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German Pages [430] Year 2017
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ALBER SYMPOSION
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Zu diesem Buch: Der dritte Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gilt als sehr schwieriger, ja sogar dunkler Text. Der Autor rekonstruiert durch detaillierte und mikroskopisch genaue Untersuchungen Kants Deduktion des kategorischen lmperativs argumentativ und zugleich streng textgetreu. Kant führt einen Beweis der menschlichen Willensfreiheit, ohne dabei die Gültigkeit des kategorischen lmperativs bereits vorauszusetzen. Diese Gültigkeit wird mit der ontologischen Superiorität des intelligiblen Willens bewiesen: Was man moralisch soll, ist das, was man vernünftigerweise will. About this book: Chapter three of Kant's Grundlegung zur Metaphysik der Sitten is considered a vel)' difficult, even obscure text. By means ofvel)' detailed and microscopic analyses the author tries to reconstruct Kant's deduction of the categorical imperative both argumentatively and truthfully to the text. Kant proves the freedom of the human will without presupposing the validity of the categorical law. This validity is demonstrated by strength of the ontological superiority of the intelligible will: What one ought to do is what one wants to do as a rational being. Der Autor: Dr. phil. Dieter Schönecker, geb. 1965, war Visiting Fellow an der Yale University, New Haven (Connecticut) und ist jetzt Lehrbeauftragter an der Universität Bonn.
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Dieter Schönecker Kant:
Grundlegung III
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SYMPOSlON PHILOSOPHISCHE SCHRIFTENREIHE BEGRÜNDET VON MAX MÜLLER, BERNHARD WELTE, ERIK WOLF HERAUSGEGEBEN VON MAXIMILIAN FORSCHNER, LUDGER HONNEFELDER Band 113
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Dieter Schönecker
Kant: Grundlegung III Die Deduktion des kategorischen lmperativs
Verlag Karl Alber Freiburg /München
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Studienausgabe 2016 (Die 1. Auflage erschien 1999 unter der lSBN 3-495-47924-4.)
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MIX Papier au. verentwortungavollen Quellen
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2. Auflage als Studienausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH Freiburg/München 1999, 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Texterfassung : Autor Satz: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPl books GmbH, Leck Printed in Germany lSBN 978-3-495-48782-2
EISBN 978-3-495-81782-7
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Für Rica und Fredi, meine Lieblingsmenschen
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Wer ein Buch schreiben will, tut meines Erachtens wohl daran, einiges über die Sache nachzudenken, über die er schreiben will. Auch tut er nicht übel daran, soweit möglich, Bekanntschaft mit dem zu machen, was früher über die Sache geschrieben ist. Sören Kierkegaard, Der Begriff der Angst, Vorwort
Hast du aber vielleicht irgendeine rednerische Notwendigkeit aufzuzeigen, warum der Mann dieses so in der Ordnung nacheinander gestellt hat? Du bist sehr gut, daß du mir zutraust, die Arbeit jenes so genau zu beurteilen . Aber dieses, glaube ich, wirst du doch auch behaupten, daß eine Rede wie ein lebendes Wesen müsse gebaut sein und ihren eigentümlichen Körper haben, so daß sie weder ohne Kopf ist noch ohne Fuß, sondern eine Mitte hat und Enden, die gegen einander und gegen das Ganze in einem schicklichen Verhältnis gearbeitet sind. Wie sollte ich nicht? Platon, Phaidros 264, b-c
Perscrutatis fundamentis stabilitur veritas 1
