wird. Anders gesagt, sie ist gleichbedeutend mit der Frage nach der Möglichkeit des Notwendigkeitsfaktors, den die Imperative in der Form der Nötigung ausdrücken. Die Frage ist also folgendermaßen zu paraphrasieren: Wie ist Nötigung des Willens möglich? Diese Frage ist zugleich gleichbedeutend mit der Frage nach dem Grund der Normativität von Imperativen. 280 Da hier die Frage nach der Möglichkeit von Nötigung ist, sind hier nicht ZMU die relevanten Untersuchungsgegenstände, denn sie stellen keine Nötigung vor. Wie beantwortet Kant diese Frage aber? Kant verschiebt die Antwort im 278 Der Originaltext besagt »eingebildete« Bedeutung. Ich lese mit Vaihinger »eine gültige«. 279 Es ist aber anzumerken, dass in der KrV einmal auch die Rede von einer »transzendentalen Deduktion« der Vorstellungen des Raumes und der Zeit ist. Vgl. A 87/ B 119–120. Dieser Gebrauch des erwähnten Ausdrucks ist aber sensu stricto ungeeignet. Carl hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Kant hier auf die »metaphysische Erörterung« verweist. Vgl. (Carl 1992, S. 119–120). Einige Zeilen weiter unten wird Kant andeuten, dass mit der »transzendentalen Deduktion« der reinen Verstandesbegriffe auch eine »transzendentale Deduktion« des Raumes nötig wird. Auch hier meine ich, dass Carl dies richtig interpretiert hat. Carls Deutung nach möchte Kant damit darauf aufmerksam machen, dass bei den reinen Verstandesbegriffen die Beziehung auf die Gegenstände der Erfahrung keineswegs selbstverständlich ist, und es auch prima facie möglich ist, dass sie jenseits der möglichen Erfahrung anwendbar sind. Dies eröffnet demnach die Möglichkeit, »den Begriff des Raumes auch jenseits des Bereichs von Gegenständen anzuwenden, die uns in einer sinnlichen Anschauung gegeben werden können«. Vgl. (Carl 1992, S. 122). 280 Siehe oben S. 146 ff.
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Fall des kategorischen Imperativs auf den dritten Teil der GMS, in dem er die »Deduktion« des »kategorischen« Imperativs vollzieht. Sofort beantwortet er hingegen die Frage nach der Möglichkeit hypothetischer Imperative. 281 Dazu formuliert er zunächst ein Prinzip, das ich »Zweck-Mittel-Satz« nenne: 282 ZMS: »Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist« (GMS AA 04 417, 7–8). Kant gibt noch zwei weitere Formulierungen dieses Satzes. 283 D. Schönecker und Allen Wood haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Grundform des Satzes in jeder Formulierung gleich ist, nämlich »wer den Zweck will, will auch das Mittel«, während die »Rationalitätsklausel« in jeder Formulierung unterschiedlich ist (Schönecker & Wood 2004, S. 116). Die anderen beiden Formulierungen scheinen aber dasselbe wie die von mir zitierte Form des ZMS zu besagen. Kants erste These in diesem Zusammenhang ist, dass der ZMS analytisch ist (GMS AA 417, 10–13). Oder genauer: Der Satz sei »was das Wollen betrifft«, analytisch (GMS AA 04 417, 11). Dass Kant dieser Meinung ist, ist völlig klar: Er sagt zwei Mal, dass der ZMS analytisch ist (GMS AA 04 417, 11; 417, 23). Die zweite These Kants ist, dass hypothetische Imperative ebenfalls analytisch sind (GMS AA 04 417, 29; 419, 10). Und sie seien deswegen analytisch, so seine dritte These, weil der ZMS analytisch ist (GMS AA 04, 27– 418, 01). Seine vierte These ist die folgende: Da der ZMS analytisch sei, sei die Frage nach der Möglichkeit der hypothetischen Imperative 281 Es geht eigentlich um die Möglichkeit der Regel der Geschicklichkeit. Vgl GMS AA 04 417, 7. Der Kürze halber werde ich hier von der Erklärung der Möglichkeit der hypothetischen Imperative sprechen. Denn später wird Kant, wie oben gesehen, die Einteilung der Imperative in der GMS ablehnen und hypothetische Imperative auf Regeln der Geschicklichkeit zurückführen. 282 Ich folge hier Schönecker & Wood, die diesen Namen verwenden, zumal der ZMS kein Imperativ ist. Vgl. (Schönecker & Wood 2004, S. 116–117). 283 Vgl. GMS AA 04 417, 21–23: »aber dass, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz«; GMS AA 04 417, 30–418, 1: »Denn es würde eben sowohl hier als dort heißen: wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß notwendig) die einzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind«.
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fast trivial (GMS AA 417, 4–8; 419, 11). Die Frage nach der Möglichkeit der hypothetischen Imperative ist demnach wie folgt zu beantworten: Hypothetische Imperative sind möglich, weil sie analytisch sind. Deswegen bedürfen sie keiner transzendentalen Deduktion. Ein analoger Fall tritt in der MS auf, in der Kant das Prinzip der Rechtslehre einführt. Dieses Prinzip ist, so Kant, analytisch. Mit diesem Prinzip hat es die besondere Bewandtnis, dass es nicht deduziert wird. Obwohl Kant die Abwesenheit einer Deduktion des erwähnten Prinzips nicht begründet, liegt die Vermutung nahe, dass er keine Deduktion des Rechtsprinzips einführt eben darum, weil es analytisch ist (MS AA 06 396, 1 und ff.). Das Prinzip der Tugendlehre dagegen wird von Kant deduziert, da es ein synthetischer Satz ist. 284 Mir geht es hier nicht so sehr um die vierte These, sondern um die ersten drei. Sie sind, wie jeder Kenner der Literatur über Kants praktische Philosophie weiß, sehr umstritten. Es ist sogar umstritten, ob Kant diese Thesen vertreten hat und wenn ja, ob er sie in dem Zusammenhang vertreten hat, in dem ich sie hier vorgestellt habe. Es ist nicht unbedenklich, Kants erwähnte Thesen ohne Weiteres zu akzeptieren. Das erste Problem ist selbstverständlich die Bedeutung des Prädikats »analytisch«, und dies aus mindestens zwei Gründen: 1.) Bekanntlich ist die Unterscheidung analytisch/synthetisch von Quine und anderen Philosoph*innen aus guten Gründen einer genaueren und skeptischen Betrachtung unterzogen worden (vgl. Quine 1951). Und 2.) sind Kants Definitionen dieser Termini auch nicht völlig sauber. Gewiss: Wenn Quine mit seiner Kritik recht hatte, ist Satz 2.) eine notwendige Folge von 1.) und die Definitionen würden sich auch nicht korrigieren lassen. Ich werde das Problem des Unterschieds »analytisch/synthetisch« hier jedoch nicht vom systematischen Standpunkt behandeln. Entsprechend werde ich nur kurz die Kernaspekte der kantischen Unterscheidung zusammenfassen. Kant charakterisiert das Prädikat »analytisch« in zwei »Definitionen« 285:
Siehe MS AA 06 394, 14 und ff. und (Wood 2002, S. 7). Ich spreche hier von Definitionen in einem schwachen Sinn, zumal Kant der Meinung ist, dass Definitionen, wie oben erwähnt wurde (vgl. S. 118 Fn. 183), sensu stricto in der Philosophie in der Regel unmöglich sind. Für eine Analyse der verschiedenen Arten, wie Kant die Unterscheidung »analytisch-synthetisch« eingeführt hat, siehe (Loebbert 1989, S. 16–18) und (Anderson 2015). Ich kann leider hier auf die sehr aufschlussreiche Diskussion Andersons nicht eingehen. 284 285
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Def. a) »Analytische Urteile sagen nichts als das, was im Begriff des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit gleichem Bewußtsein gedacht war« (Prolegomena AA 04 266, 24–26). Def. b) »Analytische Sätze heißen solche, deren Gewissheit auf Identität der Begriffe (des Prädikats mit der Notion des Subjekts) beruht« (Jäsche-Logik AA 09 111, 2–3). 286 Kant gibt auch ein Kriterium zur Erkenntnis der Analytizität bzw. Synthetizität eines Urteils an. Diesem zufolge seien analytische Urteile »Erläuterungsurteile«, sodass sie »zum Inhalte der Erkenntnis nichts hinzutun«. Synthetische Urteile würden dagegen »die gegebene Erkenntnis vergrößern« (Prolegomena AA 04 266, 20–21). Selbst wenn man das Problem 1.) beiseite lässt, besteht noch die Schwierigkeit, dass die kantischen Kriterien und Charakterisierungen der Sache nach mangelhaft sind. Bekannt ist z. B., dass die Definition a) im Prinzip nur auf kategorische Urteile anwendbar ist. Das ist selbstverständlich ein großes Problem, da sowohl die hypothetischen Imperative als auch der ZMS keine kategorischen Urteile sind. Außerdem gibt es Urteile, die nicht unter die Definition b) fallen, weil sie durch ihre logische Form und nicht aufgrund von Beziehungen ihrer Terme analytisch sind. Das ist z. B. der Fall in folgendem Beispiel, das ich bei Patzig entlehne: »Wenn dies Buch Peter oder Fritz gehört und es nicht Fritz gehört, dann gehört es Peter«, vgl. (Patzig 1965, S. 244). Deshalb haben andere Autor*innen Definitionen vorgeschlagen, die diese Probleme nicht aufwerfen. Auch deshalb haben Patzig und andere KantSpezialisten im Rahmen der Kant-Forschung und der Interpretation des Problems der Analytizität der hypothetischen Imperative vorgeschlagen, eine Definition einzuführen, die im Einklang mit der kantischen steht. Sie ist eine Verbesserung der Definition b) und lautet: Def. c) »analytisch [sind] alle Urteile, über deren Wahrheit allein aufgrund der Bedeutungsregeln der verwendeten Sprache und der Gesetze der Logik entschieden werden kann« (Patzig 1965, S. 244). 287 286 Vgl. auch R 3136: »Analytische Urteile beruhen alle auf der Identität«; KrV A 7/ B 10: »Analytische Urteile (die bejahende[n]) sind also diejenige, in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt durch Identität, diejenige aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, sollen synthetische Urteile heißen«; A 151/B 190. 287 Vgl. auch (Frege 1884, S. 4). Auch Seel führt in seiner Analyse des Analytizitäts-
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Daher stellt sich die Frage, nach welcher Definition der Analytizität sowohl der ZMS als auch die hypothetischen Imperative »analytisch« sind, wenn sie überhaupt unter eine dieser Definitionen fallen. Dabei muss man auch hier wieder darauf achten, dass diese Fragestellung nicht zum Anlass für den gewichtigen oben erwähnten Fehler wird, zu übersehen, dass Kant Urteile operationell interpretiert, d. h., nicht als sprachliche Dokumente, sondern als »Akte«, die Vorstellungen bzw. Begriffe verbinden. Es ist nicht Kants These, dass die Bedeutung des Wortes bzw. der Ausdrücke an der Subjekt-Stelle die Bedeutung der Ausdrücke an der Prädikatstelle semantisch implizieren. Es geht eigentlich um etwas anderes. Man sollte fragen, für welchen Akt Kant sich hier interessiert. Der Punkt Kants ist dann, dass der ZMS nichts anderes bedeutet als dass der »Akt« des Wollens eines Zwecks den des Wollens der Mittel einschließt. 288 Was soll das heißen? Gibt es nicht viele Fälle, in denen man sagt, dass man etwas will und trotzdem nicht die Mittel will? Zum Beispiel kann ich sagen bzw. denken, dass ich nicht Karies haben will und mir trotzdem die Zähne nicht regelmäßig putzen will, weil ich wenig Zeit habe oder weil ich in der Nacht zu müde dazu bin oder einfach, weil ich keine Lust dazu habe. Das menschliche Leben ist voll von solchen Fällen. Will Kant sagen, dass es solche Fälle einfach nicht gibt? Oder will er sagen, dass in solchen Fällen eigentlich die Rede von »Wollen« nicht begründet ist? Man kann die Antwort im Fall des ZMS anhand einer Analyse von Kants Argumentation zu finden versuchen. 289 Die Stelle, an der sich der Kern des Arguments befindet, lautet: »Wie ein Imperativ der Geschicklichkeit möglich sei, bedarf wohl keiner besonderen Erörterung. Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluss hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn [Herv. LP] in dem Wollen eines Objekts als meiner Wirkung wird schon meine Kausalität als handelnde problems in der GMS eine neue Definition ein, die in kantischen Texten nicht zu finden ist. Vgl. (Seel 1989, S. 159). 288 »Sätze können für Kant auf zwei verschiedene Weisen eine Willensbestimmung enthalten, d. i. Praktische Sätze sein: Entweder die zugehörige Bestimmung (Nötigung) leitet sich aus dem aktuellen Wollen des Adressaten selbst – ›analytisch‹ – ab, oder sie wird – ›synthetisch‹ – mit demselben als ›etwas, das in ihm nicht enthalten ist‹ verknüpft« (Ludwig 1999, S. 113). 289 Ich folge bei der Analyse dieser Stelle der Darstellung von Schönecker & Wood. Vgl. (Schönecker & Wood 2004, S. 115 f.).
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Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zwecke heraus« (GMS AA 04 417, 7–15). Das Wort »denn« kennzeichnet eindeutig, dass Kant hier die Begründung der Analytizitätsthese im Fall des ZMS einführt (Schönecker & Wodd 2004, S. 117). Kants Text nach ist in »dem Wollen« eines Objekts das »Wollen« der Mittel schon gedacht, wenn es der Vernunft gemäß handeln will. Deswegen fügt Kant die Klausel »sofern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat« hinzu, da sie verdeutlicht, dass der Satz »wer den Zweck will, will auch das Mittel« nur analytisch ist, wenn die Vernunft einen entscheidenden Einfluss hat, d. h. wenn die Vorstellung des Wollens ein Ziel hat und die Vorstellung des Wollens der unentbehrlichen Mittel einschließt. 290 Kant sieht, dass etwas zu »wollen« die Verbindung zwischen Handlung und Ziel einschließt, sodass ein Handelnder, wenn er etwas will und die unentbehrlichen Mittel zum Erreichen des Zwecks erkennt und rational ist, auch die Mittel vollziehen will. Wenn ich am Philosophischen Seminar pünktlich um 7.45 Uhr zum Beginn des Oberseminars anwesend sein will, und wenn ich weiß, dass ich dazu früher als 7.45 Uhr aufstehen muss, dann will ich auch früher als 7.45 Uhr aufstehen, sofern die Vernunft eine entscheidende Rolle in meinem Wollen spielt. Damit rechtfertigt Kant seine erste These, dass der ZMS analytisch ist, d. h., dass das rationale Wollen eines Zwecks schließt das Wollen der Mittel ein, die unentbehrlich zum Erreichen des Zwecks sind. Wer behauptet, dass er einen Zweck verfolgen, aber die Mittel dazu nicht einsetzen will und entsprechend handelt, der würde als unvernünftig Handelnder zu klassifizieren sein. Die zweite und die dritte These sind damit aber noch nicht gerechtfertigt. Die zweite These besagt, dass hypothetische Imperative, oder besser: die »Regeln der Geschicklichkeit« ebenfalls analytisch sind – also in diesem Fall Gebilde wie: »Wenn ich um 7.45 Uhr am Philosophischen Seminar sein will, muss ich früher als 7.45 Uhr aufstehen«, die eine Nötigung ausdrücken. Die dritte These besagt, dass diese Gebilde deswegen analytisch sind, weil der ZMS analytisch ist. Beide Thesen sind nicht leicht nachzuvollziehen. Hier taucht außerdem ein gewichtiges Problem auf, auf das eini290 Dies gilt, natürlich, so weit die Mittel in der Macht des Handelnden stehen (GMS AA 04 417, 10). Für eine gegenwärtige Diskussion dieses Punktes vgl. (von Wright 1971a, S. 101).
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ge Kant-Forscher*innen bereits hingewiesen haben. Die erste These sagt uns nur etwas über den ZMS. Der ZMS ist jedoch kein Imperativ, sondern ein assertorisches Urteil. 291 Es sagt uns etwas über die Form unseres Willens, aber es nötigt uns nicht. Mit dem ZMS sagt Kant, dass die Form des Wollens selbst einschließt, dass der, der x will, auch die notwendigen Mittel zu x will, also die notwendigen Bedingungen von x. Imperative drücken aber eine Nötigung aus, sodass sie immer die Möglichkeit einschließen, dass der, der x will, y nicht ausführt, obgleich er erkennt, dass y notwendige Bedingung für x ist. Es ist aber zu fragen: Warum muss man zu etwas noch genötigt werden, das man bereits will? Man kann sich dies jedoch erklären, wenn man die Struktur hypothetischer Imperative mit der Struktur der »praktischen Deliberation« oder der »praktischen Überlegung« vergleicht. Diese Struktur kann man wie folgt ausdrücken: P1: x will Z P2: x glaubt, dass F ein Fall von Z ist. K: Mache F! Oder P1: x will Z P3: x glaubt, dass F-Tun notwendige Bedingung für Z ist K: Mache F! P1, P2 und P3 sind also Gründe, F auszuführen. Das heißt, wenn ich vernünftig bin, werde ich ceteris paribus (nämlich angenommen, dass ich keine anderen Ziele habe, die mit diesem Ziel nicht verträglich sind usw.) genötigt, F zu tun. Ich werde genötigt, weil ich nicht nur vernünftig bin. Deswegen kann man sagen, dass das »Folgern« dieser Nötigung aus P1 und P2 oder P3 die Form eines hypothetischen Imperativs hat. Es scheint klar zu sein, dass es sich bei diesem »Folgern« nicht um eine »Schlussfolgerung« handelt. Denn es ist zumindest diskutabel, dass K aus P1 und P2 logisch folgt. 292 Wenn es aber wahr 291 Deswegen begeht Brinkmann einen Fehler, wenn er die Form der hypothetischen Imperative zu erklären versucht, indem er den ZMS formalisiert. Vgl. (Brinkmann 2003, S. 61 ff.). 292 Seit Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist kontrovers diskutiert worden, ob es möglich ist, aus Prämissen, zu denen Imperative gehören auf einen Imperativ als Konklusion zu schließen; gelegentlich auch, ob sich von vollständig nicht-
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ist, dass im Wollen des Ziels schon das Wollen der Mittel beinhaltet ist, wie Kants These lautet, dann besteht eine Analogie zwischen dem »Schließen« und dem Schritt von der Zusammensetzung des Wollens und des Erkennens der notwendigen Mittel zum Gebot, diese Mittel auszuführen. Der Kern der Analogie besteht darin, dass, während bei Schlüssen aus der Wahrheit der Prämissen ohne Weiteres die Konklusion folgt, der Akt des Wollens eines Ziels die Aufbietung der für das Erreichen des Ziels notwendigen Mittel beinhaltet, sofern sie in der Macht des Handelnden sind. In diesem Zusammenhang muss unterstrichen werden, dass für Kant Wollen nicht gleichbedeutend ist mit bloßem Wünschen. Zum einen bezieht sich Wollen nicht auf Sachverhalte rein als solche, sondern zielt auf solche Sachverhalte ab, die Ergebnis einer Handlung sein können: Die Handlung, die für das Erreichen eines Ziels notwendig ist, wird als Mittel zu diesem Ziel gedacht. Zum zweiten schließt Wollen, wie oben gesagt, »die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind« ein, und ist auch deshalb nicht mit bloßem Wünschen gleichbedeutend (GMS AA 04 394, 22–24). 293 Der Kern der erwähnten Analogie wird anhand der Struktur der praktischen Deliberation deutlich, die Kant leider nicht thematisiert hat, dafür aber andere Autor*innen. So hat Aristoteles behauptet, die praktische Deliberation sei eine Form des Syllogismus. 294 Ferner hat er vertreten, dass der Gegenstand der Deliberation (βούλευσις) in denjenigen Dingen bestehe, die zu den Zielen führen (τὰ πρὸς τὰ τέλη). 295 Sein Gedanke lautet, dass nicht über Beliebiges deliberiert imperativischen Prämissen auf Imperative schließen lässt. Für diese These haben Autor*innen wie Hare, Geach und Castañeda argumentiert; vgl (Hare 1952, S. 1–55), (Geach 1958), (Castañeda 1960), gegen sie (Willams 1963) und (Ross 1944). Eine Analyse dieses Problems würde eine eigenständige Untersuchung erfordern, die ich hier nicht leisten kann. Dies ist aber auch nicht nötig, weil ich mich nicht darauf festlegen möchte, Kant hätte mit seiner Analytizitätsthese für die Möglichkeit von »Imperativschlüssen« argumentieren wollen. 293 Auf diesen Unterschied zwischen »Wollen« und andere Gestalten des Begehrens haben viele andere Autor*innen vor und nach Kant aufmerksam gemacht. Bei Aristoteles kann man z. B. das Unmöglichen wünschen, aber dies kann kein Gegenstand der »Entscheidung« (προαίρεσις) sein. Man kann sich die Unsterblichkeit wünschen, aber man würde jemanden für dumm halten, der sich dies vornimmt. Das Wünschen kann als Gegenstand ein Sachverhalten haben, das nicht von einer Handlung des Wünschenden abhängig ist, anders als die Entscheidung usw. Vgl. EN III 1111b20–26. 294 Vgl. De memoria II 453a14: καὶ γὰρ τὸ βουλεύεσθαι συλλογισμός τίς ἐστιν. 295 Vgl EN III 5 1112b11–12: βουλευόμεθα δ’ οὐ περὶ τῶν τελῶν ἀλλὰ περὶ τῶν πρὸς τὰ τέλη. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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werden kann, sondern bestimmte Ziele vorausgesetzt werden müssen, die gegeben sind: Der Redner überlege nicht, ob er überzeugen will, und der Arzt überlege nicht, ob er heilen will (EN III 5 1112b12–13). Der Arzt überlege aber z. B., ob er diesen Patient mit diesem Medikament behandeln will oder ob er den Patienten operieren will. Will er den Patienten operieren, dann will er auch die Handlungen vollziehen, die Mittel zum diesem Zweck sind, nämlich die notwendigen Untersuchungen durchzuführen usw. Wenn der Arzt überlegt, ob er den Patienten operieren will, tut er in der Regel nichts anderes als dies: Er fragt sich, welches die Handlungen sind, die für die Operation notwendig sind, welches die mit ihr verbundenen Risiken sind, die er notwendigerweise in Kauf nehmen muss usw. Solche Deliberationen schließen in der Regel auch andere gegebene Ziele ein sowie die notwendigen Bedingungen des Erreichens dieser Ziele. Wichtig ist hier Folgendes: Der praktisch Deliberierende denkt darüber nach, was seine Entscheidung einschließt. Indem Kant die Imperative »analytisch« nennt, will er auf diese Analogie aufmerksam machen, die zwischen der praktischen Überlegung und dem Schließen besteht. Nun kann man sich fragen, warum bei Kant die praktische »Konklusion« ein Gebot ist. Die Antwort lautet: weil der Deliberierende in diesem Fall weiß, dass er auch anders handeln kann. Denn Menschen tun nicht immer das, was sie als vernünftig ansehen. So lange die Konklusion ein Gebot ist, ist sie dann noch keine Handlung. Und das heißt, es bleibt offen, ob der Handelnde gemäß seiner Konklusion handelt. Dies scheint mir die beste Interpretation von Kants »Analytizitätsthese« zu sein. Da die Frage nach der Möglichkeit mit der Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Geltungsansprüchen zusammenhängt, bin ich der Meinung, dass seine Analytizitätsthese nicht eine These über die Semantik der »analytischen« Urteile ist, d. h. eine These, die versucht, die mutmaßliche analytische Struktur dieser Urteile aus logischen Regeln zu erschließen. Die gegenwärtige KantForschung hat diese Interpretation ohne Erfolg fruchtbar zu machen versucht (Vgl. z. B. Seel 1989). Kants Gedanke ist m. E. vielmehr, dass unsere Vorstellung von vernünftigem Wollen unverständlich wäre, wenn wir nicht annehmen, dass eine Zwecksetzung das Wollen der Mittel mit sich bringt, sodass die Zwecksetzung einen Anspruch auf die Notwendigkeit der Mittel erhebt, die wir als endliche vernünftige Wesen als Nötigung erfahren. Ein solcher Anspruch ist schon durch die Form des Wollens selbst gerechtfertigt. Indem wir erklären, was 178
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es heißt, dass jemand etwas will, berufen wir uns auf Strukturen wie das oben erwähnte syllogistische Gebilde. Ich habe bisher zu erklären versucht, wie man Kants These der Analytizität der hypothetischen Imperative, oder besser gesagt: der Regeln der Geschicklichkeit, mit Hilfe der Struktur der praktischen Überlegung erklären kann. Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass Kant die Form des Willens als »praktische Vernunft« mit Bezug auf eine klassische Analogie zu den logischen Schlüssen zu klären versucht. Dazu werde ich die klassische Charakterisierung des Willens als »praktische Vernunft« untersuchen. Diese Charakterisierung ist entscheidend nicht nur für das richtige Verständnis der Handlungskonzeption Kants, sondern auch für die Interpretation der GMS. Sie wird entsprechend häufig erwähnt, aber selten gründlich analysiert.
§ 8 Wille als praktische Vernunft 296 Der Begriff des Willens ist, wie man im Hinblick auf die gerade vollzogene Untersuchung der Analytizität der hypothetischen Imperative bestätigen kann, von außerordentlicher Wichtigkeit für die praktische Philosophie Kants. Der Wille ist, so Kants These, nichts anderes als praktische Vernunft. Diese These, die Kant in der GMS einführt, muss uns Aufschluss über die Handlungstheorie Kants geben und über die Rolle, die die praktischen Urteile in dieser Philosophie spielen. Auf den folgenden Seiten analysiere ich die Stelle, an der Kant diese Charakterisierung des Willens als praktische Vernunft einführt. Bevor ich die Stelle analysiere, an der Kant den Begriff des Willens behandelt, will ich den Kontext der Passage darstellen. In diesem Zusammenhang werde ich mich auf zwei Punkte konzentrieren: 1.) auf den Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur einer Metaphysik der Sitten und 2.) auf die Charakterisierung des Willens als »praktische Vernunft«.
296 Die Argumentation dieses Paragraphen habe ich bereits in einer kürzeren Version (Placencia 2011) vorgestellt.
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8.a) Der Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zu einer Metaphysik der Sitten Dem zweiten Teil der GMS, in dem sich die Analyse des hypothetischen Imperativs findet, kommt die Aufgabe zu, den von Kant sogenannten »Übergang von einer populären sittlichen Weltweisheit zur einer Metaphysik der Sitten« zu vollziehen. 297 Die Idee Kants ist, zuerst zu zeigen, dass der im ersten Teil des Textes schon eingeführte Begriff der Pflicht (vgl. GMS AA 04 400, 17–19) und dann derjenige der Moralität nicht erklärbar sind, wenn man davon ausgeht, dass diese Begriffe in der Moral als Erfahrungsbegriffe gehandelt werden müssten. 298 Sobald Kant dies gezeigt hat, versucht er, das Prinzip der Moralität darzustellen, was das wesentliche Ziel der GMS ist (GMS AA 04 392, 3–5). Das Ziel des Arguments ist daher, zuvor zu erklären, warum man in der Moral den Begriff der Pflicht und den der moralischen Ideen als nicht-empirisch betrachten muss. Wenn dies erfolgt ist, hat man die Tür zur populären Philosophie definitiv zugeschlagen. Daher hat Kant, wenn er beweist, dass eine der zentralen methodischen Voraussetzungen der populären Moralphilosophie nicht erfüllbar ist, freien Raum für seinen neuen methodischen Ausgangspunkt. Mit diesem Schritt versucht Kant zu belegen, dass es nötig ist, eine neue methodische Perspektive zu gewinnen, nämlich die Perspektive der Metaphysik der Sitten, d. h. einer nicht-empirischen Untersuchung, die unabdingbar ist, wenn man den Begriff der Moral als sinnvoll betrachten will. Das Argument Kants hat m. E. die Struktur eines Modus tollens. Die sowohl von Kant als auch von den Popularphilosoph*innen zunächst akzeptierte Hypothese im Rahmen dieses Arguments lautet:
297 Wie schon Schönecker & Wood angedeutet haben, ist hier zu beachten, dass der Ausdruck »Metaphysik der Sitten« nicht dasselbe wie im Titel des Werkes von 1797 bedeutet. Vgl. (Schönecker & Wood 2004, S. 10–11). 298 Ziel dieser Sektion des Textes ist es, nicht zu zeigen, dass Kants Argument von einem »Nullpunkt« aus erfolgt. Das Argument hat viele Voraussetzungen, die teilweise schon im ersten Teil des Werkes verteidigt werden. Unabhängig von der Tatsache, dass ich nicht sicher bin, ob es möglich ist, Argumente von einem »Nullpunkt« aus ohne Voraussetzungen geltend zu machen, möchte ich hier nur zeigen, dass Kants Charakterisierung des Willens als »praktische Vernunft« nicht vollständig zu verstehen ist, wenn man dieses frühere Argument nicht begreift. Dazu versuche ich die Struktur der Argumentation zu rekonstruieren, damit klar wird, worauf Kant mit diesem Argument hinaus will und auch, welches die Voraussetzungen desselben sind.
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H: »Die Moral ist kein Hirngespinst.« Die folgenden Prämissen werden hinzugefügt: P1: »Die Begriffe der Moral können nur aus der Erfahrung gezogen werden« (GMS AA 04 407, 20–23). 299 P2: Es gibt eine epistemische Asymmetrie zwischen unserer Erkenntnis der moralischen Motive unseres Handelns und der nicht-moralischen Triebfedern unseres Handelns (GMS AA 04 407, 1–17). Im Gegensatz zu H und P1 soll der Popularphilosoph P2 nicht zwingend zustimmen. Daher ist P2 in diesem Kontext erklärungsbedürftig. Diese Erklärungsbedürftigkeit liegt auch darin, dass Kant kein direktes Argument für P2 im Text der GMS gibt. Um den Text zu verstehen, in dem diese These sich findet (GMS AA 04 407, 1–17), ist es von Belang, zu erfassen, was er nicht besagt. Der Text scheint das Folgende anzudeuten: Während wir unsere moralischen Motive nicht gewiss erkennen können, sind unsere nicht-moralischen Triebfedern gewiss erkennbar. Aber obwohl Kant das erste explizit behauptet (GMS AA 04 407, 1–5), 300 behauptet er das zweite nicht. Hingegen ist es hoch wahrscheinlich, dass Kant der Meinung war, dass wir weder unsere moralischen Motive noch unsere nicht-moralischen Antriebe gewiss erkennen können. 301 Die Frage lautet jetzt: Warum handelt es sich bei P2 um eine These über die »Asymmetrie« zwischen moralischen und nicht-moralischen Motiven, und nicht einfach um eine These über die »Opazität« der beiden? Obwohl die Rede von »Opazität« in diesem Zusammenhang auch aufgrund der schon erwähnten Tatsache berechtigt ist, dass sowohl die moralischen als auch die nicht-moralischen Triebfedern nicht gewiss erkennbar sind, liegt der Kern der kantischen Argumentation anderswo, nämlich in der »epistemischen« Asymmetrie zwischen diesen Motiven bzw. TriebDiese Prämisse fügt Kant hinzu, weil sie eine Voraussetzung der »populären Philosophie« ist. Trotzdem ist sie, wie gesagt, die These, die Kant angreifen will. 300 »In der Tat ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht« (GMS AA 04 407, 1–5). 301 Das haben schon (Horn, Mieth & Scarano 2007) angedeutet. Vgl. (Horn, Mieth & Scarano 2007, S. 197–198). 299
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federn. Worin besteht diese Asymmetrie dann? Es liegt auf der Hand, dass wir die Untersuchung unserer Handlungsmotive mit introspektiven Mitteln vollbringen. Nach einer mutmaßlich edlen Handlung frage ich mich, ob ich sie aus Pflicht, nämlich aus Achtung fürs Gesetz vollzogen habe oder aus anderen Gründen. In dieser »Selbstprüfung« finde ich die Gründe, die mich vermutlich zur Handlung bewegt haben. Diese Gründe kann ich nur empirisch erkennen. Sogar die Bestimmung des Willens durch das Gesetz kann ich nur, so Kant, durch ein Gefühl erkennen, nämlich durch die Achtung. 302 Daher sind nur empirische Elemente in dieser »Selbstprüfung« zu finden, die demzufolge keinen Aufschluss darüber gibt, ob eine Handlung aus Pflicht vollzogen worden ist. Anders gesagt: Nur unsere Gefühle, Neigungen oder Triebfedern können uns gegeben sein. Aber unsere moralischen Motivationen gehören nicht zu dieser Ebene (GMS AA 04 407, 15–17). Wir können urteilen und einsehen, dass eine Handlung gut ist. Wir können jedoch nicht wissen, wie diese Erkenntnis in Handlungen umgesetzt werden kann. 303 Prämisse P2 fußt somit auf der folgenden These: P2.1: Wir können nicht gewiss wissen, ob eine Handlung aus Pflicht vollzogen worden ist (GMS AA 04 407). Kant fügt die nachstehende Prämisse hinzu: P3: Wir kennen durch Erfahrung nicht einmal eine einzige Handlung, von der wir gewiss wissen, dass sie aus Pflicht vollbracht wurde.
302 De facto haben wir, so Kant, nicht die Fähigkeit, sicher zu sein, dass das von uns gefühlte Gefühl tatsächlich Achtung ist. Die Achtung hat außerdem in der Philosophie Kants nicht die Funktion, eine empirische Analyse unserer Gefühle zu vollziehen, um zu wissen, welche von moralischer Natur sind, sondern sie muss nur erklären, »auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde« und »was … sie im Gemüte wirkt« (AA 05 72, 17–21). 303 Entsprechend behauptet Kant: »Wenn ich durch Verstand urteile, dass die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, dass ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe. Bewegt mich aber dieses Urteil, die Handlung zu tun, so ist das moralisches Gefühl; das kann und wird auch keiner einsehen, dass der Verstand sollte eine bewegende Kraft zu urteilen haben. Urteilen kann der Verstand freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und dass es eine Triebfeder werde, den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen«. Menzer Vorlesung, 54.
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Da die moralischen Begriffe lediglich aus Erfahrung gezogen werden müssen (P1) und da die Erfahrung kein Beispiel für eine moralische Handlung abgibt (P3), und da wir nicht gewiss wissen können, ob eine Handlung aus Pflicht vollzogen worden ist (P2.1), folgt: P4: Es gibt keine Quelle, aus der die moralischen Begriffe bezogen werden können. Dann lautet die Konklusion: K: Die Moral ist ein Hirngespinst. Dies steht jedoch im Widerspruch zur These P1, die der Popularphilosoph und Kant anfangs akzeptiert haben. Deshalb haben einige, so Kant, behauptet, alle unsere Handlungen würden nach dem Prinzip der Selbstliebe vollzogen (GMS AA 04 406, 15 und ff.). Dagegen gibt es jedoch ein wichtiges und schlagkräftiges Argument. Kant ist der Auffassung, dass derjenige, der denkt, dass moralische Begriffe aus der Erfahrung gezogen werden können, einen methodischen Fehler begangen hat. Das Argument Kants nimmt demnach die folgende Gestalt an: (P1 ^ P2.1 ^ P3) ! P4 P4 ! : H H : P4 : (P1 ^ P2.1 ^ P3). Daraus schließt Kant auf die Notwendigkeit, einen anderen Versuch zu machen, um die Grundlagen der Moralität dazustellen. Dieser Versuch soll den methodischen Fehler der vorausgegangenen Moralphilosophien vermeiden und korrigieren, dessen Bedeutsamkeit man mit einem geflügelten Wort von Aristoteles bzw. Thomas von Aquin zusammenfassen kann: »Ein kleiner Irrtum am Anfang ist am Ende ein großer«. Doch welcher Fehler ist dies? Wenn man sich noch einmal die Struktur von Kants Argument ansieht, bemerkt man, dass die Konklusion : (P1 ^ P2.1 ^ P3) äquivalent ist mit (: P1 v : P2.1 v : P3). Da Kant für die Thesen P2.1 und P3 argumentiert hat, bleibt die Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Falschheit von P1 als einzige Möglichkeit. Das stimmt genau mit der kantischen Position überein: Er glaubt konstatieren zu müssen, dass die vorangegangenen Philosoph*innen den Geltungsanspruch moralischer Urteile nicht beachtet haben. Der Kernpunkt von Kants Gegenargument liegt also darin, dass »jedermann eingestehen [muss], dass ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse« (GMS AA 04 389, 13–14). Die Gesetze der Moral sind mithin so beschaffen, dass sie »nicht etwa bloß für Menschen gelte[n]« (GMS AA 04 389, 12–15; AA 04 408, 13–20). 304 Solche Notwendigkeit ist jedoch durch Erfahrung nicht begründbar. Deswegen gelten moralische Prinzipien kategorisch, was in der kantischen moralphilosophischen Terminologie »ohne Bedingung« bedeutet: 305 Sie sind absolut notwendig. 306 Die Rechtfertigung eines Anspruchs auf kategorische Geltung erfolgt nur mittels einer Metaphysik der Sitten, d. h. einer nicht-empirischen Untersuchung der Prinzipien a priori der Moral. Die erste Aufgabe dieser Metaphysik besteht darin, so Kant, »das praktische Vernunftvermögen« darzustellen (GMS AA 04 412, 23– 24). Da die Idee eines notwendigen und kategorischen Geltungsanspruchs der Moralgebote mit sich bringt, dass diese Gebote nicht bloß für Menschen gelten, sondern für jedes vernünftige Wesen gültig sind, ist es von Belang zu betonen, dass die philosophische Begründung der Moralphilosophie Kants sich nicht bloß auf Menschen beschränkt. Deshalb ist es Kants Aufgabe, eine Darstellung des praktischen Vernunftvermögens überhaupt zu liefern, d. h. eine Darstellung, die aus methodischen Gründen alle vernünftigen Wesen betrifft. In dieser Darstellung nimmt Kant praktische Rationalität in einem weiten Sinne unter die Lupe. Später wird er die unterschied304 Diese Idee ist außerordentlich wichtig für die Moralphilosophie Kants und er wiederholt sie folglich immer wieder. Vgl. Kaehler Moral S. 4, 23–25; Moralphilosophie Collins AA 27 244, 3–5; Moral Mrongovius AA 27 1397, 34–36: »Wir erwägen also hier ein Wesen, was freie Willkür hat, welches nicht nur ein Mensch, sondern auch ein jedes vernünftiges Wesen sein kann«. Kant lässt damit die Möglichkeit offen, dass es andere vernünftige Wesen gibt. Für diese würden die moralischen Gesetze ebenfalls gelten. Vgl. KpV AA 05 36, 24 »Das moralische Gesetz wird aber nur darum als objektiv notwendig gedacht, weil es für jedermann gelten soll, der Vernunft und Willen hat.«. 305 Vgl. (Schönecker & Wood 2004 S. 24). Auch GMS 04 424, 20; 432, 16. 306 Es ist aber zu beachten, dass Kant auch nicht-moralische Regeln als »notwendig« bestimmt (z. B. GMS AA 04 414, 24).