Dieser Spruch (>Durch Erforschung der Grundlagen wird die Wahrheit befestigthier< ein Zirkel, oder vielmehr: eine >ArtArtArt< davon. Und wenn der Zirkel ein circulus in probando ist, wieso nennt Kant den Zirkel dann auch die >Erbittung eines PrinzipsErbittung eines Prinzips< genauer nachgefragt zu haben, was damit wohl gemeint ist. Dafür gibt es, wie wir sehen werden, zwei Gründe, von denen einer (der wichtigere) darin besteht, daß man in der zeitgenössischen Philosophie unter einer petitio principii zumeist den circulus in probando versteht, also den circulus vitiosus. Nun hat auch tatsächlich der Terminus petitio principii in der Geschichte der Logik diese engere Bedeutung, so daß man, wenn man diesen Terminus liest, nicht ohne Grund an einen circulus in probando denkt, und dies um so mehr, wenn dabei auch noch von einem >ZirkelErbittung eines PrinzipsZirkel< um einen circulus in probando. Allein unter dieser Prämisse wurde offenkundig der Text gelesen und interpretiert. Man stößt, auch dafür ist das Zirkelproblem ein Beispiel, in der Interpretationsgeschichte nicht nur immer wieder auf das Phänomen, daß die Texte, um die es geht und um die es doch allen zu tun ist, offenkundig nicht wirklich aufmerksam gelesen werden. Man begegnet auch dem Phänomen (und das hängt mit dem ersten Punkt zusammen), daß Texte - ähnlich wie >Tatsachen< - im Lichte von Interpretationsparadigmen gelesen und interpretiert werden. Kants Rede von einem >Zirkel< und einer >petitio principii< haben den gesamten Text in einem Licht - im Lichte des vermeintlichen circulus in probando - erscheinen lassen, so daß eine andere Lektüre ausgeschlossen schien, ja nicht einmal mehr gewagt wurde. Wer auf jeden Fall davon ausgeht, daß Kant den kategorischen Imperativ durch Rekurs auf die Freiheit und umgekehrt die Freiheit durch Rekurs auf die Moralität beweist, der wird z.B. die Frage, ob Kant in der GMS im Unterschied zur Kp V einen moralunabhängigen Beweis für die Freiheit und das Sittengesetz versucht, natürlich anders einschätzen und beantworten als jemand, der den Zirkel nicht als circulus in probando ~
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Vorwort
versteht. Es werden dann eben Zusammenhänge und Konsequenzen, aber auch Detailfragen allein unter diesem Interpretationsparadigma - der Zirkel als ein circulus in probando - gesehen. Aber ich möchte - trotz der Anspielung auf Th. S. Kuhn und seine Struktur wissenschaftlicher Revolutionen - die Latte der hermeneutischen Theorie hier nicht so hoch hängen (und erst recht nicht in die hermeneutische Diskussion eingreifen; daß ich die Idee einer objektiven Interpretation trotz aller neueren Kritik daran nach wie vor für im Prinzip richtig halte, versteht sich nach dem Gesagten von selbst und wird sich bei der Interpretationsarbeit erweisen). 2 Man kann viel über Zeichen und Bedeutungen sagen, über Wirkungsgeschichte, über den hermeneutischen Zirkel, darüber, daß man einen Text nie besser, sondern immer nur anders versteht usw. Die hermeneutische Praxis sieht oft anders aus. Wenn nur die Grundregel, die in jeder Hermeneutik über allen Zweifel erhaben sein sollte und es eigentlich wohl auch ist, nämlich die, den Text gründlich zu lesen und nicht zu schnell zufrieden zu sein mit dem Verständnis, eingehalten würde, wäre vieles gewonnen. Erst danach beginnt das Reich der hermeneutischen Theorie. Worauf es mir hier ankommt und worauf die Skizze des Zirkelproblems abzielte, ist der eindringliche Hinweis, daß die Interpretation eines Textes nicht nur, aber eben zuerst und hauptsächlich darin besteht, aufmerksam zu lesen, nicht vorschnell zufrieden zu sein, den kleinsten Details nachzugehen und bei jedem Satz nach der Erklärung zu verlangen, weswegen er dort steht und was er zu bedeuten hat. Wer nicht gewillt ist, einen Text gründlich und gewissenhaft zu lesen, wird niemals verstehen, was der Text bedeutet, und zu einer gründlichen Lektüre gehören nun einmal skrupulöse Detailinterpretationen. Man wird dann auch nicht verstehen, welche Theorie der Text transportiert, da diese (Theorie) nur im Text besteht. Es ist eine ganz billige Vorstellung, man könne eine Theorie oder einen Autor auch oder sogar gerade dann am besten verstehen, wenn man sich nicht allzusehr in den Text einlasse, sich nicht darin >verstricke< (was immer das heißen mag). Wir haben nichts als den Text. Schließlich noch ein weiterer Punkt, der wichtig ist. Um eine Theorie für wahr oder falsch zu halten, muß man sie zunächst einmal verstehen. Das ist in meinen Augen eine triviale, aber nicht immer
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Zur Idee und Verteidigung der >objektiven Interpretationdereinstobjektive Realitätbloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit< Aufgabe von GMS I und II ist, wohingegen in GMS III die »Deduktion « (454,21) des in dieser Begriffszergliederung eruierten kategorischen Imperativs erfolgt; Kant selbst hält dies am Ende von GMS II ausdrücklich fest (440). Die »Kritik des Subjekts, d. i. der reinen praktischen Vernunft« (440,25) in GMS III leistet mehr als bloße Begriffszergliederungen. Sie soll zeigen, daß »Sittlichkeit kein Hirngespinst sei« (445,8), nicht bloß »eine chimärische Idee ohne Wahrheit« (445,6). GMS I und II geben Antwort auf das Sinnproblem der Ethik; in GMS III geht es dann darum, ob den analysierten Begriffen (in welchem genaueren Sinne auch immer) Geltung und Realität zugesprochen werden kann. Wie gesagt, an dieser methodischen Zweiteilung (zuerst Begriffszergliederungen, dann Begründungsfragen) besteht kein Zweifel. Eine andere Frage ist es, ob Kant mit seinen methodischen Anmerkungen am Ende der Vorrede (392,17-28) und im letzten Absatz von GMS II (444,35-445,15) wirklich auf diese Zweiteilung der GMS Bezug nimmt. Da ich dies an anderer Stelle bereits diskutiert habe, 5 beschränke ich mich hier auf folgenden Hinweis: Kant schreibt, er habe eine »Methode« (392,17) gewählt, von der er glaubt, »daß sie die schicklichste sei, wenn man von der gemeinen Erkenntnis zur Bestimmung des obersten Prinzips derselben analytisch und wiederKutschera (1982, S. 43 ff.) unterscheidet entsprechend zwischen dem Sinnproblem und dem Begründungsproblem. 5 Vgl. Schönecker (1996 und 1997b).
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Aufbau und Argumentationsstruktur der Grundlegung
um zurück von der Prüfung dieses Prinzips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntnis, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen will« (392,18); am Ende des zweiten Abschnittes heißt es dann, GMS I/II seien »bloß analytisch« (445,8) gewesen. Nun hat Kant in den Prolegomena (1783) selbst betont, daß die analytische Methode »ganz was anderes als ein Inbegriff analytischer Sätze« (Pro!., 276, Anm., k. v. Vf.) sei, und da die >Zergliederung der BegriffeInbegriff analytischer Sätzeganz was anderesMethode< in der GMS eine andere Verwendung findet. Das ist möglich, denn man kann den Methodenbegriff an der besagten Stelle der Vorrede (392,17) auf die >ÜbergängeMethodeanalytischen< und >synthetischengemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis< (insofern befinden sich die doppelte Bedeutung von >analytisch< und >analytischer Methode< de facto ohnehin in Übereinstimmung). Die Tatsache, daß Kant mit >bloßen Begriffszergliederungen< beginnt, von denen er einräumt, daß sie letzten Endes ein >Hirngespinstgemeinen sittlichen Vernunfterkentnis< zu machen. Kant beansprucht, wie gesagt, durch Begriffszergliederungen die (einzig