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lichen Gestalten behandeln, die die praktische Vernunft annehmen kann. Diese umfassen nicht nur die reine praktische Vernunft, sondern auch die pathologisch affizierte Vernunft. Der erste Schritt dieser Darstellung, die im weiteren Verlauf zu einer Erklärung des Begriffs des Imperativs führt, 307 ist die vorläufige Bestimmung des Willens als »praktische Vernunft«. Diesen Schritt vollzieht Kant in der folgenden Passage: »Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft« (GMS AA 04 412, 26–31). 308 Da es im Text der GMS viele Thesen gibt, die erklärungsbedürftig sind 309, und diese Passage eine große Tragweite für die Deutung der nachfolgenden Thesen besitzt, tut man gut daran, eine Mikroanalyse der Passage durchzuführen, wobei man u. a. ihre Sub-Thesen klar identifizieren sollte. Der Text beinhaltet m. E. mindestens drei Sub-Thesen, mit denen Kant zu zeigen versucht, dass der Wille »nichts anderes als praktische Vernunft« ist. Diese drei Thesen entsprechen den drei Sätzen, die der Charakterisierung des Willens als praktische Vernunft vorangehen, nämlich:
Diese Darstellung wird oben analysiert. Vgl. S. 136 ff. Hervorhebungen Kants. 309 Diese Erklärungsbedürftigkeit spiegelt sich in den zahlreichen Artikeln und Kommentaren, die diesen Text einer Betrachtung unterzogen haben. Das ist besonders seit der Veröffentlichung von Laberge (Laberge 1989) so, nach der viele andere Autor*innen den zitierten Text Kants ausführlich kommentiert haben (vgl. u. a. [Willaschek 1992], [Willaschek 2006], [Timmermann 2003a]), was auch damit zusammenhängt, dass die Stelle äußerst relevant für die Interpretation der praktischen Philosophie Kants ist. Das haben schon u. a. (Wilaschek 1992, S. 82) und (Timmermann 2003a, S. 66) angedeutet. Man sollte jedoch die Bedeutsamkeit dieser Passage auch nicht überschätzen. Offenkundig falsch ist m. E. die These Bittners, nach der die drei erwähnten Sätze der GMS die Theorie des Handelns von Kant in drei Thesen fassen würden. Vgl. (Bittner 1986, S. 13). Dass diese These übertrieben ist, kann man aus der Tatsache ersehen, dass Kant in dieser Stelle nichts über jene vielen Themen sagt, die von außerordentlicher Relevanz für seine Handlungstheorie sind, z. B. die Zurechnungstheorie, der Unterschied zwischen Maximen und Imperativen, Kants Motivationstheorie usw. 307 308
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T1) »Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen«. T2) »Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. h. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen«. T3) »zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen [wird] Vernunft erfordert«. Im Folgenden versuche ich, jede dieser Thesen zu durchleuchten.
8.b) Kants Charakterisierung des Willens als praktische Vernunft T1: »Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen« Die Interpretation dieser These scheint einfach zu sein. Da Kant vom Beginn der GMS an den Unterschied zwischen Gesetzen der Natur und Gesetzen der Freiheit in Betracht gezogen hat, könnte man dazu neigen, (T1) im Zusammenhang mit (T2) so zu interpretieren, dass die beiden Sätze zwei Gesetzesarten einander gegenüberstellen, nämlich »Naturgesetze«, nach denen die Dinge der Natur wirken, und Gesetze der Freiheit, nach denen vernünftige Wesen handeln. 310 Darüber hinaus lässt sich eine linguistische Beobachtung machen, die für eine solche Gegenüberstellung zu sprechen scheint, nämlich der Gebrauch der Verben »wirken« und »handeln«. Da diese Verben, wie oben gesehen, im Deutschen unterschiedliche Anwendungsbereiche haben (das Wort »wirken« bezeichnet das Verhalten der Natur, während »handeln« nur auf menschliches Verhalten anwendbar ist), ist es reizvoll, die These zu verteidigen, Kant beabsichtige mit diesen Wörtern eine Gegenüberstellung zweier Gesetzarten oder -bereiche. Es gibt jedoch auch Indizien, die dagegen sprechen, dass Kant eine Unterscheidung zwischen »handeln« und »wirken« getroffen hat. So hat z. B. V. Gerhardt bereits gezeigt, dass Kant zumindest in den vorkritischen Schriften und auch in der KrV das Wort »Handlung« als Übersetzung des lateinischen Wortes »actio« gebraucht hat, übrigens im Rahmen der Naturphilosophie oder der Analyse der Kausalität in der Natur, weshalb das Wort nicht nur »Handlung« bedeute, sondern auch »Naturwirkungen«. 311 Obwohl die Belege Gerhardts wenig über Vgl oben S. 75–77. Vgl. (Gerhardt 1986). Wie oben gesehen, ist diese These Gerhardts von vielen anderen Autor*innen aufgegriffen worden, die den Begriff »Handlung« in der Phi310 311
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den Gebrauch des Wortes in Kants praktischer Philosophie besagen, gibt es andere Stellen, die die These stützen, dass Kant keine Unterscheidung zwischen »wirken« und »handeln« vor Augen hatte, weder in der praktischen Philosophie noch an der hier thematischen Stelle. Deswegen meint die Mehrheit der Kant-Forscher*innen, die sich mit dem Passus beschäftigt haben, er lasse sich ohne Bezug auf den Unterschied zwischen zwei unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter »Handlung« und »Wirkung« auslegen. 312 Wenn dies richtig ist, würde das bedeuten, dass Kant menschliche Handlungen als einen besonderen Fall der kausalen Wirkung von Substanzen verstanden hat. Menschliche Handlungen wären also nicht mehr als »Wirkungen«, die ganz bestimmte Substanzen, nämlich Menschen, verursachen. Diese von der Mehrheit der Autor*innen vertretene Interpretation des Handlungsbegriffs bei Kant teile ich jedoch nicht. Obwohl es richtig ist, dass Kant das Wort »Handlung« an vielen Stellen als Übersetzung von actio verwendet, sodass menschliche Handlungen und Wirkungen von Substanzen in bestimmten Kontexten nivelliert werden, ist es auch richtig, dass Kant in der praktischen Philosophie das Handeln als ein Phänomen verstanden hat, das mit der Sphäre der menschlichen Spontaneität zusammenhängt, die nicht notwendigerweise mit dem Begriff der Wirkung verbunden ist. Obwohl menschliche Handlungen teilweise vom Standpunkt der Kausalität analysierbar sind, gibt es auch Aspekte des Handelns, die von diesem Standpunkt nicht analysiert werden können. Handlungen werden z. B. immer in einem Netz von Einstellungen wie Absichten, Plänen usw. vollzogen. Deswegen sagt Kant, dass jede Handlung nach Maximen vollzogen wird. 313 Obwohl es Autor*innen gibt, die diese These verneinen, gibt es m. E. gute Gründe, sie zu verteidigen. Gegen diese Interpretation Kants hat z. B. M. Albrecht argumentiert. Er behauptet, dass man Kant zufolge nicht immer nach Maximen handelt, sondern losophie Kants als eine Übersetzung des lateinischen Wortes actio auffassen. Vgl. (Willaschek 1992), (Innerarity 1995, S. 25 ff.), (McCarty 2009, S. 2 ff.), (Torralba 2009, S 96 ff.). Gerhardt gibt viele Belege für seine These an, besonders aus den vorkritischen Schriften und auch den theoretischen Schriften (vgl. z. B. A 205/B 250; AA 28 571). Lange bevor er diese Interpretation Kants verteidigt hat, hat Heidegger, wie oben erwähnt, in seinen Vorlesungen über das Wesen der menschlichen Freiheit die kantische Interpretation der Freiheit als Ursache kritisiert und in diesem Zusammenhang auch die kantische Interpretation der Handlung. Vgl. GA 31 SS. 196 ff. Eine Analyse dieser Kritik Heideggers kann man in (Vigo 2010) finden. 312 Dies ist z. B. die Meinung von (Bittner 1986, S. 13) und (Willaschek 1992, S. 83). 313 Siehe unten Kap. 4. Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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»man sich Maximen machen« solle. Anders gesagt sei es der kantischen Meinung nach Pflicht, sich Maximen zu machen; was Albrecht zufolge impliziert, dass nicht jeder Handelnde nach Maximen handelt (Albrecht 1994, S. 130 Fn. und S. 131). Andere Kantforscher*innen sind der Meinung, dass, obwohl Kant die These verteidigt habe, dass wir immer nach Maximen handeln, er in diesem Punkt geirrt habe und seine These insofern »empirisch falsch« sei (Köhl 1990, S. 60). Gegen die Deutung Albrechts sprechen m. E. mindestens zwei gute Gründe. Der erste hat mit den Textbelegen zu tun. Obwohl Kant in früheren Texten, wie z. B. der Praktischen Philosophie Powalski, sagt, es gebe Handlungen, die nicht nach Maximen ausgeführt werden, behauptet er in späteren Texten explizit, dass jede Handlung nach Maximen vollzogen wird. Deswegen sagt Kant schon in den Texten der sogenannten »Menzer-Gruppe«, dass Maximen Grundsätze sind, nach denen man wirklich handelt (vgl. Philosophia practica Marburg AA 27 1224; Moral Kaehler 66, 13–14; Moralphilosophie Collins AA 27 263, 29–30; Moral Mrongovius II AA 29 602, 38–39). Später sagt er darüber hinaus, dass der Mensch immer nach Maximen handelt (vgl. Metaphysik Dohna AA 28 678, 26). Diese textuellen Belege sind nicht die einzigen für die These, dass, Kants Meinung nach, jede Handlung nach einer Maxime geschieht. Es gibt noch einen zweiten Grund. Auf diesen haben S. Kerstein und R. Bittner aufmerksam gemacht. S. Kerstein hat m. E. überzeugend argumentiert, dass der kategorische Imperativ ein Test ist, der auf Maximen angewendet wird und dass, wenn es möglich wäre, ohne Maximen zu handeln, auch Handlungen denkbar wären, auf die wir den kategorischen Imperativ nicht anwenden könnten. Der kategorische Imperativ ist aber, so Kant, der Kanon der moralischen Beurteilung aller Handlungen (vgl. GMS AA 04 428, 5–7), was unmöglich wäre, wenn es Handlungen gäbe, die wir nicht nach Maximen vollziehen. 314 Obwohl nun jede in Raum und Zeit befindliche Entität wirken kann, kann nicht jede nach Maximen handeln. Die Maxime, nach der man handelt, bezieht sich, wie ich im nächsten Kapitel zu zeigen vorhabe, auf andere Maximen, sodass sie einen Bezug zum praktischen Leben des Handelnden hat. 315 314 Vgl. (Kerstein 2002, S. 17–18) auch (McCarty 2009, S. 3). R. Bittner hat ähnlich argumentiert (Bittner 2005, S. 54). Gegen die Interpretation Albrechts siehe auch (Schwartz 2006, S. 37–39). 315 Dieser Aspekt wird ausführlicher im folgenden Kapitel analysiert.
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Was ist dann der Sinn der These (T1)? Da sie m. E. mit T2 zusammenhängt, 316 ist es nicht möglich, hier schon eine vollständige Interpretation abzugeben. Vorläufig kann man die These so auslegen, dass sie die Art und Weise kennzeichnet, in der Naturdinge erzeugt werden, was heißen soll: Sie werden so erzeugt, dass diese Erzeugung mit gesetzesartigen Sätzen beschrieben werden kann. 317 Kants These scheint dann die folgende zu sein: Nach Gesetzen zu wirken, bedeutet vor allem das Hervorbringen einer Wirkung, und zwar so, dass dieses Hervorbringen stets als konkreter Fall erfasst werden kann, der unter ein allgemeines Prinzip fällt. 318 Dies ist es, was Naturdinge ausmacht. Die Frage ist dann: Beabsichtigt Kant an der fraglichen Stelle eine Kontrastierung von Naturgesetzen mit Gesetzen der Freiheit? Und wenn ja, worin liegt sie? Meine These ist, dass eine Kontrastierung vorliegt, die man nur verstehen kann, wenn man davon ausgeht, dass Kant eine Unterscheidung zwischen »Handlungen« und »Wirkungen« vorgenommen hat. T2: »Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen«: Das Verständnis der mutmaßlichen Gegenüberstellung des Wirkens nach Gesetzen und des Handelns nach der Vorstellung der Gesetze hängt mit der Bestimmung des Willensbegriffs zusammen, die Kant in T2 vollzieht. Nach wie vor scheint hier ein formaler und quasivisueller Aspekt von Belang zu sein. Da Kant im ersten Teil des zweiten Satzes den Ausdruck »nach der Vorstellung« hervorhebt, ist prima facie zu vermuten, dass er auf eine Gegenüberstellung des Wirkens nach und des Handelns nach der Vorstellung abzielt. Im Brennpunkt der Gegenüberstellung der ersten beiden Sätze stünden, 316 Dieser Zusammenhang wird vor allem durch den Ausdruck »Gesetz« hergestellt. Dieser Ausdruck bringt einen Notwendigkeitsfaktor und einen Universalitätsfaktor mit sich. Jedes Gesetz muss zumindest in gewissem Sinne notwendig und allgemein sein. Allerdings gibt es Fälle, in denen Kant bestimmte allgemeine Grundsätze als »Gesetze« bezeichnet, die aber den erwähnten Notwendigkeitsfaktor nicht mit sich bringen. Vgl unten S. 195 Fn. 332. 317 Ich folge hier der Formulierung von (Bittner 1986, S. 14). Eine ähnliche Deutung ist in (Willaschek 1992) und (Willaschek 2006) zu finden. 318 Es handelt sich demnach bei T1 um eine sehr lockere Formulierung des Kausalgesetzes. Die Beziehung zwischen T1 und dem Kausalgesetz hat schon (Willaschek 2006, S. 124) hergestellt.
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so diese Deutung, nicht die Gesetze, sondern der Bezug zu den Dingen der Natur und der Bezug der vernünftigen Wesen auf diese Gesetze. Dies ist unter den Kant-Spezialisten jedoch strittig, die sich nicht einig sind über die Bedeutung des Wortes »Gesetz« in T2. Es gibt meines Wissens mindestens sechs Deutungen des Wortes »Gesetz« in diesem Satz. Die Interpretationsmöglichkeiten sind die folgenden: A) B) C) D) E) F)
moralische Gesetze Naturgesetze Imperative Maximen Objektive Prinzipien Objektive Prinzipien und/oder subjektive Prinzipien
Im Folgenden versuche ich, die Beweggründe dieser Deutungen zu erklären und ihre Vor- und Nachteile aufzuzeigen. 319 Ich werde später Deutung F verteidigen. A) »moralische Gesetze« 320: Diese Interpretation beruht auf der Deutung, der zufolge Kant an dieser Stelle eine Kontrastierung von (T2) und (T1) im Sinn hat. Daraus ist zu schließen, so diese Deutung, dass Kant mit (T2) die Freiheit der vernünftigen Wesen zu betonen versucht, die im Gegensatz zu Tieren oder Dingen der Natur freie Wesen sind, nämlich Wesen, die nach der Vorstellung des moralischen Gesetzes handeln. Für diese Deutung spricht, dass Kant, wie oben gesagt, mehrmals darauf hingewiesen hat, dass sich die Untersuchung der Metaphysik der Sitten nicht mit Gesetzen der Natur beschäftigt, sondern mit Gesetzen der Freiheit, also Gesetzen, die nicht dem entsprechen, was geschieht, sondern dem, was geschehen soll (cf. GMS
319 Ich folge hier in gewisser Weise der klassischen Darstellung des Themas, die Laberge zur Verfügung gestellt hat. Ich distanziere mich dennoch von ihm in einigen Aspekten, z. B. in der Analyse der vierten Möglichkeit nach meiner Darstellung (der Möglichkeit D) und in der Hinzufügung der fünften Deutungsmöglichkeit. Ich teile fast völlig die Interpretation Laberges, nach der die Bedeutung des Wortes »Gesetz« in dieser Stelle F ist. Meiner Meinung nach ist es erstaunlich, dass nur Laberge diese Interpretation verteidigt. 320 Diese Auslegung ist von A. Duncan verteidigt worden. Vgl. (Duncan 1953, S. 103).
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AA 04 408, 1–3; AA 04 387, 14–15; AA 04 387, 25; AA 04 388, 1). Ebenfalls zugunsten dieser Deutung ist zu bemerken, dass Kant den Ausdruck »Vorstellung des Gesetzes« normalerweise dann verwendet, wenn er die Vorstellung des moralischen Gesetzes bezeichnen will (vgl. z. B. GMS AA 04 410, 26–27; KpV AA 05 267, 5–6; Vorarbeiten zur Rechtslehre AA 23 268, 28; Vorarbeiten zur Tugendlehre AA 23 393; MS AA 06 380, 2, etc.). Diese Auslegung wirft dennoch mindestens drei Probleme auf: G a.1) Kant verwendet zur Bezeichnung des moralischen Gesetzes normalerweise die Singularform, um die Singularität des moralischen Prinzips zu betonen. Im Satz T2 benutzt er aber die Pluralform »Gesetze«, – dies ist jedoch ein schwacher Einwand. Kant selbst verwendet auch die Pluralform gelegentlich, um das Moralgesetz zu bezeichnen, vgl. GMS AA 04 389, 11; 389, 24; 412, 2. G a.2). Deutung A passt nicht zum Kontext. Da Kants Idee darin zu bestehen scheint, einen Übergang vom Begriff eines vernünftigen Wesens und der Charakterisierung des praktischen Vermögens eines vernünftigen Wesens überhaupt zum moralischen Gesetz 321 zu vollziehen und Imperative nur endliche vernünftige Wesen betreffen (Vgl. GMS AA 04 414, 1–12), ist diese Interpretation restriktiver als nötig. G a.3) Wenn Kant eine Unterscheidung zwischen vernünftigen und anderen Wesen mit Hilfe des Begriffs des moralischen Gesetzes treffen würde, wäre die Ableitung dieses Gesetzes vom Begriff eines vernünftigen Wesens nicht mehr möglich. 322 Obwohl a.1 ein schwacher Einwand ist, sind a.2 und a.3 m. E. nicht überwindbar. Besonders groß ist die Tragweite der Einwände a.2 und a.3. Angenommen, Kant geht hier analytisch vor, sodass er den kategorischen Imperativ vom Begriff eines Willens überhaupt abzuleiten versucht, so darf er den Begriff des Sittengesetzes an dieser Stelle der Argumentation, an der er den Begriff des Willens überhaupt thematisiert, nicht verwenden. Vorschlag A) scheidet dann aus.
321 Dies haben Laberge und Timmermann m. E. klar gezeigt. Vgl. (Laberge 1989, S. 85 und ff.), (Timmermann 2003a, S. 68), (Timmermann 2004, S. 111), (Timmermann 2007, S. 60). 322 Vgl. (Laberge 1989, S. 85). Ähnlich (Cramer 1972, S. 167–168).
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B) »Gesetze der Natur«: Der zweiten Interpretation nach bedeutet das Wort »Gesetz« in (T1) und (T2) dasselbe, nämlich Naturgesetze. 323 Der Unterschied zwischen vernünftigen Wesen und Dingen der Natur liege darin, dass die ersteren bloß nach Gesetzen Wirkungen hervorbringen, während die letzteren sie nach der Vorstellung der Naturgesetze erzeugen. Dieser Deutung nach wirke jedes Wesen nach denselben Gesetzen, nämlich nach Gesetzen, die die Kausalverbindung zwischen Ursache und Wirkung beschreiben. Die vernünftigen Wesen handeln jedoch nicht nur nach diesen Gesetzen, sondern auch nach der Vorstellung derselben (Vgl. Cramer 1972, S. 171). Dann wäre der Wille das Vermögen, Wirkungen nach der Vorstellung der Naturgesetze hervorzubringen. Ein naheliegender Vorteil dieser Interpretation im Vergleich mit Deutung A ist, dass sie weder den freien Willen noch den pathologisch affizierten Willen ausschließt (Vgl. Cramer 1972, S. 172). Außerdem kann sich diese Deutung darauf stützen, dass Kant das Wort »Gesetz« im Text nicht hervorhebt, was ein Indiz zu sein scheint, dass Kant nicht auf eine Mehrdeutigkeit dieses Wortes hinweisen wollte (Laberge 1989, S. 86). Deutung B ist – so einer ihrer Vertreter – auch verträglich mit anderen Charakterisierungen des Willens (Cramer 1972, S. 171 Fn. 7), zumal Kant andernorts den Willen als eine »Art von Kausalität« charakterisiert (GMS AA 04 446, 7). 324 Deutung B nach meint der Ausdruck »Wille« hier stets den empirischen Willen, der nach der Vorstellung der Verknüpfung zeitlicher Ereignisse wirkt. Dann kann der Wille Ursache seiner Wirkungen nur sein, wenn er sich das Gesetz vorstellt, nach dem er mit seinen Wirkungen verbunden wird (Cramer 1972, S. 172). Gegen diese Deutung gibt es jedoch gewichtige Argumente:
323 Diese Interpretation wurde von Cramer verteidigt. Vgl. (Cramer 1972, S. 167– 174). 324 Vgl. GMS AA 04 446, 7–8 »Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind«; KpV AA 05 15, 10–19; »In diesem beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zu Bewirkung derselben (das physische Vermögen mag nun hinreichend sein, oder nicht), d. i. seine Kausalität, zu bestimmen«; KpV AA 05 32, 11–12 »so fern sie überhaupt einen Willen, d. i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen«.
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G b.1) Die These dieser Auslegung ist ebenfalls allzu restriktiv. Sie scheint nur den menschlichen Willen zu erfassen, aber nicht z. B. den göttlichen. 325 G b.2) Wie Deutung A passt auch B nicht zum Kontext. Da die Stelle der Ausgangspunkt der Ableitung des kategorischen Imperativs sein soll, ist wichtig, die Analyse nicht auf den empirischen Willen zu beschränken. 326 So gibt es in den Vorlesungen aus der Phase der Vorbereitung der GMS parallele Stellen, an denen klar ist, dass Kant bei dieser Etappe der Argumentation die Gesetze der Natur nicht im Auge hat (vgl. z. B. Naturrecht Feyerabend AA 27 1322, 30 y ss). Die erwähnten Einwände machen m. E. klar, dass auch Deutung B) falsch ist. C) »Imperative« 327: Diese Interpretation wird durch einige wichtige Stützpfeiler getragen. So betont sie, dass die Behandlung der »Gesetze« in T2 der praktischen Ebene so entspricht, dass sie nicht auf das Gebiet der moralischen Handlungen beschränkt werden. Daher bezeichne der Ausdruck »Gesetze« in der zweiten Hälfte von T2 die Art der »Gesetze«, die sowohl den kategorischen Imperativ als auch den hypothetischen Imperativ als Unterarten beinhalten, 328 nämlich »praktische Gesetze«. Praktische Gesetze seien nach Kant nur »Imperative«, so diese Interpretation. 329 Deswegen bezeichne das Wort »Gesetze« auf praktischer Ebene Imperative, sowohl kategorische als auch hypothetische. Es ist außerdem zu beachten, dass Kant unmittelbar nach dem hier kommentierten Text den Begriff des Imperativs behandelt. Diese Deutung muss allerdings als noch verbesserungsfähig betrachtet werden, wenn man den Kern der Einwände gegen die vorangegangenen Deutungen auch hier in Betracht zieht. Denn die Stelle muss so interpretiert werden, dass der Inhalt des Textes eine Beschreibung des Willens überhaupt gibt.
Zu diesem Einwand siehe (Timmermann 2003a, S. 72). Vgl. (Laberge 1989, S. 87). 327 Diese Deutung ist von Köhl verteidigt worden. Vgl. (Köhl 1990, S. 48–49 FN. 2). 328 Vgl. dazu (Brinkmann 2003, SS. 27–28 FN. 13), (Timmermann 2003a, S. 73) und (Willaschek 2006, S. 125). 329 Diese These fußt besonders auf einigen Stellen, in denen Kant explizit andeutet, dass es eine Unterscheidung zwischen »praktischen Gesetzen« und bloßen Maximen gebe. Da es auch Texte gibt, in denen Kant die Maximen »Gesetze« nennt, wird unten diese Deutung in Frage gestellt. Vgl. unten S. 194 ff. 325 326
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G c.1) Deswegen hat Timmermann gegen diese Interpretation m. E. mit Recht eingewandt, dass die Erklärung des Willens als »praktische Vernunft« nicht nur auf den pathologisch affizierten Willen zutreffen soll, sondern auch auf den Willen eines vollkommen vernünftigen Wesens. Der Begriff des Imperativs ist aber, wie oben gesagt, nur auf endliche vernünftige Wesen anwendbar (GMS AA 04 414, 1–12). Dies ist beim Begriff des Willens aber nicht der Fall. D) »Maximen« 330: Die Rechtfertigung dieser These dürfte auf dem folgenden Argument beruhen: Ein vernünftiges Wesen besitzt das Vermögen, nach Prinzipien zu handeln (d. h. nach der Vorstellung der Gesetze), und insofern hat es einen Willen. Maximen sind die Prinzipien, die ein vernünftiges Wesen sich hinsichtlich seines Handelns auferlegt (sie sind »subjektive Prinzipien des Willens« 331), daher heißt, nach Prinzipien zu handeln, für ein vernünftiges Wesen, nach Maximen zu handeln. Dieser Interpretation zufolge leitet ein Handelnder seine Handlungen (bzw. einige seiner Handlungen) von Maximen ab. Da in dieser Ableitung die Vernunft eine wichtige Rolle spiele, sei der Wille »praktische Vernunft«. Also sei der Wille das Vermögen, nach der Vorstellung von Prinzipien, nämlich nach der Vorstellung von Maximen zu handeln. Dafür spricht auch, dass Maximen als »subjektive Prinzipien« Prinzipien sind, nach denen jede Handlung vollzogen wird. Gegen diesen Vorschlag gibt es m. E. zwei Standardargumente: G d.1) Maximen sind keine Gesetze. Diesem Einwand nach macht Kant einen deutlichen Unterschied zwischen »Maximen« als bloß »subjektive[n] Prinzipien« und »praktische[n] Gesetze[n]« als »objektive[n] Prinzipien«. Entsprechend behauptet Kant in der KpV: »Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für 330 Für diese Interpretation (Paton 1947, S. 81), (Silber 1959, S. 86), (Körner 1967, S. 110), (Bittner 1974, S. 491–496), (Bittner 1986, S. 16), (Allison 1990, S. 86). In (Allison 2011) distanziert Allison sich dennoch von der Interpretation, die er in (Allison 1990) vertreten hat. Vgl. (Allison 2011, S. 151–153). 331 Zu dieser »Definition« vgl. unten Kapitel 4. Siehe auch GMS AA 04 400, 34; KpV 05 19, 9–10; MS 06 225, 34–35. Siehe auch unten Kap. 4.
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den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird« (KpV AA 05 19, 7–12). Das Gewicht dieses Einwands ist allerdings zu relativieren, da Kant Maximen mehrmals als »Gesetze« charakterisiert. 332 G d.2) Der zweite Einwand beruht auf der schon erwähnten These, nach der diese Erklärung auf den Willen jedes vernünftigen Wesens zutreffen muss. 333 Das Problem für den Vertreter der These D liegt darin, dass Kant explizit behauptet, dass der sogenannte »heilige Wille« keine Maxime hat. Der Text lautet: »Auf dem Begriffe eines Interesse gründet sich auch der einer Maxime. Diese ist also nur alsdann moralisch, wenn sie auf dem bloßen Interesse, das man an der Befolgung des Gesetzes nimmt, beruht. Alle drei Begriffe aber, der einer Triebfeder, eines Interesse und einer Maxime, können nur auf endliche Wesen angewandt werden. Denn sie setzen eine Eingeschränktheit der Natur eines Wesens voraus, da die subjektive Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt« (KpV AA 05 79, 24–32). Aufgrund dieser Stelle scheint Interpretation D auszuscheiden. Aber so einfach liegen die Dinge m. E. nicht. Es gibt auch Stellen, an denen Kant anscheinend behauptet, dass der heilige Wille Maximen folge. 334 Kant sagt z. B. in der KpV: »Im ersteren Falle aber hat das Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar, als vernünftigen Wesen, einen reinen, aber, als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affizierten Wesen, keinen heiligen Willen, d. i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maxi332 Vgl.Pädagogik AA 09: 481, 12: »Maximen sind auch Gesetze, aber subjektive«; R 1663: »Maxime ist ein subiektiv Gesetze«; 5237: »die Maxime ist das subjektive Gesetz, d. i. das, was man sich selbst allgemein zu tun vorgesetzt hat«; Moral Kaehler 40, 8–9: »Die subjektive Gesetze der Handlungen sind Maximen«; 66, 13: »Maxime aber ist ein subjektives Gesetz, nach dem man willkürlich handelt«; Moralphilosophie Collins AA 27: 263, 12–13; Moral Mrongovius AA 27: 1413, 24. Zu diesem Thema siehe unten Kapitel 4. Wichtig ist aber hier, darauf aufmerksam zu machen, dass, obwohl Kant Maximen mehrmals »Gesetze« nennt, sie »Gesetze« sind nur insofern als sie allgemeine Prinzipien sind. Denn Maximen haben nicht den Notwendigkeitsfaktor, der essentiell für Gesetze als solche ist. Vgl. oben S. 199 Fn. 316. 333 Dieser Einwand ist von (Laberge 1989, S. 88) und (Timmermann 2003a, S. 69) angedeutet worden. 334 Die drei Passagen, die ich anführen werde, sind von der Mehrheit der Gegner der Interpretationshypothese D nicht berücksichtigt worden. Die einzige Ausnahme ist Timmermann, der zwei der drei Passagen kurz kommentiert (vgl. Timmermann 2003a, S. 69 und Timmermann 2004, S. 134).
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men fähig wäre, voraussetzen kann« (KpV AA 05 32, 17–21). Ein Gegner der These D mag argumentieren, so wie Timmermann es tut, dass der Passus nicht besagt, dass der heilige Wille nach Maximen handelt, sondern nur, dass er zu Maximen nicht fähig wäre, die dem moralischen Gesetz widersprächen, d. h. der Konjunktiv drückt, diesem Gegeneinwand zufolge, ein irreales Konditional aus. Mir scheint aber, dass die Irrealität des Konditionals nicht notwendigerweise die Unmöglichkeit impliziert, dass der heilige Wille über Maximen verfügen würde. Kant will in dem zitierten Passus vielmehr sagen, dass es möglich ist, dass es einen heiligen Willen gibt und dass, falls es einen heiligen Wille gibt, seine Maximen notwendig mit dem Moralgesetz übereinstimmen. Timmermanns Interpretation des angeführten Passus passt auch nicht auf die folgende Stelle: »Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im Anfange ausgingen, nämlich dem Begriffe eines unbedingt guten Willens. Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein kann, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann. Dieses Prinzip ist also auch sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetz du zugleich wollen kannst« (GMS AA 04 437, 5–12). 335 In einem anderen Text hat Timmermann die Auslegung verteidigt, dass der hier genannte »schlechterdings gute Wille« nicht der heilige Wille sei (Timmermann 2004 S. 134). Das würde m. E. jedoch eine offensichtliche Missdeutung der Stellen nach sich ziehen, an denen Kant den guten Willen als »absolut gut« bezeichnet. Das ist der Fall an der folgenden Stelle, an der Kant noch einmal den absolut guten Willen dergestalt charakterisiert, dass er zu keinen gesetzeswidrigen Maximen fähig ist, oder anders gesagt, dass dessen Maximen notwendig mit dem Gesetz übereinstimmen: »Der Wille, dessen Maximen notwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille« (GMS AA 04 439, 28–30). Diese Stellen genügen m. E., um das Argument d.2 zumindest als zweifelhaft zu erweisen. Für die These der »Maximenfähigkeit« des heiligen Willens spricht noch ein weiterer Grund. Da seit ca. 20 Jahren in der KantLiteratur zunehmend spürbar wird, dass es in den kantischen Texten mehr als nur einen Sinn des Wortes »Maxime« gibt, ist es auch plau-
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sibel, dass der heilige Wille in gewissem Sinne Maximen hat. 336 Die Gegner der Interpretation D machen normalerweise darauf aufmerksam, dass der Begriff der Maxime den Begriff des Interesses oder die Vermittlung der Neigung mit sich bringt. Da Maximen »subjektive« Prinzipien sind, sind sie keine Gesetze, und zwar genau deswegen, weil sie Interessen einschließen, die mit einem bloß »subjektiven« Geltungsanspruch verbunden sind. Das ist allerdings nur ein Aspekt der Subjektivität der Maximen. Die Maximen sind nicht nur deswegen subjektiv, weil sie sich auf Interessen beziehen. Sie sind auch subjektiv als Ausdruck der Absichten, Vorsätze und sonstigen Einstellungen eines Handelnden, sodass man die These verteidigen kann, dass jede Entität, die solche Prinzipien hat, auch Maximen hat. Ich denke, dass Kant dies im Auge hatte bei seiner Behauptung, dass, wenn es eine unendliche vernünftige Entität gibt, deren subjektive Prinzipien notwendig mit den objektiven übereinstimmen (vgl. GMS AA 04 414, 4 und ff.). Willaschek hat m. E. mit Recht darauf hingewiesen, dass die »Heiligkeit« des heiligen Willens nicht in seiner »Maximenlosigkeit« liegt, sondern darin, dass er notwendig mit dem Gesetz übereinstimmt. Entsprechend hat er auch gezeigt, dass der menschliche Wille genau deswegen nicht heilig ist, weil er keinen Anspruch darauf erheben kann, stets und notwendig mit dem Gesetz übereinzustimmen. Natürlich darf er einen solchen Anspruch deswegen nicht erheben, weil den menschlichen Maximen Neigungen zugrunde liegen (GMS AA 04 427, 7–9). Das schließt aber nicht aus, dass es auch Maximen gibt, die keine Neigungen voraussetzen, sondern die mit dem Gesetz notwendig übereinstimmen (Willaschek 2006, S. 131). Anders gesagt: Auf Neigungen zu beruhen ist kein notwendiges Merkmal von Maximen, zumindest nicht in einem weiteren Sinn des Wortes. 337 G d.3) Wenn die Einwände d.1 und d.2 scheitern, wird Interpretation D stärker (Vgl. Laberge 1989, S. 88–89). Es gibt jedoch noch einen bedeutenden Einwand, den die Kantforscher*innen normalerweise 336 Die These der Mehrdeutigkeit des Wortes »Maxime« bei Kant hat in gewisser Weise schon Paton vertreten. Siehe (Paton 1947, S. 61). In den letzten Jahrzehnten kommt diese Meinung immer häufiger in der Kant-Forschung vor. Vgl. (Willaschek 1992, S. 129), (Herman 1993, S. 221), (Timmermann 2000), (2003a, S. 149–164), (Schwartz 2006), (Torralba 2009, S. 145–156). Zu der Unterscheidung zwischen verschiedenen Sinnzusammenhängen des Maximenbegriffs vgl. unter Kapitel 4. 337 Dazu mehr unten Kap. 4.
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nicht beachten. Es ist fast sinnlos, die Charakterisierung des Willens in AA 04 412 so zu interpretieren, dass sie den Gesetzen nicht entspricht, die in den späteren Teilen der GMS analysiert werden. Nachdem der Begriff des Willens als »praktische Vernunft« eingeführt ist, folgt sogleich die Einleitung der Begriffe des Imperativs und der Nötigung. Maximen drücken aber keine Nötigung aus und sind daher keine Imperative. Wenn man aber annimmt, wie man m. E. annehmen muss, dass die Darstellung des Willens als »praktische Vernunft« auch Imperativen gerecht werden soll, dann ist klar, dass der Ausdruck »Gesetze« im Satz T2 nicht nur mit dem Begriff »Maximen« übersetzt werden kann. Ebenso kann man daran denken, dass jeder Handelnde auch nach objektiven Prinzipien handelt, weil das subjektive Element nicht ausreicht, um eine Handlung zu bestimmen. Wenn ein Arzt seinen Patienten heilen will, reicht diese Absicht nicht aus, um den Patienten zu heilen. Er muss auch die Mittel kennen, die dies möglich machen. Es gibt deswegen ein objektives Element, das normalerweise die ZMU-Form hat. Ein Handelnder handelt daher nicht nur nach subjektiven Prinzipien, sondern auch nach objektiven Prinzipien. E) »Objektive Prinzipien überhaupt« 338: Wenn man sich die Vorteile der Interpretationen A bis C erhalten will, ohne den Fehler zu begehen, die Gesetze des zweiten Satzes (T2) als »Imperative« zu interpretieren, besteht die Möglichkeit, diese Gesetze als »objektive Prinzipien überhaupt« auszulegen. Es liegt aber auf der Hand, dass diese Interpretation der Prinzipien nicht die richtige Deutung der Stelle sein kann, weil sie die Maximen unterschlägt. F) »Objektive und subjektive Prinzipien«: Diese Deutung, die meines Wissens nur von Laberge verteidigt worden ist, ist m. E. die richtige Interpretation des Wortes »Gesetze« in T2. Diese Interpretation genügt allen Anforderungen, die eine sinnvolle Interpretation der Stelle erfüllen muss. Sie ist weit genug, um sowohl dem heiligen als auch dem menschlichen Willen Rechnung zu tragen und sie gibt Raum für die Ableitung der Begriffe des kategorischen und des hypothetischen Imperativs. 338 Vgl. (Vorländer 1906, S. xx), (Brinkmann 2003, S. 27–28 FN. 13), (Willaschek 1992 S. 86), (Willaschek 2006, S. 125), (Timmermann 2003a, S. 73), (Timmerman 2004, S. 111), (Timmerman 2007, S. 59–60) und jüngst (Allison 2011, S. 153).
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Worin ist dann der Sinn von T2 zu sehen? Kant scheint hier anzudeuten, dass vernünftige Wesen nicht nur nach Gesetzen der Natur handeln, sondern dass sie sich auch Prinzipien vorstellen, und zwar sowohl objektive als auch subjektive, nach denen sie handeln. Sie können im Prinzip nach Naturgesetzen handeln, so wie ein Arzt handelt, wenn er eine Medizin verschreibt (z. B. »Die nicht-steroidalen Entzündungshemmer wirken sich auf die Cyclooxygenase aus« oder »Wenn ich in diesem Fall die Cyclooxygenase hemmen will, muss ich nicht-steroidale Entzündungshemmer verwenden«). Er kann auch nach einem subjektiven Plan handeln (z. B. »Immer wenn ich einen Patienten habe, der nicht gut Deutsch kann, erkläre ich ihm einfach nichts«). Er kann aber auch nach der Vorstellung der Gesetze der Freiheit handeln (»Ich soll meinen Nächsten wie mich selbst lieben«). T3: Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft: Die Analyse von T1 und T2 hat gezeigt, dass Kant meint, dass jedes vernünftige Wesen nach der Vorstellung von Gesetzen handelt. »Gesetze« umfasst hier subjektive und objektive Prinzipien, die sowohl das Wollen des Handelnden als auch die kognitiven Elemente, die die Handlung ermöglichen, ausdrücken. Dies kann man nur verstehen, wenn man T2 so auslegt, wie Interpretation (F) es vorschlägt. In T3 sagt Kant, dass die Vernunft notwendig ist, um Handlungen von den oben erwähnten Gesetzen abzuleiten. Deswegen ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft. Wenn Interpretation (F) richtig ist, wie ich es zu verteidigen versucht habe, sind die Gesetze, von denen ein Handelnder Handlungen ableitet, subjektive und objektive Prinzipien. Was heißt jedoch »Handlungen ableiten«? Es gibt Autor*innen, die der Meinung sind, dass Kant hier das Modell des praktischen Syllogismus vor Augen hat (Bittner 1986 und Willaschek 1992, S. 87). Das Verb »ableiten« scheint ein Indiz dafür zu sein, dass Kant hier noch einmal in einer Analogie zwischen der Schlussfolgerung und der Ausführung von Handlungen denkt. Wir haben oben gesehen, dass dies auch bei Autor*innen der gegenwärtigen Philosophie der Fall gewesen ist, z. B. bei Davidson. Davidson hat sich in seinem ersten Modell an der Struktur des praktischen Syllogismus orientiert und sie als eine deduktive Struktur verstanden. Aus den Pro-Einstellungen und Überzeugungen eines Handelnden folge logisch eine Handlung. Diese Interpretation des praktischen Syllogismus ist aber, Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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wie Davidson selbst später eingesehen hat, unbefriedigend. 339 Trotzdem fassen die Autor*innen, die hier einen Hinweis Kants auf das Modell des praktischen Syllogismus sehen, den praktischen Syllogismus so auf, dass er einem Modell zur deduktiven Ableitung von Handlungen entspricht. Dieses Modell hätte, nach Willaschek, die folgende Struktur: P1: X will Z P2: X glaubt, dass sein F-tun eine notwendige Bedingung für die Verwirklichung von Z ist. K: X macht sich daran, F zu tun. Dieses Modell ist aber m. E. schon interpretatorisch zumindest dubios, weil Kant sagt, dass es um die Ableitung von Handlungen, also nicht von Sätzen, geht. 340 Handlungen kann man nicht so »ableiten«, wie man Schlüsse zieht. Denn bei Schlüssen herrscht kategoriale Identität zwischen Prämissen und Konklusion. Ist die Konklusion eine Handlung, dann besteht diese kategoriale Identität nicht. Bei Aristoteles, dem Philosophen, der zum ersten Mal das Modell des praktischen Syllogismus verwendet hat, handelt es sich bei diesem Modell nicht um ein Schema, das erklärt, wie man Handlungen »deduzieren« kann, sondern um eine Erklärung der Kernelemente, die die Ausführung einer Handlung voraussetzt. 341 Genau dies ist der Punkt bei Kant an der Stelle, an der er sagt, dass der Wille eine Fähigkeit ist, Handlungen von Gesetzen abzuleiten, nämlich sie auszufüh339 Vgl. (Davidson 1985a, S. 196). Davidson weist hier darauf hin, dass Anscombe schon auf diese Erkenntnis aufmerksam gemacht hat: »Anscombe had already pointed out in Intention the absurd consequences of the deductive picture of practical reasoning, but apparently I had not appreciated the point«. 340 Merkwürdig ist, dass Willaschek selbst der Meinung ist, dass Handlungen die Funktion des Schlusses im praktischen Syllogismus erfüllen (Willaschek 1992 S. 88). Über den praktischen Syllogismus in Kants praktischer Philosophie siehe unten, Kapitel 4. 341 Da der Stagirit von dem Ausdruck »praktischer Syllogismus« keinen Gebrauch macht, ist dieser eigentlich kein terminus technicus der aristotelischen Philosophie, sondern ein Ausdruck, den die Aristotelesforschung eingeführt hat. Es gibt nur einen aristotelischen Text, in dem der Stagirit einen ähnlichen Ausdruck (syllogismoì tôn praktôn) benutzt, der aber in diesem Kontext etwas anderes zu bedeuten scheint. Vgl. EN VI 12 1144a29–b. Vgl. (Hardie 1968, S. 241 ff.), (Kenny 1979, S. 111), (Rapp & Brüllmann 2008, 93) und (Vigo 2010a, S. 4). Auf die Ideen Aristoteles’ bezüglich des praktischen Syllogismus gehe ich ausführlicher im vierten Kapitel ein.
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Zusammenfassung
ren. Deswegen geht es hier nicht um die Struktur der Überlegung oder der Deliberation, die wir oben anhand von Kants Analytizitätsthese untersucht haben. Obwohl man in beiden Fällen die jeweiligen Strukturen mit Hilfe der syllogistischen Analogie darstellen kann, geht es in den beiden Fällen um sehr verschiedene Gebilde. Zur Ableitung von Handlungen ist nach Kant Vernunft nötig. Die Absicht Kants ist, wenn meine Interpretation richtig ist, deutlich zu machen, dass zwei Elemente notwendige Bedingungen sind, um Handlungen zu vollziehen, nämlich ein objektives und ein subjektives Prinzip. Das objektive Prinzip kann die ZMU-Form haben, also die Struktur eines kognitiven Urteils über die notwendigen Bedingungen zum Erreichen eines Zieles. Dieses Prinzip kann auch ein konstatives Prinzip sein, das besagt, dass etwas »der Fall meiner Maxime« ist, wie deutlich wird, wenn man z. B. das Depositum-Beispiel in der KpV betrachtet (KpV AA 05 27, 3–28, 28). Dieses konstative Prinzip setzt aber wiederum ein ZMU-Urteil voraus – ein Urteil, das besagt, dass etwas notwendige Bedingung für die Erreichung eines Zieles ist. Das subjektive Prinzip entspricht wiederum einer Maxime. Hypothetische Imperative in der normativen Form weisen dagegen eine Struktur auf, die der Form des Willens als praktische Vernunft zugrunde liegt, nämlich des Willens als Fähigkeit, aus Vorstellungen Handlungen abzuleiten. Es handelt sich dabei um die Form der nicht-moralischen Deliberation. Diese setzt sich zusammen aus einem subjektiv-volitiven Element und einem anankastischen Urteil bzw. der Erkenntnis, dass eine Handlung »ein Fall« der Maxime (als subjektives Prinzip) ist. Hier folgt aber nicht eine Handlung, sondern ein Gebot, und deswegen auch die Notwendigkeit derjenigen Handlung, die das Mittel zur Erreichung des Zieles bzw. des ›Falls der Maxime‹ ist. Dies und nichts anderes ist es, was Kant im Auge hat, wenn er die These von der Analytizität hypothetischer Imperative verteidigt.
§ 9 Zusammenfassung Kant hat, so meine These, eine Handlungskonzeption entwickelt, die sich auf eine Theorie der praktischen Sätze, nämlich Maximen und Imperative, stützt. Diese Handlungskonzeption unterscheidet sich in vielen Punkten von den gegenwärtigen Ansätzen in der Handlungstheorie. Kant geht es nicht darum, eine reduktive Analyse des BeHandlung und praktisches Urteil bei Kant
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griffs der intentionalen Handlung zu liefern, anders als Autor*innen wie etwa Davidson, Searle oder Mele. In diesem Kapitel habe ich zu zeigen versucht, welche Art von Urteilen kantische Imperative sind. Die Klärung des Begriffs der Maxime soll im nächsten Kapitel folgen. Ich habe hier versucht zu belegen, dass Kant Imperative sowohl als normative Urteile als auch als Urteile der ZMU-Form verstanden hat. Urteile der ZMU-Form spielen die Rolle des kognitiven Elements in einem praktischen Syllogismus, während Imperative als normative Urteile die Struktur der Deliberation oder Überlegung widerspiegeln. Obwohl Kant die Struktur der nicht-moralischen Deliberation nicht explizit thematisiert hat, hat er dennoch auch den praktischen Syllogismus als eine Struktur gedacht, die die Ausführung einer Handlung erklärt. Dies ist auch genau die Struktur, die er im Auge hat, wenn er behauptet, dass der Wille »praktische Vernunft« ist, nämlich das Vermögen, Handlungen aus der Vorstellung von Gesetzen abzuleiten.
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Kapitel IV Maximen und absichtliche Handlung
Kants Handlungskonzeption kann man besser verstehen, wenn man seine Darstellung des praktischen Urteils untersucht. Unter den praktischen Urteilen unterscheidet Kant Maximen und Imperative. 342 Bisher wurden in dieser Arbeit hypothetische Imperative untersucht. Es wurde gezeigt, dass Kant den Ausdruck »hypothetischer Imperativ« mehrdeutig verwendet. Der praktische Syllogismus hängt mit den zwei hier identifizierten Formen hypothetischer Imperative bei Kant zusammen. Während Urteile der ZMU-Form die Rolle des kognitiven Elements in einem praktischen Syllogismus spielen, spiegeln hypothetische Imperative als normative Urteile die Struktur der nicht-moralischen Deliberation oder Überlegung wider. Entscheidend für die Gewinnung dieser Erkenntnis war, wie gesagt, die Untersuchung der verschiedenen Rollen, die die von Kant als »hypothetische Imperative« bezeichneten Gebilde im Rahmen des praktischen Syllogismus spielen können. »Praktischer Syllogismus« ist aber ebenfalls ein mehrdeutiger Ausdruck. Denn mit diesem Ausdruck kann man die Struktur der Deliberation oder Überlegung bezeichnen, aber auch das Gebilde, mit dessen Hilfe Aristoteles und andere Philosoph*innen die an der Ausführung von Handlungen beteiligten Elemente auf dem Begriff zu bringen versucht haben. In diesem Kapitel werde ich diejenigen praktischen Urteile, die Kant als »Maximen« bezeichnet, untersuchen. Dabei werde ich noch einmal auf die Struktur des praktischen Syllogismus eingehen und versuchen zu erklären, wie man mit ihrer Hilfe den Begriff der Maxime verständlich machen kann.
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Vgl. KpV AA 05 19, 6–10.
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§ 10 Was sind Maximen? Interpretationsprobleme Maximen sind Prinzipien, nach denen Subjekte handeln, und jede Handlung wird nach Maximen vollzogen. Dies ist m. E. – was die Philosophie der Handlung angeht – die Hauptthese Kants. Aber so formuliert, sagt diese These wenig. Damit sie inhaltsreicher wird, muss man feststellen, was eine Maxime ist und welche Rolle Maximen in der Handlungskonzeption Kants spielen. Diese Aufgabe ist nicht leicht zu bewältigen, und ich werde sie hier auch nicht vollständig bewältigen können. Obwohl die Kantforscher*innen sich nach den in den siebziger Jahren von R. Bittner und O. Höffe veröffentlichten Arbeiten zunehmend für den Begriff der Maxime bei Kant interessiert haben, 343 gibt es bis heute keinen (nicht einmal einen minimalen) Konsens über die Bedeutung des Ausdrucks »Maxime« bei Kant. 344 Es gibt mehrere Gründe für diesen Sachverhalt. Trotzdem gibt es immer noch Autor*innen, die diese ganze Diskussion über den Begriff der Maxime bei Kant für überflüssig halten. Entsprechend hat E. Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik zu verstehen gegeben, dass diese Diskussionen in der Sekundärliteratur überflüssig seien, weil die Bedeutung des Begriffs der Maxime »einfach zu verstehen« sei (Tugendhat 1993, S. 124). Bei dieser Bemerkung Tugendhats ist vor allem auffällig, dass er auf keine der Debatten unter den Kant-Forscher*innen Bezug nimmt, sodass er nicht erklärt, warum die Kant-Forschung sich irrt, wenn sie über den Begriff der Maxime »rätselt«. Die kommenden Seiten wollen u. a. zeigen, dass die Bedeutung dieses Begriffs alles andere als klar ist, und dass dies es ist, was erklärt, warum die Kant-Forschung so viel Kraft in die Klärung dieses Begriffs investiert hat. Dass der Begriff der Maxime wichtig ist für das Verständnis der praktischen Philosophie Kants, wird niemand leugnen, der Kant richtig verstanden hat. Ohne Maximen kann man weder die moralische Prüfung von Handlungen vornehmen noch die Möglichkeit von Handlungen verstehen. Die Relevanz des Begriffs der Maxime bei
Vgl. (Bittner 1974) und (Höffe 1977). Eine Zusammenfassung einiger Resultate der Arbeit der Kant-Forschung über Maximen in den letzten Jahren ist in (Gressis 2010) und (Gressis 2010a) zu finden. Obwohl diese Zusammenfassung ziemlich unvollständig ist, kann sie als eine erste Orientierung in der gegenwärtigen Debatte bezüglich des Maximenbegriffs bei Kant helfen. 343 344
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Kant kann man kaum überschätzen, weil die Maximen das Material des kategorischen Imperativs abgeben. Den Beleg dafür liefern die kantischen Texte. Entsprechend behauptet Kant z. B. in der GMS, dass »eine Handlung aus Pflicht […] ihren moralischen Wert nicht in der Absicht [hat], welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird« (GMS AA 04 399, 36–38). 345 Nicht nur ist die moralische Valenz von Handlungen nur mit Hilfe von Maximen zu bestimmen, sondern man nennt Menschen auch böse, wenn ihre Handlungen »so beschaffen sind, dass sie auf böse Maximen in [ihnen] schließen lassen« (Religion AA 06 20, 24–25). Außerdem findet man diesen Begriff explizit in fast jeder Formulierung des kategorischen Imperativs, 346 der das Prinzip der Moralität (z. B. GMS AA 04 440, 29) und damit das Werkzeug ist, mit dem das handelnde Subjekt seine Handlung bzw. die Handlungen der anderen Handelnden beurteilt. Darüber hinaus ist der Begriff der Maxime in anderen essentiellen Kant-Texten zu finden (z. B. im ersten Absatz der Kritik der praktischen Vernunft, in dem die wesentlichen Begriffe der kantischen Moralphilosophie charakterisiert werden, nämlich »praktische Regeln«, »Imperativ« usw.). Aus diesen Gründen darf man sicherlich behaupten, dass der Begriff der Maxime durchaus zum Kern der kantischen Moralphilosophie gehört. Somit ist es eine wichtige und notwendige Aufgabe jeder Interpretation der kantischen Moralphilosophie, diesen Begriff zu charakterisieren. Wie kann man diesen Begriff aber charakterisieren? Es ist naheliegend, eine Analyse von Kants Definition des Maximenbegriffs als das beste Mittel zu erachten, um den Inhalt des Begriffs der Maxime zu bestimmen. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. In der Mehrheit seiner Texte charakterisiert Kant den erwähnten Begriff mittels dreier wichtiger Eigenschaften: es sind (1) subjektive
345 Hervorhebung Kants. Das Wort »Absicht« ist bei Kant doppeldeutig. Schönecker & Wood haben darauf aufmerksam gemacht, dass das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm zwischen »Absicht« als intentio und »in Absicht auf« im Sinne von »mit Bezug auf«, hinsichtlich usw. unterscheidet (vgl. Schönecker & Wood 2004, S. 40–41 FN). An der zitierten Stelle muss man »Absicht« als Übersetzung von intentio lesen, d. h. in der Bedeutung von »angestrebtes Ziel«. Auch z. B. an der Stelle AA 05 20, 8 »Die praktische Regel ist jederzeit ein Produkt der Vernunft, weil sie Handlung, als Mittel zur Wirkung, als Absicht vorschreibt«. 346 Die Ausnahme ist die sogenannte »Zweck-an-sich-Formel«, GMS AA 04 429, 10– 13. In den Namen und der Zählung der Formeln des kategorischen Imperativs folge ich der einflussreichen Diskussion von Paton. Vgl. (Paton 1947, S. 129–198).
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(2) Prinzipien (3) des Willens, der Willkür oder der Handlung. 347 Die folgenden Texte geben Beispiele dieser Definition: D1) »Praktische Gesetze, sofern sie zugleich subjektive Gründe der Handlungen, d. i. subjektive Grundsätze werden, heißen Maximen« (A 812/B 840) D2) »Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln und muss vom objektiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt; das Gesetz aber ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Imperativ«. (GMS AA 04 420, 36–421, 30 Fn.). D3) »Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird«. (KpV § 1 AA 05 19, 6–10). D4) »Der Grundsatz, welcher gewisse Handlungen zur Pflicht macht, ist ein praktisches Gesetz. Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht, heißt seine Maxime; daher bei einerlei Gesetzen doch die Maximen der Handelnden sehr verschieden sein können«. (MS AA 06 225, 1–5). Obwohl die Texte auf den ersten Blick luzide zu sein scheinen, gibt es mehrere gravierende Divergenzen zwischen den vorliegenden Stellen und auch im Hinblick auf die anderen Stellen, an denen Kant eine Definition des Maximenbegriffs liefert. Natürlich erschweren diese Unterscheidungen die Aufgabe der Forschung, was schnell klar wird, 347 Diese Eigenschaften der Maximen werden von vielen Autor*innen in der kantischen Sekundärliteratur betont. Vgl. z. B. (Brinkmann 2003, S. 97 FN. 5), (Bittner 1974, S. 486), (Köhl 1990, S. 47) und (Kerstein 2002, S. 16–17).
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wenn man die Literatur über den Begriff der Maxime zur Hand nimmt. Welche Differenzen findet man zwischen den unterschiedlichen Stellen? Es gibt eine Vielzahl, aber ich will nur wenige nennen, damit klar wird, dass die erwähnten »Definitionen« nicht genügen, um die Bedeutung des Ausdrucks »Maxime« bei Kant richtig zu verstehen.
10.a) Prinzipien, Regeln oder Gesetze? Es gibt eine Ambiguität in der Bestimmung des Genus, dem der Maximenbegriff unterzuordnen ist. Einmal behauptet Kant z. B., dass Maximen Prinzipien 348 seien, ein andermal, dass sie Regeln 349und wiederum ein andermal, dass sie Gesetze 350 seien. Da Kant einerseits 348 GMS AA. 04 400, 34 FN: »Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens; das objektive Prinzip (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz«; GMS AA 04 420, 36–421, 30 FN: »Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln und muss vom objektiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden«; MS AA 06 225, 34–35: »Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht«; Moral Mrongovius II AA 29 608, 12: »Maximen praktische Prinzipien, die sich subjektive selbst zur Regel ihrer Handlung machen«. Kant verwendet auch das deutsche Wort Grundsatz. Vgl. z. B. KpV AA 05 19, 6–10: »Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird«. 349 GMS AA. 04 438, 24–25: »jenes aber nur nach Maximen, d. i. Sich selbst auferlegten Regeln«; MS AA 06 225, 1–5: »Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht, heißt seine Maxime«; MS AA 06 225, 35. 350 Pädagogik AA 09 481, 12: »Maximen sind auch Gesetze, aber subjektive; sie entspringen aus dem eignen Verstande des Menschen«; R 1663: »Gesetze und Regeln der Ausübung; das Genie steht unter Gesetzen, im gleichen die Geschicklichkeit. Geschicklichkeit und Weisheit. subjektive Gesetze (Maxime ist ein subjektiv Gesetze), so fern sie mit den objektiven stimmen, sind Maximen. Gesetze gebieten kategorisch, Regeln hypothetisch (unter problematischer Bedingung)«, 5237: »die Maxime ist das subjektive Gesetz, d. i. das, was man sich selbst allgemein zu tun vorgesetzt hat«, 7257: »Maximen, die zugleich allgemeine Prinzipien sind als leges«, 7821: »Maximen sind allgemeine Formen der Intention (subjektive Gesetze)«; Kaehler Moral S. 40, 8–9: »Es gibt objektive Gesetze der Handlungen und das sind praecepta und die subjektiven Gesetze der Handlungen sind Maximen«; 66, 13: »Maxime aber ist ein subjektives Gesetz«; Moral Philosophie Collins AA 27 263, 12–13: »die subjektive
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zwischen »Regeln« und »Gesetzen« 351, andererseits zwischen Regeln und Maximen 352 unterscheidet, scheint es einen Widerspruch zu geben. Darüber hinaus unterscheidet Kant manchmal scharf zwischen »Maximen« und »Gesetzen« (z. B. AA 04 420, 36 ff., oben D2), obwohl er, wie gesagt, ein andernmal »Maximen« dem Oberbegriff »Gesetze« unterordnet. Es ist in der Kant-Forschung zwar schon immer üblich gewesen, auf die Mehrdeutigkeit der kantischen Verwendung der Begriffe aufmerksam zu machen. 353 Selten hat man es jedoch unternommen, eine sinnvolle Erklärung dafür zu geben, die sich nicht nur auf die Tatsache stützt, dass kantische Werke in Eile und als ein »Patchwork« von Fragmenten aus verschiedenen Entwicklungsphasen zustande gekommen seien. Bekanntlich hat die sogenannte »Patchwork theory« einen enormen Einfluss besonders am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gehabt, was zur Folge hatte, dass eine Vielzahl »genetischer« Studien zu Kants Werken geschrieben worden sind. Entwicklungsgeschichtliche Erklärungen setzen in der Regel voraus, dass die Gedanken der verschiedenen »Entwicklungsphasen« eines Autors inkompatibel bzw. widersprüchlich sind. Die oben erwähnten kantischen Behauptungen sind aber m. E. nicht Symptom eines Wider-
Gesetze der Handlungen sind Maximen«; Moral Mrongovius 27 1413, 24: »die subjektive Gesetze der Handlungen sind Maximen«. 351 Vgl. v.gr. GMS; AA 04 389, 11–23: »Jedermann muss eingestehen, dass ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; dass das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten, und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; dass mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, so fern sie sich dem mindesten Teile, vielleicht nur einem Bewegungsgrunde nach auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann«. In den Reflexionen behauptet Kant mehrmals, dass der wichtigste Unterschied zwischen »Gesetzen« und »Regeln« derjenige ist, dass Regeln Ausnahmen erlauben, Gesetze aber nicht. Vgl. y. B. R 3571: »Nulla regula sine exceptione, sed lex est absque exceptione«; 5235 »Also ist keine Regel ohne Ausnahme. Aber Gesetze sind jederzeit ohne Ausnahme, obzwar nicht ohne restriction«. 352 KpV AA 19, 6–10; R 5234: »Die Geschicklichkeit hat Regeln, die Klugheit Maximen, die Sittlichkeit Gesetze«. 353 Vgl. z. B. Paton (1936, S. 50–51), (Ameriks 2001, S. 17), (Bojanowski 2005, S. 35), (Schönecker 2005, S. 1).
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spruchs in Kants Denken, sondern eher Ausdruck der terminologischen Großzügigkeit Kants, die wiederum Indiz für ein ausgeprägtes Bewusstsein ist, das Kant von der Leistungsfähigkeit und von den Grenzen der Sprache und der Sprachanalyse hatte. Auf diesen Punkt hat schon W. Wieland aufmerksam gemacht. Wieland behauptet zu Recht, dass die schwankende Terminologie Kants keineswegs Beleg von Widersprüchen ist. Sie ist vielmehr Dokument des Bewusstseins, das Kant von den Grenzen der Sprache als Werkzeug hatte (vgl. Wieland 2001, S. 82–86). Kant hat, wie viele andere Philosoph*innen (z. B. Leibniz oder Frege) das große Täuschungspotenzial der Sprache mehrfach betont, 354 aber er hat auch die Unentbehrlichkeit der Sprache für das Denken eingesehen. Daher entsteht ein merkwürdiges Wechselverhältnis: Wir brauchen die Sprache zum Denken 355, aber da die Sprache ein enormes Täuschungspotenzial birgt, müssen wir ihr gegenüber eine skeptische Haltung kultivieren. Das gilt besonders für die Bedeutung der Wörter, deswegen sei es ratsam, so Kant, »sich nicht an Terminologien zu fesseln« (R 3411). 356 An diesem Punkt ist es demnach hilfreich, den Texten Kants gegenüber eine wohlwollende Haltung einzunehmen und zu versuchen, ihre Kohärenz zu maximieren. Dies bedeutet hier, terminologische Entscheidungen Kants nicht als starre Beschlüsse zu betrachten, die 354 Vgl. B 140 »Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache«. 355 Siehe auch oben zitierte Texte. Vgl. oben S. 119. 356 Vgl. (Wieland 2001, S. 83). In diesem Kontext ist auch zu bemerken, wie Wieland es tut, dass »[j]ede Erwartung terminologischer Konstanz beim Kantstudium immer wieder aufs neue enttäuscht [wird]. Kant befürchtet sogar, dass der Leser die Aufmerksamkeit von der verhandelten Sache in dem Maße abzieht, indem er sie auf das ihrer Erschließung dienende sprachliche Instrumentarium lenkt. Diese Befürchtung ist nicht unbegründet. Sie wird aber durch die Erwartung aufgewogen, jede ernsthafte und sachgerechte Beschäftigung mit den jeweiligen Inhalten werde am Ende, gleichsam als Nebenfolge, eine zweckmäßige sprachliche Vermittlung des Gedankens von selbst herbeiführen. In der Tat kann man dem, was ein sachgerecht gestalteter Text zu verstehen geben will, schwerlich gerecht werden, wenn man den einzelnen sprachlichen Ausdruck als eine unveränderliche, ein für allemal fixierte Größe ansieht und darauf verzichtet, den Sinn und die Bedeutung dieses Ausdrucks stets auch im Blick auf den vom Autor jeweils intendierten Sachverhalt zu ermitteln und zugleich auf die Vielfalt der wechselnden Kontexte Rücksicht zu nehmen, von denen die Bedeutung eines jeden einzelnen Ausdrucks ständig aufs neue modifiziert wird.« (Wieland 2001, S. 40). Auf die Produktivität des kantischen Umgangs mit den verschiedenen Bedeutungen der von ihm verwendeten Ausdrücken hat auch K. Ameriks aufmerksam gemacht. Vgl. (Ameriks 2001, S. 17).
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ein für alle Mal die Bedeutung eines Wortes fixieren. Folgt man dieser Strategie, wird man sich nicht durch die schwankende Terminologie Kants irritieren lassen und viel für das Verständnis der Texte Kants gewinnen. Wenn man diesem hermeneutischen Vorschlag folgt, dann wird klar, dass in der Regel der Begriff der »praktischen Regel« (auch »praktischer Satz« oder »praktische Erkenntnis«) als Oberbegriff der anderen »praktischen Prinzipien« wie »Gesetz«, »Imperativ« und »Maxime« fungiert. 357 Dies ist z. B. der Fall, wenn Kant die »praktischen Grundsätze« am Anfang der KpV einführt. Dort behauptet Kant, dass praktische Regeln eine Willensbestimmung beinhalten, in der eine Handlung als Mittel zu einem Zweck vorgestellt wird. 358 Wenn man dies annimmt, bleibt aber unklar, worin der Unterschied zwischen den Unterarten des Oberbegriffs »Regel«, nämlich »Gesetzen«, »Imperativen« und »Maximen«, besteht. Diese Frage ist mir vor allem wichtig, weil hier die These zu verteidigen ist, dass Maximen und Imperative die Formen der praktischen Urteile sind, 357 Kant ordnet den Begriff des kategorischen Imperativs dem Begriff der (praktischen) Regel z. B. im folgenden Passus unter: »Die reine Geometrie hat Postulate als praktische Sätze, die aber nichts weiter enthalten als die Voraussetzung, dass man etwas tun könne, wenn etwa gefordert würde, man solle es tun und diese sind die einzigen Sätze derselben, die ein Dasein betreffen. Es sind also praktische Regeln unter einer problematischen Bedingung des Willens. Hier aber sagt die Regel: man solle schlechthin auf gewisse Weise verfahren. Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin als kategorisch praktischer Satz a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar (durch die praktische Regel selbst, die also hier Gesetz ist) objektiv bestimmt wird« (KpV AA. 05 31, 1 und ff.). Er ordnet auch den Begriff des Imperativs dem der Regel unter: »Die praktische Regel ist jederzeit ein Product der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt. Diese Regel ist aber für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist, ein Imperativ, d. i. eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird, und bedeutet, dass, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde« (KpV AA 05 20, 7 ff.; vgl. auch R 5234). Und schließlich ordnet er dem Begriff der Regel auch den der Maxime unter: »Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht, heißt seine Maxime«, MS AA 06 225, 2–3. 358 AA 05 20, 7: »Die praktische Regel ist jederzeit ein Produkt der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt«. Dies behauptet er auch in der Jäsche Logik, wenn er den Begriff der »praktischen Sätze« erklärt: »Praktische Sätze hingegen sind die, welche die Handlung aussagen, wodurch, als notwendige Bedingung desselben, ein Objekt möglich wird«. Jäsche Logik AA 09 110, 4–6. Vgl. auch R 3116: »Praktische Satze sind [solche], die sich auf die Handlung beziehen, wodurch ein Gegenstand hervorgebracht wird«.
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mit deren Hilfe man die Handlungskonzeption Kants rekonstruieren kann. Dazu muss man jedoch zuerst klären, was Maximen und Imperative sind und worin der Unterschied zwischen ihnen besteht. Die Aufgabe ist deswegen nicht leicht, weil Kant weder eine »Theorie der Maxime« noch eine eindeutige Definition des Begriffs der Maxime aufgestellt hat. 359 Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Maximen und Imperativen kann ich hier keine vollständige Antwort geben. Sie lässt sich an dieser Stelle aber immerhin teilweise beantworten, indem man die Struktur von Maximen partiell erklärt. 360 Das heißt, dass man die Frage hier teilweise beantworten kann, indem man sich auf die Form dieser Urteile bezieht.
10.b) Mehrdeutigkeit der definierenden Begriffe Zwar findet man viele Definitionen des Begriffs der Maxime bei Kant, wie bereits oben zitiert, aber diese sind Arbeitsdefinitionen, die unvollständig und äquivok sind und den Begriffsgebrauch Kants bloß für einen beschränkten Anwendungsbereich bestimmen. Dies harmoniert mit der Meinung Kants, dass Definitionen sensu stricto in der Philosophie unmöglich sind. 361 Diese Meinung entspricht wiederum der schon in einigen vorkritischen Texten von Kant geäußerten These, dass die Philosophie gegebene Begriffe analysiert, anstatt Begriffe zu konstruieren, wie die Mathematik es tue. Dies hat zur Folge, so Kant, dass es der Philosophie unmöglich ist, die Merkmale eines Begriffs vollständig herauszufinden, da die Analyse der für sie rele359 Daher hat R. Bubner Recht, wenn er davor warnt, Kant als »Maximen-Theoretiker« darzustellen. Vgl. Bubner (1998, S. 552). »Dass Kant eine streng kohärente Theorie der Maxime intendiere oder gar ausspreche, widerlegt schon der schlichte Überblick über die verstreuten Stellen, aus denen man Belehrung zusammensuchen muss«. Vgl. auch (Gillessen 2012, S. 67). 360 Die Struktur der Imperative habe ich im dritten Kapitel der Arbeit untersucht. 361 Vgl. A 727/B 755 ff. Darüber hinaus behauptet Kant in der KrV, dass philosophische Begriffserklärungen nur als Expositionen gegebener Begriffe möglich sind (A 730/B 758). M. Wolff meint, dass diese These nur im Bereich der theoretischen Philosophie Kants gilt. Vgl. (Wolff 2009a, S. 516). Entsprechend wäre es auch möglich, die von Kant im ersten Paragraphen der KpV gegebenen »Definitionen« als »Deklarationen« zu interpretieren. Wolff gibt aber kein Argument, um die These Kants auf das Gebiet der theoretischen Philosophie zu beschränken. Tatsächlich ist es so, dass Kant diese methodische These erst in einem teils »praktischen« vorkritischen Text einführt, nämlich in Deutlichkeit.
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vanten Begriffe nicht abgeschlossen werden kann. Diese These erklärt auch den scheinbar unvorsichtigen Umgang Kants mit bestimmten »technischen« Begriffen, die er mehrmals verwendet, ohne eine vorangehende Definition gegeben zu haben. Dies ist auch beim Begriff der Maxime der Fall, der in seinen Werken zur praktischen Philosophie zum ersten Mal in Spiel gebracht wird noch bevor er definiert wird (GMS AA 04 397, 36). Es ist außerdem offensichtlich, dass die wesentlichen definierenden Begriffe z. B. in den oben erwähnten Definitionen ziemlich vage sind. Es sind Begriffe, deren Grenzen eher unscharf bleiben und deren Bedeutung Kant nie fest bestimmt hat. Ausdrücke wie »Prinzip«, »subjektiv« oder »Wille« haben mannigfache Bedeutungen im Rahmen der kantischen Philosophie, sodass es schwierig ist, mit ihnen zu arbeiten. Dies kann jeder bestätigen, der die Kant-Literatur zu Hilfe zu nehmen versucht, um die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Maxime« bei Kant zu beantworten. Da die Teilnehmer der Diskussion im Rahmen der Kant-Forschung nicht darin übereinstimmen, was die zentralen Begriffe der Definition, nämlich »subjektiv«, »Prinzip«, »Wille« und »Handlung« in diesem Zusammenhang bedeuten, entstehen in den verschiedenen Arbeiten ganz unterschiedliche Interpretationen des Begriffs der Maxime bei Kant. Dass die definierenden Begriffe in den Definitionen der Maximen allzu vage sind, liegt auf der Hand. Wenn man z. B. (wie die Mehrheit der Kant-Forscher*innen) annimmt, dass Maximen »Prinzipien« sind, dann müssen sie »allgemeine Sätze« sein, und dann stellt sich natürlich die Frage: Was ist diese Allgemeinheit? Die Maximen könnten im Prinzip in vielfachem Sinne allgemein sein. 362 Sie könnten theoretisch entweder strenge oder komparative Allgemeinheit haben bzw. einen entsprechenden Geltungsanspruch erheben. 363
362 Nicht wenige Autor*innen halten dies für den Punkt, auf den es Kant besonders ankommt. Vgl. z. B. (Fricke 2008, S. 125). Es ist aber auffällig, dass viele dieser Autor*innen (wie Fricke) sich nicht darum bemühen, die Bedeutung dieser Allgemeinheit zu erklären. 363 In der Kant-Forschung sind beide Thesen vertreten worden. Für die These der komparativen Allgemeinheit siehe (Thurnherr 1994, S. 46–47). Gegen Thurnherr argumentiert (Gillessen 2012, S. 93 ff.). Man findet auch eine dritte These in der Literatur, nach der die Maximen höhere und niedrigere Grade an Allgemeinheit aufweisen können. Vgl. z. B. (Timmermann 2003a, S. 156 ff.). Natürlich setzt die Beantwortung der Frage nach der »Allgemeinheit« der Maximen auch die Antwort auf die Frage nach dem Bestandteil der Maximen voraus, der von einem »Allgemeinheitsoperator« be-
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Interpretiert man diese Allgemeinheit als strenge Allgemeinheit im Sinne eines »Allquantors«, muss man den Anwendungsbereich des Quantors bestimmen. Kant gibt aber keinen Hinweis, wie diese Bestimmung zu vollziehen ist. Interpretiert man die Allgemeinheit als »komparative«, muss man annehmen, dass Maximen Regeln sind, die Ausnahmen erlauben. Dann drängt sich die Frage auf: Unter welchen Bedingungen erlauben sie Ausnahmen? Wenn wir die Definitionen Kants konsultieren, bleibt diese Frage unbeantwortet. Außerdem könnte die These der Allgemeinheit der Maximen den Leser irritieren, weil Maximen den Kategorien der Freiheits-Tafel nach eine subjektive Quantität haben (Vgl. KpV AA 05 66, 21). Was bedeutet ihre »Allgemeinheit« also? Die Wichtigkeit der Frage nach der Allgemeinheit von Maximen kann man leicht erkennen, wenn man in Betracht zieht, dass Maximen das universalisierbare Material sind, von dem das Universalisierungsverfahren des kategorischen Imperativs abhängt. Wenn Maximen schon als solche allgemeine Prinzipien sind, dürften sie deshalb im Grunde auch weder der Universalisierung fähig noch der Universalisierung bedürftig sein. Aber das kann natürlich nicht sein, weil Maximen als Gegenstand des kategorischen Imperativs universalisierbar sein müssen. 364
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Beispiele und Maximensätze
Die Versuche zur Erklärung des Maximenbegriffs mittels bloßer Analyse der definierenden Begriffe sind erfolglos geblieben. Beispiele dieser Erfolgslosigkeit gibt es in der Sekundärliteratur genug. Meiner Meinung nach ist der bekannte Text von R. Bittner (Bittner 1974) ein solches Beispiel. Der Kern dieser Erfolglosigkeit liegt im Fall Bittners in einem hermeneutischen Laster. Ein Beispiel dafür ist die Behauptung Bittners, dass Kant im sogenannten »Depositum-Beispiel« einen Fehler begangen hätte. Die »Evidenz« für diese Interpretation liegt für Bittner allein in dem Faktum, dass dieses Beispiel sich unter seinen Voraussetzungen nicht als sinnvoll interpretieren lässt (Bittner 1974, S. 497 Fn.). Für dieses Laster ist er auch von vielen Autor*innen
stimmt ist. Die Frage muss zunächst beantwortet werden, wenn man den Begriff der Maxime erklären will. 364 R. Enskat hat auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Vgl. (Enskat 1990, S. 48). Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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kritisiert worden. 365 Beispiele sollen da, wo die Definitionen nicht klar genug sind, eine erhellende Funktion haben. Daher muss man sie ernst nehmen. Man kann und sollte die Strategie einer Analyse der Definitionen des Maximenbegriffs daher um eine Analyse der kantischen Beispiele für Maximen ergänzen. 366 Aber auch hierbei gilt noch einmal die Warnung, dass die Dinge komplizierter liegen als es zunächst den Anschein haben könnte. Denn die kantischen Beispiele für Maximen sind nicht als Beispiele gedacht, die die vollständige Struktur von Maximen darstellen sollen. Erstens muss man in diesem Rahmen darauf aufmerksam machen, dass die kantischen Beispiele (worauf schon M. Albrecht aufmerksam gemacht hat) die Besonderheit haben, dass sie fast immer Beispiele unsittlicher Prinzipien sind, d. h. von Prinzipien, die scheitern würden, wenn man sie mit dem Test des kategorischen Imperativs überprüfte. Albrecht weist deswegen darauf hin, dass nur in MS ein Beispiel einer Maxime zu finden ist, die im Test des kategorischen Imperativs nicht scheitert (Albrecht 1994, S. 133). 367 Diese Tatsache kann man unterschiedlich interpretieren und sie hat für sich selbst keine eindeutige Bedeutung. Albrecht zieht aus ihr z. B. den merkwürdigen Schluss, dass – da Kants Beispiele für Maximen üblicherweise unsittliche Maximen sind – der Maximenbegriff klarer würde, wenn man in der Biographie Kants oder in anderen Texten nach Beispielen für Maximen suchte. Diese Beispiele könnten jedoch nur als solche gelten, so Albrecht, »wenn sie Kants Begriff der Maxime entsprechen.« (Albrecht 1994, S. 133 ff.). Meines Erachtens ist jedoch klar, dass Albrecht hier eben das voraussetzt, was er erklären will, weil es ihm genau darum geht, was Kant als »Maxime« bezeichnet. 368 Die Interpretation Albrechts zeigt m. E., dass die interessante Tatsache, dass Kant in der Regel nur Beispiele für unmoralische Maximen gibt, für sich selbst wenig besagt. Ich denke aber, dass man etwas an365 Vgl. (Allison 1990, S. 92), (Kernstein 2002, S. 197 FN. 15), (Köhl 1990, S. 53) und (Timmermann 2003a, S. 164). 366 Es gibt viele Stellen, wo Kant Beispiele von Maximen einführt. Eine gute Sammlung von kantischen Beispielen findet sich in (Thurnherr 1994 S. 34–36). 367 Vgl. AA 06 393, 19–23: »und diese Maxime niemals anders als bloß durch ihre Qualifikation zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen Andere auch für uns zu Zwecken zu machen verbinden kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist.«. 368 Eine Kritik der Strategie Albrechts ist auch in Timmermanns Buch zu finden. Vgl. (Timmermann 2003a, S. 164).