sinnvolle) Bedeutung des moralischen Sollens zu explizieren. Indem er nun an die gemeine Menschenvernunft und deren (von ihm jedenfalls behauptetes) tatsächliches Verständnis dieser Begriffe anknüpft, entkräftet er von vorneherein den naheliegenden Einwand, er würde die Bedeutung dieser Begriffe nicht explizieren, sondern mehr oder weniger willkürlich festlegen, also einfach das hineinlegen, was er herausziehen möchte. Durch das rhetorische Manöver des ersten Überganges gelingt es Kant, an den tatsächlichen Sprachgebrauch der vorgefundenen Moral und Ethik anzuknüpfen. Er darf dann behaupten, in GMS I und II in der Tat nicht mehr geleistet zu haben als eine Bedeutungsanalyse der ethischen Begriffe. Und er verleiht dieser Exposition durch die Anknüpfung an die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis von Anfang an mehr Plausibilität, da er beanspruchen darf, nicht bloß ein blasses Skelett abstrakter Begriffe aufzubauen, die, wenn überhaupt, erst sehr spät im Text ihre eigentliche Rechtfertigung erfahren, sondern ein stabiles Gerüst von Begriffen allerdings philosophischer Qualität, die aber durch die Rückendeckung des praktizierten Sprachgebrauchs von vorneherein ein hohes Maß an Überzeugungskraft besitzen. Die Art und Weise, wie er die ethischen Grundbegriffe bestimmt, ist daher weder willkürlich noch im schlechten Sinne abstrakt. Es handelt sich, so behauptet Kant jedenfalls, nur um eine Präzisierung und Aufklärung der >gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnisphilosophischen Vernunfterkenntnisgemeine sittliche Vernunfterkenntnis< vgl. auch Schönecker (1997b, S. 90ff. und 1997c).
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Kant Grundlegung III
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Aufbau und Argumentationsstruktur der Grundlegung
sten) Überganges; die >philosophische sittliche Vernunfterkenntnis< ist also nicht identisch mit der »populären Moralphilosophie « (392,25), die den Ausgangspunkt von GMS II bildet. Kant beginnt den zweiten Übergang mit der »populären sittlichen Weltweisheit « (406,2), weil er noch einmal demonstrieren möchte, daß weder die Bedeutung noch die Geltung moralischer Gesetze aus der Erfahrung gewonnen werden kann. Kant richtet sich energisch und wiederholt gegen jede Art empiristischer Ethik: »Wider diese Nachlässigkeit oder gar niedrige Denkungsart in Aufsuchung des Prinzips unter empirischen Bewegursachen und Gesetzen kann man auch nicht zu viel und zu oft Warnungen ergehen lassen « (426,12). Während der erste Übergang in positiver Anknüpfung an das alltägliche Moralverständnis beginnt, setzt sich Kant zu Beginn des zweiten Überganges wie schon in der Vorrede (389,5-23) - kritisch von empiristisch verfahrenden Moralphilosophien ab. Auch an weiteren Gelenkstellen seiner Schrift wiederholt Kant diese >Warnungbloß analytisch< zergliedernden Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft beginnt. Kants Darstellungen der Idee und Notwendigkeit einer Metaphysik der Sitten (MS 1 ) fügen sich also exakt in den Aufbau der ganzen GMS.
1.2 Pflicht und Gesetz: Sollen und Wollen Für das Verständnis der späteren Deduktion ist es nicht unbedingt notwendig, Kants Analysen in GMS I nachzuvollziehen. 7 Wirklich erhellend für das Verständnis von GMS III ist allerdings die Tatsache, daß Kant bereits in GMS I zwischen dem vollkommenen Willen eines rein vernünftigen Wesens und dem Willen eines sinnlichvernünftigen Wesens unterscheidet. Kant beginnt bekanntlich mit dem Begriff des an sich guten Willens (393-396). Er vollzieht dann den Übergang zum Pflichtbegriff (397,1-10), den er in drei Sätzen entwickelt (397,11-401) . Es folgen die erste Formulierung des kateVgl. den kurzen Überblick in der >Einleitungenthalten