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deres aus ihr ziehen könnte. Dazu müsste man die von Kant in den Beispielen formulierten Maximen anhand ihrer jeweiligen Negativkopie betrachten. 369 Meiner Einschätzung nach ist der Gedanke Kants, dass man die Eigenschaften moralischer Maximen besser versteht, wenn man sie anhand ihrer Negativkopien, nämlich entsprechender unmoralischer Maximen, untersucht. Da ich mich hier nicht mit der Moralphilosophie Kants beschäftige, wird dieser Sachverhalt im Verlauf meiner Arbeit nicht besonders wichtig werden. Wenn man diese Interpretation vom Standpunkt des Handlungsproblems betrachtet, kann man aber das folgende sagen: Man tut gut daran, die Beispiele Kants immer so zu lesen, dass man sie nicht als Beispiele versteht, in denen die vollständige Struktur von Maximen dargelegt wird. Kant stellt normalerweise nur die Elemente vor, die verantwortlich dafür sind, dass eine Maxime pflichtwidrig ist. Deswegen sind manche Maximen extrem pauschal formuliert, wie z. B. »keine Beleidigung ungerächt zu erdulden« (AA 05 19, 19–20). Fügt man jedoch andere relevante Bestandteile hinzu, ist es in der Regel (aber nicht immer) möglich, die Maxime zu »reparieren«. Folgt man in der Analyse der Beispiele dieser Strategie, dann kann man, so meine These, viel über die Struktur von Maximen lernen. 370 Zweitens muss man darauf aufmerksam machen, dass die Beispiele Kants eigentlich keine direkten Beispiele für Maximen sind. Sie sind üblicherweise eher Beispiele für »Maximensätze«. 371 Oder besser: Man kann Beispiele von Maximen nur angeben, wenn man sie sprachlich formuliert. Denn wir haben nur sprachlichen Zugang
Zur Idee der Negativkopie vgl. (Wieland 2004, S. 9). Und auch viel über die Moralphilosophie Kants, da Kant selbst manchmal diese Technik verwendet hat, z. B. in den »kasuistischen Fragen«. Wenn man dies beachtet, merkt man sofort, dass Anscombes These, dass Kant das Problem der relevanten Beschreibungen nicht gesehen habe, schlicht und einfach falsch ist. Vgl. (Anscombe 1958, S. 27). Auf diesen Punkt haben schon sowohl O’Neill als auch Torralba aufmerksam gemacht. Vgl. (O’Neill 2004) und (Torralba 2011, S. 41). Dies ist ein wichtiger Sachverhalt, der teils als ›Gegengift‹ gegen unangemessene Behauptungen Anscombes über die Moralphilosophie Kants dienen kann. Zum Problem der Grenzen der »Umformulierung« der Maximen siehe (Hermann 1990, S. 62 ff.) und (de Haro 2015, S. 49). 371 Für diesen wichtigen Unterschied siehe (Gillessen 2012, S. 69 ff.). Gillessen macht auch auf die Irrtümer aufmerksam, die einige Kant-Forscher begangen haben, die diesen Unterschied verkannt haben. Ich folge hier Gillessens Bezeichnung, obwohl ich eigentlich von Maximenpropositionen sprechen würde. 369 370
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zu Maximen. 372 Die Maximensätze in Kants Beispielen stehen für Urteilsakte. Denn Kants Ansatz ist, wie oben gesehen, dass sowohl die Maximen als auch andere »praktische Grundsätze« Urteile sind. 373 Das heißt, dass sie Bewusstseinsinhalte sind. Kant geht es nicht um sprachliche Dokumente, sondern um die Verbindung der Vorstellungen im Bewusstsein. Für die praktischen Grundsätze, zu denen Maximen gehören, gilt das Prinzip der Apperzeption: Das »Ich denke« muss diese Inhalte begleiten können (B 131–132). 374 Mir ist es im Moment jedoch wichtiger, darauf aufmerksam zu machen, dass Maximen für Kant nichtsprachliche Gebilde sind, obwohl sie propositionalisierbar sind. 375 Propositionen sind, so wie wir sie hier verstehen (siehe oben S. 134 Fn. 211), sprachliche Dokumente, die zwar die Tiefenstruktur des Urteilsaktes spiegeln können, die aber nicht identisch mit den Urteilen sind. Gewiss haben wir, wie oben gesagt, einen sprachlich vermittelten und keinen »nichtsprachlichen« Zugang zu unseren Maximen, aber das sprachliche Dokument ist nicht mit der Maxime identifizierbar. Noch wichtiger: Die kognitive Priorität der Sprache für unseren Zugang zur Sphäre des Bewusstseins schließt keine ontologische oder andere Priorität der Sprache ein (siehe oben S. 131). Es ist wichtig, dies im Auge zu behalten; andernfalls kann man gewichtige Fehler begehen. Man kann z. B. den erstpersonalen Charakter der Maximen dadurch verkennen, dass Kant sie manchmal nicht in der ersten Person formuliert, oder man kann sich durch die pauschale Formulierung der Maximen in den Beispielen Kants irritieren lassen. 376 In den folgenden Abschnitten will ich eine Analyse des MaxiSiehe die Bemerkungen über das Expressibilitäts-Postulat S. 119 Fn. 185. Wie oben gesehen, spricht Kant normalerweise von »praktischen Sätzen« (AA 05 19, 7), aber er verwendet den Ausdruck »Satz« nicht in demselben Sinne, wie wir ihn verstehen. Sätze sind bei Kant Urteile. Vgl. S. 134 Fn. 211. 374 Dies ist ein Prinzip, das für jede Vorstellung gültig ist: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« (B 131– 132). 375 Dazu siehe die Bemerkungen über das »Expressibilitäts-Postulat«, oben S. 119 Fn. 185. 376 Thurnherr hat darauf hingewiesen, dass Kant trotz einer gewissen Vorliebe für die erste Person Maximen auch in der dritten Person formuliert. Vgl. (Thurnherr 1994, S. 38). Maximen sind jedoch trotz dieser sprachlichen Eigenschaft, die manche Beispiele Kants aufweisen, »erstpersonale Gebilde«. 372 373
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menbegriffs bei Kant durchführen. Diese Analyse erhebt keinen Vollständigkeitsanspruch, sondern will nur dazu dienen, meine These zu stützen, dass Kant der Meinung war, dass jede Handlung nach Maximen vollzogen wird. Wichtig ist es auch hier, die Form der Maximen zu erklären, denn als Urteile müssen sie eine Form haben. Ich werde hier zuerst die definierenden Elemente der Maximen analysieren, die in den Definitionen des Maximenbegriffs eine wichtige Rolle spielen, nämlich die Subjektivität und den Prinzip-Charakter der Maximen. Diese Begriffe sind, wie wir gerade gesehen haben, erklärungsbedürftig. Die von Kant angeführten Beispiele von Maximen werden eine wichtige Rolle als Kontrollinstanz in der Analyse dieser Begriffe spielen. Die Analyse wird uns zweierlei liefern: a) eine Klärung der Struktur von Maximen und b) eine Antwort auf die Frage nach der Rolle von Maximen in der Handlungskonzeption Kants. Wir werden jedoch ebenso sehen, dass Kant auch den Begriff der Maxime mehrdeutig verwendet.
§ 11 Analyse der Bestandteile der Definition von Maximen Wie gesagt, spielen die folgenden Begriffe eine zentrale Rolle bei der Charakterisierung des Begriffs der Maxime bei Kant: i) Subjektivität und ii) Prinzip-Charakter. Ich versuche im Folgenden, diese Begriffe in Bezug auf den Maximenbegriff zu analysieren.
11.a) Subjektivität 377 Kant behauptet, wie oben gesagt, dass Maximen »subjektive Prinzipien« seien. Infolgedessen attribuieren die Kantforscher*innen Maximen die Eigenschaft der »Subjektivität«. Ein solches Wort wurde von Kant in seinem veröffentlichten Werk jedoch niemals benutzt, 378 obschon es wie ein typisch kantischer Ausdruck klingt und eigentlich ein typisches Wort in der Kant-Forschung ist. Hingegen verwendet
377 Diesen Punkt habe ich bereits in (Placencia 2013) untersucht. Ich folge dieser Untersuchung hier und erweitere sie. 378 Es gibt allerdings drei Stellen im Nachlass, an denen Kant dieses Wort benutzt, obwohl er auch dort keine Charakterisierung liefert. Vgl. R 6348 AA 18 672, 3; R 6357 AA 18 681, 26; AA 22 309, 16.
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Kant das Adjektiv »subjektiv« häufig und mit unterschiedlichen Bedeutungen, z. B. wenn er behauptet, dass Maximen »subjektive Prinzipien« seien, oder wenn er Raum und Zeit als »subjektive Bedingungen der Sinnlichkeit« charakterisiert (vgl. KrV A 26/B 42; A 33/B 49). Die Subjektivität der Maximen ist aber nicht identisch mit der Subjektivität des Raumes, oder anders gesagt, das Adjektiv »subjektiv« bedeutet, wenn es auf Maximen angewendet wird, nicht das gleiche wie wenn es den Raum bestimmt. Das Adjektiv »subjektiv« wird normalerweise als Gegenstück zu »objektiv« benutzt, z. B. wenn Kant die Maximen als »subjektiv« bezeichnet im Vergleich mit den Imperativen, die »objektive« Prinzipien seien. Im Fall von Raum und Zeit ist dies jedoch nicht so, weil ihre »Subjektivität« auch ihre »objektive Gültigkeit« zur Folge hat (vgl. KrV A 34–35/B 51). 379 Das Adjektiv »subjektiv« scheint darüber hinaus auch dann mannigfaltige Bedeutungen zu haben, wenn es auf das Substantiv »Maxime« angewendet wird. 380 Daher ist zu vermuten, dass die Wörter »subjektiv« und »Subjektivität« Sammelbegriffe sind, die unterschiedliche formale Strukturen zusammenfassen. Wenn man diese Strukturen entdecken will, ist eine Quasi-Formalanalyse von Nutzen, die verdeutlicht, welche Bedeutung die subjektivitätsanzeigenden Ausdrücke haben, die in den kantischen Maximenbeispielen auftreten. Wie aber könnte man diese Quasi-Formalanalyse leisten? Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert Kants Behauptung, Maximen seien »Urteile« bzw. »Sätze« 381 (vgl. D3 KpV § 1 AA 05 19, 6). Daher geht mein methodischer Vorschlag dahin, dass man eine erste Antwort auf die Frage nach der »Subjektivität« der Maximen finden könnte, wenn man den 379 »Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung (welche jederzeit sinnlich ist, d. i. sofern wir von Gegenständen affiziert werden) und an sich, außer dem Subjekte, nichts. Nichts desto weniger ist sie in Ansehung aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der Erfahrung vorkommen können, notwendiger Weise objektiv«. Auch im Fall anderer gängiger Ausdrücke der Kant-Forschung, in denen das Adjektiv »subjektiv« vorkommt, gilt es, relevante Unterschiede zu beachten. Dies ist z. B. der Fall bei Ausdrücken wie »subjektiv gültig«, die z. B. als Bestimmung der Geschmacksurteile oder der Wahrnehmungsurteile mehrdeutig sind. Siehe (Fricke 1990, S. 34–35). 380 Vgl. z. B. (Bittner 1974, S. 496–487), (Brinkmann 2003, S. 97), (Kerstein 2002, S. 17), (Köhl 1990, S. 47–48). 381 Wie oben gesagt, bedeutet bei Kant »Satz« nicht dasselbe wie in der Gegenwartsphilosophie. Deswegen verwende ich von hier an den Ausdruck »Satz« oder einfach »Urteil«, um vom kantischen Begriff zu sprechen. Für die Bedeutung, die ich dem Wort »Proposition« hier gebe, siehe oben S. 139 Fn. 211.
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Urteilscharakter der Maximen in Betracht zieht. 382 Maximen als Urteile sind uns zugänglich nur durch die Analyse ihrer propositionalisierten Form. Entsprechend ist meine erste Aufgabe hier, die Maximenbeispiele als sprachliche Gebilde zu analysieren. Die Analyse dieser Beispiele wird uns helfen, die Struktur von Maximen als Urteilen zu entziffern. Sie wird aber für sich genommen noch nicht genügen. Die Art von Analyse von Maximen als Propositionen, die für mich hier interessant ist, ist diejenige, die Maximen in linguistischer Hinsicht untersucht. Wenn man die kantischen Beispiele von einem linguistischen Standpunkt betrachtet, kann man die einfache Tatsache bemerken, dass die Maximenbeispiele de facto immer in Ausdrücken des Singulars formuliert werden, und zwar in der ersten oder dritten Person des Singulars. 383 Obwohl Kant kein Beispiel dafür gibt, könnte man zumindest theoretisch davon ausgehen, dass die Formulierung einer Maximenproposition auch in der zweiten Person des Singulars möglich ist, z. B. dann, wenn man die Maximen einer anderen Person beurteilt. Also könnte man in diesem Fall sagen: »Deine Maxime X ist unmoralisch bzw. moralisch« oder im Rahmen der Selbstbeurteilung: »Darfst du die Maxime X wollen?«. Obgleich dieses erste und einfache Ergebnis bereits etwas über die Subjektivität von Maximen aussagt, ist diese Auskunft noch nutzlos, da sie keine vollständige und hinreichende Erklärung der Subjektivität von Maximen ist. Subjektivität ist ein Merkmal, das die Rolle der differentia specifica in der Definition der Maximen als subjektiven Prinzipien spielt; darin dürften sich Maximen von anderen praktischen Prinzipien unterscheiden. Entsprechend ist Subjektivität eine Eigenschaft, die Maximen haben und die der kategorische Imperativ nicht hat. Die grammatische Form des Singulars ist aber ein gemeinsames
382 Der Satz-Charakter der Maximen spielt eine zentrale Rolle in den kantischen Ideen über die Methode, mit der Kant die beiden zentralen Probleme der praktischen Philosophie behandelt, nämlich das Problem der Begründung und das Problem der Anwendung von Normen (oder anders formuliert: das Problem der Beurteilung). Vgl. dazu (Enskat 1990, S. 35–36) und (Enskat 2006, S. 13). 383 Enskat hat darauf aufmerksam gemacht, dass die erste Person Singular die angemessenste linguistische Form ist, die die Subjektivität der Maximen ausdrückt. Vgl. (Enskat 2001, S. 95) und (Enskat 2010a, S. 237). Kant verwendet de facto auch die dritte Person. Dies zeigt aber nicht, dass Enskats Bemerkung abwegig ist, sondern vielmehr, dass man sich in der Interpretation des Maximenbegriffs nicht an der sprachlichen Form der Beispiele orientieren sollte.
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Merkmal der Formulierung des kategorischen Imperativs und der Maximenbeispiele. 384 Wenn man die Texte unter die Lupe nimmt, in denen Kant über Maximen spricht oder den Begriff operativ verwendet, wird man auf weitere interessante Sachverhalte stoßen. Es ist interessant, dass Kant nicht einfach davon spricht, eine Maxime zu »haben« oder Maximen zu hegen, sondern dass er normalerweise die Grammatik verwendet, dass »jemand (ich) sich (mir) etwas zur Maxime macht (mache)«. 385 Diese Grammatik wird von Kant häufig verwendet, wenn er Beispiele einführt, in denen Maximen ins Spiel kommen. Es gibt also gute Gründe zu meinen, dass die Analyse dieses Ausdrucks interessante Folgen für die Untersuchung der Struktur der Maximen hat. Wenn man die erwähnte Grammatik betrachtet, ist auf den ersten Blick auffällig, dass Maximen etwas sind, das die handelnde Person sich selbst macht. Sie werden daher nicht gegeben, sondern sind Folge einer Aktivität des Subjekts. Das Subjekt soll bestimmte Haltungen einnehmen oder Fähigkeiten ausüben, wenn es sich etwas zur Maxime macht. Man soll daher etwas tun, um Maximen zu haben. Andere Wendungen, die Kant verwendet, um das Annehmen einer Maxime auszudrücken, bestätigen dies. Entsprechend spricht Kant z. B. auch von jemandem, der eine Maxime ›beschließt‹ (siehe auch die schon zitierte Stelle in GMS AA 04 399, 37, in welcher der Ausdruck »eine Maxime beschließen« verwendet wird). 386 Wenn man dies mit einer technischen Wendung der kantischen Philosophie ausdrücken wollte, könnte man sagen, dass Maximen zumindest teilweise »selbst gegebene Vorstellungen« sind, die außerdem ein Vermögen voraussetzen, diese Vorstellungen sich selbst geben zu können. Der »technische« Ausdruck, der dieses Vermögen anzeigt, ist
384 Auffällig ist dabei, dass der kategorische Imperativ immer in der zweiten Person formuliert ist und die Maximenpropositionen, wie gesagt, in der ersten oder dritten. 385 Vgl. z. B. KpV AA 05 19, 19: »es kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden«; KpV AA 05 27, 23: »Ich habe z. B. es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern«; MS AA 06 225, 34–36: »Maxime aber ist das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will)«; 231, 5: »Es folgt hieraus auch: daß nicht verlangt werden kann, daß dieses Prinzip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei, d. i. daß ich es mir zur Maxime meiner Handlung mache«. Dieser Punkt wurde von Bittner betont. Vgl. (Bittner 1974, S. 486–487). Vgl. auch (Köhl 1990, S. 47–48) und (Wood & Schönecker 2004, S. 102). 386 Vgl. auch (Schwartz 2006, S. 37).
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das Wort »Spontaneität«, 387 die Kant als die Fähigkeit eines Subjekts, »Vorstellungen selbst hervorzubringen« (vgl. KrV A 51/B 75) charakterisiert. Da Maximen deswegen subjektiv sind, weil sie vom Subjekt selbst geschaffen werden, bedeutet diese Subjektivität auch, dass das Subjekt, das nach Maximen agiert, spontan agiert. Infolgedessen sind Maximen eine Leistung des Vermögens, das die menschlichen Handelnden als vernünftige Wesen haben, nämlich des Vermögens, nach Prinzipien, Gesetzen oder Regeln zu handeln. Dies ist das, was Kant Wille oder praktische Vernunft nennt (GMS AA 04 412, 30–31; AA 23 383, 25). Hier muss man auf folgendes aufmerksam machen. In späteren Texten, in denen Kant explizit eine Unterscheidung zwischen »Wille« und »Willkür« vornimmt, wird er behaupten, dass Maximen eigentlich ein Produkt der Willkür sind. Maximen sind eine Leistung der exekutiven Begehrungsvermögen, nicht der gesetzgebenden. Nichtsdestoweniger hat Kant zumindest explizit diese Trennung in der GMS nicht vollzogen. 388 Das, was Kant in der oben zitierten Stelle der GMS als »Wille« bezeichnet, wird er später »Willkür« nennen. Inhaltlich stimmen deswegen auch die Erklärungen des »Willens« in der KpV und der Willkür in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten (vgl. KpV AA 05 15 und Rechtslehre AA 06 213, 17–18) überein. Im letzteren Text nimmt Kant die Trennung zwischen »Wille« und »Willkür« klarer vor als in den anderen veröffentlichten Werken. Wille und Willkür sind, so Kant in der Metaphysik der Sitten, »Akte« des Begehrungsvermögens nach Begriffen. Kant charakterisiert zunächst das Begehrungsvermögen als »das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein« (AA 06 211, 6–7 auch AA 05 9, 20–22). 389 Während die Willkür das Begehrungsvermögen nach Begriffen in Beziehung auf die Handlung ist, ist der Wille dieses Vermögen »in Beziehung auf den Bestimmungsgrund betrachtet« (AA 06 213, 22–24). In diesem Sinn sind
Dieser Begriff hat eine außerordentliche Tragweite sowohl in der praktischen als auch in der theoretischen Philosophie Kants. Vgl. (Enskat 1990, S. 64 ff.), (Enskat 2001, S. 90 ff.) und (Enskat 2013). 388 Siehe dazu (Köhl 1990, S. 57), (Schwartz 2006, S. 13–14), (Willaschek 1992, S. 48– 53) und (Willaschek 2006, S. 126–129). 389 »Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben [eines Wesens, LP], durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein«. 387
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Maximen Prinzipien der Willkür, aber nicht des Willens in diesem engerem Sinn des Wortes »Wille«. Maximen sind aber nur teilweise spontan. Das wird von Kant selbst angedeutet, wenn er betont, dass Maximen sich auf Neigungen und Begierden stützen. Entsprechend weist Kant darauf hin, dass eine Maxime »die praktische Regel [enthält], die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt« (D2 GMS AA 04 421, 26–27 Fn.). Auch behauptet er, dass in der praktischen Philosophie nicht zu untersuchen sei, »warum etwas gefällt oder missfällt, wie das Vergnügen der bloßen Empfindung vom Geschmacke, und ob dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft unterschieden sei, worauf [das] Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus diesen aber, durch Mitwirkung der Vernunft, Maximen entspringen« (GMS AA 04 427, 6–9). Wenn ich mir also etwas zur Maxime mache, spielen auch Neigungen eine Rolle, die ein passives Element einführen. Entsprechend charakterisiert Kant Neigungen als »[d]ie Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen« (GMS AA 04 413, 26 Fn.). Dieses Element führt wiederum einen Mangel an Spontaneität ein. Daraus kann man leicht einen weiteren Schluss ziehen: Maximen erheben nur einen subjektiven, aber keinen intersubjektiven Geltungsanspruch. 390 Das bedeutet, dass sie als bloße Maximen nur für die Person gültig sind, die sich diese Maxime gegeben hat. Das hat eine wichtige Konsequenz zur Folge: Maximen sind der Universalisierung fähig und von einem moralischen Standpunkt aus auch der Universalisierung bedürftig. 391 Zusammenfassend kann man behaupten, dass Maximen subjektiv sind in folgendem Sinne: 1) 2)
Es sind Regeln, die im Singular formuliert werden. Es sind »selbst gemachte Regeln«, und deswegen drücken sie aus, was ich mir zur Regel mache. Sie ist also eine Leistung der Spontaneität des Subjekts.
390 Dies ist die Meinung der Mehrheit der Kantforscher. Eine andere wurde von Thurnherr verteidigt. Vgl. (Thurnherr 1994, S. 39). 391 Dann ist es nicht der Fall, dass Maximen weder der Universalisierung fähig noch der Universalisierung bedürftig sind, wie man vermuten könnte, wenn man den Prinzip-Charakter in Betracht zieht. Vgl. (Enskat 1990, S. 49).
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3)
Maximen sind Regeln, die ich nur mir setze, weswegen sie nur für mich gültig sind; daher erheben sie keinen intersubjektiven Geltungsanspruch. 392
Es gibt jedoch noch einen vierten Aspekt, unter dem Maximen subjektiv sind. Es sind Regeln, die das Subjekt sich selbst für seine Handlung gibt, und als solche sind sie Regeln, die nur im Rahmen einer Situation ins Spiel kommen können. 393 Hier taucht ein neues und außerordentlich wichtiges Element von Maximen auf, nämlich die Situation. Wenn man die kantischen Beispiele einer genaueren Betrachtung unterzieht, sieht man alsbald, dass die Tragweite des Situations-
392 Diese drei Aspekte, unter denen eine Maxime subjektiv sein kann, wurden auf gewisse Art schon von (Bittner 2005, S. 55–56) identifiziert, der der Meinung ist, dass Maximen subjektiv in dreifachem Sinne sind: 1.) Sie sind subjektiv in ihrer Abgrenzung, da sie nur Regeln für diejenigen sind, die sie als Maximen haben, 2.) sie sind subjektiv in ihrer Herrschaft, weil sie einen subjektiven Geltungsanspruch erheben, 3.) sie sind subjektiv in ihrer Bezugsquelle, weil sie vom Subjekt bekräftigt werden sollen. In diesem Punkt sind auch (Brewer 2002, S. 541), (Fricke 2008, S. 128) und (Kerstein 2002, S. 17) Bittner gefolgt. 393 Das Handeln bezieht sich auf ganz konkrete Situationen, obwohl die Regeln des Handelns die Funktion haben, Situationen von einem allgemeinen Standpunkt aus zu beschreiben. Hier kann man einen sehr wichtigen Unterschied zwischen der theoretischen und der praktischen Domäne erkennen. Wieland betont: »Der Handelnde kann sich, anders als der Erkennende, von dem Singulären, Individuellen und Kontingenten der stets auch sinnlich bestimmenden Erscheinung nicht distanzieren, in der er sich vorfindet und in der er agieren und reagieren muß. Auch wenn er sich an generellen Regeln orientiert, sind diese doch stets dazu bestimmt, auf individuelle Situationen angewendet zu werden.« Vgl. (Wieland 2001, S. 160). In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Leistungen der Urteilskraft in der Welt der Praxis wichtiger sind als in der Theorie (vgl. Wieland 2001, S. 162). Da die moralische Beurteilung ein Bestandteil der Welt der Praxis ist, ist die Situation dabei nicht anders. Die Ethik hat daher die Aufgabe, ein Kriterium der Beurteilung zu finden, das sowohl kontingente und nicht relevante Umstände der menschlichen Handlungen, die vom moralischen Standpunkt aus unwichtig sind, eingrenzt als auch partikulare Interessen absondert und zugleich als Werkzeug für die Beurteilung konkreter Situationen und individueller Handlungen dient. Diese Spannung zwischen partikularen Umständen und allgemeinen Regeln wird dramatischer, wenn man die Aufgabe der Ethik in geschichtlicher Hinsicht betrachtet. Hier sollte die Ethik sich bemühen, einerseits »von allen mehr oder weniger kontingenten geschichtlichen Umständen zu abstrahieren«, andererseits aber »ebenso planmäßig bemüht [sein], nach denjenigen Faktoren des menschlichen Lebens zu suchen, die geschichtlich invariant und gleichzeitig ethisch relevant sind«. Vgl. (Enskat 2006, S. 8). Die kantische Ethik hat mit Hilfe des kategorischen Imperativs eine Theorie, die wesentliche Vorteile bietet, um gegen diese Schwierigkeiten anzukämpfen.
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elements schwerlich überschätzt werden kann. In diesen Beispielen kann der Kantleser ein interessantes Gefüge finden, in dem Maximen eine Situationsanzeige zum Ausdruck bringen, die sich auf die kantische Beschreibung der Situation bezieht. Man liest in der GMS, wo Kant Beispiele der Anwendung des kategorischen Imperativs gibt: »Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruss am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze seiner Vernunft, dass er sich selbst fragen kann, ob es auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen. Nun versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen.« (AA 421, 24–422, 7)
In diesem Beispiel wird die Beziehung zwischen der »Situationsanzeige« und der Beschreibung der Situation klar dargestellt. Die Maxime: »ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen« beinhaltet eine »Situationsanzeige«, nämlich: »wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht«. Diese »Situationsanzeige« gibt dem handelnden Subjekt eine kurze Beschreibung der Bedingungen, unter denen die Maxime ins Spiel tritt. Angesichts der Tatsache, dass die Situation als solche nicht vollständig beschreibbar ist, da sie potenziell immer ausführlicher beschrieben werden könnte, handelt es sich bei dieser »Situationsanzeige« um die Darstellung eines Situationstypus. Die »Situationsanzeige« könnte von der Beschreibung der Situation erfüllt bzw. nicht erfüllt werden. 394 Von dieser Erfüllung hängt teilweise ab, ob der Handelnde seine Regel anwendet oder nicht. Wenn die »Situationsanzeige« die Beschreibung der Situation erfüllt, setzt die erste eine Regel in Gang, die einen Handlungstyp gebietet, z. B. »sich das Leben abkürzen«. Wenn man die erwähnten Merkmale betrachtet, die die Subjektivität der Maximen charakterisieren, dann könnte man ein vorläu394 Die Urteilskraft ist das Vermögen, das die Aufgabe der Prüfung der Erfüllung oder Nichterfüllung übernimmt. Entsprechend sagt Kant in der KrV: »Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) steht, oder nicht.« (KrV A 171/B 132. Vgl. KU AA 05 179, 19 und ff.)
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figes Schema der Struktur einer Maxime in der folgenden Form darstellen: S1: Ich will, wenn ich mich in der Situation vom Typ S befinde, H vollziehen (beschrieben als ein Handlungstyp). 395 Die Aspekte, unter denen Maximen subjektiv sind, lassen sich dann in der folgenden Liste zusammenfassen. 1) 2)
3)
4)
Es sind Regeln, die im Singular formuliert werden. Es sind »selbst gemachte Regeln« und deswegen drücken sie aus, was ich mir zur Regel mache. Sie sind also eine Leistung der Spontaneität des Subjekts. Maximen sind Regeln, die ich nur mir setze, weswegen sie nur für mich gültig sind, daher erheben sie keinen intersubjektiven Geltungsanspruch. Es sind Regeln, die einen Bezug auf eine Situation beinhalten, die als solche nur als ein einmaliger Fall einer Regel erfahren werden kann.
11.b) Prinzip-Charakter (Allgemeinheit) Maximen sind subjektive Prinzipien. Das Wort Prinzip impliziert, wie gesagt, immer »Allgemeinheit«, unabhängig davon, was man unter »Prinzip« versteht. Aber worin besteht diese Allgemeinheit von Maximen? W. Brinkmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass »an der Frage, in welchem Sinn Maximen allgemein sind, sich nun unter Kantinterpreten die Geister [scheiden]« (Brinkmann 2003, S. 109). Und dies aus guten Gründen. Denn hier treten wichtige Fragen auf, z. B.: Gibt es verschiedene »Grade« der Allgemeinheit von Maximen? Gibt es Maximen, die allgemeiner als andere sind? 396 Wie ich schon betont habe, sind die Antworten auf diese Fragen nicht über eine Definition des Maximenbegriffs ermittelbar. Achten 395 Ähnliche Interpretationen der Form der Maximen sind in (Enskat 2010a, S. 237), (Gillessen 2012, S. 143) und (Köhl 1990, S. 49–50) zu finden. 396 Die Antwort darauf ist affirmativ bei den folgenden Autor*innen: (Albrecht 1994, S. 133), (Brinkmann 2003, S. 115), (Herman 1990, S. 53), (Lukow 2003, S. 406), (Schwartz 2006) und (Willaschek 1992, S. 70). Gegenteilig haben (Bittner 1974) und (Höffe 1977) argumentiert.
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wir jedoch auf den Ursprung des kantischen Gebrauchs des Maximenbegriffs, kann man vielleicht eine Antwort auf unsere Frage finden, indem man untersucht, welche Funktion Maximen in den Quellen haben, aus denen Kant den Begriff der Maxime bezieht. Gemäß einer in der Kant-Forschung verbreiteten Ansicht über den Ursprung des kantischen Begriffs der Maxime geht dieser zurück auf einen terminus technicus der Logik der kantischen Epoche, der den obersten Satz in einem Polysyllogismus kennzeichnet. 397 Bei Kant handelt es sich aber bei Maximen nicht um den Obersatz einer beliebigen Art von Syllogismus, sondern um den Obersatz eines praktischen Syllogismus. 398 Dieser Punkt wird oft erwähnt, selten aber systematisch durchdacht. Denn die jeweiligen Autor*innen erwähnen diesen Ursprung in der Regel ohne zu versuchen, dies fruchtbar zu machen. Man kann aber auch anders mit dieser Erkenntnis umgehen. Der Gedanke, dass Maximen die »erste Prämisse« eines praktischen Syllogismus sind, hat, so meine These, eine enorme Tragweite für die Handlungskonzeption Kants. Bekanntlich war Aristoteles der erste Philosoph, der die Struktur des praktischen Syllogismus untersuchte. Es könnte sich also ein interessanter Bezug auf die aristotelische praktische Philosophie ergeben, die traditionell als das Gegenstück zur kantischen Moralphilosophie interpretiert wird. Sehr wahrscheinlich ist aber nicht Aristoteles die Quelle, aus der Kant den praktischen Syllogismus bezogen hat. Wahrscheinlicher ist, dass er es von Baumgarten übernommen hat. 399 Trotzdem könnte mit der Deutung von Maximen als principia maxima ein Schnittpunkt gefunden werden, in dem die Linien der aristotelischen und der kantischen Philosophie zusammenlaufen, nämlich bestimmte Aspekte der jeweiligen Handlungskonzeption. Allerdings ist die Bedeutung des Ausdrucks »praktischer Syllogismus« zu erklären, wenn man die These bestätigen will, dass 397 Diese Interpretation stammt von L. W. Beck (1960, S. 81). Sie hat auch andere Vertreter, z. B. (Höffe 1977). Zum Problem des Ursprungs des kantischen Gebrauchs des Begriffs der Maxime vgl. (Schwartz 2006, S. 25–27), wo eine kleine Zusammenfassung der unterschiedlichen Interpretationen zu finden ist. Schwartz hat jedoch nicht selbst Stellung dazu bezogen. Eine kleine »Geschichte« des philosophischen Begriffs der Maxime in der Philosophie befindet sich in (Bubner 1982, S. 196–200). 398 Diese Verwendung der Ausdrücke ist schon bei Baumgarten zu finden. Er charakterisiert Maximen als »maiores propositiones syllogismorum practicorum«. Vgl. Ethica Philosophica § 246. 399 Vgl. (Bubner 1982, S. 200), (Timmermann 2003a, S. 179) und Baumgartens Metaphysica § 699.
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es eine Verbindung zwischen der kantischen Theorie des Handelns und der aristotelischen Handlungskonzeption gibt. Denn die Bedeutung des Ausdrucks »praktischer Syllogismus« ist nicht eindeutig und variiert in den verschiedenen Werken der Philosoph*innen. Den Ausdruck haben zahlreiche Autor*innen im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Ziel verwendet, die zugrundeliegende Struktur der 1.) Ausführung, 2.) Rechtfertigung der Handlung und 3.) der deliberativen Vorgänge, die der Ausführung einer Handlung vorangehen, zu erklären. Unter den Autor*innen, die sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhundert auf dieses Modell berufen haben, um einige dieser Probleme zu behandeln, sind G. E. M. Anscombe (Anscombe 1963, S. 57 ff.), D. Davidson (Davdison Davidson 1970, S. 31–42), A. Kenny (Kenny 1966) und G. H. von Wright (von Wright 1963, 1971a, 1972) besonders wichtig gewesen. 400 Jeder, der die Werke dieser Autor*innen liest, wird bestätigen können, dass jeder Autor den Ausdruck »praktischer Syllogismus« anders als die jeweils anderen Autor*innen interpretiert und verwendet. Dies ist auch in der Aristoteles-Forschung der Fall. Während eine lange Tradition vor der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert die aristotelische Berufung auf die syllogistische Struktur als einen Beleg für die These angeführt hat, Aristoteles’ Ethik sei als ein geometrisches System zu interpretieren, haben andere diese These abgelehnt, besonders die Autor*innen im Gefolge der Arbeiten Allans und Nussbaums. 401 Deswegen muss man hier besonders vorsichtig vorgehen. Oben habe ich auch versucht, diese Struktur im Fall Kants fruchtbar zu machen (siehe oben S. 200 ff.), indem ich einige kantische Gedanken bezüglich der Ausführung von Handlungen als auch der Deliberation oder der praktischen Überlegung zu rekonstruieren versucht habe. Im Fall der Ausführung ist die »Konklusion« eine Handlung, während im Fall der Überlegung die Konklusion ein Gebot ist. Der Klarheit halber bezeichne ich hier die Struktur der praktischen Überlegung als »deliberativen Syllogismus«, während ich den Namen »praktischer Syllogismus« für die Struktur reserviere, die die 400 Siehe auch (Streumer 2010). Für eine Analyse der verschiedenen Deutungen des praktischen Syllogismus im zwanzigsten Jahrhundert siehe (Corcilius 2008). Corcilius unterscheidet zwei großen Interpretationsstrategien: 1) die Autor*innen, die den praktischen Syllogismus als die Struktur der praktischen Deliberation verstanden haben, 2) die Autor*innen, die den praktischen Syllogismus als ein Instrument zur Erklärung der Ausführung von Handlungen interpretieren. 401 Vgl. (Allan 1955) und (Nussbaum 1978).
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in der Ausführung von Handlungen relevanten Elemente auf den Begriff bringt. In der Deliberation geht es darum, herauszufinden, was zu tun ist. In der Erklärung der Ausführung einer Handlung geht es darum, die Gedanken oder Vorstellungen explizit zu machen, die am Zustandekommen der Handlung Anteil haben und sie erklären. 402 Daher ist es nötig, diese beiden Strukturen zu unterscheiden, die man üblicherweise mit dem Namen »praktischer Syllogismus« bezeichnet. Denn nur da, wo die Konklusion eine Handlung ist, ist der Syllogismus im eigentlichen Sinne »praktisch«. 403 Oben habe ich außerdem argumentiert, dass es in »Syllogismen« beider Arten trotz des erwähnten Unterschieds sowohl einen subjektiven als auch einen objektiven Bestandteil gibt, nämlich einerseits einen konativen bzw. voluntativen Faktor (die Maxime) und andererseits einen kognitiven Faktor (ZMU-Urteile, also ein konstatives Urteil, dass etwas ein Fall der Maxime ist). Diese gemeinsame Struktur nenne ich von hier an »praktischer Syllogismus in weiteren Sinn«. Ich habe in Kapitel 3 mit Hilfe einer Analyse der Struktur des praktischen und deliberativen Syllogismus die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks »Imperativ« bei Kant untersucht. Das Resultat war, dass hypothetische Imperative in ihrer normativen Form der Struktur der (nicht-moralischen) Deliberation entsprechen, während die ZMU-Urteile, die Kant ebenfalls als »Imperative« bezeichnet, die ko402 Es gibt Autor*innen, wie z. B. S. Rödl, die beide Funktionen nicht trennen. Dies scheint mir ein Fehler zu sein. Vgl. (Rödl 2011, S. 33–92). In diesem Rahmen verteidigt Rödl die folgende merkwürdige These: »Doch wenn das, was jemand tut, eine wahre Handlungserklärung hat, sind sein Handeln und sein Gedanke, daß so zu handeln gut ist, dieselbe Wirklichkeit. Ein Handeln ist Ausdruck eines Gedankens darüber, was zu tun ist, nicht in dem Sinn, daß seine Wirkung ist, sondern in dem Sinn, daß es dieser Gedanken ist«. (Rödl 2011, S. 73). Nimmt man diese Identitätsthese Rödl erst, muss man dann annehmen, dass die Handlung und der Gedanke dieselbe Eigenschaften haben. Dies scheint mir aber schwierig anzunehmen. 403 Hier folge ich der Interpretation des praktischen Syllogismus von M. Nussbaums und A. Vigo. Vgl. (Nussbaum 1978, S. 184–220) und (Vigo 2010a). Den Unterschied zwischen diesen zwei Formen des Syllogismus (deliberativer und praktischer) nehme ich teils aus Santas und teils aus Vigo. Vgl. (Santas 1969, S. 175 ff.) und (Vigo 2010a, S. 5 ff.). Die Rede vom »praktischen Syllogismus« ist auch in derivativem Sinn gerechtfertigt. Entsprechend hat T. Nagel darauf aufmerksam gemacht, dass »the crucial point is that practical reason is a reason to do or want something, as a theoretical reason is a reason to conclude or belief something« (Nagel 1970, 64). Der entscheidende Punkt ist hier aber, dass wenn es um echtes Wollen geht, nämlich im kantischen emphatischen Sinn, dann beschließt dieses Wollen immer Handlungen: die Aufbietung der Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind.
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gnitive Rolle in der Deliberation oder Ausführung der Handlung spielen. Es wurde auch gezeigt, dass Kant die Struktur des praktischen Syllogismus im Hintergrund hat, wenn er den Willen (als Willkür) als »praktische Vernunft« bezeichnet. Dann geht es ihm um die Fähigkeit, Handlungen aus der Vorstellung von Gesetzen abzuleiten. Jetzt ist es an der Zeit, mit Hilfe der Struktur des »praktischen Syllogismus« als Leitfaden die kantische Auffassung von Maximen zu erklären. Zu Beginn werde ich einige der zentralen Charaktere des Gedankens eines praktischen Syllogismus schildern, so wie er bei Aristoteles zu finden ist, der als »Entdecker« dieses Gedankens gilt. Auf diese Weise wird man sowohl interessante Übereinstimmung als auch wichtige Unterschiede der beiden Autor*innen herausfinden. 11.b.1) Aristoteles über den praktischen Syllogismus Das Modell des praktischen Syllogismus wurde von Aristoteles vor allem eingeführt, um eine Erklärung sowohl menschlicher Handlungen als auch der Bewegung der Tiere zu liefern. Trotz des gegenteiligen Eindrucks, den der Ausdruck »Syllogismus« im heutigen Leser erweckt, strebt diese Erklärung nicht an, menschliche Handlungen als ein mechanisches oder geometrisches Verfahren zu beschreiben oder eine Form von geometrischer Systematisierung der praktischen Sphäre zu befördern. Vielmehr ist Aristoteles’ Anliegen, zu erklären, welche Elemente diejenigen sind, die sowohl in menschlichen Handlungen als auch in den Bewegungen der Tiere zum Tragen kommen (Nussbaum 1978, S. 174; Vigo 2010a, S. 7). Man muss hier hinzufügen, dass dies nicht etwa eine ungenaue oder unpräzise Verwendung des Ausdrucks »Syllogismus« ist. Denn, wie schon Hardie betont hat, hat der Ausdruck συλλογισμός im Altgriechischen nicht nur die von Aristoteles in den Analytiken bestimmte, 404 sondern auch eine nichttechnische Bedeutung, sogar in den aristotelischen Werken (Hardie 1968, S. 243; Nussbaum 1978, S. 183–184 und Natali 1989, S. 144). 405 Vgl An.pr. 24b18–20: συλλογισμὸς δέ ἐστι λόγος ἐν ᾧ τεθέντων τινῶν ἕτερόν τι τῶν κειμένων ἐξ ἀνάγκης συμβαίνει τῷ ταῦτα εἶναι. λέγω δὲ τῷ ταῦτα εἶναι τὸ διὰ ταῦτα συμβαίνειν, τὸ δὲ διὰ ταῦτα συμβαίνειν τὸ μηδενὸς ἔξωθεν ὅρου προσδεῖν πρὸς τὸ γενέσθαι τὸ ἀναγκαῖον. 405 Wie Bonitz angedeutet hat, ist die »technische« Bedeutung der Zweiten Analytiken die von Aristoteles am meistens verwendete (Bonitz 1870, S. 711). Bonitz hat aber schon darauf aufmerksam gemacht, dass Aristoteles den Ausdruck »Syllogismus« auch lato sensu verwendet: »συλλογισμός interdum latiore sensu usurpatur«. Vgl. 404
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In dieser nicht-technischen Bedeutung heißt »Syllogismus« so viel wie »Kalkulation«, »Inferenz« und sogar »Denken«. Folglich geht es beim praktischen Syllogismus nicht um die Beschreibung der Regeln eines deduktiven Verfahrens bzw. um einen »theoretischen« Syllogismus, den die Lebewesen jedes Mal vollziehen sollen, wenn sie handeln oder wenn sie gut handeln wollen, sondern um die Erklärung der Elemente, die in der Ausführung der menschlichen Handlung und der Bewegung der Tiere eine Rolle spielen. Es geht deshalb um das folgende Problem: Wie kann das »Denken« oder die Verbindung verschiedener Vorstellungen die Handlung bzw. die Bewegung zustande bringen? 406 Es geht hier, wenn man es in kantischen Termini ausdrücken will, darum, das Phänomen auf den Begriff zu bringen, dass Tiere und Menschen sich so bewegen, dass Vorstellungen Ursache dieser Bewegung sind. Oder, mit den Worten Kants noch anders ausgedrückt: hier geht es um die Fähigkeit, Handlungen aus Vorstellungen abzuleiten (GMS AA 04 412). Präziser muss man jedoch sagen, dass es bei Kant in AA 04 412, 26 ff. eigentlich um das Vermögen geht, Handlungen aus der Vorstellung der Gesetze abzuleiten. Dieses Vermögen setzt Vernunft voraus. Deswegen ist das, was Kant hier unter dem Namen »Wille« thematisiert, ein Vermögen, über das nur vernünftige Wesen verfügen können. Tiere sind deshalb hier nicht das Thema Kants, sondern nur vernünftige Wesen. Es ist deshalb außerordentlich wichtig zu bemerken, wenn man hier den Vergleich zwischen Kant und Aristoteles nicht unnötig zuspitzen will, dass die aristotelische Auffassung des praktischen Syllogismus, wie oben gesagt, sowohl die menschliche Handlung als auch die tierische Bewegung zu erklären versucht (De motu animalium 701a32–34). Dies ist bei Kant nicht der Fall. Ein weiterer Hinweis auf dieses »zoologische« Interesse Aristoteles’ gibt die Tatsache, dass er die Struktur des praktischen Syllogismus nur in der biologischen Schrift De Motu Animalium systematisch dargelegt hat (De Motu animalium 6–7). Andererseits benutzt Aristoteles den Gedanken des praktischen Syllogismus als ein Werkzeug z. B. in EN VII 3, wo diese Struktur in Verbindung mit dem Proz. B. Ret. I 1371b9. Ähnliches kommt auch mit dem Verb συλλογίζεσθαι vor. (Bonitz 1870, S. 711). 406 Vgl. De Motu animalium 701a7–9: πῶς δὲ νοῶν μὲν πράττει ὁτὲ δ’ οὐ πράττει, καὶ κινεῖται, ὁτὲ δ’ οὐ κινεῖται; ἔοικε παραπλησίως συμβαίνειν καὶ περὶ τῶν ἀκινήτων διανοουμένοις καὶ συλλογιζομένοις.
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blem der Unbeherrschtheit (akrasía) eingeführt wird, um ganz bestimmte Phänomene zu erklären, die nur im Rahmen menschlichen Handlung Handelns stattfinden können. 407 Die Struktur des praktischen Syllogismus betont entsprechend, dass sowohl menschliche Handlungen als auch die Bewegungen der Tiere durch ein Zusammenspiel von zwei Faktoren zustande kommen, nämlich durch einen desiderativen oder konativen Faktor und einen kognitiven Faktor, die durch die beiden Prämissen des Syllogismus vertreten werden: 1) die »premissa maior« oder »Prämisse des Guten« und 2) die »premissa minor« oder »Prämisse des Möglichen«. 408 Nach Aristoteles ist weder der desiderative noch der kognitive Faktor für sich selbst allein eine hinreichende Bedingung des Handelns, sondern nur die Konjunktion der beiden (Vgl. EN VII 5 1147a25–31). Obwohl der praktische Syllogismus wie ein theoretischer Syllogismus aus der Konjunktion von mindestens zwei Prämissen besteht, 409 handelt es sich bei der Konlusion des praktischen Syllogismus nicht, wie beim theoretischen Syllogismus, um einen »Satz« oder eine »Proposition«, sondern um eine Handlung (De Motu Animalium 701a10–13, 701a22–23). 410 Diese Art von Konklusion 407 Ich folge auch hier den Interpretationen von Nussbaum (1978, S. 184–210) und (Vigo 1996, S. 258–270), (Vigo 2006a, S. 309–315), (Vigo 2010a), die 1. für eine nicht »deduktivistische« Auffassung des praktischen Syllogismus plädieren und 2. für eine Interpretation, die den praktischen Syllogismus als ein Erklärungsmodell des Vollzugs von Handlungen auslegt. Tatsache ist aber, dass diese Interpretationen in der Aristoteles-Literatur umstritten sind. Ich kann sie hier nicht vollständig verteidigen, weil dies eine andere Aufgabe wäre, die im Übrigen die oben genannten Autor*innen bereits geleistet haben. Eine Verteidigung einer Variante der »deduktivischen« Interpretation ist z. B. bei J. Barnes zu finden (Barnes 1977, S. 50 ff.). Eine Zusammenfassung der verschiedenen Interpretationen kann man bei (Corcilius 2008) finden. 408 Vgl. De Motu animalium 7 701a23–25: αἱ δὲ προτάσεις αἱ ποιητικαὶ διὰ δύο εἰδῶν γίγνονται, διά τε τοῦ ἀγαθοῦ καὶ διὰ τοῦ δινατοῦ. Vgl Allan interpretiert diesen Unterschied als einer zwischen den Prämissen zweier verschiedener Formen der praktischen Syllogismen (Allan 1955, S 330–331). Überzeugend gegen diese Interpretation argumentieren Hardie und Nussbaum. Vgl. (Hardie 1968, S. 247–248), (Nussbaum 1978, S. 189 f.) und (Wiggins 1975, S. 40). Autor*innen wie Anscombe haben die Rede von »Oben- und Untensatz« im praktischen Syllogismus abgelehnt (Anscombe 1963, S. 58). Wie Corcilus aufmerksam gemacht hat, ist »der hauptsächliche Einwand gegen den Gebrauch von ›Obersatz‹ und ›Untersatz‹ […], dass diese Bezeichnungen suggerieren, der praktische Syllogismus könne nur zwei Prämissen haben«. Vgl. (Corcilius 2008 S. 104). 409 Vgl. An.pr. I 24a18 und MA 7 701a6–13. Auch Kenny (1979, S. 119–120). 410 Vgl. De Motu Animalium 701a10–13: ἀλλ ἐκεῖ μὲν θεώρημα τὸ τέλος (ὅταν γὰρ τὰς δύο προτάσεις νοήσῃ, τὸ συμπέρασμα ἐνόησε καὶ συνέθηκεν), ἐνταῦθα δ ἐκ
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hat deshalb einen anderen kategorialen Charakter als die des theoretischen Syllogismus. Der praktische »Syllogismus« ist deswegen keine »gültige Deduktion«, weil die Konklusion in einem echten Syllogismus nicht mehr als die Prämissen beinhalten kann (An. Pr. 24b18– 20), während die Konlusion des praktischen Syllogismus einen kategorialen Unterschied zu den Prämissen aufweist. Die Handlung ist nicht ein Bestandteil der Prämissen, deswegen handelt es sich dabei auch nicht um eine »deduktive Folge«. Gegen die Interpretation des praktischen Syllogismus als »Deduktion« haben sich deshalb viele Autor*innen gewandt. 411 Gegen die von Nussbaum und anderen Autor*innen verteidigte Interpretation scheinen aber einige Beispiele des Aristoteles zu sprechen. Bei Aristoteles sind zwischen den zahlreichen Beispielen, die in der Sekundärliteratur als Beispiele des praktischen Syllogismus identifiziert werden, einige zu finden, die die »deduktivistische« Interpretation begünstigen (vgl. z. B. De motu animalium 701a13–15). Es handelt sich dabei um Beispiele, in denen die »erste Prämisse« die Form einer Regel hat, z. B. παντὶ βαδιστέον ἀνθρώπῳ (»jeder Mensch soll gehen«). 412 Es gibt Autor*innen, die diese Prämisse als eine Regel oder einen Imperativ verstehen, der allgemeingültig ist. Entsprechend hat z. B. C. Corcilius jüngst die allgemeine Struktur solcher Beispiele wie folgt ausgedrückt: Alle A sollen B Ich bin A Also soll/mache ich B. 413
τῶν προτάσεων τὸ συμπέπασμα γίγνεται ἡ πρᾶξις. Vgl. auch De motu animalium 701a22–23: ὅτι μὲν οὖν ἡ πρᾶξις τὸ συμπέπασμα, ϕανερόν. Nussbaum (1978, S. 204) gibt gute Gründe an, um diese Interpretation zu verteidigen. Auch (Vigo 2010a, S. 11). Gegen diese Deutung wendet sich z. B. Charles (1984, S. 91 ff.). Es gibt aber viele aristotelische Stellen, die für Nussbaums Deutung zu sprechen scheinen. Vgl. MA 7, 701a13–16, 19–21; 8, 702a16–21; EN VII 5, 1147a26–31. 411 Gegen die »deduktive« Interpretation des praktischen Syllogismus, die ihn als »deontischen Schluss« oder als irgendeine andere Form von Deduktion auffasst vgl. (Anscombe 1963, S. 57 ff.), (Crubellier 2004, S. 22), (Nussbaum 1978, S. 165–220), (Vigo 2010a, S. 5 ff.), (Wiggins 1975). 412 Weitere problematische Beispiele sind von Crubellier und Vigo aufgelistet worden. Vgl (Crubellier 2004, S. 16 ff.) und (Vigo 2010a, S. 24 ff.). 413 Ich entnehme diese quasi-formale Darstellung dieser Form (Corcilius 2008, S. 103).
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Corcilius behauptet, dass die Beispiele von »praktischen Syllogismen« auf zwei Modelle reduzierbar sind, das gerade erwähnte und das folgende: X soll sein für die Realisierung von X ist Y notwendig Also will/mache ich Y. Obwohl Aristoteles solche quasi-formalen Schemata nicht verwendet hat, ist es im Rahmen der Aristoteles-Forschung sehr üblich, solche Modelle vorzuschlagen, um die Tiefenstruktur des praktischen Syllogismus klarer darzustellen. Zwischen den Interpreten des Aristoteles gibt es aber keinen Konsens darüber, ob die erwähnten Modelle oder andere formale Strukturen den Kern des praktischen Syllogismus ausdrücken. Klar ist aber, dass viele versucht haben, die erste der erwähnten Strukturen als eine gültige Deduktion zu interpretieren. 414 In diesem Modell hat die erste Prämisse die Form einer allgemeinen Regel. Diese Form scheint die Interpretation nahe zu legen, dass es hier um eine Prämisse geht, die eine Forderung bzw. ein Gebot ausdruckt. Vigo macht aber in diesem Zusammenhang m. E. zu Recht darauf aufmerksam, dass die von Aristoteles verwendeten Ausdrücke 415 eigentlich die von Vigo so genannte »orektische Notwendigkeit« ausdrücken, d. h. sie drücken den subjektiven Handlungsdruck aus, den der Handelnde durch seine Begierde erfährt. 416 Deswegen beinhalten solche Beispiele immer eine weitere Prämisse, in der ein Subjekt sich selbst unter die Regel subsumiert. Im Fall des von mir zitierten Beispiels, nämlich παντὶ βαδιστέον ἀνθρώπῳ (»jeder Mensch soll gehen«) handelt es sich um die Prämisse αὐτός 414 Barnes versucht entsprechend, das Beispiel in De Motu animalium 701a18 auf einen Syllogismus des Modus »Barbara« zu reduzieren. Vgl. (Barnes 1977, 50–54). 415 Es handelt sich in der Regel, worauf auch Vigo aufmerksam macht, um zwei Strukturen, nämlich Formen des Verbs δέων oder Formen von Verbaladjektiven. (Vigo 2010a, S. 23). 416 Für eine ähnliche Interpretation vgl. (Santas 1969, S. 166) und (Nussbaum 1978, S. 196) sowie (Gourinat 2004, S. 40–41): »Mais il est clair que ces obligations ne sont pas des obligations ›morales‹ au sens où nous l’entendons: aucun des exemples donnés n’est un exemple d’obligation morale, mais seulement d’obligations d’ordre pratique généralement conditionnées par un besoin, ce qu’exprime bien la formule ›ce dont j’ai besoin, il faut le faire‹ … La première prémisse introduit donc une forme très générale d’obligation commandée par le désir ou le besoin, sans connotation éthique ou normative«.
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δ’ ἄνθωπος (»und er ist ein Mensch«). Erst nach diesem Subsumtionsakt wird aber die allgemeine Prämisse wirksam, sodass nur beide gemeinsam den Wunsch des Handelnden ausdrücken (Vigo 2010a, S. 24–25). 417 Im Fall des Aristoteles ist es üblich, von einer Lehre oder Theorie des praktischen Syllogismus zu sprechen. Jeder, der sich für die sogenannte Handlungstheorie des Aristoteles interessiert, hat mit Sicherheit viel über diese Lehre gelesen und gehört. Tatsache ist aber, dass die textuelle Basis für die Lehre des praktischen Syllogismus bei Aristoteles, wie oben erwähnt, dünn ist. Diese Meinung teilen nicht nur die Spezialisten in der aristotelischen Philosophie, sondern auch die gegenwärtigen Philosoph*innen, die die Diskussion über den praktischen Syllogismus wiederbelebt haben (von Wright 1963, S. 159). 418 Die Spärlichkeit der auf den Begriff des praktischen Syllogismus bezogenen Stellen ist eine doppelte: Einerseits verwendet Aristoteles niemals den Ausdruck συλλογισμὸς πρακτικός, obwohl er einmal, wie oben erwähnt, den Ausdruck συλλογισμὸς τῶν πρακτῶν verwendet (EN VI 13 1144a31–33). 419 Aber dieser Ausdruck hat, wie oben erwähnt wurde, an der zitierten Stellen nicht dieselbe Bedeutung, die der Ausdruck »praktischer Syllogismus« in den gegenwärtigen Aristoteles-Interpretationen in der Regel hat. Außerdem gibt es eine Menge von Beispielen, die normalerweise als Beispiele von »praktischen Syllogismen« interpretiert worden sind. Aber nur zwei von diesen Stellen werden von den Interpreten unumstritten als Belege von praktischen Syllogismen akzeptiert. Sie sind De motu animalium 7 701a7–36 und EN VII 3 1147124–b3. 420 Dies sind auch die einzigen beiden Stellen, an denen Aristoteles etwas über den praktischen Syllogismus sagt (Corciulius 2008, S. 102). Dies darf man nicht vergessen, wenn man sich die Frage stellt, ob es bei Kant eine Konzeption des praktischen Syllogismus gibt. Es ist 417 Eine ähnliche Interpretation findet sich bei Anscombe. Vgl. (Anscombe 1963, S. 66). 418 Ähnlich (Santas 1969, S. 163). 419 Es gibt noch weitere Stellen, an denen Aristoteles in verschiedenen Formen den Ausdruck »Syllogismus« mit der Sphäre der Praxis oder der Ethik verbindet, obwohl es alles andere als klar ist, ob diese Stellen sich auf den »praktischen Syllogismus« beziehen, so wie er in De motu animalium thematisiert wird. Siehe die Liste in (Natali 1989, S. 144–145). 420 Für Liste von mutmaßlichen »praktischen Syllogismen«, siehe (Corcilius 2008, S. 103–104), (Crubellier 2004, S. 16–17), (Gourinat 2004, S. 46 f.), (Santas, 1969, S. 163–164), (Vigo 2010a, S. 24–25).
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zunächst klar, wie bei Aristoteles, dass Kant keinen »technischen« Gebrauch vom Ausdruck »praktischer Syllogismus« in den veröffentlichten Werken macht. 421 Anders sieht die Sache aus, wenn man sich die Vorlesungen und Reflexionen anschaut. 422 Man kann selbstverständlich einwenden, dass es sich bei diesen Texten nur um nicht veröffentlichte Quellen des kantischen Denkens handelt und dass Kant keine Theorie des »praktischen Syllogismus« als Erklärungsmodell für Handlungen, zumindest explizit, eingeführt hat. Und beides ist richtig. Aber das ist prima facie kein Hindernis für eine Interpretation, die eine implizite kantische Verwendung dieses Erklärungs421 Es gibt, soweit ich weiß, nur eine Stelle in den veröffentlichten Werken, an der dieser Ausdruck verwendet wird, vgl. MS AA 06 313, 17–27. In diesem Textteil veranschaulicht Kant die Gewaltenteilung durch einen Vergleich mit dem praktischen Syllogismus (oder Vernunftschluss, wie das deutsche Wort lautet, mit dem Kant die deduktive Inferenz benennt). »Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zufolge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz), in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudicaria), gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle rechtens ist«. Es gibt auch eine andere interessante Stelle, an der Kant die Einteilung der »Analytik der reinen praktischen Vernunft« durch einen Vergleich mit der Struktur des Syllogismus veranschaulicht: »so wird die Einteilung der Analytik der reinen praktischen Vernunft der eines Vernunftschlusses ähnlich ausfallen müssen, nämlich vom Allgemeinen im Obersatze (dem moralischen Prinzip) durch eine im Untersatze vorgenommene Subsumtion möglicher Handlungen (als guter und böser) unter jenen zu dem Schlußsatze, nämlich der subjektiven Willensbestimmung (einem Interesse an dem praktisch-möglichen Guten und der darauf gegründeten Maxime) fortgehend« (KpV AA 05 90, 24–36). 422 »Actio voluntaria in so fern sie nach Maximen entspringt (maxime – Maximen, principia praticae subjectiva, weil sie propositio major in practischen syllogismen sein würden). involuntaria – nicht mit Willen, nicht nach seiner Maxime« (Metaphysik Dohna AA 28 678, 20–24). Vgl. auch R 6459: »Syllogismus practicus: Optimum per te possibile fiat. Atqvi hoc est optimum. Ergo … qvatenus haec minor est vera, conclusio practica est moraliter necessaria; qvatenus cogitatur vt vera, non est, posita minore falsa: conclusio est subjective necessaria, potissimum si sit qvaedam necessitas erronea minoris propositionis. Hujus ultimae necessitatis harmonia cum libertate conciliatur«. Obwohl R 6459 einer ziemlich frühen Phase der Entwicklung von Kants Denken entspricht (1764–1766 nach der Datierung Adickes’), liegen die Dinge anders als im Fall der ersten von mir zitierten Stelle aus der Metaphysik Dohna, die dem WS 1792/1793 entspricht.
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modells verteidigt, da selbst Aristoteles, der üblicherweise als der wichtigste Vertreter oder sogar Entdecker dieses Modells betrachtet wird, den erwähnten Ausdruck, wie gesagt, nicht verwendet. 423 Vielmehr bedient er sich der Struktur des praktischen Syllogismus in nicht-thematischer Weise, um Phänomene wie die Bewegung der Tiere zu erklären. Auch bei Aristoteles ist es deswegen so, dass die Textbelege für die Theorie des praktischen Syllogismus eigentlich spärlich sind. Trotzdem würde niemand sagen, dass Aristoteles nicht auf dieses Modell verwiesen hat, das einige der zentralen Strukturen des Handelns zu erklären versucht. 11.b.2) Kant und der praktische Syllogismus Wenn man davon ausgeht, dass Kant sich auf das Modell des praktischen Syllogismus bezieht, ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass es sicherlich wesentliche Unterschiede zwischen der aristotelischen und der kantischen Behandlung desselben gibt. Das erweist sich, wenn man in Betracht zieht, dass die aristotelischen Beispiele der praktischen Syllogismen ihren Orientierungspunkt immer in Bewegungen bzw. »tierischen Leistungen« haben, die sowohl Menschen als auch Tiere vollziehen können und in denen die Handlung augenblicklich (εὐθύς) den Prämissen folgt, während die kantischen Texte, die sich mit Bezug auf die Struktur des praktischen Syllogismus im weiteren Sinn erklären lassen, in der Regel im Bezug auf menschliche Moralentscheidungsverfahren eingeführt werden, in denen ein Praxissubjekt eine Handlung vom moralischen Standpunkt betrachtet (vgl. KpV AA 05 19, 19 und ff.; KpV AA 05 28, 27 ff.). 424 Das bekannte »Depositum-Beispiel«, so wie es in der KpV dargestellt ist, entspricht diesem Modell. Schauen wir uns das Beispiel näher an: »Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden. Ich habe z. B. es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern. Jetzt ist ein Depositum in meinen Händen, dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat. Natürlicherweise ist dies der Fall meiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime auch als allgemeines praktisches Gesetz gelten könne. Ich wende jene also auf gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Siehe oben S. 234. Für eine Analyse der Unterschiede zwischen menschlichen und tierischen Begehrungsvermögen bei Kant siehe (Wood 1999, 25–27). 423 424
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Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: dass jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann. Ich werde sofort gewahr, dass ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, dass es gar kein Depositum gäbe.« (KpV AA 05 27, 21–32) 425
Mir geht es hier nicht um Kants moralisches Entscheidungsverfahren. Die Frage nach der Struktur dieses Tests ist schwierig genug, Gegenstand einer separaten Untersuchung zu sein. 426 Trotzdem werde ich kurz etwas dazu sagen, obwohl ich nicht den Anspruch erhebe, dass ich hier vollständig oder lückenlos erklären kann, wie das Verfahren des kategorischen Imperativs funktioniert. Mir geht es hier vielmehr um die Struktur des Beispiels und um die Rolle, die Maximen in diesem Beispiel spielen. Auffällig ist an diesem Punkt, dass das Beispiel anscheinend nicht nur eine Maxime beinhaltet, sondern zwei. Oder besser: Das Beispiel beinhaltet zwei Urteile, die potentiell der Gegenstand des Verfahrens des kategorischen Imperativs sein können. Kant erwähnt zuerst die folgende Maxime: M1: »Mein Vermögen durch alle sichere Mittel […] vergrößern« Die Maxime ist sehr pauschal formuliert. Sie ist aber eindeutig auf unser vorläufiges Schema S1 zurückführbar. Sie würde so lauten: M1/S1: »Ich will, wenn ich dies ohne Risiko vollziehen kann, mein Vermögen vergrößern«. Selbstverständlich beinhaltet die Formulierung der Maxime nicht jede Situationskomponente, die unter Umständen dazu führen könnte, dass die Maxime nicht durchgeführt wird. Es wäre auf jeden Fall absurd, dass ein vernünftig Handelnder es sich zur Maxime macht, all 425 Dieses Beispiel ist von Beck als Fall der Anwendung der Struktur des praktischen Syllogismus bei Kant vorgestellt worden, vgl. (Beck 1960, S. 81). Meine Darstellung des Beispiels deckt sich aber nicht vollständig mit der Darstellung Becks. 426 Im Fall dieses Beispiels kann man sehr genaue und fruchtbare Untersuchungen der Struktur des Moraltests in den folgenden Texten finden: (Cramer 2001), (Gillessen 2012, S. 408–413), (Nortmann 2007, S. 254 f.) und (Timmermann 2003). Für eine Analyse der Struktur des Verfahrens bei Kant siehe (Enskat 1990), (Enskat 2001), (Enskat 2006), (Enskat 2010) und (Enskat 2010a, S. 236 ff.). Für eine kritische Untersuchung des Verallgemeinerungsverfahrens siehe (Gillessen 2012).
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die Handlungen ohne Weiteres zu vollziehen, die sein Vermögen ohne Risiko vergrößern, denn dann könnte er wahrscheinlich nichts anderes mehr tun, als sein Vermögen zu vergrößern (oder dies zu versuchen). Man darf hier aber annehmen, dass dieser Handelnde mit Sicherheit über weitere Maximen verfügt, die den Anwendungsbereich der Maxime beschränken bzw. beschränken können. Will ich z. B. nicht nur mein Vermögen durch alle sicheren Mittel vergrößern, sondern auch das Eigentum der anderen respektieren, dann stellt die in Kants Beispiel beschriebene Situation keinen Fall dar, in dem ich nach meiner Maxime handeln würde. Die Situation wäre dann, mit den Worten Kants, nicht »ein Fall der Maxime«. Kant formuliert aber eine zweite Regel, die sich auf eine konkrete Situation bezieht und bei der das oben erwähnte Problem nicht auftritt. Sie lautet: M2: »Jedermann darf ein Depositum ableugnen, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann.« Diese Regel ist aber eigentlich das Resultat eines Verallgemeinerungsverfahrens. Deswegen nennt Kant sie sogar »Gesetz« (AA 05 27, 31). Es ist hier interessant zu bemerken, dass Kant diese Analyse vor der Darstellung des Moralgesetzes anführt. Das Moralgesetz wird erst drei Seiten später vorgestellt. 427 Es kann hier also nicht um eine thematische und ausführliche Darstellung des Verallgemeinerungsverfahrens des kategorischen Imperativs gehen. 428 Kant stellt hier Also in Paragraph 7. Das Gesetz in der Formulierung der KpV lautet: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (AA 05 30, 38–39). 428 Hier behaupte ich, dass der kategorische Imperativ und das »Grundgesetz« (AA 05 30, 37), das Kant im siebten Paragraph der KpV einführt, identisch sind, oder, wenn man so will, dass beide Ausdrücke dieselbe Bedeutung haben. Diese Behauptung ist aber nicht unumstritten unter den Kant-Forschern. Jüngst hat M. Wollf z. B. eine ganz andere Lesart dieser Stelle verteidigt, die essentiell auch für seine interessante Interpretation des Faktums der reinen praktischen Vernunft ist, nach der u. a. die Idee des Faktums keine argumentative Rolle in der KpV spielt (Wolff 2009a). Wolff behauptet in diesem Rahmen, dass das »Grundgesetz« des Paragraphen 7 und der kategorische Imperativ nicht identisch seien: »Es handelt sich also beim Sittengesetz nicht, wie meistens angenommen wird, um das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft selbst, sondern um eine Spezifizierung dieses Gesetzes«. Vgl. (Wolff 2009a, S. 525). Anders als Wolff interpretieren diesen Punkt u. a. (Kleingeld 2010, S. 67–72) und (Schönecker 2013, S. 9). Ich stimme mit diesen Autor*innen in ihrer Ablehnung der These Wollfs überein. Denn unter ihrer Annahme scheint es mir schwierig zu 427
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vielmehr einen zuvor noch nicht auf den Begriff gebrachten Gedanken vor, dessen sogar »der gemeinste Verstand« fähig ist und mit Hilfe dessen dieser Verstand beurteilt, ob eine Maxime moralisch falsch ist. Hier geht es also um die Form, die »der gemeinste Verstand« als diejenige Form erkennt, die moralisch taugliche Maximen haben. 429 Die Grundidee ist sehr einfach: Sie können nicht nur als subjektive Prinzipien gedacht werden, sondern auch als Gesetze, deshalb können sie nomologisiert werden. 430 Kant erklärt hier nicht, wie diese Nomologisierung oder wie das Nomologisierungsverfahren aussieht. Gleichwohl ist es klar, dass M2 das Resultat dieser Nomologisierung ist, aus der ein Gesetz resultiert, wie der Text nahe liegt:
verstehen, warum Kant, wenn er keine Identität zwischen dem Grundgesetz des Paragraphen 7 der KpV und dem kategorischen Imperativ behauptetet, das Gesetz dann mit fast denselben Worten formuliert, mit denen er in der GMS den von ihm so genannten »kategorischen Imperativ« artikuliert. Die von mir gemeinte Formulierung in der GMS lautet: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werden sollte«. Vgl. GMS 04 421, 18– 20. Dass ich die These Wolffs bezüglich einerseits der Identität des praktischen Gesetzes und des kategorischen Imperativs und andererseits des Faktums nicht akzeptiere, heißt jedoch nicht, dass ich mich der These anschließe, die jüngst D. Schönecker verteidigt hat, nach der das Faktum das Moralgesetz begründe, sodass Kant eine Form des »ethischen Intuitionismus« verteidigt hätte. Vgl. (Schönecker 2013). Unabhängig davon, dass diese These Schöneckers mir mit der Strategie der »kommentarischen Interpretation« unverträglich zu sein scheint (siehe oben Kapitel 1), gibt es viele Aspekte dieser Interpretation, die ich für unbefriedigend halte. Besonders schwierig zu verteidigen scheint mir die Interpretation Schöneckers zu sein, nach der es eine »Faktum-Theorie« bei Kant gebe, die z. T. darin bestehe, dass die Geltung des Moralgesetzes im Gefühl der Achtung »gegeben« sei, sodass das Gefühl der Achtung das Moralgesetz rechtfertige (Schönecker 2013, S. 3 ff.). Ich glaube, dass schon die Rede von einer »Theorie« des Faktums unangemessen ist. Denn über das Faktum sagt Kant wenig, er appelliert aber an es als ein Anfangspunkt in seiner Argumentation in der KpV. Noch unplausibler scheint mir aber die These Schöneckers, nach der das Faktum das Moralgesetz begründe, weil das Moralgesetz im Gefühl der Achtung gegeben sei (Schönecker 2013, S. 3). Es scheint mir klar zu sein, dass es Texte Kants gibt, die dieser Interpretation eindeutig widersprechen. Vgl. z. B. KpV AA 05 76, 16–19: »Dieses Gefühl (unter dem Namen des moralischen) ist also lediglich durch Vernunft bewirkt. Es dient nicht zu Beurteilung der Handlungen, oder wohl gar zur Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst, sondern bloß (Hervorhebung LP) zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen«. Für eine kritische Diskussion der Deutung Schöneckers siehe (Bojanowski 2018). Vgl auch (Gillessen 2016). 429 So ist es auch im Fall der anderen Stelle, in der Kant das Depositum-Beispiel einführt. Vgl UG AA 08 286, 16–33. 430 Für den Begriff der Nomologisierung, siehe (Enskat 1990), (Enskat 2001) und (Enskat 2010a, S. 238). Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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»Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime auch als allgemeines praktisches Gesetz [Herv. LP] gelten könne. Ich wende jene also auf gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: dass jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann«. Wenn man das Experiment durchführt, die »nomischen« Elemente der Maxime zu entfernen, dann wäre die von Kant nicht formulierte, nicht verallgemeinerte und nicht nomologisierte Form: M3: »Ich will, wenn ich ein Depositum habe, dessen Niederlegung niemand beweisen kann, das Depositum ableugnen.« Die Situation des Beispiels kann man entsprechend »syllogistisch« so formulieren: P1 (M3): Ich will, wenn ich ein Depositum habe, dessen Niederlegung niemand beweisen kann, das Depositum ableugnen. P2: Dies ist ein Depositum, dessen Niederlegung niemand beweisen kann Entscheidung: Ich leugne das Depositum ab. Diese Interpretation der Stelle setzt voraus, dass die verallgemeinerte und unmoralische Maxime M3 ist. Man kann sich hier aber fragen, ob das richtig sein kann. Denn die Pronomina »jene« und »sie« (Z. 27– 28) würden sich im Text auf eine nicht im Text formulierte Maxime beziehen (nämlich M3). M3 ist im Text nicht zu finden, sondern nur die verallgemeinerte Maxime M2, die M3 zukommen würde. Dies ist aber nicht notwendigerweise ein Problem. Konsultiert man andere ähnliche Beispiele Kants, wird man finden, dass es andere Texte gibt, in denen Kant die unmoralische Maxime sogar gar nicht formuliert, zumindest nicht explizit als solche. Dies ist der Fall bei dem anderen Text, in dem Kant das sogenannte Depositum-Beispiel analysiert, nämlich UG (UG AA 08 286, 16–33): 431 »Es sei z. B. der Fall: dass jemand ein anvertrautes fremdes Gut (depositum) in Händen habe, dessen Eigentümer tot ist, und daß die Erben desselben davon nichts wissen, noch je etwas erfahren können. Man trage diesen Fall 431 Vgl. auch z. B. die dritten und vierten Beispiele der Ableitung der Pflichten, die Kant in der GMS gibt. Vgl. GMS AA 04 422, 37–423, 35.
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selbst einem Kind von etwa acht oder neun Jahren vor, und zugleich, dass der Inhaber dieses Depositums, (ohne sein Verschulden) gerade um diese Zeit in gänzlichen Verfall seiner Glücksumstände geraten, eine traurige, durch Mangel niedergedrückte Familie von Frau und Kindern um sich sehe, aus welcher Not er sich augenblicklich ziehen würde, wenn er jenes Pfand sich zueignete; zugleich sei er Menschenfreund und wohltätig, jene Erben aber reich, lieblos und dabei im höchsten Grad üppig und verschwenderisch, so daß es eben so gut wäre, als ob dieser Zusatz zu ihrem Vermögen ins Meer geworfen würde. Und nun frage man, ob es unter diesen Umständen für erlaubt gehalten werden könne, dieses Depositum in eigenen Nutzen zu verwenden. Ohne Zweifel wird der Befragte antworten: Nein! und statt aller Gründe nur bloß sagen können: es ist unrecht, d. i. es widerstreitet der Pflicht«. 432
Dies ist nicht genug, um das Problem des Bezugs der Pronomina zu lösen. Denn sie beziehen sich eindeutig auf M1. Man sollte deshalb die Stelle wie K. Cramer interpretieren. Cramer denkt, dass die im Beispiel formulierte Maxime (M1) indirekt anhand einer Regel (M3) beurteilt wird (Cramer 2001, S. 118). Cramer meint, dass dies notwendig ist, weil die Verallgemeinerung von M1 »ohne zusätzliche Information zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen kann« (Cramer 2001, S. 120). Dass dies so ist, prüft Cramer aber nicht, sondern macht diese Annahme vielmehr zu seinem Ausgangspunkt. Daher behauptet Cramer, dass die Maxime, die sich durch den Widerspruch »vernichtet«, eigentlich die Regel (M3) ist. 433 Anders liest die Stelle J. Timmermann. Timmermanns Auffassung nach geht es im Beispiel um die Tauglichkeit von Maxime M1, die dadurch geprüft wird, dass der kategorische Imperativ auf M1 angewendet wird. In dieser alternativen Lesart beziehen sich die Pronomina »jene« und »sie« auf die formulierte Maxime (nämlich M1). 434 Diese Interpretation ist nicht nur grammatikalisch besser. Timmermann ist es m. E. gelungen zu zeigen, dass man, wenn das 432 Es gibt doch einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Beispielen, der vielleicht erklärt, warum Kant im Fall von UG pauschaler mit der Aufgabe der Formulierung der Maxime umgeht. Es handelt sich um den folgenden Unterschied: In UG behauptet Kant nicht, dass die Maxime »sich vernichten würde«, wenn man dieses Prinzip als Gesetz denken würde. Obwohl es in beiden Beispielen darum geht, dass die Maxime unmoralisch sei, und dass jeder dies einsehen würde, wird aber im Fall von UG das Kriterium der moralischer Beurteilung nicht erwähnt. 433 Ähnlich interpretiert es Höffe. Vgl. (Höffe 2011, S. 61). 434 Für diese Interpretation (Timmermann 2003, S. 591 f). Ähnlich (Bojanowski 2005, S. 63).
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Beispiel sinnvoll ist, M1 als die Maxime verstehen muss, die sich wegen eines Widerspruchs »vernichtet«. Denn wenn die Maxime M1 ein Naturgesetz wäre, d. i. wenn jeder Handelnde sein Vermögen durch sichere Mittel vergrößerte, dann gäbe es deshalb kein Depositum mehr, weil der, der ein Gut zu Verwahrung gäbe, riskierte, das Depositum zu verlieren. Anders sehen die Dinge im Fall von M3 aus. Denn wie Cramer gezeigt hat, scheint es schwierig herauszufinden, wo der Widerspruch in der nomologisierten Form von M3 liegt. Timmermann erklärt den Punkt wie folgt: »Nehmen wir gemäß dem kategorischen Imperativ an, die Maxime der Habsucht sei als Naturgesetz allgemein verbreitet. Der Depositor steht nur vor der Entscheidung, ob er das Gut in Verwahrung geben will. Er ginge damit das Risiko ein, das Depositum zu verlieren, sollte auch der Beleg verloren gehen; oder es zu behalten und etwas anderes damit anzustellen. Es stellt sich die Frage, wie er auf diese Lage reagiert. Doch diese Frage ist schon entschieden. Die verblüffende Antwort lautet: dies ist ein Fall seiner Maxime, sein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern. Diese Maxime steht nicht zur Disposition, er gibt das Gut nicht in Verwahrung. Denn wenn eines klar ist, dann ist es dies, dass ein Depositum aufzugeben unter der Bedingung der Allgemeinheit der Maxime der Habgier kein sicheres Mittel ist, sein Vermögen zu vergrößern, im Gegenteil« (Timmermann 2003, S. 598). 435
Mit geht es hier aber nicht um das Problem der mutmaßlichen Anwendung des kategorischen Imperativs in diesem Beispiel. Das Depositum-Beispiel ist auch aus vielen anderen Gründen interessant, die mit der Problematik des kategorischen Imperativs nichts zu tun ha-
435 Gillessen hat m. E. Recht, wenn er behauptet, dass, obwohl Timmermanns Rekonstruktion sinnvoll ist, ein offenes Problem bleibe, nämlich, was mit denjenigen Maximen ist, für die der kategorische Imperativ kein adäquates Resultat zu liefern scheint (Gillessen 2012, S. 132). Ob die Frage nach der Tauglichkeit des kategorischen Imperativs positiv zu beantworten ist, will und kann ich hier nicht eingehen. Übrigens hängt Timmermanns Interpretation, worauf er selbst aufmerksam macht, von der These ab, dass der Widerspruch der Maxime »performativen« oder »praktischen« Charakters ist. Diese These, die früher auch von anderen Autor*innen verteidigt worden ist (vgl. z. B. Korsgaard 1985, S. 96 ff.), ist aber sehr umstritten. Denn viele andere Autor*innen sind der Meinung, dass der erwähnte Widerspruch entweder formaler oder teleologischer Natur ist. Für die »logische« Interpretation siehe (Patzig 1967), (Cramer 2001, 122), (Enskat 2010a, S. 244). Diese Interpretation hat zumindest den Vorteil, dass sie viel klarer ist. Denn die Idee des »performativen Widerspruchs« ist entweder auf die Idee des logischen Widerspruchs reduzierbar, oder bleibt in der Regel unklar. Für die »teleologische« Interpretation siehe Ebbinghaus (Ebbinghaus 1948).
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ben. Erstens ist es interessant, weil Kant hier zeigt, dass nicht-moralische Deliberation in der folgenden Form funktioniert: Es gibt etwas, das ich will (hier »mein Vermögen durch alle sichere Mitteln zu vergrößern«). Da es sich um ein Wollen und nicht einen bloßen Wunsch handelt, muss das in der Maxime ausgedrückte Ziel möglich sein. Dies habe ich schon im dritten Kapitel angedeutet. Jetzt ist es an der Zeit, einen weiteren Schritt zu vollziehen. Denn man muss hier darauf aufmerksam machen, dass es sich nicht um etwas handelt, das möglich bloß im logischen Sinn ist. »Möglich« heißt hier nicht bloß »logisch möglich«, sondern »praktisch möglich«, in dem Sinn, dass es nicht nur nicht widersprüchlich wäre, so zu handeln, sondern auch, dass es »in meinen Händen« ist, etwas der gemeinten Art zu tun. 436 Alles was praktisch möglich ist, ist auch logisch möglich, aber nicht umgekehrt. Auf diese Sphäre des praktisch Möglichen beziehen sich die »unentbehrlichen Mittel«, die ein hypothetischer Imperativ gebietet (siehe oben S. 174). Denn wenn sie vorgeschrieben worden sind, sind sie auch möglich im praktischen Sinn. Dies ist übrigens nicht die Art und Weise, in der Kant den Ausdruck »praktisch möglich« anwendet, aber ich sehe keinen Grund zu meinen, dass Kant gegen diesen Gebrauch sein könnte, wenn zwischen moralisch-praktischer Möglichkeit und nicht moralisch-praktischer Möglichkeit unterschieden würde. Nur wenn eine Situation auftritt, die die Mittel dafür bietet, das in der Maxime beschriebene Ziel zu realisieren, überlegt man sich, ob die Mittel moralisch richtig sind oder, im Fall von nicht-moralischer Deliberation, ob sie zweckmäßig sind. Im Beispiel Kants stellt M1 das Ziel vor, während die Mittel in M3 bezeichnet werden. Die Konklusion der Überlegung oder Deliberation ist eine Entscheidung, die sich als »Gebot« auffassen lässt, wenn die Deliberation zum Ende kommt. Aber wenn der Syllogismus kein bloß deliberativer ist, sondern ein echter praktischer Syllogismus, dann mündet er in eine Handlung. Denn der Wille ist, wie oben gesagt wurde, das Vermögen, Handlungen von Gesetzen abzuleiten. 437 In dieser Struktur, die in Handlungen mündet, spielen Maximen, so wie in der Deliberation, eine wesentliche Rolle.
436 437
Zu diesem Begriff der praktischen Möglichkeit siehe (Vigo 1996, S. 46 ff.). Siehe oben S. 180 ff. Auch (Placencia 2011).
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11.b.3) Maximen, praktischer Syllogismus und nichtreduktive Interpretation intentionaler Handlung Es ist von Belang, darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Struktur des praktischen Syllogismus im weiteren Sinne die Struktur einer bestimmten Form der Antwort auf die Frage nach den Gründen spiegelt, aus denen man gehandelt hat, wie man gehandelt hat. Nehmen wir an, dass die Person unseres Beispiels (P) das Depositum leugnet, also, dass sie nicht nur überlegt wie sie handeln soll, sondern auch handelt, z. B. indem sie ein Dokument unterschreibt, in dem sie behauptet, dass sie kein Depositum erhalten hat. Wenn wir P fragten, warum sie das Depositum leugnet, würde sie antworten (sofern sie die Handlung als ihre Handlung erkennt und über die Eingangsmaxime verfügte, die das Beispiel Kants präsentiert), dass sie ihr Vermögen vergrößern will oder dass sie so gehandelt hat, weil sie ihr Vermögen vergrößern will. Dies, nämlich »sein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern«, war ihre Maxime in der Eingangssituation des Beispiels. Indem die Person P sich auf diese Maxime beruft und die erwähnte Antwort gibt, begründet sie ihre Handlung. Dies tut sie selbstverständlich in einem prima facie nicht-moralischen Sinn, der dem Sinn ähnelt, den Davidson mit dem Ausdruck »Rationalisierung« verbindet. Dies erkennt man leicht, wenn man die Begründung z. B. in der folgenden Form paraphrasiert: Sie leugnet das Depositum, weil sie ihr Vermögen vergrößern will. Jeder vernünftig Handelnde, der sein Vermögen durch alle sicheren Mittel vergrößern will, würde die Deposita leugnen, die in seinen Händen sind und über die es keinen Beleg gibt – einmal angenommen, dass dieser Handelnde über keine andere Maxime verfügt; etwa eine Maxime, die unmoralische Mittel, sein Vermögen zu vergrößern, ausschließt. Das Beispiel setzt natürlich voraus, dass P denkt, dass dieses Depositum abzuleugnen ein sinnvolles und effektives Mittel ist, um sein Vermögen zu vergrößern. Das heißt, dass er über bestimmte ZMU-Urteile verfügt, etwa: »Wer sein Vermögen durch alle sicheren Mittel vergrößern will und über ein nicht belegtes Depositum verfügt, muss das Depositum ableugnen«. Indem er dies auf die Frage nach seinen Handlungsgründen antwortet, gibt er eine Handlungserklärung ab, indem er auf einen praktischen Syllogismus Bezug nimmt, d. h. er rechtfertigt seine Handlung mit Hilfe einer Kombination aus subjektiven
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(Maximen) und objektiven (ZMU) Urteilen im oben erklärten Sinn. 438 Die oben erwähnte »Warum-Frage« kann man sinnvoll jedem Handelnden und in Bezug auf jede Handlung im Vollsinn stellen, nämlich in Bezug auf jede intentionale Handlung. Deswegen haben solche Fragen im Rahmen der Handlungstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts eine Schlüsselrolle gehabt. Bekanntlich hat Anscombe wie innerhalb der Philosophie sonst niemand die Verbindung zwischen solchen »Warum-Fragen« und absichtlichen Handlungen untersucht. 439 In diesem Rahmen hat sie darauf aufmerksam gemacht, dass eines der Merkmale von intentionalen Handlungen gerade dies ist, dass die »Warum-Frage« bei ihnen so zum Einsatz kommt, dass sie sich nur in einer ganz speziellen Form beantworten lässt. Auf dieser Weise hat sie sich in ihrer Untersuchung über den Begriff der absichtlichen Handlung nicht so sehr an Unterschieden oder Ähnlichkeiten von »Gründen« und »Ursachen«, oder »Begründungen« und »Rationalisierungen« bzw. »Kausalerklärungen« orientiert, sondern vielmehr an den verschiedenen Antwortmöglichkeiten auf die »WarumFrage« und den »Sprachspielen«, die diesen Antworten zugrunde liegen (Anscombe 1963, S. 10). 440 Anscombe behauptet daher, dass »absichtliche Handlungen« diejenigen sind, bei denen die Frage »Warum« in einem ganz bestimmten Sinn Anwendung findet (Anscombe 1963, S. 9). 441 Man kann sich dann fragen, wann die Warum-Frage in dem relevanten Sinn zum Einsatz kommt. Anscombe untersucht dies zuerst ex negativo und beschäftigt sich mit den Fällen, in denen die Frage, die für den Begriff der absichtlichen Handlung relevant ist, nicht zum Einsatz kommt. 438 »Rechtfertigung« heiß es hier selbstverständlich nicht »moralische Rechtfertigung«. 439 Siehe (Anscombe 1963, S. 9 f.). 440 Die Rede von »Sprachspielen« kommt bei Anscombe in ihrem Buch »Absicht« nicht vor. Sie verwendet aber das Vokabular ihrer Übersetzung von Wittgensteins PU und spielt häufig sowohl auf PU als auch auf die Vorlesungen über Philosophie der Psychologie an, worauf jüngst J. Schulte aufmerksam gemacht hat. Vgl. (Schulte 2011, S. 156). 441 »What distinguishes actions which are intentional from those which are not? The answer I shall suggest is that they are the actions to which a certain sense of the question ›why‹ is given application; the sense of course is that in which the answer, if positive, gives a reason for acting. But this is not a sufficient statement, because the question »what is the relevant sense of the question ›why‹« and »what is meant by ›reason for acting‹ are one and the same«. (Anscombe 1963, S. 9).
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Sie formuliert in der Regel den Punkt, um den es ihr hier geht, in der folgenden Weise: Es gibt Situationen, in denen die »Warum-Frage« im relevanten Sinn Anwendung hat bzw. keine Anwendung hat (has application / does not have application oder is refused application). Die Grundidee Anscombes kann man wie folgt paraphrasieren: In bestimmten Situationen wird die »Warum-Frage« so gestellt, dass auf sie eine bestimmte Antwortform erwartet wird. Sie kann so beantwortet werden, dass sie in der jeweiligen Situation für nicht sinnvoll erklärt oder ablehnt wird. Nun behauptet Anscombe, dass es drei Fälle von dieser Art gibt, nämlich diejenigen, in denen folgende Antworten gegeben werden: a) »es war mir nicht bewußt, dass ich das tat« (Anscombe 1963, S. 11), b) »ich habe beobachtet, dass ich es getan habe« und c) wenn die Antwort einen Beleg (evidence) 442 anführt oder sich auf eine »mentale Ursache« bezieht (Anscombe 1963, S. 25). 443 Die Untersuchung der möglichen Formen, in denen die »Warum-Frage« im relevanten Sinn abgelehnt wird, geben aber nicht genügend Aufschluss über die Art und Weise, in der die Frage beantwortet wird, wenn es sich dabei um eine intentionale Handlung handelt. Diese Antwort auf die Frage »warum?« beziehe sich, so Anscombe, auf eine Form, in der der Handelnde von seinen intentionalen Handlungen weiß (know), wobei dieses Wissen (knowledge) aber »ohne Beobachtung« sei (Anscombe 1963, S. 14). 444 Hier taucht aber 442 Hier übersetze ich mit J. Schulte das englische Wort »evidence« mit dem deutschen »Beleg«. Vgl. (Schulte 2011). Der Gedanke Anscombes an dieser Stelle ist, dass Absichtsäußerungen Äußerungen über einen künftigen Zustand der Welt sind, die sich aber nicht wie »Prognosen« (prediction) auf »Belege« begründen, sondern in irgendeiner anderen Form, die zu untersuchen ist. Anscombe (1963, S. 1–18). Von diesen »Begründungen« haben wir folglich »Wissen ohne Beobachtung« (non-observational knowledge), so Anscombe. Indem sie ihre Untersuchung mit der Frage nach dem Unterschied zwischen »Absichtsäußerungen« und »Prognosen« oder zwischen Absichtsäußerungen und anderen Prognoseformen beginnt, versucht sie, die Untersuchungen Wittgensteins am Ende der PU fruchtbar zu machen, in denen er »Sprachspiele« analysiert wie dasjenige der Äußerung des Entschlusses zu einer Handlung (vgl. PU § 632). Der leitende Gedanke Anscombes bezüglich dieser Thematik ist der folgende: Prognosen, Absichtsäußerungen, Befehle, Schätzungen, Prophezeiungen usw. sind Sprechakte, die sich auf die Zukunft beziehen, aber die dies auf verschiedene Weise tun. Um den Begriff der Absicht besser zu verstehen ist man daher gut beraten, diese Unterschiede zu untersuchen. 443 Für den Begriff der »mentalen Ursache« siehe (Anscombe 1963, S. 17) und (Teichmann 2008, S. 19–20). 444 Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass für Anscombe Absichten nur eine Teilmenge der Dinge sind, die man ohne Beobachtung weiß (Anscombe 1963, S. 14).
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das m. E. dunkelste Moment der Argumentation Anscombe auf. Ihr ist es m. E. nicht gelungen, diese Wissensform befriedigend zu bestimmen. Schon die Tatsache, dass sie in Intention diese Wissensform lieber ex negativo (»ohne Beobachtung«) bestimmt, ohne weitere konsistente und informative Charakterisierungen zu geben, ist m. E. ein Indiz dafür, dass sie hier etwas geahnt hat, für das sie aber keine angemessene positive Bestimmung hatte. Man könnte gegen diese Behauptung einwenden, dass es bei ihr vereinzelt durchaus positive Bestimmungen des Wissens »ohne Beobachtung« gebe. Diese erfolgen bei Anscombe in der Regel mit Hilfe von Beispielen. Dies sind häufig Beispiele von Wissen, das wir von der Lage der eigenen Körperteile haben. 445 Beispiele setzen aber immer eine gewisse Kenntnis dessen voraus, wofür sie Beispiele sind. Im Fall Anscombes gibt sie in ihrem Buch leider keine informative Bestimmung des Wissens ohne Beobachtung, die über Beispiele hinausginge. Wenn sie in anderen Texten Charakterisierungen des »Wissens ohne Beobachtung« hinzufügt, tut sie dies in ganz sparsamer und vager Weise – z. B. wenn sie sagt, dass »Wissen ohne Beobachtung« Wissen »without clues« sei (Anscombe 1962, S. 71). Deswegen haben die Kommentare Anscombes die Aufgabe übernommen, den Begriff des »Wissen ohne Beobachtung« zu klären. 446 Ob es ihnen gelungen ist, scheint mir jedoch fraglich. Die wichtigste Einsicht Anscombes an diesem Punkt ist jedoch nicht, dass das Wissen, das der Handelnde von seinen absichtlichen Handlungen hat, Wissen »ohne Beobachtung« sei. Wichtiger ist, dass sie dieses Wissen als »praktisches Wissen« charakterisiert (Anscombe 1963, S. 57). D. h. dass, wenn der Handelnde die »Warum-Frage« im relevanten Sinn beantwortet, er ein Wissen von dem ausdrückt, was zugleich die Ursache dafür ist, dass er tut, was er tut. Anders ausgedrückt: Das Wissen, das wir von unseren intentionalen Handlungen haben, ist die Ursache davon, dass wir intentional handeln. Dies ist es, was Anscombe practical knowledge nennt. 447 Und dieses Wissen wird im praktischen Syllogismus ausgedrückt. Im Rahmen dieser Untersuchung muss man sich aber fragen,
Vgl. (Anscombe 1963, S. 13) auch (Anscombe 1962). Siehe z. B. (Rayappan, S. 71) und (Teichmann 2011, S. 11 ff.). 447 Der Gedanke des praktischen Wissens ist aber, wie Anscombe selber aufmerksam macht, viel älter. Sie zitiert Thomas von Aquin als Quelle dieser Ideen. (Anscombe 1963, S. 87). 445 446
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was dies mit Kant zu tun hat. Dass etwas eine Handlung im Vollsinn ist, heißt bei Kant, dass die Handlung unter einer Beschreibung Fall einer Maxime ist. Hier zeigt sich bereits eine Ähnlichkeit zwischen der Position Anscombes und der Kants. Dies sieht man deutlicher, wenn man den Fall der Erklärung von Handlungen analysiert anstatt des Falls der Deliberation. In der Erklärung von Handlungen geht es um eine Handlung (also nicht um einen Imperativ oder dergleichen). Denn im Fall der Deliberation geht es, wie oben gesagt, um die Suche nach dem, was zu tun ist. Dies war der Fall im Depositum-Beispiel. Nun ist es bei Kant so, dass Maximen nicht nur eine Rolle im Rahmen der Deliberation spielen, wie im Depositum-Beispiel, sondern auch im Rahmen der Erklärung bzw. des Vollzugs der Handlung. Man sollte m. E. sogar sagen, dass die wichtigste Rolle der Maximen in der Handlungskonzeption Kants die Rolle ist, die sie in der Erklärung von Handlungen spielen. Denn eine Maxime ist vor allem ein Prinzip »nach dem man wirklich handelt« (Vgl. z. B. Philosophia practica Marburg AA 27 1224). Maximen spielen deshalb für Kant eine ähnliche Rolle wie diejenige, die das praktische Wissen bei Anscombe spielt. Mit Hilfe dieser These kann man m. E. die These Kants verstehen, nach der alle Handlungen nach Maximen vollzogen werden. 448 Man sollte aber nicht vergessen, dass diese These nicht besagt, jede Handlung sei absichtlich, sondern vielmehr, dass jede Handlung »absichtlich unter einer Beschreibung« ist. Und dass jede Handlung nach einer Maxime vollzogen wird, bedeutet, dass die Antwort auf die »Warum-Frage« in eine Maxime mündet. Kant behauptet nicht, dass das Wissen, das wir von unseren Handlungen haben, ohne Beobachtung sei. Er ist der Auffassung, dass Maximen Urteile sind. Sie spielen die Rolle der obersten Prämisse in einem praktischen Syllogismus. Noch wichtiger: Maximen sind Erkenntnisurteile. Es ist zwar richtig, dass Kant diese These explizit weder verteidigt noch sogar formuliert. Interpretiert man aber die Unterscheidung zwischen Erkenntnisurteilen und ästhetischen Urteilen als eine scharfe Unterscheidung, wie Kant sie wahrscheinlich gemeint hat oder hätte meinen müssen, sodass es keine dritte Alternative zwischen Erkenntnis- und ästhetischen Urteilen gibt, dann folgt, dass Maximen nichts anders als Erkenntnisurteile sein können. Man kann aber auch vertreten, dass der Unterschied zwischen ästhetischen Urteilen und Erkenntnisurteilen nicht exklusiv ist. Hätte Kant die Al448
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Siehe oben S. 188 ff.
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ternative oder Disjunktion zwischen Erkenntnisurteilen und ästhetischen Urteile nicht als exklusiv genommen, dann wäre der Argumentation der KU dafür, dass das Geschmacksurteil ästhetisch ist, schwer zu folgen. Denn ihre Grundannahme lautet, dass die Vorstellungen entweder etwas im Objekt oder etwas im Subjekt bezeichnen. 449 Was aber wird in einer Maxime von einem Gegenstand ausgesagt? In der Maxime, nach der ein Handelnder handelt, wird vom einem Gegenstand, nämlich seiner Handlung, mindestens ausgesagt, dass er diese Handlung für gut hält. »Gut« drückt hier eine moralisch neutrale Bestimmung aus. In der Regel wird diese Handlung als gut für etwas anderes gehalten, nämlich als Mittel. Nicht-Erkenntnisurteile können aber nicht von dieser Art sein. Dies wird in der folgenden Behauptung Kants über das paradigmatische nicht-Erkenntnisurteil, nämlich das Geschmacksurteil, klar: »kein Begriff des Guten kann das Geschmacksurteil bestimmen: weil [Herv. LP] es ein ästhetisches und kein Erkenntnisurteil ist, welches also keinen Begriff von der Beschaffenheit und inneren oder äußeren Möglichkeit des Gegenstandes durch diese oder jene Ursache, sondern bloß das Verhältnis der Vorstellungskräfte zu einander, sofern sie durch eine Vorstellung bestimmt werden, betrifft« (KU AA 05 221, 10–15). Daher kann man eine wichtige Ähnlichkeit zwischen den Theorien Anscombes und Kants feststellen: Beide betrachten diejenigen Urteile, nach denen Handlungen vollzogen werden, als Urteile, die über einen kognitiven Anteil verfügen und als diejenigen »Erkenntnisse«, in die die »Warum-Frage« im Fall der absichtlichen Handlung einmündet. Sie erklären diesen kognitven Anteil aber verschieden. Bei Kant spielt die Idee, dass das Wissen, das wir von unseren Handlungen haben, »ohne Beobachtung« sei, keine Rolle. Man könnte aber sagen, dass bei beiden diese Urteile eine Art von Erkenntnis ausdrücken, die mit dem intentionalen Charakter der Handlung zusammenhängt. Ich möchte hier nun die Einwände widerlegen, die man gegen die Interpretationshypothese erheben kann, dass für Kant jede Handlung 449 »Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann. Alle Beziehung der Vorstellungen, selbst die der Empfindungen aber kann objektiv sein (und da bedeutet sie das Reale einer empirischen Vorstellung); nur nicht die auf das Gefühl der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt«. (AA 05 203, 13–204, 3).
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nach Maximen vollzogen wird. Wie oben gesehen, haben mehrere Autor*innen der gegenwärtigen Philosophie die Idee verteidigt, dass jede Handlung absichtlich unter einer Beschreibung ist, obwohl diese These nicht immer in derselben Weise verstanden worden ist. 450 Meine Interpretation lautete, dass die These, jede Handlung sei intentional unter einer Beschreibung, bei Kant die folgende Form annimmt: Jede Handlung wird nach Maximen vollbracht. Und dies heißt, dass die »Warum-Frage« im Fall einer intentionalen Handlung immer mit einer Maxime zu beantworten ist. Wenn wir z. B. annehmen, dass in unserem Beispiel P nicht nur überlegt, ob er das Depositum ableugnen soll, sondern dass er tatsächlich das Depositum ableugnet, dann gilt Ps Ableugnen des Depositums als absichtlich unter der Beschreibung »P will sein Vermögen vergrößern« oder »P leugnet die Deposita ab, die niemand beweisen kann, weil er sein Vermögen vergrößern will«. Man könnte gegen die von mir hier verteidigte These jedoch einwenden, dass Kant selbst an den Stellen, die als textuelle Belege meiner These dienen, nicht explizit behauptet, dass absichtliche Handlungen nach einer Maxime vollzogen werden. Und dies ist richtig. Aber obwohl Kant den Charakter einer Handlung, unter einer Maxime »absichtlich« zu sein, nicht so bestimmt hat, hat er doch freiwillige (voluntariae) Handlungen explizit als Handlungen bezeichnet, die nach Maximen vollzogen werden. 451 Man könnte einwenden, dass »absichtlich« und »freiwillig« (voluntarius) nicht Synonyme sind. Denn es gibt Handlungen, die »freiwillig« aber nicht »absichtlich« sind. So lautet die übliche Interpretation dieser Ausdrücke in der Philosophie. Auf solche Fälle haben schon viele Autor*innen im Rahmen der analytischen Diskussion hingewiesen (Anscombe 1963, S. 25 und 89; Ryle 1949, S. 69–70), die einen Unterschied zwischen »absichtlich« und »freiwillig« (voluntary) machen. Man könnte sogar sagen, dass dieser Unterschied schon bei Aristoteles zu finden ist, da er zwischen dem Freiwilligen (τὸ ἑκούσιον) und dem Intentionalen (τὸ προαιρετόν) 450 Vgl. (Anscombe 1963, S. 11–12), (Anscombe 1979), (von Wright 1971a, S. 91) und (Davidson 1971, S. 46). 451 »Actio voluntaria in so fern sie nach Maximen entspringt (maxime – Maximen, principia praticae subjectiva, weil sie propositio major in practischen syllogismen sein würden). involuntaria – nicht mit Willen, nicht nach seiner Maxime« (Metaphysik Dohna AA 28 678, 20–24). R 1018: »actiones involuntariae per ignorantiam, involuntariae nicht nach Maximen«.
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unterschieden hat. 452 Den Unterschied haben aber die Autor*innen, die sich mit dem Problem der Handlung beschäftigt haben, unterschiedlich verstanden. Anscombe bezeichnet als »freiwillige (voluntary), aber nicht absichtliche Handlungen« z. B. diejenigen, bei denen zwar die Antwort auf die »Warum-Frage« zum Einsatz kommt, aber eine Antwort von anderem Typ gegeben wird als im Fall absichtlicher Handlung. Bei Ryle liegt der Unterschied darin, dass, wenn man »absichtlich« etwas tut, dies heißt, dass man es on purpose tut, während »freiwillig« (voluntary) als Bestimmung der Handlung nur dann angemessen ist, wenn man etwas anderes hätte tun sollen (Ryle 1949, S. 70). 453 Die Hauptsache ist jedoch, dass sie den erwähnten Unterschied machen. Man kann in diesem Punkt aber auch anderer Meinung sein. Selbstverständlich kann man über die Verwendung dieser Wörter diskutieren. Eindeutig ist aber folgendes: Versteht man unter »freiwillig« (voluntarius) das, was so vorkommt, dass der Handelnde es »gerne« annimmt, kann man sich vieles Denken, das freiwillig, aber nicht absichtlich ist. Es genügt hier, dass ein Handelnder das Ergebnis seiner Handlung für wünschenswert hält, unabhängig davon, ob er es intendiert hat oder nicht. 454 Versteht man unter »freiwillig« eine Bestimmung, die nur Handlungen zukommt, bei denen man anders hätte tun sollen, dann sind auch »absichtlich« und »freiwillig« 452 Vgl. EN III 4, 1111b6–10. Die aristotelische Analyse des Freiwilligen (τὸ ἑκούσιον) hat erhebliche Schwierigkeiten, wie man sehr einfach in der Untersuchung der Sekundärliteratur bestätigen kann. Wenn ich hier gelegentlich auf diese Analyse eingehe, beziehe ich mich auf die Behandlung dieses Themas, das Aristoteles in der EN macht und lasse beiseite die Untersuchungen in den anderen ethischen Werken. Deswegen beziehe ich mich nicht auf die komplizierte Untersuchung in der EE, deren Beziehung auf den Text der EN unklar ist. Es ist von Belang hier noch auf das folgende hinweisen: Will man die These verteidigen, Aristoteles habe einen Unterschied zwischen dem »Freiwilligen« und dem »Intentionalen« mit Hilfe des Unterschieds zwischen ἑκούσιον und προαιρετόν gemacht, muss man nicht nur mit den Schwierigkeiten und Ambiguitäten des aristotelischen Gebrauchs des Ausdrucks »freiwillig« umgehen. Denn die Lage beim Gebrauch des Ausdrucks προαίρεσις ist auch schwierig, da Aristoteles den erwähnten Ausdruck auch mehrdeutig verwendet hat. Er hat, wie schon Anscombe und Vigo aufmerksam gemacht haben, zwei Bedeutungen. Siehe dazu (Anscombe 1965, S. 143 f.) und (Vigo 1996, S. 274 f.). 453 Wie man sieht, stimmen Anscombes und Ryles Meinungen über den Begriff des »Freiwilligen« nicht überein. Für eine Analyse, die Ryles Analyse ähnlich ist, siehe (Austin 1956–1957). Beide behaupten, anders als Anscombe, dass das Wort »unfreiwillig« nur da zum Einsatz komme, wo man etwas Peinliches getan hat. Vgl. (Ryle 1949, S. 69). Dagegen (Anscombe 1963, S. 12). 454 Zu dieser Bedeutung siehe (Anscombe 1963, S. 89).
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Ausdrucke, die ganz verschiedene Bedeutungen haben. Es ist aber so, dass »freiwillig« (voluntarium; ἑκούσιον) in der philosophischen Tradition mehrmals auch als Synonym von »absichtlich« verwendet worden ist. 455 Dies ist der Fall, wenn man »freiwillig« so verwendet, dass es das bezeichnet, was unter einer Beschreibung von dem Handelnden als »freiwillig« betrachtet wird, d. h. als »intendiert«, und umgekehrt als »unfreiwillig« das versteht, was nicht intendiert worden ist. Ein Beispiel dafür gibt Aristoteles in seiner Analyse der Handlungen, die ἀκούσια sind aufgrund von Unwissenheit. 456 In solchen Handlungen hat der Handelnde, so Aristoteles, keine Kenntnis von den partikulären Umständen (EN III 3 1111a20–21). Solche Unwissenheit hat zur Folge, dass die Handlung in irgendeinem Aspekt nicht damit übereinstimmt, was der Handelnde intendiert. Einige Autor*innen im Rahmen der Aristoteles-Forschung haben darauf hingewiesen, dass Aristoteles an dieser Stelle ἑκούσιος im Sinne von »absichtlich« verwendet. 457 Dies ist z. B. der Fall bei den von Aristoteles analysierten Beispielen von Handlungen aus Unwissenheit. Bei den von Aristoteles analysierten Fällen handelt es sich um Handlungen, die unter einer Beschreibung absichtlich sind, bei denen sich aber eine Diskrepanz zwischen der Absicht und dem Ergebnis der Handlung auftut (EN III 2 1111a2 ff.). 458 So wie Aristoteles »unfreiwillig« hier gleichbedeutend mit »unabsichtlich« verwendet, so versteht auch Kant manchmal voluntarium als Synonym von »absichtlich«. Und dies ist m. E. dort der Fall, wo er sagt, dass actiones involuntariae nicht nach Maximen vollzogen werden, actiones voluntariae aber zwingenderweise. Es ist zwar richtig, dass, wenn man Auf diesen Punkt macht Ryle aufmerksam. Vgl. (Ryle 1949, S. 73). Bekanntlich erwähnt Aristoteles in der dialektischen Diskussion, mit der er seine Analyse des Unfreiwilligen in der EN anfängt, zwei Kriterien für den unfreiwilligen Charakter einer Handlung: Unfreiwillige Handlungen geschehen aus Zwang (βίᾳ) oder Unwissenheit (δι’ ἄγνοιαν) 1109b35–1110a4. 457 Vgl. (Rapp 1995, S. 116) und (Wolff 2007, S. 120). 458 Vgl. die Analyse Rapps: »Unfreiwillig ist eine Handlung oder eines ihrer Merkmale, insofern nicht diese Art von Handlung oder nicht diese Merkmale intendiert wurden; wo eine Handlung in dieser Weise unfreiwillig ist, gibt es immer eine Handlung einer anderen Art, die freiwillig ist. Wenn einer z. B. etwas erzählt, ohne zu wissen, daß es ein Geheimnis ist, dann wollte er zwar kein Geheimnis verraten, aber er wollte etwas erzählen« (Rapp 1995, S. 116). Bei unfreiwilligen Handlungen aus Zwang sieht dies anders aus. Denn da wird nichts intendiert, zumindest in den typischen Fällen (etwa wenn jemand durch den Wind irgendwohin geführt wird, vgl. EN III 1 1110a2). 455 456
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die Wörter anders und vielleicht vorsichtiger definiert, man einen Unterschied zwischen »freiwillig« und »absichtlich« machen muss. Wichtig ist hier aber nur, dass man über Wörter nicht streiten soll. Und wenn Kant oder irgendein anderer Philosoph beide Ausdrücke als Synonyme verwendet hat, bedeutet dies noch nicht, dass dieser Philosoph den relevanten Unterschied missachtet hätte. Wie oben gesehen, gibt es trotzdem Autor*innen, die die Interpretationshypothese verneinen, dass für Kant jede Handlung nach einer Maxime vollbracht wird. Es gibt, wie oben gesagt, m. E. gute Gründe, sie zu verteidigen. Oben wurde darauf hingewiesen, dass J. Timmermann, M. Albrecht und H. Köhl gegen die von mir verteidigte Interpretation Kants argumentiert haben. 459 Ihre Gründe können nun besser beurteilt werden. Ich fasse die Gedanken Albrechts und Köhls deshalb noch einmal zusammen und ergänze meine Argumente um einige wichtige Punkte. Albrecht behauptet, dass man Kants Meinung nach nicht immer nach Maximen handele, sondern »man sich Maximen machen« solle. Anders gesagt, sei es Kants Meinung nach eine Pflicht, sich Maximen zu machen, was implizieren würde, so Albrecht, dass nicht jeder Handelnde nach Maximen agiere. 460 H. Köhl ist wiederum der Meinung, dass, obwohl Kant die These verteidigt habe, dass wir immer nach Maximen handeln, Kants Meinung in diesem Punkt irrig sei und seine These insofern »empirisch falsch« (Köhl 1990, S. 60). Ich denke aber, dass Köhls Behauptung schwierig zu begründen ist. Er gibt in der Tat keine Begründung an, die den angeblichen »empirischen« Fehler Kants nachwiese. Vielmehr hat die gegenwärtige Handlungstheorie die These Kants gerade untermauert, wenn sie behauptet, dass jede Handlung intentional »unter einer Beschreibung« ist. Dies heißt, wie gesehen, dass von jeder Entität, von der wir sagen, sie sei eine Handlung, wir eine Beschreibung finden können, nach der diese Handlung intentional ist, d. h. dass sie als die Maxime eines Handelnden zu identifizieren ist. Mein Chlor-Trinken ist eine Handlung, obwohl es nicht intentional ist. Wenn mein Chlor-Trinken eine Handlung ist, dann ist mein Chlor-Trinken anders erklärbar, z. B. habe ich Chlor getrunken, weil ich Wasser zu trinken beabsichtigt habe und ich irrtümlich angenommen habe, die Flüssigkeit in dieser Flasche sei Wasser. Wenn man dies so sieht, wird m. E. klar, dass jede Hand459 460
Siehe oben S. 188 ff. Vgl. (Albrecht 1994, S. 130 FN. und S. 131). Vgl. auch (Timmermann 2003a).
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lung in ihrem Begründungszusammenhang mit einer Maxime verbunden ist. Das heißt, dass wenn die »Warum-Frage« in Erscheinung tritt, es immer eine zutreffende Antwort gibt, die eine Maxime anführt, unter der die Handlung absichtlich ist. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass einer Handlung mehrere Maximen zukommen. Dies kann man auch im Fall des DepositumBeispiels bestätigen. Oben wurde gesagt, dass, wenn P gehandelt hätte, seine Handlung absichtlich gewesen wäre u. a. unter den Beschreibungen »P vergrößert sein Vermögen« und »P leugnet die Deposita ab, die niemand beweisen kann, weil er sein Vermögen vergrößern will«. Selbstverständlich ist die Handlungsbeschreibung »P vergrößert sein Vermögen« eine Beschreibung, unter der Ps Handlung nur dann absichtlich ist, wenn P die Handlung unter dieser Beschreibung gewollt hat. Im Fall des Depositums bei Kant erfahren wir, dass P die Handlung unter den Beschreibungen gewollt hat, die in Gestalt von M1 und M3 vorliegen. Die Handlung ist u. a. unter M1 und M3 absichtlich. Man kann die Handlung mit Hilfe dieser und wahrscheinlich auch anderer Maximen beschreiben. Dies erinnert an die Thesen, die Autor*innen wie Davidson und Anscombe bezüglich dieses Punkts vertreten haben. Wie im Kapitel 2 gezeigt wurde, sind beide der Meinung, dass, wenn ich z. B. das Licht anschalte und damit Strom verbrauche, das Zimmer illuminiere und meine Tochter wach mache usw., all dies Beschreibungen einer und derselben Handlung sind – obwohl nur einige davon Beschreibungen sind, unter denen die Handlung absichtlich ist. Für Kant sind auch die Beschreibungen »dieses Depositum abzulehnen«, »mein Vermögen durch sichere Mittel zu vergrößern«, »ein Depositum, das niemand beweisen kann, abzuleugnen«, usw. Beschreibungen einer und derselben Handlung. Bisher habe ich gegen die Position Köhls argumentiert, der behauptet, Kants These sei empirisch falsch. Autor*innen wie J. Timmermann und M. Albrecht dagegen haben die Interpretationshypothese abgelehnt, Kant sei der Auffassung gewesen, dass alle Handlungen nach Maximen vollzogen werden. Zur Verteidigung dieser Interpretationshypothese lassen sich aber m. E. mindestens zwei gute Gründe ins Feld führen, die interner Natur sind, d. h. die in Verbindung mit anderen Thesen der praktischen Philosophie Kants stehen. Diese Gründe habe ich oben erwähnt und ich will an dieser Stelle nun näher auf sie eingehen. Der erste Grund hat mit den Textbelegen zu tun. Obwohl Kant in früheren Texten wie z. B. der Praktischen Philosophie Powalski sagt, dass es Handlungen gibt, die nicht nach 254
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Maximen ausgeführt werden, behauptet er in späteren Texten explizit, dass jede Handlung nach Maximen vollzogen wird. Deswegen sagt Kant schon in den Texten der sogenannten »Menzer-Gruppe«, dass Maximen Grundsätze sind, nach denen man wirklich handelt oder nach denen Handlungen geschehen. 461 Später sagt Kant auch, dass der Mensch immer nach Maximen handelt (vgl. Metaphysik Dohna-Wundlacken AA 28 678, 25–26). 462 Diese Texte scheinen, zumindest zusammengenommen, eindeutig für die These zu sprechen, die ich hier zu verteidigen versuche. Sie zeigen noch einen weiteren wichtigen Punkt, nämlich dass Maximen vor allem Prinzipien sind, nach denen wir handeln. Das heißt, dass, obwohl Kant in der Regel Maximen im Zusammenhang mit moralischer Deliberation anführt, in denen das Subjekt des Beispiels noch nicht gehandelt hat, Maximen gleichwohl vor allem Prinzipien des Vollzugs von Handlungen sind (»Gesetze, nach denen man wirklich handelt«, wie eine der zitierten Stellen sagt). Die Maximen, die in typischen kantischen Beispielen für moralische Deliberation beurteilt werden, werden so bezeichnet, weil das beurteilende Subjekt in den Beispielen (z. B. im DepositumBeispiel die Person P) sich vorstellt, was der Fall wäre, wenn sie so handeln würde, wie sie zu handeln vorhat. Die Maxime verdient hier diesen Namen, weil der Handelnde sich vorstellt, dass er so handelt, wie die Maxime es besagt, also dass das entsprechende Prinzip seine Maxime ist. 463 461 Vgl. Philosophia practica Marburg AA 27 1224: »Maxime aber ein subjektives Gesetzt, nach dem man wirklich handelt«. Cfr. Moral Kaehler 66, 13–14; Moralphilosophie Collins AA 27 263, 29–30, Moral Mrongovius II AA 29 602, 38–39: »Objektive Principia sind Gesetze und sie sind verschieden von subjektiven oder von Maximen nach welchen ich handle«. 462 Vgl. Metaphysik Dohna-Wundlacken AA 28 678, 25–26: »Als freihandelndes Wesen kann der Mensch eigentlich nichts nicht mit Willen tun – immer handelt er nach Maximen wenn auch nicht universaliter«. 463 Deswegen halte ich die Interpretation Gillessens an diesem Punkt für nicht richtig, wenn er behauptet: »Eine Maxime zu einem bestimmten Zeitpunkt zu hegen, erfordert aber nicht, sie zu diesem Zeitpunkt auch zu praktizieren. Es ist für Maximen charakteristisch, daß sie gehegt werden können, auch ohne daß das hegende Subjekt schon in irgendeiner Weise handelt. (Ausnahmen, die zugleich Grenzfälle darstellen, sind die situativ uneingeschränkten Maximen, auf die ich noch zu sprechen komme.)«. Vgl (Gillessen 2012, S. 71). Ähnlich (Bittner 2005, S. 60). Mir erscheint es schwierig, die These zu akzeptieren, dass Maxime »gehegt werden können, auch ohne dass das hegende Subjekt schon in irgendeiner Weise handelt«; und zwar deshalb, weil Maximen als Urteile des Wollens voraussetzen, dass man zumindest in konsistenter Form mit dem Ziel der gehegten Maxime handelt. Die Behauptung, dass ich mir zur
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Es gibt noch einen zweiten Grund, der m. E. entscheidend ist. Auf diesen Grund haben S. Kerstein und R. Bittner, wie oben gesehen, aufmerksam gemacht. S. Kerstein hat in diesem Zusammenhang m. E. überzeugend argumentiert, dass der kategorische Imperativ ein Test ist, der auf Maximen angewendet wird, und dass, wenn es möglich wäre, ohne Maximen zu handeln, auch Handlungen denkbar wären, auf die wir den kategorischen Imperativ nicht anwenden könnten. Der kategorische Imperativ ist aber, so Kant, der Kanon der moralischen Beurteilung aller Handlungen (vgl. GMS AA 04 428, 5– 7), was unmöglich wäre, wenn es Handlungen gäbe, die wir nicht nach Maximen vollziehen (vgl. Kerstein 2002, S. 17–18 und Bittner 2005, S. 54). 464 Außerdem: Es gibt für Kant keine Handlung, die weder gut noch schlecht ist (Religion AA 06 22, 19 ff.). Dass eine Handlung eine dieser Eigenschaften hat, hängt aber von der Maxime ab, nach der die Handlung vollzogen wird. Gäbe es Handlungen ohne Maximen, dann gäbe es Handlungen ohne Moralvalenz. Dies kann aber im Rahmen der kantsichen Moraltheorie nicht der Fall sein. Dies scheint mir ein architektonischer Grund zu sein, der Kant auf die These festlegt, dass alle Handlungen nach Maximen vollzogen werden: Wenn dies nicht so wäre, wäre Kants Theorie inkonsistent. Durch die erwähnte Charakterisierung intentionaler Handlungen als Gebilde, die absichtlich unter einer Beschreibung sind, versucht Kant nicht eine reduktive »Definition« des Handlungsbegriffs abzugeben. Zwar ist es eine notwendige Bedingung dafür, dass etwas eine Handlung ist, dass sie intentional unter einer Beschreibung ist. Dies reicht aber für eine reduktive Definition nicht. Dazu benötigt man einen Katalog von notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die logisch unabhängig voneinander sein müssen, und auf die man den definierten Begriff reduziert. 465 Es gibt aber keinen Grund zu vermuten, dass Kant eine solche Definition versucht hat. Vielmehr hat man Grund zu denken, dass Kant die Suche nach reduktiven Definitionen im Falle der Mehrheit, wenn nicht aller, philosophischen Kernbegriffe abgelehnt hat. Und daher ist die von Willaschek und Maxime gemacht habe, also dass ich will, dass ich mein Vermögen vergrößere, scheint nur sinnvoll zu sein, wenn ich etwas dafür tue, mein Vermögen zu vergrößern und irgendwie dabei bin, mein Vermögen zu vergrößern. Dies ist m. E. ein Gedanke, den Autor*innen wie Wittgenstein und Anscombe vertreten haben. Vgl. (Anscombe 1963, S. 68) »The primitive sign of wanting is trying to get«. Siehe auch PU § 615. 464 Gegen die Interpretation Albrechts siehe auch (Schwartz 2006, S. 37–39). 465 Siehe oben S. 64 ff.
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anderen Autor*innen verteidigte These, dass Kant eine »kausalistische« Konzeption der Handlung, geschweige denn eine Theorie, vertreten hat, ein Irrtum. Für Kant ist der Begriff der »absichtlichen Handlung« nicht zu reduzieren, d. h. man kann den Begriff der absichtlichen Handlung nicht auf fundamentalere Begriffe wie etwa »Ursache« oder »Pro-Einstellung« zurückführen, die den Begriff ohne Rest definieren könnten. Und das heißt, dass Kant keinen kausalistischen Ansatz verteidigt hat. Man könnte hier einwenden, dass die Texte Kant eigentlich das Gegenteil beweisen. Denn Kant verwendet massiv kausales Vokabular im Rahmen der praktischen Philosophie. Und dies ist richtig, wie jeder, der die Kerntexte der praktischen Philosophie Kants kennt, bestätigen kann. Entsprechend definiert Kant das »Begehrungsvermögen« als »das Vermögen [der Lebewesen], durch [ihre] Vorstellungen Ursache [Hervorhebung LP] von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein« (KpV AA 05 9, 21). Auf dieser Weise behauptet Kant auch, dass Imperative »entweder die Bedingungen der Kausalität [Hervorhebung LP] des vernünftigen Wesens, als wirkender [Hervorhebung LP] Ursache [bestimmen], bloß in Ansehung der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben, oder […] nur den Willen [bestimmen], er mag zur Wirkung hinreichend sein oder nicht« (KpV AA 05 20, 14–17). Der Wille der vernünftigen Wesen denkt sich, so Kant, nicht nur als zur Sinnenwelt gehörig, sondern auch »sich gleich anderen wirksamen Ursachen [Hervorhebung LP] notwendig den Gesetzen der Kausalität unterworfen« (KpV AA 05 42, 12–13). Auf diese Weise charakterisiert Kant den Willen als »eine Art von Kausalität« (GMS AA 04 446, 6). Der Unterschied zwischen Gesetzen der Natur und Gesetzen der Freiheit erklärt Kant in der KpV außerdem wie folgt: »Der Unterschied also zwischen den Gesetzen einer Natur, welcher der Wille unterworfen ist, und einer Natur, die einem Willen (in Ansehung dessen, was Beziehung desselben auf seine freie Handlungen hat) unterworfen ist, beruht darauf, dass bei jener die Objekte Ursachen der Vorstellungen sein müssen, die den Willen bestimmen, bei dieser aber der Wille Ursache von den Objekten [Hervorhebung LP] sein soll, sodass die Kausalität desselben ihren Bestimmungsgrund lediglich in reinem Vernunftvermögen liegen hat, welches deshalb auch eine reine praktische Vernunft genannt werden kann« (KpV AA 05 44, 27–35). Kant scheint deswegen auch den reinen Wille als eine Ursache zu verstehen, und zwar als eine intelligible bzw. in-
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tellektuelle Ursache (KpV AA 05 79, 8). Bekanntlich ist bei Kant auch die Rede von »Kausalität aus Freiheit« (KpV AA 05 16, 33). Keine dieser Stellen hilft aber, um die »kausalistische« Interpretation von Kants Auffassung von Handlungen zu untermauern. Denn die kausalistische Handlungstheorie setzt, wie oben gezeigt, viel mehr als nur den Gebrauch eines kausalen Wortschatzes voraus. Diese Voraussetzungen werden von Kants Gedanken nicht erfüllt, wie oben gezeigt wurde (siehe oben S. 108 ff.). Denn die kausalistische Handlungstheorie setzt voraus, dass man ein reduktives Projekt verteidigt. Dies hat Kant aber nicht getan. Andererseits setzen die erwähnten Stellen nur voraus, dass man akzeptiert, dass jeder Handlung die Wirksamkeit des Handelnden zugrunde liegt. Weder Kant noch Anscombe noch andere Vertreter nicht-kausalistische Theorien verneinen, dass jede Handlung auch die kausale Wirksamkeit des Handelnden einschließt. Denn wer handelt, löst Veränderungen in der Welt aus. Diese Bestimmung, die essentiell für Handlungen als »aktives« Verhalten ist, reicht aber nicht aus, um sie im Vollsinn zu charakterisieren. Wie oben gesehen, liegt die Gegenüberstellung von Aktivität und Passivität im Kern der vorphilosophischen Bestimmung des Handlungsbegriffs. Und Tätigkeit setzt Wirksamkeit voraus. Dies ist aber nicht genug, um den Begriff der Handlung im Vollsinn zu bestimmen. Denn tätig sind auch Entitäten, die nicht handeln, etwa Steine, Tiere, Satelliten usw. Dass Kant eine nicht-kausalistische Konzeption der Handlung verteidigt hat, heißt nicht, dass Kant das Moment kausaler Wirksamkeit ausschließen will, die jede Handlung mit sich zu bringen scheint. 466 Die oben zitierten Stellen zeigen genau das Gegenteil. Aber die kausale Wirksamkeit des Handelnden ist nicht das entscheidende Merkmal der intentionalen Handlung. Das entscheidende Merkmal der intentionalen Handlungen ist vielmehr, dass sie nach Maximen vollzogen werden. Und daher spielen sie im Rahmen eines Begründungszusammenhangs ihre Rolle. Noch wichtiger: All dies schließt nicht ein, dass Kant sich an Kausalmodellen der Form der wirkenden Ursache orientiert, wenn er den Handlungsbegriff im Vollsinn, also intentionale Handlung, bestimmen will. Eben dies tun die Autor*innen im Rahmen der kausalistischen Tradition der Gegenwart. Dass Kant sich im Gebrauch des 466 Auch andere Autor*innen der Gegenwart, die keine »kausalistische« Handlungstheorie verteidigt haben, haben diese Dimension auch nicht ausgeschlossen. Vgl. (Anscombe 1963, S. 17) und (Hursthouse 2000).
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kausalen, quasi-kausalen oder als kausal interpretierten Vokabulars an der Wirkursache orientiert, kann man anhand der bei Kant gängigen Rede von »Willensbestimmungen« bestätigen. Diese Redeweise ist sehr wichtig im Zusammenhang mit der Interpretation der Handlungskonzeption Kants als einer »kausalistischen« Konzeption. Der Begriff der Willensbestimmung, der bei der Darstellung des Moralgesetzes in der KpV von außerordentlicher Relevanz ist, ist von der Sekundärliteratur vernachlässigt worden, sodass man kaum Texte findet, die diesen Begriff unter die Lupe genommen haben. 467 In der Regel nimmt man stillschweigend an, dass die Bedeutung dieses Ausdruck eindeutig ist. Dies ist aber alles andere als klar. In der KpV behauptet Kant mehrmals, dass der Wille entweder durch die Materie oder durch die Form »bestimmt« werden kann. Hier liegt der Schluss nahe, dass Kant an Fälle kausaler Determination von der Art der wirkenden Ursachen denkt, nämlich als kausal-deterministisches Wirken einer Ursache auf den Willen. 468 Das Problem ist aber, worauf schon K. Ameriks aufmerksam gemacht hat, dass das Wort »Bestimmung« auch im Fall von »formalen Ursachen« Anwendung findet. So denkt Kant, wie Ameriks richtig angedeutet hat, im Fall der Argumentation der KpV an eine formale Bestimmung »in the formal sense of rationality, as when we say that a geometrical formula determines how a mathematical problem is to be solved« (Ameriks 2006, S. 8). 469 Man sollte in diesem Punkt eigentlich noch weiter als Ameriks gehen, denn Kant behauptet offen, wenn er das Paar von Reflexionsbegriffen »Materie und Form« in der KrV untersucht, dass »der erstere […] das Bestimmbare überhaupt [bedeutet], der zweite dessen Bestimmung« (A 266/B 323). Wenn dies so ist, dann ist jede Bestimmung eine Art von »Informierung«. Es geht Kant also mit dem Ausdruck »Willensbestimmung« darum, dass der Wille durch die Vernunft »geformt« wird. Der Wille bekommt eine Form, wenn er das Moralgesetz oder die Materie der Maxime als »Bestimmungsgrund« annimmt. Dieses Beispiel zeigt klar, wie wenig das kausale Vokabular Kants mit dem
467 Auf diesem Punkt macht C. Horn aufmerksam, der eine der wenigen ist, der diese Aufgabe auf sich genommen hat. Vgl. (Horn 2011, S. 38 FN. 1). 468 Einiges ist doch klar. »Willensbestimmung« ist ein genitivus oiectivus nicht subjectivus, d. i. der Wille wird bestimmt, sie bestimmt doch nicht. Siehe (Horn 2011, S. 39). Vgl. z. B KpV AA 05 31, 11 ff. 469 Für die verschiedenen möglichen Bedeutungen des Wortes »Bestimmung« bei Kant siehe (Horn 2011, S. 39).
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von vielen gegenwärtigen Handlungstheoretikern angenommenen Begriff der Ursache identifizierbar ist. * * * Zusammengefasst habe ich bisher behauptet, dass eine Maxime der Obersatz eines praktischenr Syllogismus ist. Dies bedeutet vor allem, dass Maximen die Gebilde sind, nach denen jede Handlung vollzogen wird. Denn jede Handlung ist absichtlich unter einer Beschreibung. Das heißt bei Kant, dass jede Handlung im Rahmen eines Begründungszusammenhangs in Erscheinung tritt. Auf die Frage »warum?« kann man mit Bezug auf verschiedene Handlungsbeschreibungen antworten, die die Gründe für die Handlung angeben. Diese Gründe beziehen sich immer auf eine Maxime, unter der die Handlung absichtlich ist. Obwohl wichtige Erkenntnisse für die Interpretation der Handlungskonzeption Kants gewonnen worden sind, wurde bisher die Antwort auf die Frage nach der Allgemeinheit der Maximen noch nicht gegeben. Sie war aber die Eingangsfrage dieses Kapitels. Im folgenden versuche ich kurz auf dieses Problem einzugehen. 11.b.4) Maximen als Lebensregeln und Maximen zweiter Ordnung Es liegt auf der Hand, dass die Maximen der Handlung, so wie ich sie hier vorgestellt habe, sich auf höhere Maximen beziehen können. Die Maxime, »Deposita abzuleugnen, die niemand beweisen kann«, bezieht sich im kantischen Depositum-Beispiel auf eine Maxime, deren »Umfang« größer ist, nämlich »mein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern«. Beide Maximen weisen aber dieselbe Struktur (S1) auf, nämlich »Ich will, wenn ich mich in einer Situation vom Typ S befinde, H vollziehen (beschrieben als ein Handlungstyp)«. Es liegt nahe, dass die Maxime hier deshalb allgemein ist, weil sie in verschiedenen Situationen in Frage kommt. Es gibt also einen Situationstyp, der den Raum eröffnet, in dem ein bestimmter Handlungstyp in Frage kommt. Es gibt Situationsbeschreibungen, die umfassender als andere sind. Daher liegt es nahe, dass Maximen in Bezug auf die konkrete Situation unterschiedlichen Allgemeinheitsstufen angehören können. Im Prinzip besagt die Maxime, dass ich eine dem Handlungstyp entsprechende Handlung in jeder Situation des Typs S vollziehe. Man kann hier in Kants Handlungskonzeption ein interessantes Phänomen erkennen, auf das auch Anscombe aufmerksam gemacht 260
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hat. Denn es gibt Maximen, die einen größeren Umfang als andere haben, sodass sie die anderen Maximen »schlucken« (Anscombe 1963, S. 46). Diese Struktur erklärt Anscombe anhand des berühmten Beispiels des Mannes, der Wasser pumpt. Das Beispiel sieht wie folgt aus: Stellen wir uns einen Mann vor, der Wasser pumpt. Stellen wir uns auch vor, dass er mit diesem Wasser ein Haus versorgt. Stellen wir uns endlich vor, dass das Wasser vergiftet ist. Die Beschreibungen a) »Wasser pumpen«, b) »ein Haus mit vergiftetem Wasser versorgen« und c) »die Bewohner des Hauses vergiften«, sind dann allesamt wahre Beschreibungen dessen, was der Mann im Beispiel tut. Stellen wir uns vor, dass er dies absichtlich tut, weil er die Menschen töten will, die im Haus wohnen. Dann vollzieht er auch a), b) und c) absichtlich. Er tut c), indem er b) tut, und er tut b), indem er a) tut. 470 Wenn wir diesen Mann fragen, was er tut, könnte er sinnvoll sowohl mit a) als auch mit b) als auch mit c) antworten. Er tut a), weil er b) will und er tut b), weil er a) will. Diese Beschreibungen bezeichnen aber als Antworten auf die Frage »Warum?« dieselbe Handlung. Eine ähnliche Situation kann man sich im Fall des Depositum-Beispiels vorstellen. P leugnet das Depositum ab, um sein Vermögen zu vergrößern. Wenn er aber das Depositum leugnet und behält, vergrößert er automatisch sein Vermögen. Es gilt im kantischen Beispiel allerdings auf etwas Wichtiges hinzuweisen. Im Fall der Beschreibungen, »meinem Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern« und »dieses Depositum, das niemand beweisen kann, abzuleugnen«, umfasst die erste Handlungsbeschreibung mehr Handlungsformen als die zweite. Die zweite Art zu handeln ist ein Mittel, mein Vermögen durch sichere Mittel zu vergrößern. Es gibt aber noch weitere Arten, dieses Ziel zu erreichen. Trotzdem tue ich nichts anderes als mein Vermögen durch sichere Mittel zu vergrößern, wenn ich in der fraglichen Situation das Depositum ableugne mit dem Ziel, mein Vermögen zu vergrößern. In diesem Fall ist deshalb mein Ableugnen des Depositums nichts anderes als mein Vergrößern meines Vermögens. Das oben Gesagte legt die These nahe, dass die Maximen sich in einer Hierarchie befinden, in der es Maximen gibt, die übergeordneten Maximen dienen. Diese Maximen sind Maximen von Handlungen, die übergeordneten Zielen dienen, so wie das Depositum zu leugnen dem Vergrößern des Vermögens dient. Wenn dies richtig ist 470
Vgl (Anscombe 1963, S. 37).
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(und ich meine, dass dies richtig ist), dann ist die Maximen-Interpretation R. Bittners in Frage zu stellen. Bekanntlich trifft Bittner eine Unterscheidung zwischen »Maximen« (verstanden als »Lebensregeln«) und »Vorsätzen«. Es ist aber offensichtlich, dass Kant zumindest keine explizite Unterscheidung zwischen »Maxime« und »Vorsatz« macht. Es handelt sich lediglich um eine systematische Unterscheidung, die Bittner verwendet, um den kantischen Begriff der Maxime zu erklären. Ein anderer Vertreter dieser Interpretation, oder zumindest einer ähnlichen Interpretation, ist Beck (Beck 1960, S. 77). 471 Die Dinge liegen aber noch komplizierter. Denn selbstverständlich ist der Begriff »Lebensregel« vieldeutig. In Bittners Interpretation bedeutet dieser Ausdruck aber etwas relativ Bestimmtes, wie wir sehen werden. Vorsätze seien, so Bittner, Regeln wie »Essen bei meiner Mutter einmal pro Woche«, die jedoch deswegen keine Maximen seien, weil sie keine allgemeinen Regeln seien. Dabei besteht nach Bittners Meinung die Allgemeinheit der Maximen darin, dass sie die praktische Lebensrichtung des Handelnden ausdrücken, und weiterhin darin, dass eine Änderung in den Maximen eine Änderung in der Richtung des praktischen Lebens des Praxissubjekts zur Folge hat. Entsprechend bringt, so Bittner, die Maxime »Ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen« die Globalvorstellung meines Lebens von einem praktischen und moralischen Standpunkt zum Ausdruck. Daher betont Bittner, dass die Maximen die »natürliche Moral« eines Subjekts aussprächen, die darin besteht, dass dieses Praxissubjekt z. B. ein Leben der Hab471 Vgl. (Brinkmann 2003, S. 110 FN. 35), (Köhl 1990, S. 52), (Lukow 2003, S. 407 FN. 6). (Thurnherr 1994, S. 43 FN. 56). Höffe (Höffe 1977) wurde traditionell als ein Vertreter von Bittners These betrachtet. Ich glaube aber, dass diese Interpretation Höffes ungenau ist, weil Höffe nur behauptet, dass Maximen mit Situationstypen zu tun haben. Höffe selbst betont außerdem, dass Maximen sich von einer höheren Stufe unterscheiden. Diese höhere Stufe bestehe in Regeln wie den Lebensformen bei Aristoteles oder den Existenzmodi bei Kierkegaard, die »Lebensregeln« in Bittners Sinn sein könnten. Vgl. (Höffe 1977, S. 360) und (Höffe 2004, S. 191). Obwohl klar ist, dass Unterschiede zwischen Höffes und Bittners Interpretation bestehen, sind die Ähnlichkeiten größer als die Unterschiede. Beide treffen nämlich die Unterscheidung zwischen Maximen und Vorsätzen. Auch sehen beide Maximen als Prinzipien an, die die Lebensrichtung eines Handelnden bestimmen. Deswegen meint Höffe, dass eine Regel genau dann als Maxime gilt, wenn sie unter keine weitere Regel subsumiert wird. Vgl. (Höffe 1977, S. 359–360).
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sucht oder des Genusses usw. leben will. Deshalb seien praktisch irrelevante Regeln wie »Essen bei meiner Mutter einmal pro Woche« nicht Maximen, sondern Vorsätze. Diese Interpretation habe, so einige Autor*innen, erhebliche Vorteile. 472 Der wichtigste liege darin, dass man gemäß dieser Interpretation die Deutung des kategorischen Imperativs und sein Verfahren plausibler als manch anderer Kritiker interpretieren könne. 473 Die These Bittners solle Kant gegen den Vorwurf verteidigen, dass der kategorische Imperativ kein moralisches Kriterium abgibt, weil viele moralische Maximen nicht verallgemeinerbar seien und, umgekehrt, man viele Maximen nicht verallgemeinern könne, obwohl sie vom Standpunkt der Moral aus richtig seien. 474 Also könne Kant, so die Interpretation Bittners, die Anwendung des kategorischen Imperativs nicht als Verfahren konzipiert haben, mit dem man lediglich irgendeine einfache Regel verallgemeinert, weil die einfache Verallgemeinerung ein von einem moralischen Standpunkt aus relevantes Material bzw. eine Maxime voraussetze, das Vorsätze nicht abgeben könnte. In Bezug auf diesen angeblichen Vorteil der Bittner-These ist eine Bemerkung von einiger Tragweite zu machen. Obwohl mittels der Bittner-These die kantische Ethik immun gegen die Einwände wird, die das Dasein nicht verallgemeinerbarer und zugleich moralisch erlaubter Regeln hat, hat Brinkmann korrekt hervorgehoben, dass das dazu komplementäre Problem der verallgemeinerbaren, aber moralisch verbotenen Regeln durch die »Lebensregel«-Deutung nicht gelöst wird. Die Vertreter der Bittner-These, so Brinkmann, haben nicht demonstriert, dass alle moralischen »Lebensregeln« das Verallgemeinerungsverfahren bestehen (Brinkmann 2003, S. 112). 475 Das bestätigt meiner Meinung nach, dass – obwohl die Klärung des Maximenbegriffs wichtige Folgen für das Problem der Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs hat (Schwartz 2006, S. 116–120) – diese Klärung keine allgemeine Lösung der Einwände und Schwierigkeiten solcher Anwendung bietet. 476
472 Einige dieser Vorteile werden u. a. von (Brinkmann 2003, S. 111) und (Köhl 1990, S. 52 ff.) betont. 473 Bittner selbst ist sich dieses Vorteils bewusst (Bittner 1974, S. 487). 474 Man findet solche Kritik z. B. in (Frankena 1961, S. 31–33) und (MacIntyre 1984, S. 46). 475 Für weitere Einwände gegen diese These siehe (Gillessen 2012, S. 518–525). 476 Diese These hat auch Gillessen verteidigt. Vgl. (Gillessen 2012).
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Trotz der mutmaßlichen Vorteile ist die These Bittners von vielen Autor*innen zu Recht kritisiert worden. 477 Klar ist, dass Bittners Interpretation der Maximen nicht zu allen Beispielen passt, wie Bittner selbst zugesteht. 478 Es handelt sich dabei um Beispiele, die nicht notwendigerweise die »natürliche Moral« des Subjekts ausdrücken, da es hier um ein Prinzip geht wie dasjenige, »mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern«. Unterschiedlichste Vorstellungen des natürlichen moralischen Lebens sind mit diesem Prinzip verträglich. Dieses Prinzip könnte sich auch noch auf andere Maximen ausdehnen, z. B. »die Deposita ableugnen zu dürfen, deren Niederlegung mir niemand beweisen kann«. Dann sind Maximen als Gegenstand des Test des kategorischen Imperativs keine Lebensregeln in Bittners Sinn. Diese moralische Prüfung setzt voraus, dass die Maximen in Bezug auf Situationen formuliert werden können. Dies scheint jedoch nicht kompatibel mit Bittners These zu sein, Maximen seien Lebensregeln. Deswegen meint Höffe, der eine ähnliche Maximen-Interpretation verteidigt, dass Maximen nicht durch die Situationsart bestimmt werden (Höffe 1977, S. 361; 2004, S. 187). 479 Zwar denke ich, dass Lebensregeln im Sinne Bittners ebenfalls Maximen sind, aber dann müsste man von Maximen in einem anderen Sinn des Wortes sprechen. Denn Lebensregeln im Sinne Bittners haben nicht die Struktur S1. Hier ist es wichtig, an die terminologische Großzügigkeit Kants zu erinnern. Denn Kant hat den Ausdruck »Maxime« mit verschiedenen Bedeutungen verwendet. 480 In gewisser Hinsicht sind Maximen in der Form S1 in der Tat eine Art von »Lebensregeln«; es sind nämlich Regeln, die für die ganze Lebenszeit eines Subjekts gültig sind bzw. einen solchen Anspruch erheben. Wenn die Regel nicht mehr gültig für den Handelnden ist, dann ist sie keine Maxime des Subjekts mehr, wenngleich sie noch eine gültige Regel für ein anderes Subjekt sein könnte. Da ein Subjekt seine Ma477 Z. B. (Allison 1990, SS. 92–93), (Köhl 1990, S. 52–55), (Lukow 2003, S. 407–409), (Willaschek 1992, S. 298 FN.). 478 Tatsächlich ist Bittner der Meinung, dass Kant in der KpV-Version des DepositumBeispiels einen Fehler gemacht hat, da er einen Vorsatz als Maxime darstellte. Vgl. (Bittner 1974, S. 497). Aber diese Interpretation ist unplausibel, da Kant ähnliche Beispiele nicht nur in der GMS benutzt hat, sondern auch in der KpV (KpV § 4 AA. 05 27, 24 und ff.) und in UG (AA 08 286, 17–31). 479 Dagegen haben Köhl und Schwartz m. E. zu Recht argumentiert. Vgl. (Köhl 1990, S. 51–55) und (Schwartz 2006, S. 64–65). 480 Siehe oben S. 196 Fn. 336.
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ximen wechseln kann, bedeutet die Allgemeinheit derjenigen Maximen, die ich hier als »Lebensregeln« verstehe, nicht, dass diese Maximen de facto für die ganze Lebenszeit gelten, sondern, dass sie gültig sind, während das handelnde Subjekt sie für gültig hält. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, hat das Subjekt eine Maxime, die – in diesem Sinn – eine Lebensregel ist, weswegen die Allgemeinheit der Maxime zuerst eine Zeitallgemeinheit ist. Allgemeinheit bedeutet hier also, dass die Maximen für die ganze Lebenszeit gelten bzw. einen solchen Anspruch erheben. 481 Es wurde gesagt, dass Kant den Ausdruck »Maxime« mit verschiedenen Bedeutungen verwendet. Denn er verwendet ihn sowohl mit der Bedeutung »Maxime erster Ordnung« (also für diejenigen Maximen, die die Struktur S1 haben) als auch für »Lebensregeln« im Sinn Bittners. 482 Hier ist es nun an der Zeit, eine wichtige These Kants bezüglich dieses Punkts zu analysieren: Maximen befinden sich in einer Rangordnung, die von Maximen erster Ordnung (der Form S1) zu »obersten Maximen« führt. Man kann dies als kantische Meinung erkennen, wenn man liest, dass es, so Kant, eine »allgemeine Maxime der Willkür« (Religion AA 06 36, 6) gibt, die er mit der Gesinnung identifiziert. Die Gesinnung ist aber eine Maxime, die eine ganz andere Struktur als die oben erwähnten Maximen vom Typ S1 und als die »Lebensregel«-Maximen Bittners hat. Deswegen nennt man sie manchmal »Maxime zweiter Ordnung« oder »zweiter Stufe«, die Kant selbst als »oberste Maxime« bezeichnet. 483 Eine solche Maxime betrifft nicht konkrete Handlungen und bezieht sich sogar nicht auf Handlungstypen. Er ist vielmehr das Prinzip der Bildung 481 Das wird auch von Brinkmann und Enskat hervorgehoben. Vgl. (Brinkmann 2003, S. 114) und (Enskat 1990, S. 51) 482 Siehe auch (Timmermann 2003a, S. 149–154). 483 Für die Rede von »oberster Maxime« siehe z. B. den folgenden Text in der Religion: »Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr Kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf; und wenn keine andere Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d. i. er würde moralisch gut sein«. (Religion AA 06 36, 1–7). Vgl. auch Religion AA 06 31, 21–26: »Es kann aber der Ausdruck von einer Tat überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objekte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden«.
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bzw. Annahme der Maximen »erster Ordnung«, die die oben erwähnte Struktur S1 haben (Religion AA 06 25, 5 ff.). 484 Daher ist diese Maxime zweiter Ordnung, so Kant, die Quelle des Guten und des Bösen (Religion AA 06 45, 13–15). Obwohl Kant diesen Unterschied nicht mit diesen Ausdrücken macht, nämlich »Maxime erster Ordnung« und »Maxime zweiter Ordnung«, ist doch eindeutig, dass er mindestens ab der Religion einen klaren Unterschied macht zwischen der Gesinnung als »oberster Maxime« und den anderen Maximen, die von der Gesinnung abhängig sind. Dieser Unterschied ist von Belang. Wenn man ihn nicht herunterspielt, sieht man schnell ein, wie die Mehrheit der Kant-Forschung in den letzten Jahren, dass Kant mit dem Ausdruck »Maxime« mindestens drei verschiedene Gebilde bezeichnet. Es wurde gezeigt, dass Kant den Ausdruck »Maxime« mit mehreren Bedeutungen verwendet. Dies ist, wie angedeutet, eine Erkenntnis, die die Kant-Forschung in verschiedenen Formen schon seit langem gewonnen hat (siehe oben S. 196 Fn. 336). Weniger hat man sich in diesem Rahmen bemüht, diesen Unterschied als einen strukturellen Unterschied zwischen verschiedenen Urteilsformen zu verstehen. Als ein erster Schritt wurde hier die Struktur der Maximen in der ersten Bedeutung des Wortes, nämlich »Maxime« im Sinne von »Maxime erster Ordnung« untersucht. Es wurde hier eine genaue Analyse der Struktur der Maximen erster Ordnung anhand der Hinweise vollbracht, die Kant in seiner »Arbeitsdefinition« des Begriffs der Maximen gibt. In solchen Definitionen werden Maximen in der Regel als subjektive Prinzipien des Wollens bzw. des Handelns charakterisiert. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Maximen als »subjektiv« aus verschiedenen Gründen gelten, nämlich: 1) sind es Regeln, die im Singular formuliert werden, 2) handelt es sich um »selbst gemachte Regeln«; deswegen drücken sie aus, was ich mir zur Regel mache. Sie sind also eine Leistung der Spontaneität des Subjekts. 3) Maximen sind Regeln, die ich nur mir setze, weswegen sie nur für mich gültig sind; daher erheben sie keinen intersubjektiven Geltungsanspruch. 4) Es sind Regeln, die einen Bezug auf einen 484 »Die Gesinnung, d. i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen«. Es hier wichtig darauf aufmerksam zu machen, dass die bekannte These Kants, nach der wir uns im Opazitätszustand bezüglich unserer Maximen befinden, eine These ist, die er im Rahmen seiner Analyse Maximen zweiter Ordnung einführt. Deshalb ist es m. E. ein Fehler, diese These als eine These über Maximen ohne Weiteres zu verstehen, wie Gillessen es z. B. tut. Vgl. (Gillessen 2012, S. 73).
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Zusammenfassung
Situationstyp beinhalten. Eine kurze Untersuchung von Maximen zweiter Ordnung und von Maximen als Lebensregeln zeigte, dass sie in diesem vierten Punkt von Maximen erster Ordnung abweichen. Denn Maximen zweiter Ordnung bzw. Gesinnungen sind Vorschriften, deren Inhalt nur besagt, ob das Moralgesetz das Prinzip der Bildung anderer Maximen sein wird. Maximen als Lebensregeln im Sinne Bittners schließen den Bezug auf einen Situationstyp ebenfalls prinzipiell aus. Denn sie müssen sich, so Bittner, auf das ganze Leben des Subjekts richten.
§ 12 Zusammenfassung Es wurde behauptet, dass es zwischen den drei von Kant anerkannten Formen von Maximen strukturelle Unterschiede gibt. Denn Maximen zweiter Ordnung und Maximen als »Lebensregeln« im Sinne Bittners haben nicht die Struktur S1. Eine genauere Untersuchung der Struktur von Maximen zweiter Ordnung und von Maximen als Lebensregeln bleibt ein Desiderat. Wichtiger für diese Untersuchung war jedoch, zu zeigen, dass Kant der Auffassung war, dass jede Handlung nach Maximen vollzogen wird. Dies ist, so meine These, die Art und Weise, in der Kant den in der gegenwärtigen Philosophie fruchtbaren Gedanken ausgedrückt hat, nach dem jede Handlung absichtlich unter einer Beschreibung ist. Hier und nicht in irgendeinem reduktiven Versuch liegt der Kern der Handlungskonzeption Kants.
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Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
Diese Arbeit ist ein Versuch, Kants Auffassung des intentionalen Handelns zu rekonstruieren. Sie weicht deswegen von den früheren Untersuchungen ab, die eine »Handlungstheorie« Kants vorzustellen versuchen, die angeblich in den kantischen Texten zu finden sei. 485 Denn eine solche Theorie ist bei Kant m. E. nicht zu finden. Deswegen kann man den Widerstand mancher Autor*innen gegen die Rede von einer »Handlungstheorie« bei Kant gut verstehen (vgl. oben S. 21 Fn. 13). Man kann aber, so meine These, Kants Auffassung des Handlungsbegriffs anhand der von ihm entwickelten Ideen rekonstruieren, indem man ihm Fragen stellt, die er sich selbst nicht explizit gestellt hat, die er aber mit Hilfe der von ihm dargestellten Begrifflichkeiten hätte beantworten können. Dies setzt natürlich die Gültigkeit desjenigen hermeneutischen Ansatzes voraus, nach dem es sinnvoll ist, an Texte Fragen zu richten, die der Autor der Texte sich selbst vielleicht nicht hätte vorlegen können. Diese Form, die Texte von Autor*innen der Vergangenheit zu lesen, habe ich hier »rekonstruktiv« genannt. Da sie aber von vielen renommierten Autor*innen im Rahmen der Kant-Forschung (z. B. R. Brandt und D. Schönecker) in den letzten Jahrzehnten kritisiert worden ist (siehe oben S. 21 ff.), habe ich sie im ersten Kapitel verteidigt. Anders als diese Autor*innen, die im Rahmen der gegenwärtigen Kant-Forschung eine wichtige Rolle spielen, denke ich, dass es sich lohnt, Texte auf die hier vorgeschlagene Weise zu lesen. Und auf jeden Fall denke ich, dass dies die richtige Art und Weise ist, die Texte Kants bezüglich der Fragen der sogenannten Handlungstheorie fruchtbar zu machen. Zugleich habe ich wenig Vertrauen zu sich selbst so bezeichnenden »objektiven Interpretationen«, die sich nicht darüber im Klaren sind, dass jede philosophische Interpretation ein philosophisches Vorverständnis des zu interpretierenden Textes mitbringt. 485
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Vgl. z. B. (Willaschek 1992) und (McCarty 2009).
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Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
Die Geschichte der Philosophie hat, wenn man sie so versteht, wie ich sie hier verstehe, nicht nur eine »archäologische« Funktion, d. h. nicht nur die Funktion, den Ursprung oder die Entwicklung der verschiedenen philosophischen Ideen zu untersuchen, sondern auch eine systematische Funktion. Denn ihre Texte helfen uns, sowohl unsere Gedanken anhand raffinierter Modellen zu überprüfen als auch unsere Ideen mit anderen Ideen zu konstrastieren, deren Fruchtbarkeit durch die Arbeit von Jahrhunderten belegt ist. Die distanzierende Funktion der Untersuchung der Geschichte der Philosophie ist deswegen nicht nur historisch wichtig. Sie ist auch produktiv und hilft uns, neue Erkenntnisse zu gewinnen bzw. wiederzugewinnen. In meiner Arbeit habe ich die erwähnte Strategie verfolgt und Kants Ideen über praktische Urteile für Fragen der gegenwärtigen Philosophie der Handlung fruchtbar zu machen versucht. Ich hatte damit vor, mit den Mitteln, die Kant zur Verfügung stellt, Fragen zu beantworten, die zum Kern derjenigen Teildisziplin der Philosophie gehören, die wir heutzutage als »Handlungstheorie« bezeichnen. Der Anfangspunkt war, die Fragestellung zu hinterfragen, an der sich die Kant-Forschung im Rahmen ihrer Beschäftigung mit dem Handlungsproblem bei Kant in der Regel bisher orientiert hat (siehe oben S. 65 ff.). In der Kant-Forschung hat in den letzten Jahrzehnten eine Debatte darüber stattgefunden, ob Kant eine »Handlungstheorie« entwickelt hat oder nicht. Damit fragt man sich, ob Kant Fragen wie die folgende in der Form eines systematischen Entwurfs beantwortet hat: »Was sind menschliche Handlungen? Körperbewegungen oder Interpretationskonstrukte, Verhalten unter einer Beschreibung, Ereignisse sui generis? Was ist das Spezifikum des menschlichen Handelns? Freiheit, Intentionalität, moralische Bewertbarkeit, Rationalität? Was ist »wollen«, was ein »Wille«? Sind Absichten nur Gründe oder zugleich Ursachen des Handelns? Wie verhalten sich rationale Begründungen zu kausalen Erklärungen von Handlungen? Gibt es einen Widerspruch zwischen der Freiheit des Handelns und einer Determination der Natur? Was ist das Subjekt des Handelns? Was macht eine Handlung zu der eines Subjekts? Was ist die Bedeutung von Normen und Regeln für das Handeln? Was sind Imperative?«. Die Mehrheit der Autor*innen meinen, Kant habe eine Theorie nicht entwickelt, die diese Fragen in der Form eines systematischen Entwurfs beantwortet. Andere Autor*innen haben versucht, das Gegenteil geltend zu machen, also vor allem, dass Kant sich in der Tat die Kernfragen der gegenwärtigen »Handlungstheorie«, insbesondere die Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
Frage »Sind die Gründe von Handlungen auch Ursachen dieser Handlungen?« gestellt und beantwortet habe. Im zweiten Kapitel wurde gezeigt, dass die gegenwärtige Handlungstheorie sich jedoch an einer Fragestellung orientiert hat, die eine reduktive Strategie bei der Erklärung des Handlungsbegriffs begünstigt (siehe S. 79 ff.). Es geht bei den gegenwärtigen Handlungstheoretikern vor allem um den Unterschied zwischen Körperbewegungen und intentionalen Handlungen. Entscheidend an diesem Punkt ist die Frage, die Wittgenstein in PU aufgeworfen hat, nämlich: »was übrig bleibt, wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die Tatsache abziehe, dass mein Arm sich hebt« (siehe oben S. 79 ff.). Die Mehrheit der Handlungstheoretiker der Gegenwart hat versucht, eine Definition ausfindig zu machen, die die notwendigen und hinreichenden Bedingungen beinhaltet, die eine bestimmte Entität als intentionale Handlung qualifizieren und folglich intentionale Handlungen von Ereignissen zu unterscheiden ermöglicht. Solche Strategien bereiten aber große und wahrscheinlich unüberwindliche Schwierigkeiten, wie man anhand des sogenannten Problems der abweichenden Kausalketten sehen kann (siehe S. 85 ff.). Dieses Problem und andere Schwierigkeiten habe ich exemplarisch im Fall von Davidson aufgezeigt, denn er ist nicht nur der wichtigste und einflussreichste Vertreter des reduktiven Ansatzes gewesen sondern auch ein Autor, dessen Handlungstheorie üblicherweise für ein Modell gehalten wird, das Kants Modell sehr ähnlich sei (siehe oben S. 84 Fn. 121). Kants Konzeption der Handlung stützt sich, anders als üblicherweise angenommen, nicht auf eine reduktive Strategie. Denn schon die Voraussetzungen, die die reduktive Strategie begünstigt haben, teilt Kant anscheinend nicht (siehe S. 66 ff.). Die reduktive Strategie ist ein Versuch, eine Definition des Begriffs der absichtlichen Handlung zu geben, die diesen Begriff auf andere fundamentalere Begriffe zu reduzieren versucht, die jeweils für sich notwendige und zusammengenommen hinreichende Bedingungen der intentionalen Handlung seien. Ein derartiges reduktives Projekt setzt aber eine Konzeption der Definition philosophischer Begriffe voraus, die Kant nicht teilt (siehe oben S. 118 Fn. 183). Kants Handlungskonzeption liegen andere Annahmen zugrunde und ein Versuch, die kantische Auffassung intentionaler Handlungen zu rekonstruieren, muss diese Annahmen beachten. Vor allem muss man einsehen, dass es sich hier nicht um den Versuch handelt, eine Definition des Begriffs der intentionalen Handlung, im Sinn eines Katalogs notwendiger und hinrei270
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Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
chender Bedingungen, ausfindig zu machen. Dies heißt selbstverständlich nicht, dass Kant nichts zu den Fragen der gegenwärtigen Philosophie zu sagen hätte. Es heißt vielmehr, dass er aus nicht willkürlichen Gründen diese Fragestellung ablehnt und den Gegenstand in anderer Weise thematisiert. Hier wird die distanzierende Funktion fruchtbar, die die Geschichte der Philosophie ausüben kann. Denn wenn wir den Wahrheitsanspruch Kants ernst nehmen, können wir in seiner Ablehnung der Prämissen reduktiver Modelle einen Anlass finden, Alternativen zu diesen nicht unproblematischen Modellen zu untersuchen. Und wenn diese Untersuchung uns dann zu einer Lösung philosophischer Probleme oder zum besseren Verständnis eines philosophischen Begriffs führt, dann wird diese distanzierende Funktion der Geschichte der Philosophie auch systematisch produktiv. Nun wurde hier dafür argumentiert, dass, wenn man Kants Auffassung intentionaler Handlungen rekonstruieren will, man gut daran tut, Kants Theorie der Urteile als Leitfaden zu verfolgen (siehe oben S. 111). Denn Kants Philosophie ist eine Theorie des Urteils. Unter »Urteilen« darf man hier aber nicht »Sätze« verstehen. Kant geht es um Operationen des Verstandes anstatt um sprachliche Dokumente (oben S. 116–135). Die Urteilstheorie Kant wurde in der Vergangenheit intensiv von den Spezialisten der theoretischen Philosophie Kants interpretiert. Selten hat man diese Theorie jedoch im Rahmen von Kants praktischer Philosophie untersucht. Nun ist meine These, dass Kant nicht nur eine Theorie unseres konstativen Bezugs auf die Erfahrung entwickelt, sondern auch eine Theorie der praktischen Urteile vorgelegt. Darin identifiziert er zwei Formen von praktischen Urteilen: Maximen und Imperative. Die Untersuchung dieser Begriffe, vor allem der Maxime und des hypothetischen Imperativs, hatte in dieser Arbeit die Aufgabe, die Kernaspekte der Handlungskonzeption Kants zu enthüllen. Die Untersuchung der praktischen Urteile bei Kant zeigt, dass Kant die Ausdrücke »Maxime« und »hypothetischer Imperativ« mit mehreren Bedeutungen verwendet. Es gibt jedoch ein Gebilde, das hier geholfen hat, die Rolle zu verstehen, die die unterschiedlichen praktischen Urteile bei Kant spielen, nämlich der praktische Syllogismus. Auch Kant hat sich, so meine These, in seiner praktischen Philosophie auf dieses Gebilde gestützt. »Praktischer Syllogismus« ist aber ein Ausdruck, der von den Philosoph*innen besonders des zwanzigsten Jahrhunderts in unterschiedlichen Weisen verwendet worden Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
ist (siehe S. 225). Deswegen musste hier die Bedeutung des Ausdrucks geklärt werden. Im echten Sinn spricht man von einem »praktischen Syllogismus«, wenn es um ein Gebilde geht, das die Rolle der Erklärung des Vollzugs einer Handlung spielt. Die »Konklusion« des Syllogismus ist in diesem Fall dann eine Handlung. In der philosophischen Tradition hat man dieses Gebilde aber häufig so interpretiert, dass die Konklusion ein Satz bzw. ein Imperativ ist. Dann sollte man besser von einem »deliberativen Syllogismus« sprechen (siehe oben S. 201 ff. und S. 227 ff.). Beide Gebilde haben gemein, dass sie an »Prämissen« appellieren, in denen es zumindest zwei Urteile geben muss, die eine zweifache Rolle spielen: einerseits ein Urteil, das einen voluntativ-subjektiven Faktor ausdrückt, und ein anderes Urteil, das einen kognitiv-objektivierenden Faktor ausdrückt (siehe oben S. 231 ff.). Versucht man die Funktion zu verstehen, die die verschiedenen praktischen Urteile im praktischen Syllogismus haben, dann wird klar, welche Form praktische Urteile bei Kant haben. Im dritten Kapitel sind hypothetische Imperative analysiert worden. Hypothetische Imperative bei Kant sind sowohl als normative Urteile als auch als Urteile der ZMU-Form verstanden worden (siehe S. 164 ff.). Urteile der ZMU-Form spielen die Rolle des kognitiven Elements in einem praktischen Syllogismus, während Imperative als normative Urteile die Struktur der Deliberation oder Überlegung widerspiegeln (siehe oben S. 199 ff.). Obwohl Kant die Struktur der nicht-moralischen Deliberation nicht explizit thematisiert hat, hat er dennoch den praktischen Syllogismus als eine Struktur gedacht, die die Ausführung einer Handlung erklärt. Dies ist auch genau die Struktur, die er im Auge hat, wenn er behauptet, dass der Wille »praktische Vernunft« ist, nämlich das Vermögen, Handlungen aus der Vorstellung von Gesetzen abzuleiten (S. 186 ff.). Im vierten Kapitel wurde gezeigt, dass Kant auch dem Ausdruck »Maxime« mehrere Bedeutungen gibt. Dies hat die Kant-Forschung in verschiedenen Formen schon seit langem erkannt, obwohl man wenig beachtet hat, dass dies heißt, dass diese unterschiedlichen Formen verschiedenen Urteilsstrukturen zukommen. Die Aufgabe der Erklärung der Struktur der Maximen wurde hier nicht vollständig erfüllt. Es wurde vor allem die Struktur der Maximen im ersten Sinn des Wortes, nämlich im Sinn von »Maximen erster Ordnung« untersucht (siehe S. 217 ff.). Es wurde eine genaue Analyse der Struktur der Maximen erster Ordnung anhand der kantischen Arbeitsdefinitionen des 272
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Begriffs der Maximen vollzogen. In diesen Arbeitsdefinitionen charakterisiert Kant Maximen als subjektive Prinzipien des Wollens bzw. des Handelns. Nun scheint »subjektiv« ein Sammelname zu sein, der verschiedenen Gebilden gemein ist. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Maximen als »subjektiv« aus verschiedenen Gründen charakterisiert werden, nämlich 1) es sind Regeln, die im Singular formuliert werden, 2) es sind »selbst gemachte Regeln« und deswegen drücken sie aus, was ich mir zur Regel mache. Sie sind also eine Leistung der Spontaneität des Subjekts, 3) Maximen sind Regeln, die ich nur mir setze, weswegen sie nur für mich gültig sind, daher erheben sie keinen intersubjektiven Geltungsanspruch, 4) es sind Regeln, die einen Bezug auf einen Situationstyp beinhalten (S. 217–222). Als allgemeine Regeln werden Maximen als »Prinzipien« charakterisiert, weil sie die Rolle der ersten Prämissen des praktischen Syllogismus spielen. Das heißt: Sie sind oberste Prämissen des Gebildes, mit Hilfe dessen wir unsere Handlungsvollzüge erklären. Hier tritt die wichtigste These der Handlungskonzeption Kants in Erscheinung, nämlich, dass jede Handlung nach Maximen vollzogen wird (siehe S. 244 ff.). Dies ist, so meine These, die kantische Form der gegenwärtigen These, nach der jede Handlung intentional »unter einer Beschreibung« ist (siehe oben S. 248). Maximen erster Ordnung hängen aber mit anderen »höheren« Maximen und mit einer Maxime zweiter Ordnung zusammen (S. 260 ff.). Die Maxime zweiter Ordnung ist diejenige, die das Prinzip der Bildung bzw. Annahme der Maximen erster Ordnung ausdrückt (siehe S. 266). Eine kurze Untersuchung von Maximen zweiter Ordnung und von Maximen als Lebensregeln zeigt, dass sie in diesem vierten Punkt von Maximen erster Ordnung abweichen. Denn Maximen zweiter Ordnung bzw. Gesinnungen sind Vorschriften, deren Inhalt darin besteht, das Moralgesetz zum Prinzip der Bildung von Maximen erster Ordnung zu machen, bzw. es nicht dazu zu machen. Außerdem schließen Maximen als Lebensregeln im Sinne Bittners prinzipiell den Bezug auf einen Situationstyp aus. Denn sie müssen sich, so Bittner, auf das ganze Leben des Subjekts richten. Besonders wichtig ist hier die Maxime zweiter Ordnung. Denn von dieser Maxime hängt dann die Richtung des praktischen Lebens des Subjekts ab, weil sie sagt, ob dieses Subjekt das Moralgesetz oder die Materie des Begehrungsvermögens zum Bestimmungsgrund seiner Maximen macht. Dass Kant nun der Auffassung ist, dass jede Handlung nach einer Maxime vollzogen wird, die sich mit anderen, Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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»höheren« Maximen verbindet, u. a. mit der Maxime, die die Richtung des praktischen Lebens des jeweiligen Subjekts ausdrückt, heißt, dass jede Maxime mit der Art und Weise zusammenhängt, in der der Handelnde sich selbst interpretiert (angenommen, dass Maximen selbst auferlegte Regeln sind). Dies schließt ein, dass nur diejenigen Entitäten, die dieser Selbstinterpretation fähig sind, handlungsfähig sind. Indem Kant dies vertrittt, hat er, wie früher Aristoteles, die Sphäre der prâxis als eine besondere Seinsform besonderer Entitäten erkannt (siehe oben S. 79). So wie bei Aristoteles diejenigen, die über προαίρεσις nicht verfügen, nicht handlungsfähig sind, so sind auch für Kant diejenigen nicht handlungsfähig, die nicht über Maximen verfügen. Dass der Begriff der Maxime bei Kant diese Einsicht mit sich bringt, ist etwas, das die mir bekannte Kant-Forschung bisher noch nicht gesehen hat. Der einzige mir bekannte Text in der Kant-Forschung, in dem diese Idee aufgenommen wird, ist die folgende Überlegung Tugendhats: »Erst in den späten Abhandlung Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hat Kant den Sachverhalt geklärt. Hier sagt er: »die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will)«. Damit ist der Zusammenhang zwischen von irgendwelchen Zwecken (Absichten) bestimmen läßt und das heißt davon, daß er gerade das jetzt will, läßt sich damit doch vorweg von der allgemeinen Regel bestimmen, immer gerade das zu wollen, was er gerade will und d. h. von der Maxime der »Selbstliebe« (des Egoismus). Kant ist also durch die besondere Schwierigkeit, die sich ihm zunächst nur dadurch ergeben hat, daß der moralische Wille nicht primär durch einen Zweck bestimmt werden kann, zu einem neuen Verständnis der »ganz eigentümlichen Beschaffenheit« des menschlichen Wollens gestoßen, daß alles menschliche Wollen, noch bevor er irgendwelche bestimmte Zwecke will, und diesem jeweiligen Wollen zugrunde liegend, sich immer schon zu der einen oder anderen Grundmaxime entschieden hat, wobei diese Grundmaximen für Kant nur zwei sein können: die der Moral und die der Selbstliebe […]. Daß alles Wollen überhaupt vor allem Wollen von dem oder jenem ein Wollen ist, wie ich mich selbst verstehen will, scheint mir eine der tiefsten Einsichten der Kantischen Moralphilosophie zu sein« (Tugendhat 1993, S. 124–125). 486 486 Selbstverständlich impliziert meine Schätzung dieses Aspekts der Interpretation Tugendhats nicht, dass ich seine ganze Interpretation für richtig halte. Für wichtige
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Dieses selbstreferentielle Moment des Wollens, unter dem jede Handlung absichtlich ist, ist m. E. entscheidend für die Handlungskonzeption Kants. Wenn meine Interpretation richtig ist, dann geht es bei Kant im Fall seiner Konzeption des intentionalen Handelns nicht mehr darum, diesen Begriff auf fundamentalere Begriffe zu reduzieren. Es geht bei ihm vielmehr darum, diesen Begriff als einen fundamentalen Begriff zu charakterisieren, der den Raum eröffnet, in dem Menschen fähig sind, ihr Leben von einem moralischen Standpunkt zu interpretieren. 487 Dass dieser Begriff nicht auf Begriffe wie denjenigen der Kausalität zwischen Ereignissen reduzierbar ist, die zur Kategorisierung dieser Sphäre untauglich sind, ist eine Auffassung, die zu Kants Thesen viel besser als die reduktive Interpretation passt. Noch wichtiger: Sie ist m. E. wichtig und richtig.
und treffende Kritiken an Tugendhats Kant-Interpretation siehe (Enskat 2006, S. 23 ff.). 487 Besonders wichtig wird hier die Thematik der »Versetzung« des Menschen in eine intelligible Welt, indem er sich als Moralwesen versteht. Diese Thematik hat Kant im dritten Teil der GMS untersucht. Vgl. GMS AA 04 452. Für eine interessante Analyse dieser Stellen siehe (Schönecker 1999, S. 276 ff.) und (Vigo 2012). Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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GS: Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Stuttgart – Göttingen 1990 (= 1957).
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GW: Gesammelte Werke, Tübingen 1986.
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TA: Werke in 20 Bänden, Frankfurt am Main 1970.
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Versuch: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Herausgegeben von A. Bühler und L. Cataldi, Hamburg 1996.
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NW: Nietzsche Werke. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, Berlin – New York 1972.
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Personenregister
Ackrill, J. 16n Adickes, E. 127n, 138n, 235n Albrecht, M. 187–188, 214, 225n, 253–254, 253n, 256n Allan, D. J. 227, 227n, 231n Allison, H. 151n, 152, 158, 194n, 198n, 264n Ameriks, K. 61n–62n, 208n–209n, 259 Annas, J. 92, 94 Anscombe, G. E. M. 13, 13n, 14n, 16, 16n, 65, 70, 70n, 72, 80–84, 83n, 91–92, 91n–92n, 94–95, 94n–95n, 99, 137, 200n, 215n, 227, 231n– 232n, 234n, 245–251, 245n–247n, 250n–251n, 254, 256n, 258, 258n, 260–261, 261n Arendt, H. 15 Aristoteles 15n–16n, 16, 20, 20n, 25n, 26–28, 27n, 36–39, 39n, 45, 51, 53, 56n, 68–73, 69n, 71n–73n, 77, 100, 109–110, 109n, 131–132, 142n, 167, 177, 177n, 183, 200, 200n, 203, 226–227, 229–236, 229n, 231n, 234n, 250, 251n–252n, 252, 262n, 274 Ashworth, J. 28n Audi, R. 13 Austin, J. L. 52n–53n, 251n Bach, K. 13n–14n, 93n Bacon, F. 24 Barnes, J. 231n, 233n Baumgarten, A. G. 74, 140, 146n– 147n, 226, 226n
Beck, L. W. 16–17, 16n, 42, 74, 74n, 118n, 132n, 151n, 226n, 237n, 262 Bieri, P. 117n Bittner, R. 185n, 187n–189n, 188, 194n, 199, 204, 204n, 206n, 213, 218n, 220n, 223n, 225–256, 255n, 262–265, 262n–264n, 267, 273 Bodéüs, R. 27n, 38, 39n Bojanowski, J. 51, 57n, 79n, 139, 151n, 208n, 239n, 241n, Bonitz, H. 56n, 229n–230n Brandom, R. 13 Brandt, R. 22n, 24–26, 24n–25n, 31n, 34n, 46n, 58n, 63, 75n, 130, 130n, 268 Bratman, M. 13, 13n, 81n, 83n Brewer, T. 223n Brinkmann, W. 151n, 157, 160n, 162n, 176n, 193n, 198n, 206n, 218n, 225, 225n, 262n, 263, 263n, 265n Broadie, A. 143n Bubner, R. 132n, 211n, 226n Caimi, M. 75n, 122n, 123, 123n, 126n Capozzi , M. 138n Carl, W. 170n Cassirer, E. 122n Charles, D. 16n, 71n, 109n, 232n Chisholm, R. 13, 104n Collingwood, R. G. 31n, 34n–35n, 46–48, 46n–48n Corcilius, K. 72n, 227n, 231n–232n, 232–233, 234n Craig, E. 107n, 109n
Handlung und praktisches Urteil bei Kant
A
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297
Personenregister Cramer, K. 22, 54n, 191n–192n, 192, 237n, 241–242, 242n Crubellier, M. 232n, 234n Curley, E. 22, 29n D’Oro, G. 48n Damschen, G. 22n, 31n–32n, 47n, 49, 61 Davidson, D. 13, 13n–14n, 16–18, 16n, 65, 67–72, 68n–69n, 71n, 80– 107, 80n–87n, 90n–101n, 104n– 105n, 109–110, 120, 142n, 199–200, 200n, 202, 227, 244, 250n, 254, 270, Descartes, R. 128 Donagan, A. 22, 36n Dray, W. 81 Dresdke, F. 13 Dummett, M. 117n Dumoulin, B. 27n Duncan, A. 190n Dupreél, E. 27n Ebbinghaus, J. 242n Engstrom, S. 132n Enskat, R. 58n, 106n–107n, 118n– 119n, 129n, 213n, 219n, 221n– 223n, 225n, 237n, 239n, 242n, 265n, 275n Erdmann, B. 41, 41n, 137n Fichte, J. G. 16 Ford, A. 80n, 108n, 110n, 113n Förster, E. 113n Frankel, S. 28n Frankena, W. 263n Frankfurt, H. 13, 13n, 80n, 105n Frede, M. 27n Frege, G. 71n, 118–119, 119n, 153, 154n, 173n, 209 Fricke, C. 126n, 212n, 218n, 223n Gadamer, H. G. 15, 21, 39, 39n–40n, 43n, 47n, 54, 54n Geach, P. 177n Gerhardt, V. 17n–18n, 74, 74n, 186, 186n–187n Gethmann, C. F. 14–15, 15n, 117n
298
Gettier, E. 58, 105–106, 106n–107n Gillessen, J. 90n, 211n–212n, 215n, 225n, 237n, 239n, 242n, 255n, 263n, 266n Glüer, K. 86n, 97n, 105n Goldman, A. 13, 13n, 94n Gourinat, J. B. 233n–234n Gressis, R. 204n Gueroult, M. 22 Guyer, P. 122n Hacker, P. M. S. 77n Hampshire, S. 80, 82n Hardie, W. F. R. 200n, 229, 231n Hare, R. M. 137, 137n, 139n, 177n Hart, H. L. 81 Hegel, G. F. W. 16, 21n, 23n, 25n, 29, 30n, 35n, 41, 60, 73, 84n, 113n Heidegger, M. 14–15, 25n, 39, 39n– 40n, 43n, 60, 74n, 187n Herman, B. 197n, 215n, 225n Hill, T. 162n Hinske, N. 42, 57n, 60n, 137n–138n Hintikka, J. 128 Hobbes, T. 60 Höffe, O. 204, 204n, 225n–226n, 241n, 262n, 264 Holland, R. F. 81 Honoré, A. M. 81 Horn, C. 139n, 151n, 181n, 259n, Horst, D. 80n, 83n, 99n, 105n, 107n, 110n, Hume, D. 16, 60, 67 Hursthouse, R. 83n, 258n Husik, I. 27n Innerarity, C.
74n, 187n
Irrlitz, G. 41n Jaeger, W. 27n Jaeschke, W. 21n Kambartel, F. 118n, 129 Kant, I. 16–25, 20n–21n, 23n, 25n, 33–35, 34n, 40–44, 50–51, 55–68, 56n–58n, 62n, 65n, 67n, 70–75, 74n–76n, 77–79, 78n, 81n, 84–85,
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Luis Placencia
https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
Personenregister 96n, 107–108, 110–141, 112n– 124n, 126n–127n, 129n, 132n, 134n, 137n–138n, 140n–143n, 144– 147, 146n–147n, 149–156, 149n– 150n, 152n–154n, 158–197, 161n– 162n, 164n–167n, 170n–172n, 174n, 177n, 180n–185n, 187n, 189n, 193n 195n, 197n, 199–222, 200n, 204n–205n, 207n–212n, 214n–219n, 221n, 224, 224n, 226– 230, 234–240, 235n–241n, 243– 244, 248–250, 252–260, 259n, 262– 275, 264n, 266n, 275n Kaulbach, F. 16–17, 16n, 74, 74n Keil, G. 105n Kenny, A. 13, 14n, 16n, 72, 82n, 93n, 200n, 227, 231n Kerstein, S. 188, 188n, 206n, 218n, 223n, 256 Kierkegaard, S. 262n Kim, J. 13 Klajnman, A. 50n Kleingeld, P. 238n Köhl, H. 74n, 188, 193n, 206n, 214n, 218n, 220n–221n, 225n, 253–254, 262n–264n Körner, S. 194n Korsgaard, C. 13, 13n, 148n, 163n, 242n Kutschera, F. von 137n, 157n–158n, 162n–163n Laberge, P. 185n, 190n–191n, 192, 193n, 195n, 197–198 Leibniz, G. W. 91n, 147n, 209 Lenz, M. 43n Locke, J. 16, 16n, 28, 43n Loebbert, M. 115n, 172n Loening, R. 72 Longuenesse, B. 116, 116n, 122n, 127n, 138n, 153–154, 153n, Lowe, E. J. 16n Ludwig, K. 91, 93n, 149n, 151n, 152, 152n, 157, 159–160, 161n, 174n, Lukow, P. 225n, 262n, 264n
MacIntyre, A. 263n Mansion, S. 27n, 37n, 45, 45n, McCarty, R. 74n, 187n–188n, 268n McDowell, J. 13, 13n McNamara, P. 147n, 158n Meerbote, R. 84n Melden, A. I. 81, 82n, 95n, Mele, A. 13, 13n, 16n, 72, 80n, 83n, 91, 105n, 202 Mieth, C. 139n, 151n, 181n Moritz, M. 140n, 149n, 150n, 152n, 160–161, 161n–163n, 167n–168n Moya, C. 99n Nagel, T. 13, 33n, 228n Natali, C. 16n, 69n–70n, 80n, 108n, 109, 109n, 229, 234n Nietzsche, F. 54n Nortmann, U. 237n Nussbaum, M. 16n, 71n, 227, 227n– 228n, 229, 231n, 232, 232n–233n O’Connor, T. 14n Olimpiodoros 38–39 O’Neill, O. 215n Parfit, D. 13, 13n Parsons, Ch. 137n Paton, H. J. 21n–22n, 61n, 147n, 194n, 197n, 205n, 208n Patzig, G. 21n, 133n–134n, 151n– 152n, 154–155, 154n, 156n, 166n, 173, 242n Paulsen, F. 41–42, 41n, 121 Petersen, O. 84n Placencia, L. 50n, 179n, 217n, 243n Platon 16, 58 Pollok, K. 121, 122n, 127n Prauss, G. 21n, 121, 122n–123n Pseudo-Olympiodoros 27n Puntel, L. 22n, 31n–32n, 43–45, 43n–44n, 59 Pybus, M. 143n Quante, M. 84n Quine, W. V. O. 125n, 172
Handlung und praktisches Urteil bei Kant
A
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Personenregister Rapp, C. 72n, 200n, 252n Rayappan, P. 70n, 247n, Reich, K. 42, 114n, 137n–138n Reid, T. 16 Ricoeur, P. 14, 14n, 49n, 54n, Rijk, L. M. de 27n, 39n Rödl, S. 83n, 102n, 228n Rorty, R. 117, 117n, Ross, W. D. 177n Russell, B. 62–63, 63n Ryle, G. 81, 82n, 250–251, 251n– 252n Sandis, C. 14n Santas, G. 228n, 233n–234n, Savigny, E. von 46n Scanlon, T. 13 Scarano, N. 139n, 151n, 181n Schaper, E. 128n Schelling, F. W. J. 60 Schmucker, J. 42 Schnepf, R. 26n, 30n, 147n Schönecker, D. 22n, 31n–32n, 47n, 49, 57n, 59–61, 59n, 63, 151n, 162n, 171, 171n, 174n, 175, 180n, 184n, 205n, 208n, 220n, 238n–239n, 268, 275n Schulte, J. 245n–246n Schwaiger, C. 139, 140n, 146n, 150n, 152n, 164n Searle, J. 13, 13n, 105n, 119n, 202 Seel, G. 157, 173n–174n, 178 Silber, J. R. 194n Simplikios 38–39, 38n Spaemann, R. 167n Spinoza, B. 26–28, 27n–28n, 30n, 49–50, 50n, 113n Stark, W. 60n Stegmüller, W. 40n Steigleder, K. 139n, 149n, 151n Stekeler-Weithofer, P. 22, 118n, 129 Stemmer, P. 144n, 147n–148n, 162n–163n Stevenson, C. L. 137 Stoecker, R. 93n, 95n, 97n, 102–103, 102n
300
Stout, R. 76n, 80n, 105n Stoutland, F. 70n Strauss, L. 27n–28n Streumer, B. 227n Stuhlmann-Laeisz, R. 114n, 138 Teichmann, R. 246n–247n Thomas von Aquin 16, 183, 247n Thompson, M. 13n, 80n, 83n, 110n Thurnherr, U. 212n, 214n, 216n, 222n, 262n Timmermann, J. 151n, 185n, 191n, 193n, 194, 195n, 196, 197n–198n, 212n, 214n, 226n, 237n, 241–242, 241n–242n, 253, 253n, 254, 265n Torralba, J. M. 74n, 187n, 197n, 215n Tugendhat, E. 118–119, 119n, 139n, 204, 274, 274n–275n Vaihinger, H. 56n–57n, 59–61, 61n, 170n Vigo, A. 16n, 39n, 71n, 77n, 80n, 109, 109n, 122n, 187n, 200n, 228n, 229, 231n–234n, 233–234, 243n, 251n, 275n Vleeschauwer, H. J. de 123n Volpi, F. 15n Vorländer, K. 75n, 198n Walther, M. 50n Watkins, E. 67, 67n Wieland, W. 22, 23n, 25n, 39n, 49n– 52n, 52, 72n, 111n–112n, 112, 114n, 120, 121n–122n, 125n, 128, 128n–129n, 130, 132n, 209, 209n, 215n, 223n Wiggins, D. 231n–232n Willaschek, M. 22n, 66–67, 66n, 69, 74n, 78, 81n, 84n, 107, 132n, 185n, 187n, 189n, 193n, 197–198, 197n– 198n, 200, 200n, 221n, 225n, 256, 264n, 268n Williams, B. 13, 13n, 54n, 107n Wittgenstein, L. 14, 16, 52n–53n,
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Luis Placencia
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Personenregister 80–82, 80n, 84, 98n, 108, 108n, 110, 245n–246n, 256n, 270 Wolff, M. 58n, 74, 75n, 118–119, 119n, 122n–123n, 127n, 129n, 154n, 156n, 211n, 238n–239n, 252n Wolff-Metternich, B. S. 118n Wood, A. 47n, 49n–50n, 53n–54n, 151n, 162n, 171, 171n–172n, 174n, 180n, 184n, 205n, 220n, 236n
Wright, G. H. von 13, 14n, 16n, 72, 80, 82n, 147n–148n, 158n, 162n– 163n, 175n, 227, 243, 250n Zagzebski, L. 106n Zimmermann, S. 75n Zwenger, T. 31n, 59n
Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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Stellenregister
Band II Deutlichkeit 281, 10 ff. 117n 298, 8 ff. 150n
Spitzfindigkeit 60, 10–12 112n 60, 33–35 75n Band III / IV KrV A VII 34 B XVI 113n A 7/B 10 173n B 19 111n B 25 112 A 19/B 33 141n A 26/B 42 217–218 A 33/B 49 217–218 A 34–35/B 51 218 A 35/B 51 141n A 50/B 74 114 A 51/B 75 220–221 A 52/B 76 114 A 56/B 80 112 A 68/B 93 115, 116n, 141n A 69/B 94 114 A 73/B 98 154 B 101 134n A 78/B 103 114 A 84/B 116 170
A 87/B 119–120 170n B 131–132 216 B 140 209 B 141 114n, 115 B 141–142 127 B 143 75 A 151/B 190 173n B 154 75n A 171/B 132 224n A 205/B 250 74, 74n, 187n A 266/B 323 259 A 312/B 368 129n A 320 /B 376 114n A 509/B 537 75n A 546/B 574 79n A 561/B 589 75n A 727/B 755 ff. 118n, 211n A 730/B 758 211n A 802/B 830 78n, 144–145 A 806/B 834 166n A 812/B 840 206
Band IV 266, 24–26 173 275, 8–19 114n
Prolegomena 266, 20–21 173 Handlung und praktisches Urteil bei Kant
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https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
303
Stellenregister 276, 10–12 112n 293, 28–30 112n 298, 3–5 122 298, 9 123 299, 10–11 123 299, 202–23 126n 299, 21–22 123 299, 21–23 126 299, 23 122 299, 28–29 123 300, 18–301, 13 124 301, 1–2 126 301, 7 125n 301, 30–31 123, 124n 304, 30–31 116n 305, 15–16 116 344, 25 76n GMS 27–418, 01 171 387, 14–15 190–191 387, 14–16 78n 387, 14–388, 4 139n 387, 21–388, 2 145n 387, 25 190–191 388, 1 190–191 389, 11 191 389, 11–23 208n 389, 12–15 184 389, 13–14 184 389, 24 191 392, 3–5 180 394, 22–24 142n, 159, 177 397, 36 212 399, 7 166n 399, 36–38 205 399, 37 220 400, 17–19 180 400, 34 194n 400, 34 FN. 207n 406, 15 ff. 183 407 182 407, 1–5 181, 181n 407, 1–17 181 407, 15–17 182 407, 20–23 181 408, 1–3 190–191
304
408, 13–20 184 410, 26–27 191 412 198, 230 412, 2 191 412, 23–24 184 412, 26–31 185 412, 26 ff. 230 412, 30–31 221 413, 1 141 413, 3–8 149 413, 4–5 146 413, 9–11 146 413, 9–419, 12 140n 413, 12–13 146 413, 26 FN. 222 414, 1–12 191, 194 414, 12 145 414, 13–17 150 414, 21–22 159 414, 24 184n 414, 4 ff. 197 414, 32 ff. 165 415, 1–5 165 415, 16–18 165 415, 22 165 415, 28 166n 415, 33 166n 416, 19 ff. 167n 416, 27 151 417, 4–8 171–172 417, 7 171n 417, 7–8 171 417, 7–15 175 417, 10 175 417, 10–13 171 417, 11 171 417, 18–20 165 417, 18–26 165n 417, 21–23 171n 417, 23 171 417, 29 171 417, 30–418, 1 171n 418, 4–5 167 418, 8 166n 418, 10–24 168n 418, 24 167 418, 29 ff. 167
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Luis Placencia
https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
Stellenregister 419, 5 166 419, 10 171 419, 11 172 420, 14 112n 420, 36 ff. 208 420, 36–421, 30 FN. 206, 207n 421, 6–8 140n 421, 18–20 239n 421, 24–422, 7 224 421, 26–27 FN. 222 422, 37–423, 35 240n 424, 20 184n 427, 6–9 222 427, 7–9 197 428, 5–7 118, 256
429, 10–13 205n 431, 45 151 432, 16 184n 437, 5–12 196 438, 24–25 207n 439, 28–30 196 440, 29 205 446, 6 257 446, 7 192 446, 7–8 192n 452 275n 459 79n MAN 474 FN. 118n
Band V KpV 9, 16–18 78 9, 20–22 221 9, 21 257 15 221 15, 10–19 192n 16, 33 258 19, 6 218 19, 6–10 203n, 206, 207n, 208n 19, 7 134n, 159, 216n 19, 7–12 194–195 19, 9–10 194n 19, 9–12 136 19, 13–14 169 19, 19 220n 19, 19 ff. 236 19, 19–20 215 20, 7 210n 20, 7 ff. 210n 20, 8 205n 20, 10–13 146 20, 14–17 257 22, 17–21 166n 25, 11–12 166n 25, 37–26, 1 165n 267, 5–6 191 27, 3–28, 28 201 27, 21–32 236–237
27, 23 220n 27, 24 ff. 264n 27, 31 238 28, 27 ff. 236 30, 37 238n 30, 38–39 238n 31, 1 ff. 259n 31, 11 ff. 259n 32, 11–12 192n 32, 17–21 195–196 36, 24 184n 36, 28 ff. 168n 42, 12–13 257 44, 27–35 257 61 79n 62, 36 ff. 132n 66, 21 213 69, 5–11 78n 72, 17–21 182n 76, 10–11 141n 76, 16–19 239n 79, 8 257–258 79, 24–32 195 90, 24–36 235n KU 172, 23–27 165n 179, 19 ff. 224n
Handlung und praktisches Urteil bei Kant
A
https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
305
Stellenregister 203, 9–204, 3 121n 203, 13–204, 3 249n
204, 21 ff. 126n 221, 10–15 249
Band VI 223, 1–2 146 225, 1–5 206, 207n 225, 2–3 210n 225, 34–35 1944, 207n 225, 34–36 220n 225, 35 207n 231, 5 220n 313, 17–27 235n 380, 2 191 387, 26–28 166n 393, 19–23 214n 394, 14 ff. 172n 396, 1 ff. 172
Religion 20, 24–25 205 22, 19 ff. 256 25, 5 ff. 265–266 31, 21–26 265n 36, 1–7 265n 36, 6 265 45, 13–15 266 MS 211, 6–7 221 213, 17–18 221 213, 22–24 221 Band VII
167, 13–15 128 192, 29–34 130n
Anthropologie 143, 15 ff. 141n Band VIII
UG 286, 16–33 239n, 240 286, 17–31 264n 287, 10–15 168n
Über eine Entdeckung 193–194, FN. 134n 194, 27–28 129n
Band IX Jäsche-Logik 36, 2 ff. 114n 86, 21–25 137, 162n, 168 101, 5–7 116 105, 16–17 153 105, 20–23 153 106, 2–5 154 109, 12 134n 110, 4–6 164, 210n
306
111, 2–3 173 113, 3–16 127n 113, 5–6 122 140, 21–23 118n 144, 19 ff. 118n Pädagogik 481, 12 195n
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Luis Placencia
https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
Stellenregister Band XII Briefwechsel 36, 22–35 35n
Nachricht an das Publikum 398, 6–8 138n
Band XV 217 141n 1018 250n 1047 152n
Reflexionen 204 141n 207 141n Band XVI
3050 3051 3052 3053 3055 3060 3115 3116 3128 3136 3411 3444 3571
Reflexionen 1663 195n, 207n 1790 75n 2127 121n 2142 75n, 118n 2259 115n 2550 75n 2878 75n 2911 118n 2913 118n 3042 116n 3047 115n 3049 115n
115n, 116n 115n, 116n 115n 115n, 116n 115n, 116n 115n, 116n 150n 210n 116n 173n 209 129n 208n
Band XVII Reflexionen 4638 114n Band XVIII 6348 [AA 18 672, 3] 217n 6352a 112n 6357 [AA 18 681, 26] 217n 6458 146n 6459 235n
Reflexionen 5234 208n, 210n 5235 208n 5237 195n, 207n 5923 114n
Handlung und praktisches Urteil bei Kant
A
https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
307
Stellenregister Band XIX 7257 207n 7821 207n
Reflexionen 6639 150n 6805 150n Band XX
Fortschritte 266, 11 114n
Erste Einleitung 195, 18–19 131 200, 11–17 166n 200, 16–19 FN. 168n 200, 17–22 165n 223, 24–26 75n 249, 6 75n
Lose Blätter 343, 10–16 35, 35n
Band XXII Zehntes Convolut 309, 16 217n Band XXIII Vorarbeiten zur Rechtslehre 221, 14 75n 268, 28 191
393 191 Naturrecht Feyerabend 1322, 30. 193
Vorarbeiten zur Tugendlehre 383, 25 221 Band XXIV Logik Blomberg 263, 18 ff. 118n 1001 119n, 129n
766, 1 153 766, 1–5 155–156 783, 37–784, 3 112n
Logik Pölitz 570, 27 118n 580, 3–4 129n
Wiener Logik 916, 6–7 118n 934, 3–5 156 934, 17 153 934, 21–23 129n 934, 24–26 134n
Logik Dohna-Wundlacken 763, 35–36 155–156
308
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Luis Placencia
https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
Stellenregister Band XXVII Moralphilosophie Collins 244, 3–5 184n 249, 31–32 111n 255, 21–22 146n 263, 12–13 195n, 207n–208n 263, 29–30 188, 255n 323, 18–21 130
Philosophia practica Marburg 1224 188, 248, 255n Moral Mrongovius 1397, 34–36 184n 1407, 1 146n 1413, 24 195n, 207n–208n 1465, 40–1466, 2 130
Band XXVIII AA 28 571 187n
678, 26 188
Metaphysik Dohna 678, 20–24 235n, 250n
Metaphysik Dohna-Wundlacken 678, 25–26 255, 255n
Band XXIX Moral Mrongovius II 602, 38–39 188, 255n 608, 12 207n 611, 6–10 146 AA 29 1027, 32–38; 152n Kaehler Moral 4, 23–25 184n
9, 8–10 161n 17, 1–3 111n 27, 24 146n 40, 8–9 195n, 207n 66, 13 195n, 207n 66, 13–14 188, 255n 144, 4–7 130
Handlung und praktisches Urteil bei Kant
A
https://doi.org/10.5771/9783495820735 .
309